Semantiken und Narrative des Entscheidens vom Mittelalter bis zur Gegenwart [1 ed.] 9783666366031, 9783525366035


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German Pages [524] Year 2021

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Semantiken und Narrative des Entscheidens vom Mittelalter bis zur Gegenwart [1 ed.]
 9783666366031, 9783525366035

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Philip Hoffmann-Rehnitz / Matthias Pohlig / Tim Rojek / Susanne Spreckelmeier (Hg.)

Semantiken und ­Narrative des Entscheidens vom ­Mittelalter bis zur G ­ egenwart

Kulturen des Entscheidens Herausgegeben von Jan Keupp, Ulrich Pfister, Michael Quante, Barbara Stollberg-Rilinger und Martina Wagner-Egelhaaf Band 4

Semantiken und Narrative des Entscheidens vom Mittelalter bis zur Gegenwart Herausgegeben von Philip Hoffmann-Rehnitz, Matthias Pohlig, Tim Rojek und Susanne Spreckelmeier

Vandenhoeck & Ruprecht

Gefördert durch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) – Projektnummer 252080619 – SFB 1150

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar. © 2021 Vandenhoeck & Ruprecht, Theaterstraße 13, D-37073 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, Verlag Antike und V&R unipress. Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Benvenuto di Giovanni di Meo del Guasta, Der Jüngling am Scheidewege zwischen Tugend und Laster. © akg-images / Cameraphoto. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de Vandenhoeck & Ruprecht Verlage | www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISBN (Print) 978-3-525-36603-5 ISBN (PDF) 978-3-666-36603-1 https://doi.org/10.13109/9783666366031

Dieses Material steht unter der Creative-Commons-Lizenz Namensnennung – Nicht kommerziell – Keine Bearbeitungen 4.0 International. Um eine Kopie dieser Lizenz zu sehen, besuchen Sie http://creativecommons.org/licenses/by-nc-nd/4.0/.

Inhalt Philip Hoffmann-Rehnitz, Matthias Pohlig, Tim Rojek, Susanne Spreckelmeier Semantiken und Narrative des Entscheidens vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Konzeptionelle Grundlagen und historische Entwicklungslinien . . . . . 9 Tim Rojek Redehandlungstheoretische Überlegungen zur Semantik und Performatorik von ›Entscheiden‹ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67

Semantiken und Narrative des Entscheidens in vormodernen Gesellschaften (Mittelalter und Frühe Neuzeit) Susanne Spreckelmeier  geteiltez spil. Zu einer Entscheidensfiguration im Werk Hartmanns von Aue . . . . . . 85 Georg Jostkleigrewe Entscheiden und Verantwortung. Strukturen der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung im westeuropäischen Spätmittelalter. Zur Semantik des ›Entscheidens‹ im akademischen Diskursfeld . . . . . . 111 Alberto Cadili Umstrittene Narrative und religiöse Sprache. Widerstände gegen inquisitorisches Entscheiden in Italien (1230–1330) . 133 Nicola Kramp-Seidel Semantiken des Entscheidens in mittelalterlichen rabbinischen Responsa . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 Matthias Pohlig »Hierin vrteil du frumer Christ Welche leer die warhaffts ist«. Semantiken und Narrative des religiösen Entscheidens in der Reformation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174

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Inhalt

Hannah Murphy Decisions before Decision-Making. Concepts, Categories and Technologies in Sixteenth-Century German Medical Texts . . . . . . . . . . . . . . . . 193 Philip Hoffmann-Rehnitz Von teuflischen Früchten und hellish designs. Narrative des Entscheidens in der Kipper- und Wipperinflation und der South Sea Bubble . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Martina Wagner-Egelhaaf Herakles – (k)ein Entscheider?  . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244

Semantiken und Narrative des Entscheidens in modernen und gegenwärtigen Gesellschaften Carolin Rocks (Wie) Entscheiden Held*innen? Überlegungen zum Verhältnis von politischem Heroismus und Entscheiden im Drama um 1800 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Stephan Ruderer Das Narrativ des gesetzestreuen Alleinentscheiders in der Selbstdarstellung der argentinischen Caudillos zu Beginn des 19. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 Michael Seewald Lehrentscheidung? Ein Versuch über zwei Konzeptionen magisterialen Handelns in der katholischen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 Franziska Rehlinghaus Von den Außen- und Innenseiten des Entscheidens. Zum Kern moralstatistischer Debatten im 19. Jahrhundert . . . . . . . . 330 Andreas Fahrmeir Personalentscheidungen. Das Narrativ der ›Bestenauslese‹ und die Vielfalt der Entscheidungsmodi 358 Constanze Sieger »Das gibt nie eine Verschmelzung« oder die »gegebene Lösung«? Legitimationsnarrative in den Eingemeindungsentscheidungen der Weimarer Republik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 376

Inhalt

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Stefan Lehr »Genossen, das geschieht nicht zufällig«. Narrative des politischen Entscheidens in der staatssozialistischen Tschechoslowakei (1945–1989) . . . . . . . . . 393 Michael Niehaus Entschiedenheit. Zur Frage des Entscheidens in Lebenshilfe-Ratgebern im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 413 Regina Grundmann »Und der Wähler wähle!«. Semantiken und Narrative des Entscheidens in Responsa des orthodoxen Judentums im 20. Jahrhundert . . . . . . . . . . . . . . . 433 Isabel Heinemann Von Birth Control zu Human Rights. Semantiken reproduktiven Entscheidens im langen 20. Jahrhundert . . . 448 Claudia Roesch »Silent No More!«. Narrative des Entscheidens in Kampagnen der Befürworter und Gegner legaler Abtreibungen in den USA der 1980er Jahre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 466 Helene Basu, Mrinal Pande Enacting Meanings of Matrimonial Decision-Making in Situations of Talk in Contemporary India . . . . . . . . . . . . . . . . . 482 Dagmar Borchers Entscheiden-Müssen, Entscheiden-Können, Entscheiden-Wollen. Die Existenzphilosophie als philosophische Theorie des Entscheidens . . . 498 Abbildungsnachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 517 Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 519

Philip Hoffmann-Rehnitz, Matthias Pohlig, Tim Rojek, Susanne Spreckelmeier1

Semantiken und Narrative des Entscheidens vom Mittelalter bis zur Gegenwart Konzeptionelle Grundlagen und historische Entwicklungslinien

1. Einführung Wir leben in einer Entscheidungsgesellschaft.2 Die Konjunktur, die das Thema ›Entscheiden‹ in der Öffentlichkeit in den letzten Jahren erfährt, unterstreicht dies nachdrücklich. Zeitschriften und Magazine, zumal populäre Wissens- und Wissenschaftsmagazine, haben in jüngster Zeit mit Titelthemen zum Entscheiden aufgemacht.3 Nicht nur für den Journalismus gilt: Decision-making sells. Dies zeigt auch ein Blick in die Buchhandlungen, vor allem in die Abteilungen zu Psychologie und Lebenshilfe. In diesem Boom spiegeln sich Entwicklungen in den Wissenschaften wider: Die sogenannten Judgment and Decision-Making Sciences oder kurz Decision Sciences bzw. Entscheidungswissenschaften zählen weltweit zu den aufstrebenden Zweigen. Nicht nur wissenschaftliches Renommée, sondern auch die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und speziell der Wirtschaft scheint hier garantiert zu sein.4 Und ist es nicht auch gerechtfertigt und geradezu zwingend, dass sich die Wissenschaften mit dem Entscheiden beschäftigen und versuchen, dieses mit ihren Methoden besser zu verstehen und Lösungen auf drängende Fragen zu finden? So etwa auf die Frage danach, 1 Ganz herzlich danken wir Barbara Stollberg-Rilinger für wertvolle Hinweise und Anregungen sowie Paul-Simon Ruhmann und Julia Langenbach für die sorgfältige Redaktion des Bandes. 2 Vgl. Uwe Schimank, Die Entscheidungsgesellschaft. Komplexität und Rationalität der Moderne, Wiesbaden 2005. 3 GEO Wissen Nr. 64/2019: Richtig entscheiden. Die Kunst der guten Wahl; Psychologie heute 8/2017: Ich lass mir Zeit! Wie Sie Ihre Ungeduld zügeln und bessere Entscheidungen treffen; ZEIT Campus Nr. 3, Mai / Juni 2016: Wie man gute Entscheidungen trifft; Süddeutsche Magazin Nummer 29, 19. Juli 2019: Hü oder Hott? Warum es oft so fürchterlich schwierig ist, Entscheidungen zu treffen – und wie man sich damit leichter tut. 4 Die zunehmende Popularität dieses Wissenschaftszweigs vor allem im anglo-amerikanischen Bereich zeigt sich in der wachsenden Anzahl an entsprechenden Einführungen und Handbüchern: vgl. dazu u. a. Gideon Kern / George Wu (Hg.), The Wiley Blackwell Handbook of Judgment and Decision Making, 2 Bde., Chichester 2016; Paul C. Nutt / David C. Wilson (Hg.), Handbook of Decision Making, Chichester 2010; Roger D. Congleton u. a. (Hg.), The Oxford Handbook of Public Choice, 2 Bde., New York 2019.

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wie Menschen gute oder bessere, jedenfalls rationale Entscheidungen treffen können, oder die Frage, wie sich Entscheidungen – nicht zuletzt diejenigen von Konsument*innen – prognostizieren oder gar beeinflussen lassen. Angesichts der Plausibilität dieser Fragen sind Wirtschaft und staatliche Akteure bereit, viel Geld in entscheidungswissenschaftliche Forschungen zu investieren. Entscheiden gilt vielfach als diejenige Form des Handelns, die den Bedingungen der Moderne und ihrer ›Kontingenzkultur‹5 sowie ihrer (dem Anspruch nach) rationalistischen Werteordnung in besonderer Weise entspricht. So kann und soll in Prozessen des Entscheidens in möglichst rationaler Weise gesellschaftliche Selbstorganisation geleistet werden, indem mehr oder weniger explizit gemachte Alternativen hinsichtlich zukünftig zu erreichender und damit disponibler Ziele erzeugt, diese anschließend selegiert und in der Entscheidung propositional fixiert werden. Der Relevanzanspruch der Decision Sciences wird dabei durch die verbreitete Auffassung unterstrichen, dass im Zuge einer immer komplexeren Welt der Zwang zum Entscheiden zur individuellen wie kollektiven Überforderung führt und das Entscheiden für die Instanz, die eine Entscheidung zu fällen hat (seien es Individuen, Gruppenakteure oder Institutionen), häufig eine Zumutung darstellt. Aber nicht nur auf Fragen der Gegenwartsgesellschaft versprechen die Decision Sciences deskriptive wie normative Antworten, sondern auch auf allgemeine Menschheitsfragen: Ist doch die Auffassung weit verbreitet, dass das Entscheiden-Können wie auch das permanente Entscheiden-Müssen zu den Grundbedingungen nicht nur der Gegenwart, sondern der conditio humana überhaupt gehören. Den Geistes- und Kulturwissenschaften, kurz: den Humanities, kommt innerhalb des boomenden Felds der Entscheidungsforschung bislang jedoch eine allenfalls marginale Bedeutung zu. In diesem dominieren vielmehr Disziplinen, die im anglo-amerikanischen Raum zu den Sciences gezählt werden, allen voran die (naturwissenschaftlich orientierte)  Psychologie, die Biologie, die Neuround die Wirtschaftswissenschaften.6 Bislang haben sich die Geistes- und Kulturwissenschaften auch eher wenig für das Entscheiden interessiert und sich auf einer konzeptionellen und theoretischen Ebene kaum damit auseinandergesetzt.7 Erst in jüngster Zeit lässt sich hier ein verstärktes Interesse beobachten. 5 Vgl. Michael Makropoulos, Modernität als Kontingenzkultur. Konturen eines Konzepts, in: Gerhart von Graevenitz / Odo Marquard (Hg.): Kontingenz, München 1998, S. 55–79. 6 Auch diejenigen sozialwissenschaftlichen Disziplinen, in denen, wie in der Politologie, ein szientistisches Selbstverständnis vorherrschend ist, können hierzu gezählt werden. Ebenso Strömungen innerhalb der Soziologie, die im Anschluss an James Coleman, Herbert Simon u. a. der Rational-Choice-Theorie bzw. dem Ansatz der Bounded Rationality folgen bzw. nahestehen. Siehe dazu insbesondere James S. Coleman, Foundations of social theory, Cambridge 1990; Herbert A. Simon, Theories of decision-making in economics and behavioural science, in: American Economic Review 49 (1959), S. 253–283. 7 Im Text weiter zu behandelnde Ausnahmen bestätigen die Regel. Vgl. speziell zu Entscheiden als Gegenstand der historischen Forschung (mit weiteren Literaturangaben) Philip Hoffmann-Rehnitz / A ndré Krischer / Matthias Pohlig, Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für historische Forschung 45 (2018), S. 217–281.

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Es ist allerdings alles andere als klar, wie eine solche geistes- und kulturwissenschaftlich ausgerichtete Entscheidungsforschung aussehen kann. So gibt es Stimmen, die dafür plädieren, dass sich die Humanities angesichts des wachsenden Erfolgs der Decision Sciences deren ›Sprache‹ aneignen sollten, die mittlerweile zur lingua franca in weiten Teilen der Sozial- und Verhaltenswissenschaften geworden sei.8 Durch eine solche Annäherung respektive Assimilation der Geistes- und Kulturwissenschaften an die Decision Sciences könnten diese ihre spezifischen Sichtweisen einbringen, als Korrektiv fungieren und etwa auf eine stärkere Beachtung der sozialen und kulturellen Kontextbedingungen des Entscheidens drängen.9 Ein solcher rein defensiver Umgang mit dem Entscheiden als Gegenstand der geistes- und kulturwissenschaftlichen Forschung und mit der Frage, wie sich diese zu den Decision Sciences verhalten soll, ist gleich in mehreren Hinsichten problematisch. Es erscheint uns vielmehr als Aufgabe der Geistes- und Kulturwissenschaften, Entscheiden mit den ihnen zur Verfügung stehenden Methoden und Begrifflichkeiten zu fassen. Erst dies ermöglicht es, vermeintliche Gewissheiten, wie sie den öffentlichen und wissenschaftlichen Diskurs über Entscheiden dominieren, kritisch zu hinterfragen. Auch könnten die Humanities Phänomene behandeln, die von den Entscheidungswissenschaften nicht beachtet werden (obgleich sie mit deren Gegenständen und Methoden kompatibel sein könnten). Darüber hinaus kann die Bedeutung, die zumindest in westlichen Gesellschaften dem Entscheiden zugemessen wird, und die Art und Weise, wie es in unterschiedlichen sozialen und nicht zuletzt auch wissenschaftlichen Kontexten verstanden und reflektiert wird, selbst als Ausdruck historisch spezifischer kultureller und sozialer Bedingungen, mithin als Ausdruck einer ›Kultur des Entscheidens‹, verstanden werden.10 Eine historisch-kulturwissenschaftlich ausgerichtete Entscheidensforschung zielt dann darauf ab, so definierte ›Kultu8 Stephen Vaisey / Lauren Valentino, Culture and Choice: Toward Integrating Cultural Sociology with the Judgment and Decision-Making Sciences, in: Poetics 68 (2018), S. 131–143. Nach Vaisey und Valentino seien viele Vorbehalte, die von Geistes- und Kulturwissenschaftler*innen gegenüber den Decision Sciences und insbesondere der Rational-Choice-Theorie gehegt werden, nicht nur überholt; eine solche Haltung führe auch zur Selbstmarginalisierung. Auch sei die Vorstellung, dass die Sprache der Kulturwissenschaften in das Feld der Decision Sciences exportiert werden könne, illusorisch. 9 Elizabeth Bruch / Fred Feinberg, Decision-Making Processes in Social Contexts, in: Annual Review of Sociology 43 (2017), S. 207–227. 10 Ein erster Schritt kann dabei darin bestehen, die Verbreitung und den Gebrauch von Entscheidungskonzepten im wissenschaftlichen Diskurs zu untersuchen. Gabriel Abend spricht mit Blick darauf, dass in immer mehr Disziplinen weitgehend unreflektiert alle möglichen sozialen und natürlichen Phänomene unter die Termini decision und choice gefasst werden, von einer Tendenz zum ›Dezisionismus‹: Gabriel Abend, The limits of decision and choice, in: Theory and Society 47 (2018), S. 805–841; ders., Outline of a sociology of decisionism, in: British Journal of Sociology 69 (2018), S. 237–264. Ori Schwarz nennt diese Tendenz ›Choicism‹: Ori Schwarz, Cultures of Choice: Towards a Sociology of Choice as a Cultural Phenomenon, in: The British Journal of Sociology 69 (2018), S. 1–14.

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ren des Entscheidens‹ für vergangene und gerade auch nicht-westliche Gesellschaften zu untersuchen und zu fragen, wie sich diese ausgebildet, entwickelt und verändert haben.11 Auch ohne vorschnelle Aktualisierungen historischer Befunde dürfte eine Auseinandersetzung mit Entscheiden in vergangenen, uns heute oftmals fremd erscheinenden Gesellschaften dabei helfen, Gegenwartsphänomene besser zu verstehen. So kann etwa gefragt werden, ob die zunehmende Verbreitung von Entscheidenssemantiken ein Ausdruck dafür ist, dass in unseren (westlichen) Gesellschaften tatsächlich immer mehr Entscheidungen getroffen werden müssen und es zunehmend schwieriger wird, (richtig) zu entscheiden  – oder ob wir es hier nicht bloß mit einer Art semantischer Konjunktur bzw. mit einer kulturellen Modeerscheinung marktliberaler und spätkapitalistischer Gesellschaften zu tun haben.12 Natürlich folgt aus einer solchen Historisierung des Entscheidens nicht zwingend Kritik an der Gegenwart. Doch Historisierung kann bestimmte Vorannahmen, die die gegenwärtige Wahrnehmung von und die derzeitigen Diskurse über Entscheiden prägen, als Elemente einer historisch spezifischen Kultur des Entscheidens verstehbar machen und damit in ihrer Reichweite relativieren. Die Ansätze, die für eine historisch-kulturwissenschaftliche Entscheidensforschung zur Verfügung stehen, konkretisieren sich erst in jüngster Zeit.13 Eine 11 Der Sonderforschungsbereich 1150 »Kulturen des Entscheidens«, der vom 01. Juli 2015 bis 31. Dezember 2019 von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) an der WWU Münster gefördert wurde, untersuchte die soziale Praxis und die kulturellen Grundlagen des Entscheidens in historisch vergleichender und interdisziplinärer Perspektive vom Mittelalter bis zur Gegenwart. Vgl. zum Forschungsprogramm und den Ergebnissen des Forschungsverbunds Barbara Stollberg-Rilinger, Cultures of Decision-Making, London 2016; Ulrich Pfister (Hg.), Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen, Göttingen 2019, v. a. ders., Einleitung, in: ebd., S. 11–34; Hoffmann-Rehnitz u. a., Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft (wie Anm. 7). Siehe auch André Krischer, Das Problem des Entscheidens in systematischer und historischer Perspektive, in: Barbara Stollberg-Rilinger / A ndré Krischer (Hg.), Herstellung und Darstellung verbindlicher Entscheidungen. Verhandeln, Verfahren und Verwalten in der Vormoderne, Berlin 2010, S. 35–64. 12 Vgl. in eine ähnliche Richtung: Schwarz, Cultures of Choice (wie Anm. 10). 13 Neben den Forschungen, die im Rahmen des SFB 1150 »Kulturen des Entscheidens« durchgeführt worden sind, s. etwa Schwarz, Cultures of Choice (wie Anm. 10); in eine ähnliche Richtung zielen die von Harper u. a. skizzierten Ansätze einer ›anthropology of choice‹: vgl. Richard Harper u. a., Choice. The Sciences of Reason in the 21st Century: A Critical Assessment, Cambridge 2016, v. a. S. 214 ff.; für eine (Kultur-)Soziologie des ›Dezisionismus‹ s. Abend, Outline of a sociology of decisionism (wie Anm. 10); für Entscheiden in den Geistes- und Sozialwissenschaften s. Armin Glatzmeier / Hendrik Hilgert (Hg.), Entscheidungen. Geistes- und sozialwissenschaftliche Beiträge zu Theorie und Praxis, Wiesbaden 2015. Günther Ortmann hat Vorschläge für eine phänomenologische Analyse von Entscheiden vorgelegt, die für die im Folgenden angestellten konzeptionellen Überlegungen eine wesentliche Referenz darstellen; vgl. u. a. Günther Ortmann, Eine Phänomenologie des Entscheidens, organisationstheoretisch genutzt und ergänzt,

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Möglichkeit ist es, nach Semantiken und Narrativen des Entscheidens zu fragen. Genau dies wird in diesem Buch unternommen. Dabei liegt der Fokus nicht auf (westlichen) Gegenwartsgesellschaften – vielmehr hat der allergrößte Teil der in diesem Band versammelten Beiträge eine historische Ausrichtung, wobei ein besonderer Schwerpunkt auf der Vormoderne (Mittelalter und Früher Neuzeit) liegt. Dem liegt die Auffassung zugrunde, dass es sich beim Entscheiden und der Frage, wie dieses gefasst, beschrieben und dargestellt wird, keineswegs nur um ein modernes Problem handelt. Die Kultur- und Problemgeschichte des Entscheidens ist vielmehr eine Geschichte der longue durée, innerhalb derer sich zu unterschiedlichen Zeiten und in unterschiedlichen Gesellschaften ganz verschiedene Möglichkeiten ausgebildet haben, mit dem Entscheiden und den damit verbundenen Problemen umzugehen und diese zu reflektieren. Entscheiden kommt also eine historisch spezifische kulturelle Bedeutung zu, die sich insbesondere auf der Ebene der Semantiken und Narrative fassen lässt. Der Band möchte einen Beitrag dazu leisten, diese historische Vielfalt von Kulturen des Entscheidens sichtbar zu machen. Es geht in diesem Band einerseits (auch) um eine Begriffsgeschichte des Entscheidens. Eine solche liegt, wie ein Blick in einschlägige Hand- und Wörterbücher zeigt, noch nicht vor: Entweder fehlt ein entsprechender Eintrag, oder aber dieser erweist sich in historisch-semantischer Perspektive als unbefriedigend.14 Andererseits wird keine begriffsgeschichtliche Engführung vorgenommen. Denn angesichts des zugrunde liegenden, noch zu entfaltenden Verständnisses von Entscheiden ist es nämlich zunächst einmal wenig wahrscheinlich, dass sich ›Entscheiden‹ als expliziter Begriff überhaupt ausprägt. Da dies ein hohes Maß an Abstraktion erfordert, ist es insgesamt wahrscheinlicher, dass (von) Entscheiden ›einfach‹ erzählt wird. Doch auch die Narrative, in denen etwa in literarischen Texten Entscheiden verarbeitet wird, sei dies in fiktiona-

in: Reiner Keller u. a. (Hg.), Kommunikativer Konstruktivismus. Theoretische und empirische Arbeiten zu einem neuen wissenssoziologischen Ansatz, Wiesbaden 2013, S. 121–149. Ortmann greift dabei unter anderem auf Überlegungen Niklas Luhmanns zum Entscheiden zurück: vgl. u. a. Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, Wiesbaden ³2011, v. a. Kap. 4; ders., Soziologische Aspekte des Entscheidungsverhaltens, in: Die Betriebswirtschaft 44/4 (1984), S. 591–603; ders., Zur Komplexität der Entscheidungssituationen, in: Soziale Systeme 15/1 (2009), S. 3–35. 14 Die »Geschichtlichen Grundbegriffe« haben keinen Artikel zur Entscheidung; begriffsgeschichtlich entweder einseitig oder uninteressiert sind: Hanns Wienold, Art. ›Entscheidung‹, in: Lexikon zur Soziologie, Wiesbaden 52011, Sp. 170; Rudolf Schicker, Art. ›Entscheidung‹, in: Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Tübingen 1994, Bd. 2, Sp. 1222–1231; Hasso Hoffmann, Art. ›Dezision, Dezisionismus‹, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Darmstadt 1972, Bd. 2, Sp. 159–161; C. v. Bormann, Art. ›Entscheidung‹, in: ebd., Sp. 541–544; K.  Wöhler, Art. ›Entscheidungstheorie‹, in: ebd., Sp. 544–547. Zu Ansätzen einer ›Linguistik des Entscheidens‹ vgl. Katharina Jacob, Linguistik des Entscheidens. Eine kommunikative Praxis in funktionalpragmatischer und diskuslinguistischer Perspektive, Berlin 2017.

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ler oder faktualer Form, sind bisher erst in Ansätzen untersucht worden.15 In diesem Band stehen daher Untersuchungen zu Semantiken neben und oftmals in Verbindung zu solchen Narrativen des Entscheidens. Es wird auch nicht der Versuch unternommen  – anders als etwa die kanonischen »Geschichtlichen Grundbegriffe« dies tun –, eine begriffsgeschichtliche Bestandsaufnahme auf der Basis philosophischer und literarischer Texte vorzunehmen. Ebenso geht es nicht darum, lexikalisch bestimmte Themenbereiche oder gesellschaftliche Sektoren abzuarbeiten, für die das Entscheiden einschlägig ist. Vielmehr werden in exemplarischen Untersuchungen Bausteine für eine Geschichte von Semantiken und Narrativen des Entscheidens zusammengetragen. Dabei gilt es, vom Mittelalter über die Frühe Neuzeit und die Moderne bis in die Gegenwart kontextsensibel Semantiken und Narrative des Entscheidens zu identifizieren und zu deuten. Es soll damit ein historisch-semantischer und narrativistischer Einblick in die Vielfalt der Funktionen gegeben werden, die die Rede vom Entscheiden in unterschiedlichen Kontexten übernommen hat. Die folgenden Ausführungen gliedern sich in drei Teile: Zunächst werden, ausgehend von einer kritischen Auseinandersetzung vor allem mit den Decision Sciences, konzeptionelle Grundlagen einer historisch-kulturwissenschaftlich ausgerichteten Entscheidensforschung diskutiert (2.). Daran anschließend wird erläutert, was unter ›Semantiken‹ und ›Narrativen‹ des Entscheidens verstanden wird und wie beide miteinander zusammenhängen. Dazu werden die Konzepte der Begriffsgeschichte, der historischen Semantik sowie der Narratologie auf ihre Nützlichkeit für das hier behandelte Thema befragt (3.). Abschließend sollen, ausgehend von den Beiträgen dieses Bandes, einige historische Entwicklungslinien zu Semantiken, Narrativen und damit auch zu Kulturen des Entscheidens zwischen Mittelalter und Gegenwart skizziert werden (4.).

2. Konzeptionelle Grundlagen: Entscheiden als Begriff der historisch-kulturwissenschaftlichen Forschung Entscheiden ist scheinbar omnipräsent. Immer wieder liest man, dass der Mensch am Tag rund 20.000 Entscheidungen trifft, also im Schnitt etwa alle vier Sekunden. Entscheiden wird damit zu einem permanenten, das ganze Leben durchziehenden Phänomen.16 Diese Tendenz zum ›Dezisionismus‹, so Gabriel 15 Dies unternimmt der ebenfalls im Kontext des SFB 1150 entstandene Band Martina ­Wagner-Egelhaaf / Bruno Quast / Helene Basu (Hg.), Mythen und Narrative des Entscheidens, Göttingen 2020. Im Unterschied zu unserem Band wird hier ein Schwerpunkt auf mythische Entscheidenserzählungen gelegt. 16 Vgl. dazu etwa das Editorial von Michael Schaper zur o. g. Ausgabe von GEO Wissen 64 (wie Anm. 3), S. 3: »Im Grunde besteht unser Alltag aus einer unendlichen Folge von Entscheidungen, beruflich und privat. Unablässig müssen wir eine Wahl treffen, bestimmen, was wir tun.« Oder Max Fellmann, Ja, Nein, Hilfe!, in: Süddeutsche Zeitung Magazin

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Abend, lässt sich auch in den Wissenschaften beobachten, und zwar nicht nur in den ›Menschenwissenschaften‹, sondern auch in solchen Disziplinen, die sich wie die Technikwissenschaften oder die Tier- und Pflanzenbiologie mit nicht-menschlichen Phänomenen beschäftigen.17 Die Auffassung, dass alle und gerade auch die alltäglichsten Handlungen Entscheidungen darstellen, alles Handeln mithin Entscheiden ist, steht allerdings im Kontrast zu der Art und Weise, wie Entscheidungen, gerade auf individueller Ebene, thematisiert werden: Denn als Entscheidungen, zumindest erzählens- und berichtenswerte Entscheidungen, werden vor allem außergewöhnliche und gerade nicht als alltäglich empfundene Ereignisse wahrgenommen, die mit weitreichenden Folgen, etwa für den eigenen Lebensweg, verbunden sind. Diese Zuschreibung von Außeralltäglichkeit entspricht, wie die Beiträge in diesem Band zeigen werden, der Art und Weise, wie Entscheiden gerade auch in westlichen Gesellschaften lange Zeit wahrgenommen und begriffen wurde, während die Veralltäglichung von Entscheiden ein relativ junges Phänomen ist. Der sich immer weiter ausbreitenden Verwendung von ›Entscheiden‹ entspricht seine semantische Unbestimmtheit, gerade in den Terminologien der Decision Sciences.18 Denn überraschenderweise werden in diesen kaum Versuche unternommen zu klären, was unter ›Entscheidung‹ (decision) und ›Entscheiden‹ (decision-making) zu verstehen ist.19 Auch ihr Gegenstandsbereich und

(wie Anm. 3), S. 22–30, hier S. 24: »Entscheiden, ständig Entscheiden (…) Wissenschaftler haben errechnet, dass der moderne Mensch täglich um die 20. 0000 Entscheidungen treffen muss. Klingt absurd, kann aber gut stimmen. Es ist ja alles Entscheidung.« Der Autor stellt dabei fest, dass diese Allgegenwart des Entscheidens und der Umstand, dass Entscheidungen immer mehr »als Qual empfunden werden«, seine Entsprechung darin findet, dass »Entscheidungsangst« bzw. die »chronische Entscheidungsqual« mittlerweile zu einer Art »Volkskrankheit« geworden ist. 17 Für entsprechende Nachweise s. Abend, The limits of decision and choice (wie Anm. 10); s. auch ders., Outline of a sociology of decisionism (wie Anm. 10). So steht das 2019 begonnene siebte Teilprogramm des WIN -Kollegs der Heidelberger Akademie der Wissenschaften unter dem Oberthema »Wie entscheiden Kollektive?«. Gefragt wird dabei nach der »Entstehung von Entscheidungsprozessen in Kollektiven«, wobei dies nicht allein auf soziale bzw. menschliche, sondern auf sämtliche von Lebewesen gebildete Kollektive bezogen wird und auch Phänomene sowie Disziplinen außerhalb der Sozial- und Lebenswissenschaften adressiert. Insgesamt handele es sich dabei, so lässt sich auf der Akademie-Homepage lesen, um ein »Thema, welches sich bisher jeweils abgrenzend in den Naturwissenschaften, Medizin, Sozial- und Geisteswissenschaften wiederfindet und die Entwicklung aktueller Forschungsansätze initiiert. Eine genauere Analyse lässt jedoch die Hypothese zu, dass sich über alle Bereiche hinweg allgemein gültige Verhaltensregeln aufzeigen lassen, die zu Entscheidungen des jeweiligen Kollektivs führen.« Siehe dazu https://www.hadw-bw.de/group/23 (Stand: 14. Dezember 2020). 18 Dies zeigt exemplarisch die Kampagne, die die DFG unter dem Motto »Für das Wissen entscheiden« im Rahmen des Jubiläumsjahrs 2020 durchgeführt hat. 19 So widmet das umfangreiche Buch von Jungermann, Pfister und Fischer dem Begriff der Entscheidung gerade einmal anderthalb Seiten, was darauf hindeutet, dass man eine Ex-

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ihre disziplinären Grenzen sind unbestimmt. Wenn sich Begriffsbestimmungen finden, dann bleiben diese in aller Regel äußerst unspezifisch. Zumeist wird dabei auf die ›objektive‹ Existenz unterschiedlicher Optionen und in diesem Sinne auf Kontingenz verwiesen und häufig, gerade im anglo-amerikanischen Bereich, eine Gleichsetzung von decision und choice vorgenommen. Nach einem solchen Verständnis lässt sich dann nahezu sämtliches menschliches (und auch nicht-menschliches) Handeln und Verhalten als Entscheiden fassen, da jede Handlung und jedes Verhalten kontingent ist – besteht doch (fast) immer die, zumindest theoretische, Möglichkeit, eine Handlung bzw. ein bestimmtes Verhalten zu unterlassen.20 Innerhalb des wissenschaftlichen Diskurses entwickelt sich ›Entscheiden‹ insofern zu einem leeren Signifikanten, der auf nichts Genaues  – vor allem nicht auf einen klar abgegrenzten Phänomenbereich  – verweist. Als wissenschaftlicher Begriff, der bestimmte Wissensfelder konstituieren und organisieren soll, ist das so verstandene Entscheiden denn auch untauglich, da es nicht hinreichend klar von anderen Begriffen unterschieden werden kann. Diese Unklarheit scheint vor allem dazu zu dienen, die disziplinären Grenzen gerade zwischen den Sciences und den Humanities zu transzendieren. Dies entspricht der Tendenz der Decision Sciences, sich zunehmend und offenbar recht erfolgreich als eine Disziplinen übergreifende Meta-Wissenschaft darzustellen. Damit verbunden ist der hegemoniale Anspruch eines szientistischen Wissenschaftsverständnisses, wie es nicht nur in den Naturwissenschaften dominierend ist, sondern auch in der Wirtschaftswissenschaft und der Psychologie als den­ jenigen Fächern, die zusammen mit den Neurowissenschaften den disziplinären Kern der Decision Sciences bilden.21 Es sind denn auch Vertreter*innen dieser plikation der eigenen Grundbegriffe für unproblematisch zu halten scheint. Vgl. Helmut Jungermann u. a., Die Psychologie der Entscheidung. Eine Einführung, Heidelberg 32010, S. 3 f. 20 Demnach handelte es sich um eine Entscheidung, wenn objektiv auch etwas Anderes möglich gewesen wäre. In diesem Sinne könnte man dann etwa davon sprechen, dass sich ein Fisch entscheidet, nach rechts zu schwimmen, weil er rein objektiv gesehen auch nach links oder geradeaus hätte schwimmen können. Auch Maschinen, z. B. Computer, würden in diesem Sinne ›entscheiden‹ (hier zwischen 0 und 1). In einer solchen objektivistischen Sichtweise, wie sie in den Decision Sciences verbreitet ist, ist es demnach auch unerheblich, ob die (objektiv gegebenen) Optionen als solche, d. h. in ihrer Optionalität, und der durch sie bedingte kontingente Charakter einer bestimmten Situation überhaupt wahrgenommen werden (können). Setzt man aber Letzteres bei der Definition von Entscheiden voraus, dann schränkt das die einzubeziehenden Phänomene bereits erheblich ein. 21 Die zunehmende Bedeutung, die der Psychologie und den Neurowissenschaften innerhalb der Decision Sciences zukommt, wird besonders anhand des großen Erfolgs der sogenannten behavioral economics deutlich; dies zeigt sich u. a. an der Vergabe des Wirtschaftsnobelpreises an führende Vertreter und Wegbereiter dieser Forschungsrichtung wie Daniel Kahneman und Robert Thaler. Zur behavioral economics vgl. u. a. Harper u. a., Choice (wie Anm. 13), S. 44–81.

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Fächer, die innerhalb des öffentlichen Diskurses über (menschliches) Entscheiden, zumindest soweit dieser auf wissenschaftliche Expertise zurückgreift, eine führende Rolle einnehmen. Von ihnen erhofft man sich praktisches, allerdings auf wissenschaftlicher Grundlage gewonnenes (und damit legitimiertes) Wissen darüber, wie mit alltäglichen Entscheidungsproblemen umgegangen werden soll.22 Ein auffälliges Merkmal der öffentlichen wie auch der wissenschaftlichen Thematisierung von Entscheiden besteht in der Tendenz zur Individualisierung bzw. Personalisierung. Das heißt: Entscheiden wird vornehmlich auf der Ebene von Individuen (sowie teils auf subpersonaler Ebene, wenn etwa ›das Gehirn‹ entscheiden können soll) verhandelt. So werden im öffentlichen Diskurs Erkenntnisse aus der Entscheidungsforschung zumeist über individuelle Schicksale und Erfahrungen veranschaulicht – und zwar insbesondere auch in Form von Erzählungen.23 Entscheiden wird hierbei aber nicht nur als individuelles Problem behandelt, sondern darüber hinaus auch als etwas, das sich im Inneren von Individuen abspielt. Entscheidungen sind demnach vornehmlich das Ergebnis mentaler Vorgänge. Diese individualistischen und mentalistischen Tendenzen lassen sich nicht nur mit Blick auf die private Ebene, sondern etwa auch bei der öffentlichen Kommunikation über Politik beobachten: So wird politisches Entscheiden häufig auf die personale Ebene heruntergebrochen und der Fokus auf das Handeln und die Entscheidungen einiger weniger ›großer Männer‹ (und in geringerem Umfang auch Frauen) gelegt. Eine entsprechende Bedeutung wird denn auch deren persönlichen, charakterlichen und psychischen Eigenschaften

22 Insbesondere der psychologischen und neurologischen Entscheidungsforschung wird dabei ein großes Vertrauen entgegengebracht. Vgl. etwa: Sebastian Krenz / Bertram Weiß, Kopf oder Bauch?, in: GEO Wissen 64 (wie Anm. 3), S. 29–35, hier S. 35. Dies hängt mit der Tendenz zusammen, Entscheiden als mentales Geschehen zu verstehen, während (soziales) Verhalten dann nicht mehr ist als der äußere Ausdruck des Entscheidens (s. dazu unten). Eine zunehmende Bedeutung haben in letzter Zeit innerhalb der Decision Sciences auch die Genetik und die Evolutionsbiologie erlangt, da man von ihnen Antworten darauf erwartet, worin die allgemeinen Voraussetzungen menschlichen Entscheidungsverhaltens bestehen. 23 Aber auch auf visueller Ebene wird dies deutlich. So werden in populären Wissens­ magazinen Entscheidungsthemen vorwiegend durch die Abbildung individueller, isolierter Personen dargestellt (s. etwa die o. g. Ausgabe von GEO Wissen). Eine interessante Variante findet sich beim o. g. Magazin der Süddeutschen Zeitung – der Artikel (inklusive des Covers) ist illustriert mit Zwillingspaaren, die jeweils eine (alternative) Option präsentieren: Birne oder Apfel, Schach oder Tennis, warm oder kalt, Hund oder Katze. Solchen Entscheidungsdarstellungen liegen wiederum kulturelle Muster zugrunde, die wie etwa das Scheideweg-Motiv oder das damit verbundene Y-Signum (das zum Beispiel auf dem Cover der o. g. Ausgabe von GEO Wissen benutzt wird) eine lange, zum Teil bis in das Mittelalter und in die Antike zurückreichende Tradition besitzen. Vgl. dazu Wolfgang Harms, Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges, München 1970 sowie den Beitrag von Martina Wagner-Egelhaaf in diesem Band.

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zugeschrieben.24 Der Rückgriff auf solche individualistischen Entscheidens­ narrative dient dabei nicht zuletzt dazu, die Komplexität von Politik zu reduzieren und so die Sphäre des politischen Handelns für die Allgemeinheit (vorgeblich) verstehbar zu machen. Auch bei der Verbreitung individualistischer und mentalistischer Repräsentationen des Entscheidens gibt es eine ausgeprägte Entsprechung zwischen dem öffentlichen Diskurs und der Art und Weise, wie in den Wissenschaften Entscheiden gefasst wird. Insbesondere die anglo-amerikanischen Wirtschaftswissenschaften, aber auch Teile der Sozialwissenschaften konzipieren menschliche Akteure und das Soziale oft, einer liberal-individualistischen Weltsicht entsprechend, auf der Basis von Rational-Choice-Annahmen. Auch hier wird Entscheiden und der Umgang mit den damit verbundenen Herausforderungen, auch wenn sie ihren Ursprung in gesellschaftlichen Entwicklungen haben, auf der individuellen Ebene verortet und vornehmlich als inneres, mentales Geschehen konzipiert. Dabei wird das Verhältnis von innerem und äußerem Handeln als Korrespondenzverhältnis gefasst, sodass individuelle Handlungen als direkter Ausdruck mentaler Vorgänge, nicht zuletzt von (inneren) Entscheidungen, verstanden werden.25 Zwischen (innerem) Entscheiden und (äußerem) Handeln wird damit kein grundlegender, vor allem kein kategorialer Unterschied gemacht. Eine solche reduktionistische Tendenz liegt insbesondere der mikro­ ökonomischen Modellbildung zugrunde. Sie zeigt sich aber auch in anderen Theorietraditionen, die die Decision Sciences maßgeblich bestimmen. Denn soziale Phänomene und Zusammenhänge werden dabei vornehmlich über die Logik der Aggregation – hier: der Aggregation individueller Handlungen bzw. Entscheidungen  – und über entsprechende Modellbildungen konzi­ 24 Auch hier gelten diejenigen exzeptionellen Entscheidungen als besonders erzählenswert, denen ein existentieller Charakter zugeschrieben wird. In der Rede von ›Merkels Entscheidung‹ wird all dies in besonderer Weise deutlich, verbindet sich doch darin die Auffassung, dass sich die Entwicklung der ›Flüchtlingskrise‹ von 2015/2016 letztlich auf eine ›historische‹ Entscheidung der Kanzlerin zurückführen lasse. Diese Erzählung hat sich allerdings erst in der Rückschau verbreitet: vgl. die beiden Zeitungsartikel, die am Jahrestag dieser angeblichen ›Entscheidung‹ erschienen: Merkels Entscheidung  – Wie eine Nacht das Land veränderte, in: Hamburger Abendblatt online, 04.09.2016: https:// www.abendblatt.de/politik/article208179235/Merkels-Entscheidung-Wie-eine-Nachtdas-Land-veraendert.html (Stand: 04. Januar 2021); Eckart Lose / Stephan Löwenstein, Überrollt, in: Faz.net, 03.09.2016: http://www.faz.net/aktuell/ein-jahr-fluechtlingskriseueberrollt-14418217.html (Stand: 04. Januar 2021). Für eine linguistische Analyse von ›Entscheiden‹ im parlamentarischen Diskurs vgl. Jacob, Linguistik des Entscheidens (wie Anm. 14). 25 Damit lassen sich inneres Entscheiden und äußerliches Handeln in ein direktes Kausalitätsverhältnis zueinander setzen, sodass man dann aus Letzterem Rückschlüsse auf Ersteres ziehen kann. Besonders deutlich wird dies bei der in den Wirtschaftswissenschaften verbreiteten Auffassung, dass die (äußeren) Handlungen ökonomischer Akteure revealed preferences darstellen. Das heißt: Die Präferenzen individueller Akteure bestimmen unmittelbar deren Entscheidungen, die dann wiederum in ihren (ökonomischen) Handlungen sichtbar werden. Vgl. dazu auch Harper u. a., Choice (wie Anm. 13).

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piert.26 Durch diesen doppelten Reduktionismus wird es möglich, das innere Handeln individueller Akteure, vor allem ihre Präferenzen und die dadurch bestimmten Entscheidungen, in einen direkten Zusammenhang mit übergreifenden sozialen Phänomenen zu bringen. Insofern zeichnen sich die Decision Sciences durch eine individualistische Ausrichtung und einen methodologischen Mentalismus aus.27 Beides steht im Gegensatz zum Selbstverständnis der (historischen) Geistes- und Kulturwissenschaften, zumindest zu denjenigen Ansätzen, die einem (moderaten) sozial-konstruktivistischen Paradigma folgen. Diese nehmen spätestens seit dem Ende des letzten Jahrhunderts eine dominierende Stellung innerhalb der Humanities ein. Insofern scheint denn auch eine in dieser Weise historisch-kulturwissenschaftlich ausgerichtete Entscheidensforschung nicht kompatibel mit zentralen Prämissen der Decision Sciences zu sein.28 Besonders deutlich wird dies in den unterschiedlichen Vorstellungen des Sozialen. So wird das Soziale in den neueren (historischen) Kulturwissenschaften vor allem als interaktives respektive kommunikatives Geschehen verstanden. Das heißt: Es wird vornehmlich die Ebene in den Blick genommen, die zwischen dem rein Individuellen auf der einen und den gesellschaftlichen Strukturen und sozialen 26 Zum Aggregationsproblem auch Philip Hoffmann-Rehnitz / Tim Rojek / U lrich Pfister / ​ Michael Quante, Diesseits von methodologischem Individualismus und Mentalismus. Auf dem Wege zu einer geistes- und kulturwissenschaftlichen Konzeption des Entscheidens, in: Tim Rojek / Michael Quante (Hg.), Interdisziplinarität in den Geistes- und Gesellschaftswissenschaften / Interdisciplinarity in the Humanities and Social Sciences = Angewandte Philosophie. Eine internationale Zeitschrift 1/2019, S. 133–152, hier S. 141 ff. Die Logik der Aggregation führt dazu, dass einzelne Handlungen bzw. Entscheidungen für die Modellierung sozialer Phänomene letztlich irrelevant werden, da diese in statistisch-mathematischen Modellen aufgehen. Insofern sind die behavioral economics mit Blick auf menschliches Verhalten auch allein an den regelhaften Abweichungen vom Modell des homo oeconomicus, vor allem an den allgemeinen mentalen und kognitiven Begrenzungen (menschlicher) Rationalität, interessiert. Daher ist mit dem Konzept der bounded rationality auch keine grundsätzliche Infragestellung der allgemeinen Grundlagen von Rational-Choice-Theorien verbunden, sondern sie stellt nur eine Erweiterung dar. 27 Mit (methodologischem) Mentalismus werden dabei solche Ansätze gefasst, die »Handlungen auf mentale Ereignisse oder Zustände [zurückführen], die als explanatorisch relevante Größen für die Erklärung individuellen (und unter Umständen auch kollektiven) Handelns (inklusive Redehandelns) postuliert werden«: Vgl. dazu HoffmannRehnitz u. a., Diesseits von methodologischem Individualismus und Mentalismus (wie Anm. 26), Zitat S. 137; zum (methodologischen) Mentalismus vgl. Carl-Friedrich Geth­ mann / Thorsten Sander, ›Anti-Mentalismus‹, in: Carl Friedrich Gethmann (Hg.), Vom Bewusstsein zum Handeln. Das phänomenologische Projekt und die Wende zur Sprache, München 2008, S. 203–216. 28 Dies gilt allerdings nicht für die Geistes- und Kulturwissenschaften insgesamt; so besitzen ›historistische‹ Ansätze eine ausgeprägte individualistische und mentalistische Tendenz, die insbesondere politische Ereignisse auf die Entscheidungen einzelner Individuen zurückführt, wobei deren inneren Motiven eine zentrale erklärende Funktion zugeschrieben wird.

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Kollektivphänomenen auf der anderen Seite liegt.29 Insofern sind die jüngeren (historischen) Kulturwissenschaften sowohl anti-individualistisch als auch anti-strukturalistisch ausgerichtet.30 Es geht ihnen vielmehr darum, zu untersuchen, wie sich Soziales im Sinne interaktiven und intersubjektiven Handelns vollzieht und auf welchen kulturellen Bedingungen und kommunikativen Logiken dieses beruht.31 Eine historisch-kulturwissenschaftliche Entscheidensforschung, wie sie in diesem Band verfolgt wird, geht denn auch von einem Verständnis von Entscheiden als einer spezifischen Form sozialen Handelns bzw. einer spezifischen kommunikativen Praxis und als einem überindividuellen (aber keineswegs zwingend kollektiven) Geschehen aus.32 Dies bedeutet einerseits, dass Entscheiden nicht die allgemeine Bedingung für soziales bzw. 29 Dies zeichnet insbesondere praxeologische bzw. praxistheoretischer Ansätze aus, die in den letzten Jahren in der Soziologie oder auch in der Geschichtswissenschaft große Popularität erfahren haben; zu Möglichkeiten einer Anwendung solcher Ansätze für die historische Untersuchung von Entscheiden s. Hoffmann-Rehnitz u. a., Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft (wie Anm. 7), S. 232–249. 30 Genauer gesagt: Sie suchen sowohl einen individualistischen Reduktionismus (wie dies etwa für den klassischen Historismus kennzeichnend ist) als auch einen strukturalistischen wie auch einen kollektivistischen Reduktionismus (wie dies etwa für marxistische Ansätze kennzeichnend ist) zu vermeiden. 31 So besitzt die ›Neue Kulturgeschichte‹ einen Schwerpunkt in der Untersuchung interaktiver bzw. kommunikativer Ereignisse und Zusammenhänge, insbesondere von solchen, die wie Rituale, Zeremonien und Prozessionen durch Muster der symbolischen Kommunikation geprägt sind. Aber auch andere Formen des (alltäglichen wie außeralltäglichen) sozialen Handelns bzw. der sozialen Kommunikation wie Verfahren, Verhandlungen, Konflikte, Versammlungen, Tauschen, Bitten, Konkurrieren oder eben auch Entscheiden stehen im Fokus der jüngeren kulturgeschichtlichen Forschung. Nicht zuletzt aufgrund der für soziales Handeln konstitutiven doppelten Kontingenz entfaltet interaktives und intersubjektives Handeln eine Eigenkomplexität, sodass sich dieses nicht in linear-kausaler Weise aus den einzelnen Handlungen, aus denen sich dieses zusammensetzt, ableiten lässt. Dies setzt der Anwendung mathematischer Modelle enge Grenzen. Charakteristischerweise beruht das Gefangenen-Dilemma als das basale Modell des Mehr-PersonenSpiels gerade darauf, dass Kommunikation und Interaktion zwischen den Personen ausgeschlossen sind. 32 So bestimmen etwa auch Karin und Nils Brunsson decision-making als eine spezifische bzw. »particular [social] activity«: Karin Brunsson / Nils Brunsson, Decisions. The Complexities of Individual and Organizational Decision-Making, Cheltenham 2017. Auch Tanja Pritzlaff richtet in ihrer vornehmlich auf die Politikwissenschaft ausgerichteten Rekonstruktion des Entscheidungsbegriffs den Blick über individuelles Entscheiden hinaus auf Entscheiden als »das gemeinsame Handeln mehrerer Individuen« und fasst dieses als eine soziale Praxis: Tanja Pritzlaff, Entscheiden als Handeln. Eine begriffliche Rekonstruktion, Frankfurt a. M. 2006, Zitat S. 12. Eine solche Konzeption von Entscheiden als kommunikativem, interaktivem Geschehen ist die wesentliche Leerstelle innerhalb der individualistisch ausgerichteten Decision Sciences. Auch beim Blick auf die öffentliche Wahrnehmung von und die Kommunikation über Entscheiden fällt auf, wie wenig präsent, zumindest in westlich geprägten Gesellschaften, ein solches Verständnis von Entscheiden als sozialem Handeln ist. Dabei ist es lebensweltlich unmittelbar plausibel, dass viele Entscheidungen nicht von einzelnen, einsam handelnden Personen getroffen werden, sondern sich aus der Kommunikation zwischen mehreren Akteuren ergeben.

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sinnhaftes Handeln ist. Vor allem bedeutet es aber andererseits, dass nicht alles Handeln Entscheiden sein kann. Schließlich wird im öffentlichen, vor allem im populärwissenschaftlichen Diskurs über Entscheiden immer wieder auf ein Narrativ zurückgegriffen: dass nämlich dem Entscheiden in der Gegenwart bzw. in der westlichen Moderne eine besondere Relevanz zukomme. Der moderne Mensch sei in einem hohen und von Vielen als problematisch erlebten Ausmaß mit der Notwendigkeit und den Zumutungen des Entscheidens konfrontiert. Nicht allein haben demnach die zu treffenden Entscheidungen zugenommen, sondern es wird aufgrund der wachsenden Komplexität der Welt auch immer schwieriger, sich zu entscheiden und richtige und gute bzw. rationale Entscheidungen zu treffen. Auch weil diese Situation als, wenn auch problematisch gewordener, Ausdruck eines liberalen, auf individueller Freiheit und Selbstverantwortung basierenden Gesellschaftsmodells gesehen wird, wird immer wieder auf eine unbestimmte Vergangenheit verwiesen, in der dies noch nicht der Fall gewesen sei. Dieses ›Früher‹ dient oft als Kontrastfolie, als das ›Andere‹ der modernen ›Entscheidungsgesellschaft‹, wie sich zum Beispiel an zwei Zitaten führender Entscheidungsforscher ablesen lässt: »Früher waren wir viel stärker beschränkt durch Regeln und Gebote, von einer Religion, der Familie, Kultur, Nation. Heute muss jeder selbst dafür geradestehen, wofür er sich entschieden hat. Das ist eine ziemliche Bürde.«33 »In der Vergangenheit glaubte man an unumstößliche Autoritäten, die einem viele Dinge bereits vorentschieden hatten. Religiöse Autoritäten, staatliche Autoritäten, Familienhierarchien (…). Heute sind viele dieser Beschränkungen verschwunden oder zumindest brüchig geworden.«34 33 So der US -amerikanische Psychologe Barry Schwartz in einem Interview von 2016: Laura Cwiertnia u. a., Ja! Nein! Vielleicht? Warum grübeln wir? Welche Entscheidungen machen glücklich? Lohnt sich Bereuen? Eine Philosophin, ein Neurowissenschaftler und ein Psychologe antworten, in: ZEIT Campus (wie Anm. 3) S. 63–68, hier S. 68. 34 So Gerd Gigerenzer; das Zitat stammt aus Max Fellmann, Ja Nein Hilfe! Nudelsorten, Urlaubsziele, Lebenswege  – warum ist es so schwierig, sich zu entscheiden? Und was macht diese ewige Quälerei mit uns?, in: Süddeutsche Zeitung Magazin (wie Anm. 3), S. 23–30, hier S. 24–26. Der Autor des Artikels, aus dem dieses Zitat stammt, konstatiert hieran anschließend, dass wir dies ja »gerade noch als großen Erfolg der Neuzeit gefeiert« hätten und dass das selbstbestimmte Sich-Entscheiden-Können und damit auch das Sich-Entscheiden-Müssen den Kern der Aufklärung à la Kant darstelle, nicht ohne dann auf die damit verbundenen Zumutungen und eine um sich greifende Entscheidungsangst zu verweisen, die er als Signum unserer Zeit ansieht: ebd., S. 26. Für ein weiteres Beispiel s. auch Ute Eberle, Scheitern – und was sich daraus lernen lässt, in: GEO Wissen (wie Anm. 3), S. 120–125, hier S. 122. Solchen Aussagen liegen Vorstellungen über den Prozess der Individualisierung, also über die Herauslösung der Individuen aus traditionellen sozialen, vergemeinschafteten Kontexten und die Ausprägung eines modernen individualisierten Selbst zugrunde, die neben und in Verbindung mit Auffassungen über Rationalisierungsprozesse den Kern von Modernisierungstheorien bilden. Hieran schließt etwa Uwe Schimank an, wenn er von rationalem Entscheiden als »Auftrag der Moderne« spricht: Schimank, Entscheidungsgesellschaft (wie Anm. 2), S. 79–119.

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Solchen Aussagen liegen allgemeine, auch in den Sozial- und Geisteswissen­ schaften verbreitete Auffassungen über den Prozess der Modernisierung zugrunde, die auf einer dichotomen Gegenüberstellung von Moderne und Vormoderne basieren. Anders als in traditionalen Gesellschaften, so eine oft wiederholte vereinfachende Sicht, können Individuen in modernen Gesellschaften viele Dinge selbst entscheiden – aber, dies ist die Kehrseite der Medaille, sie müssen es auch. Die moderne Gesellschaft lässt sich mithin, eines ihrer wichtigsten Merkmale hervorhebend, als ›Entscheidungsgesellschaft‹ bezeichnen, und eine Theorie der Moderne wird sinnvollerweise immer auch den Aspekt des Entscheidens einzubeziehen haben.35 Allerdings impliziert die These von der modernen Entscheidungsgesellschaft eine für Modernisierungsentwürfe typische, mitunter bis zum Abziehbild vereinfachende Vorstellung von ›der‹ Vormoderne als dem Anderen der Moderne. Vor- wie auch nichtmoderne, an traditionalen Werten orientierte Gesellschaften sind aus dieser Perspektive keine Entscheidungsgesellschaften, weil Entscheidungen und Prozessen des Entscheidens in ihnen eine quantitativ wie qualitativ allenfalls nachrangige Bedeutung zukommt. Vielmehr erscheinen vor- bzw. nichtmoderne Gesellschaften geprägt durch Traditionen, Routinen, Rituale, allgemein: durch vorentschiedenes, weitgehend alternativloses soziales Handeln. Die Interpretation der (westlichen) Moderne als Entscheidungsgesellschaft steht allerdings in einem grundlegenden Spannungsverhältnis zu der oben skizzierten Tendenz innerhalb der Decision Sciences, Entscheiden als ein mental-psychisches und damit (weitgehend) kultur- und geschichtsinvariantes Phänomen zu fassen. Vielmehr sei die Art und Weise, wie Menschen entscheiden, maßgeblich durch genetische Dispositionen bestimmt. Legt man eine solche Sichtweise zugrunde, ist die Vorstellung, Entscheiden sei in besonders hohem Maße für die Moderne konstitutiv (und für die Vormoderne bedeutungslos), kaum sinnvoll zu formulieren.36 Historischer Wandel und kulturelle Differen35 Vgl. zusammenfassend: Schimank, Entscheidungsgesellschaft (wie Anm. 2). In eine ähnliche Richtung zielt etwa Peter Gross’ Modell der (post-)modernen Gesellschaft als Multioptionsgesellschaft, für die neben einer Steigerung von Optionen auch die Tendenz zur ›Entobligatisierung‹ charakteristisch ist. Vgl. dazu Peter Gross, Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1994. Auch im Kontext der Theorie ›reflexiver Modernisierung‹ (Ulrich Beck u. a.) wird die Zunahme von Entscheidungsproblemen als ein Kennzeichen der ›reflexiven Moderne‹ angesehen, vor allem, dass angesichts zunehmender Komplexität die »Unentscheidbarkeit der Probleme wächst«, das heißt, dass gleichzeitig über immer mehr Probleme entschieden werden muss und die Möglichkeiten, dass dies auf einigermaßen gesicherten Grundlagen erfolgen kann, gleichzeitig abnehmen. Vgl. dazu Fritz Böhle / Margit Weihrich, Ungewissheit, Uneindeutigkeit, Unsicherheit  – Braucht die Theorie reflexiver Modernisierung eine neue Handlungstheorie?, in: Dies. (Hg.), Handeln unter Unsicherheit. Über Entscheidungen und Entscheidungsmöglichkeiten in der reflexiven Moderne, Wiesbaden 2009, S. 9–21, Zitat S. 10 f.; Helmut Wiesenthal, Rationalität und Unsicherheit in der Zweiten Moderne, in: ebd., S. 25–47, v. a. S. 26 f. 36 Vgl. in diese Richtung zielend: Andreas Frings, Rationales Handeln und historische Erklärung, in: Journal for General Philosophy of Science 38 (2007), S. 31–56.

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zen wären dann für die Frage nach den Grundlagen und Bedingungen menschlichen Entscheidens allenfalls mit Blick auf bestimmte Oberflächenphänomene von Interesse. Ist (permanentes) Entscheiden damit (nur) ein konstitutives Element der Moderne oder (auch) eines der conditio humana? Verweigern sich vormoderne Gesellschaften dem Entscheiden bzw. sind diese so beschaffen, dass Entscheiden in ihnen einfach unwahrscheinlich ist, oder versuchen sie gezielt, die allgemeine Disposition des Menschen zum Entscheiden zu unterdrücken? Ohne auf diese Fragen schon hier umfassend eingehen zu können, kann man doch festhalten: Die Antwort auf die Frage, ob die Vormoderne genauso entscheidungs- und entscheidensaffin ist wie die Moderne, hängt in hohem Maße davon ab, was man eigentlich genau mit ›Entscheiden‹ und ›Entscheidung‹ meint. Der im Folgenden entworfene Begriff des Entscheidens37 kann und soll gleichsam als ›Suchscheinwerfer‹ dafür dienen, adäquate Quellen, Situationen und ihnen zugehörige Semantiken und Narrative des Entscheidens überhaupt erst zu identifizieren. Dieser analytische Begriff, der ›Entscheiden‹ dezidiert von der ›Entscheidung‹ abgrenzt, fungiert zugleich als Kontrastfolie, um die Vielfalt der historischen Befunde klarer beschreiben und perspektivieren zu können.38 Damit steht dieser analytische und in diesem Sinne auch ›künstliche‹ Begriff in einem, möglicherweise produktiven, Spannungsverhältnis zum alltäglichen bzw. ›natür­lichen‹ Sprachgebrauch von ›Entscheiden‹ (inklusive seiner anderssprachigen Entsprechungen wie decidere oder decision-making). Dies bedeutet zweierlei: Zum einen fällt keineswegs alles, was von historischen oder zeitgenössischen Akteuren als ›Entscheiden‹ bezeichnet wird, unter den hier entworfenen Begriff des Entscheidens und den darüber bestimmten Gegenstandsbereich; dies gilt gerade auch für die gegenwärtigen Gesellschaften mit ihrer inflationären Verwendung von Entscheidenssemantiken. Zum anderen können damit aber auch soziale Phänomene und Vorgänge erfasst werden, die von den Zeitgenossen nicht explizit als ›Entscheiden‹ bezeichnet wurden bzw. werden. Eine solche analytische Begriffsbildung hat ihren Sinn also vor allem in der Begrenzung des zu untersuchenden Gegenstandsbereichs. 37 Die folgenden Ausführungen schließen an das Forschungsprogramm des SFB 1150 und die dort entwickelten Konzeptualisierungen und Begriffsbildungen an und führen diese weiter fort (s. dazu oben). Der entscheidenstheoretische Ansatz des SFB ist vor allem in der Geschichtswissenschaft aufgegriffen worden: vgl. dazu die jüngst erschienen Sammelbände Martin Clauss / Christoph Nübel (Hg.), Militärisches Entscheiden. Voraussetzungen, Prozesse und Repräsentationen einer sozialen Praxis von der Antike bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 2020; Linda Dohmen / Tilmann Trausch (Hg.), Entscheiden und Regieren. Konsens als Element vormoderner Entscheidungsfindung in transkultureller Perspektive, Göttingen 2019. 38 Mit der sprachlichen Möglichkeit, zwischen ›Entscheiden‹ und ›Entscheidung‹ zu unterscheiden, möchten wir terminologisch die Ambiguität auflösen, die zahlreiche deutsche Wörter auf »-ung« aufweisen. So kann etwa auch das Wort »Handlung« (mindestens) sowohl für ein Handlungsresultat als auch für einen Handlungsvorgang, d. h. den Akt des Handelns, gebraucht werden.

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Wir gehen von einem Begriff von Entscheiden aus, der dieses als prozessuales Geschehen fasst, das seinem Sinn nach darauf ausgerichtet ist, eine Entscheidung (als Resultat des Entscheidens) hervorzubringen.39 Dabei ist die Möglichkeit, Handeln auf die Hervorbringung einer Entscheidung hin zu entwerfen, Voraussetzung für die Konstituierung von Entscheiden und dafür, dass ein bestimmtes Handlungsgeschehen als Entscheiden gerahmt werden kann. Dies kann sich sowohl auf erst noch erfolgendes als auch auf bereits erfolgtes Handeln beziehen. Das heißt: Es ist möglich, vergangenes Geschehen als Entscheiden zu bestimmen, ohne dass dieses bereits im Handlungsvollzug als solches konstituiert worden wäre.40 Ob ein Handlungsgeschehen als Entscheiden gelten kann oder nicht, ist demnach nicht objektiv vorgegeben, sondern wird im Handeln bzw. kommunikativ hergestellt. Dabei ist es für die Konstituierung von Entscheiden nicht nötig, dass sicher ist, dass tatsächlich eine Entscheidung getroffen werden wird (bzw. getroffen wurde), sondern es reicht aus, dass dies möglich ist (bzw. war). Inwieweit ein bestimmtes Problem überhaupt als entscheidbar angesehen wird, hängt dabei sowohl von situativen als auch von allgemeinen kulturellen Faktoren ab und ist daher dem historischen Wandel unterworfen. Dies alles unterscheidet Entscheiden allerdings noch nicht grundsätzlich von anderen Formen des Handelns. Maßgeblich ist vielmehr die spezifische Art und Weise des Verhältnisses, in dem Entscheiden als – auf die Hervorbringung von Entscheidungen bezogener  – Handlungsvollzug und Entscheidung als dessen mögliches Ergebnis bzw. Produkt zueinander stehen. Bei Entscheidungen handelt es sich insofern um besondere Handlungsprodukte, als diese auf weiteres, zukünftiges Handeln bezogen sind und der Zweck von Entscheidungen (und damit auch von Entscheiden) darin besteht, Festlegungen über zukünftiges Handeln, sei es das eigene oder auch dasjenige anderer, zu treffen. Entscheiden ist in diesem Sinne eine Form des Zukunftshandelns; Entscheidungen vermitteln zwischen gegenwärtigem und zukünftigem Handeln.41 Dies führt dazu, dass sich Entscheiden vor dem Hintergrund eines doppelten Zukunftshorizonts vollzieht, der zum einen durch die zu treffende Entscheidung, zum anderen durch diejenigen Handlungen abgesteckt wird, die durch diese beeinflusst werden sollen. Dabei ist sowohl das Verhältnis zwischen dem Prozess des Entscheidens und der Entscheidung als auch das Verhältnis zwischen Entscheidung und 39 Siehe dazu wie auch zum Folgenden Hoffmann-Rehnitz u. a., Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft (wie Anm. 7), v. a. S. 226 ff.; vgl. auch Hoffmann-Rehnitz u. a., Diesseits von methodologischem Individualismus und Mentalismus (wie Anm. 26), S. 135 ff. 40 Vgl. dazu auch Michael Quante / Tim Rojek, Entscheidungen als Vollzug und im Bericht: Innen- und Außenansichten praktischer Vernunft, in: Pfister, Kulturen des Entscheidens (wie Anm. 11), S. 37–51 sowie den Beitrag von Tim Rojek in diesem Band. 41 Dies unterscheidet Entscheiden von Wählen – der Großteil von Wahlhandlungen bzw. choices besitzt nicht diese Ausrichtung auf zukünftiges Handeln, sondern bleibt in einen gegenwärtigen Handlungskontext eingebunden, zum Beispiel wenn man für eine handschriftliche Notiz einen schwarzen Stift (und nicht einen blauen, grünen oder roten) wählt.

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Entscheidungsfolgen kontingent, das heißt, sie lassen sich nicht – zumal nicht anhand der Kriterien von Kohärenz und Sequentialität – in ein eindeutiges, kausales Beziehungsverhältnis zueinander setzen.42 Diese doppelte Kontingenz des Entscheidens lässt es als eine Form des Handelns erscheinen, die mit besonders hohen Unsicherheiten, Kontingenzerfahrungen und damit auch Zumutungen für die involvierten Akteure verbunden ist.43 Dafür, dass sich Entscheiden als prozessuales Handlungsgeschehen konstituieren und vollziehen kann, muss neben dem Vorliegen eines Entscheidungsproblems44 davon ausgegangen werden, dass alternative Entscheidungsoptionen existieren – das heißt Optionen, für die jeweils unterschiedliche Gründe sprechen und die miteinander in Konflikt stehen, weil sie nicht zugleich und miteinander realisiert werden können.45 Im Sinne von Edmund Husserl und Alfred Schütz handelt es sich dabei um ›problematische Möglichkeiten‹. Das Vorliegen bzw. die Erzeugung von problematischen Möglichkeiten ist die Voraussetzung dafür, dass die Entscheidung – verstanden als die den Prozess des Entscheidens (im Erfolgsfall) abschließende Handlung – als ein »Akt« erscheint, »durch den in Fällen, wo sich ausschließende Möglichkeiten nicht zu umgehen sind, die eine Möglichkeit ausgeschlossen wird, damit die andere Wirklichkeit werden kann.«46 Die Erzeugung von Entscheidungsoptionen bzw. die Überführung von offenen in problematische Möglichkeiten ist damit bereits Teil des Entscheidens. Dass sich Entscheiden vor einem Horizont problematischer Möglichkeiten vollzieht, unterscheidet es vom normalen Handeln in der ›alltäglichen Lebenswelt‹, das sich vor dem Horizont des ›fraglos Gegebenen‹ abspielt und für das die »Ausklammerung des Zweifels« charakteristisch ist.47 Im Gegensatz hierzu 42 Allerdings wird ein solches kausales Verhältnis über entsprechende Kausalitätsnarrative oftmals retroaktiv hergestellt, nicht zuletzt, um so (individuelle)  Verantwortung zuschreiben zu können. Dabei sind – und hier liegt ein weiterer Unterschied des hier vertretenen Ansatzes zu den szientistischen Entscheidungstheorien – letztere oftmals darauf ausgerichtet, die Entscheidungsfolgen als logisch-kausale Ableitung aus der Entscheidung zu konzipieren. Vgl. dazu Bénédicte Vidaillet, When »Decision Outcomes« are not the Outcomes of Decisions, in: Gerard P. Hodgkinson / William H. Starbuch (Hg.), The Oxford Handbook of Organizational Decision Making, Oxford 2008, S. 418–436. 43 Zum Entscheiden als Zumutung s. Stollberg-Rilinger, Cultures of Decision-Making (wie Anm. 11). 44 Verstanden in einem doppelten Sinne: als ein zu entscheidendes Problem wie auch als ein als entscheidbar angesehenes Problem. 45 Zu dem eng mit ›Entscheiden‹ verbundenen Begriff der Alternative (wie auch zum Ausdruck der Alternativlosigkeit) s. Wolfert von Rahden, Alternative. Zur politischen Karriere eines Begriffs, in: Falko Schmieder / Georg Toepfer (Hg.), Wörter aus der Fremde. Begriffsgeschichte als Übersetzungsgeschichte, Berlin 2018, S. 23–30. 46 Hermann Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde u. a. (Hg.), Collegium Philosophicum. Studien. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel 1965, S. 118–140, hier S. 123. 47 Alfred Schütz, Über die mannigfaltigen Wirklichkeiten, in: Ders., Das Problem der sozialen Wirklichkeit, Den Haag 1971, S. 237–298, hier S. 265; vgl. dazu auch ders. / Thomas Luckmann, Strukturen der Lebenswelt, Konstanz 2003, v. a. S. 35 f.

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ist für Entscheiden der Zweifel konstitutiv, und zwar deshalb, weil sich Entscheiden dadurch auszeichnet, dass sich das Handlungsergebnis nicht einfach aus dem ihm vorangegangenen Handeln ergibt. Aus dem Prozess des Entscheidens lässt sich nicht eindeutig bestimmen oder gar in einer logisch-kausalen Form ableiten, welche Entscheidungsmöglichkeit realisiert wird bzw. werden soll. Zwischen Entscheiden und Entscheidung muss ein ›Sprung‹ vollzogen werden.48 Die Festsetzung einer Entscheidungsmöglichkeit erscheint demnach oftmals als Zumutung. Allerdings ist der tatsächlich erfolgende Akt der expliziten Festsetzung (im Sinne des Treffens oder Fällens) einer Entscheidung nur eine Möglichkeit, wie Entscheiden enden kann. In vielen Fällen erfolgt dies ohne einen solchen expliziten Entscheidungsakt, etwa weil sich das Entscheidungsproblem als (unter den gegebenen Umständen) nicht entscheidbar herausstellt, dieses nicht mehr als relevant angesehen wird oder weil das Treffen einer Entscheidung als zu riskant erscheint.49 Mit Blick auf Semantiken und vor allem auf Narrative des Entscheidens erscheint die das Entscheiden charakterisierende Zeitlichkeit von besonderer Bedeutung. Entscheiden lässt sich, wie gesehen, aufgrund der spezifischen Gestalt und Funktion der Entscheidung als Zukunftshandeln ansehen.50 Dabei setzt Entscheiden voraus, dass die Zukunft als nicht (vor-)bestimmt angenommen wird, sondern als offener Horizont von Möglichkeiten erscheint, der durch Entscheidungen bestimmbar ist. Entscheiden vollzieht sich demnach in der Gleichzeitigkeit von relativer Unbestimmtheit bzw. Offenheit des Zukünftigen und seiner Bestimmbarkeit, und die Funktion von Entscheiden besteht darin, die relative Unbestimmtheit von Zukunft in eine relative Bestimmbarkeit zu überführen und so den offenen Zukunfts- und Erwartungshorizont zumindest in gewisser Weise zu schließen. Dabei überlagern sich – wie bereits angemerkt – im Entscheiden zwei Zukunftshorizonte, die zudem wechselseitig aufeinander bezogen sind. Der Zukunftshorizont I ist durch die zu treffende Entscheidung bestimmt: Handeln wird demnach mit dem Ziel entworfen, zu einer Entscheidung zu gelangen. Die zentrale Frage ist dabei, ob und wie dies erfolgen kann und wird. Der Zukunftshorizont  II hingegen ist durch das zukünftige Handeln bestimmt, das durch die erst noch zu treffende Entscheidung beeinflusst werden 48 Vgl. dazu auch Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung (wie Anm. 46), S. 127 u. 129 unter Bezugnahme auf Ideen Sören Kierkegaards. 49 Die vormoderne Gerichtsbarkeit, v. a. die frühneuzeitlichen Reichsgerichte, sind ein prototypisches Beispiel für (gerichtliches) Entscheiden, das in vielen Fällen ohne explizite Entscheidung endet. Ein Großteil der vor das Reichskammergericht bzw. den Reichshofrat gebrachten Prozesse wurde nie (endgültig) entschieden, nicht zuletzt weil die Parteien häufig das Interesse daran verloren, diese fortzuführen (auch aufgrund der damit verbundenen Kosten), und damals noch kein Urteilszwang bestand. Vgl. hierzu sowie allgemein zur Geschichte des richterlichen Entscheidens Anja Amend-Traut / Ignacio Czeguhn / Peter Oestmann (Hg.), Urteiler, Richter, Spruchkörper. Entscheidungsfindung und Entscheidungsmechanismen in der Europäischen Rechtskultur, Göttingen 2021. 50 Siehe zu diesem Zusammenhang demnächst auch Bruno Quast / Susanne Spreckelmeier, Zukunft entscheiden. Optionalität in vormodernem Erzählen, Göttingen 2022.

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soll: Entscheiden wird demnach im Handlungsvollzug immer auch auf die möglichen Entscheidungsfolgen hin entworfen, und in diesem Entwurf erscheint die zu treffende Entscheidung dann im Futur II – also als eine Entscheidung, die getroffen worden sein wird. Im Entscheiden müssen mithin zwei verschiedene ›Zukünfte‹ aktualisiert und miteinander verbunden werden.51 Dies bestimmt insbesondere die Art und Weise, wie im Prozess des Entscheidens Erwartungen und Entscheidungsoptionen gebildet werden, nämlich durch die Verbindung von fiktionalen und faktualen Elementen. Wie von George L. S.  ­Shackle (und im Anschluss an diesen auch von Niklas Luhmann) betont wird, sind Entscheidungsoptionen nicht objektiv gegeben. Ihnen wird aber insofern Realitätsgehalt zugeschrieben, als davon ausgegangen wird, dass eine zu treffende Entscheidung in einem nicht völlig zufälligen Verhältnis zu ihren Folgen steht – weshalb es nötig ist, hierüber Erwartungen auszubilden. Entscheiden erfolgt demnach, so Shackle, unter den Bedingungen einer »bounded uncertainty« und vollzieht sich maßgeblich über die Bildung und den Vergleich von hypothetischen und zugleich als realisierbar angesehenen Optionen und den damit verbundenen imaginierten Zukünften.52 »Das Unbekanntsein der Zu51 Mit der Entscheidung wird diese Zeitstruktur verändert: Die Zukunft  I wird zur Vergangenheit (der Entscheidung), Zukunftshorizont  II wird zur alleinigen Zukunft. Bei einem retrospektiven Blick auf Entscheiden haben wir (nicht zuletzt die Historiker*innen) es insofern auch mit einer doppelten Vergangenheit, genauer: mit einer doppelten vergangenen Zukunft zu tun – wobei die Tendenz besteht, das, was hier als Zukunftshorizont I bezeichnet wird, auszublenden und den Blick allein auf den Zusammenhang zwischen getroffenen Entscheidungen und ihren Folgen, das heißt auf den Zukunftshorizont  II , zu richten. 52 Vgl. dazu George L. S. Shackle, Decision, Order and Time in Human Affairs, Cambridge ²1969, S. 4 ff. (Zitat S. 5) u. 11 ff.; s. auch ders., Imagination and the Nature of Choice, Edinburgh 1979. Shackles Ansatz ist gerade in den Wirtschaftswissenschaften kaum beachtet worden. Jüngst hat aber Jens Beckert in seinen Forschungen zu ›imaginierten Zukünften‹ und ›fiktionalen Erwartungen‹ als zentralen Elementen kapitalistischer Wirtschaftssysteme auf Shackle zurückgegriffen. Auch Beckert betont die Indeterminiertheit der Zukunft und die Unmöglichkeit, zukünftige Präferenzen vorherzusehen, weswegen es im Fall ökonomischen Handelns nicht möglich ist, anzugeben, was die richtige Entscheidung sein kann und sollte: Jens Beckert, Imagined Futures. Fictional Expectations and Capitalist Dynamics, Cambridge 2016, S. 56 f. Beckerts Konzept der fiktionalen Erwartungen ist als Gegenmodell zum (auf der Wahrscheinlichkeitstheorie begründeten) Modell der rationalen Erwartungsbildung konzipiert. Er schließt dabei neben Shackle insbesondere an soziologische, v. a. pragmatische Handlungstheorien und Theorien der Erwartungsbildung an (u. a. Dewey und Luhmann). Diese verstehen Erwartungen als soziale (und nicht als individuell-kognitive)  Phänomene, die in intersubjektiver Kommunikation gebildet werden und insofern eine symbolische Dimension besitzen, als sie sich auf eine offene Zukunft beziehen. Beckert betont, dass die Bildung fiktiver Erwartungen insbesondere in Form von Erzählungen darüber erfolgt, wie Zukünftiges aussehen könnte. Vor allem kollektiv geteilte Erzählungen bilden dabei eine Möglichkeit, mit der Unsicherheit von Zukunft und mit den Zumutungen des Entscheidens produktiv umzugehen, weil sie Glauben und Vertrauen in die Wirkmächtigkeit des Entscheidens mit Bezug auf zukünftiges Handeln erzeugen können. Siehe ebd., S. 8 ff. u. 13 f., sowie S. 61–94, v. a. S. 76 ff.

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kunft«, so Luhmann, »ist somit eine unentbehrliche Ressource des Entscheidens«.53 Dabei ist das Erzählen, vor allem in der Verbindung fiktionaler und faktualer Elemente, ein wesentliches Mittel, wie mit den Problemen des Entscheidens, die sich vor allem aus seiner spezifischen Zeitlichkeit und dem Unwissen über die Zukunft ergeben, umgegangen, vor allem aber auch, wie dies thematisiert und reflektiert werden kann.54

3. Semantiken und Narrative: Methodische Vorbemerkungen Methodisch basiert dieser Band auf einem breiten und inklusiven Verständnis von ›Semantik‹ und ›Narrativ‹. Dies liegt schon deshalb nahe, weil die methodologische Diskussion über Begriffsgeschichte und historische Semantik wie auch über Narrative und Narratologie mittlerweile derart ausdifferenziert ist, dass die Festlegung der in diesem Band versammelten Beiträge auf einen bestimmten Ansatz pragmatisch unmöglich und methodisch wenig zielführend gewesen wäre. Es ist nicht der primäre Anspruch dieses Bandes, die theoretische Diskussion um adäquate historisch-semantische oder narratologische Vorgehensweisen voranzutreiben, sondern die Vielfalt an Angeboten für eine historisch-kulturwissenschaftliche Untersuchung von Entscheiden fruchtbar zu machen. Dennoch sind auch mit Blick auf die im vierten Abschnitt folgenden Überlegungen zu historischen Entwicklungen von Semantiken und Narrativen des Entscheidens einige methodische und terminologische Vorklärungen sinnvoll. Dabei wenden wir uns zunächst begriffsgeschichtlichen und (historisch-) semantischen Ansätzen zu, bevor wir auf Narrative eingehen.

53 Insofern ist nach Luhmann die Möglichkeit des Entscheidens die Bedingung der Möglichkeit für Voraussicht und Prognose (und nicht etwa umgekehrt), denn: »Erst Entscheidungen machen Voraussicht möglich«: Niklas Luhmann, Die Politik der Gesellschaft, Frankfurt a. M. 2000, S. 147 f. Zum Zusammenhang von Entscheidung und Zeit / Zukunft s. etwa auch Niklas Luhmann, Soziologie des Risikos, Berlin 1991, v. a. S. 4 ff. u. 83 f.; ders., Disziplinierung durch Kontingenz. Zu einer Theorie des politischen Entscheidens, in: Stefan Hradil u. a. (Hg.), Differenz und Integration. Die Zukunft moderner Gesellschaften. Verhandlungen des 28. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Dresden 1996, Opladen 1997, S. 1075–1087, v. a. S. 1080. 54 Siehe dazu Beckert, Imagined Futures (wie Anm. 52); zur Verknüpfung von fiktionalen und faktualen Erzählungen insbesondere S. 68. Die Bedeutung, die Erzählen für das Entscheiden speziell in Organisationen besitzt, haben neuere organisationssoziologische Untersuchungen u. a. von Barbara Czarniawska aufgezeigt: vgl. dies., Narrating the Organization. Dramas of Institutional Identity, Chicago 1997.

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3.1. Begriffe, Begriffsgeschichte, historische Semantik

Weder ist ohne Weiteres klar, was Begriffe überhaupt sind  – abgesehen von einem relativ intuitiven Vorverständnis –,55 noch gibt es in einer der an diesem Band beteiligten Disziplinen feste terminologische Regelungen hinsichtlich des Gebrauchs von Ausdrücken, mittels derer (meta-)sprachlich über das Feld von Begriffen, deren potentielle Geschichte, deren Status und mögliche Klassifikationen (zum Beispiel apriorische Begriffe versus empirische Begriffe; deskriptive versus normative Begriffe oder Ähnliches) gesprochen werden kann. Eine Grundunterscheidung ist die zwischen Begriffen und Wörtern, durch die erstere dargestellt werden.56 Will man über Begriffe sprechen, so muss man dies durch Wörter tun, sei es in einer natürlichen oder einer künstlichen Sprache, die für spezifische Redezwecke (teil-)normiert wurde. Hiervon zu unterscheiden sind Wörter, die explizit als Termini in ihrer Bedeutung festgesetzt wurden, etwa durch ein Definitions- oder Explikationsverfahren. Dabei ist nicht jedes Wort in jedem Gebrauchskontext als Terminus anzusprechen, und nicht jeder Terminus (oder jedes Wort) ist ein Begriff. Es lässt sich also zwischen Wörtern, Begriffen und Termini unterscheiden. Begriffe sind interlinguale Gebilde, über die wir in einer natürlichen Sprache (zum Beispiel im Deutschen) unter Zuhilfenahme einiger ›künstlicher‹ Normierungen sprechen können. Dabei ist nicht jedes Wort (des Deutschen) fähig, einen Begriff darzustellen. So stellen zum Beispiel Eigennamen (»Reinhart Koselleck«) und Kennzeichnungen (»die erste Entscheidenstheoretikerin«), aber auch Operatoren (»und«, »nicht«, »obgleich«, »weil«) keine Begriffe dar. Begriffe werden durch Wörter dargestellt, die fähig sind, ein (logisches) Prädikat zu bilden, sei es ein- oder mehrstellig.57 Wenn wir nun über Begriffe reden, dann können wir über die Bedeutung eines Wortes oder eines Terminus (relativ zu spezifischen Gebrauchskontexten) sprechen. So wäre zum Beispiel »Kraft« in manchen Gebrauchskontexten ein Terminus der Fachsprache der Physik. Wird im Rahmen der Physik diskutiert, 55 Einen Einblick in die Komplexität der Debatte um Begriffe bietet z. B. der Artikel in der Stanford Encyclopedia of Philosophy, vgl. Eric Margolis / Stephen Laurence, Concepts, in: Edward N. Zalta (Hg.), Stanford Encyclopedia of Philosophy, Stanford 2019, https://plato. stanford.edu/archives/sum2019/entries/concepts/ (Stand: 16. Dezember 2020). 56 Die Frage, ob Begriffe immer durch Wörter dargestellt sein müssen, damit man davon sprechen kann, dass sie vorliegen, oder ob sich Begriffe z. B. auch in (ausgeübten) Handlungskompetenzen darstellen können, lassen wir hier unentschieden. 57 Beispiele für einstellige (logische) Prädikate wären: »x ist grün«, »x ist neuartig«, »x ist schön«, »x ist eine Entscheidung«. Beispiele für mehrstellige Prädikate wären etwa »x ist größer als y«, »x ist links von y und rechts von z«, »x entscheidet Sachlage z stellvertretend für y«. Wir fassen hier – wie in der begriffsgeschichtlichen Forschung allgemein üblich – Begriffe so auf, dass logische Prädikate, die sich nur anhand der Stelligkeit unterscheiden, denselben Begriff (in analogen Gebrauchskontexten) darstellen können und nicht verschiedene Begriffe bilden. Das heißt also »x ist verheiratet« und »x ist verheiratet mit y«, sind zwei Wege, in analogen Gebrauchskontexten durch eine Redehandlung den Begriff des Verheiratetseins darzustellen.

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die Definition dieses Terminus zu ändern, so können wir die einzelnen (schrift-) sprachlichen Äußerungen in Quellen heranziehen, um anhand dieser Äußerungen eine Terminologiegeschichte dieses Terminus zu erzählen. Geht es uns hingegen nicht nur um den Terminus »Kraft«, sondern um dessen Bedeutung, so sprechen wir über den Begriff dieses Terminus. Wir sprechen damit über den semantischen Gehalt des Terminus invariant gegenüber seiner Darstellung in verschiedenen Sprachen, also unabhängig davon, ob wir »Kraft« sagen, »force« oder »impetus«.58 Da unsere natürlichen Sprachen ineinander übersetzbar sind und auch innerhalb einer (natürlichen) Sprache häufig verschiedene Aus­drücke für ›dasselbe‹ (in analogen Redekontexten) gebraucht werden, können wir sagen, dass dasjenige, was hier ›dasselbe‹ bleibt, die Bedeutung dieses Wortes ist. Begriffe ›sind‹ dann die Bedeutung eines Wortes, während zwei Ausdrücke bereits dann nicht mehr identisch sind, wenn sie unterschiedliche Zeichenoder Lautfolgen bilden. So stellen die Ausdrücke »to decide« und »entscheiden« (in passenden Redekontexten) denselben Begriff dar, obgleich die Ausdrücke oder Ausdrucksgestalten nicht identisch sind (und hier auch unterschiedlichen natürlichen Sprachen angehören). Nun fällt aber ein Begriff nicht einfach mit der Bedeutung eines Wortes (oder eines Terminus) zusammen, da schließlich ein Wort verschiedene Bedeutungen haben und damit verschiedene Begriffe darstellen kann. So kann etwa das Wort »Bank«, um ein klassisches Beispiel aufzugreifen, sowohl für eine Sitzgelegenheit als auch für ein Finanzinstitut stehen. Eine ähnliche Bedeutungsvielfalt liegt auch im Fall von ›Entscheiden / Entscheidung‹ vor.59 Zugleich kann ein und derselbe Begriff durch verschiedene Worte dargestellt werden. Begriffe selbst führen weder eindeutige Individuationskriterien mit sich, noch sind sie (ohne Weiteres) (ab)zählbar.60 Um die Geschichte von Begriffen zu verfassen, ist nun zusätzlich anzunehmen, dass Begriffe – das heißt die Bedeutung von Wörtern in spezifischen Gebrauchskontexten – eine Geschichte haben können61 und damit einem Wandel unterliegen, der sich historisch aufarbeiten lässt. Gerade die Teildisziplinen der Begriffsgeschichte und der historischen Semantik haben sich dieser Aufgabe angenommen. Beide Teildisziplinen, die ihre erste Hochzeit in den 1960er und 1970er Jahren erlebten, werden derzeit einerseits wieder stärker diskutiert und sind andererseits in ein Stadium der Kanonisierung ihrer durchaus pluralen An58 Vgl. zur hier dargelegten Auffassung und entsprechenden Unterscheidungen Wilhelm Kamlah / Paul Lorenzen, Logische Propädeutik. Vorschule des vernünftigen Redens, Stuttgart 31996; Peter Janich, Sprache und Methode. Einführung in philosophische Reflexion. Tübingen 2014; Geo Siegwart, Begriff, in: Hans-Jürgen Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Hamburg 2010, Bd. 1, S. 232–236. 59 Siehe dazu unten Abschnitt 4. 60 Mithin gehören Begriffe nicht zur Klasse der Sortale, zu der etwa Menschen, Elefanten, Bücher oder Bäume zählen. 61 Mit dieser Explikation ist nicht verbunden, dass Wörter allein zentral für die Darstellung eines Begriffs sind. Zum Gebrauchskontext zählen zudem vollständige Redehandlungen bzw. je nachdem, was rekonstruiert werden soll, sogar ganze Redehandlungssequenzen (›Diskurse‹).

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sätze eingetreten.62 Das heißt auch, dass sich die scharfen Kanten zwischen den verschiedenen Ansätzen zunehmend abgeschliffen haben. Ob zum Beispiel ›historische Semantik‹ als methodischer Oberbegriff zu fassen ist, dem die Begriffsgeschichte als Subkategorie zuzuordnen wäre (so ein Vorschlag aus der jüngeren Diskussion63) oder umgekehrt, ist für die hier unternommene methodische Selbstverständigung nachrangig.64 Vor allem in der deutschen geschichtswissenschaftlichen Diskussion ging es lange Zeit vornehmlich um ›Grundbegriffe‹ der politisch-sozialen Welt. Grundbegriffe, so hat Reinhart Koselleck einmal erklärt, sind Begriffe, die in der politisch-sozialen Welt ab einem bestimmten Zeitpunkt als unabdingbar erscheinen und in denen vielfältige Erfahrungen und Erwartungen kondensieren.65 Zusätzlich hat Koselleck für das Lexikon »Geschichtliche Grundbegriffe« einige hochgradig voraussetzungsreiche Bestimmungen für die Begriffsgeschichte getroffen: etwa im Hinblick auf die Entstehung der modernen Grundbegrifflichkeit in der ›Sattelzeit‹ zwischen 1750 und 1850 und die damit einhergehenden Prozesse der Demokratisierung, Verzeitlichung, Ideologisierbarkeit und Politisierung von Begriffen66 oder im Hinblick auf die Idee, dass begrifflicher Wandel auf eine 62 Vgl. enzyklopädisch Ernst Müller / Falko Schmieder (Hg.), Begriffsgeschichte und Historische Semantik. Ein kritisches Kompendium. Berlin 2016. Zur jüngeren Diskussion s. Margrit Pernau, Einführung: Neue Wege der Begriffsgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 44 (2018), S. 5–28; Christian Geulen, Plädoyer für eine Geschichte der Grundbegriffe des 20. Jahrhunderts, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History, Online-Ausgabe 7 (2010), H. 1, S. 79–97, https://zeithistorische-forschungen. de/1-2010/4488 (Stand: 16. Dezember 2020); Willibald Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte – The State of the Art, in: Heidrun Kämper / Ludwig M. Eichinger (Hg.), Sprache, Kognition, Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung, Berlin 2008, S. 174–197. 63 Vgl. Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte (wie Anm. 62), S. 183. 64 Zur historischen Semantik zum Beispiel der Cambridge School, die über Einzelbegriffe hinaus auch semantische Felder, Sätze, Diskurse, ›languages‹ einbezieht, s. Martin Mulsow / A ndreas Mahler (Hg.), Die Cambridge School der politischen Ideengeschichte, Berlin 2010. 65 Vgl. Reinhart Koselleck, A Response to Comments on the Geschichtliche Grundbegriffe, in: Hartmut Lehmann / Melvin Richter (Hg.), The Meaning of Historical Terms and Concepts. New Studies on Begriffsgeschichte, Washington 1996, S. 59–70, hier S. 64. Kritisch dazu, ob sich überhaupt bestimmte Begriffe als ›Grundbegriffe‹ auszeichnen lassen, ohne hier pragmatische Kriterien walten zu lassen, vgl. Rolf-Peter Horstmann, Kriterien für Grundbegriffe. Anmerkungen zu einer Diskussion, in: Reinhart Koselleck (Hg.), Historische Semantik und Begriffsgeschichte, Stuttgart 1979, S. 37–42. 66 Vgl. Reinhart Koselleck, Einleitung, in: Geschichtliche Grundbegriffe: Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1972, Bd. 1, S. XIII –XXVII , hier v. a. XV–XVIII . Vgl. auch Christoph Dipper, Die »Geschichtlichen Grundbegriffe«. Von der Begriffsgeschichte zur Theorie der historischen Zeiten, in: Hans Joas / Peter Vogt (Hg.), Begriffene Geschichte. Beiträge zum Werk Reinhart Kosellecks, Berlin 2011, S. 288–316. Zur Sattelzeit s. auch Elisabeth Décultot / Daniel Fulda, Sattelzeit. Historiographiegeschichtliche Revisionen, Berlin 2016; Stefan Jordan, Die Sattelzeit als Epoche, in: Klaus E. Müller (Hg.), Historische Wendeprozesse. Ideen, die Geschichte machen, Freiburg 2003, S. 188–203.

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bestimmte Weise mit außersprachlichen, sozialen Wandlungsprozessen zusammenhängt. Begriffe, so Koselleck, seien nämlich ›Indikatoren‹ wie ›Faktoren‹ gesellschaftlicher Zustände und Wandlungsprozesse.67 Begriffsgeschichtliche Studien, selbst diejenigen, die in der Tradition Kosellecks stehen, müssen selbstverständlich nicht alle diese Prämissen und Präsuppositionen teilen, sondern können und sollten durchaus unterschiedliche methodische Ansatzpunkte erproben, wie auch die Beiträge dieses Bandes zeigen. Gerade jüngere Studien zu so unterschiedlichen Begriffen wie ›Vertrauen‹ oder ›Schicksal‹ zeigen die Flexibilität, mit der sich begriffsgeschichtliche Perspektiven mit anderen Ansätzen verknüpfen lassen.68 Einen methodischen Ausgangspunkt für den vorliegenden Band stellt das in der jüngeren Debatte immer wieder erhobene Postulat dar, bei begriffsgeschichtlichen Analysen nicht zwingend vom Vorliegen einzelner sprachlicher Ausdrücke oder gar von Einzelwörtern, sondern vom Gegenstand auszugehen, nach dessen quellenmäßigem Niederschlag gefragt wird. Gerade für eine historische Semantik des Entscheidens, die Vormoderne wie Moderne einbezieht, scheint dies ein sinnvoller Weg zu sein, da – dies machen die Beiträge dieses Bandes immer wieder deutlich – vormoderne Gesellschaften nicht oder kaum mit den sprachlichen Ausdrücken »entscheiden« und »Entscheidung« bzw. ihren Pendants in anderen Sprachen und Sprachstufen arbeiten.69 Insoweit also nicht nur eine begriffsgeschichtliche Defizitbilanz gezogen werden soll, kann man einem rein semasiologischen Zugang, der vom sprachlichen Einzelausdruck ausgeht, eine gewisse Skepsis entgegenbringen. Denn es verhält sich vielfach so, dass über ›Entscheiden‹ oder auch wesentliche Aspekte von ›Entscheiden‹ gesprochen wird, ohne dass der Ausdruck ›Entscheiden‹ fällt; vielmehr werden Synonyme oder ähnliche Termini verwendet. In diesem Sinne wäre historische Semantik die »Beschäftigung mit einem semantischen Netzwerk«, in dessen Zentrum der zu untersuchende Ausdruck (in unserem Fall: ›Entscheiden‹) steht, der »wiederum kontextabhängig zu anderen Konzepten [und Termini; Ergänzung durch d. Verf.] in Beziehung tritt«.70 Dennoch erbringen (vielleicht für moderne mehr als für vormoderne Phänomene)  auch Untersuchungen, die semasiologische Wortfeldanalysen über Entscheiden vornehmen oder Terminologie- und Terminusbildungsdiskussionen in gelehrten und wissenschaftlichen Diskursen nachzeichnen, interessante Aufschlüsse. 67 Vgl. Koselleck, Einleitung (wie Anm. 66), S. XIV. 68 Vgl. Franziska Rehlinghaus, Die Semantik des Schicksals. Zur Relevanz des Unverfügbaren zwischen Aufklärung und Erstem Weltkrieg, Göttingen 2015; Hannes Ziegler, Trauen und Glauben. Vertrauen in der politischen Kultur des Alten Reiches im Konfessionellen Zeitalter, Affalterbach 2017. 69 Dies mag mit der »dauernden Instabilität oder gar Unklarheit von Wortbedeutungen« zusammenhängen, die für die ›vorlexikalische‹ Zeit typisch ist: vgl. Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte (wie Anm. 62), S. 181. Weitere mögliche Gründe werden in Abschnitt 4. diskutiert. 70 Rehlinghaus, Semantik des Schicksals (wie Anm. 68), S. 25.

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Gerade bei der Untersuchung eines solch voraussetzungsvollen Phänomens wie im Fall des Entscheidens dürfte sich ein onomasiologischer Ansatz, der von der Sache ausgehend korrespondierende Begrifflichkeiten in den Blick nimmt, als insgesamt produktiver erweisen. Um aber überhaupt festlegen zu können, um welchen Gegenstand es sich handelt (was also unter ›Entscheiden‹ verstanden werden soll), ist es nötig, von einem abstrakt gefassten Begriff auszugehen, der für eine heuristische Suche nach Bezeichnungen für diesen Gegenstand geeignet ist.71 Dies ist im vorigen Abschnitt versucht worden. Die Definition dessen, was hier unter Entscheiden verstanden wird, fungiert in diesem Band als Werkzeug oder Sonde, um – ohne bereits die entsprechenden sprachlichen Bezeichnungen zu kennen, um deren Auffindung es ja zuallererst geht – überhaupt Situationen des Entscheidens identifizieren zu können, die dann auf ihre sprachliche (semantische oder auch narrative) Gestalt befragt werden können. »Auf diesem Weg könnte es gelingen, zentrale Termini mit ähnlichem strategischen Gebrauchswert, also mit äquivalenter ›Bedeutung‹ im sprachhandlungstheoretischen Sinne, überhaupt erst aufzufinden.«72 Die sprachlichen Ausdrücke, die zum ›Entscheiden‹ gehören, können dann auch Entscheiden / Entscheidung im Deutschen oder decidere / decisio im Lateinischen umfassen – aber sie müssen es nicht. Dieser Band nimmt aber noch eine Reihe weiterer Impulse aus der jüngeren begriffsgeschichtlichen Diskussion auf, ohne die damit aufgeworfenen Fragen erschöpfend beantworten zu können. Beispielsweise wird erstens häufig betont, dass die Relevanz von Begriffen sich oft gerade darin äußert, dass ihre Bedeutung umstritten ist. ›Wichtige‹ Begriffe scheinen sich also gerade dadurch auszuzeichnen, dass um sie gekämpft wird.73 Ob und wann dies für den Begriff des Entscheidens ebenso zutrifft und was dies dann bedeutet, wäre eine interessante Frage. Zweitens ist für die jüngere Begriffsgeschichte wichtig (und dies gilt auch für den vorliegenden Band), dass sie sich hinsichtlich der Quellenbasis weitgehend von der Orientierung an ideen- und geistesgeschichtlich bedeutenden Texten gelöst hat und das mögliche Quellenkorpus ausweitet. Auch dieser 71 Vgl. Willibald Steinmetz / Jörn Leonhard, Von der Begriffsgeschichte zur historischen Semantik von ›Arbeit‹, in: Dies. (Hg.), Semantiken von Arbeit: Diachrone und vergleichende Perspektiven, Köln 2016, S. 9–59, hier S. 10 f. Ohne ein – wenn auch zumeist erst einmal implizit – leitendes Vorverständnis wäre eine begriffsgeschichtliche Untersuchung von vornherein zum Scheitern verurteilt. 72 Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte (wie Anm. 62), S. 194. 73 Vgl. im Anschluss an Koselleck etwa Lucian Hölscher, Religiöse Begriffsgeschichte: Zum Wandel der religiösen Semantik in Deutschland seit der Aufklärung, in: Hans G. Kippenberg u. a. (Hg.), Europäische Religionsgeschichte. Ein mehrfacher Pluralismus, Göttingen 2009, Bd. 2, S. 723–746, hier S. 724; Willibald Steinmetz, Neue Wege einer historischen Semantik des Politischen, in: Ders., »Politik«. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit, Frankfurt 2007, S. 9–40; Tobias Weidner, Begriffsgeschichte und Politikgeschichte, in: Geschichte und Gesellschaft 44 (2018), S. 29–53. Vgl. hierzu auch Walter Bryce Gallie, Essentially Contested Concepts, in: Proceedings of the Aristotelian Society 56 (1956), S. 167–198.

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Band versucht, mehr oder minder alltägliche Praxen und »Situationen des Wortgebrauchs« unter die Lupe zu nehmen und schließt damit an die jüngere Begriffsgeschichte an. Diese fragt nach ›concepts in action‹ und grenzt sich so von (älteren) ideengeschichtlichen Ansätzen ab.74 Ohne der Perspektive zeitgenössischer Akteure für die Interpretation historischer Phänomene und Prozesse eine übergroße Bedeutung zuzumessen, ist doch die Aufmerksamkeit für die Begrifflichkeit und die Semantiken, die historische Akteure in der Praxis verwenden, ein wichtiges Element historischer Beschreibungen.75 Ein dritter Impuls aus der jüngeren Diskussion hängt eng mit der Idee von ›Situationen des Wortgebrauchs‹ zusammen  – nämlich die Vorstellung, dass sprachlicher und begrifflicher Wandel am besten auf einer ›praxeologischen‹ Mikroebene untersucht werden kann, sofern die Quellen dies erlauben. Semantischer Wandel kann sich so zum Beispiel durch den Bedeutungs- und Plausibilitätsverlust von Wörtern und Redewendungen, durch die strategische Nutzung besonders erfolgversprechender Wörter oder durch Importe aus anderen Sprachen ergeben.76 Die Erfolgsgeschichte des Begriffs ›Entscheiden‹ in der Moderne müsste sich, wenn dieses Postulat zutrifft, auch durch die Mikroanalyse von besonders prägenden ›Situationen des Wortgebrauchs‹ erhellen lassen. Ähnliches gilt schließlich für den vierten Impuls der jüngeren Debatten, der auf eine Globalisierung der Begriffsgeschichte zielt.77 Ist die moderne Entscheidungsgesellschaft auch in ihren zentralen Semantiken eine westliche Erfindung, die dann in andere Weltregionen importiert worden ist? Oder gibt es unterschiedliche Entwicklungspfade, die in die multipel-moderne Entscheidungsgesellschaft hineinführen?78 Gibt es in außereuropäischen Sprachen überhaupt Entwicklungen, die den europäischen ähneln? Auch diese Fragen sind im Rah74 Vgl. Steinmetz / L eonhard, Von der Begriffsgeschichte zur historischen Semantik von ›Arbeit‹ (wie Anm. 71); Rehlinghaus, Semantik des Schicksals (wie Anm. 68), S. 20. 75 Vgl. Steinmetz / L eonhard, Von der Begriffsgeschichte zur historischen Semantik von ›Arbeit‹ (wie Anm. 71), S. 59. Reinhart Koselleck hat es einmal als »methodische Minimalforderung« der Sozialgeschichte bezeichnet, dass »soziale und politische Konflikte der Vergangenheit im Medium ihrer damaligen begrifflichen Abgrenzung und im Selbstverständnis des vergangenen Sprachgebrauchs der beteiligten Partner aufgeschlüsselt werden« müssten: Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichte und Sozialgeschichte, in: ders., Vergangene Zukunft, Frankfurt a. M., S. 107–129, hier S. 114. 76 Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte (wie Anm. 62), S. 187 f.; zu semantischem Wandel s. auch Wolfgang Raible, Zur Begriffsgeschichte von ›Mensch‹. Skizze einer kognitiven Landkarte, in: Justin Stagl / Wolfgang Reinhard (Hg.), Grenzen des Menschseins. Probleme einer Definition des Menschlichen, Wien 2005, S. 155–173, hier S. 155–157. 77 Vgl. Pernau, Einführung (wie Anm. 62), S. 15 f. 78 Vgl. zum Diskussionskontext Sebastian Conrad / A ndreas Eckert, Globalgeschichte, Globalisierung, multiple Modernen: Zur Geschichtsschreibung der modernen Welt, in: Sebastina Conrad u. a. (Hg.), Globalgeschichte. Theorien, Ansätze, Themen, Frankfurt a. M. 2007, S. 7–49; Shalini Randeria, Konfigurationen der Moderne: zur Einleitung, in: Dies. / Martin Fuchs (Hg.), Konfigurationen der Moderne: Diskurse zu Indien, Sonderheft der »Sozialen Welt«, München 2004, S. 9–34; Martin Mulsow, Elemente einer globalisierten Ideengeschichte der Vormoderne, in: Historische Zeitschrift 306 (2017), S. 1–30.

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men eines Sammelbandes natürlich leichter aufzuwerfen als zu beantworten. Für weitere Forschungen erscheinen diese Rückgriffe auf die methodologischen Diskussionen der Begriffsgeschichte und der historischen Semantik jedoch von großer Relevanz. Ein weiterer Grund, weshalb wir uns entschieden haben, eher offen und inklusiv mit der vielfältigen Angebotslage im Bereich der Begriffsgeschichte und historischen Semantik umzugehen und uns stärker von sachlichen Fragen leiten zu lassen, liegt darin, dass entsprechende Ansätze primär unter Historiker*innen diskutiert werden, der vorliegende Band aber Beiträge verschiedener kulturwissenschaftlicher Disziplinen vereint. Dies hat einerseits den Vorzug der Pluralisierung der Perspektiven, geht andererseits aber mit der Herausforderung einher, ganz unterschiedliche disziplinäre Selbstverständnisse, methodische Grundsätze – etwa hinsichtlich terminologischer Rigorosität, verwendeter Methoden, Erkenntnisinteressen und Relevanzstandards  – und Begriffsverwendungen miteinander so in Einklang zu bringen, dass die Vorzüge einer solchen Vielfalt nicht verschenkt werden. Ob diese Herausforderung gemeistert worden ist, soll und muss dem Urteil der Leser*innen überlassen bleiben. 3.2. Narrative

Im Folgenden soll nun auch der Begriff des Narrativs auf seine Nützlichkeit zur Erschließung der Entscheidensthematik befragt werden. Da sich nicht nur das Feld der historischen Semantik, sondern auch dasjenige der (kulturwissenschaftlichen) Narratologie als vielbearbeitet und komplex erweist, können auch hier lediglich einige methodische Anschlussstellen markiert werden.79 »Politiken der Identität bzw. Differenz« von Kulturen, so eine verbreitete Auffassung innerhalb der jüngeren narratologischen Forschung, werden maßgeblich durch Erzählungen konstituiert, weshalb Kulturen als »Erzählgemeinschaften« verstanden werden können.80 »Narrative Kompetenz« ist die »Grundlage sozialer Partizipation« und »subjektiver Identität«,81 Erzählen mithin »eine der wichtigsten kulturellen Weisen der Welterzeugung«.82 Wenn nun in einer Gesellschaft mit Vorliebe Entscheidensgeschichten erzählt werden, dann wird Entscheiden zu einem zentralen Element ihrer Selbstbeschreibung erhoben  – 79 Vgl. zur Begründung einer kulturwissenschaftlichen Narratologie Ansgar Nünning, Wie Erzählungen Kulturen erzeugen: Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Narratologie, in: Alexandra Strohmaier (Hg.), Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Bielefeld 2013, S. 15–53. 80 Wolfgang Müller-Funk, Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, Wien ²2008, S. 14. 81 Norman Ächtler, Was ist ein Narrativ? Begriffsgeschichtliche Überlegungen anlässlich der aktuellen Europa-Debatte, in: KulturPoetik 14 (2014), S. 244–268, hier S. 250. 82 Vgl. Nünning, Wie Erzählungen Kulturen erzeugen (wie Anm. 79), S. 18.

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dies scheint zumindest in der modernen ›Entscheidungsgesellschaft‹ der Fall zu sein. Entscheidensnarrative verleihen der gesellschaftlichen Bedeutung der sozialen Handlung ›Entscheiden‹ Ausdruck, bestimmen typische Akteure, die entscheiden, und typische Gegenstände, über die entschieden wird, vor allem aber Weisen, wie dies erfolgen soll. Auch verleihen sie vielfach kulturvarianten Bestimmungen des Verhältnisses von Transzendenz und Immanenz Ausdruck, da Entscheiden zumindest in der Vormoderne oft in einem Spannungsfeld von göttlicher Providenz und individuellem Willen zu verorten ist. Die Frage nach der Historizität des Entscheidens ist daher auch immer eine Frage nach den historisch variablen Narrativen des Entscheidens.83 Doch was sind überhaupt Narrative? Der Begriff des Narrativs, der auf die englische Übersetzung der von Jean-François Lyotard beschriebenen grands récits oder méta récits (master oder grand narratives) zurückgeht,84 weist disziplinübergreifend eine große Popularität auf. Er findet neben der Literaturwissenschaft vielfach im Rahmen sprachtheoretisch geleiteter politikwissenschaftlicher und geschichtsphilosophischer Arbeiten Anwendung,85 wird dabei allerdings nur selten genau definiert. Genau in dieser »semantischen Unterbestimmtheit« liegt ein Grund für seine Beliebtheit, da sie seinen Einsatz als vertraut wirkende, »flexible Worthülse« ermöglicht.86 Der Begriff des Narrativs wird benutzt, um »Erzählphänomene mit Gemeinschaft fundierender oder legitimierender Wirkungsmacht«87 zu bezeichnen, und zielt zunächst, anders als eine konkrete Erzählung als Realisationsform, auf Erzählmuster ab.88 Narrative ›binden‹ kulturelle Werte einer Gemeinschaft in konventionalisierten Erzähl83 Der Begriff der ›historischen Narratologie‹ ist bislang vor allem in den Literaturwissenschaften eingeführt, insbesondere in derjenigen zur Vormoderne: vgl. dazu Eva von Contzen / Stefan Tilg (Hg.), Handbuch Historische Narratologie, Berlin 2019; Harald ­Haferland / Matthias Meyer (Hg.), Historische Narratologie  – Mediävistische Perspektiven, Berlin 2010. Allerdings besitzt diese Forschungsrichtung bisher eine rein philologisch-literaturwissenschaftliche Ausrichtung. 84 Vgl. Gisela Zifonun, Ein Geisterschiff auf dem Meer der Sprache: das Narrativ, in: Sprachreport 33 (2017), S. 1–3, v. a. S. 1 unter Verweis auf Jean-François Lyotard, La condition postmoderne. Rapport sur le savoir, Paris 1979. 85 Grundzüge einer »politikwissenschaftlichen Erzähltheorie« versammeln Frank Gadinger u. a., Politische Narrative. Konturen einer politikwissenschaftlichen Erzähltheorie, in: Dies. (Hg.), Politische Narrative. Konzepte  – Analysen  – Forschungspraxis, Wiesbaden 2014, S. 3–38, hier S. 5. 86 Ächtler, Was ist ein Narrativ? (wie Anm. 81), S. 245 unter Verweis auf Adi Ophir, Begriff, in: Forum Interdisziplinäre Begriffsgeschichte 1 (2012), S. 1–24, https://www.zfl-berlin. org/files/zfl/downloads/publikationen/forum_begriffsgeschichte/ZfL_FIB_1_2012_1_ Ophir_Begriff.pdf (Stand: 08. September 2020), hier S. 4: »Die Effizienz solcher Ausdrücke [zum Beispiel ›Krise‹, d. Verf.] verdankt sich ihrer relativen Leere, ihrer semantischen Unterbestimmtheit (die es ihnen erlaubt, unterschiedliche und sogar widerstreitende Bedeutungen zu transportieren), aber zugleich – und dies ist nur die andere Seite der Medaille – der semantischen Dichte ihrer Erscheinenskontexte.« 87 Ächtler, Was ist ein Narrativ? (wie Anm. 81), S. 246. 88 Vgl. Müller-Funk, Die Kultur und ihre Narrative (wie Anm. 80), S. 15.

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mustern. Sie sind von der Vielfalt alltäglicher Geschichten zu unterscheiden und bedürfen erstens einer »identifizierbare[n] Handlungsinstanz«, zweitens »sinnfälliger Anfangs- und Endpunkte« und drittens eines roten Fadens.89 Der Inhalt von Narrativen wird, wie Norman Ächtler herausstellt, durch ihre Funktion bestimmt. Ächtler leitet seine Definition sowohl aus dem geschichtswissenschaftlichen als auch dem therapeutischen Diskurs ab und versteht unter einem Narrativ »eine komplexere intentionale und evaluative, in sich sinnvoll abgeschlossene narrative Einheit von zeitweilig überindividueller identifikatorischer Relevanz, deren spezifische Konfiguration diskursiven Formationen innerhalb eines bestimmten ZeitRaums eine konsistente Aussagestruktur und eine legitimatorische wie sinnstiftende Teleologie verleiht«.90

Etwas anders formuliert Walburga Hülk, die eine sozialkonstruktivistische Perspektive auf das Narrativ vorschlägt, die auch wir unserem Verständnis zugrunde legen: »Das Narrativ erklärt und interpretiert bereits, setzt häufig Neues in Bezug mit Altem und führt zu etwas hin. Narrative sind kulturspezifische, individuelle und kollektive Denkmuster, die Wahrnehmungen und Verhalten bilden und ausdrücken.«91

Narrative werden durch Wiedererzählen aktualisiert, besitzen eine zeitlich sequentielle und finale Struktur, sind axiologisch geprägt und schaffen Wirklichkeiten. Sie werden von einer Erzählgemeinschaft getragen und benutzt und können deshalb nicht (oder nur begrenzt) willkürlich neu erfunden werden. Welche Bedeutung haben Narrative nun für die Thematik des Entscheidens? Zum einen lassen sich Narrative als Ressourcen des Entscheidens in den Blick nehmen, die in bestimmten Situationen dazu genutzt werden, um Entscheiden zu rahmen, die Erwartungen der beteiligten Akteure in eine gewisse Richtung zu lenken, Entscheidungsmuster in Erinnerung zu rufen und spezifische Entscheidensmodi nahezulegen. Auf diese Weise tragen sie dazu bei, die Schwierigkeiten und Zumutungen des Entscheidens sowie die »Entscheidungsnotwendigkeiten« zu vermindern.92 Zum anderen, und dies ist in unserem Zusammenhang noch wichtiger, eröffnet die Untersuchung von Narrativen des Entscheidens einen Zugang zur Analyse von Kulturen des Entscheidens und insbesondere zu der Frage, wie in bestimmten kulturellen Kontexten Entscheiden wahrgenommen und dargestellt werden konnte. Entscheiden in Form von Erzählungen wiederzu89 Matthias Jung u. a., Narrative der Gewalt: Eine Einleitung, in: Dies. (Hg.), Narrative der Gewalt. Interdisziplinäre Analysen, Frankfurt a. M. 2019, S. 9–29, v. a. S. 14. 90 Ächtler, Was ist ein Narrativ? (wie Anm. 81), S. 258. 91 Walburga Hülk, Narrative der Krise, in: Uta Fenske u. a. (Hg.), Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne, Bielefeld 2013, S. 113–131, hier S. 118. 92 Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M. 22012, S. 293.

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geben ist naheliegend, nicht nur weil Entscheidungen einen attraktiven Erzählgegenstand darstellen, sondern auch, weil das Entscheiden qua Handlungsvollzug genau wie die Erzählung eine zeitlich sequentielle Struktur aufweist. Dies verbindet das Erzählen über das Entscheiden mit demjenigen über die Krise, die »kapitale Entscheidungssituationen, Urteilsfindungen, Zuspitzungen und Wendepunkte« indiziert.93 Die Narration benötigt einen Anfang und ein Ende, um Sinn zu erzeugen, und sie ordnet Zeit: Die Erzählung überführt »komplexe Gegebenheiten in eine sequentielle Ordnung«.94 Erzählen und Entscheiden wenden sich zudem beide von der Routine ab; diese Phänomene brechen geradezu mit der Routine, um das Außergewöhnliche, nicht Vorherzuplanende, Kontingente hervorzubringen.95 Analog zu den begriffsgeschichtlichen ›Situationen des Wortgebrauchs‹ lassen sich auch ›Situationen des Narrativ-Gebrauchs‹ identifizieren. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage, ob und inwieweit die Konstruktion von Narrativen durch ihren praktischen Gebrauch beeinflusst und verändert wird.96 Im vorliegenden Band wird im Anschluss an Ansgar Nünning davon ausgegangen, dass Narrative kulturelles Wissen zum einen repräsentieren und zum anderen modellieren und konstruieren.97 Die kulturelle Bedeutung von Entscheiden schlägt sich somit sowohl in Entscheidensnarrativen als auch in der Semantik von Entscheiden nieder. Erstaunlicherweise werden in der Forschungspraxis Begriffsgeschichte bzw. historische Semantik und Narratologie noch relativ selten miteinander verbunden.98 Dies wäre allerdings eine auch über das Thema ›Entscheiden‹ hinaus wichtige methodologische Perspektive. Für das Thema des Entscheidens liegt eine solche Verbindung ohnehin nahe: Ein enger begriffsgeschichtlicher Ansatz könnte Entscheidensszenen nicht zuverlässig indizieren, während aufgrund der Affinität von Entscheiden und Erzählen ein Einbezug narrativer Muster weiteren Aufschluss verspricht. Denn der hohe Abstraktionsgrad eines Begriffs wie ›Entscheiden‹ führt offenbar oft dazu, dass es vielen Gesellschaften leichter fällt, vom Entscheiden zu erzählen als dieses explizit mit einem einzigen Ausdruck zu benennen. Zusätzlich ist zwischen Semantiken und Narrativen ein Verhältnis der prozessualen Entfaltung und Verstetigung von Bedeutungszusammenhängen anzunehmen: Begriffe können Narrative in verdichteter Form enthalten und umgekehrt können bestimmte Begriffe als Ein-Wort- oder Mini-Narrative verstanden werden. Möglicherweise lässt sich über das Konzept des Mini-Narra93 Hülk, Narrative der Krise (wie Anm. 91), S. 115. 94 Vgl. Koschorke, Wahrheit und Erfindung (wie Anm. 92), S. 236. 95 Vgl. Achim Saupe / Felix Wiedemann, Narration und Narratologie. Erzähltheorien in der Geschichtswissenschaft, Version 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte (2015), https:// docupedia.de/zg/Narration (Stand: 16. Dezember 2020). 96 Diese Frage untersuchen in Bezug auf Gewaltnarrative Jung u. a. (Hg.), Narrative der Gewalt: Eine Einleitung (wie Anm. 89), S. 10. 97 Vgl. Nünning, Wie Erzählungen Kulturen erzeugen (wie Anm. 79), S. 40. 98 Vgl. Saupe / Wiedemann, Narration und Narratologie (wie Anm. 95), S. 13 f.

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tivs eine Entwicklungslinie skizzieren, nach der bestimmte Narrative – in unserem Fall des Entscheidens – irgendwann abstrahiert und begrifflich verdichtet wurden. Metaphern wie Begriffe könnten folglich als Schwundstufen ganzer Erzählungen verstanden werden.99 Auf diese Vermutung wird im folgenden Abschnitt zurückzukommen sein, weil sie Konsequenzen für die historischen Entwicklungslinien von Kulturen des Entscheidens hat.

4. Semantiken, Narrative und Kulturen des Entscheidens zwischen Mittelalter und Gegenwart – historische Entwicklungslinien Im Folgenden werden auf Grundlage der vorangegangen Überlegungen, der Beiträge dieses Bandes sowie weiterer Untersuchungen einige Entwicklungslinien von Semantiken und Narrativen und damit auch von Kulturen des Entscheidens zwischen Mittelalter und Gegenwart entworfen.100 Wie bereits oben bemerkt, existiert eine solche Geschichte von Entscheiden in einer semantischen und narratologischen Perspektive bislang nicht. Ein wichtiger Ausgangspunkt ist die schon öfter genannte, weit verbreitete Auffassung, dass Entscheiden eine spezifische ›Signatur‹ der Moderne darstellt,101 dass in der Moderne also die soziale Wirklichkeit als Ergebnis kontingenter Entscheidungen erscheint und dass das moderne Subjekt sich angesichts einer zunehmenden Unsicherheit bzw. ›Flüchtigkeit‹ der sozialen Verhältnisse permanent vor die Aufgabe gestellt sieht, eigenverantwortliche (und möglichst richtige respektive rationale) Entscheidungen treffen zu müssen. Dies wird in Anbetracht der Komplexität moderner Gesellschaften oftmals als Überforderung empfunden. Zugleich wird im Sich-Entscheiden-Können aber ein Ausdruck individueller Freiheitsrechte gesehen.102 Dass ›Entscheiden‹ (und damit verwandte Ausdrücke) in diesem Sinne eine Leitsemantik moderner (westlicher) Gesellschaften darstellt, der eine wesentliche Bedeutung für die gesellschaft­ liche Selbstbeschreibung zukommt, findet seinen Ausdruck in der Rede von der 99 Vgl. Ansgar Nünning / Kai Marcel Sicks, Introduction. Conceptualizing Turning Points: Interdisciplinary Approaches, Metaphorical Implications and New Horizons, in: Dies. (Hg.), Turning Points: Concepts and Narratives of Change in Literature and Other Media, Berlin 2012, S. 1–28, hier S. 14. Vgl. auch Nünning, Wie Erzählungen Kulturen erzeugen (wie Anm. 79), S. 38, der als Beispiele für Mini-Narrative ›Krise‹ und ›Fortschritt‹ anführt. 100 Gerade in diesem Abschnitt wird eher essayistisch versucht, große Linien zu ziehen. Schon deshalb sind umfassende Literaturbelege hier nicht möglich. 101 Für den verwandten Begriff der Krise hat dies Koselleck konstatiert, der in diesem Zusammenhang allerdings von Krise als einer »strukturellen Signatur der Neuzeit« spricht: Reinhart Koselleck, Art. ›Krise‹, in: Otto Brunner u. a. (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon der politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Stuttgart 1982, Bd. 3, S. 617–650, hier S. 627. 102 Reflektiert wird dies insbesondere in der Existenzphilosophie: s. dazu den Beitrag von Dagmar Borchers in diesem Band.

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modernen Gesellschaft als Entscheidungsgesellschaft (Schimank) wie auch von der flüchtigen Moderne (Bauman) bzw. von Modernität als Kontingenzkultur (Makropoulos).103 In diesen modernen gesellschaftlichen Selbstbeschreibungen ist mehr oder weniger explizit die Auffassung enthalten, dass sich die Moderne signifikant von vor- oder allgemein von nichtmodernen Gesellschaften unterscheidet, und zwar insbesondere hinsichtlich der gesellschaftlichen und kulturellen Bedeutung, die dem Entscheiden zukommt. Insofern wird dann von der Vormoderne, wie bereits bemerkt, ein Bild gezeichnet, das Traditionen, Routinen, Rituale etc. in den Vordergrund rückt und annimmt, dass sich soziales Handeln als weitgehend ›vorentschieden‹ vollzieht. In diesem Sinne wird die Vormoderne als eine Kultur des Nicht-Entscheidens entworfen, das heißt: Entscheiden erscheint angesichts der vorherrschenden sozialstrukturellen und kulturellen Bedingungen sowohl auf individueller wie auch auf institutioneller Ebene weder als notwendig noch als geboten, daher in vielen Fällen auch gar nicht als möglich und damit als schlichtweg unverfügbar. Wenn doch einmal entschieden wird, dann kommt dem ein exzeptioneller Charakter zu – anders als in der Moderne, in der das Entscheiden in weitgehend allen Lebensbereichen zur alltäglichen Normalität geworden ist, nicht zuletzt durch die zunehmende Bedeutung formaler Organisationen. Dies ist für die Frage nach dem Entscheiden insofern wichtig, als Organisationen konstitutiv auf Entscheidungen beruhen und auf das Treffen von Entscheidungen ausgerichtet sind.104 Die weitgehende Abwesenheit formaler Organisationen erscheint somit als weiterer Faktor dafür, dass in der Vormoderne dem Entscheiden keine größere Bedeutung für Prozesse der Vergesellschaftung und damit auch nicht für die gesellschaftliche (Selbst-)Beschreibung zukommt. Die Forschungen zu ›Kulturen des Entscheidens‹ und insbesondere die Beiträge in diesem Band zeigen jedoch, dass solche Beschreibungen, auch wenn sie durchaus richtige Beobachtungen enthalten, letztlich mehr verdecken als enthüllen. Dies gilt insbesondere für die Vormoderne, aber auch für die Moderne inklusive unserer eigenen Gegenwart. Es ist dabei leicht, ›große Erzählungen‹ unter Verweis darauf, dass alles komplizierter und differenzierter war und ist, zu verwerfen. Weitaus schwieriger ist es, eine alternative Beschreibung zu entwickeln, die ein komplexeres und kontrastreicheres Bild der ›Kulturen des Entscheidens‹ in der Vormoderne, der Moderne und der Gegenwart sowie übergreifender Entwicklungslinien zeichnet. Dabei gilt es, das Verhältnis von Moderne und Vor- bzw. Nichtmoderne jenseits einfacher Dichotomien zu bestimmen, ohne das heuristische Potential, das in Modernisierungstheorien steckt, schlicht 103 Schimank, Entscheidungsgesellschaft (wie Anm. 2); Zygmunt Bauman, Flüchtige ­Moderne, Frankfurt a. M. 2003; Makropoulos, Modernität als Kontingenzkultur (wie Anm. 5). 104 Vgl. Schimank, Entscheidungsgesellschaft (wie Anm. 2), v. a. S. 97–100 sowie Niklas Luhmann, Funktionen und Folgen formaler Organisation, Berlin 1964 und ders., Organisation und Entscheidung (wie Anm. 13).

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zu negieren. Denn es ist zweifelsfrei richtig, dass sich relevante Unterschiede zwischen Moderne und Vormoderne gerade auch mit Blick auf Kulturen und speziell Semantiken und Narrative des Entscheidens ausmachen lassen, diese Unterscheidung sich also heuristisch und sachlich trotz aller Kritik an großen Narrativen wissenschaftlich durchaus als tragfähig erweist. Dabei soll es aber nicht zu einer gleichsam ›naiven‹ Einordnung einzelner Befunde in ein vorgegebenes Epochenschema kommen, sondern Einzelstudie und Gesamtinterpretation sollten sich wechselseitig korrigieren dürfen. Eine solche Vorgehensweise wird uns erlauben, mit Blick auf das Problem des Entscheidens eine komplexere Geschichte sozialen und gesellschaftlichen Wandels (inklusive des Wandels der Selbstbeschreibungen) zu entwickeln. Insofern orientieren auch wir uns im Aufbau dieses Bandes und in den folgenden Ausführungen an der Unterscheidung von Vormoderne und Moderne. Dabei lassen sich neben Unterschieden auch eine Vielzahl an Kontinuitäten zwischen Vormoderne und Moderne konstatieren – zumindest für Europa und die Amerikas, auf die sich der allergrößte Teil der Beiträge bezieht. Demnach erscheint mit Blick auf Semantiken und Narrative des Entscheidens die Zeit um 1800 nicht als Bruch oder als eine ›Sattelzeit‹, auch wenn sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts durchaus gewisse Veränderungen beobachten lassen, die sich im 20. Jahrhundert und zum Teil bis in die Gegenwart fortsetzen. Es ist kaum zu bestreiten, dass sich die westliche Moderne durch eine gewisse ›Entscheidensobsession‹ auszeichnet. Ihren Niederschlag findet dies in einer signifikanten Ausweitung der expliziten Entscheidungsrede105 gerade seit der Mitte des 20. Jahrhunderts sowohl auf der Ebene der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung und des öffentlichen wie (sozial)wissenschaftlichen Diskurses als auch auf der Ebene der Rahmung sozialer – und zwar individueller wie institutioneller – Handlungssituationen gerade auch im Alltag. Ebenso wenig lässt sich leugnen, dass vormoderne (europäische) Gesellschaften zurückhaltend damit waren, Situationen als Entscheiden zu bezeichnen und zu rahmen oder auch die gesellschaftliche Ordnung über Semantiken und Narrative des Entscheidens zu beschreiben. Wenn sie es aber taten, waren die Themen und die Akteure oft andere als in der Moderne: Während in der Moderne die Entscheidungsfreiheit des Individuums und der Entscheidungszwang in der Multioptionsgesellschaft Gegenstände von Erzählungen bilden, sind in der Vormoderne göttliches Entscheiden (zum Beispiel Narrative des Gottesurteils)106 und das Entscheiden im Kontext von Herrschaftshandeln (zum Beispiel das Narrativ der herrscherlichen Beratung im Konfliktfall) bevorzugte Themen. Wie die Beiträge in diesem Band zeigen, bestand in der Vormoderne ein reichhaltiges Repertoire an Semantiken und Narrativen des Entscheidens, so 105 Vgl. zu dieser Terminologie den Beitrag von Tim Rojek in diesem Band. 106 Vgl. hierzu Susanne Spreckelmeier, Vom erzählten Brauch zum verschriftlichten Recht. Die Bahrprobe als Entscheidensprozess in literarischen und rechtlichen Quellen, in: Frühmittelalterliche Studien 52 (2018), S. 189–215.

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beispielsweise in historiographischen, mythologischen, literarischen, philo­ sophischen und juristischen Texten. Weit verbreitet waren dabei antike Darstellungen von Entscheidensszenen, wie man sie in der Bibel (Sündenfall), bei Homer und in den griechischen Dramen (Paris-Urteil, Herkules am Scheideweg) sowie bei Aristoteles und Cicero findet. Nicht nur hat es in der (europäischen) Vormoderne eine Vielfalt an Narrativen des Entscheidens gegeben. Vielmehr kommt ihnen, wie im Folgenden noch deutlich werden wird, insofern eine spezifische kulturelle Relevanz zu, als Entscheiden in vielen Lebensbereichen als etwas Nicht-Alltägliches bzw. als etwas Irreguläres angesehen und dementsprechend auch zum Gegenstand der kulturellen Repräsentation und Reflexion wurde. Ebenso sind die Begriffe ›Entscheiden‹ und ›Entscheidung‹ auf der semantischen Ebene bereits im Mittelhochdeutschen verfügbar. Der Ausdruck ›Entscheidung‹ (mhd. entscheidunge)107 wird aber zunächst nicht im prozessualen Sinne gebraucht, sondern eher retrospektiv im Sinne von Urteil, Schiedsspruch, Entschluss oder Beschluss verwendet. Hier liegt der Eindruck nahe, dass im juristischen Bereich auch in der Vormoderne gar nicht so selten von ›Entscheiden‹ die Rede ist, während etwa im religiösen Bereich eher andere Begriffe einschlägig sind. Das heißt, dass es unterschiedliche Begriffsäquivalente gab und die Verwendung von Entscheidenssemantiken in hohem Maß von sozialen und situativen Kontexten abhing. Es erscheint insofern plausibel anzunehmen, dass sich erst in der Moderne eine vereindeutigende Tendenz vollzieht und all diese Begriffe und Kontexte in einem vereinheitlichenden Entscheidensbegriff zusammenlaufen. Diese komplexe Gemengelage legt es nahe, dass man sehr viel genauer die Kontexte untersuchen muss, in denen von ›Entscheiden‹ die Rede ist – auch und gerade diejenigen, in denen sich (so etwa im Bereich des Religiösen) mögliche funktionale Äquivalente auffinden lassen. Verfolgt man zunächst eine klassisch historisch-semantische Perspektive und zieht dafür einschlägige historische Wörterbücher und Lexika zu Rate (zum Beispiel das »Deutsche Wörterbuch«, das »Historische Wörterbuch der Philosophie« oder das »Historisches Wörterbuch der Rhetorik«), so fällt die große Bedeutungsvielfalt auf, die der Terminus ›Entscheiden‹ in der Vormoderne besaß. Dabei dominieren allerdings Bedeutungen, die nicht oder nur indirekt mit dem hier zugrunde gelegten Entscheidensbegriff zu tun haben. Im »Deutschen Wörterbuch« umfassen diese neben ›bescheiden / beschließen / einen Beschluss fassen‹ (decernere, decidere) und ›einen Streit entscheiden‹ (in einem juristischen Sinn) (dirimere, dijudicare) insbesondere auch ›(räumlich) trennen‹ (separare) und ›unterscheiden‹ (distinguere).108 Darüber hinaus kam Semantiken des Ent107 Vgl. Art. ›entscheiden‹, ›entscheidunge‹, in: Kurt Gärtner u. a., Mittelhochdeutsches Wörterbuch, Stuttgart 2013, Bd. 1, http://www.mhdwb-online.de/wb.php?buchstabe=​ E&portion=1400 (Stand: 06. August 2019). 108 Hinzu kommt noch eine passive Bedeutung im Sinne »sich entscheiden« (z. B. »Es muss sich bald entscheiden«): vgl. Art. ›Entscheiden‹, in: Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm Online, http://woerterbuchnetz.de/cgi-bin/WBNetz/wbgui_ py?sigle=DWB (Stand: 07. August 2020).

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scheidens in der antiken Rhetorik eine gewisse Bedeutung zu, worüber sie dann auch im Mittelalter und der Frühen Neuzeit rezipiert wurden.109 Zudem fand insbesondere in der Scholastik, speziell innerhalb der philosophischen Debatten über Kontingenz110 und den menschlichen (freien) Willen, zumindest partiell eine Bezugnahme auf antike Entscheidenssemantiken und -konzepte statt, vor allem auf den Begriff der prohairesis. Dieser spielt in der aristotelischen Handlungstheorie und vor allem in der Nikomachischen Ethik eine wichtige Rolle und bezieht sich auf die Wahl derjenigen (Handlungs-)Mittel, mit denen ein bestimmtes Ziel erreicht werden soll.111 Bei Thomas von Aquin erfährt dies etwa auch semantisch eine durchaus langfristig wirksame Transformation, indem er die aristotelische Begrifflichkeit über die Kategorie der electio remodelliert.112 Nichtsdestotrotz erscheint ›Entscheiden‹ (gerade auch für die Philosophiegeschichte)  als eine insgesamt wenig signifikante Kategorie. Vielmehr handelt es sich dabei, zumindest in semasiologischer Hinsicht, um eine Kategorie mit eher gering ausgeprägter historischer ›Tiefenschärfe‹ – und zwar sowohl in der Vormoderne als auch lange Zeit in der Moderne. Eine ›Verbegrifflichung‹ von Entscheiden lässt sich denn auch, wenn überhaupt, erst für die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts beobachten. Hierauf wird zurückzukommen sein. Während eine semasiologische Untersuchung nur bedingt weiterführend erscheint, stellt sich dies für einen onomasiologischen Analyseansatz anders dar, zumal wenn hier narrative und metaphorische Darstellungsweisen mit einbezogen werden. Ein Beispiel hierfür ist die Kategorie der crisis, die im Gegensatz zu derjenigen der prohairesis in der Antike vor allem den Wendepunkt einer Krankheit bezeichnete, an dem sich entschied, ob der Patient genesen würde 109 Siehe dazu Schicker, Art. ›Entscheidung‹ (wie Anm. 14); zu ›Entscheiden‹ in der (mittelalterlichen) Rhetorik s. Udo Friedrich, Mythische Narrative und rhetorische Entscheidungskalküle im »Dialogus miraculorum« des Caesarius von Heisterbach, in: WagnerEgelhaaf u. a., Mythen und Narrative des Entscheidens (wie Anm. 15), S. 23–45. 110 Vgl. dazu auch Hartmut Böhme u. a. (Hg.), Contingentia. Transformationen des Zufalls, Berlin 2016. Für eine historische Erforschung von ›Kulturen des Entscheidens‹ ist die (Kultur-)Geschichte des Zufalls und der Kontingenz bzw. von Fortuna von großer Bedeutung (vgl. dazu u. a. Arndt Brendecke / Peter Vogt (Hg.), The End of Fortuna and the Rise of Modernity, Berlin 2017), vor allem wegen des engen Zusammenhangs zwischen Semantiken und Narrativen des Entscheidens und denjenigen des Zufalls. Dies gilt insbesondere für die Neuzeit und die Moderne, nicht zuletzt mit Blick auf Repräsentationen wirtschaftlicher Zusammenhänge und speziell von Wirtschafts- und Finanzkrisen: s. dazu den Beitrag von Philip Hoffmann-Rehnitz in diesem Band. 111 Vgl. dazu Aristoteles, Nikomachische Ethik, v. a. Buch 3, Kap. 4–5; s. dazu Christof Rapp, »Freiwilligkeit, Entscheidung und Verantwortlichkeit«, in: Otfried Höffe (Hg.), Aristoteles, Die Nikomachische Ethik, Berlin 1995, S. 109–133. 112 Nach Rudolf Schüßler, Die Struktur der scholastischen Entscheidungslehre, in: Uwe Meixner / A lbert Newen (Hg.), Philosophiegeschichte und logische Analyse / L ogical Analysis and History of Philosophy. Schwerpunkt: Philosophie des Mittelalters / Focus: Medieval Philosophy, Paderborn 2002, S. 177–192, entwickelte die Scholastik eine Lehre vom Entscheiden unter Unsicherheit, deren Problemstellungen auch für die moderne Willens- und Handlungsphilosophie eine Rolle spielen.

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oder nicht, daneben aber eine Kategorie des politisch-sozialen Denkens und Sprechens darstellte, mit der vor allem kollektive Entscheidenssituationen bezeichnet wurden.113 Der Terminus wurde in diesem Sinne nach der Antike nur noch vergleichsweise selten verwendet,114 bevor er zu Beginn der Moderne einen neuen Aufschwung als (wiederum) politisch-sozialer Begriff und als Form der gesellschaftlichen Selbstbeschreibung erfuhr.115 Insbesondere in philosophischen Diskursen des Mittelalters existierten also durchaus ausgearbeitete Terminologien des Entscheidens, mit denen unterschiedliche Aspekte und Probleme des (gerade auch individuellen) Entscheidens, verstanden vor allem als Resultat eines deliberativen Prozesses, und seiner Ermöglichungsbedingungen reflektiert wurden. Diese explizite Entscheidungsrede blieb aber in ihrem Anwendungs- und auch Rezeptionsbereich begrenzt, und zwar vor allem auf die akademische Welt selbst. Denn in solchen Überlegungen, wie wir sie bei Thomas und anderen Scholastikern finden, spiegelten sich, so Georg Jostkleigrewe, vor allem akademische Praktiken wider, insbesondere diejenige der Disputatio.116 Und auch Rudolf Schüßler bringt die Entwicklung der scholastischen Entscheidungslehre, die er als eine Lehre über das Entscheiden unter Unsicherheit versteht, in engen Zusammenhang mit der Entwicklung des gelehrten Rechts und den damit verbundenen Überlegungen, 113 Vgl. Randolph Starn, Historians and »Crisis«, in: Past & Present 52 (1971), S. 3–22 sowie Koselleck, Art. ›Krise‹ (wie Anm. 101). 114 Dies gilt auch für Byzanz. Vgl. dazu Michael Grünbart, Entscheidende Ressourcen am byzantinischen Hof, in: Dohmen / Trausch, Entscheiden und Regieren (wie Anm. 37), S. 81–102, hier S. 92. 115 Vgl. hierzu neben Koselleck, Art. ›Krise‹ (Anm. 101) die Beiträge in Rudolf Schlögl /  Philip Hoffmann-Rehnitz / Eva Wiebel (Hg.), Die Krise in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2016. 116 Vgl. den Beitrag von Georg Jostkleigrewe in diesem Band; s. dazu auch ders., Disputieren über Entscheiden. Zur Reflexion wissenschaftlicher Entscheidungspraxis im Kontext universitären Konflikts in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts (Heinrich von Gent, Gottfried von Fontaines), in: Historisches Jahrbuch 139 (2019), S. 319–358 sowie die Beiträge im Jahrbuch für Universitätsgeschichte 19 (2016) [erschienen 2018], S. 101–187 zum Schwerpunktthema Disputatio: Wissenschaft im Kontext. Externe Bezüge wissenschaftlichen Entscheidens an der mittelalterlichen Universität, hg. v. dems. und Martin Kintzinger. Die enge Verbindung zwischen gelehrten Praktiken und der Reflexion über Entscheiden zeigt sich auch in den jüdischen Responsa als Form der zugleich gelehrten wie religiösen und rechtlichen Kommunikation. Allerdings findet sich auch in diesem Kontext kaum eine explizite Entscheidungsrede, vielmehr wird selten ausdrücklich thematisiert, dass es um Entscheiden geht – v. a. dann nicht, wenn es unter den Gelehrten unterschiedliche Auffassungen gab: vgl. dazu den Beitrag von Nicola Kramp-Seidel in diesem Band. Siehe auch Regina Grundmann, Responsa als Praxis religiösen Entscheidens im Judentum, in: Wolfram Drews / U lrich Pfister / Martina Wagner-Egelhaaf (Hg.), Religion und Entscheiden. Historische und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Würzburg 2018, S. 163–178; zu rhetorischen Strategien und Semantiken des Entscheidens in jüdisch-orthodoxen Responsa des 20. Jahrhunderts s. den Beitrag von Regina Grundmann in diesem Band.

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wie in der Rechtspraxis mit unklaren Fällen umzugehen sei.117 Die gelehrten, universitären und philosophisch-theologischen Debatten des Hoch- und Spätmittelalters führten allerdings nicht zur Ausbildung einer übergreifenden expliziten Entscheidensbegrifflichkeit, die sich kontextunabhängig hätte anwenden lassen – und dies gilt weitgehend bis zum Ende der Frühen Neuzeit (und auch darüber hinaus). Nun bildete in der Scholastik der Zweifel (dubium) einen wichtigen Terminus, von dem dann gesprochen wurde, wenn mit Bezug auf ein Handlungsproblem ein Gleichgewicht der Gründe vorlag und in diesem Sinne die ›Waage der Gründe‹ ausgeglichen war.118 Seinen Ausdruck fand dies im Gleichnis von Buridans Esel, das eine wirkmächtige Entscheidenserzählung darstellt, die eng auf andere Narrative des Entscheidens bezogen war, insbesondere auf dasjenige vom Scheideweg.119 Auch in der mittelalterlichen Literatur wurden solche Situationen unter Verwendung unterschiedlicher metaphorischer und narrativer Mittel immer wieder dargestellt. Dies zeigen etwa verbreitete Spielmetaphern und die damit verbundene Engführung von Entscheiden und Wettstreit.120 So wird in der höfischen Literatur mit dem Ausdruck ›geteiltes Spiel‹ eine Situation bezeichnet, in der eine Entscheidung zwischen zwei Gütern oder Handlungsalternativen aufgrund ihrer Gleichheit noch vollkommen offen ist.121 Die handelnden Akteure sind hier mit einer schwierigen Auswahl zwischen rivalisierenden, alternativen Optionen konfrontiert, bei denen es sich oftmals um zwei Übel handelt. Zu diesem Dilemma kann zudem noch eine Limitierung der Zeit hinzukommen, in der sich das ›Spiel‹ und damit auch das Entscheiden zu vollziehen hat. Und es ist eben dieser Zeitdruck, durch den das Entscheiden oftmals erst in Gang gesetzt wird.122 Solche Narrative und Metaphern können dabei als Kehrseite der für das Mittelalter und generell die Vormoderne beobachteten Tendenz zur »gewollte[n] Indifferenz« gesehen werden:123 Gewolltes Nicht-Entscheiden und dilatorisches 117 »Das Entstehen einer systematischen, regelgeleiteten Entscheidungslehre für das Handeln unter Unsicherheit erscheint vor diesem Hintergrund als Errungenschaft des Mittelalters.« Schüßler, Struktur der scholastischen Entscheidungslehre (wie Anm. 112), S. 179. 118 »Der Zweifel ist von solcher Art, daß gleiche Gründe dafür bestehen, daß etwas [der Fall, R. S.] sei und daß es nicht sei« (Zitat Guillaume d’Auxerre, 13. Jh.) in Schüßler, Struktur der scholastischen Entscheidungslehre (wie Anm. 112), S. 183. 119 Siehe hierzu Jan Keupp, Unentwegtes Entscheiden? Buridans Esel als zoon politikon der Wissenschaft, in: Wagner-Egelhaaf u. a., Mythen und Narrative des Entscheidens (wie Anm. 15), S. 155–170. 120 Siehe hierzu den Beitrag von Susanne Spreckelmeier in diesem Band. 121 Mit dem Gegenbegriff des ›ungeteilten Spiels‹ werden Situationen bezeichnet, in denen diese Bedingungen nicht vorliegen – diese ›Spiele‹ werden als bereits entschieden betrachtet, weil die Vorteile klar auf einer Seite liegen. 122 Vgl. zur Zeitlichkeit von Entscheiden, insbesondere der Zukunftsbezogenheit, demnächst auch Quast / Spreckelmeier, Zukunft entscheiden (wie Anm. 50). 123 Keupp, Unentwegtes Entscheiden? (wie Anm. 119), S. 161 f.

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Handeln sind in vormodernen Gesellschaften ausgesprochen attraktive Handlungsweisen, denn sie ermöglichen es, schwierige und konflikthafte Situationen in der Schwebe zu belassen. Zumindest dann, wenn es keine guten Gründe gibt, eine Option zu wählen und die andere nicht bzw. wenn diese als äquivalent erscheinen, ermöglicht diese Handlungsweise, sich der Notwendigkeit zu entziehen, sich auf eine von zwei Optionen festzulegen. Dies würde der von Thomas Bauer und Barbara Stollberg-Rilinger für die Vormoderne festgestellten Tendenz zur Ambiguitätstoleranz entsprechen: In Situationen, in denen es schwierig ist, sich für eine Seite zu entscheiden, bleiben Konflikte oft unausgetragen und die Situation (nicht zuletzt durch dilatorisches Handeln) in einem Zustand der Unein- bzw. Mehrdeutigkeit.124 Gerade für vormoderne Gesellschaften, die durch Kommunikation unter Anwesenden gekennzeichnet sind, ist Entscheidungsvermeidung nicht unplausibel, weil explizites Entscheiden hohe soziale Kosten haben kann, und zwar sowohl für diejenigen, die Entscheidungen treffen (sollen), als auch für diejenigen, die von diesen betroffen sind: Um Ehr- oder Gesichtsverlust oder gar Gewalt zu vermeiden, kann es von Vorteil sein, eben nicht zu entscheiden. Und wenn dies doch nicht zu vermeiden ist, dann sind Entscheidenssituationen in der Regel in einer Weise rituell gerahmt, die es den Beteiligten möglich macht, mit den damit verbundenen Zumutungen umzugehen und die sozialen (Folge-)Kosten zu begrenzen.125 Entscheiden, insbesondere wenn es sich, wie etwa im Alten Reich üblich, auf informellen Hinterbühnen vollzieht, und symbolisch-rituelle Kommunikation stehen dabei in der Vor­moderne in einem oftmals komplexen Verhältnis zueinander, gerade weil hier ganz unterschiedliche Kriterien und Handlungs- bzw. Darstellungslogiken zugrunde liegen.126 Solche Tendenzen lassen sich etwa für herrscherliches Handeln beobachten. Entsprechend wurde dieses auch im Mittelalter nicht bzw. selten als ›Entscheiden‹ gerahmt und beschrieben. Wenn dies vorkam, dann vor allem mit Blick auf die Rolle des Herrschers als Richter, das heißt in einem gerichtlichen Kontext. Wenn Anliegen an den König herangetragen wurden, 124 In diesem Sinne erscheint dann die Moderne gekennzeichnet durch den Verlust an Ambiguität bzw. an Ambiguitätstoleranz und durch die Tendenz zur Vereindeutigung: Thomas Bauer, Die Vereindeutigung der Welt. Über den Verlust an Mehrdeutigkeit und Vielfalt, Ditzingen 2018; Barbara Stollberg-Rilinger, Des Kaisers alte Kleider: Verfassungsgeschichte und Symbolsprache des Alten Reichs, München 2012, S. 84 f. 125 Vgl. Rudolf Schlögl, Vergesellschaftung unter Anwesenden. Zur kommunikativen Form des Politischen in der vormodernen Stadt, in: Ders. (Hg.), Interaktion und Herrschaft. Die Politik der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2004, S. 9–60, hier S. 27 ff. Dass mit zunehmender Organisations- und Entscheidungsförmigkeit Dilatorik schwieriger wird, legen einzelne frühneuzeitliche Beispiele nahe, in denen nicht implizit dilatorisch gehandelt, sondern explizit entschieden wird, nicht zu entscheiden. Siehe etwa: Christian Windler, Uneindeutige Zugehörigkeiten: Katholische Missionare und die Kurie im Umgang mit ›communicatio in sacris‹, in: Andreas Pietsch / Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2013, S. 314–345, hier S. 334–339. 126 Wir danken Barbara Stollberg-Rilinger für diesen Hinweis (und für viele weitere).

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dann war dies in der Regel nicht mit der (expliziten) Erwartung verbunden, dass er eine (rasche) Entscheidung trifft. Vielmehr ging es dabei um das Ausund Verhandeln unterschiedlicher Positionen, um so mögliche Kompromisse auszuloten.127 Diese Konstellation findet ihren spezifischen Ausdruck auch auf literarischer Ebene und insbesondere in der höfischen Literatur des Mittelalters und der Frühen Neuzeit. Dementsprechend lassen sich hier in ausgeprägter Weise die Verwendung unterschiedlicher Narrative des Entscheidens beobachten. Exemplarisch zeigt dies eine Episode in Hartmanns von Aue ›Iwein‹. Darin wird geschildert, wie der Ritter Meljaganz König Artus eine Bitte vorträgt, die ihm aber abgeschlagen wird. Da es sich beim Vorbringen einer Bitte an den Herrscher und deren Gewährung aber eigentlich um einen ritualisierten Akt handelt, der die Möglichkeit der Ablehnung nicht vorsieht, erscheint das Handeln des Königs als willkürlicher Entscheidungsakt, womit die ganze Episode als Entscheiden gerahmt wird. Indem es einen explizit entscheidensförmigen Charakter annimmt, führt das herrscherliche Handeln bei den Anwesenden (neben dem Ritter auch bei den anderen Mitgliedern der Hofgesellschaft) zu erheblichen Irritationen und zu Versuchen, diesen ›Fehler‹ zu berichtigen.128 Auch andere Beispiele zeigen, dass und wie Narrative des Entscheidens in der mittelalterlichen Literatur gerade auch bei der Darstellung herrscherlichen und ritterlichen Handelns eine Rolle spielen, dass dem Entscheiden in diesem Kontext aber immer auch etwas Problematisches und in gewisser Weise Irreguläres zukommt.129 Insgesamt legen solche Beispiele nahe, dass Entscheiden aufgrund der Implikationen von Kontingenz, Mehrdeutigkeit und Zweifel, die 127 Vgl. dazu Maximiliane Berger, Der opake Herrscher. Politisches Entscheiden am Hof Friedrichs III . (1440–1486), Ostfildern 2020. Dem entspricht der hohe Stellenwert, den die Erzeugung von Konsens (und sei es auch nur im Nachhinein) innerhalb der mittelalterlichen und auch der frühneuzeitlichen politischen bzw. Herrschaftskultur besaß. Konsensualität bzw. deren Behauptung entschärft bestimmte Probleme des herrscherlichen Handelns, die mit Entscheiden verbunden sind. Vor allem werden auf diese Weise keine Verlierer produziert, d. h. die Seite, die die nicht getroffene (alternative) Option repräsentieren würde, bleibt leer und unbezeichnet; der kontingente Charakter von Entscheidungen wird invisibilisiert und so gegen Widerspruch immunisiert. Vgl. dazu das v. a. von Bernd Schneidmüller entwickelte Konzept der (mittelalterlichen) ›konsensualen Herrschaft‹: Bernd Schneidmüller, Konsensuale Herrschaft. Ein Essay über Formen und Konzepte politischer Ordnung im Mittelalter, in: Paul-Joachim Heinig u. a. (Hg.), Reich, Regionen und Europa in Mittelalter und Neuzeit. Festschrift für Peter Moraw, Berlin 2000, S. 53–87 sowie hierzu die Beiträge in Dohmen / Trausch, Entscheiden und Regieren (wie Anm. 37). Zur Repräsentationen herrscherlichen bzw. kaiserlichen Handelns und Entscheidens im mittelalterlichen Byzanz s. Michael Grünbart, Nutzbringende Ressourcen bei kaiserlichem Entscheiden in Byzanz, in: Pfister, Kulturen des Entscheidens (wie Anm. 11), S. 269–286. 128 Vgl. dazu Bruno Quast, Entscheiden im Spannungsfeld von Routine und Unberechenbarkeit. Praxeologische Überlegungen zur Ginover-Entführung in Hartmanns von Aue »Iwein«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 138 (2019), S. 33–44. 129 Siehe den Beitrag von Susanne Spreckelmeier in diesem Band.

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mit der Konstituierung und dem Vollzug von Entscheiden verbunden sind, der Herrschaftskultur der Vormoderne (zumindest derjenigen des Adels und des Fürstenstaats) nicht entspricht.130 Vielmehr gilt die Entschiedenheit als fürstliche (und allgemein auch als männliche) Tugend und als Ausweis adliger Ehre. Dem Herkules-Mythos kam für die (frühneuzeitliche)  adlige Erziehung wie auch für die fürstliche Repräsentation eine wichtige Bedeutung zu131  – allerdings wurde auch hier der zaudernde und passive ›Herkules am Scheideweg‹ als problematisch angesehen. Vorbild und Symbol adliger Werte ist vielmehr Herkules als tugendhafter Held und entschiedener, von keinem Zweifel in seinem Handeln irritierter Tat-Mensch.132 ›Herkules am Scheideweg‹ scheint in der Frühen Neuzeit eher in städtisch-bürgerlichen Kontexten populär gewesen zu sein. Dies wirft die Frage auf, ob dem Entscheiden in nicht-adlig geprägten Lebenswelten, vor allem in den Städten, in der Welt des Handels und der gelehrten Bildung, eine höhere kulturelle Relevanz zukam als in der höfischen Welt und ob eine Kultur des politischen Entscheidens mit entsprechenden Normen und Rahmenregeln demnach eher innerhalb republikanischer Diskurse zu vermuten ist.133 Darüber hinaus wird gerade in der Frühen Neuzeit Entscheiden, nicht zuletzt auch die dafür konstitutiven Elemente des Zweifelns, Zögerns und Abwägens, oftmals durch weibliche Figuren dargestellt und erscheint so insgesamt als eher weiblich konnotiertes Verhaltensmuster, während sich die Entschiedenheit als männlich konnotierte Handlungsdisposition erweist. Im Mittelalter und der Frühen Neuzeit wird Entscheiden oft als soziales Geschehen dargestellt, das wesentlich durch das Einwirken externer, vor allem transzendenter Mächte (Gott, Teufel, Dämonen) bestimmt ist, die als die eigentlichen Verursacher von Entscheidungsproblemen gelten. So sind auch die ›Entscheidensspiele‹, die sich den Held*innen höfischen Erzählens als Herausforderungen stellen, göttlich bestimmt. Die Vorstellungen eines autonom entscheidenden Individuums und von Entscheiden als innerem Handeln sind insgesamt wenig präsent, auch wenn sich solche Konzeptionen gerade in der Scholastik durchaus finden lassen. Dies bedeutet keineswegs, dass der individuellen Dimension des Entscheidens und auch der inneren Disposition der Akteure keine Bedeutung zugemessen wurde, im Gegenteil: Diese wurde gerade 130 Dem entspricht eine negative Wahrnehmung von Neutralität (als Offenhalten von Optionen): vgl. dazu Axel Gotthard, »Der liebe vnd werthe Fried«. Kriegskonzepte und Neutralitätsvorstellungen in der Frühen Neuzeit, Köln 2014. 131 Siehe den Beitrag von Martina Wagner-Egelhaaf in diesem Band. 132 Auch Hamlet bildet eine Gegenfigur zum Ideal des Herrschers als Tatmenschen und der Tugend der Entschiedenheit, indem er das Zögern und Zaudern im Angesicht von Situationen, die durch die Gleichzeitigkeit von Entscheiden-Müssen und Nicht-Entscheiden-Können gekennzeichnet sind, verkörpert: vgl. dazu Peter Philipp Riedl, Am Scheideweg. Entscheidungsnarrative in Goethes Roman »Wilhelm Meisters Lehrjahre«, in: Wagner-Egelhaaf, Mythen und Narrative des Entscheidens (wie Anm. 15), S. 171–187, v. a. S. 173 f. 133 Vgl. J. G.A. Pocock, The Machiavellian Moment, Princeton 1975.

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auch mit Blick auf das Verhältnis von Selbst- und Fremdbestimmung immer wieder diskutiert. Handeln und im Besonderen Entscheiden wurden von den Akteuren aber oft nicht im Modus der agency, sondern der patiency, des Erleidens und Geschehens, gefasst.134 Diese wie auch andere bereits genannte Aspekte lassen sich für den religiösen Bereich besonders deutlich ausmachen.135 Dass Entscheiden mit Blick auf Religion in der Vormoderne als in besonderer Weise problematisch angesehen wurde, lässt sich schon daran erkennen, dass sich ›häretisch‹ von (pro)hairesis ableitet. Sich vom wahren Glauben abzuwenden bzw. auch nur Glaubenszweifel zu haben, erscheint dabei als Sünde und als Ausdruck einer (falschen) Entscheidung, ja als Ausweis einer allgemein zu verurteilenden Bereitschaft, bestehende Verhältnisse in Frage zu stellen, was es entsprechend, insbesondere im Rahmen der Inquisition, zu verfolgen und zu bestrafen galt.136 Dass die Auffassung von Entscheiden als etwas Irregulärem gerade in der Religion besonders deutlich ausgeprägt war, ist Folge der »asymmetrischen Axiologie« (Friedrich) der christlichen Heilslehre und Eschatologie. Hierdurch ergibt sich eine für religiöses Entscheiden in der Vormoderne und dessen Repräsentation kennzeichnende Diskrepanz zwischen der Beobachter- bzw. der Berichts- und der Handlungsbzw. Vollzugsperspektive:137 Denn was für den distanzierten Beobachter (nicht zuletzt in der Retrospektive) als klar und eindeutig richtig bzw. falsch erscheinen mag, vor allem aufgrund der als eindeutig asymmetrisch ausgewiesenen Optionen, mag sich für den handelnden Akteur weit weniger eindeutig darstellen. Und auch aufgrund der komplexen Glaubenslehre kommt es im vormodernen Christentum ebenso wie im Judentum oder auch im Islam immer wieder zu Unklarheiten, Ambiguitäten und damit verbundenen »komplizierten Kons134 Vgl. instruktiv Burkhard Schnepel, Zur Dialektik von agency und patiency, in: Paragrana 18 (2009), S. 15–22. 135 Zu Religion und Entscheiden vgl. die Beiträge in Drews u. a., Religion und Entscheiden (wie Anm. 116); zu christlichen Entscheidungsnarrativen, vor allem demjenigen der Umkehr bzw. der ›conversio‹, auch verstanden als Rück- bzw. Heimkehr, vgl. Friedrich, Mythische Narrative (wie Anm. 109), S. 31 ff. 136 Zu Semantiken und Narrativen des Entscheidens, insbesondere auch der Kritik an den Inquisitoren und der Verfolgung von wahren Häretikern, s. den Beitrag von ­A lberto ­Cadili in diesem Band. Siehe dazu auch Alberto Cadili, Kritik und Reflexion der Entscheidungsprozesse oberitalienischer Inquisitoren (13.–14. Jahrhundert): Forschungsperspektiven und Forschungsstand, in: Frühmittelalterliche Studien 53 (2019), S. 191–245; Sita Steckel, Problematische Prozesse. Die mittelalterliche Inquisition als Fallbeispiel der Problematisierung religiösen Entscheidens im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 52 (2018), S. 365–399; für die spanische Inquisition vgl. Wolfram Drews, Cultures of Decision-Making and the Spanish Inquisition: Research Problems and Perspectives, in: Revista de la Inquisición 22 (2018), S. 63–76. Vgl. zum Problem mit anderer Wertung allerdings auch Dorothea Weltecke, »Der Narr spricht: Es ist kein Gott«. Atheismus, Unglauben und Glaubenszweifel vom 12. Jahrhundert bis zur Neuzeit, Frankfurt a. M. 2010, v. a. S. 458–460. 137 Vgl. dazu Quante / Rojek, Entscheidungen als Vollzug und im Bericht (wie Anm. 40).

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tellationen und Indifferenzzonen«, die dann Raum und Bedarf für Entscheiden eröffnen.138 Allerdings werden die entsprechenden Praktiken im Umgang mit solchen Indifferenzen häufig nicht als Entscheiden gefasst, sondern als Erkennen. Glaubensentscheidungen (bzw. deren Erkenntnis) erscheinen oft als Folge der Gnade Gottes, nicht als Leistung des Einzelnen. Deutlich wird dies in der Reformation, in der sich solche Konstellationen und die damit verbundenen Probleme vor allem aufgrund der Gleichzeitigkeit von Entscheidungsnotwendigkeit und der Unfähigkeit (und in gewisser Weise auch Unzuständigkeit) des Einzelnen zu entscheiden in besonders prägnanter Weise ergaben.139 Auch in der Reformation wird das Handeln und Entscheiden Einzelner als abhängig von demjenigen Anderer, vor allem Gottes, gedacht und Entscheiden vor allem auf einer überindividuellen Ebene verortet. Der Einzelne und sein Inneres werden dabei zwar nicht als der primäre Agent und Ort des Entscheidens gefasst; den inneren individuellen Dispositionen wird aber durchaus eine Rolle zugeschrieben, weswegen Appelle an das Individuum, etwa zur Bekehrung, nicht von vornherein als sinnlos angesehen werden. Insofern wird auch der Einzelne nicht als vollkommen fremdbestimmt gedacht, sondern er bzw. sie ist eingebunden in Zusammenhänge, in denen sich (Glaubens-)Entscheidungen (bzw. deren Erkenntnis) vollziehen. Diese Spielräume für den Einzelnen und seine Eigenverantwortung sind allerdings noch weit entfernt von modernen Konzeptionen individueller Handlungsfreiheit. Entscheidensressourcen wurden letztlich nicht spezifisch mit der psychologisch-geistigen Ausstattung der Subjekte in Verbindung gebracht. Sie lagen vielmehr in einer über- oder transindividuellen Interaktion, dem Kontakt mit transzendenten Mächten. Entscheidungen ergaben sich als emergentes Phänomen überindividueller Vorgänge, in die Individuen allerdings eingebunden waren. Dass in der Vormoderne Handeln, gerade auch alltägliches Handeln, nur in Ausnahmefällen mit Semantiken und Narrativen des Entscheidens bezeichnet und repräsentiert wurde (was diesen allerdings eine besondere kulturelle Signifikanz verlieh), lässt sich auch im Bereich der Medizin und der Ökonomie 138 Friedrich, Mythische Narrative (wie Anm. 109), S. 45. Für das Judentum s. den Beitrag von Nicola Kramp-Seidel in diesem Band. Dass dies nicht allein für die Vormoderne, sondern auch für die Moderne und insbesondere das 20. Jahrhundert gilt, zeigt der Beitrag von Regina Grundmann. Vgl. zum Islam auch: Thomas Bauer, Die Kultur der Ambiguität. Eine andere Geschichte des Islams, Berlin 2011. 139 Vgl. dazu den Beitrag von Matthias Pohlig in diesem Band. Siehe auch ders., Die Reformation und das Problem des religiösen Entscheidens, in: Archiv für Reformationsgeschichte 109 (2018), S. 316–330; ders., Entscheiden dürfen, können, müssen: Die Reformation als Experimentierfeld religiösen Entscheidens, in: Drews u. a., Religion und Entscheiden (wie Anm. 116), S. 201–226. Zum religiösen Entscheiden im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit vgl. Matthias Pohlig / Sita Steckel (Hg.), Über Religion entscheiden. Religiöse Optionen und Alternativen im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Christentum / Choosing my religion. Religious options and alternatives in late medieval and early modern Christianity, erscheint Tübingen 2021.

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beobachten. So wurde im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit Medizin als Kunst verstanden, die auf der richtigen Deutung von Zeichen basierte.140 Auch wenn die Ärzte in der alltäglichen Praxis permanent mit schwierigen und oftmals dilemmatischen Entscheidungsproblemen konfrontiert waren, erschienen sie nicht, zumindest nicht in expliziter Weise, als ›Entscheider‹, weil auch hier vorausgesetzt wurde, dass es die richtige bzw. wahre Handlungsoption auf der Grundlage des Zeichencharakters der beobachtbaren Verhältnisse, in diesem Fall von Körpern und Krankheitssymptomen, zu erkennen gelte. Die Auswahl der richtigen Option erschien damit als Folge von (adäquater) Erkenntnis und nicht als Entscheidungsakt. Hier gibt es nur richtige oder falsche Deutungen, nicht aber richtige oder falsche Entscheidungen. Anders formuliert: Diejenigen, die über eine richtige ›innere Disposition‹ verfügen, müssen sich nicht entscheiden. Lediglich diejenigen, bei denen dies nicht der Fall ist, sehen sich mit einem Entscheidungsproblem konfrontiert, statt in ›schlafwandlerischer Sicherheit‹ das Richtige zu erkennen und zu tun. Konsequenterweise lassen sich auch im medizinischen Diskurs der Frühen Neuzeit kaum explizite Semantiken und Narrative des Entscheidens beobachten. Über einen (unausdrücklichen) Entscheidensbegriff verfügte die frühneuzeitliche Medizin, wenn überhaupt, auf performativer und nicht auf diskursiver Ebene. Das dem Entscheidensbegriff zugrunde liegende Handlungsschema oder die damit verbundenen Handlungskompetenzen waren allerdings durchaus vorhanden und wurden im institutionellen Arrangement der Medizin realisiert. Die Quellen erlauben hier also durchaus die hermeneutisch plausible Unterstellung des Vorhandenseins von Entscheidensvorstellungen, ohne dass man als Quellenbasis zwingend diskursive Erörterungen über diese – dargestellt in entsprechenden Ausdrücken – her­ anzuziehen bräuchte. Dies ist insofern über die Medizin hinaus relevant, als in der Vormoderne soziale und gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge wie auch das darauf bezogene politische Handeln verbreitet mit Körper- und Medizinmetaphern gedeutet und beschrieben wurden. Dies entspricht der bereits festgestellten relativen Absenz von Semantiken und Narrativen des Entscheidens bei der Repräsentation politisch-herrschaftlichen Handelns in der Vormoderne. Ein ähnlicher Befund lässt sich für das Feld der Wirtschaft formulieren: Bis weit in die Moderne hinein wurde Entscheiden nicht als konstitutives Merkmal ökonomischen Handelns verstanden – zumindest soweit sich dieses innerhalb regulärer Handlungsordnungen bewegte. Wie im Fall der Religion wurde das Entscheiden besonders dann thematisiert, wenn ökonomische Praktiken in den Blick genommen wurden, die von den hegemonialen, lange Zeit über religiöse Normen bestimmten Vorstellungen abwichen oder als Gefährdung der sozialen Ordnung angesehen wurden. Dies trifft insbesondere auf diejenigen ökonomischen Praktiken zu, die auf den Umgang mit Geld und Kredit ausgerichtet waren und eine wesentliche Rolle bei der Ausbildung einer (früh)modernen Kapitalwirtschaft spielten. Figuren, die diese Wirtschaftsweise in besonderer 140 Vgl. den Beitrag von Hannah Murphy in diesem Band.

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Weise verkörpern, wie der (jüdische) Wucherer, die im Rahmen der Inflation der 1620er Jahren erfundene Figur des Kippers und Wippers oder auch der ­stock-jobber als Repräsentant des sich seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts vor allem in Westeuropa ausbreitenden, weitgehend unregulierten Finanzkapitalismus, erscheinen dabei durchaus als Figuren des Entscheidens.141 Entsprechend wurde ihr Agieren im zeitgenössischen Diskurs auch über Semantiken und Narrative des Entscheidens repräsentiert. Entscheiden erscheint hier als Ausdruck des Irregulären und gilt als willkürlich, zufallsbestimmt und irrational. Mehr noch: Die Entscheidungsmöglichkeiten, die sich den Akteuren hier boten, wurden ausschließlich als schlechte Optionen dargestellt. Als einzige gute Option galt, in einer Art Konversion diesen Handlungsraum zu verlassen und sich den damit verbundenen Entscheidungszwängen zu entziehen – aber genau dieser Weg ist den Menschen, die sich darin aufhalten, aufgrund ihrer inneren Disposition oftmals versperrt. Gerade das Beispiel der Ökonomie und des ökonomischen Handelns macht deutlich, wie sehr zwischen Vormoderne bzw. Früher Neuzeit und Moderne sowohl Kontinuitäten als auch fundamentale Unterschiede bestehen. Insbesondere in der kulturellen Repräsentation des modernen Finanzkapitalismus findet sich eine Vielzahl negativer Deutungen und damit verbundener Semantiken und Narrative des Entscheidens, deren Ursprünge weit in die Vormoderne zurückreichen. Zugleich ist aber die Wirtschaft der Bereich, in dem sich Semantiken des Entscheidens vor allem im Verlauf des 20. Jahrhunderts sehr weitgehend durchgesetzt haben und auch in grundsätzlich positiver Weise bewertet werden. Insofern ist es hier stärker als anderswo zu einer Normalisierung des Entscheidens gekommen. Zusammenfassend lässt sich festhalten: Insgesamt gesehen existierte im Mittelalter wie auch in der Frühen Neuzeit keine allgemeine, bereichsübergreifende Entscheidenssemantik. Die relativ verbreitete Verwendung einer expliziten Entscheidensrede blieb auf einige wenige soziale Felder wie das Gerichtswesen und die akademische Welt begrenzt. Allerdings gab es in der Frühen Neuzeit Formen eines unausdrücklichen, impliziten Entscheidensbegriffs, der sich in unterschiedlichen sozialen Kontexten nicht zuletzt über Entscheidenserzählungen und auch visuelle Darstellungen greifen lässt. Klar ist aber, dass die (explizite oder auch implizite)  Entscheidensrede anders als in der westlichen Moderne mit ihrer ›Entscheidungsfixierung‹ oder ihrem ›Entscheidungsparadigma‹ keine zentrale Bedeutung für die gesellschaftliche Selbstbeschreibung besaß. Dieser Befund bliebe allerdings konturlos, wenn man nicht gleichzeitig im Anschluss an die theoretischen Überlegungen zur Rolle von Semantiken und Narrativen festhielte, dass sich in vielen Fällen das Handlungs- und Deutungsschema ›Entscheiden‹ in der Vormoderne im Handeln der Akteure manifestierte, ohne dass eine explizite Entscheidungsrede vorlag oder zum Einsatz 141 Siehe dazu wie auch zum Folgenden den Beitrag von Philip Hoffmann-Rehnitz in diesem Band.

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kam. Wenn dies erfolgte, dann diente es oftmals dazu, ein bestimmtes Handeln als problematisch, als irregulär und abweichend bzw. als sündig zu bezeichnen  – wodurch solchen Darstellungen eine spezifische kulturelle Bedeutung zukam.142 Insofern, so zeigen auch die Beiträge dieses Bands, mangelte es der Vormoderne nur auf den ersten Blick an einer Entscheidensbegrifflichkeit. Mindestens einen impliziten oder unausdrücklichen Entscheidensbegriff – der sich sowohl in entsprechenden Handlungskompetenzen und -praktiken wie auch in kulturellen, vor allem narrativen Repräsentationen niederschlug – gab es durchaus, und zwar auch in denjenigen sozialen Bereichen, die wie die Religion als weitgehend entscheidensavers galten. Eine explizite, an bestimmte Ausdrücke der natürlichen Sprache gebundene Rede von und über Entscheiden setzte sich in allgemeiner Form allerdings erst in der Moderne sukzessive durch.143 Die erste relativ gut gesicherte Verlaufsthese lautet somit, dass ›Entscheiden‹ und die Reflexion über Entscheiden in der europäischen Vormoderne gerade deswegen eher periphere und mehr oder weniger isolierte, wenn auch (semantisch und narrativ) relativ differenzierte und kulturell relevante Phänomene darstellten, weil dies eine Möglichkeit und Form war, mit der die nicht zuletzt auch normativ-moralischen Grenzen des Sozialen reflektiert werden konnten. Dabei wurde ›Entscheiden‹ eher als etwas angesehen, das in parasitärer und subversiver Weise die Ordnung des Sozialen und des Normalen zu durchdringen vermochte und diese möglicherweise gar zu pervertieren drohte, stellte es doch die unhinterfragten Üblichkeiten und tradierten Praktiken explizit in Frage. Damit kam dem Entscheiden aber auch ein potentiell kritisches Potential zu. Wenn man die Entwicklung hin zur Moderne als ›Normalisierung‹ von Entscheiden fasst,144 dann impliziert dies die Vorstellung, dass damit der bedrohliche Charakter des Entscheidens als gesellschaftliche Gefahr gebannt (zum Beispiel durch institutionelle Einhegungen) und zugleich Entscheiden zur allgemeinen Norm des sozialen, durchaus auch kritischen Handelns und des Verhältnisses der Akteure zur Welt wie auch zur gesellschaftlichen Ordnung erhoben wird. Entsprechende Veränderungen sollten sich, falls diese These sich in weiteren Forschungen als plausibel herausstellen sollte, insbesondere auf der Ebene der Semantiken und Narrative nachvollziehen lassen, und zwar weil diese in diesem Prozess eine wesentliche Rolle gespielt haben dürften. Zentral hierfür wird es sein, die Entwicklung von Entscheidensverfahren in Institutionalisierungsprozessen zu untersuchen, stellen diese doch einen Versuch dar, den kontingenten und problematischen Charakter des Entscheidens durch umfassende Verfahrensordnungen einzuhegen und für die Akteure bewältigbar zu machen. Hierzu gilt es, genauer zu untersuchen, wie in bestimmten Handlungs142 Die biblische Geschichte vom Sündenfall bildet hier eine, wenn nicht gar die zentrale Referenz. 143 Vgl. hierzu ausführlicher den Beitrag von Tim Rojek in diesem Band. 144 Vgl. dazu Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Göttingen ⁴2009.

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kontexten und gesellschaftlichen Teilbereichen Kriterien und Bedingungen des Entscheidens expliziert und formalisiert wurden.145 Wenn wir uns nun der Moderne, also dem 19. bis 21. Jahrhundert, zuwenden, dann lassen sich zunächst in zwei Bereichen Änderungen beobachten, die zu einem deutlichen, zumindest diskursiven Bedeutungszuwachs von ›Entscheiden‹ bzw. von Semantiken und Narrativen des Entscheidens beitrugen: zum einen im Bereich der Politik, zum anderen im Bereich individuellen Ent­ scheidens.146 Beide spielen auch eine zentrale Rolle dafür, dass Entscheiden für die Selbstbeschreibung moderner (westlicher) Gesellschaften zunehmend relevant wurde. In der (westlichen) Moderne und vor allem dort, wo sich frühzeitig parlamentarische und demokratische Regime etablierten, setzte sich  – durchaus an die Traditionen des alteuropäischen Republikanismus anschließend  – ein Verständnis von Politik als einem entscheidungsbezogenen Handlungsbereich durch.147 In einem bipolaren, auf der Unterscheidung von Regierung und Opposition bzw. von unterschiedlichen antagonistischen Parteien (Whigs versus Tories) beruhenden System wurden Alternativität und Zweifel institutionalisiert. Politische Vorgänge erhielten einen explizit entscheidensförmigen Charakter und wurden in dieser Weise auch zunehmend beschrieben und reflektiert. Damit in Zusammenhang stehen Prozesse des medialen Wandels und desjenigen der öffentlichen Beobachtung von und Kommunikation über Politik, wie sie besonders früh (spätestens seit dem 17. Jahrhundert) in den Niederlanden und in England und dann auch in anderen Ländern Europas und Amerikas zu be145 Auch hier kommt dem richterlichen Entscheiden eine wichtige Bedeutung zu. Wie sich die Forderung einer ›rationalen‹ Urteils- bzw. Entscheidungsbegründung als zentraler Aspekt der gerichtlichen (Entscheidens-)Praxis vor allem im Verlauf des 19. Jahrhunderts nach und nach durchsetzte, zeigt Clara Günzl, Wege zur modernen Entscheidungsbegründung. Zur Justizgeschichte des 19. Jahrhunderts, Diss. Münster 2019 (erscheint Tübingen 2021). Zum Zusammenhang von Entscheiden und Verfahren siehe auch die Beiträge in Stollberg-Rilinger / K rischer, Herstellung und Darstellung verbindlicher Entscheidungen (wie Anm. 11). 146 Die folgenden Ausführungen konzentrieren sich auf diese beiden Aspekte, nicht nur weil sie uns besonders wichtig erscheinen, sondern auch weil die Mehrzahl der Beiträge in diesem Band, soweit sie sich mit Entscheiden vom 19. bis 21. Jahrhundert auseinandersetzen, diese in den Mittelpunkt stellen. Es ist uns bewusst, dass sich dadurch, auch mit Blick auf die vorigen Ausführungen zur Vormoderne, Leerstellen auftun, die nicht zuletzt den wirtschaftlichen Bereich betreffen. 147 Zur Affinität zwischen republikanischen und städtischen politischen Kulturen und Entscheiden s. auch oben. Allerdings ist der ›dezisionistische‹ Charakter von Politik gerade mit Blick auf Politikdefinitionen durchaus umstritten: vgl. dazu Weidner, Begriffsgeschichte und Politikgeschichte (wie Anm. 73), v. a. S. 32 f. Zur historischen Semantik von Politik s. auch Willibald Steinmetz (Hg.), Politik. Situationen eines Wortgebrauchs im Europa der Neuzeit, Frankfurt a. M. 2007. Trotz der Affinität von Politik und Entscheiden findet im Kontext einer Begriffsgeschichte von Politik bzw. des Politischen bislang kaum eine Auseinandersetzung mit Entscheiden statt, zumindest nicht auf historischsemantischer Ebene.

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obachten sind: Entscheidungen, zumal politische (aber etwa auch gerichtliche), bieten sich für das entstehende System der Massenmedien aufgrund ihres Ereignischarakters als Thema in besonderer Weise an. Allerdings wurden typischerweise vor allem die finalen Entscheidungsakte selbst dargestellt und weniger die Prozesse, die hierzu führten, auch wenn letztere durchaus Gegenstand der öffentlichen Beobachtung sein konnten.148 Die sich seit dem 17. Jahrhundert vollziehenden Veränderungen in der Art und Weise, wie in den Massenmedien und der öffentlichen Kommunikation Politik beobachtet wurde,149 führten insgesamt zu einer stärkeren und auch expliziteren Thematisierung von politischen Entscheidungen. Mit Blick auf politisches Entscheiden lässt sich vor allem für das 19. (aber ebenso für das 20. und 21.) Jahrhundert eine widersprüchliche Entwicklung beobachten, die ihren Niederschlag auch auf semantischer und narrativer Ebene findet. So verstärken sich vor allem mit Bezug auf den Staat, aber auch in anderen gesellschaftlichen Bereichen, Prozesse der Formalisierung. Organisationen (im Fall von staatlicher Politik: bürokratische Organisationen) und damit auch organisatorisches Entscheiden werden zunehmend prägend. Bei Entscheidungen, insbesondere bei Personalentscheidungen, findet verstärkt ein Rückgriff auf formalisierte Verfahren statt, vor allem auf solche, die als offene Konkurrenz und Wettstreit (in einem mittelalterlichen Verständnis: als ein ›geteiltes Spiel‹) organisiert sind. Die strukturellen Bedingungen solcher Verfahren  – keine Vorentschiedenheit, Erzeugung von (objektiv) vergleichbaren alternativen Optionen, Orientierung an verfahrensimmanenten Regeln und nicht an externen Faktoren wie Patronagebeziehungen – sollen letztlich eine Auslese der Besten garantieren. Ihre zunehmende Verbreitung im Verlauf des 19. Jahrhunderts gerade im öffentlichen Bereich wurde auch durch entsprechende Legitimationsmuster und -narrative maßgeblich befördert und abgestützt.150 Retrospektiv wird die so getroffene (Personal-)Entscheidung nicht nur als die beste, sondern oftmals auch, in widersprüchlicher Weise, als die (objektiv gesehen) einzig mögliche Entscheidung ausgewiesen, wodurch deren kontingenter bzw. willkürlicher Charakter verschleiert wird. Dies setzt sich auch bei der Beschreibung von Lebensläufen gerade von Politikern (und in letzter Zeit auch zunehmend von Politikerinnen) durch, nicht zuletzt in der autobiographischen Selbstsicht: Darin wird die politische Karriere weniger als Ergebnis kontingenter eigener wie fremder Entscheidungen, sondern als Verwirklichung eines (höheren) Plans dargestellt, was wiederum als ein durchaus vormodernes Deutungsmuster erscheint. 148 Vgl. dazu Alexander Durben, Die Fabrikation der Entscheidung. Der Court of King’s Bench und der Court of Common Pleas, ca. 1750–1850, Diss. Münster 2019 (erscheint Münster 2021). 149 Vgl. Rudolf Schlögl, Politik beobachten. Öffentlichkeit und Medien in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift für historische Forschung 35 (2008), S. 581–616. 150 Siehe dazu den Beitrag von Andreas Fahrmeir in diesem Band.

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Dies verweist darauf, dass in der kulturellen Kommunikation der Moderne und speziell in literarischen Texten Narrative eine besondere Popularität genießen, die trotz oder gerade wegen der zunehmenden Formalisierung von (politischen) Entscheidungsprozessen auf das individuelle, situative, durchaus auch kreative Handeln einzelner heroischer und charismatischer Gestalten ausgerichtet sind, die sich den Sachzwängen und formalisierten Logiken entziehen. In ihrem Handeln markieren solche Figuren das Andere institutionalisierter und formalisierter Sozialzusammenhänge und grenzen sich so von den Amtsträgern und ihrem formalisierten, legalistischen Handeln ab. In den Dramen um 1800 sind solche Figuren und die damit verbundenen Narrative besonders prominent, wobei es sicher kein Zufall ist, dass sie oftmals in einem vormodernen Setting situiert sind. Dabei werden die ›Held*innen‹ wie Wilhelm Tell, die Jungfrau von Orleans oder Prinz Friedrich von Homburg gerade nicht als Entscheider*innen, sondern als Tat-Menschen beschrieben, die wissen, was richtig und falsch ist und die in diesem Sinne ›entschieden‹ handeln (und damit situativ auch nicht mehr entscheiden müssen).151 Solche Narrative eines stark personenbezogenen (Nicht-)Entscheidens und damit verbundene Figuren des entschiedenen (zumeist männlichen) Tat-Menschen, der jenseits formalisierter Entscheidungsprozesse steht und agiert, waren im 19. Jahrhundert gerade auch in republikanischen Regimen populär, zugleich aber auch ausgesprochen ambivalent und umstritten, nicht nur in Europa, sondern auch in den Amerikas. Dies zeigt das Beispiel der lateinamerikanischen Staaten in der Nachunabhängigkeitszeit und hier speziell die Figur des Caudillos.152 Solche Figuren konnten dabei zum Gegenstand gegensätzlicher Erzählungen werden. Einerseits von solchen, die dem Narrativ des heroischen Alleinentscheiders entsprechen: Dieser folgt in seinem Handeln allein seinem eigenen Gewissen und ist durch einen besonders stark ausgeprägten Willen (der zugleich eine Art internalisierten Volkswillen darstellt) und durch Entscheidungsstärke ausgezeichnet. Durch sein Handeln und seine Entscheidungen wehrt er Gefahren von dem von ihm verkörperten Gemeinwesen ab bzw. stellt angesichts eher schwach ausgeprägter institutioneller Strukturen und formaler Verfahren (›schwacher Staatlichkeit‹) die legale Ordnung (wieder) her. Diese Eigenschaften können ihn aber andererseits auch als willkürlich und gewaltsam handelnden Tyrannen erscheinen lassen. Insofern kann er zum Gegenstand von Narrativen des tyrannischen Entscheidens werden, die ebenfalls auf eine lange Tradition zurückblicken. Ähnliche Ambivalenzen werden deutlich, wenn man den Blick auf religiöses Entscheiden und speziell die katholische Kirche richtet. Im Zuge sich wandelnder sozialer und kultureller Rahmenbedingungen, etwa aufgrund einer zunehmenden Verrechtlichung, verbreiteten sich im 19. Jahrhundert verstärkt Auffassungen, die davon ausgingen, dass die Inhalte der Glaubenslehre nicht bereits

151 Siehe den Beitrag von Carolin Rocks in diesem Band. 152 Siehe dazu den Beitrag von Stephan Ruderer in diesem Band.

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als ewige Wahrheiten feststehen und daher allein gefunden bzw. erkannt werden müssten, sondern dass diese durch menschliches Handeln und Entscheiden (in diesem Fall insbesondere durch das kirchliche Lehramt) veränderbar seien. Das wachsende Bewusstsein für die Kontingenz und Entscheidungsabhängigkeit der Glaubenslehre schlug sich in entsprechenden Diskontinuitätsnarrativen nieder, die deren ständigen Wandel betonen. Damit gingen auf kirchenpolitischer und -rechtlicher Ebene neue Probleme einher, vor allem mit Blick auf die Frage, inwieweit die einzelnen Inhalte der katholischen Glaubenslehre überhaupt noch als wahr gelten können. Die Konzeption der päpstlichen Unfehlbarkeit, wie sie im Ersten Vatikanischen Konzil zur Doktrin erhoben wurde, gab darauf eine Antwort. Dadurch sollte sichergestellt werden, dass Entscheidungen des Papstes in Glaubensfragen, die dieser aufgrund des ihm verliehenen kirchlichen Lehramts in souveräner Weise trifft, von sich aus Geltung erlangen und so als Grundlage kirchlichen Handelns angesehen werden können, auch wenn es sich dabei eben um Entscheidungen und nicht mehr um die Erkenntnis ewiger Wahrheiten handelt. Insofern bezieht sich diese Doktrin auf die formale, nicht auf die inhaltliche Seite des Entscheidens.153 Im 20. Jahrhundert blieb die Engführung von Politik und Entscheiden erhalten, durchlief aber Veränderungen, die sowohl für die Beschreibung von Politik als auch für die Art und Weise, wie Entscheiden beobachtet und repräsentiert wird, von wesentlicher Bedeutung sind. Dabei führt die Betonung des entscheidensförmigen Charakters von Politik immer wieder dazu, dass gerade auch in der öffentlichen Darstellung Semantiken und Narrative Verbreitung finden, die den kontingenten Charakter politischen Entscheidens zu verschleiern suchen und Entscheidungen als notwendig und ›alternativlos‹ erscheinen lassen (sollen), etwa durch die Betonung von Sachzwängen, den Verweis auf allgemeine Vernunft oder den Volkswillen und, dies vor allem in Krisensituationen, durch die Behauptung der zeitlichen Dringlichkeit des Entscheidens.154 Aber nicht nur der krisenhafte Charakter von Politik, auch die Ausweitung der Themen, die im 20. Jahrhundert als politisch entscheidbar und auch entscheidungsbedürftig ausgewiesen werden, führen in der politischen Kommunikation zu einer Rhe153 Siehe dazu den Beitrag von Michael Seewald in diesem Band. Zu Entscheiden bzw. Kulturen des Entscheidens in der katholischen Kirche in historischer Perspektive (und insbesondere auch zur Doktrin der Unfehlbarkeit) s. auch Günther Wassilowsky, Abstimmen über die Wahrheit? Entscheidungskulturen in der Geschichte der Kirche, in: Stimmen der Zeit 233 (2015), S. 219–233; Hubert Wolf, »Dann muss halt das Dogma die Geschichte besiegen.« Unfehlbare Entscheidungen des kirchlichen Lehramts, in: Drews u. a., Religion und Entscheiden (wie Anm. 116), S. 179–199. Zur frühneuzeitlichen Tradition, die viele der modernen Entwicklungen vorbereitet, s. etwa: Birgit Emich, Roma locuta  – causa finita? Zur Entscheidungskultur des frühneuzeitlichen Papsttums, in: Arndt Brendecke (Hg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure – Handlungen – Artefakte, Köln 2015, S. 635–645. 154 Dies gilt nicht nur für die ›nationale‹ Ebene, sondern auch für die Lokalpolitik, wie der Beitrag von Constanze Sieger in diesem Band zeigt.

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torik der Notwendigkeit und Alternativlosigkeit.155 Diese besitzt den Vorteil, dass sie politische Entscheidungsprozesse und die öffentliche Kommunikation darüber zumindest zu einzelnen Themen zu einem Ende bringen und für Neues öffnen können. Dies gilt gerade auch für demokratische Regime, in denen politisches Entscheiden eigentlich insofern unabschließbar ist, als sich die alternativen Entscheidungsoptionen, die durch eine Entscheidung (zumindest zunächst) ausgeschlossen werden, nicht als objektiv falsch (und letztere demnach auch nicht als objektiv richtig) qualifizieren lassen. Entscheidungen kommt damit allenfalls temporär der Charakter von ›Beschlüssen‹ zu. Die mit dem entscheidensförmigen Charakter von Politik verbundene kon­ stitutive Unsicherheit darüber, wie gute und richtige politische Entscheidungen getroffen werden können, haben vor allem nach dem Zweiten Weltkrieg und im Zeitalter des Kalten Kriegs zu Versuchen geführt, politisches Entscheiden auf eine objektive, wissenschaftliche Grundlage zu stellen, es zu rationalisieren und ihm so seinen willkürlichen Charakter zu nehmen.156 Die Tendenz zur Verwissenschaftlichung und Rationalisierung des politischen Entscheidens lässt sich im Westen wie im Osten beobachten, wenn auch auf jeweils unterschiedlichen ideologischen Grundlagen. Das übergreifende Ziel war es, wissenschaftliche Erkenntnisse darüber zu erlangen, wie (politische)  Entscheidungsprozesse so gestaltet sein können, dass sie bestmögliche Entscheidungen und Ergebnisse hervorbringen, die sich dann (zumindest retrospektiv) als einzig mögliche und alternativlos darstellen lassen. Vor allem sollte eine belastbare Grundlage dafür geschaffen werden, zukünftige Entwicklungen vorherzusehen, was wiederum die Basis für politisches Entscheiden und das Treffen von (auch objektiv) richtigen Entscheidungen darstellen sollte.

155 Vgl. das ›TINA-Prinzip‹ als eine Form von ›pragmatischer‹ und zugleich ideologiebasierter Politik, die die Zukunft nicht als offen, sondern als vorgegeben (etwa durch die weltweite Verbreitung des Kapitalismus) betrachtet und die Aufgabe von Politik darin sieht, dass sich die Länder bestmöglich an solche Entwicklungen anpassen sollten, ohne dabei zu versuchen, diese zu verändern. Zum ›TINA-Prinzip‹ s. Astrid Séville, »There is no alternative«. Politik zwischen Demokratie und Sachzwang, Frankfurt a. M. 2017. Zur jüngeren Karriere des Begriffs der Alternative, vor allem aber auch der Alternativlosigkeit, s. von Rahden, Alternative (wie Anm. 45). 156 Die Rational-Choice-Theorie wird zunehmend zum Gegenstand wissenschaftsgeschicht­ licher Untersuchungen, die deren Entstehung und Aufstieg nach dem Zweiten Weltkrieg, zunächst vor allem in den Wirtschaftswissenschaften, und ihre sich seit den 1980er/1990er Jahren beschleunigende und immer weitere Bereiche erfassende Ausbreitung nachzeichnen: vgl. dazu Sonja M. Amadae, Rationalizing Capitalist Democracy. The Cold War Origins of Rational Choice Liberalism, Chicago (Ill.) 2003; Harper u. a., Choice (wie Anm. 13); Daniel Bessner / Nicolas Guilhot (Hg.), The Decisionist Imagination. Sovereignty, Social Science, and Democracy in the 20th Century, New York 2019. Zum Entscheiden im Zeitalter des Kalten Kriegs s. auch Thomas Großbölting / Stefan Lehr (Hg.), Politisches Entscheiden im Kalten Krieg: Orte, Praktiken und Ressourcen in Ost und West, Göttingen 2019.

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Im Ostblock bildete der Marxismus-Leninismus hierfür die wissenschaftliche Grundlage, so etwa in Form der Norm der kollektiven Entscheidung. Dies ging, zumindest in der offiziellen Selbstdarstellung, mit einer Abwendung von Formen des personalen Entscheidens einher (was die Ausbildung in hohem Maße personalisierter, autokratischer Regime vor allem unter Stalin keineswegs verhinderte). Allerdings konnte die Abweichung von den offiziellen Entscheidensdoktrinen immer wieder genutzt werden, um Ursachen für politische Fehlentwicklungen auszumachen und Reformversuche (oder auch deren Rückgängigmachung wie nach dem Prager Frühling) zu rechtfertigen.157 Auch im Westen wurde seit den 1940er Jahren, vor allem in den USA , verstärkt versucht, politisches Entscheiden auf eine wissenschaftliche Grundlage zu stellen. Diese Verwissenschaftlichung von politischem Entscheiden und von Entscheiden im Allgemeinen manifestierte sich im Aufschwung von Entscheidungstheorien, insbesondere den Rational-Choice-Theorien, in den 1960er und 1970er Jahren: »Between 1940 and 1960, decision-making had migrated from the margins to the core of political science.«158 Diese sind durch ihr szientistisches Grundverständnis und die Auffassung charakterisiert, man könne menschliches und insbesondere politisches Handeln und Entscheiden auf der Grundlage mathematischer Modelle formalisieren und rationalisieren. Diese decision theories grenzen sich von Vorstellungen von (politischem) Entscheiden ab, die, wie im Fall des Dezisionismus à la Carl Schmitt, dem Entscheiden ein irrationales bzw. arationales Element unterstellen und dem Entscheiden einen individuellen, letztlich nicht verallgemeinerbaren Charakter zuschreiben. »The rise of decision theory«, so Daniel Bessner und Nicolas ­Guilhot in Anschluss an Philip Mirowski, »was first and foremost an expression of a conscious rejection of a charismatic construction of leadership and rationality«. Das insbesondere mit der Spieltheorie verbundene Versprechen bestand in der Möglichkeit »to offer nonideological languages of sovereign decisions«. Diese sollten zumindest für die liberalen westlichen Demokratien eine Grundlage für effizientes und richtiges Entscheiden bilden.159 Allerdings sind diese ›Sprachen‹ und die hierauf basierenden decision theories, die zusammen mit dem damit verbundenen technokratischen, wissenschaftsbasierten und objektiv-rationalen Verständnis von (politischem) Entscheiden ihren Höhepunkt in den 1960er und 1970er Jahren erlebten, keineswegs ideologiefrei. Vielmehr liegen insbesondere den RationalChoice-Ansätzen grundlegende ›ideologische‹ Postulate west­licher Vergesell157 Vgl. dazu den Beitrag von Stefan Lehr in diesem Band. 158 Daniel Bessner / Nicolas Guilhot, Introduction: Who Decides?, in: dies., The Decisionist Imagination (wie Anm. 156), S. 1–25, hier S. 1. 159 Bessner / Guilhot, Introduction (wie Anm. 158), S. 14. Vgl. dazu auch Philip Mirowski, How having Reasons Became Making a Decision: The Cold War Rise of Decision Theory and the Invention of Rational Choice, in: Bessner / Guilhot, The Decisionist Imagination (wie Anm. 156), S. 135–172; zur Entwicklung der Rational-Choice-Theorie bzw. eines ›Rational-Choice-Liberalismus‹ nach dem Zweiten Weltkrieg s. Amadae, Rationalizing Capitalist Democracy (wie Anm. 156).

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schaftung zugrunde, und sie tragen auch dazu bei, diese in immer weiteren Bereichen des sozialen Lebens zu verankern und zu legitimieren. Die Decision Sciences, die in den letzten Jahren eine neue Popularität erfahren haben, schließen hieran an, wenn auch auf einer deutlich veränderten Grundlage, da gerade die Rational-Choice-Theorie inzwischen zum Standardmodell für die wissenschaftliche Analyse von ökonomischem und zunehmend auch von sozialem Handeln insgesamt geworden ist.160 Mit dem Aufstieg der decision theories nach dem Zweiten Weltkrieg ging zumindest in der westlichen Welt eine Abstrahierung und Verallgemeinerung der Kategorie des Entscheidens bzw. des decision-making einher. Diese erlebte nicht nur als wissenschaftlicher Begriff eine erstaunliche Karriere, sondern auch in der öffentlichen und alltäglichen Kommunikation. Judith N. Shklar stellte bereits 1964 fest: »To a historian the most interesting thing about decisions is the fact that everyone is talking about them. No one interested in social ideas can fail to notice how large a part of the word ›decision‹ has of late come to ply in the vocabulary of moral and political discourse. It meets one on every page. Inevitably one asks, ›Why?‹ Why is there so much talk of decisions and of those who are said to make them?«161

Dabei kam es im Zuge der Expansion der Entscheidenssemantik auch zu einer ›Kolonisierung‹ von immer weiteren Bereichen der Lebenswelt durch das Entscheiden und die damit verbundenen Erwartungen an das (individuelle) Handeln. Auch die Wissenschaft, die Hermann Lübbe in den 1960er Jahren durch Freiheit von Entscheidungszwängen charakterisiert sah,162 ist heutzutage weitgehend entscheidensförmig organisiert: Über was geforscht werden kann, ist unter anderem Ergebnis von Entscheidungen, vor allem von Gutachter*innen und universitätsexternen Institutionen wie der DFG . Diese Verbreitung von Entscheidenssemantiken im wissenschaftlichen Diskurs und darüber hinaus führte dazu, dass Entscheiden und Handeln zunehmend in eins gesetzt worden sind. Allerdings kann für die Moderne und auch für die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg nur in begrenztem Umfang davon gesprochen werden, dass ›Entscheiden‹ selbst Objekt einer Verbegrifflichung gewesen wäre. Was die Moderne von der Vormoderne primär zu unterscheiden scheint, ist weniger eine klare begriffliche Fassung von Entscheiden als der Umstand, dass unterschiedliche Begriffe und damit verbundene Auffassungen nun mithilfe der generalisierten und dekontextualisierten Kategorie des Entscheidens miteinander verknüpft werden können. Wie man vor allem an der Rational-Choice-Theorie ersehen kann, werden die weitgehend synonym gebrauchten Kategorien des Entscheidens / decision-making und der Wahl / choice selbst als unexplizierte Grundbegrifflichkeit eingesetzt. Explikationsgewinne werden 160 Vgl. dazu vor allem Coleman, Foundations of social theory (wie Anm. 6). 161 Zitiert nach Abend, Outline of a sociology of decisionism (wie Anm. 10), S. 259. 162 Siehe dazu Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung (wie Anm. 46).

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eher dadurch erzielt, dass andere Kategorien bzw. Begriffe (wie insbesondere ›rational‹) auf Entscheiden bezogen werden, dann aber Entscheiden als weitgehend unbestimmte Grundkategorie durch diese anderen Begriffe expliziert werden soll. Auch daran zeigt sich wiederum, dass die klassische Verlaufsthese der soziologischen Modernisierungstheorien, die von Traditionen und Routinen zum expliziten Entscheiden führt, um (mindestens) zwei Dimensionen ergänzt werden muss: erstens um die Differenz zwischen ausdrücklichem und unausdrücklichem Entscheidensbegriff, die man beide benötigt, um die Quellen adäquat zu ›lesen‹; zweitens um die historische Entwicklung der Semantik des Entscheidens von stark kontextualisierter, jeweils bereichsabhängiger Begrifflichkeit zu einer generalisierten und übergreifenden Entscheidenssemantik. Als historische Verlaufsthese lässt sich überdies festhalten, dass Entscheidensvorgänge in der Moderne zunehmend ›politisiert‹ wurden. Der Entscheidungscharakter von Politik rückt gegenüber dem Charakter des Bewahrenden und Tradierenden in den Vordergrund; zunehmend wird das zukunftsbezogene Handeln der politischen Akteure in Regierung und Legislative als derjenige gesellschaftliche Ort gedeutet, von dem man normativ die Herstellung und Ausführung von Entscheidungen in immer mehr Lebensbereichen erwartet – um zugleich genau dies und den selbstherrlichen und ›willkürlichen‹ Charakter von Politik zu kritisieren. Da sich in der Moderne aber zugleich ein allgemeines Bild des ›Entscheiders‹ und ein bereichsübergreifender Begriff des ›Entscheidens‹ ausprägt, Entscheiden also generalisiert wird, löst sich zugleich die Engführung zwischen Politik und Entscheiden auf. Vielmehr gehen die Merkmale, die den – immer noch männlich konnotierten  – ›Entscheider‹ charakterisieren sollen, auch in private und ökonomische Kontexte über und gelten dort als besonders erfolgversprechend, um mit den zunehmend entscheidensförmig gerahmten Problemen, mit denen man beruflich wie privat konfrontiert wird, erfolgreich umgehen zu können.163 Die Orte des Entscheidens werden mithin in der Moderne allgegenwärtig. Das neue Politikverständnis wird nach 1800 im Zuge republikanischer Debatten und verbunden mit der im Rahmen des deutschen Idealismus und der kantischen Philosophie geprägten Idee individueller Autonomie zunehmend zur Basis einer Vorstellung von Menschen als ›Entscheidern‹. Dies verweist darauf, dass sich Kulturen des Entscheidens in der westlichen Moderne im Vergleich zu anderen, nicht nur vormodernen, Entscheidenskulturen durch ihren (methodologischen) Individualismus auszeichnen. Als vorzüglicher Ort und Träger des Entscheidens gilt hier das Individuum und spezifisch dessen für andere Akteure unzugängliches mentales Innenleben. Mit dieser Vorstellung kann – etwa im Existenzialismus – die Idee radikal ungebundener Wahlmöglichkeiten verknüpft werden, die sich kaum noch oder gar nicht mehr mithilfe externer, außerhalb des Individuums liegender Aspekte rechtfertigen oder begründen lässt.164 Die Existenzphilosophie ist ein philosophischer Ent163 Vgl. dazu die Beiträge von Michael Seewald und Stephan Ruderer in diesem Band. 164 Vgl. den Beitrag von Dagmar Borchers in diesem Band.

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wurf, der das individuelle bzw. individualistische Entscheiden radikalisiert, indem das Entscheiden-Können und Entscheiden-Müssen als allgemeine Grundlage allen Menschseins verstanden werden. Entscheiden erscheint hier als Aufgabe des (einsamen) Individuums, das die Bürde des Entscheidens auf sich nimmt, die ihm von niemandem abgenommen werden kann. Ebenfalls radikal individualistisch ist die Rational-Choice-Theorie ausgerichtet. Sie rekonstruiert die mentale Black Box der Individuen relativ zu einem Modell von Präferenzen und den (teils normativ, teils als anthropologische Grundausstattung gedeuteten) Eigenschaften, denen die deliberativen Prozesse von Akteuren unterliegen. Institutionen und die dort zu fällenden Entscheidungen werden nun nach dem Vorbild individueller Akteure rekonstruiert oder verworfen. Diese zumindest für die westliche Welt zu beobachtende Tendenz zur Individualisierung von Entscheiden ist eng verbunden mit derjenigen zur Verinnerlichung von Entscheiden.165 Allerdings finden sich auch hier, gerade mit Blick auf die semantische und die narrative Ebene, zahlreiche Kontinuitäten, die in die Frühe Neuzeit und darüber hinaus zurückreichen. So wird mit der seit der ausgehenden Frühen Neuzeit zunehmenden Tendenz, Entscheiden auf das Individuum und dessen Inneres zu beziehen, auch das Verhältnis von Autonomie und Heteronomie des Entscheidens neu verhandelt. Dies wird vor allem bei der Darstellung privater Lebensentscheidungen deutlich, also bei Entscheidungen, denen eine wesentliche Bedeutung für das individuelle ›Schicksal‹ zugeschrieben wird.166 Eine kulturelle Vorreiterfunktion nehmen in diesem Zusammenhang (Auto-)Biographien wie etwa Goethes »Dichtung und Wahrheit« ein. Gerade Goethe verwendet ein großes Repertoire an Semantiken und Narrativen des Entscheidens, die zumeist über eine längere Geschichte verfügen, hier aber 165 Auch wenn sich die folgenden Ausführungen auf die Entwicklungen in der westlichen Welt konzentrieren, so sind diese Tendenzen keineswegs auf diese beschränkt, sondern finden sich darüber hinaus auch in anderen Ländern und Weltregionen wie etwa in Indien, wenn auch in gänzlich unterschiedlichen (entscheidens-)kulturellen Kontexten und in sehr verschiedenartigen Ausprägungen. Dies zeigt etwa das Beispiel des matrimonialen Entscheidens (s. dazu unten). Hier ist auch nicht einfach von einer Übernahme westlich geprägter Modelle und Vorstellungen des Entscheidens auszugehen, sondern vielmehr von komplexen, eigenlogischen Prozessen der kulturellen Entwicklung und Verflechtung. Insgesamt stellt eine solche globalgeschichtliche Perspektive auf Kulturen des Entscheidens ein wesentliches Desiderat zukünftiger Forschungen dar. 166 Schicksal wurde im 19. Jahrhundert zunehmend – auf Individuen und Kollektive, zumal Nationen, bezogen – als entscheidbar aufgefasst, das heißt als etwas, das wesentlich von individuellen Entscheidungen abhängt und damit maßgeblich von innerer, subjektiver Disposition bzw. vom ›Charakter‹ bestimmt wird. Anders als in der Frühen Neuzeit wird es nicht mehr als Ergebnis der Vorhersehung angesehen. Die damit verbundene »Internalisierung des Schicksals« (und damit auch der das Schicksal bestimmenden Entscheidungen) findet sich besonders stark und früh ausgeprägt bei Herder. Im 19./20. Jahrhundert wird dieses Thema vor allem in moralphilosophischen Debatten über den (freien) Willen und individuelle Verantwortlichkeit verhandelt: vgl. Rehlinghaus, Semantik des Schicksals (wie Anm. 68), S. 408 ff.

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entsprechend transformiert werden, so etwa in der Art und Weise, wie sich Goethe als neuer ›Herkules am Scheideweg‹ inszeniert.167 Solche Vorstellungen der individuellen Entscheidungsfähigkeit und -notwendigkeit bzw. der autonomen Verfügung des Subjekts über seine (Lebens-) Entscheidungen erfassten im 19. und 20. Jahrhundert immer weitere Bereiche auch des privaten Lebens. Der Diskurs über die ›Moralstatistik‹ zeigt exemplarisch, wie es im Verlauf des 19. Jahrhunderts gerade in Deutschland zu einer zunehmenden Verlagerung des Entscheidens in das Innere von Individuen kam.168 Dabei stellte die Debatte über die Moralstatistik zugleich einen diskursiven Ort dar, an dem über Möglichkeiten und Bedingungen des Entscheidens verhandelt wurde. Diskutiert wurde vor allem das Verhältnis zwischen dieser Innenwelt des individuellen Entscheidens und der Außenwelt, genauso aber auch die Frage, inwieweit individuelle Entscheidungen aufgrund der Logik der Aggregation und allgemeiner Gesetze der Wahrscheinlichkeit letztlich voraussagbar seien. Kontrovers debattiert wurde die Autonomie des inneren Entscheidens (und damit auch des äußeren Handelns als seiner kausal gedachten Folge) und die Frage, ob dieses heteronom von externen Faktoren bestimmt werde, wie dies etwa der ›wissenschaftliche Materialismus‹ annahm. Dabei wurde unter anderem auf die Semantik der Waage zurückgegriffen: Man stellte sich Entscheiden als ein SichNeigen vor, wobei externe Faktoren eine wesentliche Rolle als ›Gewichte‹ spielten. Zur Beschreibung dieses ›inneren Entscheidens‹ wurden in den Debatten um Moralstatistik und allgemeiner in der Moralphilosophie und Willenspsy­ chologie um 1900 unterschiedliche Semantiken, Narrative und Metaphern genutzt. Diese griffen in hohem Maße auf vormoderne Muster zurück: so die Vorstellung vom inneren Gerichtsprozess (als Auseinandersetzung zwischen zwei streitenden Parteien, an dessen Ende der Richterspruch bzw. die Entscheidung steht), vom Los oder auch von der Waage (so in der Rede von inneren Abwägungsprozessen).169 In diesem Kontext wurde auch mit Begrifflichkeiten operiert, die sich bis auf die oben behandelten antiken und scholastischen Entscheidensbegriffe zurückführen lassen, so die Verwendung der Kategorie electio für die willentliche Wahl, die nun aber in einer kontextunabhängigen, allgemeinen Weise (und damit als Begriff) verwendet wurde. Dieser Rückgriff auf vormoderne Debatten zeigt einmal mehr das Neben- und Miteinander von Kontinuitäten und Diskontinuitäten zwischen Vormoderne und Moderne. Im 20. Jahrhundert setzte sich, zumindest in der westlichen Welt, parallel mit der zunehmenden Verbreitung formaler, organisationsbasierter Formen des Entscheidens, diese Tendenz zur Individualisierung und Verinnerlichung von Entscheiden fort, wobei die Los-, Waage- und Gerichtsmetaphern für das in167 Siehe dazu Martina Wagner-Egelhaaf, Sich entscheiden. Momente der Autobiographie bei Goethe, Göttingen 2020. 168 Siehe dazu den Beitrag von Franziska Rehlinghaus in diesem Band. 169 Zum Teil lassen sich solche Vorstellungen bis ins Mittelalter und in die Antike zurückverfolgen, so etwa mit Blick auf die Metaphorik des ›inneren Gerichtsgeschehens‹.

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nere Entscheiden die ursprüngliche Abhängigkeit der Ausgestaltung mentaler Innenwelten von der sozialen Außenwelt nahelegen. Denn bei der (wissenschaftlichen) Erschließung und intersubjektiven Explikation von scheinbar unzugänglichen Entscheidensvorgängen, die sich im Inneren von Individuen abspielen, wird (nicht nur) im 19. Jahrhundert verbreitet auf Semantiken und Metaphoriken rekurriert, die sich eigentlich auf soziale Gebilde und Vorgänge wie etwa das gerichtliche Entscheiden beziehen. Mit der zunehmenden Trennung von Privatheit und Öffentlichkeit wurden im 20. Jahrhundert weitere Bereiche als entscheidensförmig erschlossen. Entscheiden wurde so zunehmend privatisiert. Die damit einhergehenden Anforderungen an den oder die Einzelne*n schufen einen ganz neuen Bedarf an Entlastung, der sich in der im 20. und 21. Jahrhundert boomenden Ratgeberliteratur manifestierte.170 Diese popularisierte Vorstellungen über inneres Handeln, wie sie im Verlauf des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts etwa innerhalb der Moralphilosophie und der Willenspsychologie entwickelt worden waren, gerade auch im Hinblick auf die Semantiken und Narrative des Entscheidens. Dies gilt etwa für die Zeitlichkeit des Entscheidens: So bildet die Figur des kairos ein wichtiges Motiv, das auf die Fähigkeit abzielte, den richtigen Moment zu erkennen und dann entschlossen zu handeln.171 Ein Ziel der Ratgeberliteratur war (und ist) es, den Leser*innen zu einer inneren Disposition zu verhelfen, die durch Willensstärke und Entschlusskraft gekennzeichnet ist. Hierzu sollten bestimmte Praktiken und Techniken, vor allem des Übens, dienen. Ziel war es auch hier, diesmal auf individueller Ebene, das Entscheiden und die damit verbundenen Herausforderungen zu entproblematisieren. Historisch schließen die in diesem Zusammenhang verwendeten Semantiken und Narrative, vor allem das Motiv der ›Entschiedenheit‹,172 an ältere Traditionen an, die die Entschlossenheit als Ausdruck von Tatmenschentum, das Handeln ohne Zaudern und Zweifel und das Sich-nicht-(mehr)-Entscheiden-Müssen als Ideal ansehen. Erst durch das Fehlen von Entschlossenheit werden demnach Handlungssituationen problematisch, entsteht überhaupt ein Zwang, sich zu entscheiden, und erscheint Entscheiden schließlich als unumgänglich. Die Ratgeber wollten (und wollen) demnach vor allem der Gefahr entgegengenwirken, dass gerade im Alltag Handeln zunehmend als Entscheiden ausgewiesen wird und die Individuen angesichts der damit verbundenen Zumutungen, vor allem aufgrund der (Selbst-)Zweifel über das richtige Handeln, letztlich handlungsunfähig werden. 170 Siehe dazu den Beitrag von Michael Niehaus in diesem Band. 171 Zu kairos und damit verbundenen Narrativen im mittelalterlichen Byzanz s. Michael Grünbart, Unter einem guten Stern? Externe Instanzen bei kaiserlichen Entscheidungsprozessen in Byzanz, in: Alexander Beihammer u. a. (Hg.), Prosopon Rhomaikon. Ergänzende Studien zur Prosopographie der mittelbyzantinischen Zeit, Berlin 2017, S. 17–29, v. a. S. 21–23. 172 Siehe dazu auch Marion Schwermer, Bestimmt handeln. Entschiedenheit aus christlicher Existenz im pastoralen Feld der Gegenwart. Eine empirische Untersuchung, Würzburg 2019.

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Insofern geben die darin enthaltenen Lehren auch weniger Ratschläge darüber, wie man richtig entscheiden soll, sondern vielmehr wie Entscheiden vermieden oder gar dekonstruiert werden kann. Solche auf die Bewältigung des normalen Alltags ausgerichteten Entscheidungslehren stellten auch eine Reaktion darauf dar, dass der Alltag im 20. Jahrhundert zunehmend als Ort des Entscheidens erachtet und eine zunehmende Zahl an privaten Gegenständen als entscheidbar und entscheidungsbedürftig angesehen wurde. Dadurch verschränkten sich die Ebenen des privaten und des politischen Entscheidens, woraus sich neue Konfliktfelder ergaben. Besonders deutlich wird dies, wenn die Entwicklung von reproduktivem Entscheiden im 20. Jahrhundert in den Blick genommen wird.173 Die Frage, ob man Kinder haben wolle, könne, solle, wurde – anders als in der Vormoderne – im 20. Jahrhundert zunehmend als Problem des individuellen privaten Entscheidens verstanden. Gegenstände, die traditionell nicht als entscheidungsfähig gegolten hatten, zumindest und gerade nicht auf einer individuellen Ebene, wurden (auch durch neue technische Entwicklungen) nun entscheidbar und auch entscheidungsbedürftig. Gerade bei Familienentscheidungen, etwa bei Heiratsentscheidungen, wurden etliche grundlegende Probleme (vor allem mit Blick auf Geschlechterverhältnisse) verhandelt: das Verhältnis von Autonomie und Heteronomie des Entscheidens, die Beziehung von agency and patiency und das Verhältnis zwischen deciders und sustainers (also denjenigen, die die Entscheidung betrifft). Auf diesem Feld werden Unterschiede, aber auch Gemeinsamkeiten zwischen westlichen und nicht-westlichen Gesellschaften respektive Kulturen des Entscheidens besonders deutlich, wie ein vergleichender Blick auf Indien zeigt.174 So sind im gegenwärtigen Indien zwar Vorstellungen des matrimonialen Entscheidens als einer individuellen Entscheidung, die von den zukünftigen Eheleuten zu treffen ist, durchaus verbreitet. Diese stehen allerdings in einem Spannungsverhältnis zu in weiten Teilen der indischen Gesellschaft dominierenden Modellen, die matrimoniales Entscheiden als einen sozialen Prozess auffassen, der aufgrund der großen gesellschaftlichen, aber auch privaten Bedeutung der Ehe nicht den zukünftigen Eheleuten allein überlassen werden kann. Auch aufgrund ihrer Lebenserfahrung wird den Eltern, vor allem den Vätern, dabei die zentrale Entscheidenskompetenz zugeschrieben. Dies spiegelt sich im Reden über matrimoniales Entscheiden: Wiederum sind es die Männer, die maßgeblich vom Entscheiden erzählen. Dadurch werden bestehende pa­ triarchale Muster und damit verbundene Geschlechter- wie auch Generationen173 Siehe dazu die Beiträge von Isabel Heinemann und Claudia Roesch in diesem Band; s. auch Isabel Heinemann, Vom »Kindersegen« zur »Familienplanung«? Eine Wissensgeschichte reproduktiven Entscheidens in der Moderne 1890–1990, in: Historische Zeitschrift 320 (2020), S. 23–51. 174 Siehe dazu den Beitrag von Helene Basu und Mrinal Pande in diesem Band. Für Familienentscheidungen in westlichen und indischen Gesellschaften des 20. Jahrhunderts vgl. auch Isabel Heinemann u. a., Heirat, Hausbau, Kinder. Narrationen von Familienentscheidungen, in: Pfister, Kulturen des Entscheidens (wie Anm. 11), S. 90–115.

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beziehungen reproduziert; zugleich erscheinen diese aber durch das Vordringen neuer, nicht zuletzt individualistisch ausgerichteter Entscheidensvorstellungen als immer stärker gefährdet. Wieso aber scheint sich in den letzten Jahren ein verstärktes Interesse daran zu entwickeln, Entscheiden in seinen kulturellen, nicht zuletzt auch semantischen und narrativen Ausprägungen, einer genaueren wissenschaftlichen und historischen Reflexion zu unterziehen? Nimmt man den vorliegenden Band als Indikator, so läge die  – an Hegel angelehnte  – These nahe, dass dies eine Reaktion darauf ist, dass der Prozess der Verwissenschaftlichung und der Verbegrifflichung von Entscheiden, wie er sich in der zweiten Hälfte des 20. und zu Beginn des 21. Jahrhunderts beobachten lässt, möglicherweise seinen Zenit überschritten hat. Eine der Funktionen dieser Entwicklung bestand darin, Verantwortlichkeiten eindeutig auf bestimmte Individuen zurückzuführen. Doch die individuelle Verantwortlichkeitszuschreibung über autonome Handlungsaufforderung bei gleichzeitigem ›neoliberalem‹ Rückbau der sozialstaatlichen Institutionen scheint vor allem Überforderung zu produzieren, und zwar auf allen Ebenen, von derjenigen des politischen bis zu derjenige des privaten Entscheidens.175 Dies könnte zu der Feststellung führen, dass der generalisierte Begriff des Entscheidens, der heute alle Lebensbereiche durchzieht, letztlich nicht trägt, weil sich die damit verbundenen Imperative und Erwartungen als unrealistisch und unerreichbar herausstellen und zu Situationen führen, die unentscheidbare Dilemmata hervorbringen und in denen Entscheiden allenfalls simuliert wird. Dass hier von vielen eine Er-Lösung in technologischen Fortschritten, vor allem von der Künstlichen Intelligenz und ihren Algorithmen, erhofft wird, ist dabei, wie ein Blick in die Nachkriegszeit zeigt, keineswegs neu, führt aber vermutlich auch nicht weiter. Ein anderer Ausweg könnte in einer umfassenden Änderung der Semantiken und Narrative des Entscheidens liegen – ein allerdings ebenfalls wenig realistisches Unterfangen. Es bleibt also abzuwarten, wie es hier weitergeht. Wie wir überhaupt dazu gekommen sind, unsere Gesellschaft als Entscheidungsgesellschaft und uns als individuelle Entscheider*innen zu verstehen und zu bezeichnen, ist eine Frage, zu deren Konturierung der vorliegende Band beitragen möchte.

175 So auch Uwe Schimank, der dies in Verbindung setzt mit der zunehmenden Verbreitung von Praktiken des Copings: ders., Nur noch Coping: Eine Skizze postheroischer Politik, in: Zeitschrift für Politikwissenschaft 21 (2011), S. 455–463; ders., Lebensplanung!? Biografische Entscheidungspraktiken irritierter Mittelschichten, in: Berliner Journal für Soziologie 25 (2015), S. 7–31.

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Redehandlungstheoretische Überlegungen zur Semantik und Performatorik von ›Entscheiden‹ 1. Einleitung Die Fähigkeit, eine Entscheidung zu treffen, der Druck, sich für eine Entscheidung rechtfertigen zu müssen, sowie die Rede über eigene und fremde Entscheidungen, zum Beispiel um diese zu bewerten, gehören zu den vertrauten Phänomenen unseres modernen Alltags. In diesem Beitrag sollen einige Vorschläge unterbreitet werden, welche Differenzierungen und welche Besonderheiten bei der Analyse von Entscheidungsrede zu beachten sind. Diese können dann helfen, die pragmatischen Besonderheiten und die eigenen Thesen über Entscheiden und Entscheidungsrede, sei es in gegenwärtigen oder vergangenen Zeiten, besser zu verstehen und zu prüfen. Denn wir sprechen zwar häufig über Entscheidungen und – wie sich zeigen wird – treffen auch häufig sprachlich Entscheidungen, jedoch sprechen wir selten abstrakt über das, was wir tun, wenn wir Entscheidungsrede verwenden. Im vorliegenden Beitrag sollen erste Schritte unternommen werden, dem abzuhelfen. Im hier gegebenen Rahmen wird dieses Verfahren dabei notgedrungen eher ›abstrakt‹ durchgeführt werden, da es gilt, zunächst die terminologischen Grundlagen deutlich zu machen, weshalb die Anwendung auf Fallbeispiele – etwa aus historischen Quellen – hier nicht zum Tragen kommen wird. Es handelt sich vielmehr um ein theoretisches Angebot für die Systematisierung der historischen oder generell empirischen Arbeit mit Datenbeständen, in denen Entscheidungsrede auftritt. Das Ziel dieses Beitrags besteht mithin in einer redehandlungstheoretischen Klärung einiger Redeweisen von Entscheiden. Als Mittel zur Klärung wird eine Variante der Redehandlungs- bzw. Sprechakttheorie herangezogen. Mithin geht es nicht um eine historisch informierte und informierende Klärung von (einigen) Verwendungsweisen von Entscheidungsbegriffen und derjenigen Wortfelder, durch die diese dargestellt werden (können), sondern um eine an alltäglichen Redeweisen kompetenter Sprecherinnen und Sprecher orientierte (Teil-)Explikation. Anhand exemplarischer, fingierter Fallbeispiele sollen einige der Funktionen erhellt werden, die es nötig erscheinen lassen, dass wir über Entscheidungen mithilfe des Ausdrucks ›Entscheidung‹ und grammatisch abgewandelter Formen sprechen. Von besonderem Interesse werden dabei die redehandlungstheoretischen Fälle sein, in denen nicht nur über Entscheidungen gesprochen wird, sondern vor allem die Fälle, in denen durch eine Rede-

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handlung eine Entscheidung selbst festgelegt oder getroffen wird. Der Beitrag beansprucht keine Vollständigkeit sämtlicher Redeweisen von ›Entscheiden‹, sondern gibt einen Einblick in – aus philosophischer Perspektive – Redeweisen und Funktionen der Rede von, mit und über Entscheiden / Entscheidungen. Der Beitrag konzentriert sich dabei auf eine synchrone Darstellung.1 Attraktiv erscheint eine solche Analyse vor allem deshalb, weil sie es letztlich erlauben soll, zum Beispiel in Quellentexten auftretende Verwendungsweisen von Entscheiden zu systematisieren und in ihrer pragmatischen Rolle transparent zu machen. Die Vielfalt, in der ›Entscheiden‹, verstanden als handlungsförmiges Geschehen, auftreten kann, soll auf diese Weise für die konkrete empirische Forschung sicht- und nutzbar gemacht werden. Um die genannten Ziele zu erreichen, wird im zweiten Teil (2.) die hier gewählte redehandlungstheoretische Grundlage knapp skizziert, die dann im dritten Teil (3.) zur Sortierung verschiedener funktionaler Rollen von ›Entscheiden‹ genutzt wird, um im vierten Teil (4.) einige Folgerungen aus der offerierten Klassifikation zu ziehen. Im letzten Abschnitt (5.) werden Desiderata und Probleme benannt. Leserinnen und Lesern, die mit den Grundlagen der Redehandlungstheorie bereits vertraut und vor allem an den inhaltlichen Rekonstruktionsangeboten dieses Beitrags interessiert sind, sei empfohlen, den zweiten Teil zu überspringen und gleich mit dem dritten Abschnitt fortzufahren.

2. Die redehandlungstheoretische Grundlage Redehandlungen stellen die kleinsten Einheiten im Sprachspiel dar, mit denen es möglich ist, sich erfolgreich an einer Kommunikation zu beteiligen. Zwar lassen sich Redehandlungen selbst wiederum in Teileinheiten zerlegen, die Ausführung solcher Teile allein ergibt aber weder einen erfolgreichen noch einen gelungenen Redebeitrag.2 1 Eine diachrone methodische Aufbereitung wäre nach Maßgabe der hier unterbreiteten Vorschläge erst möglich, wenn (mindestens) die synchronen Kriterien etabliert sind. Zudem müssten methodische Kriterien für den semantischen Wandel von Begriffen bereitgestellt werden. 2 Zur handlungstheoretischen Unterscheidung zwischen den Beurteilungsprädikatoren gelingen / misslingen und erfolgreich / erfolglos vgl. Dirk Hartmann, Kulturalistische Handlungstheorie, in: Peter Janich / Dirk Hartmann (Hg.), Methodischer Kulturalismus. Zwischen Naturalismus und Postmoderne, Frankfurt a. M. 1996, S. 70–114, hier S. 76–78. Ob und in welchem Sinne es sich bei Redehandlungen wirklich um den kleinsten Zug in einem Sprachspiel handelt, aus dem sich ggf. ›größere‹ Zusammenhänge entwickeln lassen, wie Searle dies mit seiner Supplementationsthese nahelegt, ist freilich umstritten. Es könnte sein, dass tatsächlich bereits Diskurse, d. h. geregelte Abfolgen von Redehandlungen zwischen (mindestens) zwei Personen dafür notwendig sind, um die meisten Redehandlungen qualifizieren zu können. Die kleinste Einheit im Sprachspiel wären dann eher Redesequenzen, die einzelne Redehandlungen als (unselbstständige) Teile beinhalten. Ich werde der Frage, ob man eher die Integrationsthese von Redehandlungen in Redesequenzen oder

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Die Theorie der Redehandlungen, die Sprechen als ein regelgeleitetes Handeln rekonstruiert und somit die Sprachphilosophie an die Handlungstheorie methodisch rückbindet, wurde ab den sechziger Jahren entwickelt und sukzessive erweitert.3 Heute findet sie vor allem außerhalb der Philosophie Anwendung bei der linguistischen Analyse natürlicher Sprachen wie dem Deutschen oder Englischen.4 Das hier zugrunde gelegte Verständnis der Disziplin der Redehandlungstheorie fußt auf einem methodischen Aufbau derselben.5 Gegen den möglichen Einwand, eine solche Untersuchung sei losgelöst von linguistischen Analysen konkreter natürlicher Sprachen nicht möglich oder nicht sinnvoll, lässt sich einwenden, dass die Linguistik selbst bereits methodisch die Kompetenz voraussetzt, Sprecherin oder Sprecher einer Sprache zu sein.6 Die Sprache ist nicht nur der Gegenstandsbereich der vorliegenden Überlegungen, sondern das hier genutzte Vorgehen knüpft auch methodisch daran an, philosophische Probleme primär über unseren nicht-sprachlichen Handlungsvollzug und unseren (sprachlichen) Redehandlungsvollzug aufzuschlüsseln.7 die Supplementationsthese verfechten solle, hier nicht weiterverfolgen, aber davon ausgehen, dass zumindest einige der hier einschlägigen Redehandlungen ihren ›Witz‹ gerade in Diskursen entfalten. Zum Verhältnis von Supplementations- und Integrationsthese (unter Favorisierung Letzterer) vgl. Thorsten Sander, Redesequenzen. Untersuchungen zur Grammatik von Diskursen und Texten, Paderborn 2002, S. 11–21. 3 Für eine methodisch explizite Rückbindung der Sprachphilosophie an die Handlungstheorie s. Peter Janich, Sprache und Methode. Eine Einführung in philosophische Reflexion, Tübingen 2014. 4 Für eine methodische Aufbereitung der Grundlagen der Redehandlungstheorie s. Dirk Hartmann, Konstruktive Sprechakttheorie, in: Protosoziologie 4 (1993), S. 73–89. Für eine linguistisch orientierte Einführung in die Redehandlungstheorie s. etwa Götz Hindelang, Einführung in die Sprechakttheorie. Sprechakte, Äußerungsformen, Sprechaktsequenzen, Berlin 52010. 5 Die Darstellung verdankt Wesentliches den Ausführungen in Carl Friedrich Gethmann / ​ Geo Siegwart, Sprache, in: Ekkehard Martens / Herbert Schnädelbach (Hg.), Philosophie. Ein Grundkurs, Reinbek bei Hamburg 1991, Bd. 2, S. 549–605, sowie der aufbereitenden Darstellung und den terminologischen Vorschlägen in: Geo Siegwart u. a., Denkwerkzeuge. Eine Vorschule der Philosophie, Greifswald 2015, im Internet: https://philosophie. uni-greifswald.de/fileadmin/uni-greifswald/fakultaet/phil/philosophie/Mitarbeitende/ Theoretische_Philosophie/Siegwart/Denkwerkzeuge/Denkwerkzeuge2015-Gesamt.pdf (Stand: 15. Mai 2021), Kap. 2. 6 Vgl. auch John Searle, Sprechakte. Ein sprachphilosophischer Essay, Frankfurt a. M. 1971, S. 12 f.: »Die Linguistik versucht die jeweiligen Strukturen – phonologischer, syntaktischer und semantischer Art  – der natürlichen menschlichen Sprachen zu beschreiben. Die ›Daten‹ der Sprachphilosophie stammen gewöhnlich aus den natürlichen menschlichen Sprachen, aber viele der Schlüsse – zum Beispiel in Bezug darauf, was es heißt, etwas ist wahr oder stellt eine Behauptung oder ein Versprechen dar  – müßten, wenn sie richtig sind, für jede Sprache gelten, in der Wahrheiten oder Behauptungen oder Versprechungen vorkommen. In diesem Sinne geht es in diesem Essay nicht um einzelne Sprachen wie Französisch, Englisch oder Suaheli, sondern um die Sprache.« 7 Zur methodischen Lesart des linguistic turn s. Georg Meggle / Geo Siegwart, Der Streit um Bedeutungstheorien, in: Kuno Lorenz u. a. (Hg.), Sprachphilosophie Halbband 2, Berlin 1996, S. 964 und Gethmann / Siegwart, Sprache (wie Anm. 5), S. 550.

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Redehandlungen werden durch die Äußerung von Sätzen vollzogen. Sätze sind dabei jedoch nicht als Ausdrucksgebilde im schulgrammatischen Sinne zu verstehen, sondern als diejenigen Gebilde, durch die ein Redehandlungsvollzug ermöglicht wird. Sätze in diesem Sinne zerfallen in ein performatives und ein propositionales Moment. Ich möchte dies an einigen Beispielen verdeutlichen. Es werden die folgenden Sätze geäußert: (S1) Kaufen Sie mir ein schönes Buch! (S2) Darf man hier rauchen? (S3) Ich nehme an, dass Venedig eine schöne Stadt ist. (S4) Entscheidungen sind ein wichtiger Gegenstand interdisziplinärer Forschung. Konzentrieren wir uns auf die schriftsprachliche Darstellung dieser Äußerungen, dann vollziehen ihre Autoren – bei passender Redeumgebung – mit diesen jeweils eine Redehandlung. Mit Redehandlungen können Autoren durch die Äußerung geeigneter Sätze Verschiedenes tun. Man kann zum Beispiel nach etwas fragen, um etwas bitten, jemandem einen Befehl erteilen, sich auf etwas festlegen, eine Folgerung ziehen usw. Die Äußerungen (S1) – (S4) lassen sich dabei in die zwei unechten Teilhandlungen zerlegen, aus denen eine vollständige Redehandlung besteht. ›Unecht‹ sind diese Teilhandlungen deshalb, weil die Äußerung einer solchen Teilhandlung allein keinen erfolgreichen Redehandlungsvollzug ermöglicht.8 Wer etwa äußert: »Ich behaupte«, würde mit der Nachfrage konfrontiert, was es denn sei, was er behaupte. Wer hingegen äußert: »Venedig ist schön«, der könnte gefragt werden, wie er das meine. Wenn man fragt, wie jemand eine Äußerung meint, dann ist der spezifische Modus einer Aussage ungeklärt. Zudem gilt es zu beachten, dass alltägliche Redesituationen den Modus einer Aussage häufig in­ explizit, das heißt ungesagt lassen. Dies deshalb, weil in den meisten Situationen durch den Kontext zwischen den Gesprächspartnerinnen hinreichend deutlich ist, wie eine Aussage gemeint ist. Die Modi der Rede stellen Performatoren dar. Sätze sind im redehandlungstheoretischen Sinne daher solche Gebilde, die aus Performatoren und Aussagen zusammengesetzt sind. Im Folgenden sind die obengenannten Beispielsätze noch einmal aufgeführt. Diesmal jedoch ist die Performatorenstelle explizit gemacht und durch Unterstreichung hervorgehoben, während der propositionale bzw. Aussageredeteil durch Kursivsetzung hervorgehoben ist. (S1*) Ich-befehle, dass Sie mir ein schönes Buch kaufen! (S2*) Ich-frage, ob Rauchen hier erlaubt ist? 8 Man könnte ›unechte‹ Teilhandlungen auch (ggf. terminologisch adäquater) als Aspekte von Handlungen auffassen, deren ›Ganzheit‹ methodisch den Aspekten vorgängig ist. Während die Teilhandlungsrede einen Aufbau von ›unten‹ nahelegt, der so methodisch nicht gegeben ist. Für hiesige Zwecke ist es vor allem zentral, zwischen der Handlung selbst und ihren Momenten, mithin Teilhandlungen oder Aspekten unterscheiden zu können.

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(S3*) Ich-nehme-an, dass Venedig eine schöne Stadt ist. (S4*) Ich-behaupte, dass Entscheidungen ein wichtiger Gegenstand interdisziplinärer Forschung sind. Der Bindestrich soll jeweils daran erinnern, dass es nicht darum geht, wie viele Wörter man benötigt, um einen Performator im Deutschen zu bilden; sie gelten als der Vollzug jeweils einer Redeteilhandlung, nämlich der Performation, mittels derer ein Performator geäußert und mithin eine Aussage performiert wird. Durch die Anwendung von Performatoren auf Aussagen erhalten wir Sätze als diejenigen kleinsten sprachlichen Einheiten, die einen erfolgreichen Redehandlungsvollzug erlauben. Die Frage, welche Ausdrucksverbindungen korrekte Aussagen erlauben, wird durch die Interpretation – oder im Falle künstlicher Sprachen durch explizite Bereitstellung einer Grammatik – geregelt.9 Die Grammatik wiederum zerfällt in Inventar und Syntax einer Sprache. Sprachen, die bestimmte Redehandlungsvollzüge erlauben, bestehen dann wiederum aus einer Grammatik und einer Performatorik, wobei letztere diejenigen Regeln normiert, die bestimmte Performationen erlauben. Die einzelnen Performatoren lassen sich in der Redehandlungstheorie auf verschiedene Weise sortieren.10 Verbreitet ist etwa die Einteilung in fünf Großgruppen, die für die Zwecke dieses Beitrags ebenfalls genügen soll: Repräsentativa (behaupten, mitteilen, berichten, klassifizieren, diagnostizieren, vermuten, annehmen,…) Direktiva (befehlen, einen Antrag stellen, vorschlagen, empfehlen, nahelegen, erlauben, fragen,…) Kommissiva (versprechen, geloben, beschwören, wetten, drohen, verabreden,…) Expressiva (grüßen, kondolieren, gratulieren, verfluchen, auf etwas trinken,…) Deklarativa (ernennen, taufen, kapitulieren, begnadigen, etwas vermachen, definieren,…).11 9 Die ›Unterlegung‹ oder Interpretation einer natürlichen Sprache zwecks Klärung ihrer (oder einer für sie plausiblen) Grammatik und Performatorik bezeichnet die Erschließung einer Sprache. Sie ist zu unterscheiden von der Bereitstellung einer Sprache durch Konstitution. Bezüglich der philosophischen Befassung mit Sprache lassen sich mindestens sechs Tätigkeiten differenzieren: Gebrauch, Konstitution, Erwerb, Erschließung, Analyse und Rechtfertigung. Vgl. Geo Siegwart, Vorfragen zur Wahrheit, München 1997, S. 106–150. Dieser Beitrag unternimmt die exemplarische Teilkonstitution der Performatorik und Semantik von Entscheidungsrede und deren Einfügung in eine (unbestimmt bleibende, aber hinreichend komplexe) Gebrauchssprache. Man denke etwa an das Deutsche oder Englische. 10 Einige taxonomische Kriterien diskutiert John Searle, Eine Taxonomie illokutionärer Akte, in: Ders. (Hg.), Ausdruck und Bedeutung. Untersuchungen zur Sprechakttheorie, Frankfurt a. M. 1982, S. 17–50. 11 Zur Taxonomie und den Beispielperformatoren vgl. Hindelang, Einführung (wie Anm. 4), S. 44.

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Während die bisherigen Beispiele und Unterscheidungen sich primär mit dem Verständnis von Redehandlungen als kleinster selbstständiger Kommunikationseinheit einer Sprache befasst haben, so zeigt diese Rede bereits an, dass es zudem ›größere‹ Bestandteile von Kommunikation geben kann. Sie werden durch Abfolgen von Redehandlungen gebildet, den sogenannten Redehandlungssequenzen. Das durch Redehandlungssequenzen Geäußerte lässt sich als ›Text‹, das heißt eine Sequenz von mündlichen oder schriftlichen Sätzen ansprechen.12 Beispiele für solche übergreifenden Kommunikationseinheiten wären etwa Diskurse, Dispute, Erzählungen, Verhöre, Gebete, Streitereien oder Beratungen. Für die vorliegenden Überlegungen ist es erst einmal nicht relevant, zwischen diesen lose gewählten Beispielausdrücken für übergreifende Kommunikationseinheiten weiter zu unterscheiden. Ich verlasse mich auf die Know-how-Kriterien des Alltags. Das Eingehen auf Redehandlungssequenzen ist hier deshalb von Interesse, weil einige Performatoren nicht als initiative, das heißt eine Kommunikationseinheit eröffnende Züge rekonstruiert werden können, sondern methodisch sekundäre Redemittel darstellen. Das Ziehen-einer-Folgerung zum Beispiel wäre ein ›sekundärer‹ Performator, weil er nur sinnvoll eingesetzt werden kann, wenn zuvor andere Redesequenzen, zum Beispiel des Annehmens und des Behauptens, vorhergegangen sind.13 Auch das Bezweifeln oder das Zustimmen setzen voraus, dass ihnen andere Redehandlungen vorausgegangen sind, sie können also in einer Redesequenz nicht als ›Eröffnungszüge‹ gelten.

3. Entscheiden und Redehandeln Die im obigen Abschnitt skizzierte Redehandlungsterminologie soll im Folgenden dazu dienen zu fragen, in welchen funktionalen oder pragmatischen Rollen ›Entscheiden‹ in unseren Redehandlungen relevant wird.14 Ich werde dabei nicht alle möglichen Rollen benennen oder gar in extenso behandeln, da dies nur relativ zur Etablierung einer rationalen Grammatik sinnvoll wäre, was hier weder geleistet werden kann noch muss.15 Zuvor ist jedoch methodisch 12 Die Glieder von Redehandlungssequenzen sind selbst Redehandlungen. Diese Redehandlungen besitzen (wie jede Redehandlung) unechte Teile (Performation und Proposition), sind als Redehandlungen einer Sequenz betrachtet aber Glieder derselben und keine (bloßen) Teilhandlungen. 13 Für eine grundlegende Analyse von Redehandlungssequenzen s. Sander, Redesequenzen (wie Anm. 2). 14 Alternativ zum hier gewählten Vorgehen ist natürlich auch eine empirische, linguistische Analyse von Entscheidungsrede möglich. Vgl. hierzu die die linguistische Diskursanalyse mit einem formalpragmatischen Ansatz verknüpfende Untersuchung von Katharina Jacob, die explizit an einer »Linguistik des Entscheidens« interessiert ist. Katharina Jacob, Linguistik des Entscheidens. Eine kommunikative Praxis in funktionalpragmatischer und diskurslinguistischer Perspektive, Berlin 2017, für die Ziele der Arbeit S. 4 f. sowie 9. 15 Zum Projekt einer rationalen Sprache vgl. etwa Dirk Hartmann, Konstruktive Fragelogik. Vom Elementarsatz zur Logik von Frage und Antwort, Mannheim 1990, S. 8–15;

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einzuführen, welche Umstände es überhaupt plausibel machen, dass wir über Entscheidungsrede verfügen, das heißt in (mindestens einigen) natürlichen Sprachen wie dem Deutschen oder Englischen die Möglichkeit gegeben ist, über Entscheiden zu sprechen oder durch das Sprechen Entscheidungen zu vollziehen bzw. festzulegen. Zumindest im Gedankenexperiment könnte man sich Sprachgemeinschaften denken, die diese Möglichkeit nicht realisiert haben.16 In diesen Gemeinschaften bestünde kein Bedarf, das eigene Handeln in Frage zu stellen oder gegen Alternativen abzuwägen. Das Handeln dieser Gemeinschaften verbliebe völlig im Traditionalen. Denn für die In-Frage-Stellung des jeweiligen Handelns bedürfte es entsprechender Redemittel, die mithin der Entscheidungsrede zuzuschlagen wären.17 Die skizzierte Überlegung einer völlig im Traditionalen befangenen Sprachgemeinschaft gibt aber bereits einen Hinweis darauf, was es motivieren könnte, Entscheidungsrede in die vorhandene Sprache einzuführen: Es sind Störfälle. Hierunter muss man sich nicht zwingend besonders ›dramatische‹ Fälle vorstellen, sondern lediglich diejenigen Situationen, in denen geübtes Handeln eines Akteurs oder einer Gruppe nicht von allen anderen einfach hingenommen wird. Die Bitte um Rechtfertigung des Handelns impliziert aber bereits die Denkmöglichkeit von alternativen Handlungen, die stattdessen hätten realisiert werden können oder die stattdessen zukünftig in hinreichend ähnlichen Situationen aktualisiert werden sollten. An dieser Stelle ist nun erst einmal zu fragen, ob es überhaupt sinnvoll ist, davon zu sprechen, dass Gemeinschaften, die nicht über Entscheidungsrede verfügen, überhaupt über ›Entscheiden‹ als Handlungsschema verfügen. Meine These zu dieser Frage – die ich im Folgenden als Prämisse für diesen Beitrag setzen möchte – lautet, dass dies der Fall ist. Das Handlungsschema ›Entscheiden‹ ders., Neues System der philosophischen Wissenschaften im Grundriss. Band I: Erkenntnistheorie, Paderborn 2020, S. 236–318. 16 Die Frage, ob es Kulturen geben kann, in denen die in dieser Kultur zur Verfügung stehende Sprache es den Sprecherinnen und Sprechern nicht erlaubt, ihre Rede um ›Entscheidungsrede‹ zu erweitern, blende ich im Folgenden aus, wenngleich mir unwahrscheinlich erscheint, dass wir Sprachen, die prinzipiell über eine Erweiterungsmöglichkeit, die anderen Sprachgemeinschaften gegeben ist, nicht verfügen, überhaupt sinnvoll als ›Sprachen‹ qualifizieren sollten. Zu solchen Überlegungen zur Grenze von Sprache überhaupt vgl. Donald Davidson, Was ist eigentlich ein Begriffsschema?, in: Ders. (Hg.), Wahrheit und Interpretation, Frankfurt a. M. 1986, S. 261–282. 17 Sollte sich eine solche völlig traditionale Gemeinschaft bei näherer Ausarbeitung im Gedankenexperiment nicht einmal als Grenzfall als kohärent denkbar erweisen, so hätte man einen guten Grund dafür gefunden, die sprachlich (nicht zwingend lautsprachlich) realisierten Unterscheidungsleistungen hinsichtlich unterschiedlicher Wege der Handlungsrealisierung bereits a priori als Bedingung der Möglichkeit von Handlungsgemeinschaften diesen zuzuschreiben. Wenn dem so wäre, so könnte es keine Handlungsgemeinschaften ohne Störfälle geben. Für die Zwecke dieses Beitrags werde ich dieser interessanten Möglichkeit aber nicht weiter nachgehen.

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aktualisieren zu können, setzt also nicht voraus, über sprachliche Ausdrücke für dieses Handlungsschema zu verfügen. Dass einer Gemeinschaft dieses Handlungsschema zugesprochen werden kann, setzt aber voraus, dass die Gemeinschaft, aus der heraus zugesprochen wird, über sprachliche Ausdrücke für dieses bzw. solche Handlungsschemata verfügt. Daher zum Beispiel können sich nur Gemeinschaften, die über solche Redemöglichkeiten verfügen, ausdrücklich Gedanken darüber machen, was es heißt zu entscheiden. Was kann es bedeuten, entscheiden zu können, ohne über Ausdrücke wie ›Entscheiden‹, decision oder decisio zu verfügen? Das Handlungsschema ›Entscheiden‹ kann gegebenenfalls sogar ganz ohne Sprache realisiert sein, sofern es etwa der Fall ist, dass Tiere entscheiden können. Ob dies eine sinnvolle Redeweise ist oder nicht, ist meines Erachtens (mindestens auch) eine empirische Frage.18 Eine menschliche Gemeinschaft, die zwar über Sprache, nicht aber über Entscheidungsrede verfügt, kann nun zwar einige Entscheidungshandlungsschemata aktualisieren; eine Gemeinschaft, die zusätzlich über Entscheidungsrede verfügt, kann aber mehr und komplexere Entscheidungshandlungsschemata realisieren, wie im Folgenden plausibilisiert werden soll. Das Verfügen über Entscheidungsrede erweitert die Handlungsmöglichkeiten und damit auch, mit allen Vor- und Nachteilen, die Interaktionskomplexität einer solchen Gemeinschaft. Ich beginne aber nun mit dem Fall, in welchem eine Gemeinschaft solche Rede (noch) nicht etabliert hat.19 Wer etwa in einer solchen Gemeinschaft fragt: »Soll ich zuerst ein schönes Buch kaufen gehen und dann den Text verschicken oder umgekehrt?«, der fordert den / die Adressaten dieser Äußerung dazu auf, ihm mitzuteilen, in welcher Reihenfolge er zwei Handlungsschemata (Buch kaufen; Text verschicken) aktualisieren soll. Der Adressat hat nun, gemäß der uns geläufigen Redeweise, die Entscheidung zu treffen. Eine Präsupposition einer solchen Aufforderung ist es, dass überhaupt zwischen zwei nicht gleichzeitig realisierbaren Handlungsschemata unterschieden wird, deren Reihenfolge (für irgendwelche Zwecke, etwa der ›Dringlichkeit‹) einen Unterschied macht.20 Daher können wir sagen, dass bereits diese Frage präsupponiert, dass die Fähigkeit vorliegt, zwischen verschiedenen Optionen zu unterscheiden, die für spezifische Zwecke relevant sind. Dies erlaubt es uns, in einem solchen Fall von Entscheidungsbewusstsein zu reden. In einer völlig traditional organisierten Gemeinschaft – als idealisiertem Grenzfall – würde eine solche Frage nicht einmal gestellt werden (können). Dennoch muss weder der Autor der Äußerung noch der Adressat über Entscheidungsrede verfügen. Letzterer könnte folgenden Satz äußern: »Der Text muss rasch weg, schicke ihn zuerst ab und besorge dann ein 18 Vgl. hierzu Hartmann, Handlungstheorie (wie Anm. 2). 19 Das in Klammern eingefügte ›noch‹ soll keinen zwingenden Modernisierungspfad andeuten, sondern verweist darauf, dass es ziemlich wahrscheinlich ist, dass jedenfalls etwas komplexer organisierte Gemeinschaften solche Redemöglichkeiten in ihrer Sprache ausprägen werden. 20 Vgl. Philip Hoffman-Rehnitz u. a., Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), S. 217–281, hier S. 229 f.

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schönes Buch, als Belohnung danach.« Hier wird eine Entscheidung getroffen, ohne dass Entscheidungsrede vorliegt. Dennoch scheint es sinnvoll, hier – aufgrund der genannten Präsupposition – von ›Entscheiden‹ (aus der Teilnehmerperspektive) zu sprechen.21 Auch Fragen wie: »Wie sollen wir reagieren, falls die Feinde uns angreifen?« könnten in einer solchen Gemeinschaft diskutiert werden und zur Ausbildung von Entscheidungsalternativen führen, ohne dass Entscheidungsrede bereitsteht. Ich schlage vor, in diesem Fall davon zu sprechen, dass solche Gemeinschaften über einen unausdrücklichen Entscheidungsbegriff verfügen. Unter Begriffen wird in dieser Redeweise nicht die unabhängig von konkreten Ausdrücken, die solche Begriffe darstellen, stabil bleibende Bedeutung gefasst, sondern Handlungskompetenzen oder Fähigkeiten.22 Über einen unausdrücklichen Begriff zu verfügen bedeutet, bestimmte Handlungskompetenzen zu haben. Begriffe in diesem Sinne sind etablierte Unterscheidungsgewohnheiten, die sich sowohl in sprachlichem als auch in nichtsprachlichem Handeln niederschlagen können. Wer etwa nicht über Ausdrücke für ›spitze, scharfe Gegenstände‹ verfügt, könnte dennoch über den unausdrücklichen Begriff derselben verfügen, indem er etwa mit Messern und scharfkantigen Steinen in seinem Handeln anders umgeht als mit stumpfen Gegenständen. Freilich können sich solche Gemeinschaften selbst solche Unterscheidungsfähigkeiten nicht zusprechen, da sie dafür eben über entsprechende Ausdrücke, durch die die Begriffe dargestellt werden können, verfügen müssten. Liegt Entscheidungsrede oder liegen Prädikate wie ›spitz‹, ›scharf‹ usw. vor, lässt sich der entsprechende Begriff durch diese darstellen und über ein Begriffsbildungsverfahren auch in seiner Bedeutung explizit machen, kritisieren, umdefinieren usw. Sprachen, die es erlauben, über Begriffe als mehr oder weniger stabile Bedeutung, die durch Ausdrücke dargestellt wird, zu sprechen, verfügen daher über erweiterte (Rede-)Handlungsmöglichkeiten, da die eingeübten Unterscheidungsgewohnheiten nun selbst sprachlich zum Gegenstand gemacht (und damit zum Beispiel kritisiert) werden können. Eine solche Gemeinschaft verfügt über ausdrückliche Begriffe, die an die Verwendung entsprechender Ausdrücke gebunden ist.

21 Bei der Teilnehmerperspektive handelt es sich nicht um eine Perspektive, die wir völlig beliebig einnehmen oder verwerfen könnten. Der Ausdruck steht hier für die hermeneutische Grundeinstellung unseres handelnden In-der-Welt-Seins im Rahmen einer sozial geteilten Lebensform. Zur Rede von Teilnehmerperspektive vgl. Michael Quante / Tim Rojek, Entscheidungen als Vollzug und im Bericht. Innen- und Außenansichten praktischer Vernunft, in: Ulrich Pfister (Hg.), Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen, Göttingen 2019, S. 37–51, hier S. 45–49. 22 Diese generellen Handlungskompetenzen oder Handlungsfähigkeiten sind von normativ spezifischen Handlungskompetenzen zu unterscheiden, das heißt von der Frage danach, welche Personen oder Institutionen berechtigt sind, bestimmte Handlungen auszuüben, wer z. B. berechtigt ist, einen Taufakt zu vollziehen, oder wer die Entscheidungsbefugnis hat, jemandem das Wahlrecht zu entziehen.

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Methodisch stehen nun (mindestens) zwei Wege offen, die Entscheidungsrede in die vorhandenen Sprachmöglichkeiten einer Gemeinschaft mit unausdrücklichem Entscheidungsbegriff einzuführen. Einmal kann man zuerst das Reden über Entscheiden, also Aussagen über Entscheiden einführen, oder aber zuerst ›Entscheiden‹ als Performator einführen. Steht eine der beiden Sprachmöglichkeiten bereit, lässt sich dann leicht auch die jeweils andere bereitstellen. Ich beginne mit der Einführung von Entscheiden auf der propositionalen Seite. Stellen wir uns vor, dass jemand eine Torte gebacken hat. Üblicherweise geht die ganze Torte an den Familienältesten, die beiden Kinder bekommen nichts. Nun möchten die Kinder auch etwas von der Torte haben / bekommen und eines der Kinder äußert den folgenden Text: »Wieso bekommt Vater immer die ganze Torte? Ich möchte auch ein Stück von der Torte haben!« Nun ist der Bäcker der Torte, der diese dem Vater zugeschlagen hat, gezwungen, zu seiner Handlung des Torte-Zuteilens Stellung zu beziehen, das heißt das eigene Handeln zu rechtfertigen. Da nun offenbar wird, dass man die Torte auch anders verteilen könnte (sie zum Beispiel zu dritteln oder zu vierteln) bricht das traditionale Handeln weg und (spätestens) im nächsten ›Backfall‹ sollte der Bäcker sich fragen, wie er zu verfahren gedenkt. Nun kann die Rede über Entscheiden dadurch eingeführt werden, dass Redemöglichkeiten geschaffen werden, die es erlauben, über solche Fälle, in denen mehrere Optionen bereitstehen, die sich nicht alle zugleich realisieren lassen und semantisch voneinander unabhängig sind, zu sprechen. Etwa durch den Ausdruck ›Entscheiden‹. Das Kind könnte sagen: »Du solltest deine Kuchenverteilung überdenken. Ich möchte nämlich, genau wie meine Schwester, auch ein Stück davon verspeisen.« Hat man nun mehrere vergleichbare Fälle, in denen nicht alle Betroffenen oder Anwesenden in einer Redesituation mit den Folgen einer Handlung einverstanden sind, so ist es sprachökonomisch sinnvoll, eigene Ausdrücke oder Ausdrucksverbindungen, die solches Reden über Handlungen und ihre möglichen Folgen erlauben, einzuführen, die man einem Akteur und dessen Handeln zusprechen möchte.23 Etwa indem man sagt: »Deine Entscheidung war falsch.« Hier steht ›Entscheidung‹ für einen bestimmten (aktualisierten) Sachverhalt, auf den mit einem generellen Ausdruck Bezug genommen wird. Bei ›Entscheiden‹ handelt es sich in dieser Verwendung mithin um eine Kennzeichnung, durch die genau ein Sachverhalt (sehr allgemein) gekennzeichnet wird, der bei Bedarf durch konkrete(re) Beschreibungen ersetzt werden könnte (dein Verteilen des Kuchens). Wir verwenden ›Entscheiden‹ also als höherstufigen Ausdruck zur Subsumtion von Situationen, in denen eine Handlungsoption aus sich wechselseitig ausschließenden Handlungsalternativen selektiert wurde. Dabei benötigen wir zuerst eine gewisse Zahl an vergleichbaren Situationen dieser Art, um dann eine generelle Redemöglichkeit für diese zu schaffen, um uns, wie hier nahegelegt ist, vorrangig in Störfällen über diese verständigen zu können. Von hier ausgehend 23 Natürlich wird diese Einführung zumeist (und methodisch primär) ohne explizite Festlegung vollzogen.

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lassen sich dann weitere nominative Redeweisen von Entscheiden einführen, zum Beispiel bei der Rede über zukünftige Entscheidungen. Da Entscheidungen als Handlungsergebnisse mit bestimmten Folgen aufgefasst werden müssen (wie im Beispiel), lässt sich dann auch die Rede von ›Entscheiden‹ sprachlich einführen, indem wir alle diejenigen (Teil-)Handlungen, die zur Konkretion von alternativen Handlungsoptionen und zur Festlegung auf eine von ihnen ausgeführt werden, als ›Entscheidungshandeln‹ bestimmen. Wir erweitern so die Entscheidungsrede um prädikative Redeteile, indem wir bestimmte Handlungsvollzüge als Entscheidensvollzüge deuten. Etwa in dem Satz »Peters Lesen der Zeitschrift der Stiftung Warentest ist Teil der Entscheidung für einen neuen Staubsauger.« Steht nun die Rede über Entscheidungen und Entscheiden zur Verfügung, so kann sich jemand auch selbst zuschreiben, eine Entscheidung getroffen zu haben, indem er seine eigenen Handlungsvollzüge als Entscheidensvollzüge in der Vollzugsperspektive24 deutet: »Ich entscheide gerade, dass ich keine Zigaretten mehr kaufen werde.« Von diesen Selbstaskriptionen aus ist es nun möglich, einen bestimmten Sachverhalt als bezweckten und zu realisierenden auszuzeichnen, indem man öffentlich kundtut, dass man etwas entschieden hat. Hier wird dann aber keine Selbstaskription in der Vollzugsperspektive mehr thematisch, sondern öffentlich mitgeteilt, was getan werden soll, zum Beispiel vom Autor des Satzes selbst. In diesem Fall liegt ein Fall des Eigenberichts vor oder aber bei Festlegung durch öffentliche Äußerung eine deklarative / kommissive Redehandlung. »Ich entscheide, dass Ottokar die Schule wechselt« ist eine Äußerung, in der nicht über Entscheiden geredet wird, sondern die Entscheidungsrede um ein performatorisches Element erweitert wird. Wir erhalten so den Performator (resp. satzbildenden Junktor) »entscheiden, dass«. Diese Entscheidung kann dann selbst wieder Gegenstand anderer Redehandlungen werden, sofern die propositionale Rede über Entscheiden etabliert ist. »Ich lehne die Entscheidung Peters ab.« Die Erweiterung der Entscheidungsrede um einen Entscheidungsperformator erlaubt nun nicht nur, über Entscheiden zu reden, sondern auch im sprachlichen und nicht nur im nichtsprachlichen Handeln eine Entscheidung zu vollziehen. An diesem Redemittel, das zugleich einem Autor explizit zuschreibt, der Urheber einer Entscheidung zu sein, lässt sich zum einen verdeutlichen, warum Entscheiden als Handlungsform häufig eine Zumutung darstellt,25 zum anderen auch, wieso wir oft versuchen, in Redesequenzen jemanden auf die Verwendung dieses Performators (explizit oder implizit) festzulegen. Bevor ich mich diesen Eigentümlichkeiten zuwende, soll aber geklärt werden, welchem Typ von Redehandlungen sich der Entscheidungsperformator relativ zur oben angegebenen Taxonomie zuweisen lässt. Plausibel erscheint hier ins24 Zur Rede von Vollzugsperspektive vgl. Quante / Rojek, Entscheidungen als Vollzug (wie Anm. 21), S. 40–43. 25 Vgl. Barbara Stollberg-Rilinger, Cultures of Decision-Making, London 2016.

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besondere eine Einordnung in die Gruppe der Deklarativa. Je nach gegebenem Regelwerk ist etwa die Äußerung »Der Ball ist aus« eines Schiedsrichters im Fußball ein erfolgreicher Vollzug einer Redehandlung unter (unausdrücklicher) Verwendung des Entscheidungsperformators. In expliziter Fassung: »Hiermit entscheide ich, dass der Ball im Aus ist.«26 Durch deklarative Äußerungen werden neue Sachverhalte geschaffen. Ob diese anerkannt werden, steht freilich auf einem anderen Blatt. Wenn der Autor dieses Textes etwa äußert: »Hiermit entscheide ich, dass den Hochschulen mehr Geld für Forschung & Lehre zukommen soll«, so wird der Sachverhalt, der damit als zu realisierender eingefordert wird, sich wohl nicht durchsetzen, da mir die entsprechenden Befugnisse für einen erfolgreichen Vollzug einer solchen Äußerung fehlen. Betrifft eine Entscheidung hingegen die Rede über Zukünftiges, wie in: »Hiermit entscheide ich, dass ich nächstes Jahr mit dir in den Urlaub fahre«, so erscheint eine Zuordnung zur Gruppe der Kommissiva plausibler, denn wir haben es hier mit der Rede über einen zukünftigen Sachverhalt zu tun und der Autor der Äußerung legt sich darauf fest, seine Folgehandlungen so einzurichten, dass er nächstes Jahr mit der angesprochenen Person in den Urlaub fahren wird. Wenn diese Beobachtungen richtig sind, dann lassen sich so mindestens zwei Entscheidungsperformatoren unterscheiden. Einer, mit dem wir uns auf Zukünftiges festlegen, und einer, mit dem wir Sachverhalte bestimmen.27

4. Folgerungen für unsere Entscheidungsrede Gerade der zweite Fall zeigt, wieso in Beratungssituationen häufig abstrakt über ›die Entscheidung‹ gesprochen wird. Diese Rede über einen Entscheidungssachverhalt erlaubt es jedem Teilnehmer an einer Beratung, die zu einer Entscheidung führen soll, im Unklaren zu lassen, ob er sich auf diese festlegt. Stellt jemand im Verlauf des Gesprächs die Frage: »Was hast du jetzt eigentlich diesbezüglich entschieden?«, so ist der Angesprochene gezwungen, sich explizit festzulegen. Gelingt dies, so kann er später für ein mögliches Scheitern verantwortlich gemacht werden. 26 Selbstverständlich kann die entsprechende Handlung auch ohne Rede, d. h. ohne lautsprachliche Zeichen vollzogen werden, z. B. durch per Konvention festgelegte Gesten, die zu Sprachzwecken eingesetzt werden. Zudem können Redehandlungen auch durch Schriftzeichen vermittelt vollzogen werden, z. B. bei einer Kommunikation per SMS . Von daher darf Sprachhandeln nicht mit Redehandeln (durch Lautäußerungen) gleichgesetzt werden. Hierzu instruktiv: Eike von Savigny, Die Signalsprache der Autofahrer, München 1980. 27 Auf die Schwierigkeiten, Entscheidungssprechakte ohne Weiteres auf die an Searle angelehnte, oben angegebene Taxonomie abzubilden bzw. dieser einzufügen, weist auch die Linguistin Katharina Jacob relativ zu ihrem Quellenkorpus hin, vgl. Jacob, Linguistik (wie Anm. 14), S. 96–98; für ihren eigenen sprechakttheoretischen Vorschlag, der jedoch an linguistischen Kriterien orientiert ist, vgl. ebd., S. 93–96.

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Die Rede über Entscheidungsperformatoren erlaubt es uns, in unseren Sprachspielen festzulegen, wen wir für eine getroffene Entscheidung (berechtigt) verantwortlich machen können, nämlich genau denjenigen, der sich darauf festgelegt hat. Dies geschieht aufgrund des häufig unausdrücklichen Modus einer Aussage häufig auch erst retrospektiv, indem man im Rückblick eine Äußerung als Entscheidungsperformation deutet: »Sie hatten doch eben entschieden, dass…«. Ist der Angesprochene jedoch nicht gewillt, sich festlegen zu lassen, könnte er versuchen, einen anderen Modus, unter dem seine Aussage verständlich wird, im Diskurs durchzusetzen. Etwa indem er darauf verweist, er habe doch lediglich erwogen und sich keinesfalls festgelegt, etwa den Erstentwurf des Vorworts für einen Sammelband zu verfassen. Es ist einerseits das Bedürfnis, Störungen durch Eindeutigkeit zu vermeiden, die es attraktiv werden lässt, über Redemöglichkeiten zu verfügen, die es erlauben, einzelnen Teilnehmerinnen und Teilnehmern (des Sprachspiels) explizit die Verantwortung für eine Entscheidung (im resultativen Sinne) zusprechen zu können, die man gegebenenfalls auch für die Folgen und Konsequenzen einer solchen Entscheidung verantwortlich machen kann. Andererseits bietet die Sprache Möglichkeiten, Entscheidungen unausdrücklich oder ohne klare Askription zum Gegenstand zu machen, indem man nominalisiert über die Entscheidung spricht und die Subjektstelle (Wer hat entschieden?) in der Rede unterdrückt. Dies erzeugt zwar mehr Ambivalenz, bietet damit aber rhetorisch den Freiraum, die Verantwortungslast prima facie nicht übernehmen zu müssen. Die Frage, ob eine normativ explizit geregelte Sprache solche Redemöglichkeiten erlauben sollte, steht freilich auf einem anderen Blatt. Methodisch sollte man jedenfalls nicht den Fehler begehen, aus Redemöglichkeiten, in denen die Subjektstelle fehlt, darauf zu schließen, dass gar kein Entscheidungssubjekt vorhanden wäre. Tatsächlich lässt sich die Rede von ›der Entscheidung‹ und ›dem Entscheiden‹ nur relativ zu einer Handlungssprache einführen. Redeweisen wie »die systemischen Strukturen legen die Entscheidung fest« oder »der Europäische Rat hat entschieden, dass« sind relativ dazu derivative Redeweisen. Dies ist allerdings nicht so zu verstehen, als ob Entscheidungen nicht auch sinnvoll Institutionen zugeschrieben werden könnten. Methodisch können und sollten solche Sprechakte und ihr sozialontologisches Fundament aber nicht am Anfang der methodischen Einführung von Entscheidungsrede in eine Sprache stehen. Sie bedürften weitergehender Untersuchungen, als hier skizziert werden konnten.

5. Fazit und Desiderate Ich habe versucht plausibel zu machen, dass man die Entscheidungsrede, will man sie systematisch mithilfe der Redehandlungstheorie behandeln, nicht auf die Rede über Entscheidungen beschränken sollte, sondern dass man unbedingt auch die performatorische Verwendung von ›Entscheiden‹ zu berücksichtigen

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hat. Ich habe versucht methodisch plausibel zu skizzieren, wie solche Redemöglichkeiten in einer Sprache aufgebaut bzw. eingeführt werden können. Damit wird die Rede selbst systematisch an nicht-sprachliches Handeln zurückgebunden. Eine systematische Explikation und methodische Rekonstruktion der Möglichkeiten der Entscheidungsrede würde aber neben der Etablierung eines einschlägigen Explikationsverfahrens unter anderem verlangen, entsprechende rational-grammatische Kategorien in hinreichender Weise aufzubauen, relativ zu denen sich die verschiedenen Redemöglichkeiten dann sortieren und in ihrer jeweiligen Funktion untersuchen lassen. Eine solche systematische Landkarte der Entscheidungsrede könnte dann wiederum helfen, Kriterien bereitzustellen, um die in verschiedenen Kulturen genutzten und bereitstehenden Möglichkeiten der Entscheidungsrede sortieren und in den Blick nehmen zu können. Neben diesem Desiderat verbleibt insbesondere die Aufgabe, systematisch und methodisch diejenigen Entscheidungsredehandlungen zu rekonstruieren, die es uns erlauben, Institutionen und kollektiven Akteuren sowohl Entscheidungen als auch Entscheidungshandeln zuzuschreiben und diese mithin als zur Entscheidung fähige Gebilde anzusprechen: eine Fragestellung, die dann aber die Möglichkeiten, die eine methodische und handlungstheoretische Vorgehensweise bietet, in Teilen übersteigt und zudem sozialontologische Fragestellungen mit zu berücksichtigen hätte. Als Alternative bzw. Ergänzung zum hier gewählten methodisch-konstruktiven Einstieg, der plausibel machen soll, wie sich Entscheidungsrede überhaupt in eine Sprache einführen lässt und wie sich damit die Redemöglichkeiten der Sprecherinnen und Sprecher erweitern lassen, böte sich zudem für spezifische Sprachbereiche eine explikative Methode an, bei der sukzessive ein spezifischer Entscheidungsbegriff und seine grammatischen Rollen aus Gebrauchs- oder Fachsprachen als Datenbestand entnommen und dann methodisch geklärt und präzisiert in diese wieder eingefügt werden können.28 Ein solches, umfänglicheres Klärungsanliegen muss jedoch einer anderen Gelegenheit vorbehalten bleiben. Für historisches Arbeiten ist es von besonderem Interesse, in der hermeneutischen Arbeit an Quellen, zum Beispiel an Protokollen von Gesprächen und Ähnlichem, unter Zuhilfenahme der redehandlungstheoretischen Differenzierungen gerade die pragmatische Dimension und damit einhergehend die oft implizit bleibenden Kämpfe um Verantwortungszuweisung und Verschleierung sichtbar zu machen und zu rekonstruieren. Auch hier ist es von zentraler Wichtigkeit, zwischen performativer und propositionaler Entscheidungsrede zu unterscheiden. Der vorliegende Beitrag stellt einen ersten Versuch dar, mit 28 Für eine solches Vorgehen zur Rekonstruktion eines Begriffs der ›Rationalität‹ vgl. Susanne Hahn, Rationalität. Eine Kartierung, Münster 2013, S. 34–53. Zur Methode der Explikation im Allgemeinen vgl. die ausführlichen Überlegungen in Geo Siegwart, Explikation. Ein methodologischer Versuch, in: Winfried Löffler / Edmund Runggaldier (Hg.), Dialog und System, St. Augustin 1997, S. 15–43.

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philosophischen Mitteln zu solcher Arbeit beizutragen. Hat man eine Rede über Entscheidungsrede erst einmal etabliert und sich dabei zentrale Unterscheidungen vergegenwärtigt, so kann man diese natürlich auch dazu nutzen, etwa in Quellen aufzufindende Berichte hermeneutisch in Entscheidungszusammenhängen zu deuten, in denen ein unausdrücklicher Entscheidungsbegriff zugrunde liegt. Hierzu wäre neben einer Redehandlungstheorie gerade auch an die systematische Handlungstheorie im weiteren Sinne anzuschließen.

Semantiken und Narrative des Entscheidens in vormodernen Gesellschaften (Mittelalter und Frühe Neuzeit)

Susanne Spreckelmeier 

geteiltez spil Zu einer Entscheidensfiguration im Werk Hartmanns von Aue

Ritterliche Bewährung ist bekanntlich alles andere als ein Kinderspiel. Der Artusritter Iwein hat sowohl der Zofe Lunete versprochen, für sie gegen den verleumderischen Truchsess und seine Brüder im Zweikampf anzutreten, als auch einem Burgherrn Hilfe gegen den grausamen Riesen Harpin zugesagt. Als sich der Riese verspätet, gerät Iwein in ein Dilemma. Soll er auf den Riesen warten und das Leben der Lunete aufs Spiel setzen oder soll er den Burgherrn allein lassen und Lunete zu Hilfe eilen? Hartmann von Aue lässt den arthurischen Helden die Problematik folgendermaßen beschreiben: mir ist ze spilne geschehen ein zegâch geteiltez spil, dazn giltet lützel noch vil, niuwan alle mîn êre.1

Entscheidung und spil werden in der dilemmatischen Situation überblendet und lassen das Entscheiden des Artusritters zu einer âventiure werden, bei der nicht weniger als alle êre zur Disposition steht. Dabei ist es nicht selbstverständlich, dass Iwein überhaupt entscheidet. Die Aussicht, entscheiden zu müssen, stellt eine Zumutung für den Helden dar: »Nicht zu wissen, was man tun soll, ist vor der literarischen Folie des ritterlichen Helden keine Tugend.«2 Aber wie hängen ritterliche Bewährung und Entscheiden zusammen? Welche literarischen Effekte, so möchte dieser Beitrag fragen, zeitigt die metaphorische Engführung von Entscheiden und Spielen in der höfischen Literatur um 1200? Am Beispiel spezifischer Verwendungsweisen des Ausdrucks spil im Kontext von Entscheidenshandeln im Werk Hartmanns von Aue soll der semantischen und narrativen Verfasstheit literarischen Entscheidens auf den Grund gegangen werden. Zunächst (1.) wird in den Blick genommen, mit welchen mittelhochdeutschen Ausdrücken ›Entscheiden‹ gefasst wird. Eine Auseinandersetzung mit der Polysemie des Ausdrucks spil (2.) leitet dann über zur Untersuchung der mittelhochdeutschen Wendungen ein spil teilen sowie geteiltez spil (3.), deren Funktionalisierung im Werk Hartmanns von Aue untersucht wird (4.). Das ›ge1 Hartmann von Aue, Iwein, in: Ders., Gregorius. Der Arme Heinrich. Iwein, hg. u. übers. v. Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2008, S. 318–767, V. 4872–4875. 2 Uta Störmer-Caysa, Gewissen und Buch. Über den Weg eines Begriffes in die deutsche Literatur des Mittelalters, Berlin u. a. 1998.

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teilte Spiel‹ begegnet dort sowohl als Motiv als auch als narrativierte Entscheidensfiguration, die zeitgenössische Spannungsverhältnisse spiegelt.

1. entscheiden Das Mittelhochdeutsche verfügt über eine Vielzahl von Möglichkeiten, Entscheidenshandeln auszudrücken. Dabei scheint das Verb entscheiden selbst, ganz anders als im Neuhochdeutschen, nur eine geringe Rolle zu spielen. Es weist vor allem vier Bedeutungen auf: 1. ›jmd. von etw. / jmdm. trennen, entfernen‹, 2. ›etw. unterscheiden, gegeneinander abgrenzen‹, 3. ›urteilen, eine Entscheidung treffen‹ mit den Bedeutungsfacetten 3.1 ›etw. festlegen, bestimmen, entscheiden‹, 3.2 ›über jmdn. / etw. urteilen‹ und 3.3 ›sich (bzgl. einer Sache) einigen‹ sowie 4. ›(jmdm.) etw. darlegen, auseinandersetzen, erklären‹.3

Als weitgehende Synonyme zu entscheiden, die sich weitaus häufiger auf die Bedeutung ›entscheiden‹ beziehen, begegnen unter anderem scheiden, bescheiden und underscheiden. Besieht man die in den einschlägigen Wörterbüchern vorgeschlagenen Übersetzungen dieser verwandten Ausdrücke, so überwiegen die Bedeutungsdimensionen ›unterscheiden, teilen‹ sowie ›auseinandersetzen‹ deutlich gegenüber einem Abzielen auf Entscheidenshandeln. Das mittelhochdeutsche Substantiv entscheidunge meint 1. ›Urteil, Urteilsspruch‹, 2. ›Auslegung, Bedeutung‹, entscheidenheit hingegen ›Unterscheidung, Erklärung, genaue Auseinandersetzung‹.4 Versteht man nun Entscheiden aus kulturhistorischer Perspektive als »dasjenige prozessuale Geschehen […], das seinem Sinn nach darauf ausgerichtet ist, eine Entscheidung hervorzubringen«,5 so zeigt sich, dass sich Ausdrücke aus der Wortfamilie entscheid* im Mittelhochdeutschen – vergleiche auch entscheidære (›Schiedsrichter‹), entscheidebrief (›Urkunde über ein Urteil oder einen Vergleich‹), entscheit (›verbindliche Aussage, Bescheid‹)6  – hauptsächlich auf 3 Art. ›entscheiden‹, in: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Bd. 1: a – êvrouwe. Im Auftrag der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz und der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen hg. v. Kurt Gärtner u. a., Stuttgart 2013, http://www.mhdwb-online. de/wb.php?buchstabe=E&portion=1400 (Stand: 16. Mai 2021). Im älteren »Mittelhochdeutschen Wörterbuch« von Georg Friedrich Benecke u. a. hingegen werden die erste und zweite Bedeutung zusammengefasst. Vgl. Art. ›entscheide‹, in: Mittelhochdeutsches Wörterbuch. Mit Benutzung des Nachlasses v. Georg Friedrich Benecke ausgearbeitet v. Wilhelm Müller u. Friedrich Zarncke, 3 Bde., Stuttgart 1990 (ND d. Ausg. Leipzig 1854–1866), http://www.woerterbuchnetz.de/BMZ / (Stand: 16. Mai 2021). 4 Art. ›entscheidunge‹ u. ›entscheidenheit‹, in: Gärtner u. a. (Hg.), Mittelhochdeutsches Wörterbuch (wie Anm. 3). 5 Philip Hoffmann-Rehnitz u. a., Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), S. 217–281, hier S. 226. 6 Art. ›entscheidære‹, ›entscheidebrief‹ u. ›entscheit‹, in: Gärtner u. a. (Hg.), Mittelhochdeutsches Wörterbuch (wie Anm. 3).

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die Entscheidung als Resultat eines Entscheidensprozesses beziehen, sofern sie überhaupt auf ›Entscheiden‹ als soziale Handlung abzielen. Insgesamt betrachtet handelt es sich bei entscheiden um einen seltenen Ausdruck in mittelhochdeutschen Texten.7 Die Werke, die Belegstellen aufweisen, divergieren inhaltlich und gattungssystematisch stark; es überrascht nicht, dass sich vielfach Nachweise in Schriften aus dem rechtlichen Bereich finden.8 Dem Gegenstandsbereich ›Entscheiden‹ im Sinne eines prozessualen und sozialen Handelns, das auf die Hervorbringung einer Entscheidung ausgerichtet ist, wird im Mittelhochdeutschen vor allem durch alternative Wörter und Wendungen Ausdruck verliehen. So finden sich in der Erzählliteratur um 1200 zunächst Umschreibungen des Entscheidenshandelns mit tuon,9 darüber hinaus begegnet die Beschreibung der Tätigkeit mit Verben wie râten (rât, râtvrâge usw.),10 urteilen (verurteilen, urteil usw.),11 rihten (rihtære, gerihte usw.),12 kiesen (etwa ›prüfend 7 Vgl. die Einträge zu ›entscheiden‹ in der »Mittelhochdeutschen Begriffsdatenbank«, bereitgestellt durch die Universität Salzburg, http://www.mhdbdb.sbg.ac.at/ (Stand: 16. Mai 2021). 8 So z. B., befragt man die »Mittelhochdeutsche Begriffsdatenbank« (wie Anm. 7), in den »Herzogenburger Urkunden II« (1319–1450) sowie im »Processus juris« (»Augsburger Sittenlehre«, Druck von 1476). 9 Vgl. hierzu die Forderung einer Entscheidung durch Zweikampf durch den Vasallen Drances in der Beratung des Königs Latinus aus dem »Eneasroman« Heinrichs von Veldeke, in dem sowohl tuon als auch bescheinen (im Sinne von ›zeigen‹) ›entscheiden‹ ausdrücken: nû tût hêrlîche / (sprach her), lieber hêre mîn, / nû si bêde wellent sîn / umb ûwer tohter gewis, / nâch diu und ez komen is, / sô dunket mich daz vile gût, / daz ir eine wîs tût, / ob ez wol gevalle / disen forsten allen / und andern gûten knehten, / sô râte ich daz si vehten / si zwêne alders eine, / daz got daz reht bescheine, / swem got der êren gunne / daz her den sige gewinne, / der habe daz rîche und die maget, / dâ ir ietweder ûf klaget (Heinrich von Veldeke, Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, nach dem Text v. Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar u. einem Nachwort v. Dieter Kartschoke, Stuttgart 1986, V. 8602–8618). 10 Vgl. hierzu die Szene kollektiven Beratens in Hartmanns von Aue »Der arme Heinrich«, in der Heinrich nach der Restauration von Ehre und Herrschaft zur Ehe geraten wird: ›[…] nû râten mir alle durch got, / von dem ich die genâde hân, / die mir got hât getân, / daz ich gesunt worden bin, / wie ichz verschulde wider in‹ (Hartmann von Aue, Der arme Heinrich, in: Ders., Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein, hg. u. übers. v. Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2008, S. 229–315, V. 1482–1486). 11 Vgl. z. B. in der kämpferischen Konfrontation der Halbbrüder Parzival und Feirefiz in Wolframs von Eschenbach »Parzival«. Der Erzähler kommentiert hier: ez ist noch ungescheiden, / ze urteile stêt ez in beiden / vor der hôhsten hende (Wolfram von Eschenbach, Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der Ausg. v. Karl Lachmann, Übersetzung u. Nachwort v. Wolfgang Spiewok, 2 Bde., Stuttgart 1981, 744,21–23). 12 Gawan fasst in Wolframs von Eschenbach »Parzival« (wie Anm. 11) den Gerichtsprozess des Artus gegen Urians, der eine Botin vergewaltigt hat, zusammen: Durch der tavelrunder art, / und durch der botschefte vart, / als si waere an in gesant; / waer er ze rihtaere erkant, / daz er denne riht ir swaere / durch gerihtes maere. / si bat der tavelrunder schar / alle ir rehtes nemen war, / sît daz ir waere ein roup genomen, / der nimmer möhte wider komen, / ir magtuom kiusche reine, / daz si al gemeine / den künec gerihtes baeten / und an ir rede traeten (527,1–14).

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auswählen‹),13 weln bzw. wellen (wal, wale)14 oder auch bewegen15 und bescheiden.16 Auf Entscheidensprozesse können zudem die Substantive strît17 und âventiure18 hinweisen; auch muot im Sinne von ›Entschluss‹19 sowie bescheidenheit im Sinne eines moralisch-ethischen Unterscheidenkönnens20 sind als Ausdrücke für ›Entscheiden‹ zentral. Nur um den Ausdruck spil soll es jedoch im Folgenden gehen. 13 Vgl. die sentenzhaften Ausführungen des Erzählers über den Gemütszustand des Königs Marke in Gottfrieds von Straßburg »Tristan«. Der Kontext ist der Beschluss des Titelhelden, nach Irland zu reisen, um sich von Isolde heilen zu lassen: diz geviel im übele unde wol. / wan daz man schaden ze noeten sol / dulten, als man beste kan. / under zwein übelen kiese ein man, / daz danne minner übel ist. / daz selbe ist ouch ein nütze list (Gottfried von Straßburg, Tristan. Nach dem Text v. Friedrich Ranke neu hg., ins Neuhochdeutsche übers., mit einem Stellenkommentar u. einem Nachwort v. Rüdiger Krohn, 3 Bde., Stuttgart 122007, V. 7317–7322). Vgl. zudem die Verwendung in einem Frauenpreis Walthers von der Vogelweide in Anm. 26. 14 In Hartmanns »Iwein« (wie Anm. 1) ist sich die Königin Laudine, nachdem der Artusritter die Quelle des Brunnenreiches erfolgreich verteidigt hat, sicher, mit der Heirat von Iwein die richtige Entscheidung getroffen zu haben: si gedâhte: ›ich hân wol gewelt‹ (V. 2682). Vgl. zur wal auch ein Beispiel aus Hartmanns von Aue »Gregorius« in Anm. 97 und ein Beispiel in einem Frauenpreis Walthers von der Vogelweide in Anm. 26. 15 Vgl. z. B. die Szene in Hartmanns von Aue »Gregorius«, in der Gregorius beschließt, gegen den Herzog, der das Land seiner Mutter belagert, im Zweikampf anzutreten: Grêgôrius sich des vil gar bewac / daz er ez deheinen tac / wolde vristen mêre: / durch got und durch êre / wolde er verliesen sînen lîp / oder daz unschuldige wîp / lœsen von des herren hant / der ir genomen hâte ir lant (Hartmann von Aue, Gregorius, in: Ders., Gregorius. Der arme Heinrich. Iwein, hg. u. übers. v. Volker Mertens, Frankfurt a. M. 2008, S. 9–227, V. 2067–2074). 16 Vgl. in Heinrichs von Veldeke »Eneasroman« (wie Anm. 9) den Ausspruch des Königs Latinus, der mit seinen Männern darüber berät, wie mit dem Konflikt zwischen Eneas und Turnus umgegangen werden soll: ouch sage ich û daz vor wâr, / ich wil daz man mit rehte var / und ze fûgen bescheide, / unde sich die hêren beide / bedenken dar enbinnen / und nâch mînen sinnen / und mîner frunt und mîner man (V. 8493–8501). 17 So erklärt König Artus im Kontext des Erbfolgestreits der zwei Töchter des Grafen vom Schwarzen Dorn in Hartmanns von Aue »Iwein« (wie Anm. 1): […] ›ir müezet an mich / den strît lâzen beide, / daz ichn iu bescheide / des iuch durch reht gnüeget / unde sich mir ouch vüeget‹ (V. 7648–7652) sowie: er sprach: ›ich lâze iu iuwer guot, / unde iuwer swester habe daz ir. / der strît ist lâzen her ze mir: […]‹ (V. 7688–7690). Vgl. auch die Verwendung in Hartmanns »Gregorius« in Anm. 97. 18 Vgl. die Auszüge aus Wolframs von Eschenbach »Parzival« in Anm. 38 sowie die Rede des Protagonisten in Gottfrieds von Straßburg »Tristan« (wie Anm. 13) im Kontext der Beratung hinsichtlich der Bedrohung durch Morold, der unter Kriegsandrohung Zins von König Marke fordert: deiswâr, ir hêrren, sô wil ich / mîne jugent und mîn leben / durch got an âventiure geben / und wil den kampf durch iuch bestân. / got lâze in iu ze guote ergân / und bringe iuch wider ze rehte! (V. 6156–6161). 19 Vgl. z. B. den Ausspruch der Ratgeber in Hartmanns »Der arme Heinrich« (wie Anm. 10): si sprâchen: ›nemet einen muot / daz im lîp unde guot / iemer undertænic si!‹ (V. 1487– 1489). 20 Vgl. zum Begriff Dieter Kartschoke, Der epische Held auf dem Weg zu seinem Gewissen, in: Thomas Cramer (Hg.), Wege in die Neuzeit, München 1988, S. 149–197, hier S. 186 f.

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2. spil Der Ausdruck spil weist im Mittelhochdeutschen eine semantische Differenzierung auf, die um die Themenkerne ›(unterhaltsamer) Zeitvertreib‹ und ›Wettstreit‹ angelagert ist. So lassen sich für das Substantiv spil  – das zudem in einer Vielzahl spezifizierter Komposita begegnet (lügenspil, minnespil, vëderspil usw.)  – mindestens sieben verschiedene Bedeutungsdimensionen unterscheiden: unterhaltsamer Zeitvertreib (Spiel, Musik, Tanz),21 unbedeutende Sache, Saitenspiel, Wettspiel / Spiel mit den Optionen des Gewinnens und Verlierens, Auswahl zwischen gleichen Gütern, Schauspiel und Liebesspiel.22 Die Polysemie von spil gründet auf einem ursprünglich wohl von ›Tanz‹ / ›tanzen‹23 ausgehenden semantischen Kern, der metaphorische Übertragung erfährt. Es handelt sich um ein »semantisches Prisma mit ausgesprochen vielgestaltigen Verweiszielen, von denen das heutige Verständnis des ›Spiels‹ allenfalls einen peripheren Teilaspekt markiert«.24 Zu den Bedeutungen ›Spiel um Gewinn und Verlust‹ zählen als Unterkategorien das Kampfspiel bzw. der Wettkampf, das Spiel um Geld bzw. das Glücksspiel und schließlich spil als Tropus.25 Die Bedeutung ›Auswahl zwischen gleichen Gütern‹ kann sich zudem auf die bereits getroffene Auswahl beziehen.26 Beide genannten Bedeutungsfacetten, ›Spiel um Gewinn und Verlust‹ sowie ›Auswahl zwischen gleichen Gütern‹, sind mit prozessualem und sozialem Entscheidenshandeln, um das es dem vorliegenden Band geht, unmittelbar in Verbindung zu setzen. Glücksspiel, Wettkampf und Entscheiden stehen auf diese Weise nebeneinander und erscheinen zugleich aufgrund der Überschneidung der Gegenstandsbereiche unauflöslich miteinander verknüpft: Entscheiden gewinnt die Leichtigkeit und das reizhafte Risiko 21 In diesen Zusammenhang ist auch spil im Sinne von Jagd zu stellen; vgl. hierzu David Dalby, Lexicon of the Medieval German Hunt. A Lexicon of Middle High German Terms (1050–1500), associated with the Chase, Hunting with Bows, Falconry, Trapping and Fowling, Berlin 1965, S. 214. 22 Vgl. Art. ›spil‹, in: Benecke u. a., Mittelhochdeutsches Wörterbuch (wie Anm. 3). 23 Vgl. Art. ›Spiel‹, in: Friedrich Kluge (Hg.), Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, bearb. v. Elmar Seebold, Berlin 242002, S. 865. 24 Jörg Sonntag, ›Spiel und Unterhaltung‹, in: Gert Melville / Martial Staub (Hg.), Enzyklopädie des Mittelalters. Bd. 1, Darmstadt 2008, S. 279. 25 Vgl. Art. ›spil‹, in: Benecke u. a., Mittelhochdeutsches Wörterbuch (wie Anm.3). 26 Vgl. die dritte Strophe von Walthers von der Vogelweide Preislied Sô die bluomen ûz dem grase dringent: Seht sam mir, welt ir die wârheit schouwen, / gên wir zuo des meien hôchgezîte! / dér ist mit aller sîner wunne komen. / seht an in und seht an werde frouwen, / wéder spil daz ander überstrîte. / daz wæger spil, ob ich daz hân genommen? / und dér mich danne wellen hieze, / daz ích daz eine durch daz ander lieze, / ahî, wie schiere ich danne kür: / hêr Meie, ir mǘestent merze sîn, / ê ich mîn frouwen dâ verlür (Walther von der Vogelweide, Werke. Gesamtausgabe. Bd. 2: Liedlyrik. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch, hg., übers. u. komm. v. Günther Schweikle. 2., verb. u. erw. Aufl. hg. v. Ricarda Bauschke-Hartung, Stuttgart 2011, S. 140–142, L 45,37).

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des Glücksspiels und wird zugleich mit der Zumutung des Kampfes belastet. Kämpfen und Entscheiden weisen dabei Qualitäten des Spiels auf; sie gründen als kulturell überformtes Handeln sogar im Spiel.27 Versteht man ›Spiel‹ mit Johan Huizinga als »[…] eine freiwillige Handlung oder Beschäftigung, die innerhalb gewisser festgesetzter Grenzen von Zeit und Raum nach freiwillig angenommenen, aber unbedingt geltenden Regeln verrichtet wird, ihr Ziel in sich selber hat und begleitet wird von einem Gefühl der Spannung und Freude und einem Bewußtsein des ›Andersseins‹ als das ›gewöhnliche Leben‹,«28

dann zeigen sich Übereinstimmungen mit ›Entscheiden‹, und zwar hinsichtlich der zeitlichen und räumlichen Abgrenzung von Entscheidenshandeln,29 der Ausbildung eigener Verfahrensregeln, der Erzeugung einer Spannung in der Diskriminierung von Alternativen, die auf Entspannung durch eine Entscheidung drängt, sowie hinsichtlich der Heraushebung von Entscheidenssituationen aus dem Fluss der Routinen des alltäglichen Lebens und der Markierung des ›Andersseins‹ (man denke zum Beispiel an das Anlegen der richterlichen Robe im Kontext von Gerichtsentscheidungen). Die Freiwilligkeit und ›Selbstbezüglichkeit‹ des Spiels hingegen scheinen, wie im Folgenden noch zu zeigen ist, vor allem dem ritterlich-aventiurehaften Entscheiden höfischen Erzählens zu eignen, das durch ein ›sich Aussetzen‹ selbstgewählt ist und dem Ehrgewinn und der Statusverteidigung im Rahmen institutionalisierter, verstetigter Figurationen (zum Beispiel der âventiure in Form eines Zweikampfes) dient.30 27 Vgl. auch Andrea Briechle / U li Steiger, »spil unde strît«. Kriegerische Spielkultur im Mittelalter, in: Cord Arendes / Jörg Peltzer (Hg.), Krieg. Vergleichende Perspektiven aus Kunst, Musik und Geschichte, Heidelberg 2007, S. 11–34. 28 Johan Huizinga, Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel. In engster Zusammenarbeit mit dem Verfasser aus dem Niederländischen übertragen v. H. Nachod, mit einem Nachwort v. Andreas Flitner, Reinbek bei Hamburg 252017 (Ndl. Orig. ›Homo Ludens‹, 1938), S. 37 (Hervorhebung nicht übernommen). Vgl. zur Einordnung der Spieltheorie Huizingas als »eine Soziologie der Kulthandlungen« Stefan Matuschek, Literarische Spieltheorie. Von Petrarca bis zu den Brüdern Schlegel, Heidelberg 1998, S. 2. 29 Vgl. Huizinga, Homo Ludens (wie Anm. 28), S. 18 f.: »Die Arena, der Spieltisch, der Zauberkreis, der Tempel, die Bühne, die Filmleinwand, der Gerichtshof, sie sind allesamt der Form und der Funktion nach Spielplätze, d. h. geweihter Boden, abgesondertes, umzäuntes, geheiligtes Gebiet, in dem besondere Regeln gelten. Sie sind zeitweilige Welten innerhalb der gewöhnlichen Welt, die zur Ausführung einer in sich abgeschlossenen Handlung dienen.« 30 In der Typologie des Spiels nach Roger Caillois, der sich mit der Theorie Johan Huizingas kritisch auseinandersetzt und der im Spiel die »Hauptrubriken« ›Agôn‹ (Wettstreit), ›Alea‹ (Zufall/»Chance«), ›Mimicry‹ (Maskierung) und ›Ilinx‹ (Rausch) unterscheidet, wären die hier zur Rede stehenden ritterlichen Entscheidensaufgaben zwischen ›Agôn‹ und ›Alea‹ zu verorten: vgl. Roger Caillois, Die Spiele und die Menschen. Maske und Rausch, Stuttgart 1960 (Frz. Orig. ›Les jeux et les hommes. Le masque et le vertige‹, 1958), hier S. 19. Vgl. zum Zusammenhang von ›Spielen‹ und ›Erzählen‹ sowie ›Spiel‹ und ›Fiktionalität‹ unter Verweis auf die Spieltheorie Wolfgang Isers Udo Friedrich, Metaphorik des Spiels und

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In den germanischen Sprachen schließen Ausdrücke für ›Spiel‹, wie Huizinga zeigt, mit Regelmäßigkeit den bewaffneten Kampf sowie die Jagd mit ein.31 Auch der Rechtshandel mit seiner agonalen Grundstruktur hat sich aus dem Wettkampf entwickelt.32 Richterliche Entscheidung und Gottesurteil (durch Los, Kampf etc.) bilden daher in der Kultur des Mittelalters »noch einen einzigen Komplex«.33 In Gemeinschaften, die eine strikte »Scheidung des Religiösen und des Politischen« nicht vornehmen, ist »[j]ede in den richtigen Formen herbeigeführte Entscheidung […] ein Urteil der göttlichen Mächte«.34 Der ritterliche Kampf und der Rechtshandel hängen ebenso als Formen des Wettstreits zusammen, verschleiern aber mit zunehmender Formalisierung ihren Ursprung im Spiel. Entscheiden, Kämpfen und Richten weisen als Handlungen somit einen Interferenzbereich auf, der sich durch strukturelle Analogien mit der Handlung ›Spielen‹ auszeichnet. Diese Analogien bilden die Grundlage für eine im Sinne von Entscheiden ausgebildete Metaphorik des Spiels in der mittelhochdeutschen Literatur – selbst ja Ausprägung eines poetisch-ästhetischen Spiels –,35 der im Folgenden nachgegangen werden soll. Die Polysemie des mittelhochdeutschen Ausdrucks spil konserviert den semantischen Zusammenhang von Entscheiden, Spielen, Richten und Kämpfen. Während der gerichtliche Zweikampf und der Richtspruch als Gottesurteile Formen externalisierten Entscheidens darstellen,36 sollen in diesem Beitrag literarische Inszenierungen internalisierten Entscheidens im Mittelpunkt stehen. Dabei ist zum einen davon auszugehen, dass verschiedene Bedeutungsfacetten von spil in der konkreten Verwendung des Ausdrucks

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Reflexion des Erzählens bei Heinrich Kaufringer, in: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der Literatur 21 (1996), S. 1–30, hier v. a. S. 26–30. Vgl. Huizinga, Homo Ludens (wie Anm. 28), S. 51 f. Vgl. zur engen semantischen Verbindung von Spielen und Kämpfen auch ebd., S. 101–110. Vgl. ebd., S. 89–91. Ebd., S. 92. Vgl. auch ebd., S. 94: »Rechtsprechung und Gottesurteil wurzeln alle beide in einer Praxis agonaler Entscheidung, wo das Los oder die Kraftprobe an sich das endgültige Urteil spricht. Der Kampf ums Gewinnen oder Verlieren ist in sich heilig. Wird er von formulierten Begriffen von Recht und Unrecht beseelt, so erhebt er sich in die Rechtssphäre, wird er dagegen im Licht positiver Vorstellungen von göttlicher Macht betrachtet, dann erhebt er sich in die Sphäre des Glaubens. Primär aber bei allem ist die Spielform.« Ebd., S. 103. Vgl. zum Zusammenhang von Literatur und Spiel Bernhard Jahn / Michael Schilling, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Literatur und Spiel. Zur Poetologie literarischer Spielszenen, Stuttgart 2010, S. 7–25 sowie den Beitrag von Christine Stridde, Erzählen vom Spiel – Erzählen als Spiel. Spielszenen in der mittelalterlichen Erzählliteratur, in: Jahn / Schilling, Literatur und Spiel (s. o.), S. 27–43. Vgl. zum Gottesurteil als Form externalisierten Entscheidens Susanne Spreckelmeier, Vom erzählten Brauch zum verschriftlichten Recht. Die Bahrprobe als Entscheidensprozess in literarischen und rechtlichen Quellen, in: Frühmittelalterliche Studien 52 (2018), S. 189–215.

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aufscheinen, und zum anderen, dass Verfasser mittelalterlicher Literatur das poetische Potential der Polysemie systematisch ausnutzen: Wirft doch das spil als Interferenzbereich scheinbaren Zufalls und individueller Bewährung die Frage nach dem Verhältnis von Kontingenz und Providenz je aufs Neue auf. Walter Haug hat im Spiel gar »das anthropologische Modell für den Umgang mit Kontingenz im klassischen arthurischen Roman und der seinem Struktur­ muster folgenden Literaturtradition« gesehen.37 Das spil könnte auf diese Weise als Kristallisationspunkt erzählenswerter höfischer Herausforderungen – ähnlich wie die âventiure38  – ein sinnstiftendes Erzählschema volkssprachlicher Epik darstellen.

3. ›(Un)Entschiedene‹ Spiele Im Folgenden soll die Verwendung des Ausdrucks spil in Werken Hartmanns von Aue (gestorben nach 1210) genauer in den Blick genommen werden, da das Œuvre des Ouwære ein breites Gattungsspektrum abdeckt und zudem geradezu exemplarische Bedeutung für die volkssprachliche höfische Literatur um 1200 besitzt. Der Ausdruck spil und mit diesem Substantiv arbeitende Konstruktionen werden vor allem in den Artusromanen verwendet, mit großem Abstand am häufigsten im um 1180/90 entstandenen »Erec«. Die Bedeutungen ›ausgelassenes Spiel (Zeitvertreib, Musik, Tanz)‹39 sowie ›Kampfspiel / 

37 Walter Haug, Kontingenz als Spiel und das Spiel mit der Kontingenz. Zufall, literarisch, im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Gerhart von Graevenitz / Odo Marquard (Hg.), Kontingenz, München 1998, S. 151–172, hier S. 166. 38 Das Konzept und das Begriffsfeld der âventiure wurden schon vielfach zum Gegenstand mediävistischer Forschung gemacht. An dieser Stelle soll nur auf einen Sammelband hingewiesen werden, der sich gezielt in mehreren Beiträgen mit der historischen Semantik von âventiure auseinandersetzt: Gerd Dicke u. a. (Hg.), Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter, Berlin 2006 (darin die Beiträge von Franz Lebsanft, Volker Mertens, Hartmut Bleumer, Mireille Schnyder und Peter Strohschneider zur âventiure, die zudem die wichtigste Forschungsliteratur zusammentragen). Hervorzuheben ist auch die ›kontingenzbezogene‹ Schnittmenge von âventiure und spil, wie sie im »Parzival« Wolframs von Eschenbach (wie Anm. 11) begegnet: hie ist der âventiure wurf gespilt, / und ir begin ist gezilt: / wand er ist alrêrst geborn, / dem diz maere wart erkorn (112,9–12). Vgl. hierzu Mireille Schnyder, Glücksspiel und Vorsehung. Die Würfelspielmetaphorik im ›Parzival‹ Wolframs von Eschenbach, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und deutsche Literatur 131 (2002), S. 308–325. 39 Vgl. z. B. Hartmann von Aue, Die Klage, hg. v. Kurt Gärtner, Berlin 2015, V. 277 f. u. 604–606. Vgl. ders., Erec, hg. v. Manfred Günter Scholz, übers. v. Susanne Held, Frankfurt a. M. 2007, V. 248 f., 674 f., 1312 f., 4268–4272, 8062–8064 u. 9596–9598. Vgl. ders., Iwein (wie Anm. 1), V. 823–825 u. 4803–4805. Vgl. ders., Der arme Heinrich (wie Anm. 10), V. 328–332. Vgl. auch Hartmann von Aue, Maniger grüezet mich alsô, in: Des Minnesangs Frühling. Unter Benutzung der Ausgaben v. Karl Lachmann u. Moriz Haupt, Friedrich

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Wettkampf‹40 und ›Glücksspiel / Spiel mit Einsätzen‹41 als Ausprägungen des ›Spiels um Gewinn und Verlust‹ überwiegen in den Werken deutlich. Dabei bezeichnet spil in der Regel den noch ergebnisoffenen Verlauf einer Handlung; eine Ausnahme bildet die Zuspitzung endespil, die Prozess und Ausgang einer Auseinandersetzung, also Entscheiden und Entscheidung, synthetisch abbildet.42 Wird auf die Bedeutungsfacetten ›Wettspiel‹ und ›Auswahl zwischen Gleichem‹ abgestellt, ist die Verbindung von spil und dem Verb teilen von besonderer Relevanz, das neben ›aufteilen‹ auch ›mitteilen‹, ›erteilen‹ / ›auferlegen‹, ›urteilen‹ und in Dativkonstruktion so viel wie ›jmdm. (etwas) zueignen‹ bedeuten kann.43 teilen kann dabei auch ohne die Ergänzung eines Objekts ›jmdm. die Wahl zwischen zwei oder mehreren Dingen lassen‹ meinen.44 Dieser Bedeutung von teilen treten im Mittelhochdeutschen die Wendungen ein spil teilen mit und ohne Dativkonstruktion an die Seite, die zu verstehen sind als ›einen Wettkampf abhalten‹ (ohne Dativ) sowie als ›jmdn. zum Wettkampf herausfordern‹ oder ›jmdm. etwas / zweierlei zur Wahl vorlegen‹ (mit Dativ). Die Bedeutung ›Herausforderung zum Wettkampf‹ findet sich beispielsweise in der Rede Brünhilds im Nibelungenlied (Hs. B):45

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Vogt u. Carl v. Kraus, bearb. v. Hugo Moser u. Helmut Tervooren, Bd. 1: Texte. Mit einem Anhang: Das Budapester und Kremsmünsterer Fragment, Stuttgart 381988, S. 426, 217,2–4. Vgl. z. B. Hartmann von Aue, Erec (wie Anm. 39), V. 867–869, 881–883, 913–920 (mit zwei Belegen), 948 f., 8563 f. u. 9046. Vgl. ders., Iwein (wie Anm. 1), V. 7378–7380. Siehe zu Hartmann von Aue, Erec (wie Anm. 39), V. 8521–8538 und zu ders., Gregorius (wie Anm. 15), V. 2028–2042 noch im Folgenden. Vgl. auch ebd., V. 2056 f. Vgl. z. B. ebd, V. 391–395. Vgl. Art. ›teile‹, in: Benecke u. a., Mittelhochdeutsches Wörterbuch (wie Anm. 3); vgl. Art. ›teilen‹, in: Matthias Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. Zugleich als Supplement und alphabetischer Index zum Mittelhochdeutschen Wörterbuch von Benecke-Müller-Zarncke, 3 Bde., Stuttgart 1979 (Reprogr. ND d. Ausg. Leipzig 1872–1878), http://woerterbuchnetz.de/Lexer/ (Stand: 16. Mai 2021). Vgl. Art. ›teile‹, in: Benecke u. a., Mittelhochdeutsches Wörterbuch (wie Anm. 3). So wird im Kontext der Entführung der Königin Ginover in Hartmanns »Iwein« (wie Anm. 1) die Alternative zwischen dem Verlust der Dame und dem ritterlichen Kampf um sie von den Artusrittern als durch den Entführer eröffnete ›Möglichkeit‹ beschrieben: si sprâchen: ›sîn wirt guot rât, / sît erz uns sô geteilet hât: / er vüeret si unverre, / ezn sî daz unser herre / mit im wider uns sî‹ (V. 4629–4633). Vgl. zur Passage auch den Stellenkommentar von Volker Mertens in der genannten Ausgabe sowie zur Episode der Ginover-Entführung aus entscheidenstheoretischer Perspektive Bruno Quast, Entscheiden im Spannungsfeld von Routine und Unberechenbarkeit. Praxeologische Überlegungen zur Ginover-Entführung in Hartmanns von Aue »Iwein«, in: Zeitschrift für deutsche Philologie 138 (2019), S. 33–44. Weitere Beispiele für diese Bedeutung der Wendung versammelt Ingrid Kasten, geteiltez spil und Reinmars Dilemma MF  165,37. Zum Einfluß des altprovenzalischen dilemmatischen Streitgedichts auf die mittelhochdeutsche Literatur, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 74 (1980), S. 20–25.

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Si sprach: ›ist er dîn herre,     unt bistu sîn man, diu spil, diu ich im teile,     getar er diu bestân, behabt er des meisterschaft,     sô wird ich sîn wîp. unt ist, daz ich gewinne,     ez gêt iu allen an den lîp.‹46

Karl-Heinz Schirmer erkennt in dieser spezifischen Form der Aufforderung zum Wettkampf die ursprüngliche Bedeutung der Wendung ein spil teilen, bevor diese auch minnekasuistische Bedeutung aufweist.47 Die Wendung setzt die Unterscheidung divergenter Optionen voraus, die hier mit Gewinn und Verlust zusammenfallen. Die »Grundbedeutung der Formel« ist, »einen Konflikt durch Teilen und Wählen zu regeln«.48 Dieses Vorgehen schlägt sich im deutschen Sprachraum im Mittelalter zunächst erbrechtlich, das heißt in zeitgenössischen Rechtsquellen nieder: Der ältere Sohn teilt das Erbe, der jüngere Sohn wählt seinen Teil.49 Im Werk Hartmanns finden sich gleich mehrere Beispiele für die Verwendung von ein spil teilen in der Bedeutung ›jmdm. etwas / zweierlei zur Wahl vorlegen‹. Dabei wird die Wendung auch verdichtet als Partizipialkonstruktion wiedergegeben. Die mittelhochdeutsche Wendung geteiltez spil (altfrz. jeu-parti) geht ebenso wie ein spil teilen (altfrz. partir le jeu) auf literarische Einflüsse aus dem Altfranzösischen zurück,50 die Hartmann in Form der Vorlagen seiner Artusromane, der Werke Chrétiens de Troyes (gestorben um 1190), kennengelernt haben könnte. Dem ›geteilten Spiel‹ steht im Mittelhochdeutschen ein ungeteiltez zur Seite. Während geteiltez spil zu verstehen ist als ›offen gelassene Wahl‹ bzw. ›unentschiedenes Spiel‹, meint ungeteiltez spil ›vorentschiedene Wahl‹ bzw. ›entschiedenes Spiel‹: »ist der vortheil entschieden auf der einen seite, so ist daz spil ein ungeteiltez; sind die gegen einander gestellten dinge ziemlich gleich, so ist es ein glîch geteiltez spil«.51 Während das entschiedene, ›ungeteilte Spiel‹ eine gefallene Entscheidung zum Thema macht – man vergleiche den Ausspruch Bertholds von Regensburg Wan ez ist ein ungeteiltez spil daz êwige leben unde der êwige tôt52 –, setzt nur das unentschiedene, ›geteilte Spiel‹ Entscheidenshandeln in Gang. 46 Das Nibelungenlied, Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach der Handschrift B hg. v. Ursula Schulze, ins Neuhochdeutsche übers. u. komm. v. Siegfried Grosse, Stuttgart 2010, Str. 421. 47 Vgl. Karl-Heinz Schirmer, Stil- und Motivuntersuchungen zur mittelhochdeutschen Vers­ novelle, Tübingen 1969, S. 249 f., dort Anm. 23. 48 Kasten, geteiltez spil (wie Anm. 45), S. 27. 49 Vgl. Wilhelm Wackernagel, Theilen, theilen und wählen, theilen und kiesen, in: Zeitschrift für deutsches Alterthum 2 (1842), S. 542–548, hier S. 542 sowie Kasten, geteiltez spil (wie Anm. 45), S. 31 f. 50 Vgl. Emil Öhmann, Die mittelhochdeutsche Lehnprägung nach altfranzösischem Vorbild, Helsinki 1951, S. 74 f. 51 Art. ›teile‹, in: Benecke u. a., Mittelhochdeutsches Wörterbuch (wie Anm. 3). 52 Berthold von Regensburg, Vollständige Ausgabe seiner Predigten mit Anmerkungen und Wörterbuch hg. v. Franz Pfeiffer, Bd. 1, Wien 1862, S. 138,39–139,1. Vgl. zum ›ungeteilten Spiel‹ auch Fridankes Bescheidenheit, hg. v. Heinrich E. Bezzenberger, Halle 1872,

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Das ›geteilte Spiel‹, das im Werk Hartmanns von Aue als Herausforderung begegnet, hat als Entscheidensfiguration in der französischen Erzählkultur des 12. Jahrhunderts eine spezifische literarische Tradition begründet.53 Mit dem altokzitanischen joc partit, dem Partimen,54 und dem altfranzösischen jeu-parti entstehen Streitgedichte über Minne-Dilemmata in strophischer Form, basierend auf der Auseinandersetzung zweier Sänger, die jeweils eine vorgegebene Option repräsentieren, häufig abschließend mit der Anrufung eines außenstehenden Schiedsgerichts.55 Üblicherweise bleibt die Verhandlung von Seiten der streitenden Sänger ergebnisoffen56 – die Diskussion des Minnethemas, die virtuose Entwicklung des Für und Wider nach klaren Spielregeln,57 nicht etwa eine Entscheidung zwischen Alternativen steht somit im Vordergrund. Auf diese Weise wird »im dilemmatischen Streitgedicht […] der unerlöste Schwebezustand dieser [der höfischen, S. S.] Liebe zwischen Sehnsucht und Erfüllung als formales Gesetz wiederholt«.58 Im deutschen Sprachraum finden sich allenfalls Anklänge an diesen ›Texttypus‹59 mit deutlich späteren Belegen aus dem

102,20–25: tuot ein wîp ein missetât, / der ein man wol tûsent hât, / der tûsent wil er êre hân, / und sol ir êre sîn vertân. / daz ist ein ungeteilet spil: / got solches rehtes niht enwil. 53 Vgl. Wackernagel, Theilen (wie Anm. 49), S. 547 f.; vgl. Ursula Peters, Cour d’amour  – Minnehof. Ein Beitrag zum Verhältnis der französischen und deutschen Minnedichtung zu den Unterhaltungsformen ihres Publikums, in: Zeitschrift für deutsches Altertum und Literatur 101 (1972), S. 117–133, hier S. 121. 54 Vgl. hierzu Kasten, geteiltez spil (wie Anm. 45), S. 18: »Durch die Übertragung der im joc partit enthaltenen dilemmatischen Alternativfrage auf den in der Tenzone ausgebildeten Sängerwettstreit entstand das Partimen, das in der Regel aus fünf oder sechs Strophen und zwei Tornadas besteht.« 55 Vgl. Sebastian Neumeister, Das Spiel mit der höfischen Liebe. Das altprovenzalische Partimen, München 1969, S. 15 f. (vgl. zur Unterscheidung von ›Partimen‹ und ›Tenzone‹ ebd., S. 9–18); vgl. Schirmer, Stil- und Motivuntersuchungen (wie Anm. 47), S. 249, dort Anm. 23. Vgl. zum Streitgedicht im Mittelalter nun auch die umfangreiche von Jörg O. Fichte u. a. herausgegebene Textsammlung, welche die verschiedenen Ausprägungen dieses Texttypus in den europäischen Literaturen herausarbeitet und nebeneinanderstellt: Jörg O. Fichte u. a. (Hg.), Das Streitgedicht im Mittelalter, Stuttgart 2019. 56 Vgl. Ingrid Kasten, Studien zu Thematik und Form des mittelhochdeutschen Streit­ gedichts, Diss. Hamburg 1973, S. 27; Caroline Emmelius, Gesellige Ordnung. Literarische Konzeptionen von geselliger Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit, Berlin 2010, S. 156. 57 Vgl. Kasten, geteiltez spil (wie Anm. 45), S. 18. 58 Neumeister, Das Spiel (wie Anm. 55), S. 193. 59 Fichte schlägt vor, das Streitgedicht nicht als ›Gattung‹, sondern als ›Texttypus‹ zu bezeichnen. Vgl. hierzu ders., Das Streitgedicht im Mittelalter, in: Ders. u. a. (Hg.), Das Streitgedicht (wie Anm. 55), S. XIX : »Das Streitgedicht ist ein Texttypus und keine einheitliche Gattung, die sich stringent definieren ließe. Es partizipiert an vielen Gattungen und Textsorten wie z. B. der Fabel, der Ekloge, der Weisheitsliteratur mit ihren Sprichwörtern und Maximen, der Lehrdichtung, der Allegorie und der Bibelexegese, um nur einige zu nennen. Die gelehrten Verfasser der Streitgedichte jonglieren mit geradezu spielerischer Leichtigkeit mit diesen Textformen.«

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13. und 14. Jahrhundert.60 Das mittelhochdeutsche Streitgedicht orientiert sich vielmehr an der mittellateinischen altercatio.61 In die deutsche höfische Dichtung wird die französische Figuration des ›unentschiedenen Spiels‹ vor allem motivisch übernommen und szenisch in die epische Gattungstradition integriert. Ingrid Kasten, die umfängliche Unter­ suchungen zur Wendung ›geteiltez spil‹ vorgelegt hat, kann am Beispiel von Chrétiens de Troyes »Erec et Enide« (entstanden um 1165/70), Hartmanns Vorlage für seinen ersten Artusroman, aufzeigen, dass »die Formel partir un jeu schon vor der Ausbildung des Partimen […] eine stehende Redewendung im Altfranzösischen« war, die also auch »unabhängig von der gattungsspezifischen Bedeutung existierte«.62 Kasten nimmt an, dass Hartmann nur durch die Kenntnis der Redewendung, nicht aber durch die Kenntnis des literarischen Texttypus die Bedeutung »im Sinne von ›vor einer dilemmatischen Entscheidung stehen‹ so geläufig war, daß er sie in diesem Sinne, der in der Vorlage nicht gegeben war, auf Enites Konflikt übertragen und diesen dadurch vertiefen konnte«.63 Der Gebrauch der Formel setzt die Ausprägung einer literarischen Tradition im deutschen Sprachraum demnach nicht voraus, könnte aber dennoch im Einzelfall auf eine Bekanntheit des altfranzösischen Streitgedichts hinweisen.64 Spricht nicht Hartmanns dialogisch konzipiertes Frühwerk, die »Klage« (um 1180), für sein besonderes Interesse am Texttypus des Streitgedichts? Überhaupt ist zu fragen, weshalb eine literarische Tradition des dilemmatischen Streitgedichts im deutschen Sprachraum, der doch ansonsten so umfänglich vom französischen Literaturbetrieb profitierte, nicht ausgeprägt worden ist. Ursula Peters geht an dieser Stelle von einer selektiven literarischen Rezeption aus: Nachdem das deutsche Publikum das Thema der höfischen Liebe anhand französischer Quellen kennengelernt hatte, brauchte es eine Zeit ›minnetheoretischer Schulung‹, ehe das voraussetzungsvolle Partimen hätte rezipiert und umgesetzt werden können.65 Das »Genre des dilemmatischen Streitgedichts« ist stattdessen »in Deutschland […] ganz entscheidend verändert worden«.66 Kasten konkretisiert die spezifische deutsche Schwerpunktsetzung im Gebrauch der vom Texttypus verselbstständigten spil-Formel: »Das Interesse an der Lösung des Konflikts steht vielmehr im Vordergrund und verleiht dem geteilten spil eine weit stärkere Affinität zu einem Rechtshandel […].«67 Es zeigt sich somit eine gewisse Selbstständigkeit der Verwendung im deutschen Sprachraum, die aufgrund 60 Vgl. Peters, Cour d’amour (wie Anm. 53), S. 129 f. 61 Vgl. Kasten, geteiltez spil (wie Anm. 45), S. 17. 62 Ebd., S. 29 f. Vgl. hierzu auch Kasten, Studien (wie Anm. 56), S. 21–39 (zum jeu-parti). Der entsprechende Textauszug aus Chrétiens Artusroman findet sich im Folgenden in Anm. 79. 63 Kasten, geteiltez spil (wie Anm. 45), S. 30. 64 Peters, Cour d’amour (wie Anm. 53), S. 125. 65 Vgl. ebd., S. 126. 66 Ebd., S. 125. 67 Kasten, geteiltez spil (wie Anm. 45), S. 30.

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der Bevorzugung einer dem Rechtshandel angepassten Konfliktlösung anstelle einer minne­kasuistischen Erörterung auch Beleg einer spezifischen literarischen ›Kultur des Entscheidens‹ sein könnte.

4. geteiltez spil bei Hartmann von Aue Dieser besonderen Entscheidensfiguration soll nun weiter nachgegangen werden. Charakteristisch für die zur Rede stehende Wendung ›geteiltez spil‹ ist die Identifizierung einer solchen Unentschiedenheit durch ein sprechendes Ich, das sich mit einer schwierigen Auswahl konfrontiert sieht. Unterschieden werden kann zwischen dilemmatischen und nicht-dilemmatischen Entscheidens­ problemen. In der oben bereits genannten »Klage« Hartmanns, einem vermutlich zu Beginn seines dichterischen Schaffens entstandenen Streitgespräch zwischen lîp und herze über Sinn und Wesen des Minnedienstes im Körper eines verliebten Jünglings, klagt derselbe im abschließenden Liebesgeständnis gegenüber der Angebeteten: Dîn spil ist mir geteilet sô daz ich noch erwerbe des mîn herze wirdet frô, oder gar an freude ersterbe.68 daz ist mir ein swæriu drô, wilt dû daz ich verderbe.69

Die resümierende Entfaltung der Alternative zwischen einem guten, erwünschten und einem schlechten, unerwünschten Ende stellt die Abhängigkeit von der Gunst der Dame auf Dauer. Die im spil üblicherweise gebotene Auswahl bleibt unverfügbar durch die vollständige Abhängigkeit vom Entscheiden der Angebeteten, das sich dem klagenden Ich entzieht. Diese Situation wird als swæriu drô empfunden.70 Indem die Handlungsmacht des Ichs angesichts der 68 Gärtner, der die neueste Ausgabe von Hartmanns »Klage« besorgt hat (s. Anm. 39), kommentiert an dieser Stelle: »erstërben mit Präp. an stV. ›an etw. sterben‹« und setzt an gegen on in Hs. A. Ich möchte in V. 1908 jedoch im Sinne der Wendung ein spil teilen und im Sinne einer Variante zu on âne anstatt an lesen. Vgl. auch ebd., V. 146 f.: daz ich von ir verderbe / und gar âne freude werbe. Vgl. auch die Übersetzung der Schlussstrophe durch Ineke Hess: »Sein (= des Herzens) Spiel hat zwei Optionen für mich, so dass ich entweder noch erlange, weswegen mein Herz froh werden wird, oder aber vollkommen freudlos sterbe. Das ist eine schreckliche Aussicht für mich, wenn du willst, dass ich zugrunde gehe« (Dies., Selbstbetrachtung im Kontext höfischer Liebe. Dialogstruktur und Ich-Konstitution in Hartmanns von Aue ›Klage‹, Berlin 2016, S. 275). 69 Hartmann von Aue, Klage (wie Anm. 39), V. 1905–1910. 70 Auch Zutt bekräftigt, dass die Wendung ein spil teilen hier »umgekehrt« aufgefasst werden müsse, da der Sprecher gerade keine Wahl habe. Vgl. Herta Zutt (Hg.), Hartmann von Aue, Die Klage. Das (zweite) Büchlein aus dem Ambraser Heldenbuch, Berlin 1968, S. 175.

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»Entscheidungsgewalt«71 der Dame überhaupt zu hinterfragen ist – der Jüngling kann ja gerade nicht entscheiden, ist vielmehr ohnmächtig –, wird die Wahl in ihrer Andeutung und ihrer gleichzeitigen Unverfügbarkeit paradoxiert. Ein dilemmatisches Entscheidensproblem hingegen stellt sich der Sprecherin in der zweiten Strophe in Hartmanns Frauenlied Swes vröide hin ze den bluomen stât: Die vriunde habent mir ein spil geteilet vor, dêst beidenthálbèn verlorn: – doch ich ir einez nemen wil âne gúot wál, sô waere ez baz verborn – Si jehent, welle ich minne pflegen, sô müeze ich mich ir bewegen. doch sô râtet mir der [] muot ze beiden wegen.72

Das Themenfeld des Ringens um Minne verbindet die Beispiele. Im Frauenlied handelt es sich jedoch um eine Wahl zwischen zwei Übeln und in der Darstellung der Entscheidensfiguration um den Ausdruck eines inneren Kampfes mit einem Dilemma: Entweder verliert die Sprecherin, die mit den Alternativen konfrontiert wird, ihre Angehörigen oder ihren Geliebten – eine Entscheidung bedeutet so oder so eine Zumutung und einen Verlust. Sie schiebt sie in dieser Strophe zunächst auf, um sich anschließend für den Geliebten zu entscheiden. In Hartmanns Artusroman »Erec« initiiert die Wendung ein spil teilen hingegen die narrative Entfaltung eines Entscheidensprozesses: Erec, ein junger Artusritter, hat die Hand Enites gewonnen und die Herrschaft seines Vaters übernommen. Am Hof gibt er sich der Liebe hin und vernachlässigt seine Herrscherpflichten. Unter dem Vorwand eines Spazierritts bricht das Paar schließlich auf, um seine Ehre wiederherzustellen. Erec befiehlt Enite, voranzureiten und unter keinen Umständen zu sprechen. Als ein Überfall durch Räuber droht, muss die Gefährtin das auferlegte Schweigegebot brechen, um Erec zu warnen. Sie zweifelt, ob sie schweigen oder sprechen soll, und wendet sich schließlich in einer inneren »Entscheidungsrede«73 an Gott:

71 Hess, Selbstbetrachtung (wie Anm. 68), S. 86. 72 Des Minnesangs Frühling (wie Anm. 39), 216,8–14. 73 Emil Walker, Der Monolog im höfischen Epos. Stil- und literaturgeschichtliche Untersuchungen, Stuttgart 1928, S. 181 (Hervorhebung nicht übernommen): »Wenn […] der Dichter in Entscheidungsreden Aufgaben stellt, die mit ethischen Argumenten gelöst werden, so offenbart er die Gesinnung seiner Figuren auf die unmittelbarste Weise und fördert die innere Motivierung des Handelns.« Vgl. zur Differenzierung von inneren und gesprochenen Monologen auch Nine Miedema, Gedankenrede und Rationalität in der mittelhochdeutschen Epik, in: Klaus Ridder u. a. (Hg.), Reflexion und Inszenierung von Rationalität in der mittelalterlichen Literatur. Blaubeurer Kolloquium 2006, Berlin 2008, S. 119–160. Zum Begriff der Entscheidungsrede s. auch den Beitrag von Tim Rojek in diesem Band.

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›rîcher got der guote, ze dînen genâden suoche ich rât: dû weist al eine, wie’z mir stât. mîner sorgen der ist vil, wan mir ein unsenftez spil in einer sô kurzen vrist ze gâhes vor geteilet ist. nû enkan ich des wægesten niht ersehen: waz sol mir armen geschehen? wan swederz ich mir kiese daz ich doch verliese. […].‹74

Die Sprecherin beklagt die Konfrontation mit der ungünstigen Auswahl zwischen gleichen Gütern, die beide unerwünscht sind, und hebt zudem zweifach den Zeitdruck – er ist es laut Hermann Lübbe, der aus einer Wahl eine Entscheidung macht75 – als Komplikation hervor (in einer sô kurzen vrist; ze gâhes).76 Das Sinnbild der Waage bemühend gibt sie an, nicht erkennen zu können, welches der Güter das wægeste ist (utra lex potentior77), also den Ausschlag gibt und damit der bessere Teil ist.78 In seiner altfranzösischen Vorlage, Chrétiens de Troyes »Erec et Enide«, findet Hartmann an dieser Stelle das Motiv des ›geteilten Spiels‹, anhand dessen er Enites internalisiertes Entscheiden entfaltet, nicht, sondern lediglich den Verweis auf die Ungleichheit und Ungerechtigkeit des von Enite vorausgesehenen ›Spiels‹ zwischen dem Artusritter und den Räubern.79 Nachdem bereits Emil Walker die literarische Inszenierung des »Zustand[s] des Zweifels und de[s] Akt[s] des Wählens (sittlichen Entscheidens)« als Spiegelung einer Entwicklung hin zum »Ich-Bewußtsein« in den Blick genommen hat,80 heben auch Dieter Kartschoke und Uta Störmer-Caysa die Bedeutung des »Entscheidungsmonologs« für die Entwicklung eines heldischen Gewissens in der

74 Hartmann von Aue, Erec (wie Anm. 39), V. 3149–3159. 75 Vgl. Hermann Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde u. a. (Hg.), Collegium Philosophicum. Studien. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel 1965, S. 118–140, hier S. 130. 76 Vgl. zur Szene auch Lambertus Okken, Kommentar zur Artusepik Hartmanns von Aue, Amsterdam 1993, S. 102. 77 Kasten, geteiltez spil (wie Anm. 45), S. 29. 78 Vgl. Art. ›wæge‹, in: Lexer, Mittelhochdeutsches Handwörterbuch (wie Anm. 43). 79 Vgl. hierzu Kasten, geteiltez spil (wie Anm. 45), S. 29 f. Vgl. Chrétien de Troyes, Erec et Enide. Erec und Enide. Altfranzösisch / Deutsch. Übers. u. hg. v. Albert Gier, Stuttgart 1987, V. 2829–2833: ›Dex, fet ele, que porrai dire? / Or iert ja morz ou pris mes sire, / car cil sont troi et il est seus; / n’est pas a droit partiz li jeus / d’un chevalier ancontre trois; […].‹ ›Gott‹, rief sie, ›was kann ich sagen? Jetzt wird mein Herr getötet oder gefangen; denn es sind drei gegen ihn, und er ist allein; in diesem Spiel sind die Rollen nicht gerecht verteilt, ein Ritter gegen drei […].‹ 80 Walker, Der Monolog (wie Anm. 73), S. 181 f. (Hervorhebung nicht übernommen).

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höfischen Literatur hervor.81 Er wird zunächst, wie der Minnemonolog, »Frauen und (eher passiven) Nebenfiguren« in den Mund gelegt.82 Enite resümiert und problematisiert in der genannten Szene ihre Wahlmöglichkeit zwischen zwei Übeln – ihr Leben steht in diesem als Kasus formulierten Dilemma83 gegen das ihres Gefährten: ›[…] warne ich mînen lieben man, dâ nim ich schaden an, wan sô hân ich den lîp verlorn. wirt aber diu warnunge verborn, daz ist mîns gesellen tôt. jâ ist einer selhen nôt wîbes herze ze kranc.‹84

Die Zumutung dieses ›Spiels‹ wird als nôt beschrieben, der sie als wîp nicht gewachsen sei85 – sie ordnet ihr Leben schließlich dem ihres Mannes unter.86 Sie entscheidet – nû kam der muot in ir gedanc87 –, für Erec sterben zu wollen, das heißt gegen sein Gebot zu verstoßen und ihn durch ihre Warnung zu retten. Die Auflösung des dilemmatischen Entscheidensproblems wird an dieser Stelle also durch die Aufhebung der Gleichheit der Güter und somit durch eine ›Optionenreduktion‹ erreicht: ›bezzer ist verlorn mîn lîp, ein als unklagebære wîp, dan ein alsô vorder man, wan dâ verlür maneger an. er’st edel unde rîche: wir wegen ungelîche. 81 Vgl. Kartschoke, Der epische Held (wie Anm. 20) und Störmer-Caysa, Gewissen und Buch (wie Anm. 2), v. a. S. 48–57 (»Exkurs: Enites Entscheidungsmonolog und seine Bewertung«). 82 Kartschoke, Der epische Held (wie Anm. 20), S. 168. 83 Vgl. ebd., S. 173 f. 84 Hartmann von Aue, Erec (wie Anm. 39), V. 3160–3166. 85 Die Darstellung der Enite, ihre Gesprächsanteile und die spezifische Partnerschaftskonstellation im »Erec« wurden vielfach untersucht. Eine gendertheoretische Perspektive auf die Figur der Enite ist eng mit der (ebenfalls breit erforschten) Thematik von Reden und Schweigen in Hartmanns erstem Artusroman verbunden. Vgl. hier stellvertretend Britta Bußmann, dô sprach diu edel künegîn … Sprache, Identität und Rang in Hartmanns Erec, in: Zeitschrift für deutsches Altertum 134 (2005), S. 1–29 sowie Barbara Haupt, … ein vrouwe hab niht vil list. Zu Dido und Lavinia, Enite und Isolde in der höfischen Epik, in: Heinz Finger (Hg.), Die Macht der Frauen. Düsseldorf 2004, S. 145–168, die darauf hinweist, dass sich die Macht zentraler Frauenfiguren der höfischen Klassik vor allem in Form ihrer »Sprachmächtigkeit« zeige. 86 Vgl. hierzu auch Hartmann von Aue, Erec (wie Anm. 39), V. 3811–3815. 87 Ebd., V. 3167.

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vür in wil ich sterben ê ich in sihe verderben, ez ergê mir, swie got welle. […].‹88

Im Vergleich der unterschiedlichen gesellschaftlichen Bedeutung der Ehepartner – wir wegen ungelîche – erkennt Enite den Grund, weshalb die Unterordnung ihres Lebens unter dasjenige des Ritters geboten scheint. Sie warnt Erec, der sich erfolgreich gegen die Räuber verteidigt und ihr Leben schont. Walker erkennt in der Entscheidungsrede Enites ein »Schema, das sich […] an den natürlichen Verlauf des Willensaktes anschmiegt« und das in seiner sich bei Hartmann zeigenden »[a]usgebildete[n]« Form einem »strenge[n], logische[n] Aufbau« folgt. Zunächst findet sich die »einleitende Klage und allgemeine Charakterisierung der Lage«, dann eine »Auseinandersetzung der Alternative; Unschlüssigkeit«, ein »Uebergang« – Enites Eingebung – und schließlich die »Entscheidung für die eine Gefahr und Motivierung«.89 Diese Episode findet im Roman anschließend eine gesteigerte Wiederholung. Wiederum ruft Enite Gott an, um sich erneut über das Verbot hinwegzusetzen und sich damit für die Warnung Erecs zu entscheiden,90 wiederum wird ihr Leben geschont. Hier folgt die Darstellung des Entscheidens »einer einfacheren Form«.91 Das unsenfte spil nun ermöglicht im Erzählen Hartmanns die Erprobung Enites als Partnerin und als Erecs »extrapolierte[s] Gewissen«:92 »Die Entscheidung selbst […] hebt den Wert der so wägenden Frau«,93 die sich selbst unterordnet. Allerdings ist fraglich, ob mit der Abfolge von Gottesanrufung und Entscheiden nicht eher eine Einwirkung Gottes nahegelegt wird als ein selbstständiges Entscheiden der Figur als Akt ihrer Bewährung. Wurde Enite der muot nicht von Gott eingegeben? Inwiefern beeinflusst die Annahme göttlicher Inspiration die Beurteilung dieser höfischen Entscheidensfiguration? Im Hinblick auf göttliche Intervention zeigt sich eine Analogie zwischen Kämpfen und Entscheiden: Da der Zweikampf als Gottesurteil im höfischen Erzählen so inszeniert wird, dass Gott die Hand des siegreichen Streiters führt, liegt es nahe, dass Gott auch hier die richtige Entscheidung unterstützt. Der ›höfische Gott‹ sanktioniert nicht nur die gute Tat und den Rechtsanspruch, er erscheint ebenso

88 Ebd., V. 3168–3176. 89 Walker, Der Monolog (wie Anm. 73), S. 184 f. (Hervorhebung nicht übernommen). 90 Hartmann von Aue, Erec (wie Anm. 39), V. 3371–3377: ›[…] got rât mir armen wîbe, / wie ich ez ane vâhe, / daz ich mich niht vergâhe. / ich, wæne, ez solde verdagen. / entriuwen niht, ich sol im’z sagen: / ze swelher nôt ez mir ergê, / ez wirt gewâget alsam ê.‹ 91 Walker, Der Monolog (wie Anm. 73), S. 185. 92 Gegen diese Einordnung Kartschokes, Der epische Held (wie Anm. 20), S. 173, wendet sich Störmer-Caysa, die Enites Interventionen nicht als Entscheidungen für Erec versteht. Vgl. dies., Gewissen und Buch (wie Anm. 2), S. 48 u. 51. 93 Kartschoke, Der epische Held (wie Anm. 20), S. 169.

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als Herr des Spiels und des Entscheidens, ohne dass dies zu einer Schmälerung heldischen Ruhms führen würde. Individuelle Bewährung kann somit in Hartmanns Artusromanen als ›heldische Bewährung mit göttlicher Unterstützung‹ gedacht werden, wobei eine tiefere Auseinandersetzung im Sinne einer »monologischen Selbstvergewisserung« vor allem dann umgesetzt wird, wenn es sich um dilemmatische Entscheidensprobleme handelt.94 Auf diese Weise zeigt sich die Verbindung von Spiel und Entscheiden auch in Bezug auf den Romanhelden: Erec gelangt am Ende seines Bewährungswegs zur Burg Brandigan. Das Auffinden dieses magischen Ortes gestaltet sich – anders als in der altfranzösischen Vorlage Hartmanns, in der die Burg auf ›geradem Weg‹ erreicht wird95 – schicksalhaft: nû truoc si der huofslac ûf einer schœnen heide an eine wegescheide: welh wec ze Britanje in daz lant gienge, daz was in unerkant. die rehten strâze si vermiten: die baz gebûwen si riten.96

Mit dem Einschlagen der ausgebauten, ›besseren‹ Straße verfehlen die Reitenden ihr eigentliches Ziel, den Artushof, und gelangen stattdessen an einen Ort des Schreckens. Die christliche Wegmetaphorik (vgl. Mt 7,13 f. u. 25,34.41), die mit dem bivium-Motiv eine Urszene von Entscheiden formt,97 scheint mit der Wahl des breiten Weges in Verbindung mit dem drohenden Unheil zunächst aufzugehen. Doch diese Figuration wird verkehrt: Die âventiure mit dem Namen Joie 94 95 96 97



Ebd., S. 172. Vgl. Chrétien von Troyes, Erec et Enide (wie Anm. 79), V. 5319–5324. Hartmann von Aue, Erec (wie Anm. 39), V. 7811–7817. Vgl. hierzu umfassend Wolfgang Harms, Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges, München 1970; vgl. zum Motiv bei Hartmann Okken, Kommentar (wie Anm. 76), S. 196–218 sowie Hinrich Siefken, Der sælden strâze. Zum Motiv der zwei Wege bei Hartmann von Aue, in: Euphorion. Zeitschrift für Literaturgeschichte 61 (1967), S. 1–21. Vgl. zur Entscheidung an der Wegscheide auch Ernst Trachsler, Der Weg im mittelhochdeutschen Artusroman, Bonn 1979, S. 16 f., 209–217, der allerdings die Bedeutung der Wegscheide für den Abenteuerweg des höfischen Ritters relativiert. Hartmann hat das bivium-Motiv im »Gregorius« (wie Anm. 15) in Bezug auf die Lebensentscheidung im Dialog zwischen dem Findelkind und dem Abt Gregorius umgesetzt: ›[…] got hât vil wol ze dir getân: / er hât von sînen minnen / an lîbe und an sinnen / dir vil vrîe wal gegeben, / daz dû nû selbe dîn leben / maht schepfen unde kêren / ze schanden oder ze êren. / nû muostû disen selben strît / in disen jâren, ze dirre zît / under disen beiden / nâch dîner kür scheiden, / swaz dû dir wilt erwerben, / genesen oder verderben, / daz dû des nû beginnen solt. […]‹ (V. 1436–1449). Siehe zu dieser Szene und ihrem Fortgang ausführlich Siefken, Der sælden strâze (s. o.), S. 6–10; Trachsler, Der Weg (s. o.), S. 211–213; Harms, Homo viator (s. o.), S. 35–40. Das Motiv des Scheidewegs untersucht in diesem Band zudem Martina Wagner-Egelhaaf.

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de la curt, die sich dem Helden hier stellt, nämlich der Kampf gegen den mit seiner Gefährtin isoliert in einem Baumgarten lebenden Ritter Mabonagrin, fungiert als symbolischer Kampf gegen Erecs eigene Verfehlung. Erec erkennt in der am Ende des vermeintlich verkehrten Weges wartenden âventiure freudig seine Bestimmung:98 ›ich weste wol, der selbe wec99 gienge in der werlde eteswâ, rehte enweste ich aber wâ, wan daz ich in suochende reit in grôzer ungewisheit, unz daz ich in nû vunden hân. got hât wol ze mir getân, daz er mich hât gewîset her, dâ ich nâch mînes herzen ger vinde gar ein wunschspil, dâ ich lützel wider vil mit einem wurfe wâgen mac. ich suochte’z unz an disen tac: gote sî lop, nû hân ich’z vunden, dâ ich wider tûsent phunden wâge einen phenninc. diz sint genædeclîchiu dinc, daz ich hie vinde selh spil. […].‹100

Was sich in dieser vielbeachteten Szene zeigt, ist zum einen die motivische wie semantische Verschmelzung von Kampfspiel und Glücksspiel. Zum anderen zeigt sich die Transzendierung von Entscheiden durch die als schicksalhaft beschriebene Wegführung, die sich in der Erwartung Erecs als Heilsbringer durch »eine Art Kontrafaktur des biblischen Wegebildes«,101 nämlich durch eine verkehrte Richtungssymbolik als »Anti-Szene« auszeichnet:102 »Der Abenteuerweg«, das wird hier, wie Ernst Trachsler herausstellt, deutlich, »hat seine

98 Vgl. zur Diskussion der Szene auch den Kommentar von Scholz in der zitierten Ausgabe von Hartmanns »Erec« (wie Anm. 39). 99 Auf die folgenreiche Konjektur Bechs zu der Sælde wec – vgl. auch hierzu den Stellenkommentar der zitierten »Erec«-Ausgabe (wie Anm. 39), S. 948 f. – soll hier nicht eingegangen werden. 100 Hartmann von Aue, Erec (wie Anm. 39), V. 8521–8538. 101 Vgl. zur heilsgeschichtlichen Determinierung dieser Passage, zum Zusammenhang von Bewährung und Heil im arthurischen Roman, zum Virtuosentum nach Weber sowie zum Spiel als Handlungstyp bei Giorgio Agamben Bruno Quast, »Ein saelic spil«. Virtuosentum im arthurischen Roman, in: Zeitschrift für Germanistik 19 (2009), S. 510–521, hier S. 510. 102 Siefken, Der sælden strâze (wie Anm. 97), S. 15.

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eigenen, nicht von vornherein erkennbaren Gesetze.«103 Was letztlich zur Vervollkommnung und moralischen Rehabilitierung des Artusritters führt und wofür Erec Gott dankt, ist die Möglichkeit der kämpferischen wie sozialen Bewährung im wunschspil, das hier als besonders günstiges daherkommt: Es wartet hoher Lohn bei geringem Einsatz. Die Möglichkeit der Entscheidung im spil wird als ›Gnadengeschenk‹ bezeichnet – das Handschriftenfragment K des Erec führt zudem statt selh spil (›ein solches Spiel‹)104 den Ausdruck ein sælic spil (›ein gnadenvolles Spiel‹), der den bevorstehenden Kampf mit Nachdruck an die schicksalhafte Wegführung zurückbindet.105 Hartmann setzt die Verbindung von Kampfspiel und Glücksspiel als Angebot der Bewährung auch im »Gregorius« ein und unterstreicht damit in seinem um 1186 entstandenen Legendenroman das Wagnis des weltlich-ritterlichen Aventiureweges, auf den sich der prospektiv heilige Protagonist kurzzeitig begibt. Hartmanns Werk erzählt vom Leben des inzestuös gezeugten Gregorius, der ausgesetzt und in der Fremde zunächst bei einer Fischerfamilie, schließlich im Kloster aufgezogen wird. Auf der Suche nach seiner Bestimmung gewinnt er die Hand seiner Mutter und geht mit ihr wiederum eine inzestuöse Beziehung ein. Als die Verwandtschaft ans Licht kommt, entschließt sich Gregorius zu radikaler Buße auf einem Felsen. Wunderzeichen weisen schließlich seine Heiligkeit aus und er wird nach vielen Jahren in der Einsamkeit zum Papst erwählt. Im Legendenroman verdeutlicht die Spielmetaphorik im inneren Monolog des Gregorius, dass die überzeugte Verfolgung von Ritterschaft Risikobereitschaft voraussetzt. Der Klosterschüler, der sich Ritterschaft bisher nur theoretisch angeeignet hat, versucht seine Chance im Kampf gegen den das Land der Mutter belagernden Herzog einzuschätzen, indem er den Vergleich zum »Wurfzabel«Spiel sucht.106 Wiederum sind die Inszenierung des Entscheidens und die Entfaltung der Spielmetaphorik, die im Folgenden nachgezeichnet werden sollen, Zugaben Hartmanns gegenüber der altfranzösischen Vorlage, hier der »Vie du pape Saint Grégoire« eines unbekannten Autors.107 Nicht nur das ›geteilte‹, unentschiedene Spiel (glîchez spil)108 wird, so vergegenwärtigt sich Gregorius, vom leidenschaftlichen ›Spieler‹ angegangen, sondern auch ein ›ungleiches‹ (ungelîch) Spiel wird gewagt:

103 Trachsler, Der Weg (wie Anm. 97), S. 216. 104 Hartmann von Aue, Erec (wie Anm. 39), V. 8538. 105 Vgl. hierzu ausführlich Quast, »Ein saelic spil« (wie Anm. 101). 106 Vgl. zur Einordnung des mittelalterlichen Brettspiels den Kommentar zur Stelle in der »Gregorius«-Ausgabe von Mertens (wie Anm. 15). 107 La vie du pape Saint Grégoire ou La légende du bon pécheur. Das Leben des heiligen Papstes Gregorius oder Die Legende vom guten Sünder. Text nach der Ausg. v. Hendrik Bastiaan Sol mit Übers. u. Vorwort v. Ingrid Kasten, München 1991. 108 Nur Hs. A von Hartmanns »Gregorius« (wie Anm. 15) bezeichnet an dieser Stelle das Spiel als geteiltez; die übrigen Textzeugen führen glîchez (vgl. das Lesartenverzeichnis in der zitierten Ausgabe von Mertens).

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›nû sihe ich dicke daz ein man der zabel sêre minnet, swenne er daz guot gewinnet daz er ûf zabel wâgen wil, vindet er danne ein glîchez spil, sô dunket er sich harte rîch: und istz joch ein teil ungelîch, er bestâtz ûf einen guoten val. nû hân ich eines spiles wal. bin eht ich sô wol gemuot daz ich mîn vil armez guot wâge wider sô rîche habe, daz ich iemer dar abe geêret und gerîchet bin, ob mir gevallet der gewin. […].‹109

Die Möglichkeit des Spiels setzt einen Entscheidensprozess in Gang. Gregorius wägt die jeweiligen Folgen der verschiedenen Optionen ab: Gewinnt er den Kampf, wird er êre gewinnen, tritt er nicht zum Kampf an, wird ihm Feigheit unterstellt,110 und wenn er den Kampf verliert, bedeutet dies seinen Tod. Er erkennt, dass sich ihm, der nur wenig zu verlieren hat, der aber all seinen Mut aufbringt, eine günstige Gelegenheit in diesem spil bietet: ›[…] mac ich nû disen herzogen ûf gotes gnâde bestân? nû weiz ich doch wol daz ich hân beidiu sterke und den muot. ich wil benamen diz arme guot wâgen ûf disem spil. man klaget mich niht ze vil, ob ich von im tôt gelige: ist aber daz ich im an gesige, sô bin ich êren rîche iemer êwiclîche. daz wizze man unde wîp, mir ist lieber daz mîn lîp bescheidenlîche ein ende gebe dan daz ich lasterlîchen lebe.‹111

109 Hartmann von Aue, Gregorius (wie Anm. 15), V. 2028–2042. 110 Vgl. hierzu ebd., V. 2049–2051. 111 Ebd., V. 2052–2066.

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Er entschließt sich zum Kampf und geht siegreich aus selbigem hervor. Was aus der Perspektive weltlich-ritterlicher Aventiure als Ruhmestat erscheint, führt im legendarischen Erzählen jedoch in ironischer Verkehrung ins Verderben. Mit seinem Sieg erwirbt Gregorius unwissentlich die Hand seiner Mutter und steuert damit geradewegs in die Sünde des Inzests. In Hartmanns von Aue zweitem Artusroman »Iwein« (um 1200), in dem der Ausdruck spil weitaus seltener gebraucht wird als im »Erec«, findet sich dann die im Eingang dieses Beitrags umrissene Entscheidensfiguration, die mit dem inneren Monolog Enites vergleichbar ist und für die Chrétiens »Yvain« wiederum keine Vorlage bietet.112 Hartmanns Werk erzählt die Geschichte des Artusritters Iwein, der, wie Erec, ein zunächst gewonnenes Glück durch Fehlverhalten verliert: Iwein verpasst eine von seiner Gattin Laudine gesetzte Jahresfrist, woraufhin sie die Verbindung zu ihm aufkündigt. Er verliert seine Ehre, zudem kurzzeitig Verstand und Identität, und setzt dann zur Wiederherstellung seines Rufes an. Er gewinnt einen Löwen als Gefährten und stellt in einer Reihe von âventiuren und Gerichtskämpfen unter Beweis, sich an gesetzte Fristen zum Wohle anderer halten zu können. Iwein trifft so auf einen Burgherrn, der von einem grausamen Riesen heimgesucht wird. Er verspricht, gegen den Unhold zu kämpfen, wenn es sich zeitlich mit einem anderweitig versprochenen Stellvertreter-Zweikampf vereinbaren lässt. In beiden Fällen geht es um Leib und Leben. Als der Riese sich verspätet und Iwein aufbrechen müsste, um im Zweikampf für seine Vertraute Lunete zu streiten, muss er eine Entscheidung treffen: des wart sîn muot zwîvelhaft. er gedâhte: ›ich bedarf wol meisterschaft, sol ich daz wægest ersehen. mir ist ze spilne geschehen ein zegâch geteiltez spil, dazn giltet lützel noch vil, niuwan alle mîn êre. ich bedarf wol guoter lêre. unde weiz wol, swerderz ich kiuse, daz ich daran verliuse. […].‹113

Dem inneren Monolog geht, wie auch im Falle der Entscheidungsrede der Enite, ein Verweis auf das Zweifeln und Schwanken des Helden voraus. Auch Iwein hat es mit einem dilemmatischen ›geteilten Spiel‹ unter Zeitdruck (zegâch, ›zu schnell‹) zu tun; was er auch wählt  – wiederum geht es darum, daz wægest zu erkennen  –, es wird negative Folgen zeitigen. Die Rede Iweins ist jedoch, anders als der Monolog Enites, nicht als Gebet gerahmt. Vielmehr scheint der Artusritter zunächst eigenes Wissen und seine Erfahrung für die besondere 112 Chrestien de Troyes, Yvain. Übers. und eingel. v. Ilse Nolting-Hauff, München 1962. 113 Hartmann von Aue, Iwein (wie Anm. 1), V. 4869–4878.

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Herausforderung aufzurufen. Dass Iwein versucht, das Dilemma durch weiteren Informationsgewinn aufzulösen, zeigt sich in der Ausstellung seiner Beratungsbedürftigkeit und dem Eingeständnis der eigenen Ratlosigkeit.114 Schließlich wendet sich auch Iwein an Gott: ›[…] nû gebe mir got guoten rât, der mich unz her geleitet hât, daz ich mich beidenthalp bewar alsô daz ich rehte gevar. […].‹115

Sein Nachdenken wird durch die Ankunft des Riesen unterbrochen. Eine Entscheidung zwischen gleichen Gütern wird damit hinfällig, da die Terminkollision aufgelöst wird. Wiederum, wie bereits im Falle internalisierten Entscheidens durch Enite, liegt es nahe, das Eintreffen des Riesen und damit die Auflösung des Dilemmas mit der Anrufung Gottes in Verbindung zu bringen. Iwein ist auf äußerliche Hilfe angewiesen, ein »innere[s] Forum von Urteil und Entscheidung«,116 für das der Entscheidensmonolog Raum bieten könnte, ist in beiden Fällen nicht gegeben. Entscheiden bleibt letztlich abhängig von transzendenter Macht.

5. Schluss Ausgehend von strukturellen Analogien zwischen den Handlungen ›Entscheiden‹ und ›Spielen‹ als Basis einer auf Entscheiden übertragbaren Spielmetaphorik wurde in diesem Beitrag der semantischen und narrativen Verfasstheit von Entscheidensprozessen im Werk Hartmanns von Aue nachgegangen. Dabei hat sich zunächst gezeigt, dass das mittelhochdeutsche Verb entscheiden für soziales prozessual vollzogenes Entscheiden wenig signifikant ist und stattdessen entweder die Handlung konkretisierende Verben oder Wendungen mit Substantiven ausgewählt werden, um Entscheidenshandeln zu beschreiben. Die Wendungen ein spil teilen sowie (un)geteiltez spil erweisen sich dabei als in besonderer Weise mit (dilemmatischen) Entscheidensszenen verbunden und basieren sowohl auf einer Übernahme aus dem Altfranzösischen als auch auf der komplexen Polysemie des mittelhochdeutschen Ausdrucks spil. Um die Verwendung in verschiedenen Kontexten und Gattungen abzubilden, wurde der Gebrauch des Ausdrucks im Werk Hartmanns von Aue untersucht. Hartmann schöpft die Polysemie von spil aus und bietet das Motiv des ›geteilten Spiels‹ in Variation auf, um Entscheidensszenen im Sinne einer Bewährung zu 114 Vgl. ebd., V. 4876 u. 4883. 115 Ebd., V. 4889–4892. 116 Kartschoke, Der epische Held (wie Anm. 20), S. 179.

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gestalten. Indem der Ausdruck spil die für die höfische Literatur um 1200 so einschlägigen Themenkomplexe ›ritterlicher Kampf‹, ›Wettstreit‹ sowie ›unterhaltsamer Zeitvertreib‹ mit der Thematik des Entscheidens verbindet, verweist seine Verwendung auf den zentralen Ort des Entscheidens im höfischen Erzählen. Die auf diese Weise aufgezeigte Entscheidenssemantik (ein spil teilen), die motivisch (im Altfranzösischen bis hin zur Gattungsbezeichnung) verdichtet wird (geteiltez spil), kann wiederum, wie der Blick auf die Erzählungen Hartmanns von Aue zeigt, narrativ in Form eines internalisierten Entscheidens­monologs entfaltet werden. Anders als in der altfranzösischen Gattungstradition des dilemmatischen Streitgedichts, im Rahmen dessen die kunstvolle Darlegung des Für und Wider im Vordergrund steht, präferiert die deutsche Adaptation des Motivs eine Modifikation hin zur eindeutigen Konfliktlösung. Hierin ist, wie mit Kasten gezeigt wurde, eine strukturelle Angleichung an den Rechtshandel zu erkennen, die darauf verweisen könnte, dass im deutschen Sprachraum im Zusammenhang mit literarischem Entscheiden die Orientierung an Rechtsinstitutionen und die Einnahme einer innerweltlichen Heilsperspektive von besonderer Bedeutung und von größerem Gewicht ist als die Etablierung einer literaturimmanenten höfischen (Minne-)Kasuistik. Der internalisierte, monologisch verhandelte Entscheidensprozess wird in den Dienst einer göttlichen Externalisierung heldischen Entscheidens gestellt. Die Inszenierung von Entscheiden mittels der Spielmetaphorik zeigt bei Hartmann von Aue dabei eine besondere Verbindung zur ritterlichen Aventiure und begegnet deshalb offenbar auch im religiösen Erzählen nur im Kontext des eingefügten Aventiureschemas. Im »Armen Heinrich«, der zweiten um 1190 verfassten religiösen Erzählung Hartmanns, begegnet das ›geteilte Spiel‹ nicht, obschon wechselseitig aufeinander bezogene »personale Entscheidungen« der Protagonisten im Zentrum der mirakelhaften Handlung stehen.117 117 Die Erzählung vom »Armen Heinrich« handelt von dem an Aussatz erkrankten Heinrich, der nur durch das Herzblut einer Jungfrau geheilt werden kann. Eine Meierstochter will ihr Leben für ihn geben. Sie überzeugt ihre Eltern durch eine theologische Argumentation und beide reisen zur Behandlung nach Salerno. Kurz vor der Opferung des Mädchens bewirkt der Anblick der Schönheit desselben eine innere Umkehr Heinrichs, der zusammen mit der Meierstochter den Heimweg antritt. Gott belohnt die Opferbereitschaft des Mädchens und die Besinnung Heinrichs mit der wunderbaren Heilung des Aussatzes. Die Erzählung nimmt schließlich mit der Heirat des ungleichen Paares ein gutes Ende. Vgl. für den Entschluss der Meierstochter, für Heinrich zu sterben, Hartmann von Aue, Der arme Heinrich (wie Anm. 10), V. 525–528 u. 562–564. Für Heinrich stellt sich das Entscheidensproblem, ob er das Opfer annehmen oder ausschlagen soll: nû begunde ouch der herre / gedenken alsô verre / an des kindes triuwe, / und begreif in ouch ein riuwe, / daz er sêre weinen began, / und zwîvelte vaste dar an / weder ez bezzer getân / möhte sîn oder verlân (ebd., V. 999–1006). Heinrich entscheidet sich im inneren Monolog schließlich gegen das Opfer des Mädchens (vgl. ebd., V. 1234–1280). Christoph Cormeau / Wilhelm Störmer weisen darauf hin, dass »[d]ie zentralen Phasen der Geschichte […] Entscheidungsakte und ihre Motivation [sind] […]«, wohingegen »das äußere Geschehen […] stark zurück[tritt]« (dies., Hartmann von Aue. Epoche – Werk –

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Die aufwendige Ausgestaltung der Entscheidensreden Enites und Iweins, die beide mit einem ›geteilten Spiel‹ konfrontiert werden, sowie die anhand der Spielmetaphorik vertieften Szenen von Erec an der Wegscheide und Gregorius im Angesicht des ritterlichen Zweikampfes zeigen zudem deutlich, dass Hartmann gerade in Absetzung von seinen altfranzösischen Vorlagen ein besonderes Interesse an der Umsetzung der Entscheidensthematik hat. Alle besprochenen Beispiele verbindet, dass die ›Spiele‹, mit denen die höfischen Figuren konfrontiert werden, jeweils eine spezifische Möglichkeit der Bewährung bieten  – es handelt sich letztlich um »Abenteuer der Selbstbegegnung«.118 Enite, die Erec zu spät über die schlechte Nachrede am Hof informierte, ordnet sich in der Entscheidenssituation, in der sie zur rechten Zeit spricht, ihrem Gatten unter; sie bewährt sich damit als Gefährtin, die sich ihrem Partner auf Gedeih und Verderb anvertraut. Erec, der sich mit Enite im Liebesglück zurückgezogen hatte und dadurch seine Ehre verlor, erhält durch die Entscheidensfiguration der Wegscheide die Möglichkeit, sein im ›Kampfspiel‹ gespiegeltes Fehlverhalten zu überwinden. Iwein, der eine Frist versäumte und so die Gunst der Laudine verlor, stellt in der Entscheidenssituation die Reflexion und Abwägung divergierender Interessen im Kontext von Terminkonflikten unter Beweis; auch er bewährt sich als zuverlässiger Ehemann und Landesherr. Im »Gregorius« wird die Bewährung ironisch verkehrt. Aus der Möglichkeit der »Wiedergutmachung« eines noch defizitären Zustands, vielleicht sogar der Möglichkeit des Erreichens einer noch höheren Stufe der Vervollkommnung, wird in diesem Fall ein sukzessiver Abstieg: Gregorius, der sich vom geistlichen Leben abwendet und für die Ritterschaft entscheidet, bewährt sich als Ritter, entfernt sich jedoch durch die Aventiure im Land der Mutter noch weiter vom Heil. Das spil, das Gregorius wagt, verdeutlicht so nicht zuletzt das spil höherer Mächte und relativiert individuelles Entscheiden angesichts göttlicher Vorsehung. Im spil, das den Held*innen ›zugeteilt‹ wird, wird somit jeweils noch einmal der zentrale Konflikt der Figuren ausgestellt  – die Möglichkeit der Bewährung richtet sich dabei nach den jeweiligen Ausgangsbedingungen und ist damit grundsätzlich ungleich verteilt, wie auch der Vergleich der Entscheidensmonologe Enites und Iweins zeigt: Während Enite mit ihrer Entscheidung lediglich die Wiederherstellung einer als ideal gedachten Ordnung erreicht, zeichnet sich Iwein im Kontext der »Auflösung einer unabweislichen Alternative in eine rühmliche Doppeltat« besonders aus. Enite wird »nicht in gleicher Weise wie Iwein […] als Heldin überhöht.«119 Ungeachtet dieser Unterschiede lässt sich die Chrétien’sche »Konflikt­ struktur« des Artusromans, die grundsätzliche »Möglichkeit des Scheiterns«120 Wirkung. Mit bibliogr. Erg. 1992/93–2006 von Thomas Bein, München ³2007, S. 157). »Die personale Entscheidung ist auch der thematische Kern, denn sie allein (zusammen mit der göttlichen Gnade) ist Grundlage glückhafter Lösung, ohne etwa die vermittelnde Leistung des Artushelden im Kampf« (ebd., S. 158). 118 Trachsler, Der Weg (wie Anm. 97), S. 217. 119 Störmer-Caysa, Gewissen und Buch (wie Anm. 2), S. 52. 120 Kartschoke, Der epische Held (wie Anm. 20), S. 162.

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Susanne Spreckelmeier

der Held*innen, auch in einen Zusammenhang mit der Zumutung des Entscheidens stellen: Fehlverhalten und Rehabilitation, Fehlentscheidung und richtige Entscheidung prägen die Spannung des höfischen Romans. Entscheiden stellt somit, so lässt sich abschließend resümieren, gerade deshalb eine Form der Bewährung dar, weil es sich um eine Zumutung handelt: Es schließt stets die Möglichkeit ein, eine falsche Option zu wählen, und birgt so ein gewisses – erzählerisch reizvolles – Risiko. Höfisches Erzählen scheint diesem Risiko nun zu begegnen, indem es Entscheiden an göttliche Einflussnahme zurückbindet. Die Bewährung der Figuren findet daher vor dem Hintergrund statt, dass die ›Spiele‹ durch und durch göttlich bestimmt sind. ›Geteilte Spiele‹ sind literarische Orte, die Stärken und Schwächen, Unabhängigkeit und Abhängigkeit der Held*innen zugleich aufscheinen lassen. Diese Ambivalenz nimmt den dargestellten Entscheidensszenen jedoch nicht ihre Bedeutung für das Erzählen Hartmanns, im Gegenteil: In der Verschränkung von individueller Herausforderung und göttlicher Vorsehung bildet die literarische Inszenierung von Entscheidensprozessen mittels der Spielmetaphorik die Verschränkung von Selbst- und Fremdbestimmung als zeitgenössisches kulturelles Spannungsverhältnis ab.

Georg Jostkleigrewe

Entscheiden und Verantwortung  Strukturen der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung im westeuropäischen Spätmittelalter. Zur Semantik des ›Entscheidens‹ im akademischen Diskursfeld

1. Vorüberlegungen: ›Entscheiden‹ als Grundlage von Verantwortungszuschreibung in Vormoderne und Moderne Welche Rolle spielte Entscheiden in der Vormoderne? Welche Bedeutung kam der Beobachtung von Entscheiden im späteren Mittelalter zu? Diese Fragen sind alles andere als trivial: Nicht nur auf den ersten Blick ist es durchaus plausibel zu vermuten, dass mittelalterliche Gesellschaften in weit geringerem Maße ›Entscheidungsgesellschaften‹ waren als moderne Gesellschaften. Die Vormoderneforschung hat für ihre Untersuchungsgegenstände in jüngerer Zeit verschiedentlich eine »starke Tendenz zur Entscheidungsverschleppung oder -vermeidung […] festgestellt. […] Situationen des Konflikts, der Unentschiedenheit oder Mehrdeutigkeit [konnten möglicherweise leichter als heute] dauerhaft in der Schwebe gehalten werden«.1 Demgegenüber ist die (spät-)moderne Gesellschaft geradezu als ›Multioptionsgesellschaft‹ gekennzeichnet worden – als eine Gesellschaft also, die den Bereich dessen, was als entscheidbar angesehen wird, immer weiter fasst.2 Die hier skizzierte Vermutung, dass ›Entscheiden‹ in der Moderne eine viel größere Rolle als in mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften spielt, liegt explizit oder implizit verschiedenen Modernisierungstheorien zugrunde, die die Herausbildung der Moderne unter anderem in der Zunahme formaler Organisation und der Entwicklung von Rationalitätskonzeptionen verorten. Beide Phänomene sind aufs engste mit dem Themenfeld ›Entscheiden‹ verquickt. So stellt Entscheiden den grundlegenden Operationsmodus von Organisationen dar und ermöglicht diesen zugleich, Verantwortung in eindeutiger Weise zuzuschreiben.3 1 Vgl. in diesem Sinne den Einrichtungsantrag des SFB 1150, S. 11, unter Bezugnahme auf Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich, Frankfurt a. M. 2002. 2 Zur Multioptionsgesellschaft vgl. Peter Gross, Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1994; Uwe Schimank, Die Entscheidungsgesellschaft. Komplexität und Rationalität der Moderne, Wiesbaden 2005, S. 109. 3 So Schimank, Entscheidungsgesellschaft (wie Anm. 2), S. 99 f., in Anlehnung an Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung, Opladen 32011, S. 61–69. Tatsächlich bedürfen

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Der hier angesprochene Nexus von Entscheiden und Verantwortung ist indes nicht auf Organisationen beschränkt, sondern gilt allgemein. Wer entscheidet, übernimmt Verantwortung; wer entscheidet, reklamiert Agency. Die Fähigkeit zu entscheiden konstituiert autonome Handlungsmacht. Oder anders: Die Kommunikation, Inszenierung und Beobachtung von Entscheiden erlaubt die Zuschreibung von Verantwortung – für die Entscheidung wie für die tatsächlich oder vermeintlich verursachten Entscheidungsfolgen. Gerade in der spätmodernen Multioptionsgesellschaft scheint sich dieser Zusammenhang in besonderer Schärfe zu präsentieren. Die Vielfalt möglicher Lebensentwürfe zwingt den Einzelnen zu »Entscheidungen, für die [er] dann auch die Verantwortung übernehmen muss. Keiner kann mehr das Schicksal, etwa in Form seiner sozialen Herkunft, dafür verantwortlich machen, aus welchen Rollen er sein Leben zusammenfügt und welche Lebenszufriedenheit daraus resultiert«.4 Die spezifische Folgenverantwortung entscheidungsförmigen Handelns hebt dieses denn auch von »traditionale[m], routinisierte[m] oder gefühlsgeleitete[m] Handeln« ab: »Bei einer Entscheidung besteht eine besondere Folgenverantwortung des Akteurs, weil ihm sein Handeln nicht einfach […] ›passiert‹ ist, sondern er es eben gewählt hat – und auch anders hätte wählen können«.5 Entscheiden stellt sich aus dieser Perspektive vor allem als eine Zumutung dar, der sich der moderne Mensch stellen muss. In ganz ähnlicher Weise betonen auch neo-institutionalistische Ansätze die Bedeutung von Entscheidungen als Marker autonomer Individualität6 – wobei der Fokus hier allerdings vor allem auf der Dekonstruktion der unterstellten Entscheidungsrationalitäten liegt. Die von Schimank und anderen beobachtete besondere Entscheidungshaltigkeit der modernen Gesellschaft stellt aus dieser Perspektive weniger eine Zumutung als vielmehr eine ideologische Selbsttäuschung dar. Tatsächlich ist die Selbstwahrnehmung moderner Gesellschaften in hohem Maße durch die Beobachtung der in ihr stattfindenden Entscheidungsprozesse geprägt: Nicht nur in der medialen Wahrnehmung erscheinen Individuen geradezu als Produkte ihrer Entscheidungen. Dies führt bisweilen Organisationen des entscheidungsförmigen Handelns nicht nur, um die Zuweisung von Verantwortung sicherzustellen, sondern gewährleisten ihrerseits auch die formale Zurechnung von Entscheidungen auf die Mitglieder der Organisation bzw. einzelne ihrer Organe. 4 Schimank, Entscheidungsgesellschaft (wie Anm. 2), S. 109; ähnlich ebd., S. 83, zur selbstermächtigenden Funktion theoretischer Rationalitätskonzepte. Zum  – heutzutage irritierten – »[Lebens-]Planungsimperativ« der Mittelschichten in der modernen Gesellschaft vgl. auch ders., Lebensplanung!? Biografische Entscheidungspraktiken irritierter Mittelschichten, in: Berliner Journal für Soziologie 25 (2015), S. 7–31. 5 Ders., Entscheidungsgesellschaft (wie Anm. 2), S. 51. 6 Vgl. etwa Nils Brunsson, The Consequences of Decision-Making, Oxford 2007, S. 2: »Individuals are expected to make choices. The institution of decision reflects the basic notion of individuals as autonomous actors, free to choose their actions […] according to their own specific identities. […] The form of intelligence that best fits this view is intentionality; we are supposed to choose actions that allow us to achieve our intentions in the future«.

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dazu, dass Entscheiden selbst dort beobachtet wird, wo bekanntermaßen gar nicht entschieden wurde.7 Nicht allein die Zuweisung von Verantwortung, sondern auch die Konstruk­ tion von Individualität und sogar von Autorität erfolgt in der Moderne also durch die Beobachtung von Entscheidungen – so lässt sich schließen. Wie aber stellen sich diese Zusammenhänge für die Vormoderne dar? Der vorliegende Beitrag diskutiert diese Problematik mit Blick auf das französische Spätmittelalter. Welche Rolle spielte Entscheiden in der gesellschaftlichen Selbstbeobachtung – und welche Bedeutung messen die spätmittelalterlichen Zeitgenossen in ihren Reflexionen dem Akt des Entscheidens zu? Um diese Frage weiter zu verfolgen, ist zunächst eine terminologische Klärung nötig. Mit dem Begriff des Entscheidens bezeichnen wir solche Handlungen, die ihre eigene Kontingenz thematisieren – die also die Tatsache reflektieren, dass immer auch andere Handlungen möglich wären.8 Dabei wird hier nicht vorausgesetzt, dass die Reflexion von Alternativen notwendig im Medium der Sprache erfolgt – dass die Akteure also explizit sagen, dass sie entscheiden. Vielmehr dürfte Entscheidungshandeln in vielen Fällen durch die Einbettung in bestimmte Handlungskontexte relativ eindeutig markiert sein. Idealtypisch wäre hier etwa auf das richterliche Entscheiden im Rahmen einer Gerichtsverhandlung zu verweisen: Durch ihre gegensätzlichen Plädoyers und Beweisanträge erzeugen die Parteien Entscheidungsalternativen, mit denen das Gericht umgehen muss9 – ganz gleich, ob das Urteil dann als Entscheidung kommuniziert oder dessen Entscheidungscharakter verschleiert wird. Im Rahmen einer Untersuchung mittelalterlicher Kulturen des Entscheidens wird daher zu überprüfen sein, wie die solcherart bestimmten Prozesse des Entscheidens jeweils semantisch gefasst, explizit beschrieben und gegebenen7 Ein plastisches Beispiel für eine solche gleichsam pathologische Wucherung der Entscheidungsbeobachtung stellt der Nachruf auf Jutta Limbach, die ehemalige Präsidentin des Bundesverfassungsgerichts, dar, der am 13. September 2016 in der Printausgabe der Frankfurter Rundschau unter der Überschrift »Sie traf wegweisende Entscheidungen« erschien, vgl. Thomas Kröter, Jutta Limbach ist tot, Frankfurter Rundschau 13.09.2016, www.fr.de/ politik/jutta-limbach-11095450.html (Stand: 10. September 2019). Um Limbachs Bedeutung zu illustrieren, hebt Kröter eine Reihe von Entscheidungen hervor, die das Gericht während ihrer Amtszeit getroffen hatte: »Die Konservativen [tobten], als der Erste Senat des Gerichts befand, es gehöre zur Meinungsfreiheit, Kurt Tucholskys berühmten Satz zu zitieren: ›Soldaten sind Mörder‹. Auch die Entscheidung, Kruzifixe seien in Klassenzimmern abzuhängen, wenn das gewünscht werde, erregte besonders in Bayern helle Aufregung. Das war nicht ihr Senat, aber ihr Gericht [Kursivierung G. J.]«. 8 Vgl. Niklas Luhmann, Organisation und Entscheidung (wie Anm. 3), S. 338: »Im Unterschied zu einfachen Handlungen thematisieren Entscheidungen […] ihre eigene Kontingenz«. 9 Durch den Rekurs auf das allgemeine Verbot der Rechtsverweigerung lässt sich übrigens auch in der Vormoderne die Beschäftigung des Gerichts mit den so erzeugten Handlungsalternativen im Grundsatz erzwingen, lässt sich Entscheidungsbedarf herstellen – was den Entscheidungscharakter der richterlichen Tätigkeit noch unterstreicht.

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Georg Jostkleigrewe

falls theoretisch reflektiert werden; zu prüfen ist aber auch, wo entsprechende Prozesse gegebenenfalls verschleiert und verschwiegen werden. Dazu ist zunächst zu untersuchen, welche sprachlichen Ausdrücke den mittelalterlichen Zeitgenossen für die Beschreibung von Entscheidungsprozessen grundsätzlich zur Verfügung stehen, welche Bedeutungsumfänge die betreffenden Lexeme aufweisen und welche Konnotationsstrukturen zu beobachten sind. In weiteren Schritten sind dann verschiedene Diskursfelder in den Blick zu nehmen. Dabei sind die Semantiken administrativen und gerichtlichen Entscheidens ebenso zu thematisieren wie die Beobachtung politischen Entscheidens in der Historiographie, die Kommunikation religiöser Entscheidungen, die philosophische Reflexion entscheidungsförmiger Phänomene und anderes mehr. Es bietet sich an, die Semantiken des Entscheidens in den verschiedenen Diskursfeldern zunächst einzeln zu untersuchen und dann nach wechselseitigen Einflüssen und Überschneidungen zu fragen. Im Rahmen des vorliegenden Beitrags wird nur ein Teil des skizzierten Programms umgesetzt werden.10 Zum einen wird ein knapper Überblick über diejenigen Elemente des mittellateinischen und mittelfranzösischen Lexikons gegeben, die zur Beschreibung von Entscheidungsprozessen im Grundsatz verfügbar sind. Die Grundlage dafür bilden lexikographisch erschlossene Belege, wobei ein besonderer Fokus auf dem im weitesten Sinne frankophonen Raum liegt. Zum anderen werden die Terminologien des Entscheidens im spätmittelalterlichen akademischen Diskursfeld in den Blick genommen. Hier wird zugleich danach zu fragen sein, wie das Phänomen des Entscheidens in der philosophischen Diskussion reflektiert wird. Dabei soll es nicht primär um eine ideengeschichtliche Aufarbeitung der entsprechenden wissenschaftlichen Konzepte gehen. Vielmehr ist im Sinne einer weit gefassten ›Intellectual History‹ oder Wissensgeschichte11 danach zu fragen, wie das Phänomen kontingenten Entscheidens im Umfeld der spätmittelalterlichen Universität bewertet wird. Als Quellen werden Kommentare und Quodlibeta von Pariser Gelehrten des 10 Der vorgelegte Beitrag war ursprünglich als eines von mehreren Werkstücken angelegt, die im Rahmen der Beschäftigung des Verfassers im Teilprojekt A02 »Contingentia und Disputatio: Entscheiden in der wissenschaftlichen Theorie des westeuropäischen Spätmittelalters« des SFB 1150 angefertigt werden sollten. Geplant war, sukzessive weitere Untersuchungen zur Semantik des Entscheidens in anderen spätmittelalterlichen Diskursfeldern vorzulegen. Aufgrund der vorzeitigen Beendigung des Sonderforschungsbereichs und des Wechsels des Verfassers auf eine Professur an der Universität Halle kann dieses Vorhaben vorerst nicht fortgeführt werden. 11 Zum Bezug des SFB -Teilprojekts »Contingentia und Disputatio«, dem der vorliegende Text entstammt, auf die von der sogenannten ›Cambridge school‹ grundgelegte Tradition einer ›Intellectual history‹, die sich nicht in der ideengeschichtlichen Rekonstruktion philosophischer Gedankengebäude erschöpft, vgl. Georg Jostkleigrewe, Wissenschaftliches Entscheiden als methodische Operation und soziales Phänomen. Inner- und außerakademische Konfliktlinien im Umfeld der Pariser Universität (ca. 1300), in: Jahrbuch für Universitätsgeschichte 19 (2016), S. 103–111, hier S. 105 f.

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13. und 14. Jahrhunderts herangezogen. Ausgehend von den dabei erzielten Ergebnissen werden als Ausblick schließlich einige Perspektiven für die Untersuchung weiterer Diskursfelder entwickelt.

2. Grundlagen: Semantiken des Entscheidens im lateinischen und französischen Lexikon des Mittelalters Falls mittelalterliche Gesellschaften dazu tendieren, Akte des Entscheidens zu verschleiern, so liegt dies nicht am Fehlen eines geeigneten Vokabulars. Tatsächlich enthält das lateinische Lexikon eine Anzahl einschlägiger Ausdrücke, die teils den Akt der Beschlussfassung, teils die Entscheidung von Streitfällen bezeichnen können. Zu nennen wären im Bereich der Rechtsprechung etwa iudicare und seine Ableitungen und Komposita, sowie allgemeiner das von cernere abgeleitete Verbum decernere, seltener auch discernere. Die (gesetzliche) Beschlussfassung, aber auch die Entscheidung von Streitfällen kann durch statuere bzw. constituere (constituere iudicium, controversiam; statuere bellum gerere), die Abgabe einer Einschätzung oder eines Werturteils durch arbitrari oder aestimare und deren Ableitungen und Komposita ausgedrückt werden. Der Akt des Abwägens, der gegebenenfalls in eine Entscheidung mündet, wird durch deliberatio bezeichnet. Ausgefallenere Termini wie (con)sciscere (für den Beschluss der Volksversammlung – plebis scitum – oder den freiwilligen Entschluss für ein Übel – mortem, exsilium, caecitatem sibi consciscere), prägnante Wortbedeutungen (etwa von secare: lites, res magnas secare)12 oder idiomatische Phrasen wie das sehr gebräuchliche alicui videtur aliquid13 sind dabei noch gar nicht berücksichtigt.14 Zumindest die gängigeren der oben aufgeführten Lexeme standen den mittellateinischen Textproduzenten zweifellos zur Verfügung. Nicht nur die an klassischen Vorbildern geschulten Autoren dürften Vokabeln wie decernere oder constituere wenigstens passiv beherrscht haben. Inwiefern die betreffen­ den Ausdrücke auch aktiv zur Bezeichnung von Konstellationen des Entscheidens verwendet wurden, wäre indes noch zu prüfen. Hier sind durchaus Zweifel angebracht: Die meisten der vorgestellten Lexeme weisen eine hohe Bedeutungsbreite auf, so dass es für mittellateinische Schreiber nicht unbedingt

12 Neben dieser prägnanten Nebenbedeutung wird das Lexem häufiger in seiner etymologischen Grundbedeutung verwendet: ›schneiden‹ (von dieser Bedeutung her dann auch ›zerschneiden‹, ›verschneiden‹). 13 Vgl. daneben hinsichtlich der Verwendung von videri zur Umschreibung des Entscheidungsaktes im Geschworenenprozess auch Cicero, Academica priora II , 47 [146]: [Maiores nostri] voluerunt […] ut […] quaeque iurati iudices cognovissent, ea non ut esse facta, sed ut ›videri‹ pronuntiarentur. 14 Für die angeführten Bedeutungen und Konstruktionen vgl. jeweils Karl Ernst Georges, Lateinisch-Deutsch. Ausführliches Handwörterbuch, Leipzig 81913.

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nahelag, sie auch aktiv in der hier interessierenden Bedeutung ›entscheiden‹ zu verwenden. Ich möchte diese Überlegung an den beiden Lexemen illustrieren, die im klassischen wie neulateinischen Lexikon wohl die Standardausdrücke für ›entscheiden‹ bilden: decidere und (de)cernere. Decisio und decidere werden im klassischen Latein nicht nur, aber auch in der Bedeutung ›Entscheidung‹ bzw. ›entscheiden‹ verwendet, vielleicht mit der Konnotation des raschen, ohne ausführliche Abwägung erfolgenden Entscheidungshandelns.15 Im Neulateinischen wie in den davon beeinflussten neuzeitlichen Volkssprachen wird das Lexem dann zum Standardausdruck für ›entscheiden‹.16 Im Mittellateinischen wie in den mittelalterlichen französischen Dialekten scheinen decidere bzw. seine Ableitungen in dieser Bedeutung indes bis ins 14. Jahrhundert kaum verwendet worden zu sein;17 vielleicht stand die Grundbedeutung ›abhauen‹, ›wegschneiden‹ für die mittelalterlichen Textproduzenten zu stark im Vordergrund, als dass eine Verwendung in der übertragenen Bedeutung nahegelegen hätte.18 Etwas anders gelagert ist der Fall (de)cernere. Das Lexem dürfte im klassischen Latein wohl den wichtigsten Ausdruck für die Entscheidungstätigkeit von Amtsträgern gebildet haben19 und ist in dieser Form auch in der neuzeitlichen 15 So ebd., s. v. decīdo B b) γ) »eine Sache abtun, abschließen, […] ohne weiteres entscheiden«, u. a. mit spätlateinischem Beleg aus Sulpicius Severus, Vita sancti Martini: apud me ipse decidi; s. v. decisio II : »der durch Abkommen herbeigeführte Vergleich«, »die durch Abkommen herbeigeführte Entscheidung«, mit Beleg etwa bei Cicero: decisionis arbiter. Weitere Belege, unter anderem aus Cicero und Sueton sowie aus spätantiken Schriften im Thesaurus Linguae Latinae, s. v. dēcīdo. 16 Vgl. Henry Vernay, Dictionnaire onomasiologique des langues romanes, Partie V, 4.0: Les désignations dans le domaine de la »décision«. 17 Noch DuCange, Glossarium mediae et infimae latinitatis [Onlineversion], s. v. decisio, weist nur die wörtlichen Bedeutungen »Einschnitt« und davon abgeleitet »Kanal« u. Ä. nach; dies entsprach aber sicherlich nicht dem spätmittellateinischen und neulateinischen Gebrauch seiner eigenen Zeit. Niermeyer, Lexicon minus, s. v. decisio, bietet ohne Beleg die (*-)Bedeutung »Richtspruch«; mit Beleg die Bedeutung »Zuschnitt von Tuchen«. Die alt- und mittelfranzösischen Wörterbücher weisen décision und verwandte Lexeme in literarischen und urkundlichen Belegen seit dem 14. Jahrhundert nach, vgl. Walther von Wartburg, Französisches Etymologisches Wörterbuch III , 24b, s. v. decidere: »decider et determiner lez contencions humaines« (Évrard de Trémaugon, Songe du vergier, 1378); »en la ville de Bourdeaulx […] ait justice souveraine, pour y connoistre, discerner, décider et déterminer diffinitivement de toutes les causes d’appel« (Jean Chartier, Chronique de Charles VII , 2. Hälfte 15. Jahrhundert). Zwei Belege aus dem frühen 14. Jahrhundert bietet Frédéric Godefroy, Dictionnaire de l’ancienne langue française. Complément (= Bd. 9), S. 281, s. v. décision (der zugrundeliegende Nachweis aus AN JJ 56, 211r, bietet zugleich mit dem volksprachlichen (pikardischen) Beleg dechision auch einen Beleg für mlat. decisio im Sinne von Gerichtsurteil); ebd., Bd. 2, S. 444, s. v. deciseur, auch ein Beleg für die Verwendung des entsprechenden Lexems im Sinne von arbiter. 18 Für eine weitere mögliche Erklärung der geringen Verwendung vgl. unten Anm. 50. 19 Die etymologische Grundbedeutung des mit gr. krínein verwandten cernere dürfte ›voneinander scheiden‹, vielleicht ›sieben‹ sein; die klassische Hauptbedeutung ist »(mit den Sinnen) unterscheiden«, vgl. Georges, Lateinisch-deutsches Handwörterbuch (wie Anm. 14), s. v. cerno.

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Verwaltungssprache verwendet worden: Die Verwaltungsgliederung in Dezernate zeugt noch heute davon.20 Zugleich wurden sowohl cernere als auch decernere jedoch in klassischer Zeit oft in der übertragenen Bedeutung des ›durch Kampf entscheiden‹, ›kämpfen‹ gebraucht:21 Bereits seit vorklassischer Zeit waren die entsprechenden Ableitungen certamen (›Wettstreit‹), certare (›kämpfen‹) lexikalisiert. Auch hier ist es möglich, dass die Prägnanz dieser metaphorischen Bedeutung die mittellateinische Nutzung beeinflusst hat.22 Wichtiger ist allerdings die Beobachtung, dass decernere im französischen Sprachraum bisweilen offenbar als Ableitung von decretum verstanden worden ist – also als ›dekretieren‹, ›ein Dekret erlassen‹. In dieser Bedeutungsvariante tritt der Akt des Entscheidens sprachlich hinter dessen (für sich genommen nicht entscheidungsförmiges) Ergebnis – eben das Dekret – zurück. So übersetzt der Fortsetzer der sogenannten Grandes Chroniques de France die in seiner Vorlage enthaltene Phrase papa decrevit mit fist un decret.23 Angesichts solcher Beobachtungen leuchtet es ein, dass die mittelalterlichen Semantiken des Entscheidens nicht vorrangig auf dem Wege etymologischsemasiologischer Wortgeschichten zu untersuchen sind. Viel sinnvoller ist es, stattdessen jeweils eine onomasiologische Analyse der einzelnen Diskursfelder bzw. Bereiche der Textproduktion durchzuführen. Das Augenmerk richtet sich also darauf, welche Lexeme jeweils zur Beschreibung von Konstellationen des Entscheidens herangezogen werden  – ganz gleich, ob die betreffenden Aus­ drücke jeweils eine lexikalisierte (Teil-)Bedeutung ›entscheiden‹ aufweisen oder nicht. Für die Einschätzung der im Rahmen dieser Untersuchung erzielten Ergebnisse ist dabei ein zweifaches Caveat zu beachten. Zum einen erlaubt die Quellenlage auch des späten Mittelalters in diesem Zusammenhang nur, Aussagen über distanzsprachliche Kommunikationen zu treffen. Die Semantiken des Entscheidens in der ›mündlichen‹ Nähesprache bleiben uns weitgehend verschlos-

20 Zur Veränderung des Gebrauchs (von decernat N. N. zum heutigen Dezernat) vgl. Günther Drosdowski, Duden (Bd. 7). Etymologie. Herkunftswörterbuch der deutschen Sprache, 21989, s. v. Dezernat. 21 Vgl. Georges, Lateinisch-deutsches Handwörterbuch (wie Anm. 14), s. v. decerno, I. 2.  22 Ein lexikographischer Nachweis dieser – ohnehin nur durch vergleichende Untersuchung umfassender Corpora zu bestätigenden – Vermutung ist mir nicht möglich; Niermeyer, Lexicon minus, s. v. decernere, weist neben den aus frühmittelalterlichen Texten belegten Grundbedeutungen »urteilen« und »deliberieren« nur die mittelalterliche Zusatzbedeutung »stiften« (= »jemandem zuerkennen«) nach. 23 Grandes Chroniques de France, ed. v. Jules Viard, Bd. 8, Paris 1934, S. 167 f.: »Pape Boni­ face fist I decret par la sentence que se les roys […] du clergié, sanz le conseil de l’eglise de Romme, telles exactions prenoient, […] la sentence et escommeniement par yce fait encourroient.« Zur lateinischen Vorlage vgl. Guillaume de Nangis, Chronicon, ed. v. H. Géraud, Bd. 1, Paris 1843, S. 434: Bonifacius papa decrevit ut si reges […] a praelatis […], Papa inconsulto, tales exactiones acciperent […], excommunicationis sententiam incurrerent ipso facto.

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sen;24 sie werden im Rahmen dieses Beitrages jedenfalls nicht thematisiert. Zum anderen ist zu berücksichtigen, dass die im Folgenden angestellten Beobachtungen nicht auf der vollständigen Auswertung einschlägiger Textcorpora, sondern auf der exemplarischen Analyse edierten Materials beruhen.

3. Wissenschaftliche Reflexion von Entscheiden und Terminologien des Entscheidens im universitären Bereich Mit den Semantiken des Entscheidens im Umfeld der spätmittelalterlichen Universität Paris thematisieren die folgenden Ausführungen nun detailliert ein erstes spätmittelalterliches Diskursfeld. Dabei werden sowohl die Terminologien, die bei der philosophischen Reflexion von Entscheidungsphänomenen zum Einsatz kommen, als auch die Bezeichnungen lebensweltlicher akademischer Entscheidungspraktiken in den Blick genommen werden. 3.1. Entscheiden und Verantwortung: Kontingentes Entscheidungshandeln als alltagsweltliche Erfahrung

Die Theologen des Spätmittelalters diskutieren das Phänomen des Entscheidens vor allem im Hinblick auf den Willensakt und dessen Motivation, insbesondere dessen Verhältnis zum Intellekt. Die Existenz freier Entscheidungen dient dabei zur Bestimmung des Konzepts der Kontingenz (bzw. als Prüfstein für deren Vorliegen) und wird sowohl hinsichtlich der Möglichkeit einer göttlichen Präszienz der futura contingentia als auch mit Blick auf das rechte Verständnis von Prädestination und Verdammung thematisiert. Eine allgemeine Beobachtung zur spätmittelalterlichen Wahrnehmung von Kontingenz dürfte in diesem Zusammenhang für die historisch-mediävistische Erforschung von Konzepten und Praktiken des Entscheidens von besonderer Bedeutung sein. Tatsächlich setzen die Theologen und Philosophen, deren Werke im Rahmen dieses Beitrags untersucht werden, die Notwendigkeit überlegten Wahlhandelns, die Möglichkeit indeterminierter Entscheidungen und allgemeiner die contingentia in rebus als lebensweltlich unmittelbar einsichtige 24 Zur Unterscheidung von Distanz- und Nähesprache und der nicht damit kongruenten Unterscheidung zwischen mündlicher und schriftlicher Medialität vgl. Peter Koch / Wulf Österreicher, Sprache der Nähe – Sprache der Distanz. Mündlichkeit und Schriftlichkeit im Spannungsfeld von Sprachtheorie und Sprachgeschichte, in: Romanistisches Jahrbuch 36 (1985), S. 15–34. – Ob und inwieweit neben den Volkssprachen auch das spätmittelalterliche Latein zur Nähekommunikation verwendet wurde, ist an dieser Stelle nicht zu klären; mit Blick auf die Quellengrundlage dieser Untersuchung würde ich daran festhalten, dass die lateinischen Vorlesungsmitschriften – die einen Teil des im Folgenden bearbeiteten Corpus ausmachen – zumindest in der überlieferten Form tendenziell als distanzsprachliche Texte zu betrachten sind.

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Realität voraus. Besonders eindrucksvoll und nachdrücklich geschieht dies bei Johannes Duns Scotus, der die Existenz von Kontingenz rhetorisch sogar auf eine Stufe mit dem logischen Prinzip der Widerspruchsfreiheit stellt. Philosophus […], qui vult et ponit contingentiam esse in rebus, non probavit hoc  a priori, sed a posteriori. Quia si non sit contingentia, non oportet negotiari nec consiliari; tantum enim vel plus est omnibus notum quod sit contingentia in rebus, sicut quod oportet consiliari et negotiari. Potest ergo probari a posteriori, quia aliter non essent necesse virtutes nec praecepta nec monita nec mercedes nec poenae nec honores, et breviter destrueretur omnis politia et omnis conversatio humana. Et contra hoc negantes esset procedendum cum tormentis et cum igne et huiusmodi, et tam debent fustigari quousque fateantur quod possunt non tormentari, et ita dicere quod contingenter tormentantur et non necessario, sicut fecit Avicenna contra negantes primum principium. Tales enim secundum eum debent vapulari donec sciant quod non est idem torqueri et non torqueri, comburi et non comburi. »Der Philosoph [sc. Aristoteles], der die Seinsweise der Kontingenz in den Dingen bejaht und voraussetzt, hat das nicht a priori bewiesen, sondern a posteriori. Denn wenn es keine Kontingenz gäbe, bräuchte man ›weder planvoll zu handeln noch abzuwägen‹. Denn dass es Kontingenz in den Dingen gibt, ist allen Menschen ebenso bekannt oder sogar noch bekannter, als dass man abwägen und planvoll handeln muss. Kontingenz lässt sich demnach a posteriori beweisen, denn ohne sie wäre eine Orientierung an Tugenden ebenso unnötig wie an Geboten, an Verdiensten, an Belohnungen, an Strafen, an Ehrungen, und in kurzer Zeit würden jegliche politische Ordnung und jedes menschliche Miteinander zerstört werden. Den Leugnern von Kontingenz aber müsste man mit Folterwerkzeugen, mit Feuer und dergleichen zu Leibe rücken und sie so sehr traktieren, bis sie zugeben, dass es möglich ist, sie nicht zu quälen. Damit würden sie eingestehen, dass sie kontingenter Weise und nicht notwendig gequält würden. So macht es Avicenna mit denen, die das erste Prinzip leugnen: Ihm zufolge müssen solche Leute so lange Misshandlungen ausgesetzt werden, bis sie wüssten, dass Gefoltertwerden und Nicht-Gefoltertwerden, Gebranntwerden und Nicht-Gebranntwerden nicht dasselbe sind.«25

Duns Scotus bezieht sich an dieser Stelle auf eine Position, die Aristoteles in »›De interpretatione« vertritt;26 vergleichbare Bezüge finden sich auch bei Thomas 25 Duns Scotus, Reportatio Parisiensis Examinata, d. 39/40, § 30, in: Pariser Vorlesungen über Wissen und Kontingenz, hg., übers. u. eingel. v. Joachim Söder, Freiburg 2005, S. 78–81. 26 Aristoteles, De interpretatione 9 (Bekker 18b31–32); Verweis nach Söder, Pariser Vorlesungen (wie Anm. 25), S. 78, Anm. 58; eine ähnliche Position vertritt Aristoteles auch im 3. Buch der Nikomachischen Ethik, vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik III , 7.2, übers. v. Ursula Wolf, Hamburg 32011, S. 108 f.: »Dafür [sc. für unsere Verantwortung für tugendhafte bzw. schlechte Handlungen] scheinen sowohl die Individuen im Privatleben als auch die Gesetzgeber selbst Zeugnis zu geben. Sie verhängen nämlich Züchtigungen oder Strafen gegen Übeltäter, sofern sie nicht unter Zwang oder aufgrund einer Unwissenheit gehandelt haben, für die sie nicht selbst verantwortlich sind. […] Doch ermutigt uns niemand, Dinge zu tun, die nicht bei uns liegen und nicht Gegenstand des Wollens sind. Man hält es für zwecklos, jemanden zu überzeugen, er solle nicht Hitze, Schmerzen, Durst oder etwas Derartiges empfinden. Wir werden das alles darum nicht weniger empfinden«.

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von Aquin, Heinrich von Gent und Johannes Buridanus.27 Bereits jetzt lässt sich daher festhalten: In Anlehnung an Aristoteles führen spätmittelalterliche Philosophen verschiedener Schulen den Zusammenhang von (freier) Entscheidung und moralischer Verantwortung als lebensweltlich unmittelbar einsichtiges Argument an. Wie unschwer zu erkennen ist, steht die hier rezipierte Auffassung des Stagiriten in einer gewissen Spannung zu theologischen Prädestinationskonzepten. Die oben genannten Autoren, die verschiedenen philosophischen Schulen des 13. und 14. Jahrhunderts angehören, unterscheiden sich denn auch in der Art und Weise, wie sie diese Spannung auflösen. Indes ist die philosophiegeschichtliche Untersuchung der verschiedenen damit zusammenhängenden Lehrgebäude nicht Ziel dieses Beitrags. Im Folgenden wird daher nur die Frage untersucht, wie der skizzierte Reflexionsbereich – das heißt das Phänomen des Entscheidens in seinen unterschiedlichen Bezügen  – semantisch jeweils erschlossen wird. 3.2. Thomas von Aquin: Der Intellekt als ›entscheidende‹ Urteilsinstanz

Thomas von Aquin fasst den Prozess des Entscheidens prägnant als electio. Diese Wortwahl entspricht der etwa von Wilhelm von Moebeke gewählten Übertragung für προαίρεσις (prohaíresis)28 – einen Begriff, den Aristoteles im dritten Buch der Nikomachischen Ethik als ein »mit Überlegung verbundenes 27 Vgl. Thomas von Aquin, De Malo, quaestio VI (De electione humana), in: The De malo of Thomas Aquinas, hg. v. Brian Davies, übers. v. Richard Regan, Oxford 2001, S. 454 (Responsio): Hec autem opinio [sc. quod voluntas hominis ex necessitate movetur ad aliquid eligendum] est heretica. Tollit enim rationem meriti et demeriti in humanis actibus: non enim videtur esse meritorium uel demeritorium quod aliquis sic ex necessitate agit quod vitare non possit. Est etiam annumeranda inter extraneas philosophie opiniones, quia non solum contrariatur fidei, set subuertit omnia principia philosophie moralis. Si enim non sit aliquid in nobis, set ex necessitate mouemur ad uolendum, tollitur deliberatio, exhortatio, preceptum, et punitio et laus et uituperium, circa que moralis philosophia consistit; Heinrich von Gent, Opera omnia V, hg. v. Raymond Macken Quodlibet I, 16 (Solutio): Est opinio ista [sc. quod voluntas naturali motu ageretur ad volendum] contraria omni philosophiae, non solum theologiae. Tollit enim omne meritum, deliberationem, consilium, admonitionem, exhortationem, et cetera huiusmodi. Unde contra istam opinionem dicit Philosophus in III ° Ethicorum quod malitias et virtutes non habemus in alia principia reducere praeter ea quae in nobis. Das gleiche Argument bringt abgekürzt auch Buridan im Kommentar zum dritten Buch der (Nikomachischen) Ethik: Johannes Buridanus, Super decem libros Ethicorum, Paris 1513 (ND Frankfurt 1968), fol. 36 v: Item si rebus existentibus ut nunc voluntas mea esset determinata ad velle legere, ita quod non possit nolle legere rebus sic stantibus, sequeretur quod ex tali lectura nullo fuerim merito dignus. Et ita diceretur quod propter nullos actus viciosos homo esset culpabilis. Itaque [?] rebus sic stantibus oportet ipsum ita agere et non est in sui [!] dominio ita non agere. 28 Vgl. hierzu Wilhelms Übertragung von De motu animalium 6 (Bekker 700b). Nachweis dieser und ähnlicher Stellen über die Aristoteles Latinus Database (ALD).

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Streben nach Dingen […], die in unserer Macht stehen«, definiert: »Nachdem wir […] als Ergebnis der Überlegung eine Entscheidung erreicht haben, streben wir der Überlegung entsprechend«.29 In Anlehnung an die hier zitierte aristotelische Definition bestimmt Thomas in der sechsten Quaestio von »De malo« den Charakter der electio dann näher als einen appetitus preconsiliati – als ein Streben, dem ein Prozess des Abwägens vorausgegangen ist. Im ersten ContraArgument der Quaestio (das in dieselbe Richtung wie die ›Responsio‹ zielt, hier also die Auffassung des Magisters widerspiegelt) bringt Thomas die Fähigkeit des Menschen zu freier Entscheidung zugleich mit dem Gedanken der Verantwortung zusammen: Set contra est quod dicitur Eccli. XV ›Deus ab initio constituit hominem et reliquit eum in manu consilii sui‹. Hoc autem non esset nisi haberet liberam electionem, que est appetitus preconsiliati, ut dicitur in III Ethicorum. Ergo homo habet liberam electionem suorum actuum.30 Dagegen: In Sir 15, 14 heißt es: ›Gott hat am Anfang den Menschen erschaffen und ihn dem eigenen Ratschluss überlassen‹. Dies aber wäre nicht der Fall, wenn er keine freie Wahl hätte, die im dritten Buch der Ethik als Streben definiert wird, das sich auf zuvor Abgewogenes richtet. Daher besitzt der Mensch hinsichtlich seiner Handlungen freie Wahl.31

Im Abschnitt »De electione« der »Summa theologiae« (Ia IIae, quaestio 13) ordnet Thomas seine diesbezüglichen Überlegungen in eine Philosophie der menschlichen Handlungen und insbesondere seiner Willensakte ein. Hier zählt er die electio zu denjenigen Willensakten, die auf die Wahl und den Einsatz 29 Zur Definition vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, III , 5 (wie Anm. 26), S. 106. Ursula Wolf übersetzt den Begriff als Vorsatz; andere Übersetzungsvorschläge sind »choice« oder eben »Entscheiden«, vgl. etwa die Übersetzung von Rainer Nickel, Die Nikomachische Ethik. Griechisch-Deutsch [E-Book-Ausgabe], Berlin 22007, S. 107; dazu auch Christof Rapp / K laus Corcilius, »Wirkung des Aristoteles: Handlungstheorie«, in: Christof Rapp (Hg.), Aristoteles-Handbuch, Stuttgart 2011, S. 475–479. Zum Wortfeld prohairesis und seinen Bezügen zu bouleúo (beraten, nach Beratung beschließen) und ethelo (wollen) vgl. Thomas Gilby O. P., St Thomas Aquinas. Psychology of Human Acts [Edition, Übersetzung und Annotation zu Thomas von Aquin, Summa theologiae. Ia IIae, 6–17], S. 124, Anm. e. 30 Thomas, De Malo (wie Anm. 27). Sed Contra 1, S. 452/454. Dass der Aquinat den Sirach-Vers als Bezugnahme auf Entscheidungshandeln deutet, ist angesichts von dessen lexikalischer Nähe zur Bestimmung des Entscheidungs- bzw. Wahlaktes als appetitus preconsiliati nachvollziehbar. Die Einheitsübersetzung macht den in der Vulgata nur implizit aufgerufenen Entscheidungsbezug des Verses auch tatsächlich explizit: »Er hat am Anfang den Menschen erschaffen / u nd ihn der Macht der eigenen Entscheidung überlassen«. Die zitierte Edition von De Malo verzichtet in ihrer Übersetzung indes auf eine solche Zuspitzung, vgl. ebd.: »Sir. 15:14 says: ›God from the beginning constituted and left human beings in the hands of their own deliberation‹.But this would only be the case if they were to have free choice, which is the desire for things about which there has been deliberation, as the Ethics says. Therefore, human beings have free choice in their acts«. 31 Übersetzung durch den Autor.

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der Mittel zur Erreichung eines spezifischen Zwecks abzielen  – quae sunt ad finem.32 In seinen weiteren Ausführungen verortet Thomas die electio dann im Spannungsfeld zwischen Wille und Intellekt: Was bewegt die Entscheidung, wodurch wird sie motiviert? Wodurch wird sie gegebenenfalls mit Notwendigkeit determiniert? Im sechsten Artikel von »De electione« wendet er sich gegen die Annahme, dass der Akt der Wahl bzw. Entscheidung ex necessitate erfolge. Er begründet dies eben mit der allgemeinen Beobachtung, dass der Mensch zu kontingentem Entscheiden befähigt sei: Potest enim homo velle et non velle, agere et non agere: potest etiam velle hoc aut illud, et agere hoc aut illud.33 Zwar folge die electio dem Urteil des Verstandes bezüglich dessen, was getan werden muss (iudicium rationis de agendis) – woraus im zweiten Videtur-Argument des Artikels denn auch die (von Thomas später zurückgewiesene) Annahme eines notwendig determinierten Entscheidungshandelns abgeleitet wird.34 Doch kann der Verstand verschiedene Möglichkeiten als Gut begreifen und dem Willen als erstrebenswert vorstellen – die Möglichkeit des Wollens bzw. Handelns ebenso gut wie die Möglichkeit des Nicht-Wollens und Nicht-Handelns. Auch kann der Verstand zwischen verschiedenen partikularen Gütern unterscheiden, indem er jeweils bestimmte Aspekte sub ratione boni oder mali hervorhebt und damit (dem Willen) als eligibile oder fugibile darstellt.35 Thomas weist dem Willen im Entscheidungsakt damit die Rolle eines Mittlers zwischen Verstand bzw. Erkenntnis und äußerer Handlung zu: Der Verstand stellt dem Willen seinen [appetitiven] Gegenstand vor, der Wille aber verursacht die darauf abzielende äußere Handlung.36 Auch wenn der Wille 32 Vgl. Thomas, Summa theologiae, Ia IIae, qu. 13, hg. von Thomas Gilby u. T. C. O’Brien, Bd. 17, London 1970, S. 122 (Einleitung): Consequenter considerandum est de actibus voluntatis qui sunt in comparatione ad ea quae sunt ad finem. Et sunt tres: eligere, consentire, et uti. Electionem autem praecedit consilium. Dass der absolute Endzweck – die Seligkeit – nicht Gegenstand der electio sein kann – dass es insofern nur um eine electio eorum quae sunt ad finem gehen kann, führt Thomas im 3. Artikel sowie in der Responsio zum 6. Artikel der 13. Quaestio aus. 33 Ebd., qu. 13, art. 6, Responsio. 34 Ebd., qu. 13, art. 6, Videtur 2: Praeterea, sicut dictum est, electio consequitur iudicium rationis de agendis. Sed ratio ex necessitate iudicat de aliquibus, propter necessitatem praemissarum. Ergo videtur quod etiam electio ex necessitate sequatur. Den ersten Satz dieses Syllogismus vertritt Thomas in art. 1 ad 2 derselben Quaestio als seine eigene Meinung. 35 Vgl. ebd., qu. 13, art. 6, Responsio: Quod […] possibile sit non eligere vel eligere, huius ratio ex duplici hominis potestate accipi potest. Potest enim homo velle et non velle […]. Cuius ratio ex ipsa virtute rationis accipitur. Quidquid enim ratio potest apprehendere ut bonum, in hoc voluntas tendere potest. Potest autem ratio apprehendere ut bonum non solum hoc quod est velle aut agere; sed hoc etiam quod est non velle et non agere. Et rursum in omnibus particularibus bonis potest considerare rationem boni alicuius, et defectum alicuius boni, quod habet rationem mali: et secundum hoc, potest unumquodque huiusmodi bonorum apprehendere ut elibibile, vel fugibile. 36 Vgl. ebd., qu. 13, art. 5, ad 1: Dicendum quod voluntas media est inter intellectum et exteriorem operationem. Nam intellectus proponit voluntati suum objectum, et ipsa voluntas causat exteriorem actionem. Zur genaueren Untersuchung des Verhältnisses von Willen

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Thomas zufolge der Träger des Entscheidungsaktes ist, so erscheint die electio doch wesentlich durch den Verstand bestimmt. Dieser leitet zur Auswahl der verfügbaren Alternativen an;37 und es ist die Tätigkeit des Verstandes, die mit Metaphern aus dem Bereich gesellschaftlicher – gerichtlicher – Entscheidungspraktiken beschrieben wird: als »Spruch« oder »Urteil«.38 3.3. Der freie Wille als Grundlage der Kontingenz von Entscheidungen (Heinrich von Gent, Johannes Duns Scotus)

Die übrigen hier betrachteten Autoren, die andere Schulen an der Universität Paris repräsentieren, konzipieren das Verhältnis von Willen und Intellekt charakteristisch anders als Thomas und seine Anhänger. Insbesondere weisen sie dem Willen eine viel dominantere, ja im Wortsinne die entscheidende Rolle im Akt des Entscheidens zu. So fragt Heinrich von Gent in seiner ausführlichen Auseinandersetzung mit Thomas’ Position: Was für eine Bedeutung hätte die Rede von libera voluntas, von liberum arbitrium, wenn der Wille nur umsetzen könnte, was der Verstand ihm als erstrebenswert vorstellt?39 Er unterschiede sich dann von anderen principia activa wie der Schwerkraft oder dem Instinkt der Tiere doch nur insofern, als der Wille anderer Auslöser bedürfte, nicht aber hinsichtlich der Notwendigkeit, mit der seine Bewegung ausgelöst würde.

und Intellekt bei Thomas vgl. insbesondere den ersten Artikel der betreffenden Quaestio, in dem Thomas den Entscheidungsakt in Übernahme von Unterscheidungen der aristotelischen Ontologie formaliter als Verstandesakt, materialiter und substantialiter aber als Willensakt bestimmt. Das Verständnis der betreffenden Ausführungen ist nicht zuletzt der ungewöhnlichen Gegenüberstellung von formaliter und substantialiter wegen nicht unproblematisch, vgl. Gilby, Thomas Aquinas (wie Anm. 29), S. 125, Anm. h. 37 Vgl. Thomas, S. th. (wie Anm. 32), Ia IIae, qu. 16 (›De usu‹), art. 1 (›Utrum uti sit actus voluntatis‹), Responsio: Manifestum est quod uti […] principaliter est voluntatis, tanquam primi moventis; rationis autem tanquam dirigentis. 38 Vgl. ebd., qu. 13, art. 1, ad 2: Dicendum quod conclusio […] syllogismi qui fit in operabilibus ad rationem pertinet; et dicitur sententia vel iudicium, quam sequitur electio. Zu den Pariser Theologen, die Thomas in seiner Auffassung bezüglich des Verhältnisses von Willen und Intellekt im Entscheidungsakt folgen oder vergleichbare Ansichten vertreten, vgl. Ludwig Hödl, Die Diskussion des Johannes de Polliaco über die Lehrentscheidung der Pariser Theologen von 1285/86. »Non est malitia in voluntate«, in: Archives d’histoire doctrinale et littéraire du Moyen Âge 66 (1999), S. 245–287, hier S. 246; Hödl benennt insbesondere Aegidius Romanus, Geoffroi de Fontaines und eben Jean de Poully. – Zum modernen Gebrauch der Gerichtsmetaphorik bei der Reflexion von (innerem) Entscheiden vgl. in diesem Band den Beitrag von Franziska Rehlinghaus. 39 Ich fasse im Folgenden Heinrichs Argumentation in der Responsio von Quodlibet I, qu. 16 zusammen (Utrum propositis ab intellectu maiori bono et minori, possit voluntas eligere minus bonum); Heinrich selbst spitzt diese Frage am Beginn der Responsio auf die Frage nach der Funktion des freien Willens bei der Ausübung des liberum arbitrium zu: Ad huius quaestionis intellectum oportet videre potestatem voluntatis in usu liberi arbitrii.

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So wie die Schwerkraft unmittelbar auf einen schweren Körper wirkt und die Wahrnehmung eines Wolfes unmittelbar den Fluchtinstinkt des Lammes anspricht, so würde auch das Urteil des Verstandes notwendig den entsprechenden Willensakt auslösen40 – ut sic sit tota liberi arbitrii penes rationem et nihil ex parte voluntatis […] ut non possit velle nisi cognitum et modo quo est a ratione iudicatum. Das aber widerspricht nicht nur dem Zeugnis verschiedener Autoritäten, sondern macht laut Heinrich auch die Rede vom freien Willen sinnlos. Wenn andererseits die electio hauptsächlich vom freien Willen abhängt, dann ist sie auch selbst ihrer Natur nach frei, und die Freiheit bildet ihr vorzügliches Merkmal: Wer frei entscheidet, so Heinrich, der kann dem Urteil des Verstandes folgen oder auch nicht.41 40 Vgl. ebd. die Zusammenfassung von Heinrichs Auseinandersetzung mit Thomas: Ex quo patet plane quod si ita est ut dicit illa opinio [sc. Thomae], nihil plus libertatis est in voluntate humana distincta contra intellectum quam in appetitu brutali. Ille enim diversa potest appetere secundum quod sensus diversa delectabilia potest proponere, et voluntas similiter secundum quod ratio potest diversa appetenda iudicare. Et est ex parte cognitionis differentia solummodo ut, cum homo differat a brutis tamquam arbitrium liberum a non libero, tota ratio liberi arbitrii secundum illos ex parte cognitionis ponenda est. Es ist davon auszugehen, dass Heinrich von Gent wie auch Thomas’ franziskanische Kritiker die Auffassung des Aquinaten verzerren, wenn sie ihm die Annahme einer effizient-kausalen Beziehung zwischen Erkenntnis und Willensakt unterstellen, vgl. Alexander Brungs, Intellekt, Wille und Willensschwäche im Korrektorienstreit. Einheit des Menschen vs. Homunculi, in: Tobias Hoffmann u. a. (Hg.), Das Problem der Willensschwäche in der mittelalterlichen Philosophie / The Problem of Weakness of Will in Medieval Philosophy, Leuven 2006, S. 265–283, hier S. 272–274. 41 Vgl. Heinrich von Gent, Opera omnia (wie Anm. 27), Quodlibet I, 16, Solutio: Si ergo electio principaliter dependet a voluntate, et ipsa ex natura sua libera est, et quod principale est in ipsa, libertas eius est. Libertas ergo principaliter est ex parte voluntatis, ut si velit, agat per electionem sequendo iudicium rationis, vel contra ipsum sequendo proprium appetitum. Eine umfassendere Übersicht über Heinrichs Auffassung vom Verhältnis zwischen Willen und Intellekt bzw. Ratio bietet Pasquale Porro, Art. ›Henry of Ghent‹, Kap. 10, in: The Stanford Encyclopedia of Philosophy (Fall 2014 Edition), hg. v. Edward N. Zalta, https:/plato.stanford.edu/archives/fall2014/entries/henry-ghent/ (Stand: 29. Januar 2018). – Zur Einordnung von Heinrichs Auffassungen zum Verhältnis von Willen und Intellekt in den Streit zwischen Thomas’ vor allem franziskanischen Kritikern und seinen zumeist dominikanischen Verteidigern vgl. zuletzt Holly Hamilton-Bleakley, John of Paris, Henry of Ghent, and the Will as Rational Appetite, in: Chris Jones (Hg.), John of Paris. Beyond Royal and Papal Power, Turnhout 2015, S. 193–221, bes. S. 195–207; sowie Brungs, Intellekt, Wille und Willensschwäche im Korrektorienstreit (wie Anm. 40), S. 266–268. Vgl. ebd., S. 268 f., auch eine philosophische Kritik an den Positionen von Thomas’ voluntaristischen Gegnern: »[Thomas’ Kritiker verbleiben] im Fahrwasser einer wesentlich von Augustinus genährten Anthropologie, die zur Hypostasierung seelischer Vermögen neigt. Eine solche Hypostasierung kann überhaupt erst die Frage aufkommen lassen, ob der Intellekt oder der Wille ›Verursacher‹ menschlicher Praxis im Sinne einer letzten, unhintergehbaren Kommandoinstanz sei. Es ist, so mein Eindruck, oft weniger die besondere Freiheitsliebe, die einen ›Voluntaristen‹ des 13. Jahrhunderts den Willen als Letztverantwortlichen inthronisieren und vermeintlich ›intellektualistische‹ Gegner

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›Entscheiden‹ wird bei Heinrich daher auch terminologisch zu einer bestimmten Form des Wollens (velle per electionem) – einer Form, die zwar die urteilende Tätigkeit des Verstandes voraussetzt, aber nicht an sie gebunden ist.42 Die hier zum Tragen kommende voluntaristische Interpretation des Phänomens ›Entscheiden‹ ist bei jüngeren Philosophen wie dem etwa eine Generation später wirkenden Johannes Duns Scotus sowohl inhaltlich als auch terminologisch noch schärfer ausgeprägt. Duns Scotus fasst das freie, nicht determinierte Entscheiden als ein spezifisches Vermögen, eine charakteristische Tätigkeit des Willens auf. Gleich dem göttlichen sei auch der menschliche Wille durch seine Fähigkeit gekennzeichnet, sich auf Gegensätzliches zu beziehen: Consimilatur voluntas nostra voluntati divinae [in eo quod eam] potentiam esse ad opposita potest […] intelligi.43 Da der Begriff der electio mit seiner Implikation einer Auswahl zwischen gegebenen Alternativen in Duns Scotus’ Darlegungen keine prominente Rolle spielt, ist es einerseits unerlässlich, den Alternativenbezug des Willens- bzw. Entscheidungsaktes auf diese Weise explizit hervorzuheben. Auf der anderen Seite erlaubt es die Formulierung vom Willen als einem »auf Gegensätzliches bezogenen Vermögen«,44 den kontingenten Charakter der vom dieses Konzepts des Determinismus zeihen lässt, sondern die trotz mitunter gebrauchter aristotelischer Begriffshülle beibehaltene dualistische Anthropologie augustinischer Prägung, die den ›wahren‹ Menschen im Menschen sucht und so der Versuchung, im Inneren menschlicher Individuen waltende Homunculi zu postulieren, starken Vorschub leistet.« 42 Vgl. ebd.: Ad volendum simpliciter nihil faciat ratio nisi quod proponat volibilia, licet ad volendum per electionem necesse est praecedere rationis sententiam, quia aliter volun­tatis appetitus non esset electivus. Eine vergleichbare Auffassung vertritt auch der franziskanische Theologe Richard de Mediavilla in seinem Sentenzenkommentar: Super quatuor libros sententiarum Petri Lombardi quaestiones subtilissimae, d. 41, art.  1, qu.  2, responsio, ed. v. Ludovicus Silvestrius, Brescia 1591, Bd. 1, S. 365a: Sic patet, quod propositum et electio formaliter dicunt[ur] actus voluntatis: & secundum rationem intelligendi presupponunt cognitionem in intellectu proponibile vel eligibile simpliciter ostendentem, non determinantem voluntatem ad sic proponendum, vel eligendum. – Nur am Rande sei bemerkt, dass das von Heinrich und anderen skizzierte Verhältnis zwischen Intellekt und Willen – der den Vorgaben des Intellekts folgen kann oder auch nicht – in gewisser Weise eine Entsprechung in der Urteilspraxis vormoderner Gerichte findet, die sich zwar im Prinzip an explizit formulierten Rechtsregeln orientieren, unter Verweis auf die übergeordnete Norm der aequitas aber durchaus davon abweichen; vgl. Romain Telliez, »Per potentiam officii«. Les officiers devant la justice dans le royaume de France au XIVe siècle, Paris 2005, S. 138 (im Hinblick auf die Rechtsprechung des französischen Parlement de Paris): »Les juges n’étaient pas astreints au respect du droit strict, et pouvaient s’en écarter ou même aller contre la règle pour suivre la voie de l’équité, à condition d’indiquer le caractère intentionnel de cette dérogation. On peut constater en parcourant les registres combien sont nombreuses ces décisions en équité, marquées par la formule ex causa«. 43 Vgl. Duns Scotus, Reportatio Parisiensis Examinata (wie Anm. 25), d. 39/40, § 41, S. 86; ähnliche Bezugnahmen auf den Willen als potentia ad opposita passim. 44 Zu dieser Übertragung von potentia ad opposita vgl. die Übersetzung von Joachim Söder, Pariser Vorlesungen über Wissen und Kontingenz (wie Anm. 25), S. 87.

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Willen getragenen Entscheidung noch abstrakter herauszuarbeiten, als dies bei Thomas und Heinrich geschieht.45 3.4. Auf dem Weg zu einer feldübergreifenden Entscheidungsterminologie? Determinatio als wissenschaftliche Entscheidungspraxis und philosophisches Konzept bei Johannes Buridanus

Die electio im Spannungsfeld von Willen und Intellekt und das Konzept der voluntas als potentia ad opposita stellen indes nicht die einzigen Begrifflichkeiten dar, mit denen Phänomene des Entscheidens im universitären Diskurs thematisiert werden. Als weitere einschlägige Lexeme sind auch determinare bzw. determinatio zu nennen – zwei Ausdrücke, die ebenfalls den Akt des Entscheidens bezeichnen (können). Als Werkzeuge der philosophischen Analyse werden sie indes bis ins 14. Jahrhundert hinein nicht verwendet. Auf der Referentenebene sind die beiden häufig verwendeten Lexeme zunächst nämlich auf einem ganz anderen Niveau angesiedelt als die Begrifflichkeiten, die wir zuvor diskutiert haben: Sie bezeichnen im 13. und 14. Jahrhundert ganz konkret die Tätigkeit des Universitätsmagisters, der wissenschaftliche Streitfragen entscheidet.46 Der Begriff der determinatio ist aufs engste mit einer Praxis verbunden, die im 13. und 14. Jahrhundert sowohl den universitären Wissenschaftsbetrieb als auch die dort entstehende wissenschaftliche Literatur prägt. In dieser Zeit entwickelt sich mit Disputation und Quaestio disputata bekanntlich eine Form der wissenschaftlichen Kommunikation, die in ausgesprochen hohem Maße entscheidungsförmig gebaut ist. Die zu behandelnden Probleme werden dazu zunächst in einander widersprechende Alternativen aufgelöst, die durch Autoritätsbezüge und Vernunftgründe beide so stark wie möglich gemacht werden. In der akademischen Disputatio geschieht dies zum Beispiel durch Schüler und Kollegen des Magisters, die jeweils eine Seite zu vertreten haben. Der Lehrer beendet – determiniert – dann die Disputation bzw. das wissenschaftliche Problem: Er gibt eine autoritative Antwort auf die Ausgangsfrage und löst die seiner Auffassung widersprechenden Argumente auf.47 Die hier skizzierte Grund45 Zum Bezug der electio auf kontingente, nicht determinierte Alternativen vgl. etwa Thomas, S. th., Ia IIae (wie Anm. 32), qu. 13, art. 2, Responsio: Dicendum quod, cum electio sit praeacceptio unius respectu alterius, necesse est quod electio sit respectu plurium quae eligi possunt. Et ideo in his quae sunt penitus determinata ad unum, electio locum non habet; Heinrich von Gent, Opera omnia (wie Anm. 27), Quodlibet I, 16 (in Auseinandersetzung mit Thomas’ Position): Circa contingentia enim in quibus cadit consiliatio, ratio habet viam ad opposita, et omnia operabilia particularia contingentia quaedam sunt. 46 Zur hier nicht weiter zu thematisierenden Fortentwicklung des Begriffs zu einem Synonym für die akademische Inceptio vgl. die Nachweise bei DuCange, Glossarium (wie Anm. 17), s. v. Determinatio. 47 Zur scholastischen Disputation, ihrem Stellenwert und Ort im akademischen Leben und ihrer historischen Entwicklung vgl. insbesondere die Arbeiten von Olga Weijers, Queri-

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struktur spiegelt sich auch in der Quaestio disputata wider, die gewissermaßen die für die Publikation überarbeitete Schriftfassung der jeweiligen Disputation darstellt: Auf die Auflistung der Pro- und Contra-Argumente (die oft durch Formeln wie videtur quod bzw. sed contra eingeleitet werden) folgt die Responsio oder Solutio des determinierenden Magisters und die Auflösung der entgegenstehenden Argumente (ad 1, 2, etc.).48 In seinem Konnotationsgehalt ähnelt das klassisch wohl nicht mit der Bedeutung ›entscheiden‹ verwendete determinare49 möglicherweise dem Lexem decīdere. Beide Ausdrücke unterstreichen den Gedanken, dass etwas zu Ende gebracht wird – dass der langdauernde Prozess des Deliberierens durch das Fällen der Entscheidung nun an sein Ziel kommt. Auch in einer weiteren Hinsicht ähneln sich die beiden Lexeme: Ebenso wie decīdere50 wird auch determinare bis ins 14. Jahrhundert hinein nicht zur Reflexion der oben skizzierten philosophisch-theologischen Probleme gebraucht; wenn der Ausdruck determinare in der scholastischen Quaestionenliteratur verwendet wird, steht die konkrete wissenschaftliche Tätigkeit des Universitätslehrers zur Debatte.51

tur utrum: Recherches sur la »disputatio« dans les universités médiévales, Turnhout 2009; dies., La »disputatio« dans les facultés des arts au Moyen Âge, Turnhout 2002. 48 Vgl. hierzu den Überblick bei Ludwig Hödl, Art. ›Disputation 1. Philosophie und Theologie‹, in: Lexikon des Mittelalters 3 (1999), Sp. 1116–1118. 49 Der Thesaurus Linguae Latinae, s. v. determino II , weist entsprechende Bedeutungen ›latiore sensu‹ nur für spätlateinische Zeugnisse (etwa im Codex Theodosianus) nach: Hier kann determinare tatsächlich ›einen Streit, Prozess entscheiden‹ bedeuten. Ansonsten scheint das Lexem – neben seiner Grundbedeutung – in der Spätantike vor allem als christlicher Fachterminus (für die göttliche Prädestinationstätigkeit bzw. allgemeiner den göttlichen Ratschluss) sowie als Übersetzung für das in medizinischen Kontexten verwendete krínein benutzt zu werden (etwa: aegritudines intra quadraginta dies determinantur). 50 Neben der oben erwogenen Erklärung für die mittelalterliche Nicht-Nutzung von decīdere ist gerade im universitären Kontext noch ein weiterer Erklärungsansatz zu erwähnen: Es ist möglich, dass decīdere auch aufgrund der Homographie mit dem gerade in den lateinischen Übersetzungen des Corpus Aristotelicum häufiger verwendeten decĭdere (herabfallen, herabsinken) von den scholastischen Autoren vermieden wurde. Wie der Blick in die Aristoteles Latinus Database lehrt, erscheint decĭdere gerade in den Übersetzungen der naturphilosophischen Schriften häufig. Allerdings wird die Verwendung von decīdere (zumeist in der Bedeutung [zu]schneiden, [ab]trennen, [zer]teilen) im lateinischen Corpus Aristotelicum keineswegs vermieden; dies gilt insbesondere für das Substantiv decisio und die perfektivischen Partizipialformen. 51 Vgl. hierzu exemplarisch die folgenden quodlibetalen Quaestionen: Thomas von Aquin, Quodlibet IV, 18 (Utrum magister determinando questiones theologicas magis debeat uti ratione, vel auctoritas); Heinrich von Gent, Opera omnia (wie Anm. 27), Quodlibet X, 16 (Utrum doctor sive magister determinans quaestiones vel exponens scripturas publice peccet mortaliter non explicando veritatem quam novit); Godefroid de Fontaines, Quodlibet III , 10 (Utrum doctor in theologia possit determinare ea quae ad solum papam pertinent), jeweils zitiert nach Elsa Marmursztejn, L’Autorité des maîtres. Scolastique, normes et société au xiiie siècle, Paris, 2007, S. 279–283.

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Im weiteren Verlauf des 14. Jahrhunderts scheint sich dies indes zu ändern. Bei Johannes Buridanus bezeichnet determinare nunmehr auch den Entscheidungsakt des Willens. In seinem Kommentar zum dritten Buch der (Nikomachischen) Ethik erörtert er einleitend die Frage, ob es möglich sei, dass der Wille in einem Setting, in dem alle Rahmenbedingungen gleich seien, bald auf die eine, bald auf die andere von zwei entgegengesetzten Möglichkeiten festgelegt werden könne: Utrum sit possibile quod voluntas ceteris omnibus eodemmodo se habentibus determinetur aliquando ad unum oppositorum, aliquando ad aliud.52 In der Formulierung des Quaestionentitels wird determinare zunächst noch ohne die Bedeutung ›entscheiden‹ verwendet. Zumal in der passivischen Form determinatur bezeichnet das Verb nur das Festgelegtwerden bzw. Determiniertsein; Buridan verwendet das Lexem also in der Bedeutung des theologischen Fachterminus, der auch in der älteren scholastischen Literatur selbstverständlich üblich war.53 Bei der Darstellung eines zur Verdeutlichung herangezogenen Beispiels ändert sich der Wortgebrauch indes. Wenn ich von Paris nach Avignon gehen möchte, schreibt Buridan, dann kann ich über Lyon oder über Châteaudun gehen. Der Verstand präsentiert meinem Willen beide Möglichkeiten als einander ausschließende Güter. Deshalb ist mein Wille frei, sich für eine oder auch keine der beiden Möglichkeiten zu entscheiden: Ideo libere potest se determinare [voluntas] ad quodlibet illorum absque alio quocunque determinante ipsam vel etiam potest ad neutrum illorum se determinare sed in suspenso manere.54 Hier wird die reflexive Wendung se determinare ganz analog zum neufranzösischen se décider zur Bezeichnung eines individuellen bzw. mentalen Entscheidungsaktes verwendet.55 Zumindest bei Buridan hat der Ausdruck (se) determinare die enge Konnotation des magistralen akademischen Entscheidens abgestreift und bezeichnet ganz einfach den Vorgang des Entscheidens. Das Lexem steht damit auch für die allgemeine Reflexion von Willens- bzw. Entscheidungsakten bereit. Dies hat übrigens den Nebeneffekt, dass das philosophische Nachdenken über Entscheiden nun auch terminologisch an die Diskussion um Kontingenz und Determination angeschlossen wird; wie oben ausgeführt, behalten determinare 52 Buridanus, Super decem libros Ethicorum (wie Anm. 26), fol. 36 r. 53 Zur Verwendung von determinari im Sinne von ›festgelegt‹ bzw. ›notwendig verursacht werden‹ vgl. etwa Thomas, De Malo, qu. 6, 16. 54 Buridanus, Super decem libros Ethicorum (wie Anm. 26), fol. 36 v (für das Zitat); das Beispiel beginnt bereits auf fol. 36 r. 55 Ansätze zur Entwicklung eines stärker »entscheidungshaltigen« Determinationsbegriffes sind bereits in den Auseinandersetzungen des Korrektorienstreits zu beobachten, vgl. etwa Hamilton-Bleakley, Will as Rational Appetite (wie Anm. 41), S. 208, im Blick auf Artikel 51 des Korrektoriums Circa des Jean Quidort (Utrum homo per rationem determinet se ad volendum hoc vel illud); ihre Erläuterung von Jeans Argumentationsgang macht indes auch deutlich, dass der Ausdruck determinare hier noch in seiner philosophischen Grundbedeutung verwendet wird und eben nicht den Entscheidungsakt als solchen bezeichnet bzw. analysiert.

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bzw. determinari ja auch bei Buridan ihre ›technischen‹ Spezialbedeutungen des Determinierens bzw. Determiniertwerdens. Mit Buridan kann man daher fortan formulieren: Der freie, durch nichts determinierte Wille entscheidet zwischen kontingenten Alternativen; und indem er entscheidet, determiniert er die kontingenten Entscheidungssituationen. 3.5. Reflexionen und Terminologien des Entscheidens im Umfeld des spätmittelalterlichen Wissenschaftsbetriebs: Ergebnisse

In den voranstehenden Ausführungen ist deutlich geworden, dass Entscheiden ein wichtiger, umfassend erörterter Gegenstand der spätmittelalterlichen Philosophie ist. Die exemplarisch untersuchten Positionen von Vertretern verschiedener Schulen an der Pariser Universität des 13. und 14. Jahrhunderts haben dabei die Eckpunkte eines Diskussionszusammenhangs erkennen lassen, der bei aller Unterschiedlichkeit in einzelnen Wertungen durch den Rekurs auf aristotelische Konzeptionen des Entscheidens sowie durch die Existenz gemeinsamer Fragestellungen zusammengehalten wird. Dies gilt etwa für die grundsätzliche Anerkennung der Existenz von Kontingenz und für die Verortung des Entscheidungsaktes im Spannungsfeld von Willen und Intellekt. Auch wenn die verschiedenen Schulen im Laufe der Zeit unterschiedliche Terminologien entwickeln, so steht doch jeweils ein geeignetes Vokabular bereit, um die Reflexion von Entscheiden zu ermöglichen. Mit electio bzw. eligere und später determinare bzw. determinatio werden dabei Begriffe verwendet, die einen konkreten lebensweltlichen Gehalt aufweisen. Determinatio ist ursprünglich der Terminus für das wissenschaftliche Entscheidungshandeln des Universitätsmagisters; und electio bezeichnet einen Modus zum Beispiel der Personalentscheidung, der zumindest der Theorie nach auch im Spätmittelalter noch zum Einsatz kommt (etwa bei der Besetzung kirchlicher Stellen). Die Bestimmung der Entscheidung als eines Willensaktes, der auf dem Vermögen beruht, sich auf Gegensätzliches zu beziehen (potentia ad opposita), erscheint demgegenüber weitaus ›scholastischer‹. Gerade in ihrer Abstraktheit spiegelt diese Bestimmung indes noch deutlicher die aus Aristoteles’ Schriften abgeleitete Grundannahme wider, welche die spätmittelalterliche Diskussion um Entscheiden zusammenhält  – die Annahme nämlich, dass es nicht-determiniertes menschliches Handeln gibt, dass sich der Wille des Menschen im Prinzip auf Gegensätzliches richten kann und dass die Rede von Entscheiden daher sinnvoll und möglich ist. Zugleich erkennen alle hier betrachteten Autoren an, dass allein die Fähigkeit des Menschen, sich zwischen Alternativen zu entscheiden, seine (moralische) Verantwortung begründet – und sie binden ihre diesbezüglichen Reflexionen sowohl inhaltlich wie auch terminologisch an die lebensweltliche Erfahrung alltäglichen Entscheidungshandelns zurück.

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4. Entscheiden als philosophisches Konzept und Medium gesellschaftlicher Selbstbeobachtung im späten Mittelalter. Konklusion und Ausblick Welche Rolle spielt ›Entscheiden‹ in den akademischen Gedankengebäuden und Lebenswelten des 13. und 14. Jahrhunderts? Offenkundig keine geringe: Die scholastischen Theologen und Philosophen des 13. und 14. Jahrhunderts weisen gegenüber Konzept und Praxis keinerlei Berührungsängste auf. Sie organisieren nicht nur den Wissenschaftsbetrieb und die wissenschaftliche Diskussion im Wesentlichen entscheidungsförmig, indem sie theologische und philosophische Probleme in einzelne Streitfragen auflösen und in Gestalt von ›Quaestiones disputatae‹ entscheidbar machen; sie reflektieren – und affirmieren! – auch explizit die Möglichkeit kontingenten Entscheidungshandelns. Die oben betrachteten Texte haben gezeigt, dass spätmittelalterliche Theologen und Philosophen die Existenz und Relevanz entscheidungsförmigen Handelns als allgemein anerkanntes Faktum voraussetzen – und dass sie insofern auch die Beobachtung von Entscheidungshandeln als lebensweltliche Alltagserfahrung betrachten. Darüber hinaus ist ihnen auch der Gedanke, dass Entscheidungshandeln in besonderem Maße Verantwortlichkeit generiert, keineswegs fremd. Ganz im Gegenteil bildet dieser Nexus nach Auffassung unserer Gewährsleute buchstäblich die Grundlage der Moralphilosophie. Nun impliziert die Tatsache, dass der doch recht exklusive Kreis der spätmittelalterlichen Universitätsgelehrten explizit über Entscheiden nachgedacht und die Existenz von Entscheidungsakten als alltägliche Realität vorausgesetzt hat, natürlich noch nicht, dass die dort vertretenen Auffassungen auch tatsächlich der alltäglichen Wahrnehmung anderer Zeitgenossen entsprachen. Erst recht lässt sich aus den bislang erzielten Ergebnissen nicht ableiten, dass Praktiken des Entscheidens und insbesondere das Fällen von Entscheidungen56 in der gerichtlichen, politischen oder religiösen Kommunikation des Spätmittelalters mit ähnlicher Intensität beobachtet und reflektiert wurde. Ob, wo und wie dies gegebenenfalls geschah, wird in weiteren Arbeiten zu überprüfen sein. Dass in anderen Diskursfeldern ähnlich ausgefeilte theoretische Konzepte des Entscheidens verwendet wurden wie im akademischen Raum, ist wenig wahrscheinlich. Zwar gehen die hier betrachteten mittelalterlichen Theologen und Philosophen, wie gesagt, von der Überlegung aus, dass Entscheiden eine allenthalben zu beobachtende lebensweltliche Praxis sei; insofern ist es nicht unplausibel, dass sich einschlägige Reflexionen direkt oder indirekt auch in

56 Zur Unterscheidung zwischen ›Entscheiden‹ und ›Entscheidung‹, die für die Arbeiten des SFB 1150 eine wichtige Rolle spielt, vgl. Philip Hoffmann-Rehnitz u. a., Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), S. 217–281, insbesondere S. 226 f.

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anderen Diskursfeldern nachweisen lassen. Doch dürften die dort überlieferten Kommunikationsakte weniger durch das Bemühen um analytische und be­ griffliche Schärfe als vielmehr durch pragmatisch zu analysierende Zielsetzungen geprägt sein. Tatsächlich müssen wir davon ausgehen, dass die spätmittelalterliche Kommunikation von Entscheidungen auf den verschiedenen Feldern durch je spezifische strukturelle Rahmenbedingen geformt und geprägt ist. Wenn dabei der Entscheidungscharakter einschlägiger Handlungen nicht explizit beobachtet wird, so ist dies in vielen Fällen wohl durch den Zusammenhang zwischen Entscheiden und Verantwortung zu erklären, den im Übrigen ja auch die mittelalterlichen Philosophen zur Grundlage ihrer Analyse gemacht haben: Man bemüht sich, durch (Nicht-)Beobachtung von Entscheiden Verantwortung hervortreten zu lassen oder eben auch nicht. Indizien für entsprechende Deutungen lassen sich aus verschiedenen Funktionsbereichen der spätmittelalterlichen Gesellschaft beibringen. So beobachten wir etwa in der Sprache spätmittelalterlicher Gerichte, dass der Deliberationscharakter des Entscheidungshandelns im Urteilstext stark in den Vordergrund gestellt wird, während der eigentliche Entscheidungsakt (und die damit ein­ hergehende explizite Konstruktion von Verantwortung) sprachlich in den Hintergrund tritt.57 Im Gegensatz dazu betonen die Dispositionsformeln spätmittelalterlicher Königsurkunden sehr stark die Rückbindung der im Akt der Privilegierung vollzogenen und verkündeten Entscheidung an den Willensakt und damit die persönliche Autorität des Urkundenstellers.58 Noch einmal anders dürfte das Problem der Kommunikation kollektiver Entscheidungen und deren historiographischer Beobachtung gelagert sein. Hier besteht die Notwendigkeit, nicht allein die Verpflichtung der Beteiligten auf den erzielten Konsens zu gewährleisten, sondern auch den Gesichtsverlust der unterlegenen Partei zu verhindern, der in Anwesenheitsgesellschaften oft kata­

57 Als typische Urteilsformel des Parlement de Paris vgl. hierzu etwa Archives Nationales de France, Série X 2A4, 140 v: […] Tandem auditis et consideratis partium rationibus, visis quoque litteris hincinde per eas exhibitis et attentis omnibus que nostram curiam movere poterant et debebant, per arrestum ipsius curie dictum fuit quod [es folgt das eigentliche Urteil]. Die semantische Verschleierung des eigentlichen Entscheidungsaktes und die damit verbundene Verhüllung persönlicher Verantwortlichkeiten erfolgt hier durch die Wahl eines unspezifischen Verbums und dessen unpersönliche Konstruktion (dictum fuit); die persönliche Verantwortung der Richter wird zusätzlich noch durch die Fiktion verschleiert, dass der König die das Urteil enthaltende Urkunde ausstellt, während andererseits aus dem Urkundentext klar hervorgeht, dass das Urteil nicht auf den König zurückgeht (per arrestum curie nostre). 58 Vgl. etwa die folgende, typische Bestätigungsformel, Archives Nationales de France, Série JJ 74, 311 v (königliche Bestätigung einer angefochtenen Lettre de rémission, d. h. eines Begnadigungsschreibens): Nos autem graciam et remissionem predictas et omnia in predictis litteris contenta rata et grata habentes, ea volumus laudamus ratifficamus et approbamus auctoritate nostra regia, et de plenitudine potestatis regie de speciali gratia et tenore presencium confirmamus.

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strophale Folgen nach sich ziehen kann.59 Angesichts dessen ist zu vermuten, dass die verbindlichkeitsstiftenden Zustimmungsakte hervorgehoben, die implizit zurückgewiesenen Alternativen, deren Erwähnung nicht zum Bild des Konsenses passen würde, hingegen ausgeblendet werden.60 In all diesen Fällen ist das Verhältnis zwischen Praktiken und Semantiken des Entscheidens noch genau zu untersuchen. Wir müssen vermuten, dass künftige Analysen weniger eine allgemeine Tendenz zur Verschleierung von Entscheidungen herausstellen werden. Vielmehr dürften allenthalben situativ begründete, flexibel an die jeweiligen Konstellationen angepasste Entscheidungskommunikationen zu beobachten sein, die bestimmte Aspekte des Entscheidungshandelns hervorheben und andere ausblenden. Jedenfalls wird an dieser Stelle der analytische Mehrwert des hier verfolgten Ansatzes deutlich: Gerade weil mittelalterliche Gesellschaften nicht jedes als relevant wahrgenommene Handeln als Entscheidungshandeln beobachten, stellt die Untersuchung von Semantiken und Narrativen des Entscheidens ebenso wie der Blick auf deren pragmatische Verwendung ein wichtiges Analyseinstrument dar, das eine genauere Beschreibung vormoderner Lebens- und Herrschaftsrealitäten ermöglicht.

59 Dies wird, insbesondere mit Blick auf die Frühe Neuzeit, auch betont in Barbara StollbergRilinger, Cultures of Decision-Making, London 2016. 60 Zu den im Einzelnen erheblich komplexeren Mechanismen konsensualer Herrschaft im französischen Königreich des 14. Jahrhunderts vgl. Georg Jostkleigrewe, Monarchischer Staat und ›Société politique‹. Politische Interaktion und staatliche Verdichtung im spätmittelalterlichen Frankreich, Ostfildern 2018, insbesondere S. 362–390.

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Umstrittene Narrative und religiöse Sprache Widerstände gegen inquisitorisches Entscheiden in Italien (1230–1330)

Mit der im 13. Jahrhundert erfolgenden Institutionalisierung der Inquisition innerhalb der Gesellschaft Ober- und Mittelitaliens ging die Einführung und Verbreitung neuer Formen und Logiken des Entscheidens und damit die Ausbildung einer neuen ›Kultur des Entscheidens‹ einher. Dieser Prozess traf auf einige starke Widerstände, so dass bestimmte Aspekte der Entscheidenspraxis der Inquisitoren, aber auch der ihnen vorgeführten ›Häretiker‹ immer kritischer reflektiert und kommentiert wurden. Das inquisitorische Entscheiden wurde dabei jedoch häufig nur in indirekter Weise angesprochen. Der vorliegende Beitrag will klären, inwieweit wir aus dem Echo der Widerstände gegen die Inquisition dennoch auf unterschiedliche – und teils umstrittene bzw. konkurrierende – Narrative des Entscheidens1 schließen können. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, führt das Thema der Inquisition dabei tiefer in komplexe mittelalterliche Kulturen des Entscheidens hinein, als es ein unmittelbar augenfälliges Verständnis der Inquisition als Maschinerie von Rechtsentscheidungen suggeriert.2 Zwar entschied die Inquisition in rechtlicher 1 Zu jüngeren Beiträgen (innerhalb verschiedener Disziplinen) über den Begriff des Narrativs vgl. Jerome Bruner, The Narrative Construction of Reality, in: Critical Inquiry 18 (1991), S. 1–21; Uta Fenske u. a. (Hg.), Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne, Bielefeld 2013; Vera Nünning u. a. (Hg.), Ritual and Narrative: Theoretical Explorations and Historical Case Studies, Bielefeld 2013; Frank Gadinger u. a. (Hg.), Politische Narrative. Konzepte  – Analysen  – Forschungspraxis, Wiesbaden 2014. Mittelalterliche religiöse Narrative werden u. a. diskutiert von Ryan Szpiech, Conversion and Narrative: Reading and Religious Authority in Medieval Polemic, Philadelphia 2013; Sita Steckel, Verging on the Polemical. Towards an Interdisciplinary Approach to Medieval Religious Polemic, in: Medieval Worlds 7 (2018), S. 2–60 (insbes. S. 22–26 zur Construction of self and other); zur Selbstbeobachtung und den Narrativen der Inquisitoren s. Christine Caldwell Ames, Righteous Persecution. Inquisition, Dominicans, and Christianity in the Middle Ages, Philadelphia 2009. Es gibt bislang kaum Untersuchungen über die Narrative des Entscheidens im Mittelalter. Zum Entscheiden als Form des sozialen Handelns mit Bezug auf seine ›kommunikativen‹ und ›diskursiven‹ Aspekte s. Philip Hoffmann-Rehnitz u. a., Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), S. 217–280, insbes. S. 242–249 u. 262–264. 2 Vgl. zu den verschiedenen Aspekten des Entscheidens der mittelalterlichen Inquisition insgesamt Sita Steckel, »Problematische Prozesse«. Die mittelalterliche Inquisition als Fallbeispiel der Problematisierung religiösen Entscheidens im Mittelalter, in: Frühmittelalterliche Studien 52 (2018), S. 365–399; Alberto Cadili, Kritik und Reflexion der Entscheidungspro-

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Weise, doch lagen dem spezifische Annahmen über das religiöse (Entscheidungs-)Handeln der Laien, das Gegenstand des inquisitorischen Entscheidens war, zugrunde. Laien, die des Kontakts mit Häresie beschuldigt wurden, hatten sich, wie man glaubte, für eine Religiosität entschieden, die sie auch selbst als ausschließend gedachte Alternative zu kirchlich vorgegebenen Möglichkeiten einstuften. Für die Laien selbst implizierten solche Entscheidungen jedoch häufig keine absolute Abwendung von anderen religiösen Praktiken, die insgesamt eher als Optionen gedacht wurden.3 Doch andere – das Papsttum und die von ihm geschaffenen Inquisition – stuften laikales Handeln, indem sie dies als häretisch bezeichneten (im Mittelalter abgeleitet vom gr. hairesis im Sinne ›eigener Auswahl‹),4 als Entscheidung für eine Abwendung vom Christentum ein. Die dem zugrundeliegenden Vorstellungen von der Beschaffenheit individueller Entscheidungen waren im 13. Jahrhundert durchaus umstritten und veränderten sich.5 In der langwierigen Auseinandersetzung mit heterodoxen Bewegungen wurden erst allmählich bestimmte Annahmen über das Entscheiden der Häretiker stabilisiert. Man bezog sich dazu auf theologische Modellierungen der inneren Dispositionen, die Individuen zu gottgefälligem oder sündigem Handeln und damit auch zur Hinwendung zu Häresie oder Orthodoxie motivierten. In normativen Quellen wie päpstlichen Bullen und antihäretischen Traktaten wurden solche Annahmen zur Begründung und Legitimation der Verfolgung von häretischen Bewegungen des 12. und 13. Jahrhunderts dann zugespitzt: Nicht nur Handlungen, die nicht den Lehren der Römischen Kirche bezüglich des Seelenheils entsprachen, wurden aus einer bewussten Entscheidung für die Häresie hergeleitet. Bald erschienen auch weitere Sachverhalte als Anzeichen für ein solches Entscheidungshandeln – von der Unterstützung von Ketzern und dem Kontakt mit ihnen bis zum einfachen politischen Ungehorsam gegenüber dem Papsttum. zesse oberitalienischer Inquisitoren (13.–14. Jahrhundert). Forschungsperspektiven und Forschungsstand, in: Frühmittelalterliche Studien 53 (2019), S. 191–245. 3 Vgl. zur Konzeptualisierung von religiösen Optionen und Alternativen Steckel, »Problematische Prozesse« (wie Anm. 2), und demnächst Matthias Pohlig / Sita Steckel (Hg.), Über Religion entscheiden. Religiöse Optionen und Alternativen im mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Christentum (in Vorbereitung). Für ein späteres Zeitalter John van Engen, Multiple Options. The World of the Fifteenth-Century Church, in: Church History 77 (2008), S. 257–284. 4 Vgl. zu mittelalterlichen Konzepten von Häresie Hans Dieter Betz, Art. ›Häresie I. Begriff‹, in: Theologische Realenzyklopädie 14 (1985), S. 313–318; Grado Giovanni Merlo, Eretici del medioevo. Temi  e paradossi di storia  e storiografia, Bresdcia 2011. Aufgrund ihres Zuschreibungscharakters (ebd., insbes. S. 7, 94 u. 98 f.) kann darauf verzichtet werden, die Begriffe ›Häresie‹, ›Ketzer‹ usw. im folgenden Text unter Anführungszeichen zu setzen. 5 Vgl. z. B. Lucy J. Sackville, Heresy and Heretics in the Thirteenth Century: The Textual Representations, York 2011; Othmar Hageneder, Der Häresiebegriff bei den Juristen des 12. und 13. Jahrhunderts, in: Willem Lourdaux / Daniel Verhelst (Hg.), The Concept of Heresy in the Middle Ages (11th–13th c.): Proceedings of the International Conference (Louvain, May 13–16, 1973), Leuven 1976, S. 42–103.

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Auf der Basis solcher Annahmen entschieden die Inquisitoren in den spezifischen Fällen, dass jemand ein Ketzer war und wie dieser bestraft werden sollte. Das Warum wurde dagegen nicht erklärt. Der sermo generalis des Inquisitors, der das Publikum über das Urteil informierte und es erläuterte, war somit Inszenierung eines Rechtsentscheids, der auf bestimmten, häufig nur noch verkürzt vorgetragenen Annahmen über religiöses Entscheiden aufbaute  – mithin auf legitimatorischen Erzählungen, die im Weltwissen der Rezipienten verankert waren; diese werden hier als ›Narrative des Entscheidens‹ bezeichnet. Wie im Folgenden aufgezeigt wird, lagerten sich den von den Inquisitoren vorgegebenen Narrativen über das religiöse Entscheiden bald auch Gegenannahmen und schließlich Gegenerzählungen an, die die Hintergründe eines als ungerecht und unrechtmäßig wahrgenommenen inquisitorischen Entscheidens thematisierten. Sie sind dabei eher indirekt auf die Entscheidenspraxis selbst bezogen, da sie vor allem die Motivationen und Qualitäten der Inquisitoren als Entscheider und weniger deren Entscheidungshandeln in den Blick nehmen. Der Beitrag geht vor diesem Hintergrund der Frage nach, inwiefern die dabei beobachtbaren Narrative und Semantiken trotzdem ein Licht auf die von der Inquisition getragene neue Kultur des Entscheidens werfen: Die grundlegende Hypothese ist, dass gerade diese Verlagerung der kritischen Diskurse vom Entscheiden und der Entscheidung zum Entscheider Spezifika vormoderner Kulturen des Entscheidens aufklärt. Wie zu zeigen sein wird, geben die umstrittenen Beschreibungen der neuen päpstlich-inquisitorischen Kultur des Entscheidens Einblicke in eine differenzierte Gesellschaft, die Modelle und Konzeptionen religiösen Entscheidens kritisch beobachtete und dabei den Bereich des Religiösen zu anderen gesellschaftlichen Sphären in Bezug setzte.6

1. Eine neue Kultur des Entscheidens Die Inquisition erwies sich bereits im Moment ihrer Entstehung als problematisch.7 Bereits vor ihrer Konsolidierung wurden Mendikantenbrüder zur Bekämpfung von Ketzern eingesetzt, wie die Friedensbewegung des Alleluja von 6 Vgl. Sita Steckel, Differenzierung jenseits der Moderne. Eine Debatte zu mittelalterlicher Religion und moderner Differenzierungstheorie, in: Frühmittelalterliche Studien 47 (2013), S. 35–80; dies., »Problematische Prozesse« (wie Anm. 2); Wolfram Drews u. a. (Hg.), Religion und Entscheiden. Historische und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Würzburg 2018. 7 Die meisten Studien über die ›problematischen‹ Anfänge der Inquisition behandeln Südfrankreich, jüngst wird auch Italien von der Forschung in den Blick genommen: vgl. Yves Dossat, Les crises de l’Inquisition toulousaine au XIII siècle (1233–1273), Bordeaux 1959; Lothar Kolmer, Ad capiendas vulpes. Die Ketzerbekämpfung in Südfrankreich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und die Ausbildung des Inquisitionsverfahrens, Röhrscheid 1982; Peter Segl (Hg.), Die Anfänge der Inquisition im Mittelalter. Mit einem Ausblick auf das 20. Jahrhundert und einem Beitrag über religiöse Intoleranz im nichtchristlichen

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1233 zeigt.8 Dies erschwerte in den italienischen Städten die Möglichkeit, sich offen zu ›ketzerischen‹ Lehren zu bekennen. Ab der zweiten Hälfte der 1230er Jahre ernannte der Papst einige Ordensbrüder dann zu »vom apostolischen Stuhl delegierten Inquisitoren«.9 Innozenz IV. institutionalisierte schließlich erst 1252 und 1254 die Inquisition, indem er die Prozessführung regional den Mendikantenprovinzen der Franziskaner bzw. Dominikaner zuwies.10 Der Inquisitionsprozess an sich stützte sich auf ein summarisches Verfahren, in welchem der Inquisitor sowohl die Untersuchung durchführte als auch das Urteil fällte.11 Um die Wirksamkeit dieser Gerichtsbarkeit in den italienischen Stadtstaaten durchzusetzen, musste der Inquisitor insbesondere deren Beteiligung an der Durchführung der Strafe sowie die Aufnahme der gegen die Ketzer gerichteten päpstlichen und kaiserlichen Bestimmungen in ihre Statuten durchsetzen. Der Inquisitor zwang also letztlich die Kommunen, die gegen ihre Bürger gerichteten und von einem externen Gericht verhängten Urteile zu exekutieren. Er schränkte außerdem die Zuständigkeit des Bischofs und seines Gerichtes ein, festigte die Macht der Mendikantenorden, die bereits den wirtschaftlichen

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Bereich, Köln 1994; Thomas Scharff, Häretikerverfolgung und Schriftlichkeit. Die Wirkung der Ketzergesetze auf die oberitalienischen Kommunalstatuten im 13. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1996; James B.  Given, Inquisition and Medieval Society. Power, Discipline, and Resistance in Languedoc, Ithaca (NY) 1997; Carol ­Lansing, Power and Purity. Cathar Heresy in Medieval Italy, New York 1998; John Arnold, Inquisition and Power. Catharism and the Confessing Subject in Medieval Languedoc, Philadelphia 2001; Wolfram Hoyer (Hg.), Praedicatores, Inquisitores. The Dominicans and the Medieval Inquisition. Acts of the First International Seminar on the Dominicans and the Inquisition (23–25 February 2002), Rom 2004; Thomas Scharff, Problematische Anfänge – schwieriges Erbe. Strukturelle Probleme der mittelalterlichen Inquisition, in: Frühmittelalterliche Studien 52 (2018), S. 401–418. André Vauchez, Une campagne de pacification en Lombardie autour de 1233, in: Mélanges d’Archéologie et d’Histoire 78 (1966), S. 503–549; Augustine Thompson, Revival Preachers and Politics in Thirteenth Century Italy: The Great Devotion of 1233, Oxford 1992. Grado G.  Merlo, Contro gli eretici. La coercizione dell’eterodossia prima dell’inquisizione, Bologna 1996; ders., Inquisitori  e inquisizione nel medioevo, Bologna 2008, S. 15–24; Helmut G. Walther, Von der Veränderbarkeit der Welt. Ausgewählte Aufsätze von Helmut G. Walter. Festgabe zu seinem 60. Geburtstag, hg. v. Stephan Freund u. a., Frankfurt a. M. 2004, S. 241–336; Alexander Patschovsky, Über die politische Bedeutung von Häresie und Häresieverfolgung im mittelalterlichen Böhmen, in: Segl, Anfänge der Inquisition (wie Anm. 7), S. 235–251. Ad extirpanda (25. Mai 1252), in: Thomás Ripoll / A ntonin Brémond (Hg.), Bullarium Ordinis fratrum Praedicatorum, Rom 1729, Bd. 1, Nr. 257, S. 209–211; Giovanni G. Sbaraglia (Hg.), Bullarium Franciscanum Romanorum Pontificum, Rom 1759, Bd. 1, Nr. 408, S. 608; Lorenzo Paolini, Le piccole volpi. Chiesa ed eretici nel medioevo, hg. v. Riccardo Parmeggiani, Bologna 2013, S. 141–174. Winfried Trusen, Der Inquisitionsprozess. Seine historischen Grundlagen und frühen Formen, in: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kan. Abt. 74 (1988), S. 168–230; ders., Von den Anfängen des Inquisitionsprozesses zum Verfahren bei die inquisitio hereticae pravitatis, in: Segl, Anfänge der Inquisition (wie Anm. 7), S. 39–76.

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Interessen des Säkularklerus Schaden zufügten,12 und war (bewusst) konfliktorientiert, da er die Solidaritäten innerhalb der einzelnen Stadtteile oder Berufe durch Isolierung der ketzerischen Elemente sprengte. Hinzu kommt noch, dass sich die mendikantischen Inquisitoren hauptsächlich auf die Verbindungsnetze ihrer Orden stützten und ihre Kompetenzen auf Kosten der Bischöfe und Kommunen kraft päpstlicher Privilegien und juridischer Gutachten erweiterten: Das Resultat waren häufig Amtsmissbräuche, besonders Veruntreuungen.13 Es handelt sich letztendlich um eine neue Institution, die im Verlauf ihrer ersten hundert Jahre eine institutionalisierte Praxis ausbildete, welche die Gesellschaft mit einer neuen Kultur des Entscheidens konfrontierte. Sie erhob den Anspruch, die gesellschaftlich gültigen Vorstellungen über die vorhandenen religiösen Optionen neu – nämlich viel schärfer und dichotomischer – zu konstituieren. Es überrascht also nicht, dass die Einführung eines solchen Organismus angesichts der differenzierten sozialen Verhältnisse in den Stadtstaaten Unwillen und Konflikte hervorrief. Der entstehende kritische Diskurs über die Inquisition bezog sich insbesondere auch auf Innovationen in der Entscheidungspraxis, die mit dieser einhergingen. Dabei operierte die Kritik am Entscheiden der Inquisition teils mit rechtlichen, teils mit religiösen, teils mit anderen Vorwürfen, etwa denen der Korruption und des Bereicherungswillens der Inquisitoren, denen man teils offen zuschrieb, Ketzer nur aufgrund ihres zu beschlagnahmenden Vermögens vor Gericht zu bringen. Die Kritiker lassen sich grob in verschiedene Lager einteilen – die verfolgten Ketzer selbst, die Beobachter der Prozesse unter den städtischen Bürgern verschiedenen Standes, die kirchlichen Instanzen, zu denen die vom Papst ausgesandten Inquisitoren in Konkurrenz traten (also die lokalen Bischöfe mit Verwaltern und untergeordnetem Pfarrklerus), und schließlich als rechtliche und dogmatische Oberaufsicht der Papst selbst. Die Quellenlage beeinflusst unseren Blick dabei erheblich:14 Alle Gruppen werden 12 Gert Melville / Jörg Oberste (Hg.), Die Bettelorden im Aufbau. Beiträge zu Institutionalisierungsprozessen im mittelalterlichen Religiosentum, Münster 1999; Donald Prudlo (Hg.), The Origin, Development, and Refinement of Medieval Religious Mendicancies, Leiden 2011; Guy Geltner, The Making of Medieval Antifraternalism. Polemic, Violence, Deviance, and Remembrance, Oxford 2012; Jörg Oberste (Hg.), Pluralität – Konkurrenz – Konflikt. Religiöse Spannungen im städtischen Raum der Vormoderne, Regensburg 2013. 13 Für Florenz: Caterina Bruschi, Inquisizione francescana in Toscana fino al pontificato di Giovanni XXII , in: Frati Minori e inquisizione. Atti del XXXIII Convegno internazionale (Assisi, 6–8ottobre 2005), Spoleto 2006, S. 285–324; Sylvain Piron, Un couvent sous influence. Santa Croce autour de 1300, in: Nicole Bériou / Jacques Chiffoleau (Hg.), Economie et religion. L’expérience des ordres mendiants (XIII e–XVe siècle), Lyon 2009, S. 321–355. 14 Das komplexe Problem des ›Aufbaus‹ der inquisitorischen Quellen kann hier allerdings nicht behandelt werden: Vgl. Monique Zerner, Inventer l’hérésie? Discours polémiques et pouvoirs avant l’Inquisition, Nizza 1998; Michel Roquebert, Le ›déconstructionisme‹ et les études cathares, in: Martin Aurell (Hg.), Les cathares devant l’Histoire. Mélanges offerts à Jean Duvernoy, Cahors 2005, S. 105–133. Die Positionen der jüngsten Debatten zu dekonstruktivistischen Ansätzen in Antonio C. Sennis (Hg.), Cathars in Question,

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in unterschiedlichen Dokumenten fassbar. Die strikt verfahrensrechtliche Kritik und rechtliche Semantik war eine Domäne der politischen bzw. kirchlichen Kräfte, insbesondere der aus politischen Gründen der Ketzerei bezichtigten ghibellinischen Herren. Im Folgenden wird jedoch der Fokus auf die Kritik der städtischen Laien gerichtet, die ebendiese Verfolgung nicht befürworteten. Deren Untersuchung sieht sich am stärksten mit Überlieferungsproblemen konfrontiert, denn sie liegt wesentlich in Berichten über mündliche Äußerungen und Reaktionen sowie in den von Inquisitionsnotaren redigierten Protokollen vor.

2. Entscheidenslogik der Inquisitoren und religiöse Rationalität der Laien Die repressive Tätigkeit gegen die Ketzer rechtfertigte das Papsttum bereits vor der Entstehung der Inquisition: Einige Dekretalen in den Jahren vor und nach der Alleluja-Bewegung sprachen dem Minoriten Antonius und dem Predikator Dominikus sowie dem gesamten Dominikaner- und Franziskanerorden die Funktion der Ketzerbekämpfung zu.15 Die Begründungen dafür gehen auf den universalistischen, ekklesiologisch-soteriologischen Anspruch der Römischen Kirche zurück, keine Erlösungswege jenseits der eigenen Heilsvermittlung zuzulassen. Die ersten Inquisitoren rezipierten diese Begründungen und legitimatorischen Grundlagen, die (aufgrund der schlechten Überlieferung zum Beispiel anti-häretischer Predigten) heutzutage vor allem in didaktischen und polemischen Quellen, wie zum Beispiel anti-häretischen Traktaten, verfügbar sind.16 York 2016. Dazu auch Arnold, Inquisition and Power (wie Anm. 7), insbes. S. 74–110; ders., Inquisition, Text and Discourse, in: Peter Biller / Caterina Bruschi (Hg.), Texts and the Repression of Medieval Heresy, London 2003, S. 63–80. 15 Gregor IX ., Cum dicat Dominus (23. Juni 1232), in: Charles Cocquelines (Hg.), Bullarum, privilegiorum ac diplomatum Romanorum Pontificum amplissima collectio, Rom 1740, Bd. 3, Nr. 31, S. 271 f.; ders., Fons sapentiae (7. Juli 1234), in: ebd., Nr. 40, S. 282 f. Vgl. Grado G. Merlo, Gli inizi dell’Ordine dei frati Predicatori. Spunti per una riconsiderazione, in: Rivista di storia e letteratura religiosa 31 (1995), S. 415–441; ders., Contro gli eretici (wie Anm. 9), S. 75–97; ders., Inquisitori e inquisizione (wie Anm. 9), S. 29–47 u. 70–85; Marco Rainini, »Predicatores«, »inquisitores«, »olim heretici«: il confronto tra frati Predicatori e catari in Italia settentrionale dalle origini al 1254, in: Franjo Šanjek (Hg.), Fenomen »Krstjani« u srednjovjekovnoj Bosni i Humu: zbornik radova, Sarajevo 2005, S. 455–477. 16 Ein die inquisitorische Tätigkeit rechtfertigendes Narrativ existierte innerhalb des Dominikanerordens, wie Christine Caldwell Ames für Südfrankreich schildert: Caldwell Ames, Righteous Persecution (wie Anm. 1). Hinzuzufügen ist außerdem, dass ebenso die Franziskaner, wenn sie auch im 13. Jahrhundert kein ähnliches Narrativ entwickelten, die ihnen von Innozenz IV. stabil zugeordnete Rolle des Inquisitors ohne Widerrede akzeptierten. In den ordensinternen Quellen findet man dagegen keinerlei Kommentar zu dieser Rollenannahme, sondern ausschließlich Maßnahmen der General- und Provinzialkapitel zur Verbesserung der Tätigkeit. Vgl. dies., Does Inquisition Belong to Religious History?, in: The American Historical Review 110 (2005), S. 19–22.

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Da sich auch die Kritiken innerhalb dieses diskursiven Rahmens bewegten, fehlt ihnen das aus heutiger Sicht zentrale semantische Feld der Toleranz / Intoleranz.17 Die semantische Verknüpfung von Intoleranz und Inquisition erscheint uns vertraut, da sie gegenwärtig herrschende Vorstellungen von Religionsfreiheit und Toleranz ex negativo abbildet. Doch speisen sich diese Konnotationen aus Polemiken, die lediglich bis in die Aufklärung zurückgehen, und finden kaum mittelalterliche Vorläufer. In den zeitgenössischen Quellen lässt sich dagegen das semantische Feld der Verfolgung (persecutio) fassen. Doch deckt sich seine Bedeutung weder mit unserer modernen Bedeutung noch mit der impliziten Bedeutung, die der Begriff Verfolgung in Bezug auf die gesamte hochmittelalterliche Gesellschaft hatte.18 Neben dem Widerstand der weltlichen und geistlichen Institutionen gegen die Tätigkeit der Inquisitoren tritt in der Religiosität des Hochmittelalters besonders ein Umstand hervor, der die Bedeutung der weitaus häufigeren populären Proteste (aller sozialen, vorwiegend städtischen Schichten) zu erklären vermag: Ab dem 12. Jahrhundert suchten immer mehr Laien durch Askese und gute Taten nach neuen Formen der Religiosität zur Befriedigung soteriologischer Bedürfnisse.19 Es entwickelte sich etwa der hauptsächlich vom Säkularklerus geförderte Kult der neuen Laien-Heiligen. Deren Kanonisierung gelang manchmal, doch wurde sie in vielen Fällen durch Eingreifen des Papsttums bzw. der Inquisition entweder gehemmt20 oder schlug sogar in eine posthume Ver17 Dazu vgl. Alexander Patschovsky / Harald Zimmermann (Hg.), Toleranz im Mittelalter, Sigmaringen 1998; Cary J. Nedermann (Hg.), Worlds of Difference. European Discourses of Toleration, c. 1100-c. 1550, University Park 2000; Peter D. Diel, Overcoming Reluctance to Prosecute Heresy in Thirteenth-Century Italy, in: Scott L. Waugh / Peter D. Diehl (Hg.), Christendom and its Discontents. Exclusion, Persecution, and Rebellion, 1000–1500, Cambridge 1996, S. 47–66. 18 Robert Moore, The Formation of a Persecuting Society. Authority and Deviance in Western Europe 950–1250, Oxford 22007. 19 Zur religiösen ›inneren Unruhe‹ der Laien vgl. Gabriele Zanella, Malessere ereticale in Valle Padana (1260–1308), in: Rivista di storia e letteratura religiosa 14 (1978), S. 341–390; ders., Tra eresia e metodologia, in: Mediävistik. Internationale Zeitschrift für interdisziplinäre Mittelalterforschung 6 (1993), S. 239–249, beide dann in ders., Hereticalia. Temi e discussioni, Spoleto 1995. 20 André Vauchez, Sainteté laïque au XIIIe siècle. La vie du bienheureux Facio de Crémone (v. 1196–1272), in: Mélanges de l’École française de Rome 84 (1972), S. 13–53; ders., Une nouveauté du XIIe siècle. Les saints laïcs de l’Italie communale, in: L’Europa dei secoli XI   e XII fra novità  e tradizione. Sviluppi di una cultura. Atti della decima Settimana internazionale di studio (Mendola, 25–29 agosto 1986), Mailand 1989, S. 57–80; ders., Lay People’s Sanctity in Western Europe. Evolution of a Pattern (Twelfth and Thirteenth Centuries), in: Renate Blumenfeld-Kosinski / Timea Szell (Hg.), Images of Sainthood in Medieval Europe, London 1991, S. 21–32; ders., Omobono di Cremona († 1197), laico e santo. Profilo storico, Cremona 2001; Paolo Golinelli, Città e culto dei santi nel Medioevo italiano, Bologna 21996; André Vauchez, Un nouveau texte hagiographique du XIIIe siècle sur saint Homebon. Le recueil de miracles »Omnipotens Deus«, in: Jacques Elfassi u. a. (Hg.), Amicorum Societas. Mélanges offert à François Dolbeau pour son 65e anniversaire, Florenz 2012, S. 853–964.

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urteilung als Ketzer um, wie im Fall des Armanno Pungilupo in Ferrara.21 Das Papsttum versuchte wiederum, die Religiosität der Laien zu disziplinieren, ohne sie jedoch zu hemmen. Insbesondere die Mendikantenorden und die von ihnen inspirierten Bruderschaften beeinflussten in diesem Sinne die religiösen Bestrebungen der Laien nach einer ganz orthodoxen Frömmigkeit. Franziskaner und Dominikaner übten somit als Inquisitoren und Seelsorger eine ambivalente Disziplinierungs- und Erklärungstätigkeit gegenüber der laikalen Religiosität aus. Auch anfänglich unabhängige Büßergruppen (penitentes) wurden zum Beispiel gegen Ende des 13. Jahrhunderts in den franziskanischen Dritten Orden eingegliedert. Ebendiese Religiosität zeigte sich in den bevölkerungsreichen und von vielfältigen Konflikten geprägten italienischen Städten besonders komplex und undefiniert: In den wenigen besser dokumentierten Fällen verschwamm die Grenze zwischen Orthodoxie und Heterodoxie und wurde häufig zum Konfliktgegenstand. Es handelte sich dabei wahrscheinlich um Beispiele von Doppelreligiosität wie der des Dominikus von Pietro Rosse, ca. 1270 Angehöriger des Ordo penitentie von Orvieto und gleichzeitig Katharer.22 Der Fall des Pungilupo ist noch schwieriger zu lösen: Möglich ist, dass er sowohl Büßer (penitens) war als auch den Umgang mit Ketzern pflegte, wenn auch Zeugenaussagen kaum von einer effektiven katharischen Doktrin berichten. Die Religiosität der Laien23 drückte sich in einer nicht immer uniformen Rezeption der durch den Ordens- und Weltklerus ausgeübten Seelsorge aus.24 Die Quellen vermitteln tatsächlich (einfache oder komplexere, nicht aber im engeren Sinne theologisch-doktrinäre)  Überlegungen bezüglich der Kommunikation, der Entscheidungen und des persönlichen Verhaltens der geistlichen Eliten: Bei einigen Laien entstanden Zweifel in erster Linie daraus, dass die eigene Vernunft (und Rationalität)25 nicht mit bestimmten Lehrsätzen übereinstimmten. 21 Quellen: Gabriele Zanella, Itinerari ereticali. Patari e catari tra Rimini e Verona, Rom 1986, S. 48–98; Marco G. Bascapé, In armariis officii inquisitoris Ferrariensis. Ricerche su un frammento inedito del processo Pungilupo, in: Le scritture e le opere degli inquisitori, Verona 2002, S. 31–110. Studien: Amedeo Benati, Armanno Pungilupo nella storia religiosa ferrarese del 1200, in: Atti e memorie della Deputazione provinciale ferrarese di storia patria 4 (1966), S. 85–123; ders., Frater Armannus Pungilupus. Alla ricerca di una identità, in: Analecta Pomposiana 7 (1982), S. 5–57; Daniele Solvi, Santi degli eretici e santi degli inquisitori intorno all’anno 1300, in: Paolo Golinelli (Hg.), Il pubblico dei santi. Forme e livelli di ricezione dei messaggi agiografici, Rom 2000, S. 141–146; Paolo Golinelli, Da santi ad eretici. Culto dei santi e propaganda politica tra Due e Trecento, in: La propaganda politica nel basso medioevo, Spoleto 2002, S. 489–500; Grado G. Merlo, Eretici ed eresie medievali, Bologna 22011, S. 117–121. 22 Mariano D’Alatri, »Ordo poenitentium« ed eresia in Italia, in: Ders (Hg.)., Eretici e inquisitori in Italia. Studi e documenti, Rom 1986–1987, hier Bd. 1, S. 45–50 u. 62 f. 23 Christine Caldwell Ames, Medieval Religious, Religions, Religion, in: History Compass 10 (2012), S. 334–352, insbes. S. 336 ff. 24 Carlo Delcorno, Predicazione  e movimenti religiosi. Confronto  e tensioni (secc. ­X II – XIV), in: Cristianesimo nella storia 24 (2003), S. 581–617. 25 Vgl. David L. D’Avray, Medieval Religious Rationalities. A Weberian Analysis, Cambridge 2010.

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Insbesondere wurde die Autorität der gegenüber dem Evangelium als nachlässig empfundenen Priester und Ordensbrüder sowie – vielleicht demzufolge – auch die Transsubstantiation angezweifelt.26 Die Inquisitoren klassifizierten ebendiese Zweifel als ketzerische Irrtümer einer bestimmten Sekte. Es kann jedoch anhand der bisher erforschten Quellen unmöglich festgestellt werden, inwieweit es sich um heterodoxe Lehren im engeren Sinn handelte. Im 14. Jahrhundert findet man auch so manchen Fall eines erweiterten religiösen Skeptizismus. Allerdings verbirgt sich bei genauer Beobachtung unter diesem Etikett neben den inquisitorisch festgestellten Häresiefällen vor allem Kritik an den Mendikantenorden, meist seitens des weltlichen Klerus der Pfarreien. Inquisitorische und laikale Religiosität mussten also nicht unbedingt in Konflikt geraten, taten dies jedoch fallweise. Dabei scheint weniger das Ausmaß der Repression ausschlaggebend gewesen zu sein als vielmehr spezifische Entscheidungen der Inquisitoren-Brüder, die im Widerspruch zu dem allgemeinen religiösen Sinn eines Teils der städtischen Laien standen. Das Entscheiden der Inquisition folgte also einer spezifischen Rationalität, das des sich formierenden laikalen Widerstandes ebenfalls  – beide Seiten handelten nach ihrer eigenen religiösen Logik. Wiewohl auf der laikalen Seite emotionale Aspekte eine Rolle gespielt haben mögen,27 ging ihr Protest doch von der Feststellung einer Verletzung der eigenen (begrenzten) religiösen Rationalität aus. Andererseits hatten die Inquisitoren ebenfalls klare Normvorstellungen, die sie zu eigenen Narrativen verdichteten. Die Bekanntgabe ihrer Entscheidungen erfolgte nicht allein in Worten, sondern sehr häufig auch durch Zeichen und Inszenierungen – der sermo generalis wird etwa als »atypisches Mysterienspiel« bezeichnet.28 Durch solche Inszenierungen präsentierte man die Verurteilung des Ketzers als Wiedergutmachung seines Verstoßes gegen die Ordnung. Im Fall problematischer, dem religiösen Empfinden der Bevölkerung entgegenstehender Verurteilungen fanden jedoch weder theologisch-rechtliche Begründungen noch das Zeremoniell des Inquisitors bei der Bevölkerung Anklang. Den Inquisitoren war dann häufig bewusst, dass ihnen der Konsens fehlte, so dass sie Revolten befürchteten.29 Ein exemplarischer Fall ist der Aufstand in Bologna im Jahr 1299, der sich im Nachgang der Verurteilung und Verbrennung zweier Ketzer auf der Piazza Maggiore gegen den dominikanischen Inquisitor Guido von Vicenza richtete.30 26 Caldwell Ames, Medieval Religious (wie Anm. 23), S. 340. 27 Dazu Barbara H. Rosenwein, Thinking Historically about Medieval Emotions, in: History Compass 8 (2010), S. 828–842. 28 Grado G.  Merlo, Il ›sermo generalis‹ dell’inquisitore Una sacra rappresentazione anomala, in: Ders. u. a. (Hg.), Vite di eretici e storie di frati, Mailand 1998, S. 203–220; dann auch ders., Inquisitori e inquisizione (wie Anm. 9), S. 87–103. 29 Lorenzo Paolini, L’eresia catara alla fine del duecento, Rom 1975 (= ders. / Raniero Orioli, L’eresia a Bologna fra XIII e XIV secolo, Rom 1975, hier Bd. 1), S. 69. 30 Quelle: Lorenzo Paolini / R aniero Orioli (Hg.), Acta Sancti Officii Bononie ab anno 1291 usque ad annum 1310, Rom 1982–84, hier Bd. 1, S. 149–174 u. Bd. 2, S. 149–294 u. 310. Studien: Eugenio Dupré Theseider, L’eresia a Bologna nei tempi di Dante, in: Studi

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Die Proteste zeigen jedoch eine differenzierte Wahrnehmung der Verbrennung beider Ketzer: Fast niemand störte sich an der Bestrafung eines alten, reuelosen Katharers, während sich lautstarker Protest gegen die Verbrennung eines zwar gerichtlich als Häretiker verurteilten, aber als fromm empfundenen Mannes erhob, zumal dieser noch kurz vor der Vollstreckung des Urteils vergeblich um die Sakramente gebeten hatte. Ein weiterer Kristallisationspunkt von Protest war der nur wenige Tage später erfolgende makabre und unverständliche Ritus der Verbrennung der Gebeine einer dritten, bereits verstorbenen Häretikerin. So auch 1301 in Ferrara: Als der dominikanische Inquisitor die Gebeine des Pungilupo verbrennen ließ, erfolgte dies notwendigerweise nachts  – und am folgenden Morgen stürmte die wütende Bevölkerung das Dominikanerkloster, das nur durch den Eingriff des städtischen Herrn Azzo von Este gerettet werden konnte.31 Zwei Jahrzehnte zuvor hatte man nicht verhindern können, dass die Bevölkerung von Parma nach der Verbrennung einer Frau das Dominikanerkloster überfiel.32 Daraus ergibt sich, dass im Fall von ›Fehlentscheidungen‹ auch orthodoxe Laien zu einer ihnen ansonsten fremden ketzerischen oder ketzerfreundlichen Form der Kritik griffen. Die Abgrenzungsversuche zwischen dieser Logik des Widerspruchs und derjenigen der Mendikanten kann man beispielsweise den Worten des gelehrten franziskanischen Chronisten Salimbene de Adam entnehmen, welcher (noch vor der Verurteilung) behauptete, dass die leichtgläubigen Ferrarenser »für diesen Pungilupo den Verstand verloren hatten« (stultizaverunt). Die Religiosität der Laien war für den Minoriten demzufolge Torheit. Ebensolches Unverständnis zeigt er für Gherardo Segarelli, der, von den Parmenser Franziskanern als ungelehrt abgewiesen, sich einem armen Leben zuwandte: Die Schilderung des gelehrten Bruders Salimbene bestorici in onore di Gioacchino Volpe, Florenz 1958, Bd. 1, S. 383–444; dann auch ders., Mondo cittadino e movimenti ereticali nel medioevo, Bologna 1978, S. 287–292; Paolini, L’eresia catara (wie Anm. 29), S. 29–32 u. 63–79; Lansing, Power and Purity (wie Anm. 7), S. 151–168; Augustine Thompson, Lay versus Clerical Perceptions of Heresy. Protests Against the Inquisition in Bologna, 1299, in: Hoyer, Praedicatores, Inquisitores (wie Anm. 7), S. 701–730. 31 Zanella, Itinerari ereticali (wie Anm. 21), S. 99: sententiaque integre exucutioni mandata, nocte tamen, populo licet obmutescente, tamen stomachato et iniuriarum pleno; Chronicon Estense, in: Rerum Italicarum scriptores, Mailand 1725, Bd. 15, Sp. 348: Combustus fuit Punzilupus […] in ghiara Padi de Ferraria de nocte per inquisitorem fratrum Predicatorum; vgl. Golinelli, Da santi ad eretici (wie Anm. 21), S. 499 f. 32 Chronicon Parmense, hg. v. Giuliano Bonazzi, Città di Castello 21902, S. 35–36 u. 41; Salimbene de Adam, Cronica, hg. v. Giuseppe Scalia, Bari 1966, hier Bd. 2, S. 732, 736 f., 742, 848, 868 u. 911; vgl. Thomas Scharff, Die Inquisition in der italienischen Geschichtsschreibung im 13. und frühen 14. Jahrhundert, in: Ders. / Thomas Behrmann (Hg.), Bene vivere in communitate. Beiträge zum italienischen und deutschen Mittelalter. Hagen Keller zum 60. Geburtstag, Münster 1997, S. 257–277, hier S. 263 f.; Guy Geltner, Mendicants as Victims. Scale, Scope and the Idiom of Violence, in: Journal of Medieval History 36 (2010), S. 126–141, hier S. 137 f.; ders., The Making of Medieval Antifraternalism (wie Anm. 12), S. 65–68.

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schreibt das Ereignis als lächerliche Mimesis des Franziskanerordens bis hin zur Häresie.33

3. Von der Kritik der Entscheidung zur Kritik der Entscheidungsträger Eine Besonderheit der Kommunikationsstrukturen rund um die Inquisition ist, dass sie ihr rechtliches Entscheiden in der restringierten Teilöffentlichkeit des Prozesses verortete. Wiewohl die Inquisitoren durchaus auch das abwägende Entscheiden zur Schau stellten, wurde vor allem das Ergebnis kommuniziert, nämlich die religiöse Ebene der Wiederversöhnung mit der Kirche oder der Verbrennung der Ketzer. Es ist insofern wenig verwunderlich, dass die von der Bevölkerung geäußerte Kritik vielfach auf diese religiöse Ebene und deren implizite oder explizite Narrative reagierte und kaum konkrete rechtliche Kritiken laut wurden. Proteste wollten prinzipiell nicht die Praxis der Inquisitionsprozesse selbst angreifen, sondern deren Ergebnisse. Wenn jedoch die Entscheidung der Inquisitoren von der Rationalität der Stadtbewohner abwich und es ihnen gleichzeitig nicht möglich war, Erklärungen aus einzelnen Prozessphasen herzuleiten, so mussten sie diese notwendigerweise an anderer Stelle suchen: Typischerweise kamen laikale Kritiker zu der Überzeugung, dass nicht nur eine Fehlentscheidung getroffen, sondern eigentlich gar nicht entschieden worden sei und eine andere Kalkulation hinter der kommunizierten Entscheidung stand. Dem Inquisitor wurde also eine ganz andere Intention als die gerichtliche der Urteilsfindung oder die religiöse der Wiederversöhnung der Ketzer zugeschrieben. Angesichts einer (zwangsläufig) falschen Verurteilung kritisierte der Großteil der Bevölkerung die Entscheidungsträger als solche, indem er ihnen Willkür und Ungerechtigkeit zuschrieb. War diese Sachlage einmal eingetreten, wurde die Wahrnehmung der Entscheidung maßgeblich umstrukturiert: Man argumentierte, dass die Inquisitoren ihre Entscheidung nicht etwa, wie sie dies öffentlich darstellten, innerhalb eines gerichtlichen Verfahrens getroffen hatten und dass daher auch die Gründe, die sie für die von ihnen gefällte Entscheidung angaben, nur vorgetäuscht seien. Vielmehr, so die in diesem Zusammenhang geäußerte Auffassung, bestünde die grundlegende Ursache für ihr Entscheiden darin, dass sie selbst böse Christen seien und sich von Anfang an aus böswilligen Gründen auf einen bestimmten Ausgang festgelegt hätten, sie in diesem Sinne also ›vor-entschieden‹ gewesen 33 Raniero Orioli, Venit perfidus heresiarca. Il movimento apostolico-dolciniano dal 1260 al 1307, Rom 1988; Giancarlo Andenna, Il carisma negato: Gerardo Segarelli, in: Ders. u. a (Hg.), Charisma und religiöse Gemeinschaften im Mittelalter, Münster 2005, S. 415–442; Brian R. Carniello, Gerardo Segarelli as the Anti-Francis. Mendicant Rivalry and Heresy in Medieval Italy, 1260–1300, in: The Journal of Ecclesiastical History 57 (2006), S. 226–251; Merlo, Eretici ed eresie (wie Anm. 21), S. 109–116.

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seien und anschließend ihr Urteil durch einen Schauprozess als Rechtsentscheidung inszeniert hätten. Dies bedeutet keineswegs, dass es an einer Kritik des Entscheidens fehlte. Die Beobachter schenkten vielmehr der Entscheidung, so wie sie durch die Inquisitoren vorgebracht wurde, keinen Glauben. Sie glaubten also nicht (oder mindestens nicht gänzlich), dass die von den Inquisitoren verkündete Begründung den tatsächlichen Ursachen entsprach und sich aus der verfahrensmäßigen Logik und den theologisch-rechtlichen Vorgaben herleiten ließ. Zudem nahmen sie an, dass demzufolge eine anderslautende Motivierung der (›wahren‹) Vor­ entscheidung im Wesen der Inquisitoren zu finden sei. Diese Verschiebung ist nicht nur damit zu erklären, dass die wahrgenommene moralische Qualität des Verurteilten als Ausgangspunkt des Verfahrens erschien und Recht und Unrecht der Verurteilung bestimmte. Die entsprechenden Kritiken fügten sich auch in bereits bestehende kommunikative Strukturen ein und griffen deren Kommunikationsstrategien auf: Sie basierten auf dem offenen Kommunikationsraum der Stadt und verwendeten etablierte Narrative, Symboliken und Semantiken der Kirchenkritik – zum Beispiel Argumente, die Fehlverhalten religiöser Amtsträger unter Verweis auf biblische Normen inkriminierten. Viele Laien empfanden und bemängelten offenbar eine Umkehrung von Werten: Die einem religiösen Leben zwar geweihten, dies aber nicht praktizierenden Ordensbrüder erschienen als Feinde von Personen, die ein solches evangelisches Leben tatsächlich führten.34 Die genutzten Narrative und Semantiken der Beurteilung drückten ebendiese Wertumkehrung aus: Die Sprache blieb religiös, da sie dem religiösen Bereich entsprang und das Seelenheil des Einzelnen und dessen Gewährleistung durch die Kirche betraf. Die ansonsten von den Seelsorgern selbst verwendeten Begriffe und Ausdrucksformeln wurden zudem übernommen. Doch richteten sie sich nun gegen die Inquisitoren, da Letztere selbst als Verräter an den von ihnen selbst verkündeten Normen gesehen wurden. 3.1. Persecutores und martyres: Zur Deutung inquisitorischen Entscheidens als Verfolgung

Während ihr Entscheiden von den Inquisitoren selbst vor allem als pastorale Tätigkeit und als religiös konnotierte soziale Versöhnung dargestellt wurde, konnten die Häretiker ihrerseits diesem religiösen Narrativ das propagandistisch nutzbare Narrativ der persecutio entgegenstellen, nach dem sie nicht verurteilt, sondern verfolgt würden. Die Ordensgeistlichen wurden somit als Verfolger eingestuft und so delegitimiert. In der religiösen Literatur, insbesondere in der Hagiographie, stand das semantische Feld der persecutio (dem martyrium 34 Vgl. Peter A. Dykema / Heiko A. Oberman (Hg.), Anticlericalism in Late Medieval and Early Modern Europe, Leiden 1993 zu anderen Kontexten.

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gleichgesetzt) gewöhnlich in Verbindung mit einer evangelischen, ausgesprochen eschatologisch-soteriologischen Bedeutung (»Selig, die um der Gerechtig­ keit willen verfolgt werden […]. Selig seid ihr, wenn ihr um meinetwillen beschimpft und verfolgt […] werdet. […]. Denn so wurden schon vor euch die Propheten verfolgt«: Mt 5,10–13). Diese Deutung war ausdrücklich nicht neutral. Vielmehr wurde dadurch die gegen einen wahren christlichen Gläubigen gerichtete Handlung wie auch die Personen, die sie ausübten, als böse und unchristlich qualifiziert. Dies implizierte eine höhere christliche Glaubhaftigkeit der Opfer der Verfolgung gegenüber denjenigen, die sie ausübten, zumal das Erleiden von Verfolgung schon immer Heilige und Märtyrer offenbarte. Auf die repressiven Handlungen der Inquisitoren angewandt, waren es in der Hauptsache als Ketzer wahrgenommene Personen, die diesen Begriff verwendeten. Die ihrer Ansicht nach von den Inquisitoren erduldete Verfolgung bewies einerseits, dass sie wahre Christen, Nachfolger der durch die Heiden verfolgten Apostel und Märtyrer waren. Sie zeigte andererseits, dass die sie verfolgende Kirche ihre Legitimität der Stellvertreterschaft Christi auf Erden verloren hatte. Die den Quellen entnommenen Ketzerstimmen zeigen somit, dass die Verhandlung der Entscheidungspraxis von einer rechtlich-pragmatischen auf eine religiöse Ebene verlagert wurde, in die sich bestimmte Abläufe (und besonders Entscheidungshandlungen) in alternative kausale Verknüpfungen einbetten ließen. Für das religiöse Selbstverständnis der verfolgten Ketzer war es nachrangig, dass sie mithilfe von Rechtsentscheidungen verurteilt wurden, und es wäre nicht zielführend gewesen, die Inquisitoren als bloß nachlässige Richter zu delegitimieren. Anstatt den Inquisitoren Fehler auf kanonistischer bzw. theologischer Ebene zu unterstellen, deuteten die Verfolgten die Sachlage von einem religiösen Standpunkt aus. Sie konstruierten anhand derselben biblischen Quellen, aus denen sich auch das päpstlich-inquisitoriale Narrativ einer von Ketzern bedrohten Kirche speiste, ein eigenes ›Narrativ der Verfolgung‹. Sie fügte sowohl ihre alternative religiöse Entscheidung als auch ihre Verfolgung in eine eschatologische Perspektive der gesamten Heilsgeschichte (historia salutis) ein. Die Verfolgung war für sie nicht mehr in Entscheidungen profaner Dritter begründet, sondern folgte einem in den Evangelien den Gerechten vorausgesagten Ablauf: Ihre Entscheidung für die eigene, ›wahre‹ Religion ließ sie auch zu verfolgten Gerechten werden. Ihr Tod hing in diesem Narrativ nicht mehr (wie in der historischen Realität) von fremden Entscheidungen ab, sondern stellte ein bewusstes Opfer dar, zu dem sich die Betreffenden entschlossen hatten. In gewissem Sinne war daher auch das ›Narrativ der Verfolgung‹ ein ›Narrativ des Entscheidens‹. Diesem Entscheiden wurde dadurch ein existenzieller Charakter und eine eschatologische Dimension zugemessen, da es sich als letztlich siegreich herausstellen sollte. Demgegenüber wurde das Handeln der römischen Kirche und ihrer Delegierten nicht mit Kategorien des Entscheidens beschrieben, sondern erschien als notwendige Folge von Bosheit, ungerechter Verfolgung und so weiter. Salvo Burci schrieb 1235 im Liber supra Stella (an jener Stelle, in welcher er das Denken der italienischen Ketzer nach der Alleluja-Bewegung wiedergibt):

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O ecclesia Romana, omnes habes plenas manus de sanguine martyrum! O populi non miremini de hoc, quod dictum est, quia ipsi complent mensuram possessorum [recte: predecessorum?] suorum. Patres eorum interfecerunt Christum et Stephanum et Iacobum et alios discipulos cruciaverunt variis tormentis. Potestis igitur videre quod isti bene tenent hereditatem; nec mirum, quia Christus dixit per Iohannem quia ›venit ora, ut qui interficit vos arbitretur se obsequium prestare Deo‹, Bene posset esse, quod aliqui istorum stultorum, quando interficiuntur martires, arbitrantur se obsequium prestare Deo.35

Ein Jahrhundert später schrieben die italienischen Waldenser in der sogenannten »Epistula fratrum de Italia« an die österreichischen Waldenser ­(1367–1368): Non est dubium quia usque ad finem mundi sancti a suis persecucionem paciantur.36 Ketzer beurteilten das Handeln der Inquisitoren also nicht nach Toleranz oder Intoleranz, da diese sich (zumindest gemäß dem angewandten Handlungs­ modell) gegenüber wahren Christen kaum anders verhalten konnten. Die Verfolgung entsprach sozusagen ihrer Natur und verriet ihre Abwendung vom Guten. In ähnlicher Verwendung finden wir den Begriff der persecutio bei Beobachtern, welche die als Ketzer Verurteilten im Gegensatz zu den sie strafenden Inquisitoren als bessere Christen ansahen. Das Thema der Verfolgung des Gerechten wurde auch in gelehrten Werken behandelt. Doch dürfte es auch an die Ohren aller Stadtbürger gelangt sein, die eine auch nur oberflächliche Vertrautheit mit dem Evangelium pflegten – etwa durch die Predigt, einschließlich der Predigt der Ketzer. Liest man etwa die im posthumen Prozess gegen Armanno Pungilupo von den Inquisitoren gesammelten Aussagen, so wiederholt sich dort mehrmals derselbe Topos: Die mali homines, das heißt die Inquisitoren, verfolgen die boni homines (boni homines bezeichnete ganz einfach die Katharer, doch in diesen italienischen Verhören hatte diese Bezeichnung scheinbar auch eine

35 »Oh römische Kirche, deine Hände sind voll des Blutes der Märtyrer! Völker, wundert euch nicht darüber, denn dies wurde geschrieben, dass sie das Werk ihrer Vorgänger fortführten. Ihre Väter töteten Christus, Stephan und Jakob und folterten die anderen Jünger mehrfach zu Tode. Ihr könnt sehen, wie sie ihr Erbe gut antraten; und es ist kaum verwunderlich, denn Christus sagte durch Johannes: ›Es wird kommen die Zeit, wo diejenigen, die euch töten, meinen, sie dienten dem Herrn‹. Und es ist so, denn einige dieser Narren, wenn sie die Märtyrer töten, meinen, sie dienten dem Herrn« (Übers. v. A. C.): Salvo Burci, Liber suprastella, hg. v. Caterina Bruschi, Rom 2002, S. 280 f.; vgl. auch ­Ilarino da Milano, Eresie medievali. Scritti Minori, Rimini 1983, S. 350 f.; Merlo, Contro gli eretici (wie Anm. 9), S. 141 f., ferner auch S. 125–152. 36 »Es besteht kein Zweifel darüber, dass die Heiligen von ihren [böse gewordenen Glaubensbrüdern] bis zum Weltuntergang verfolgt werden« (Übers. v. A. C.), in: Johann  J. von Döllinger, Beiträge zur Sektengeschichte des Mittelalters, München 1890, hier Bd. 1, S. 355 f.; Peter Biller, The Liber electorum, in: Ders. (Hg.), The Waldenses 1170–1530. Between a Religious Order and a Church, Aldershot 2001, S. 216–223; Euan Cameron, Waldenses. Rejections of Holy Church in Medieval Europe, Oxford 2000, S. 118–125; Wolf-Friedrich Schäufel, »Defecit ecclesia«: Studien zur Verfallsidee in der Kirchen­ geschichtsanschauung des Mittelalters, Mainz 2006, S. 221–224 u. 235–237.

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allgemeinere Bedeutung und stand im Gegensatz zu den mali homines). Eine Aussage von 1285 (bezogen auf 1258) erläutert diesen Gebrauch in einer unmittelbar dem Neuen Testament entnommenen Ketzerpredigt. Mit dem Evangelienbuch in der Hand extrapoliert der Ketzer einige Passagen, die er auf das Verhältnis Kirche / Ketzer bezieht: Die ministri ecclesie verfolgten die Christen bzw. – wird vom Zeugen als Erklärung hinzugefügt – die Ketzer (persequentes christianos, idest hereticos).37 Dabei spricht er nicht von der Verfolgung der boni homines, sondern der Christen tout court: Kirche und Christen stehen auf entgegengesetzten Fronten, wie Heiden und verfolgte Urchristen. Derselbe Zeuge, der Notar Manfredo, ein ehemaliger katharischer credens, behauptet, das sei ein Klischee, das er hundertmal gehört habe: Sein Vater und Armanno hätten jeden Tag schlecht von den Mendikanten gesprochen, sie seien Seelenbetrüger und räuberische Wölfe, welche die boni homines und die Kirche Gottes verfolgten (womit – so wird erneut präzisiert – die Kirche der Katharer gemeint ist).38 Die Umkehrung der Zuschreibung von persecutio bedingt also die semantische Umkehrung einer ganzen Reihe gängiger Begriffe im religiösen Bereich: christiani, ecclesia Dei, fides, bona opera. Dass die umgekehrte Verwendung des semantischen Feldes der persecutio topisch wurde, bekräftigt ein weiterer Zeuge, welcher 1273 das in Verona erfolgte consolamentum des Pungilupo schilderte: Während er seine Hände auf Armanno legte, fragte ihn der katharische Bischof, ob er jemals bei den räuberischen Wölfen, welche die guten Menschen verfolgten, gebeichtet habe, das heißt bei einem Dominikaner oder Minoriten oder einem Priester der Römischen Kirche. Scheinbar existierte unter den Verfolgern eine absteigende Skala: Die Schlechtesten unter ihnen waren die Dominikaner, da sie Inquisitoren waren, dann folgten die Minoriten (ebenfalls häufig Inquisitoren: Verona stand unter ihrer Gerichtsbarkeit) und erst danach kamen die Priester.39 Diese Hierarchie der Bosheit wurde 1270 von einem anderen Zeugen unmittelbar dem Armanno zugeschrieben, diesmal nicht im Zusammenhang mit dem Verb persequi, sondern mit destruere (zerstören): Die Augustinereremiten und die Franziskaner seien mali homines, doch die Dominikaner seien unter ihnen die Schlechtesten, da sie als räuberische Wölfe Menschen töteten, die gute Taten vollbrächten (boni homines, bona opera).40 Bloß zweimal wurden die spezifischeren, wenn auch neutraleren Ausdrücke boni homines ›verbrennen‹ (comburi) und ›töten‹ (interficere) verwendet, doch handelt es sich dabei nicht von ungefähr um die Zeugenaussage eines Dominikaners.41 Dieselbe negative Skala, welche die Domini­kaner wegen ihrer persecutio der Christen ganz nach unten ordnete, findet man 1305 in einem anderen Kontext in Bologna, wo die Ketzer zum Großteil Anhänger 37 38 39 40 41

Zanella, Itinerari ereticali (wie Anm. 21), S. 50. Ebd., S. 54 u. 64. Ebd., S. 54, 56 u. 64. Ebd., S. 65; Bascapé, In armariis (wie Anm. 21), S. 94. Zanella, Itinerari ereticali (wie Anm. 21), S. 64.

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des Fra Dolcino von Novara waren: Eine Dolcinianerin erklärte, dass inter ceteros religiosos, peiores sunt Predicatores pro eo quod persecuntur istos illustratos a Deo, qui sunt de secta Dulcini.42 Diese semantische Umkehrung von Verfolgung und Martyrium klingt bis hin zu den frühmodernen konfessionellen Kontroversen nach, in welchen die protestantischen Gelehrten die mittelalterlichen Ketzer als ›Wahrheitszeugen‹ und Aufdecker des Verrats der Kirche interpretierten.43 Jüngste Forschungen deuten darauf hin, dass die semantische Bedeutung von persecutio stark von spezifischen Perspektiven der Autoren geprägt wurde. Kirche und Inquisitoren kannten tatsächlich sogar ein Konzept der ›gerechten Verfolgung‹:44 Seit Mitte des 13. Jahrhunderts kommt dieses Konzept in der Abhandlung des Moneta von Cremona gegen die Ketzer vor, und auch Bernhard Gui verwendete es in diesem Sinne,45 was keineswegs dem zuvor Gesagten widerspricht. Im Gegenteil versteht sich die ›gerechte Verfolgung‹ gerade als weitere, ebenso wirksame semantische Umkehrung des Ausdrucks persecutio und seiner religiösen Konnotation (durch die Dominikaner). Der Inquisitor erfüllte demnach eine verdienstvolle religiöse Aufgabe, da er dem Verlust des Seelenheils entgegenwirkte und dadurch Heiligkeit erwarb (der Heilige Petrus Martyr, ein zum dominikanischen Inquisitor gewordener ehemaliger Katharer, der von den Katharern ermordet wurde, war ein ›rechter Verfolger‹). Christine Caldwell Ames sieht die gesamte anti-häretische Rhetorik als bidirektional und gegen die Inquisitoren umkehrbar.46 Aus umstrittenen Entscheidungen können also zwei entgegengesetzte Narrative hervorgehen, die zwar dieselben Anklagen und Semantiken verwenden, diese aber gegen die jeweils feindliche Partei richten. 3.2. Lupi rapaces in vestimentis ovium: Die Kategorien der Heuchelei

Diese bidirektionale Verwendung von delegitimierenden Konzepten zeigt sich auch an anderen Semantiken. Da in der Situation einer umstrittenen inquisitorischen Entscheidung jeweils beide Streitparteien die inkriminierte (Fehl-) Entscheidung auf einen Mangel an wahrer Religiosität zurückführen, fallen 42 »Die Dominikaner sind die Schlechtesten unter den Brüdern, da sie diese von Gott erleuchteten Menschen verfolgen, die der Sekte des Dolcinos angehören« (Übers. v. A. C.) in Paolini / Orioli, Acta (wie Anm. 30), S. 588. 43 Merlo, Eretici ed eresie (wie Anm. 21), S. 9 f. 44 Zur theologischen Legitimation der Gewalt gegen Ketzer, Häretiker und deren Anhänger seit Heinrich  IV. und dem hochmittelalterlichen Reformpapsttum s. Gerd Althoff, »Selig sind, die Verfolgung ausüben«. Päpste und Gewalt im Hochmittelalter, Darmstadt 2013. 45 Caldwell Ames, Righteous Persecution (wie Anm. 1); dies., Does Inquisition (wie Anm. 16), S. 24 f. ›Christus als Verfolger‹ in Moneta und das Konzept der rechten Verfolgung sind eine Verschmelzung der zwei im Evangelium enthaltenen Themen der persecutio der Ungerechten gegen die Rechten und der strafenden Gerechtigkeit Gottes. 46 Caldwell Ames, Righteous Persecution (wie Anm. 1), S. 17.

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vor allem Anklagen der Heuchelei (hypocrisis) auf, an die sich traditionell bestimmte Vorwürfe angliederten.47 Diese Semantiken wurden nun je nach Situation in ihrer Bedeutung angepasst. Häufig und auch außerhalb Italiens allgegenwärtig ist die Verwendung des Ausdruckes lupi rapaces. Der Wolf als negatives Symbol war überaus verbreitet und wurde, wie jüngere Untersuchungen zeigen, auch zur Artikulation politischer Gegensätze in den italienischen Kommunen verwendet.48 Wir bewegen uns hier jedoch in einem religiösen Umfeld. In diesem Kontext wurde im 13. Jahrhundert häufig das Bild der Ketzer als kleine Füchse, die den Weingarten des Herrn zerstören, verwendet, das in der Exegese und Predigtliteratur des 12. Jahrhunderts popularisiert worden war und auch in päpstlichen Briefen über die Häresiebekämpfung zunehmend Anklang fand.49 Das Bild des Fuchses wurde jedoch nie auf die Inquisitoren bezogen, obwohl sie teilweise ausdrücklich als Ketzer bezeichnet wurden. Hier dürfte daher das biblische Bild der Wölfe zu Buche schlagen, das im Verhältnis zu den päpstlichen Schreiben wohl weitere Verbreitung fand. Dort stehen die lupi rapaces nicht so sehr für Gewalt, sondern eher für Heuchelei. Die spezifische Assoziation zwischen dem Substantiv lupi und dem Adjektiv rapaces kommt im Neuen Testament nur ein einziges Mal vor, allerdings in einem über Heuchelei handelnden Kontext (Mt 7,15): Attendite a falsis prophetis, qui veniunt ad vos in vestimentis ovium, intrinsecus autem sunt lupi rapaces.50 Auch bei diesem Bild stößt man (auf den Spuren der 47 Frederic Amory, Whited Sepulchres. The Semantic History of the Hypocrisy to the High Middle Ages, in: Recherches de Théologie Ancienne et Médiévale 53 (1986), S. 5–39; Delphine Carron Faivre, Intus Nero, foris Cato. Une sémiologie de l’hypocrisie, in: Manuel Guay u. a. (Hg.), Intus et Foris. Une catégorie de la pensée médiévale?, Paris 2013, S. 171–183; und demnächst Sita Steckel, Hypocrites! Critiques of religious movements and criticism of the church, 1050–1300, in: Jennifer Kolpacoff Deane, Anne E. Lester (Hg.), Between Orders and Heresy: Rethinking Medieval Religious Movements, Toronto 2022 (in Vorbereitung). 48 Christoph F. Weber, Gerechtigkeit unter den Wölfen. Der Wolf als Krisenzeichen und sein Vorkommen in der Symbolik des Popolo in den italienischen Kommunen des Mittelalters, in: Elizabeth Harding / Natalie Krentz (Hg.), Symbolische Kommunikation und gesellschaftliche Wertesysteme, Münster 2011, S. 31–55; Gherardo Ortalli, Lupi, genti, culture. Uomo e ambiente nel medioevo, Torino 1997. 49 Prägend Bernhard von Clairvaux, S. Bernardi Opera. II . Sermones super cantica canticorum 36–86, hg. v. Jean Leclercq u. a., Rom 1958, Sermones 65–66; im 13. Jahrhundert findet man das Bild des Ketzers als Fuchs (zusammen mit dem des Wolfes) auch in Sammlungen für die Prediger, wie im Tractatus de diversiis materiis predicabilibus des Dominikaners Stephanus von Bourbon (ut vulpes Sampsonis qui habebant facies diversas, colligatas caudas): vgl. Sackville, Heresy and Heretics (wie Anm. 5), S. 60–72, insbes. S. 68; vgl. auch Bonaventura, Opera omnia, Ad Claras Aquas 1882–1902, Bd. 7, S. 249: Per vulpes intelliguntur heretici. Siehe auch D’Alatri, Eretici e inquisitori (wie Anm. 22), hier Bd. 1, S. 87. 50 »Hütet euch aber vor den falschen Propheten, die in Schafskleidern zu euch kommen, inwendig aber reißende Wölfe sind«. Ein andermal, wieder in einem Kontext von Heuchelei, findet man lupi mit dem Adjektiv graves verknüpft, Apostelgeschichte 20,29–30 (»Denn das weiß ich, dass nach meinem Abschied räuberische [graves] Wölfe zu euch kommen werden, die die Herde nicht schonen; und aus eurer eigenen Mitte werden Männer auf-

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Patristik) in den anti-häretischen Abhandlungen des 13. Jahrhunderts auf die Assoziation mit Ketzern, so zum Beispiel bei Moneta von Cremona (1241–1244), in den von Caldwell Ames erforschten Narrativen der Dominikaner-Inquisitoren51 und (gemeinsam mit den vulpecule) in den päpstlichen Bullen.52 Schließlich ist das Bild des Wolfes ein Topos in anti-häretischen Predigten,53 etwa in Südfrankreich,54 möglicherweise aber auch im Rahmen der intensiven anti-häretischen Predigttätigkeit der Ordensbrüder in Italien bereits seit der AllelujaBewegung. Mit Bezug auf Mt 7,15 findet man es auch im 1269 gefällten Urteil gegen den Katharer und Büßer Domenico von Pietro Rosse, das gerade in Anspielung auf seine als ›vorgetäuscht‹ und heuchlerisch inkriminierte Bußhaltung konstatierte: sub ovina pelle, ut ypocritam, in detrimentum sue salutis gerentem lupinam.55 Prinzipiell wurde die Passage des Matthäus jedes Jahr am sechsten Sonntag nach Trinitatis im Rahmen der Perikope gelesen und kommentiert. Um sich wirkungsvoll gegen den Inquisitor richten zu können, brauchte ein Narrativ der Laien ein maßgebliches, die Heuchelei erläuterndes Bild, das möglichst eine auctoritas heranzog, aber dennoch selbsterklärend war. Das Bild des reißenden Wolfes passte hier optimal und hatte zudem den Vorteil, den ihm vom Inquisitor verliehenen Sinn umzukehren. Schließlich verknüpft der Ausdruck das Konzept der Heuchelei mit gewalttätigen Konsequenzen wie der Tötung. Die Metapher der lupi rapaces gegen die Inquisitoren wurde in erster Linie von den Ketzern oder ihren Förderern und Sympathisanten eingesetzt. Im

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stehen, die verkehrte Dinge reden, um die Jünger abzuziehen in ihre Gefolgschaft«); in anderen Fällen folgt kein Adjektiv nach lupi: vgl. Luk. 10,3; Joh. 10,12 f. Moneta von Cremona, Adversus catharos et valdenses libri quinque, hg. v. Thomas A. Ricchini, Rom 1743, S. 392, vergleicht, zur Erläuterung der häretikalen Narrative, nicht zufällig das Thema der Heuchelei (oves / lupi; vgl. Caldwell Ames, Righteous Persecution (wie Anm. 10), S. 33) mit jenem der persecutio / martyrium: dicentes [heretici] quod pharisei Judeorum, quos patres sacerdotum nostrorum dicunt, apostolos occiderunt et sanctorum ecclesiam primitivam persecuti sunt; […] nostri autem sacerdotes […] mensuram illorum phariseorum implent, occidendo, persequendo eorum ecclesiam.; Falsum est […]; ipsi enim non sunt Dei ecclesia nec apostolorum et martyrum Christi successores […]. Extrinsecus quidem induti vestibus ovium, scilicet jejuniis, orationibus ac aliis hujusmodi, intrinsecus autem sunt lupi rapaces. Intrinsecus autem dicit, quia licet exteriori conversatione oves se simulent, tamen interiori voluntate sunt lupi omnium devoratores [Hervorhebung des Autors, A. C.]. Rebecca Rist, ›Lupi rapaces in ovium vestimentis‹. Heretics and Heresy in Papal Correspondence, in: Sennis (Hg.), Cathars in Question (wie Anm. 14), S. 229–241 vom 12. bis Anfang 13. Jh. Humbert von Romans, De eruditione predicatorum, S. 556 f., zit. nach Caldwell Ames, Righteous Persecution (wie Anm. 1), S. 39, über die Heuchelei, d. h. die falsche Frömmigkeit der Ketzer. Caldwell Ames, Righteous Persecution (wie Anm. 1), S. 23 (der Bischof Folcus von Toulouse  – Anfang 13. Jahrhunderts  – nach der Sammlung von exempla Scala coeli des Dominikaners Jean Gobi). D’Alatri, Eretici e inquisitori (wie Anm. 22), hier Bd. 1, S. 62.

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zitierten Passus, der um 1240 zu datieren ist, verwendete sie Moneta als typischen Ketzerausdruck. Zwischen ungefähr 1250 und 1269 findet man sie in den obengenannten Auszügen des Pungilupo-Prozesses. Zwischen einer ersten, im Kontext der Inquisition gefundenen Entscheidung, die auf einem Verhör und der Abschwörung Armanno Pungilupos 1254 beruhte, und seiner endgültigen, weithin als ungerecht empfundenen Verurteilung, nannten Pungilupo und seine Besucher sogar unbeteiligte dominikanische Ordensbrüder lupi rapaces.56 Auf gelehrtem Niveau kehrte zu Beginn des 14. Jahrhunderts der südfranzösische Minorit Bernard Délicieux die Homiletik der Inquisitoren um. Als er sich der Inquisition widersetzte, erklärte er vom Predigerpult herab, dass nicht die Ketzer, sondern die Inquisitoren selbst die als Schafe verkleideten Wölfe seien.57 Ein ihn unterstützender Laie, von den dominikanischen Inquisitoren wegen eines Aufstands exkommuniziert, schrieb ebenfalls, dass die »unter dem Schafsfell räuberischen Wölfe, nicht treue Prediger, sondern Veruntreuer des göttlichen Gesetzes und Glaubens sind«.58 Sogar Antonius von Padua (dem später der Beiname »Hammer der Ketzer« beigelegt wurde)59 bezeichnete die untreuen Priester als lupi rapaces in vestimentis ovium.60 Weitaus interessanter ist hier nachzuverfolgen, wie die nicht-häretischen Laien im Laufe der oben beschriebenen Konflikte diese Sichtweise, durch die eine ungerechte Verurteilung mit Heuchelei gleichgesetzt wurde, anwandten. Die an sich kohärente und rationale rechtlich-theologische61 Entscheidung der Inquisitoren wird von Laien an einer Logik gemessen, welche in ebenso kohärenter Weise die gelebte Frömmigkeit privilegiert und daher Erstere als ungerecht bewertet. Innerhalb dieses eigenen, durchaus nuancierten religiösen Rahmens bewegen sich auch die Erwägungen und Proteste von Notaren und Juristen, aber auch von bescheidensten Handwerkern, Frauen sowie schließlich einigen Säkularklerikern. Wie aus den italienischen Verhören hervorgeht, sind sie es scheinbar gewohnt, über die ihnen vorgesetzten Eliten nachzudenken und nicht ohne Weiteres allen Entscheidungen zuzustimmen. In Bologna (1299) ist nachvollziehbar, dass die wegen ihrer Teilnahme an den Protesten verhörten ca. 320 Personen zwei komplementäre Stellungnahmen vertraten. Bei einigen handelte es sich um die einfache Feststellung von Ungerechtigkeit, da einer 56 57 58 59

Golinelli, Da santi ad eretici (wie Anm. 21), S. 500. Caldwell Ames, Does Inquisition (wie Anm. 16), S. 28–32. Ebd., S. 31. Mariano d’Alatri, Antonio, martello degli eretici? in: Ders., Eretici  e inquisitori (wie Anm. 22), hier Bd. 1, S. 75–84; Merlo, Contro gli eretici (wie Anm. 9), S. 75–97. 60 D’Alatri, Eretici e inquisitori (wie Anm. 22), hier Bd. 1, S. 79. Gemäß Antonius war der böse Priester ein zum Wolf gewordener Hirte. Die Verbreitung der Häresie war auch seine Schuld: ebd., S. 83. 61 Sita Steckel, Häresie – Kirchliche Normbegründung im Mittelalter zwischen Recht und Religion, in: Nils Jansen / Peter Oestmann (Hg.), Gewohnheit, Gebot, Gesetz. Normativität in Geschichte und Gegenwart  – eine Einführung, Tübingen 2011, S. 73–97, insbes. S. 83 ff.

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der zwei Verurteilten, Bompierto, ein ehrlicher Mann gewesen sei.62 Dies ist die direkteste Kritik an der gefällten Entscheidung. Die auf die Entscheidung des Inquisitors Guido bezogenen Begriffe gehören zu einer (repetitiven) klassischen Semantik, wie peccatum, magnum peccatum, malum opus63 (bloß ein einziges Mal iniquum opus).64 Niemand verwendet den Begriff ›ungerechte Verurteilung‹, da kein fehlerhaftes Gerichtsverfahren, sondern vielmehr eine boshafte Handlung kritisiert wird. Die bestrittene Festlegung wird somit nicht als Endergebnis einer prozeduralen Handlung dargestellt, auch wenn sie als gerichtliche Verurteilung geschildert wird. Sie erscheint im Gegenteil bereits vor ihrem Beginn als unehrliche, von verdeckten Absichten geleitete Festlegung. Gerade aus diesem Grund findet eine andere Gruppe eine alternative Erklärung. Hier erfolgt, wie bereits geschildert, ein weiterer Schritt von der Kritik an der Entscheidung zur Kritik am Entscheidungsträger: Der Inquisitor sei ein Heuchler und fälle ein interessengeleitetes, ungerechtes Urteil. Obwohl er sich hinter dem religiösen Gewand verstecke, sei er böse und stelle eine falsche Religiosität zur Schau. Diesem vorherrschenden religiösen Narrativ (das sowohl in der Begründung des Widerstandes als auch in der genutzten Kategorie der Heuchelei religiös ist und sich auf die religiöse Gemeinschaft der Ordensbrüder bezieht) lagern sich aber auch profane, den städtischen Laien geläufige und mit der Heuchelei verbundene wirtschaftliche Elemente an: Als prävalente Motivation wird das Streben nach Geld gesehen, es steht also der Vorwurf der Korruption im Raum.65 Es wird demzufolge bestritten, dass eine ergebnisoffene Entscheidung gefällt wurde, und stattdessen dem Inquisitor ein abweichendes, geheimes Kalkül unterstellt, das den ablaufenden, rechtlich strukturierten Prozess nur als Fassade nutze. Während die Inquisitoren ihre Entscheidung als folgerichtig und rational darstellen, akzeptieren ihre kritischen Beobachter dies der Form nach, unterstellen aber inhaltlich eine abweichende, böse und heuchlerische Rationalität.66 Der Vorwurf der Korruption konnte um 1300 bereits auf einem Fundament der Kritik an den Bettelorden aufbauen, die notorisch sowohl der frömmelnden Heuchelei wie der verdeckten Gier und der ständigen, ihrem Armutsideal entgegengesetzten Suche nach Einkünften beschuldigt wurden. Dem Inquisitor 62 Für Diana de Schalamis sei es Sünde, gegenüber dem um die Eucharistie bittenden Bompietro keine Barmherzigkeit zu fühlen; und bei der Verbrennung der Gebeine der Rosafiore handele es sich um eine böse Handlung; dagegen kein Wort gegen die Verbrennung des alten Katharers: vgl. Paolini / Orioli, Acta (wie Anm. 30), S. 193. 63 Ebd., S. 156, 161 f., 167, 169 f., 174–177 u. 180 f. 64 Ebd., S. 155. 65 Zu den Narrativen der Korruption im Mittelalter William Chester Jordan, Anti-Corruption Campaigns in Thirteenth-Century Europe, in: Journal of Medieval History 35 (2009), S. 204–219; Valentin Groebner, Gefährliche Geschenke. Ritual, Politik und die Sprache der Korruption in der Eidgenossenschaft im späten Mittelalter und am Beginn der Neuzeit, Konstanz 2000. 66 Steckel, »Problematische Prozesse« (wie Anm. 2), S. 23–27.

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wurden entsprechend verschiedene Varianten des Strebens nach Einnahmen als heimliche Motivation unterstellt. Die Narrative der Verhörten widersprachen sich dabei freilich in den Details. Einer unterstellt, dass Bompietro arm gewesen sei: »Wenn Bompietro Geld gehabt hätte [implizit: um den Inquisitor zu bestechen; A. C.], wäre er nicht verurteilt worden«.67 Andere gingen dagegen davon aus, dass Bompietros Geld ein entscheidendes Movens war: »Wäre er arm gewesen, hätte man ihn nicht verurteilt [implizit: um seinen Besitz zu konfiszieren; A. C.]«.68 »Der Inquisitor habe ihn verurteilt, um von ihm Geld zu kassieren«,69 oder »sich an seinem Geld zu bereichern [implizit: nach den vorgeschriebenen Beschlagnahmungen; A. C.]«.70 Einige sagten schlicht: »Er tötete ihn des Geldes wegen«;71 seltener hieß es: »Er habe beide und die Verstorbene (Rosafiore) aus diesem Grund verurteilt«.72 Ein Kritiker meinte sogar, der Inquisitor habe bereits vor der Verbrennung das Geld (hundert Gulden) von den Erben der beiden Beklagten ausgezahlt bekommen, seinen Teil der Abmachung jedoch nicht erfüllt.73 In anderen Aussagen treten Zuschreibungen eines rächenden oder drohenden, erpresserischen und gierigen Gestus hinzu: »er habe die Gebeine der Rosafiore und seinerzeit auch ihren Mann Bonigrino nur verbrannt, weil er von ihnen kein Geld erhalten konnte«,74 aber umgekehrt auch: »Jetzt wolle er ebenfalls den Besitz des Bompietro, so wie er den des Bonigrino eingeheimst habe«.75 Die Bürger wussten offensichtlich nichts Genaues; doch wurde ein bereits bestehender Ruf der Inquisitoren, habgierig zu sein und die Ketzer ihres Besitzes berauben zu wollen, scheinbar durch diese Tatsachen bekräftigt. Die öffentliche Meinung war allerdings tatsächlich nicht unbegründet: 1302 verfasste die Kommune von Padua ein Dossier76 zu korrupten Inquisitoren, und die päpstlichen Untersuchungen (1302, 1307–1308) bestätigten diese Vorwürfe. Ein anderer Vorwurf an die Inquisitoren als gentes farisee (das heißt Heuchlern)77 machte sich am Keuschheitsgelübde fest: Demnach habe der In67 68 69 70 71 72 73 74 75 76

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Paolini / Orioli, Acta (wie Anm. 30), S. 159. Ebd., S. 249. Ebd., S. 215 u. 219: causa accipiendi pecuniam ab eo. Ebd., S. 174, 187, 205, 220, 226 u. 238 f. Ebd., S. 177 f., 180, 183, 199, 206 f. (pro pecunia; pro accipienda pecunia), 211, 216, 218 u. 237. Ebd., S. 174, 209 (causa accipiendi pecunia ab heredibus eorum, qui iudicati erant), 225, 228 u. 250. Ebd., S. 239: quod pridie accepit pecuniam ab heredibus illorum qui fuerunt combusti, quia transegit cum eis et accepit eis centum florenos aureos. Ebd., S. 177 [Kursivsetzung A. C.]. Ebd., S. 226 [Kursivsetzung A. C.] und, ebd., S. 253: non comburuerunt Bonigrinum usque quo habuit pecuniam. Elisabetta Bonato (Hg.), Il Liber contractuum dei frati Minori di Padova  e Vicenza 1263–1302, Rom 2002; s. zu dieser Quelle Antonio Rigon, Frati Minori, Inquisizione e Comune a Padova nel secondo Duecento, in: ebd., S. V–XXXVI ; André Vauchez / Lorenzo Paolini, In merito a una fonte sugli excessus dell’inquisizione medievale, in: Rivista di storia e letteratura religiosa 39 (2003), S. 561–578. Paolini / Orioli, Acta (wie Anm. 30), S. 254.

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quisitor Bompietro verurteilt, um über dessen Schwester zu verfügen, laut anderen sei es dessen Nichte gewesen. Einige Verhörte mischten all diese Vorwürfe in bettelordensfeindlicher Tendenz zusammen: Die Ordensbrüder seien allgemein sowohl Betrüger, die Geld gegen Heilversprechen erpressten, als auch Diebe und fast alle pflegten Umgang mit Geliebten.78 Nur ein Teil der Begriffe änderte also seine Bedeutung,79 während andere, die christlichen Tugenden betreffenden Semantiken gleich blieben. Dies zeigt, dass die Einstellung der Protagonisten zu diesen Werten bestehen blieb und sich lediglich ihre Einschätzung der Akteure veränderte. Als Gemeinsamkeit kehrt daher in den gegen die Inquisition gerichteten Narrativen von 1299 der Vergleich zwischen Verurteilten und Inquisitoren wieder. Dabei geht es nicht um eine Gegenüberstellung von ›römischem‹ Glauben und Katharismus, sondern um die Ebene der konkret praktizierten, christlichen Lebensführung. In fast jeder Zeugenaussage wiederholt sich der Kontrast zwischen bonus homo (der Verurteilte als ›frommer Mann‹) und mali homines. Dabei scheint denkbar, dass der Notar der Inquisition eine Reihe von Adjektiven in der Vulgärsprache mit bonus / malus vereinfachte. Es wird jedoch explizit behauptet, dass ­Bompietro besser als die Inquisitoren sei. Mehr als auf der Güte Bompietros wird darauf bestanden, dass die Heuchelei der Inquisitoren als gentes farixee sie delegitimiere und zum Beispiel ihrer Amtsgewalt beraube (Inquisitor non potest excommunicare). Es kommt sogar zu einer Umkehrung der Parteien: Inquisitor wie Ordensbrüder seien die wahren Ketzer (fratres sunt eretici) und insofern Ursache der Häresie.80 Die religiöse Sprache der Inquisitoren und der dominikanischen Ordens­ brüder wurde also von der Bevölkerung übernommen, da sie diese des Öfteren in deren Predigten hörte, nun aber gegen diese richtete. Sind die DominikanerInquisitoren als eigentliche Ketzer identifiziert, so kommt es zu weiteren rhetorischen Umkehrungen: Verbrennung und Tod verdiene nicht Bompietro (und sogar nicht einmal der andere Katharer, Giuliano), sondern der Inquisitor und die Ordensbrüder.81 Für die Inquisitoren-Brüder und ihre Konvente werden also dieselben Strafen gefordert, die diese über ihre Opfer verhängten, insbesondere 78 Ebd., S. 232. 79 Reinhart Koselleck, Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2010, insbes. S. 58–60. 80 Paolini / Orioli, Acta (wie Anm. 30), S. 197, 199 (heresis debebat venire  a fratribus), 216 (timeo quod non faciant venire fratres heresim), 269, 229, 250 (inquistor erat antichristus) u. 230 (fratres erant mali homines et latrones et quod, postquam venerunt in mundum, fides erat amissa). Ebenso gibt es eine Bezichtigung der Simonie: Guido habe das Amt des Inquisitors erkauft in curia romana (ebd., S. 252 u. 257). 81 Ebd., S. 154 (fratres essent plus digni combustione quam quam dicti Bompetrus et Iulianus), 164 (inquisitor […] et fratres magis esset digni comburi), 166, 171–173, 176 (fuit bonus homo et blasfemabat fratres et quod Deus ostenderet de eo miracula et conveniens erat quod fratres reciperent talem mortem), 177, 180 f., 193, 203, 205, 209, 212, 218, 225, 238, 240, 242, 255 u. 257.

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das Feuer bzw. der Scheiterhaufen. Es zeichnen sich in Bologna also in nuce jene Erwägungen, Diskurse, Überlegungen und Hetzreden ab, die in einigen anderen Städten zu regelrechten Stürmungen der Dominikanerkonvente bzw. zu Revolten gegen die Inquisitoren geführt hatten.82 So argumentierte eine Bologneser Stimme, es sei richtig, das Dominikanerkloster in Brand zu setzen, wie es – man erinnerte sich daran – zwanzig Jahre zuvor in Parma geschehen sei.83 Ebenso scheiterte der durch den päpstlichen Stuhl geförderte und von den Dominikanern zur Legitimierung ihrer Position propagierte Heiligenkult (a posteriori ›verwandelte‹ sich selbst auch der heilige Dominikus in einen Inquisitor):84 Der Schmied Ottone Laxagnoli kritisierte die gesamte kirchliche Hierarchie und behauptete, nachdem er auf den Betrug der Dominikaner verwiesen hatte, diese hätten den heiligen Petrus Martyr von Verona – welcher keineswegs heilig sei – fälschlich zum Märtyrer stilisiert. Er – erklärte ein Zeuge – pflege den Heiligen Peter zu verspotten. Der Schmied sagte auch aus, er wünsche den Augenblick herbei, in welchem die Bevölkerung sich gegen die Ordensbrüder erheben und sie alle töten werde.85 Auch eine Witwe weigerte sich, dem Inquisitor-Märtyrer zu huldigen und behauptete, dass sogar die Franziskaner dies unterließen.86 Nur selten hebt sich die Kritik auf das Niveau der Ekklesiologie (wobei politische Hintergründe eine Rolle spielen mögen): Bloß eine kleine Gruppe, die sich aus einem Juristen und (interessanterweise sogar) Handwerkern zusammensetzte, begann mit einer Kritik der Ordensbrüder und schloss mit Papst Bonifaz VIII . und seiner Exkommunizierung der Colonna.87 Einige Jahrzehnte später wurde diese Rhetorik der Heuchelei gegen die Franziskaner-Inquisitoren der Toskana scheinbar zur Regel. Inzwischen war es mit der Häresie als organisierter Erscheinung vorüber und es wurden nunmehr hauptsächlich einzelne Ungläubige, Skeptiker, Antiklerikale und Verfechter der Rechtmäßigkeit des Wuchers verfolgt, zum Teil auch mit hohen Geldstrafen. Die 82 Geltner, Mendicants as Victims (wie Anm. 32). 83 Paolini / Orioli, Acta (wie Anm. 30), S. 164, 194 (quod fratres Predicatores possent cadere ad rumorem populi; quod fratres predicatores caderent ad rumorem populi et quod societates populi irent cum armis ad domum fratrum), 201, 207 f. (bonum esset comburere Sanctum Dominicum et fratres et quod magis erant comburi quam ipse Bompetrus et quod homines deberent curere ad ponendum ignem et comburendum eos sicut fuit factum in quadam alia civitate), 212, 223, 226 (domum fratrum Predicatorem vellet comburi sicut alias evenit Parme, quia comburebant Bompetrum), 228 (vellet quod populus Bononie veniret ad domum fratrum et destrueret domum fratrum, sicut factum fuit Padue) u. 231 (adhuc veniret tempus quod interficerentur ad rumorem populi). 84 Luigi Canetti, Intorno all’›idolo delle origini‹. La storia dei primi frati Predicatori, in: I frati Predicatori nel Duecento, Verona 1996, S. 9–51; dann als Domenico e gli eretici, in: Grado G.  Merlo (Hg.), Storia ereticale  e antiereticale del medioevo, Torre Pellice 1997, S. 122–158; Lorenzo Paolini, Domenico e gli eretici, in: Ders., Le piccole volpi (wie Anm. 10), S. 53–76; Caldwell Ames, Righteous Persecution (wie Anm. 1), S. 97–114. 85 Paolini / Orioli, Acta (wie Anm. 30), S. 232, 234 u. 256 f. 86 Ebd., S. 234. 87 Ebd., S. 235 f.

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aus den päpstlichen Untersuchungen (auch auf Ansuchen der Kommune von Florenz)88 resultierenden Kritikpunkte an der Inquisition verbreiteten sich und konnten teilweise in Form sarkastischer Witze zirkulieren. Sie hatten scheinbar die oben diskutierte religiöse Semantik weitgehend eingebüßt. Dies könnte einerseits damit erklärt werden, dass die kritischen Stimmen nicht mehr auf die Verletzung eines von Bevölkerung und Angeklagten geteilten religiösen Rahmens durch die inquisitorische Entscheidung antworteten. Andererseits wichen auch die toskanischen Inquisitoren von der repressiven anti-häretischen Linie eines Guido von Vicenza ab. Sie waren scheinbar eher daran interessiert, verstorbene reiche Wucherer posthum verurteilen und aus ihren Gräbern exhumieren zu lassen, um deren Besitz zu beschlagnahmen und denjenigen, die zahlen konnten, Geldstrafen aufzuerlegen. Man sprach daher nicht mehr von Märtyrern und Verfolgern, sondern von Erpressungen und Missbräuchen. Übrig blieb eine bloß weltliche Heuchelei mit vorwiegend profanen Narrativen, die eher der komplexen städtischen Gesellschaft entsprachen. Auch mit der anti-mendikantischen Polemik verhielt es sich nicht anders. Semantiken und Narrative passten sich an, übrig blieb meist der Bezug auf das Geld. Ihr Echo klingt bis heute in Boccaccios Novelle des Inquisitors und in Giovanni Villanis Chronik nach.89

88 Antonio Panella, Politica ecclesiastica del Comune fiorentino dopo la cacciata del Duca d’Atene, in: Archivio Storico Italiano 71 (1913), S. 271–370; Frédégand Callaey, Un épisode de l’Inquisition franciscaine en Toscane. Procès intenté à l’inquisiteur Minus de San Quirico, 1333–1334, in: Mélanges d’histoire offerts à Charles Moeller, Louvain 1914, Bd. 1, S. 527–547; Girolamo Biscaro, Inquisitori ed eretici a Firenze, in: Studi medievali, n.s. 2 (1929), S. 347–375; 3 (1930), S. 266–287; 6 (1933), S. 161–207; Mariano D’Alatri, L’inquisizione a Firenze negli anni 1344/46 da un’istruttoria contro Pietro da L’Aquila, in: Ders., Eretici e inquisitori (wie Anm. 22), hier Bd. 2, S. 41–68; Bruschi, Inquisizione francescana (wie Anm. 13). 89 Zu den ›literarischen‹ Narrativen über die Mendikanten und Inquisitoren vgl. Thomas Scharff, Die Inquisition in der italienischen Geschichtsschreibung im 13. und frühen 14. Jahrhundert, in: Ders. / Behrmann, Bene vivere in communitate (wie Anm. 32), S. ­255–277, insbes. S. 272–277; Geltner, The Making of Medieval Antifraternalism (wie Anm. 12), inbes. S. 28–43; Caterina Bruschi, Falsembiante  – Inquisitor? Images and Stereotypes of Franciscan Inquisitors between Literature and Juridical Texts, in: Marco Veglia u. a. (Hg.), »Il mondo errante«. Dante fra letteratura, eresia e storia, Spoleto 2013, S. 99–136; Antonio Montefusco, Dall’università di Parigi a frate Alberto. Immaginario antimendicante ed ecclesiologia vernacolare in Giovanni Boccaccio, in: Studi sul Boccaccio 43 (2015), S. 177–233; ders., Maestri secolari, frati mendicanti  e autori volgari. Immaginario antimendicante ed ecclesiologia in vernacolare, da Rutebeuf a Boccaccio, in: Rivista di storia del cristianesimo 12 (2015), S. 265–290.

Umstrittene Narrative und religiöse Sprache  

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4. Fazit Das Papsttum und die Inquisitoren versuchten im 13. Jahrhundert, ganz spezifische Deutungen über häretisches und inquisitorisches Handeln und damit verbundene Narrative des Entscheidens in der Bevölkerung durchzusetzen. Dies stieß auf vielfältige Widerstände, so dass ihre kulturelle Verankerung nur allmählich und partiell erfolgte. Die Interpretation bestimmter Handlungen verdächtiger Laien als ein gegen die Kirche gerichtetes Entscheiden wurde insbesondere von denjenigen, die sich zu bestimmten Formen gelebter Frömmigkeit bekannten und teilweise in gefährliche Nähe zur Häresie gerieten, nicht akzeptiert. Gerade die Beispiele der von ihnen aufgestellten konkurrierenden Deutungen und Narrative über das religiöse Entscheiden zeigen, dass in einer komplexen kommunalen Gesellschaft die Existenz verschiedener, teils entgegengesetzter religiöser Rationalitäten vorauszusetzen ist. Die Semantik, die dieser Differenz Ausdruck verlieh, blieb religiös, denn religiös waren beide Deutungsrahmen: Die Begriffe änderten sich kaum, doch wurde im Rahmen einer Delegitimierung der Entscheidungen anderer (und in der damit verbundenen Selbstlegitimierung) ihre Bedeutung umgekehrt, wie sich etwa am Begriff der persecutio zeigt. Diese Kritiken gegen die Entscheidung der Inquisitoren zielen jedoch hauptsächlich auf die Entscheider und nicht auf das gerichtliche Verfahren selbst, dem je nach Ergebnis wenig Glaubhaftigkeit und Legitimität zuerkannt wurde. Stattdessen schrieb man das Ergebnis einem bereits im Vorfeld bestehenden, boshaften Willen der heuchlerischen Ordensbrüder zu. Deshalb zeigen in diesen Fällen die Semantiken – nicht so sehr diejenigen der Ketzer, sondern die der beobachtenden Bevölkerung –, wie verschiedene Diskursstränge korrekten religiösen und gerichtlichen Entscheidens oder profitorientierten Kalküls miteinander in Beziehung treten können.

Nicola Kramp-Seidel

Semantiken des Entscheidens in mittelalterlichen rabbinischen Responsa

Dieser Beitrag zu Semantiken des Entscheidens in mittelalterlichen Responsa möchte den Fokus darauf legen, wie der Entscheidensprozess in Responsa semantisch gefasst wird. Dafür erfolgt zunächst eine Einordnung der im Hebräischen üblichen Begriffe für ›entscheiden‹, pasak und hikhria, im Hinblick auf die damit transportierten Bedeutungen und wie sie in der jüdischen Rechts­ literatur zum Einsatz kommen. Danach soll ihre Verwendung in den Responsa untersucht und herausgearbeitet werden, welche anderen Begriffe dort genutzt werden. Responsa selbst stellen neben den Kodifikationswerken und der Kommentarliteratur einen Zweig der jüdischen Rechtsliteratur der nachtalmudischen Zeit dar, wobei Menachem Elon die Responsa als den qualitativ und quantitativ gewichtigsten Teil ausmacht.1 Bei Responsa handelt es sich um Rechtsgutachten, die von einer externen Instanz zu einer Anfrage erstellt werden. In vielen dieser Responsa wird ein Entscheidensprozess dadurch abgebildet, dass ein Entscheidensproblem eines Anfragenden oder mehrerer Anfragender an eine weitere Person abgegeben wird, die in ihrer Antwort dieses Problem lösen soll. Die Responsaliteratur als eigenständige Literaturgattung findet sich seit der Epoche der Geonim2 (7.–11. Jahrhundert). Doch lassen sich deutliche Unterschiede zwischen den Responsa der Geonim und den Responsa ab dem 11. Jahrhundert festmachen. Dies liegt zu einem großen Teil in den unterschiedlichen Autoritätsstrukturen begründet: Die meisten Fragen in der Epoche der Geonim wurden in den Talmudakademien besprochen und stellten somit kollektive Entscheidungen dar, während die Responsa in den nachfolgenden Generationen von Einzelpersonen verfasst wurden und somit Einzelentscheidungen waren. Dadurch wurden die Responsa in der Regel länger und der Respondent führte seine Argumente im Responsum aus, um den Adressaten von der Richtigkeit seiner Entscheidung zu überzeugen.3 In vielen Responsa werden Fragen zur 1 Vgl. Menchaem Elon, Jewish Law. History, Sources, Principles, Bd. 3, Philadelphia 1994, S. 1454. 2 Als Geonim (Singular: Gaon) werden die Leiter der Talmudakademien in Babylonien bezeichnet. 3 Vgl. Elon, Jewish Law (wie Anm. 1), S. 1474 f.; Regina Grundmann, Responsa als Praxis religiösen Entscheidens im Judentum. Historische und kulturwissenschaftliche Perspektiven, in: Wolfram Drews u. a. (Hg.), Religion und Entscheiden, Würzburg 2018,

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praktischen Halakha, dem jüdischen Religionsgesetz, behandelt. Insbesondere durch neue Lebensformen und Entwicklungen oder auch durch Unklarheiten oder einander widersprechende Rechtsfestlegungen werden schwierige Fragen an einen Respondenten abgegeben. Jedoch wird nicht in allen Responsa eine Entscheidung verlangt; so finden sich ebenfalls Responsa zu Erklärungen von Bibelstellen oder Talmudpassagen.4 Da die mittelalterliche Responsaliteratur überaus umfangreich ist, sollen in diesem Beitrag exemplarisch die Responsa eines der größten Gelehrten seiner Zeit, Salomon Adret, untersucht werden. Die Semantiken des Entscheidens beispielhaft in seinen Responsa zu untersuchen, ist damit begründbar, dass Adret mehrere tausend Responsa verfasste, die auch spätere Gelehrte und Rechtswerke beeinflusst haben.5 Solomon B.  Freehof bezeichnet ihn als »one of the most prolific of all the respondents.«6 Noch deutlicher drückt es Shlomo Zalman Havlin aus, nach dessen Aussage Adret weitaus mehr Responsa als jeder andere Respondent verfasst hat.7 Adret wirkte im 13. Jahrhundert in Spanien; er wurde 1235 in Barcelona geboren und starb dort 1310. Die Anfragen wurden ihm aus diversen Ländern gestellt; sie stammten nicht nur aus dem näheren Umfeld, sondern wurden Adret auch aus Frankreich, Deutschland, Italien, Palästina, Marokko und Algerien zugesendet.8

1. Begriffe für Entscheiden in der jüdischen Rechtsliteratur Im jüdischen Rechtsbereich wird oft das hebräische Verb pasak9 verwendet, um von »entscheiden« zu sprechen. Doch hat das Verb nicht nur diese Bedeutung, lautet doch die Grundbedeutung von pasak »unterbrechen«, »abschneiden« oder »trennen«.10 Damit ähnelt dieses Verb dem lateinischen decidere, das ebenfalls neben der Wortbedeutung »entscheiden« den Wortsinn des Abschneidens in

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S. 163–178, hier S. 165 f. Zu Responsa des 20. Jahrhunderts s. den Beitrag von Regina Grundmann in diesem Band. Vgl. Grundmann, Responsa als Praxis (wie Anm. 3), S. 163. Freehof schreibt bezüglich des Einflusses Adrets: »This Spanish rabbi has exerted perhaps the widest and most enduring responsa influence.« Solomon B. Freehof, The Responsa Literature and A Treasury of Responsa, Brooklyn 1973, The Responsa Literature, S. 65. Zudem bezeichnet Freehof ihn als »the most famous authority in Spain in his time«; in: ebd., A Treasury of Responsa, S. 52. Ebd., The Responsa Literature, S. 65. Vgl. Shlomo Zalman Havlin in seiner Einleitung zu Teshuvot She’elot Leha Rashba, Rome ca. 1470, Jerusalem 1976, S. 8. Vgl. Freehof, The Responsa Literature (wie Anm. 5), S. 52. Vgl. Yaakov Lavi, Handwörterbuch Hebräisch-Deutsch, neu bearb. v. Ari Philip / Kerstin Klingelhöfer, Berlin 2004, S. 461. Vgl. Reuben Alcalay, The Complete Hebrew-English Dictionary, Bd. II , Tel Aviv 2009, Sp. 2073.

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sich trägt.11 So wird sowohl im Hebräischen als auch im Lateinischen der Einschnitt, den eine Entscheidung mit sich bringt,12 bereits durch dieses Wort abgebildet. Darüber hinaus klingt beim Wort pasak das Bild des Schwertes an. Die unterschiedlichen Bedeutungen der Wurzel pasak  – also »unterbrechen« / »abschneiden« und »entscheiden« – finden sich in den von dieser Wurzel ausgehenden Substantiven Peseḳ und Psaḳ oder Psak-Din wieder. Während Erstgenanntes »Unterbrechung« oder »Pause« bedeutet, stehen Psak und Psak-Din für »Entscheidung« bzw. »Gerichtsentscheidung«. Die Dezisoren werden im Singular als Posek und im Plural als Poskim13 bezeichnet, wobei es sich bei diesen Formen um die Partizipien maskulinum Singular und maskulinum Plural von pasak handelt. Bis heute wird dieses Wortfeld verwendet, um das Entscheiden im rechtlichen Kontext zu beschreiben. In der Sekundärliteratur werden beispielsweise Salomon Adret14 wie auch andere Gelehrten als Poske Halacha (»Entscheider des Rechts«) oder als Poskim, also Entscheider, eingeordnet.15 Doch ist dieses Wortfeld nicht das einzige, das im rechtlichen Bereich für Entscheiden verwendet wird. Denn es findet ebenfalls das Verb hikhria Anwendung, das aus der Wurzel ‫( כרע‬kara) gebildet wird. Dieses Verb besitzt eine andere Konnotation als das Verb pasak; hier klingt in der Bedeutung nicht die Zäsur und das Bild des Schwertes, sondern das Bild der Waage an. Denn die Grundbedeutung von hikhria lautet »herabsinken lassen« oder »niederbeugen«. Gustaf Dalman verwendet in seinem Wörterbuch für die Angabe der Wortbedeutung sogar das Bild der Waage, wenn er das Verb neben anderen Bedeutungen auch mit »die Waagschale sinken machen« übersetzt.16 Wie beim Verb pasak lassen sich die unterschiedlichen Wortbedeutungen bei den Substantiven feststellen. So birgt das Substantiv hekhrea sowohl die Bedeutung der Entscheidung als auch des Übergewichts in sich.17 Das Substantiv hakra’a wird sowohl mit »Entscheidung« als auch mit »Übergewicht / Ü berwältigen (des Feinds)« und »tipping the scale«18 übersetzt. Ob die unterschiedlichen Grundbedeutungen von pasak und hikhria einschließlich der damit transportierten Bilder wissentlich differenziert verwendet werden, ist schwer zu sagen. Doch es scheint so, als ob sie in der jüdischen Rechtsliteratur teilweise wechselseitig eingesetzt werden und zwischen ihnen 11 Vgl. zum Bedeutungsspektrum von ›decidere‹ den Beitrag von Georg Jostkleigrewe in diesem Band. 12 Vgl. Grundmann, Responsa als Praxis (wie Anm. 3), S. 164. 13 Vgl. Alcalay, Hebrew-English Dictionary (wie Anm. 11), Bd. II , Sp. 2013; vgl. auch Grundmann, Responsa als Praxis (wie Anm. 3), S. 164. 14 Auf den Gelehrten Salomon Adret wird im späteren Verlauf ausführlicher eingegangen. 15 Vgl. beispielsweise: Havlin, Einleitung zu Teshuvot She’elot (wie Anm. 7), S. 8. 16 Gustav Hermann Dalman, Aramäisch-Neuhebräisches Handwörterbuch, Hildesheim 3 2007, S. 209. Vgl. dazu auch Barbara Stollberg-Rilinger, Cultures of Decision-Making, London 2016, S. 11 u. 16. 17 Vgl. Alcalay, Hebrew-English Dictionary (wie Anm. 11), Bd. I, Sp. 527. 18 Ebd.

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nicht bewusst unterschieden wird. Dies deutet sich in einem Satz des Nissim von Gerona (14. Jahrhundert) an, der beide Formulierungen benutzt, wenn er darauf verweist, wie andere Gelehrte19 entschieden oder nicht entschieden haben.20 Er schreibt nämlich: »Und Rav Alfasi s[eligen] A[ngedenkens] entschied [hikhria] in seinen Halakhot nicht gemäß wessen Worten [die Sachlage festzulegen ist]. Aber Rambam [Maimonides] entschied [pasak] im vierten Kapitel der Hilkhot Yom Tov gemäß dem, der sagte: Es wird zurückgefordert.«21 Da Nissim von Gerona nicht einheitlich nur das eine oder das andere Wort wählt, lässt sich annehmen, dass sie nebeneinander bzw. gleichberechtigt verwendet werden. Interessant ist, dass in einigen Fällen, in denen pasak oder hikhria Ver­ wendung finden, diese Worte mit ke angeschlossen werden. Diese zusammengesetzte Formulierung von pasak oder hikhira mit ke bedeutet übersetzt ›er entscheidet gemäß XY‹. Daran lassen sich zwei Phänomene innerhalb des jüdischen Rechts aufzeigen: zum einen die Rückbindung zu anderen Gelehrten und der Nachweis, dass man nicht unbegründet und losgelöst von vorherigen Rechtsvorstellungen entschieden hat; zum anderen aber vor allem, dass in der rabbinischen Literatur viele divergierende Rechtsmeinungen der Gelehrten wiedergegeben werden, sodass ein Entscheiden oft darin besteht, bei unterschied­ lichen Rechtsmeinungen eine als richtig zu benennen. Da im Talmud einige Meinungsverschiedenheiten überliefert sind, müssen nachfolgende Generationen zwischen diesen Meinungen entscheiden.22 Dies kann anhand einer Reihe von Beispielen aus den verschiedenen Sparten der jüdischen Rechtsliteratur untermauert werden. So schreibt beispielsweise Isaak Alfasi (1013–1103) in seinem »Sefer ha-Halakhot«, einem Werk, das der Kodifikationsliteratur zuzuordnen ist, im Traktat Berakhot zur Frage, wie lange man beim Rezitieren des Schemas stehen bleiben muss: »Die Rabbanan lehrten: ›Höre Israel, JHWH, unser Gott ist einzig.‹ Bis hier benötigt er die Aufmerksamkeit des Herzens. Worte R.  Meirs. Rava sagte. Die Halakha ist gemäß R. Meir. […] Rav Natan, Sohn des Mar Ukba, sagte, Rav Jehuda habe gesagt: Bis ›deinem Herz‹ [muss] im Stehen [rezitiert werden]. Das ist, wenn jemand umhergeht. Und beginnt er, das Schema zu rezitieren, muss er bis [zu] ›deinem Herz‹ stehen bleiben und danach geht er [weiter] umher. Und es erklären im Jerusalemer Talmud Rav Huna und Rav Idi Bar Josef im Namen von Samuel: Er muss das Joch der Herrschaft des Himmels auf sich nehmen. Nicht wenn er saß, soll er stehen [ist gemeint], sondern wenn er umhergeht, soll er stehen. Und R. Jochanan

19 In diesem Fall Isaak Alfasi und Maimonides. 20 HaRan ›al ha-Rif, Shabbat 63a, zit. nach der Ausgabe: Bar-Ilan University, The Responsa Project, Version 23 plus. 21 Ebd. (alle Übersetzungen stammen von der Verfasserin). 22 Hikhria kommt zudem in einem weiteren Kontext vor, nämlich in einer hermeneutischen Regel. Sollen nämlich zwei Bibelstellen einander widersprechen, soll man eine dritte zu Rate ziehen, die zwischen ihnen entscheidet.

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sagt: Den ganzen Abschnitt im Stehen. Und die Halakha ist weder gemäß R. Natan noch gemäß R. Jochanan. Denn es wird gemäß Rava akzeptiert, denn er ist der Letzte, der die Halakha gemäß R. Meir entschied (pasak), dass man die Aufmerksamkeit nur im ersten Vers benötigt.«23

In diesem Abschnitt präsentiert Isaak Alfasi unterschiedliche Auffassungen, wie lange man beim Rezitieren des Schemas stehen bleiben muss. So findet sich die Lehrauffassung von R. Meir, nur während des ersten Verses aufmerksam sein zu müssen. Rav Natan, der ein Stehen bis zu »deinem Herz« verlangt, fordert hingegen, dass man während der ersten zwei Verse aufmerksam sein und stehen bleiben muss. R. Jochanan wiederum ist der Ansicht, man müsse während des ganzen Abschnitts aufmerksam sein und stehen bleiben. Wenn Alfasi nun auf Rava verweist, hebt er hervor, dass dieser gemäß R. Meir entschieden habe. Man erkennt an dieser Stelle somit die widersprechenden Lehrmeinungen, aufgrund derer überhaupt entschieden werden muss. Letztendlich zeigt Alfasi in dieser Passage aber ebenfalls auf, dass Rava nicht losgelöst von der Rechtstradition entscheidet, sondern sich bei der Festlegung der Halakha auf sie stützt. Auch in Responsa, die einen weiteren Zweig der jüdischen Rechtsliteratur ausmachen, verwenden Respondenten pasak mit ke. Beispielsweise weist Adret im Responsum Teil »Ramban zugeschrieben«, Nr. 226 darauf hin, dass schon seit der mischnaischen Zeit eine Meinungsverschiedenheit bezüglich des Wassers der Mikwe besteht. Hierbei geht es um die Diskussion zu geschöpftem Wasser. Es ist sowohl eine Lehrmeinung überliefert, nach der geschöpftes Wasser immer tauglich ist, als auch eine andere, nach der das Wasser der Mikwe nur tauglich ist, wenn das geschöpfte Wasser den geringeren Teil ausmacht. Daher beschreibt Adret, wie andere frühere Gelehrte nach diesen unterschiedlichen Auffassungen ihre Entscheidung festgesetzt haben. In diesem Rahmen nennt er die Rechtsauffassung eines früheren Gelehrten, der »gemäß Rabbi Elieser ben Yaakov entschieden (pasak) hat.«24 Somit zeigt Adret hier auf, dass dieser Gelehrte entsprechend einer früheren Rechtsvorstellung und nicht davon unabhängig seine Festlegung formuliert.25

23 Ha-Rif Ber 7a-b, zit. nach der Ausgabe: Bar-Ilan University, The Responsa Project, Version 23 plus. 24 Aharon Zaleznik u. a. (Hg.), She’elot u-Teshuvot ha-Rashba, 8 Teile in 5 Bde., Jerusalem 1997–2005, Teil Ramban zugeschrieben, Nr. 226. 25 Vgl. zu dieser Kombination von pasaḳ und ke ebenfalls beispielhaft ebd., Teil 1, Nr. 509 und Teil 1, Nr. 313.

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2. Entscheiden in mittelalterlichen Responsa Salomon Adret selbst verwendet die beiden Verben pasak und hikhria ebenfalls, wenn er in seinen Responsa von Entscheiden oder Nicht-Entscheiden spricht. Auch wenn man im späteren Verlauf dieses Beitrags sehen wird, dass Adret seine Entscheidungen oft als basierend auf den Rechtsquellen darstellt, sieht er sein Antworten dennoch als Entscheiden an. Dies erkennt man bei seinen eigenen Ausführungen insbesondere dann, wenn Adret über die Entscheidungen anderer, früherer Gelehrter spricht. In seinen eigenen Responsa verwendet Adret selbst für sein eigenes Entscheiden selten diese Begriffe. Er gebraucht für sich den semantischen Ausdruck des Entscheidens dann, wenn er auf eigene, frühere Entscheidungen verweist. Dass Adret es selbst nicht sprachlich fasst, wenn er entscheidet, liegt zum großen Teil in der Charakteristik der Responsa begründet. Da dort konkrete Fragen an den Respondenten gestellt werden, die direkt beantwortet werden, wenn es sich um Fragen zur Entscheidung von Rechtsproblemen handelt, muss Adret nicht explizit betonen, dass er entscheidet. Denn in diesen Fällen ist es in der Regel eindeutig, dass eine Entscheidung vom Anfragenden an den Respondenten Salomon Adret externalisiert wird. Adret kann somit direkt auf das eigentliche Problem und die Fragestellung eingehen. Dieses Phänomen, dass die Fragen bereits die Entscheidenssituation vorgeben und Adret selbst sein Entscheiden nicht mehr sprachlich betont, sondern direkt auf die Frage antwortet, lässt sich an einer Reihe von Responsa aufzeigen. So ist durch die Frage in Teil 1, Nr. 70 klar ersichtlich, dass eine Entscheidensfrage externalisiert wurde. Dabei handelt es sich um eine Entscheidensfrage, die mit dem Pesachfest und dem Gebot, Gesäuertes wegzuschaffen, verbunden ist. Der Anfragende möchte nämlich wissen, ob und wenn ja, wie Weizen weggeschafft werden müsse, der sich in Brunnen befindet und durch die Feuchte der Erde aufgeplatzt sein könnte. Innerhalb der Frage nennt der Anfragende unterschiedliche Entscheidensmöglichkeiten: »Ob man ihn wegschaffen und kabweise26 an einen Israeliten verkaufen muss, damit er an Pesach beseitigt ist. Oder ob man ihn an einen Nichtjuden verkaufen kann, unter der Voraussetzung, dass man ihn nicht vor Pesach herausholt und nicht eine Bürgschaft auf sich genommen hat, und [es ist] wie Gesäuertes von einem Nichtjuden im Besitz eines Israeliten, wenn er ihm eine zehn [handbreit] hohe Trennwand gemacht hat und dieser Brunnen ist wie eine zehn [handbreit] hohe Trennwand. Oder sagen wir, dass es kein Wegschaffen benötigt, weil es für ihn ist, als ob er sein Haus zu einem Lagerhaus über 30 Tage vor Pesach macht, und es nicht seine Absicht ist, es vor Pesach zu öffnen. Außerdem, weil dies schlechtes Gesäuertes ist, das zum Essen nicht geeignet und schlecht ist.«27

26 Hierbei handelt es sich um eine geringe Maßeinheit. 27 Zaleznik u. a., She’elot u-Teshuvot ha-Rashba (wie Anm. 24), Teil 1, Nr. 70.

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Hier ist somit klar, dass darüber zu entscheiden ist, ob der Weizen weggeschafft werden soll, und wenn ja, auf welche Weise: ob man den Weizen an einen Juden in ganz geringer Menge verkaufen soll oder ob man ihn an einen Nichtjuden verkauft. Adret selbst antwortet direkt auf die ihm konkret gestellte Frage, ohne sprachlich hervorzuheben, dass er entscheidet. Auch in Teil 1, Nr. 82 ist durch die Fragestellung ersichtlich, dass Adret um eine Entscheidung gebeten wird: An dieser Stelle geht es darum, wie krank man sein muss, damit man verpflichtet ist, einen Segen über das Gesundwerden zu sprechen, nachdem man wieder gesund ist. Ein weiterer Bestandteil der Frage lautet, ob man bei einer chronischen Erkrankung immer wieder den Segen sprechen muss oder davon befreit ist. Auf diese konkret gestellten Fragen, die eine Entscheidensantwort von Adret verlangen, kann er direkt eingehen. Es ist nicht notwendig, das Antworten sprachlich selbst als Entscheiden zu fassen. Zum zweiten Teil der Entscheidensfrage bietet ja sogar der Anfragende die beiden Optionen – man muss den Segen sprechen oder nicht – an, sodass klar ist, dass hier zwischen unterschiedlichen Möglichkeiten entschieden werden muss.

3. Darstellung vieler Responsa als Rechtsableitung Adret verwendet wiederholt Formulierungen, die darauf hindeuten, dass er durch die Auslegung und Ableitung von Rechtstexten zu seinen Antworten gelangt. Er zeigt damit, dass er basierend auf den jüdischen Rechtsvorstellungen antwortet. Belegende Zitate, die Adret aus der Mischna und den Talmudim anführt, um seine eigene Argumentation als auf dem Recht gründend zu erweisen, leitet er mit unterschiedlichen Einleitungsformen ein. Hierfür greift beispielsweise Adret auf folgende Formulierungen zurück: »denn es wird gelehrt (tanya’), »wir haben gelernt (shaninu)«, »es steht geschrieben (katuv / ketiv)«, »denn wir lernen (tenan)«, »und wir sagen« und »wir lesen (garsinan)«. Dabei werden aber nicht sämtliche gerade genannten Einleitungsformeln für alle Quellenangaben verwendet. Unterschiedlich wird die Einleitung wiedergegeben, wenn die Zitate aus Lehren mischnaischer Zeit28 oder aus der Mischna selbst stammen. Manche dieser sogenannten Baraitot werden zwar nur im Talmud, in der Gemara, erwähnt, gelten aber auch dort als Lehren aus mischnaischer Zeit. Zur Untermauerung dieses Befundes kann das Responsum in Teil 1, Nr. 215 angeführt werden. Hier verwendet Adret diese gerade genannten Formulierungen, um die Rechtsquellen einzuleiten, die seine unterschiedlichen Darstellungen untermauern sollen. Die Frage, ob man einem Vorbeter, der sich an seiner Stimme erfreut und daher sein Gebet lange hinzieht, seine Vorgehensweise 28 Eine Lehre aus mischnaischer Zeit wird als Baraita bezeichnet; der Plural ist Baraitot. Die mischnaische Zeit oder Zeit der Tannaim stellt eine übliche, klassische Zeiteinteilung dar und umfasst etwa die Jahre 20–200 d. Z.

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verbieten soll oder nicht, beantwortet Adret, indem er für sämtliche seiner Antwortschritte auf Rechtstexte verweist und sie mit unterschiedlichen Ausdrücken einleitet: »Diese Worte sind nach der Ansicht des Herzens29 gesagt: Wenn sich der Vorbeter in seinem Herzen darüber freut, dass er den Preis und Dank für Gott mit angenehmer Stimme und im Gesang gibt und er sich aus Ehrfurcht freut, soll über ihn der Segen kommen, denn eine der verpflichtenden Dinge für jenen, den man vor den Schrein treten lässt, ist, dass er einen Klang und eine angenehme Stimme besitzt, und wie im Traktat Taanit, im Kapitel »Die Ordnung der Fastentage«30 gelehrt wird (tanya): Obwohl es dort einen Alten und Gelehrten gibt, lässt man nur den Geübten vor den Schrein treten. [Wer ist es?] Rabbi Jehuda sagt: Der mit einem großen Anhang (Familie) versehen ist und keine [Unterstützung] hat […] und der einen Klang / Gesang und eine angenehme Stimme hat. (bTaan 16a) Aber er muss bescheidenen Gemüts beten, denn wir haben gelernt (tenan): ›Man steht nur in Bescheidenheit, um zu beten.‹ (mBer 5,1/bBer 30b)  Und er soll in Ehrfurcht stehen, wie jener, der vor der Schekhina steht, denn wir lesen dort (garsinu) (bSan 22a): ›Rav Chana bar Bisna sagte, Rabbi Simeon, der Fromme, habe gesagt: Derjenige, der betet, muss sich selbst so sehen, als ob er vor der Schekhina wäre, denn es heißt: Ich habe immer Gott vor mich gestellt.‹ (bSan 22a) Und es wird gelehrt (tanya): ›Man steht nicht, um Tefillah zu sprechen – weder im Gespräch, noch im Lachen, noch in Leichtsinn, noch im leeren Gerede.‹ (bBer 31a) Daher, wenn sich dieser Vorbeter freut und in Ehrfurcht steht, und wie geschrieben steht (dikhtiv): ›Dient JHWH in Ehrfurcht und frohlockt im Zittern‹ (Ps 2,11), siehe, es ist vorzüglich. Aber wenn er beabsichtigt, seine Stimme hören zu lassen und er sich an seiner Stimme freut, dass das Volk sie hört und es ihn lobt, siehe es ist verachtenswert. Und über ihn und über ihm Entsprechendes heißt es (ne’emar): ›Er gab seine Stimme gegen mich und daher hasste ich ihn.‹ (Jer 12,8) Auf jeden Fall [gilt]: Jeder, der in seinem Gebet verlängert, hat es nicht gut gemacht, denn an einigen Stellen sagten sie (= die Gelehrten), [das Gebet] wegen der Mühe der Gemeinde kurz zu halten. Und Rabbi Jehuda sagte: ›Und so war es der Brauch des R. Aqiba: Wenn er mit der Gemeinde Tefillah sprach, hielt er sich kurz und stieg hinauf […] und wenn er für sich selbst Tefillah sprach, ließ ein Mensch ihn in einer Ecke zurück und fand ihn in einer anderen wegen der Kniefälle und Verneigungen, die er machte. (bBer 31a)‹«31

Hieran zeigt sich, dass Adret die Zulässigkeit einer Gebetsverlängerung von der Einstellung des Vorbeters abhängig macht. Zudem kann er für die unterschied29 Gemeint ist: nach der inneren Absicht. 30 Damit gibt Adret das 2. Kapitel von Taanit an. 31 Zaleznik u. a., She’elot u-Teshuvot ha-Rashba (wie Anm. 24), Teil 1, Nr. 215.

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lichen Prämissen, nämlich ein Verlängern durch Ehrfurcht und Freude auf der einen Seite und Eitelkeit auf der anderen Seite, Rechtstexte zitieren. Für die erste von Adret verwendete Aussage, dass ein Vorbeter eine angenehme Stimme haben müsse, um ein Verlängern aus Freude an der Stimme zu rechtfertigen, zitiert er eine Baraita aus bTaan 16a, die er mit der üblichen Einleitungsformel tanya für Baraitot einleitet. Anhand dieser kann Adret zeigen, dass jemand mit einer angenehmen Stimme bevorzugt wird und als Vorbeter fungieren soll. Die Einschränkung, dass der Vorbeter aber bescheiden agieren und nicht eitel erscheinen soll, wird nach Adrets Ausführung in Rechtstexten belegt. Zunächst zitiert Adret die Mischna mBer 5,1, die auch in bBer 30a zu finden ist, sowie eine Passage aus bSan 22a und eine Baraita, die ebenfalls in bBer 31a wiedergegeben wird. Diese Textstellen untermauern Adrets Forderung nach der Ehrfurcht und Bescheidenheit des Vorbeters. Auch hier verwendet Adret die für die unterschiedlichen Texttypen einleitenden Ausdrücke, nämlich tenan als Einleitung eines Mischnazitates,32 garsinan, um auf die spätere Textebene des Babylonischen Talmuds zu verweisen, und tanya zur Anzeige eines Baraita-Zitats. Um die Pflicht im besten Maße zu erfüllen, ist ein Erfreuen an der eigenen Stimme gestattet, solange man dabei ehrfürchtig handelt. Dies belegt Adret mit einem Bibelzitat, das mit dikhtiv, einer üblichen Zitierangabe für Bibelstellen,33 eingeleitet wird. Durch die Kombination der Worte ›Freude‹ und ›Zittern‹ – Letzteres als Ausdruck der Ehrfurcht – im Bibelzitat kann er belegen, dass in Rechtstexten das Verlängern aus Ehrfurcht erlaubt ist. Die Möglichkeit, dass der Vorbeter sein Gebet aus Eitelkeit ausschmücken könnte, lehnt Adret ab und belegt dies mit einem Bibelzitat, für dessen Angabe er ebenfalls auf eine dafür typische Formulierung zurückgreift: es heißt (ne’emar). Durch das Bibelzitat macht er deutlich, dass Gott diejenigen ›hasst‹, die ihre Stimme gegen ihn erheben. Dies deutet Adret nun im Hinblick auf ein Vorbeten aus Eitelkeit. Auch die abschließende Erweiterung der Antwort untermauert er mit einem Zitat aus der bereits zitierten Stelle: die Einschätzung, dass ein Ausdehnen des Gebets unangebracht erscheine, auch wenn es rein rechtlich erlaubt sei. Interessant ist, dass Adret an dieser Stelle zwar angibt, dass ein Gelehrter aus dem Talmud diese Meinung geäußert hat, er jedoch diese Stelle nicht eindeutig einleitet, sondern lediglich das Zitat des Gelehrten wiedergibt. Anhand des gesamten Responsums erkennt man, dass Adret seine Antwort als Rechtsableitung inszeniert, für die er die entsprechenden Einleitungsformeln verwendet. Allgemein findet sich in Adrets Responsa die Formulierung »von hier lernst du (mikan ’ata lomed)«, um die eigenen Ableitungen aus vorher zitierten Textstellen einzuleiten. Auch mit der Wortwahl von »es ist logisch (mistabra)« unterstreicht Adret den Ableitungscharakter seiner Antwort.

32 Vgl. zu der Verwendung der Einleitungsformen zu Baraitot und Mischnazitaten: Yitzḥak Frank, The Practical Talmud Dictionary, Jerusalem 1994, S. 262 f. 33 Vgl. ebd., S. 128.

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Zudem verwendet Adret Fragen, die den Argumentations- und Entscheidensprozess untermauern. So findet sich in seinen Responsa die Formulierung »woher haben wir (mena lan)«, um die in der Frage genannten Behauptungen anschließend mit Quellen zu belegen.34 Um seine Argumentation gekonnt zu vermitteln, wird ebenfalls die Form »Und wenn du schlussfolgerst (ve ’im timatse lomar)« angeführt. Diese Form wird dann genutzt, um einen hypothetisch entworfenen Einwand, der die vorherige Aussage bzw. Schlussfolgerung entkräften könnte, selbst als nicht überzeugend darzustellen. So wird im Res­ ponsum in Teil 1, Nr. 102 ein möglicher Einwand, dass man das Getreide von Getreidehaufen, auf die Regen gefallen ist, nicht verwenden darf, da Regen in die Haufen eindringen könnte, mit diesen Worten (»Und wenn du schlussfolgerst«) eingeleitet. Dieser hypothetische Einwand wird dahingehend widerlegt, dass sogar beim Eindringen von Regen dieser Vorgang nicht so gravierend sei, dass er einen Säuerungsprozess in Gang setzen könnte. Da der mögliche Säuerungsprozess, und das Verbot, Gesäuertes zu besitzen, den Wesenskern des Gebotes darstellen, wird der Einwand somit entkräftet.35

4. Negieren einer Entscheidungskomplexität Es werden ebenfalls Formulierungen gewählt, die Einfachheit zum Ausdruck bringen und eine Entscheidenskomplexität und letztendlich die Notwendigkeit der Entscheidung verneinen. So führt Salomon manche Responsa mit den Worten »eine einfache Sache ist es (davar pashut oder davar pashut hu’ ze)«36 oder »dies ist einfach«37 an. Alternativ nutzt Adret ebenfalls den Ausdruck »eine klare Sache ist es (davar barur)«. Mit diesen Formulierungen negiert er, dass Unsicherheiten im Entscheidensprozess bestehen könnten, und suggeriert eine wenig komplexe und daher eindeutig zu beantwortende Frage, die letztendlich keiner Entscheidung bedürfe. Diese Ausdrücke verwendet Adret zum einen in Responsa, in denen er anschließend keine Belege anführt, und vermittelt damit, die Sachlage sei so klar, dass man die Ausführungen nicht belegen müsse. Adret gebraucht sie zum anderen in Responsa, in denen er anschließend noch Belege dafür anführt, die suggerieren, die Antwort sei leicht in den rechtlichen Texten zu finden.

34 Zaleznik u. a., She’elot u-Teshuvot ha-Rashba (wie Anm. 24), Teil 2, Nr. 280, Teil 1, Nr. 24, Teil 1, Nr. 18 u. Teil 1, Nr. 553. 35 Weitere Responsabeispiele, in denen ein möglicher Einwand durch diese Formulierung eingeleitet wird, um ihn nachher zu entkräften, sind: ebd., Teil 1, Nr. 124, Teil 1, Nr. 149 u. Teil 1, Nr. 258. 36 Beispielhaft hierfür können folgende Responsa angeführt werden: ebd., Teil 1, Nr. 498, Teil 1, Nr. 861, Teil 1, Nr. 908, Teil 1, Nr. 954, Teil 1, Nr. 1164, Teil 2, Nr. 124 u. Teil 2, Nr. 392. 37 Beispielhaft hierfür ebd., Teil 1, Nr. 97, Teil 1, Nr. 514 u. Teil 3, Nr. 116.

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Untermauernd kann hierfür das Responsum in Teil 1, Nr. 29 dienen. Hier besteht für Adret im Gegensatz zur Auffassung des Anfragenden keine Entscheidungssituation. Während nämlich dem Anfragenden im Zusammenhang mit den Regeln zum Schächten nicht klar ist, wo die Verbindungsstelle der Sehnen bei Geflügel und beim Vieh zu finden ist, widerspricht Adret, dass hier eine Schwierigkeit vorherrscht. Ihm zufolge liegt »eine klare Sache«38 vor und er benennt sofort, wo die Verbindungsstelle der Sehnen zu finden ist. Auch im weiteren Verlauf des Responsums lässt Adret keine Unsicherheit in der Beantwortung der Frage erkennen. Denn nachdem Adret zunächst den Ort der Verbindungsstelle bestimmt, führt Adret weitere Belege für seine Äußerung an. Ob Adret diese Beweise selbst für die Beantwortung der Frage wirklich als notwendig erachtet, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Denn aufgrund der Anfrage, in der darum gebeten wird, die Angelegenheit in »einem großen Licht«39 zu erklären, ist es ebenso gut möglich, dass Adret nur auf den Wunsch des Anfragenden eingeht, ihm den Sachverhalt umfangreich zu erklären. Nach den Belegen für die von Adret zu Beginn schon sprachlich als eindeutige Sache festgelegte Frage, hält Adret dem Anfragenden noch einmal die geringe Komplexität vor: Am Ende weist er erneut darauf hin, dass die Sache »klar und einfach« ist und dabei »kein Zweifel« besteht. Zwar billigt er dem Anfragenden seine Unsicherheit zu und führt einen möglichen Grund für die Frage an und wieso diese Unsicherheit besteht  – nämlich aufgrund einer abweichenden Festlegung des Maimonides in seiner Mischne Torah. Doch zeigt Adret anschließend auf, dass diese mögliche Unsicherheit für ihn nicht vorhanden ist. Zum einen vermutet Adret eine Revidierung der Meinung durch Maimonides. Zum anderen kann er ansonsten aufgrund seiner Kenntnisse die andere Äußerung des Maimonides als falsch bezeichnen. Somit negiert Adret aufgrund seines Wissens diese Entscheidensschwierigkeit. Wegen seiner guten Kenntnisse kann Adret antworten, ohne dabei eine komplexe Situation zu erkennen. Die mögliche Schwierigkeit kann er aufgrund von einer von ihm erkannten falschen Lehrmeinung als nicht bestehend entkräften. Implizit zeigt er mit dieser Formulierung, dass nur jene, die nicht über so umfangreiche Kenntnisse verfügen, hier eine Entscheidensfrage erkennen können: zum einen, weil sie sich in der Bewertung der Sachlage nicht mit den entsprechenden Belegen auskennen, zum anderen aber auch, da sie eben aufgrund ihrer fehlenden Kenntnisse die Festlegungen anderer, früherer Gelehrter selbst nicht bewerten können.

38 Ebd., Teil 1, Nr. 29. 39 Ebd.

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5. Die Verwendung von pasak und hikhria in den Responsa des Salomon Adret Adret verwendet zwar auch die Formulierungen pasak und hikhria, wobei er die Formulierung von pasak häufiger gebraucht; dies geschieht aber nur, wenn er auf die Entscheidung anderer Gelehrter verweist. Die Verwendung kann dabei unterschiedliche Ursachen haben, wie nun aufgezeigt werden soll. In einigen Fällen zitiert Adret Entscheidungen anderer Gelehrter, die er semantisch auch so rahmt, um sie für seine eigene Argumentationskette zu benutzen und sein eigenes Entscheiden in den Kontext früherer Gelehrtenmeinungen zu stellen. Zum Teil geschieht dies auch, um auf eine Komplexität und auf bereits bestehende, einander widersprechende Rechtsentscheide aufmerksam zu machen. So verwendet Adret im Responsum Teil 1, Nr. 342 das Wort pasak, um auf unterschiedliche Positionen früherer Gelehrter hinzuweisen. Hierbei zeigt er die Rechtsentscheidungen von Rav Levi und Rav Alfasi auf, inklusive der Einordnung dieser Meinungsverschiedenheit durch Nachmanides. Sowohl Rav Levi als auch Rav Alfasi werden in diesem Responsum als die Großen der Entscheider (Gedole ha-Posḳin) bezeichnet. Somit verwendet Adret auch für diejenigen, die in Rechtsfällen Entscheidungen treffen, den Begriff des Dezisors. Im Res­ ponsa-Band Neue Responsa aus Handschriften, Nr. 275 gebraucht Adret den Begriff von Entscheiden (pasak) nicht, um auf die Komplexität, sondern auf die Entscheidung früherer Gelehrter hinzuweisen, mit deren Hilfe er seine eigene Ausübungspraxis bestärkt. Adret zeigt nämlich auf, dass Rav Scherira und Rav Alfasi gemäß der Lehrmeinung entschieden hätten, der er selbst zustimmt.40 Adret unterstreicht, dass er mit dieser Rechtsauffassung nicht allein dasteht, sondern andere vor ihm bereits auf diese Weise entschieden haben. Adret betont aber ebenfalls, wie andere Gelehrte entschieden haben, um sich einer von einem früheren Gelehrten getroffenen Entscheidung anzuschließen oder zu dieser Meinung zu tendieren. So verweist er in Teil 1, Nr. 397 auf die Entscheidung des Abraham ben David von Posquières, um den Segensspruch festzulegen, den man über den Duft der Rosen spricht, da sich dieser bereits auf einen Segensspruch festgelegt hat. Zwar erklärt Adret selbst auch, wieso dieser ausgewählte Segensspruch der Richtige sei, aber durch das Betonen der Entscheidung des Abraham ben David von Posquières zeigt Adret auf, dass er nicht der Urheber dieser Entscheidung ist. Auch in Teil 4, Nr. 259 verwendet Adret das Verb pasak, wenn er auf die Entscheidung anderer Gelehrter zurückgreift, um auf einen anderen Rechtsgelehrten als ursprünglichen Entscheider zu verweisen. Denn hier führt er Alfasis Entscheidung an, die Adret auch dementsprechend tituliert. An dieser Stelle wird erkennbar, dass sich Adret in dieser Situation überhaupt nicht als ein Entscheider inszeniert, sondern statt40 Er schreibt hier: »Und wir stimmen dem zu«.

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dessen aufzeigt, dass man sich in der Praxis entsprechend der Entscheidung des Alfasi verhält. Der Begriff pasak ist in den Responsa des Adret ebenfalls dann vorzufinden, wenn er Entscheide früherer Gelehrter bewerten sowie über deren Richtigkeit befinden muss. In diesen Fällen verwendet bereits der Anfragende zuweilen die Formulierung pasak. Beispielhaft kann hierfür das Responsum in Teil 1, Nr. 431 genannt werden, in dem der Anfragende eine Entscheidung des Gelehrten Maimonides (12. Jahrhundert) anzweifelt und von Adret wissen möchte, ob diese so korrekt sei. In der Antwort bezeichnet Adret das Handeln des Maimonides ebenfalls als Entscheiden und gibt diesem Recht.41

6. Das Betonen eines Nicht-Entscheidens Beim Blick auf das Entscheiden sollte meines Erachtens ebenfalls untersucht werden, ob und auf welche Weise semantisch gefasst worden ist, wenn in einem Responsum nicht entschieden wird. Während in den Responsa des Adret oft die Kontingenz einer Entscheidung betont wird und man unterschiedliche Lehrmeinungen nebeneinander findet, gibt es dennoch wenige Stellen, in denen sprachlich ein Nicht-Entscheiden formuliert ist. Hierfür kann insbesondere das Responsum Teil 1, Nr. 329 angeführt werden. Denn in diesem Responsum weigert sich Adret, zwischen unterschiedlichen Rechtsauffassungen zu entscheiden und eine als die richtige festzulegen. Zunächst betont er auch in diesem Fall die Kontingenz der Entscheidung und stellt unterschiedliche Rechtsauffassungen vor. Nach dieser ausführlichen Vorstellung drückt Adret semantisch aus, dass er nicht entscheiden möchte. Hierbei verwendet er die Verneinung des Verbes hikhria. In dieser Formulierung klingt somit an, wie sehr sich die Situation noch in der Schwebe befindet und ungelöst bleibt. Denn wenn man sich vergegenwärtigt, dass hikhria die Bedeutung des Sinken-Machens in sich trägt, betont insbesondere die Verneinung dieses Wortes die Offenheit der Situation. Interessant ist, dass Adret sich hier sprachlich eindeutig einer Entscheidung entzieht, auch wenn er eine Seite überzeugender findet. In den meisten Fällen ist eher auf der analytischen Ebene zu erkennen, dass Salomon Adret eine Entscheidung vermeidet, ohne dies aber sprachlich genau zu fassen. In diesen Fällen belässt er es dabei, die Komplexität und Schwierigkeit einer Situation zu betonen. Zwar formuliert Adret im Responsum Teil 1, Nr. 80, dass er zögert, nennt darüber hinaus aber nur die Begründungen, ohne eindeutig ein Nicht-Entscheiden zu betonen. Im Rahmen der sprachlichen Fassung eines Nicht-Entscheidens birgt das Res­ ponsum Teil 1, Nr. 46 einen interessanten Aspekt. Während Adret sprachlich in seinem Entscheidensprozess zum Ausdruck bringt, dass er nicht zwischen 41 Weitere Responsa: Zaleznik u. a., She’elot u-Teshuvot ha-Rashba (wie Anm. 24), Teil 1, Nr. 388 u. Nr. 411.

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zwei Lehrmeinungen entscheiden möchte und hierfür die Formulierung lo’ lehacria verwendet, bezeichnet er seine später getroffene Entscheidung sprachlich nicht als solche. Da er nicht eine der beiden von ihm angeführten Lehrmeinungen als richtig deklarieren kann, besteht seine Entscheidung aus einem Kompromissvorschlag zwischen den beiden Lehrmeinungen. Adret entscheidet mit seiner finalen Festlegung, nur das auch wirklich zuzulassen, was beide Lehrmeinungen übereinstimmend als erlaubt ansehen.42 Bei dem von Adret hier dargestellten Entscheidensprozess wird die abschließende Festlegung zwar nicht sprachlich als eine Entscheidung gefasst, sehr wohl aber das Nicht-Entscheiden zwischen zwei unterschiedlichen Rechtsauffassungen betont.

7. Das (Selbst-)Verständnis von Adret als Entscheider Auch wenn Adret in seinen Responsa eher nicht die Begrifflichkeiten pasak und hikhria verwendet, um seinen eigenen Entscheidensprozess zu beschreiben, erkennt man in wenigen Responsa, dass er sich selbst als Posek, also als einen Entscheider in Rechtsfragen, versteht. Dabei wird erkennbar, dass Adret sich nicht nur in seiner Funktion des Respondenten als Entscheider sieht, sondern auch, wenn er in seinen Kodifikationswerken zu Entscheidungen gelangt. So verweist Adret beispielsweise in seinen Responsa auf sein früheres Entscheiden, um aus seinem Kodifikationswerk, der Torat ha-Bayit,43 zu zitieren. So geht er etwa in den Responsa Teil 1, Nr. 504 und Teil 1, Nr. 509 auf seine früheren Festlegungen ein. Während Adret im erstgenannten Responsum seine bereits erfolgte Entscheidung wiedergibt, setzt er im zweiten Responsum seine Entscheidung in Abgrenzung zu der des Maimonides. In Teil 1, Nr. 509 wird ersichtlich, dass Adret nicht direkt auf die Frage antwortet, sondern stattdessen zunächst seine bereits erfolgte Entscheidung zitiert. Mit dieser Antwort zeigt Adret, dass er sich selbst nicht mehr im Entscheidensprozess befindet, da er nur noch seine bereits geäußerte Entscheidung zitiert.44 Auch an der Reaktion späterer Gelehrter auf Adrets Responsa lässt sich erkennen, dass sie ihn als Entscheider verstehen und seine Entscheidungen mit den Worten pasaḳ und hikhria einleiten, häufiger aber mit pasak. Auch das Substantiv Psak wird von späteren Gelehrten erwähnt, um Adrets Antwort als Entscheidung zu benennen. Hierfür kann eine Reihe von Belegen angeführt 42 Beide Lehrmeinungen sehen ein Ei, das gekocht wurde und in dem sich Blut befindet, nicht per se als verboten oder erlaubt an, sondern differenzieren dabei, wo das Blut zu finden ist. Anstatt sich also für das laut einer Lehrmeinung Erlaubte zu entscheiden, wählt Adret nur das aus, was übergreifend laut der beiden Lehrmeinungen erlaubt ist. 43 Vgl. zu den entsprechenden Responsa die Fußnotenangaben in Zaleznik u. a., She’elot u-Teshuvot ha-Rashba (wie Anm. 24). 44 Auch wenn Adret an dieser Stelle keine Stellenangabe macht, in welchem seiner Werke er bereits so entschieden hat. In Zaleznik u. a., She’elot u-Teshuvot ha-Rashba (wie Anm. 24) wird der Verweis in den Fußnoten angegeben, aber nicht von Adret selbst vorgenommen.

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werden: Während im »Orchot Chayim Ḥ elek 1, Hilkhot Lulav« darauf verwiesen wird, dass Adret in einem Responsum45 derart entschieden hat, dass die ersten beiden Tage von Sukkot für den Lulav wie ein Tag anzusehen sind, schreibt Adret dies in seinem Responsum, ohne den Entscheidensvorgang sprachlich zu betonen. In »Yam shel Shlomo« wird eine der Ausführungen des Adret zur Reihenfolge des Vorlesens, wenn ein Gebildeter und ein Priester zugegen sind, erwähnt. Hierbei wird Adrets Formulierung, einen ungebildeten Priester nicht vor einem Gebildeten lesen zu lassen, als ›entscheiden‹ benannt. Adret verwendet dieses Wort hingegen nicht, sondern antwortet konkret, dass ein Gelehrter laut dem Gesetz Vorrang hat, wenn ein ungebildeter Priester anwesend ist. Aber letztendlich würde es etwas zu kurz greifen, nur nach der Verwendung von Entscheidenssemantiken – auch vielleicht rückwirkend durch spätere Gelehrte – zu beurteilen, ob etwas als Entscheiden verstanden wird. Denn einige Aspekte und Formulierungen, die man analytisch als Entscheiden versteht, werden in den Responsa nicht als solche sprachlich gefasst. Deswegen lohnt es sich auch, den analytischen Begriff weiter zu fassen. Denn sowohl in Adrets Responsa selbst als auch an der Reaktion auf Adret sieht man, dass bei der Zitierung der Rechtsentscheide früherer Gelehrte diese eben nicht mit dem Begriff des Entscheidens gefasst, sondern weniger präzise Worte im Sinne von Entscheiden verwendet werden. Dies wird im Responsum Teil 1, Nr. 189 erkennbar; hier nimmt Adret zur Beantwortung der Frage, ob man die Psuke de Simra nach dem Achtzehn-Bittengebet sagt, Bezug auf frühere Rechtsfestlegungen. Hierbei formuliert er aber nicht, dass die Gelehrten entschieden haben, sondern wählt das Verb ›schreiben‹. Inhaltlich ist an dieser Stelle aber keine Differenz zu den Fällen erkennbar, in denen sonst von ›entscheiden‹ gesprochen wird. Besonders deutlich wird dies auch anhand der Beispiele in Teil 5, Nr. 212 und Nr. 213. Hier zitiert Adret nur die Entscheidungen anderer Gelehrter, anstatt konkret selbst auf die Frage zu antworten. Im ersten Fall gibt er nur Saadja Gaons Worte wieder, dass man in den Sabbatnächten etwas essen müsse. Auch wenn Adret das Zitat nicht mit »so entschied«, sondern mit »so schrieb« einleitet, zitiert er hier eine passende, bereits getroffene Entscheidung Saadja Gaons. Es wird an dieser Stelle erkennbar, dass Adret die Festlegung des Saadja Gaon wiedergibt, um sich selbst nicht als Entscheider, sondern nur als Wiedergebender der Äußerungen anderer zu inszenieren. Ähnliches ist auch im Responsum Teil 5, Nr. 213 vorzufinden. Auch dort zitiert Adret nur andere Gelehrte, zu denen er sich sprachlich nicht offen positioniert. Ebenfalls wird die folgende Rechtsentscheidung des Adret sprachlich nicht als solche in einem späteren Kodifikationswerk angegeben: Adret legt nämlich in Teil 1, Nr. 81 fest, dass der Vorbeter nur das »Annenu« sprechen darf, wenn mindestens zehn Männer in der Synagoge sind, auch wenn vorher mindestens zehn Männer das Fasten vollzogen haben. Dies wird zwar von Josef Karo 45 Ebd., Teil 1, Nr. 23.

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(1488–1575) in seinem »Bet Josef« zitiert, doch leitet er die Rechtsentscheidung mit den Worten »Und so schrieb Raschba46 […]«47 ein.

8. Fazit In diesem Beitrag zu Semantiken des Entscheidens in den Responsa des Salomon Adret hat sich gezeigt, dass Adret sein eigenes Entscheiden in der Regel nicht mit den Begrifflichkeiten pasak und hikhria fasst. Oft antwortet Adret direkt auf eine gestellte Frage, aus der klar ersichtlich wird, dass es sich um eine Entscheidensfrage handelt. Adret ist damit nicht gezwungen, ein Entscheiden zu betonen. In vielen Fällen verwendet er Formulierungen, die seine Antwort als Ableitung von Rechtstexten darstellen. Damit macht Adret deutlich, dass seine Ausführungen auf jüdischen Rechtsvorstellungen basieren. Das bedeutet nicht, dass er die Ausdrücke von pasak und hikhria überhaupt nicht verwendet. Er greift auf diese Formulierungen dann zurück, wenn er auf frühere Rechtsentscheidungen – teilweise auch seine eigenen – verweisen möchte. Zudem bedeutet der Befund nicht, dass Adret oder spätere, ihn zitierende Gelehrte seine Antworten nicht als Entscheiden verstehen. Vielmehr zeigen die Zitate anderer Gelehrter oder auch seine eigenen Zitate früherer Entscheidungen, die mit »er hat entschieden« bzw. »ich habe entschieden« eingeleitet werden, dass er als Entscheider und somit auch seine Responsa als Entscheidungen wahrgenommen werden. Jedoch würde es zu kurz greifen, davon auszugehen, dass nur an den Stellen, an denen ein früheres Antworten mit pasak und hikhria beschrieben wird, dieses als Entscheidung verstanden wird. Vielmehr ist es möglich, dass unpräzisere Begriffe im Hinblick auf ›Entscheiden‹ verwendet werden. Abschließend ist es interessant, dass sich auch Beispiele dafür finden, in denen Salomon Adret ein Nicht-Entscheiden sprachlich fasst. Während er also in der Regel sein Entscheiden eher nicht sprachlich als solches darstellt, betont er an wenigen Stellen explizit ein Nicht-Entscheiden. Dies deutet darauf hin, dass Nicht-Entscheiden als etwas erscheint, das erklärungsbedürftig ist.

46 Dies ist das Akronym für Salomon Adret. 47 Bet Josef, Orach Chaiim, Nr. 566, zit. nach der Ausgabe: Bar-Ilan University. The Res­ ponsa Project Version 23 plus.

Matthias Pohlig

»Hierin vrteil du frumer Christ Welche leer die warhaffts ist« Semantiken und Narrative des religiösen Entscheidens in der Reformation

Die Reformation gilt als ein, wenn nicht als der Moment in der Geschichte des Christentums, in dem der Glaube entscheidbar wurde. Doch stimmt das? Und vor allem: Sahen die zeitgenössischen Akteure dies auch so? Fühlten sie sich auf einmal in religiösen Fragen entscheidungsbefugt oder zur Entscheidung gezwungen? Diesen Fragen möchte ich nachgehen, indem ich die Semantiken und Narrative des Entscheidens der reformationszeitlichen Akteure untersuche. Es geht also nicht um eine analytische Außenperspektive, sondern darum, die ›emische‹ semantische und konzeptionelle Perspektive der Zeitgenossen zu rekonstruieren.1 Die Frage ist also, ob und wie die Akteure selbst ihre Gegenwart als Entscheidungssituation benannten, konzipierten und modellierten.2 Die Antwort auf diese Frage wird die Vorstellung, in der Reformation sei es um die autonome religiöse Entscheidung von Individuen gegangen, deutlich verkomplizieren. Aus der emischen Perspektive wird nämlich, so kann als These formuliert werden, eine spezifische Kultur des reformatorischen Entscheidens deutlich, in der fundamental umstritten ist, ob und wie sich Menschen eigentlich im Bereich der Religion entscheiden können. Um dies zu analysieren, sollen begriffsgeschichtliche Überlegungen angestellt, aber auch Beobachtungen zu typischen Entscheidungsnarrativen formuliert werden. Zuerst soll die klassische makrohistorische Erzählung skizziert werden, der zufolge in der Reformation der Glaube entscheidbar wurde (1.). Kontrastiv dazu sollen die Grundzüge der Entscheidenssemantik in der frühen Reformation dargestellt werden (2.). Ergänzend wird dann der Blick auf Entscheidensnarrative gelenkt. Aus publizistischen Quellen, an denen exemplarisch prägende und weitverbreitete Deutungsmuster des Entscheidens ablesbar werden, sollen typische Entscheidensnarrative der Reformationszeit extrahiert werden: Dies sind einmal Dialogflugschriften (3.), zum anderen retrospektive 1 Klassisch: Clifford Geertz, »Aus der Perspektive des Eingeborenen«. Zum Problem des ethnologischen Verstehens, in: Ders. (Hg.), Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1987, S. 289–309. 2 Siehe zum Problemzusammenhang: Thomas Maissen, Pourquoi y a-t-il eu la Réformation? Le choix religieux comme une situation de crise, in: Francia 42 (2015), S. 94–110.

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Rechtfertigungsschriften, die eine spezifische Entscheidungssituation  – nämlich den Austritt aus dem Kloster – behandeln (4.). In einem abschließenden Teil komme ich kurz auf die Frage zurück, was die so skizzierte emische Perspektive generell über die reformatorische Kultur des Entscheidens aussagt (5.).

1. Reformation und religiöse Entscheidung In der Reformation, so eine gängige Sicht, wurde das Gottesverhältnis individualisiert, das Gewissen des Einzelnen aufgewertet und (ungewollt) eine Pluralisierung des Christentums herbeigeführt. Die ›Kirchenspaltung‹ – so negativ sie aus Sicht der Kirche(n) bewertet wurde und wird – ist untrennbar mit der neuzeitlichen religiösen Pluralisierungsdynamik und damit mit der Möglichkeit individueller Glaubensentscheidungen verbunden: Ja, sie ist eigentlich nur die andere Seite derselben Medaille. Das Christentum gilt generell als diejenige Bekenntnisreligion, die der religiösen Entscheidung des Individuums einen besonders hohen Stellenwert zumisst.3 Doch im Mittelalter dominierte in vielen Regionen Europas die christliche Religion relativ unangefochten, weshalb sich meist auch gar nicht die Notwendigkeit ergab, sich für das Christentum zu entscheiden – stattdessen wurde man in die Kirchenzugehörigkeit hineingeboren. Eine mögliche religiöse Entscheidung konnte sich dann nur noch auf Form und Intensität christlichen Glaubens und Lebens beziehen. Mit der Reformation entstanden dagegen unterschiedliche Konfessionen und damit eine neue Situation, die die Gläubigen vor die Notwendigkeit, aber auch die Möglichkeit stellte, sich für eine Ausprägung des christlichen Glaubens zu entscheiden. Diese makrohistorische Interpretation soll hier gar nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden – obwohl es leicht wäre, sie in mehreren Hinsichten zu kritisieren und zu revidieren: So ist sicher das Mittelalter nicht als christliche ›Einheitskultur‹ zu verstehen.4 Auch wurde nach der Reformation die Entscheidung über die Konfessionszugehörigkeit sehr schnell in der Hand der Obrigkeiten monopolisiert. Schließlich gibt es zahlreiche Hinweise darauf, dass sich viele Christen des konfessionellen Zeitalters dem ›Zwang zur Konfessionalisierung‹ und der eindeutigen Zuordnung zu einer und nur einer Konfession verweigerten.5 Man wird also vorsichtig abwägen müssen, ob und inwiefern die Reformation als Ausgangspunkt einer nicht zwangsläufig linearen, aber doch deutlich in die individualistische Moderne deutenden Konstellation verstanden werden kann. 3 Helmut Zander, »Europäische« Religionsgeschichte. Religiöse Zugehörigkeit durch Entscheidung – Konsequenzen im interkulturellen Vergleich, Berlin 2016. 4 John van Engen, The Christian Middle Ages as an Historiographical Problem, in: American Historical Review 91 (1986), S. 519–552. 5 Siehe beispielhaft: Andreas Pietsch / Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Konfessionelle Ambiguität. Uneindeutigkeit und Verstellung als religiöse Praxis in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2013.

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Doch liegt der Schwerpunkt, wie angedeutet, anderswo: Ich interessiere mich hier nicht primär für den Ort der Reformation in einer Individualisierungs­ geschichte des religiösen Entscheidens, sondern für die Perspektive der Akteure. Und doch wäre zu klären, was es eigentlich für die vorgestellte makrohistorische Interpretation bedeutet, wenn die Perspektive der Zeitgenossen sich als eine gänzlich davon unterschiedene erweisen sollte.

2. Grundzüge der Entscheidenssemantik in der frühen Reformation Eine kursorische Durchsicht reformationszeitlicher Quellen – vom Verhörprotokoll über die polemische Flugschrift zum theologischen Traktat – zeigt, dass die deutschen Ausdrücke ›Entscheiden‹ und ›Entscheidung‹ relativ selten auftauchen. In Titeln veröffentlichter Texte kommen die Ausdrücke im gesamten 16. Jahrhundert kaum vor.6 Auch wenn dies nur eine Tendenz bezeichnet, ist doch sicher der Ausdruck nicht sehr weit verbreitet, schon gar nicht, so scheint es, im religiösen Kontext. Sein lateinisches Pendant decisio oder decisiones ist dagegen, ausweislich der Formulierungen in Titeln von Druckschriften, sowohl im juristischen Sprachgebrauch als auch im Kontext akademisch-theologischer Urteilsfindung (etwa im Disputationswesen) gebräuchlicher. Im politischen Bereich ist dagegen der Ausdruck ›Entscheiden‹ eher geläufig und wird öfter synonym mit ›beschließen‹ verwendet. Dies gilt auch für religionspolitische Fragen – etwa wenn der Nürnberger Ratsschreiber Lazarus Spengler in einem Gutachten für die Reichsstädte auf dem Reichstag 1524 den Vorschlag macht, ein Expertengremium über die religiösen Wirren des Reichs beraten zu lassen. Spengler kann sich vorstellen, »dass etlich fromm, christlich, gelehrt und verstendig männer im reich oder der Christenheit, dero gueter glaub bei menniglich approbirt were, die auch diesser sachen des evangelions nit interesse hetten, auch mit feisten bistumben oder pfründen nit versehen und darum dem bapst nit anhängig weren, verordnet wurden, uber die hauptpuncten dieser sachen zu sitzen, die durch die göttlichen schrift zu beratschlagen und zu entschaiden«.

Allerdings misst er als Lutheranhänger dieser Möglichkeit kaum Erfolgschancen zu, genauso wenig wie einem Konzil: »Dann will ein concilium das beschliessen, das dem wort gottes gemess ist, wie sie auch und kein anders schuldig sind, 6 Eine Suche im Verzeichnis der im deutschen Sprachbereich erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (VD 16) unter https://opacplus.bib-bvb.de/TouchPoint_touchpoint/start. do?SearchProfile=Altbestand&SearchType=2 (Stand: 11. Juni 2017) ergibt folgendes Ergebnis: ›Entscheiden‹ ist vor 1535 nicht als Titelbegriff zu finden, und auch danach erscheint es im 16. Jahrhundert unter zehnmal; ›Entscheidung‹ wird viermal benutzt, allerdings weitgehend außerhalb religiöser Kontexte. Die Ausnahme ist: Johann Speiser, Ain Sermon Sontag Reminiscere: inhalten sonders freuels endtscheidung des glauben…, (Augsburg) 1523; hier spielt der Ausdruck im weiteren Text allerdings keine Rolle.

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so ist solcher müehe, costens und fürnemmens ohn not, weil das wort gottes vorhin clar und lauter […]«.7 Hier geht es um konkrete religionspolitische Beschlüsse größerer Reichweite, nicht um die individuelle Glaubensentscheidung. Wenn es um diese geht, wird in der Reformationszeit eher nicht von ›Entscheiden‹ gesprochen. Die Zeitgenossen der Reformation benutzen also relativ selten den Ausdruck ›Entscheiden‹ – vor allem dann nicht, wenn es um die individuelle Entscheidung für einen Glauben geht. Dieser diffuse Befund entspricht dem Eindruck von Willibald Steinmetz, der darauf hinweist, dass in der Vormoderne oft, wegen des Nebeneinanders von Latein und Volkssprache sowie des Fehlens lexikalischer Fixierung, »von einer dauernden Instabilität oder gar Unklarheit von Wortbedeutungen auszugehen« ist.8 Daher ist es naheliegend, nach Synonymen oder ähnlichen Termini zu suchen. Für die begriffsgeschichtliche Methodik bedeutet dies, onomasiologisch vom Phänomen des ›Entscheidens‹ auf den Begriff oder die Begriffe zu kommen, statt semasiologisch bei Einzelwörtern anzusetzen.9 Natürlich ist es erst einmal interessant, dass ›Entscheiden‹ und ›Entscheidung‹ keine prominenten Ausdrücke sind. Dies mag sprachhistorische Gründe haben: Das Grimm’sche Wörterbuch unterscheidet generell für die Frühe Neuzeit verschiedene Bedeutungen, die von ›absondern‹ über ›unterscheiden‹ bis hin zum juristischen ›Urteilen‹ und politischen ›Beschließen‹ reichen.10 Die terminologische Eindeutigkeit und gleichzeitig die Breite der Bezugsfelder, die den modernen Ausdruck ›entscheiden‹ charakterisieren, können also offenbar für das 16. Jahrhundert nicht vorausgesetzt werden. Doch das Problem liegt nicht nur auf einer semantischen Ebene. Auch in der Sache ist in der hier vorgestellten Konstellation unklar, was ›entscheiden‹ in religiösen Kontexten bedeutete. Was Entscheiden war bzw. wer eigentlich über was zu entscheiden befugt und in der Lage war: Eben dies war ungeklärt. Fast immer bleibt in der frühen Reformation schon sprachlich im Unklaren, welche Aspekte des Entscheidens in den Vordergrund gerückt werden: ein Urteil über den richtigen Glauben, eine Auswahl zwischen verschiedenen Glaubensoptionen oder eine Entscheidung über die Zugehörigkeit zu einem religiösen 7 Gutachten Spenglers über die dem Legaten zu erteilende Antwort und die Stellung der Städte und ihrer in den Ausschuss gewählten Vertreter in der Luthersache, 27. März 1524, in: Adolf Wrede (Hg.), Deutsche Reichstagsakten unter Kaiser Karl V. Jüngere Reihe, Bd. 4: Reichstag zu Nürnberg, Gotha 1905, S. 492 f.; die Kursivierungen stammen von M. P. 8 Willibald Steinmetz, Vierzig Jahre Begriffsgeschichte – The State of the Art, in: Heidrun Kämper / Ludwig M. Eichinger (Hg.), Sprache, Kognition, Kultur. Sprache zwischen mentaler Struktur und kultureller Prägung, Berlin 2008, S. 181. 9 Ebd., S. 194. 10 Deutsches Wörterbuch von Jacob Grimm und Wilhelm Grimm, online bereitgestellt durch das Kompetenzzentrum für elektronische Erschließungs- und Publikationsverfahren in den Geisteswissenschaften, Universität Trier, http://www.woerterbuchnetz.de/ DWB?lemma=entscheiden (Stand: 11. Juni 2017).

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Glauben.11 Alle drei, Wahrheitsurteil, Glaubenswahl und Zugehörigkeitsentscheidung, gingen auch sprachlich ineinander über. Das lag daran, dass es in den frühen Jahren der Reformation noch kaum klare Religionsparteien gab,12 die sich auch organisatorisch voneinander unterschieden, und dass unklar war, wer für eine Entscheidung über den Glauben eigentlich zuständig war. Erstens gab es eine mittelalterliche, zunehmend als altgläubig denunzierte Position, die der Kurie, einem Konzil und / oder den großen theologischen Fakultäten der lateinischen Christenheit die Urteilsfindung über die Wahrheit einer religiösen oder theologischen Position zuschrieb – etwa in Häresieprozessen oder bei Lehrentscheidungen. Zweitens wurde im theologischen Studium die Tradition der akademischen Disputationen gepflegt, die sich bereits im Spätmittelalter von einem eher spielerischen Ausagieren möglicher (oft fiktiver) Positionen zu einem Instrument theologischer Wahrheitsfindung entwickelt hatten. Auf der Ebene des Wahrheitsurteils war es vorreformatorisch also nicht der einzelne Gläubige, dem eine Entscheidung zugestanden wurde. Doch mit dem Zusammenbruch eines hierarchisch und akademisch ›determinativen‹ Modus der Entscheidungsfindung durch die Reformation eröffnete sich erstens ein Entscheidungsspielraum für den Einzelnen und wurde zweitens zunehmend mit ›diskursiven‹ Modi – also neuen Entscheidungsverfahren und -trägern – experimentiert.13 Hier konnten zum Beispiel politische Akteure wie Landesherren oder städtische Magistrate in ein Entscheidungsvakuum vordringen  – auch wenn diese oft den Theologen die Beurteilung religiöser Wahrheit überließen und sich darauf beschränkten, die Zugehörigkeit ihres Kollektivs (ihres Landes, ihrer Stadt) zu einem bestimmten Bekenntnis zu organisieren, also eine Zugehörigkeitsentscheidung zu vollziehen.14 Gerade in der Frühzeit der Reformation, als die kirchlichen Entscheidungsund Beurteilungsverfahren nicht mehr anerkannt wurden und neue (oft politische)  Wege der Bekenntnishomogenisierung noch nicht eingeführt waren, ergab sich aber, wie angedeutet, ein Zeitfenster größerer Glaubensindividuali11 Ausführlicher: Matthias Pohlig, Entscheiden dürfen, können, müssen. Die Reformation als Experimentierfeld religiösen Entscheidens, in: Ulrich Pfister u. a. (Hg.), Religion und Entscheiden. Historische und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Baden-Baden 2019, S. 201–225. 12 Vgl. an Augsburger Beispielen: Michele Zelinsky Hanson, Religious Identity in an Early Reformation Community. Augsburg, 1517 to 1555, Leiden 2009, sowie Franz Posset, Unser Martin. Martin Luther aus der Sicht katholischer Sympathisanten, Münster 2015. 13 Instruktiv: Volker Leppin, Disputation und Religionsgespräch. Diskursive Formen reformatorischer Wahrheitsfindung, in: Christoph Dartmann u. a. (Hg.), Ecclesia disputans. Die Konfliktpraxis vormoderner Synoden zwischen Religion und Politik, Berlin 2015, S. 231–252. Zur möglichen Rolle des Konzils in der reformatorischen Diskussion s. prägnant: Christopher Spehr, Das Konzil als Reformationsort? Martin Luthers Position zur Institution der allgemeinen Kirchenversammlung, in: Jahrbuch der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen 2010, Berlin 2011, S. 212–217. 14 Eike Wolgast, Politisches Kalkül und religiöse Entscheidung im Konfessionszeitalter, in: Luther 76 (2005), S. 66–79.

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sierung – das sich allerdings nach dem Bauernkrieg tendenziell wieder schloss.15 Bis 1525, so hat die Forschung oft herausgearbeitet, beteiligten sich größere und heterogenere Gruppen als zuvor und danach an theologischen Debatten (Handwerker, Bauern, Frauen…)16 – und diese Betonung des Priestertums aller Gläubigen hatte auch Konsequenzen für die Individualisierung der religiösen Entscheidung. Dies führte zu einer komplexen und latent widersprüchlichen Situation. Einerseits wurde also dem Einzelnen Entscheidungsverantwortung aufgebürdet – andererseits wurde gerade im theologischen Diskurs betont, dass sich der Einzelne gerade nicht entscheiden konnte. Luthers Wormser Berufung auf das Gewissen, aber auch die antiklerikale Idealisierung des Laien markieren die extreme Gegenposition zur päpstlichen Monopolisierung der Glaubensentscheidung.17 In diesem Zusammenhang verwendet etwa Luther nicht den Ausdruck ›entscheiden‹, sondern spricht, im Einklang mit der Terminologie der Lehrentscheidungen und Disputationen, von ›urteilen‹ – eine Formulierung, die in publizistischen Texten dieser Jahre ubiquitär wird und mit Sicherheit weiter verbreitet ist als der Ausdruck ›entscheiden‹.18 Die Verwendung in Druckschriftentiteln dieser Jahre weist in dieselbe Rich15 Man darf den Wendepunkt 1525 sicher nicht verallgemeinern; dennoch ist deutlich, dass sich die Situation in mancherlei Hinsicht – und wohl auch mit Blick auf die Frage der individuellen Entscheidung für oder gegen die Reformation – ab der Mitte der 1520er Jahre langsam veränderte. Siehe etwa: Olaf Mörke, Die Reformation. Voraussetzungen und Durchsetzung, München 22011, S. 93 f., sowie Peter Blickle, Die soziale Dialektik der reformatorischen Bewegung, in: Ders. u. a. (Hg.), Zwingli und Europa, Zürich 1985, S. 71–89. 16 Miriam Usher Chrisman, Lay Response to the Protestant Reformation in Germany, 1520–1528, in: Peter Newman Brooks (Hg.), Reformation Principle and Practice. Essays in Honour of Arthur Geoffrey Dickens, London 1980, S. 35–52; Silvia Serena Tschopp, Flugschriften als Leitmedien reformatorischer Öffentlichkeit, in: Helga Schnabel-Schüle (Hg.), Reformation. Historisch-kulturwissenschaftliches Handbuch, Stuttgart 2017, S. 311–330; zur theologischen Einordnung s. Thomas Kaufmann, Ekklesiologische Revolution. Das Priestertum der Glaubenden in der frühreformatorischen Publizistik. Wittenberger und Basler Beispiele, in: Ders. (Hg.), Der Anfang der Reformation. Studien zur Kontextualität der Theologie, Publizistik und Inszenierung Luthers und der reformatorischen Bewegung, Tübingen 2012, S. 506–549, sowie Andreas Zecherle, Die Verantwortung der Obrigkeit für die Kommunikation des Evangeliums aus der Sicht Luthers und seiner Anhänger. Aspekte der frühen Diskussion im Spannungsfeld von Immediatisierung und Remediatisierung, in: Johanna Haberer / Berndt Hamm (Hg.), Medialität, Unmittelbarkeit, Präsenz. Die Nähe des Heils im Verständnis der Reformation, Tübingen 2012, S. 339–358. 17 Helmar Junghans, Der Laie als Richter im Glaubensstreit der Reformationszeit, in: Luther­jahrbuch 39 (1972), S. 31–54. Damit wurde der Laie, aber zeitweise auch die Gemeinde der Laien zum Entscheidungsträger. Siehe Martin Luther, Daß eyn christliche Versamlung odder gemeyne recht und macht habe, alle lere zu urteylen und lerer zu beruffen… (1523), in: Weimarer Ausgabe 11, S. 401–416. 18 Siehe Leif Grane, Die Reform der Kirche in einigen Flugschriften des Jahres 1520, in: Bernd Moeller (Hg.), Die frühe Reformation in Deutschland als Umbruch, Gütersloh 1998, S. 187.

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tung: Zwar ist auch der Ausdruck ›urteilen‹ / ›determinare‹ (oder ›Urteil‹ / ›determinatio‹), der Sachlage gemäß, vielgestaltig und kann sowohl die individuelle Beurteilung einer Glaubenslehre als auch ein juristisch-theologisches Urteil etwa einer theologischen Fakultät meinen.19 Urteil und Beurteilung – Ausdrücke, die weniger zwingend eine harte Dichotomie suggerieren als ›entscheiden‹ – wurden also zunehmend auch als Aufgaben des einzelnen Christen verstanden. In einer Predigt Luthers von 1522 wird diese Begriffsverwendung besonders deutlich: Luther führt dort aus, dass die Laien seit tausend Jahren »nicht haben macht gehabt zu vrteylen«, weil sich Papst und Konzilien, meist nicht der Schrift gemäß, die Urteilskompetenz über den Glauben angemaßt haben.20 Diese Beurteilungen von kirchlicher Seite sind aber nun wiederum noch vom einzelnen Laien zu beurteilen: »nun hab ich noch ein vrteyl das ichs an nemen mag oder nit«21 – und zwar deshalb, weil jeder Christ in letzter Instanz als Einzelner von Gott beurteilt wird. Glaubensindividualisierung hieß also Individualisierung des religiösen Urteilens, oder, wie es in einem reformatorischen Flugblatt heißt: »Hierin vrteil du frumer Christ/ || Welche leer die warhaffts ist.«22 Die Reformation schuf also die Möglichkeit, verschärfte aber auch den Druck auf den Einzelnen, die Bibel selbst zu lesen und Rechenschaft über seinen Glauben abzulegen: »Lieber bruder es wirt dich nit helffen / das ein andrer vil kann du must selbs rechnung für dych geben«.23 Charakteristischerweise ist die Entscheidungssituation denn auch oft gefasst als Situation der Beurteilung zwischen Wahrheit und Irrtum, also als eine (auch) kognitive Leistung der Wahrheitserkenntnis.24 Eine verbreitete Flugschrift aus der frühen Reformationszeit, der Neu Karsthans von 1521, macht mit der Empfehlung, man solle den »irrtumb verlassen / und der warheit nachvolgen«, eine Dichotomie von wahr / falsch auf. Die Aufgabe, vor die sich der Gläubige gestellt sieht, ist damit die »ware erkäntnuß deiner heiligen ler«, was unter anderem durch die Lutherlektüre erreicht werden

19 Siehe exemplarisch: Eyn vrteyl der Theologen zu Pariß über die lere Doctor Luthers. Eyn gegen vrteyl Doctor Luthers. Schützrede Philippi Melanchthon wider dasselb Parisisch vrteyl fur D. Luther, Basel 1522. 20 Martin Luther, Ein sermon D. M. L. In welchem grüntlich wirt bezeugt, das ein ytzlichs Christen mensch, von got macht vnd gewalt hab, zu vrteylen alle menschen leren so vil sie die gewissen belangen, (Regensburg) 1522, in: Weimarer Ausgabe 10, S. 258. 21 Ebd., S. 259. 22 Vgl. das Flugblatt »Inhalt zweierley predig« (um 1529) von Georg Pencz mit einem Gedicht von Hans Sachs, greifbar etwa unter: http://www.zeno.org/Kunstwerke/B/Pencz,+Georg​ %3A+Zweierlei+Predigten (Stand 28. März 2018); s. auch Maissen, Réformation (wie Anm. 2). 23 (Sebastian Lotzer), Ain christlicher Sendbrief darinn angetzaigt wirt, daz die layen macht und recht haben von dem hailigen worts gots reden, lern, und schreiben…, Augsburg 1523, B j r. 24 Die Codierung der Entscheidung als Erkenntnis ist keine reformatorische Eigenheit, sondern entspricht einem bestimmten Modus religiösen Entscheidens auch im Katho­ lizismus; s. hierzu den Beitrag von Michael Seewald in diesem Band.

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könne.25 Generell ist die Vorstellung, dass es sich bei der Glaubensentscheidung um eine Erkenntnis handele, weit verbreitet: bei Anhängern Luthers und Zwinglis genau wie in der radikalen Reformation, wo aber das mystische Moment innerlicher Erkenntnis stärker hervortritt.26 Erkenntnis also  – nicht Entscheidung, und diese Erkenntnis wird typischerweise als Ausgang aus der Blindheit beschrieben.27 Auch wenn es semantisch nicht um Urteil oder um Erkenntnis geht, wird doch häufig deutlich gemacht, dass die ›Entscheidung‹ für den wahren Glauben Sache des einzelnen Christen ist: »Auch ßo ligt eym iglichen seyne eygen fahr dran, wie er glewbt, und muß fur sich selb sehen, das er recht glewbe«.28 Diese Beurteilungskompetenz und Entscheidungsnotwendigkeit, die dem Einzelnen übertragen wurde, hatte allerdings deutliche Grenzen. Wegen des Autoritätsverlustes der kirchlichen Hierarchie und ihrer Entscheidungskompetenz wurde nämlich jedenfalls zeitweise verstärkt auch auf einen anderen Strang der mittelalterlichen Semantik religiösen Entscheidens zurückgegriffen. Ganz im Einklang mit der antiken und mittelalterlichen Tradition verstand man die Zuwendung des Einzelnen zur Reformation (oder: seine Entscheidung für sie) als conversio, als Bekehrung. Ohne dass der Begriff immer fiel, wurde doch das Wort- und Bedeutungsfeld der Bekehrung wichtig für das, was man als individuelle Entscheidung pro oder contra Reformation verstehen könnte. So wie die conversio im Mittelalter zum Beispiel den Eintritt in ein Kloster implizieren konnte, so wurde sie in der Reformation zum Ausgangspunkt für eine individuelle Glaubensentscheidung etwa für die Reformation.29 Im Rahmen der gnadentheologischen Zuspitzung der reformatorischen Lehre wurde immer wieder deutlich gemacht, dass die Zuwendung des Einzelnen zu Gott kaum als 25 Gesprech biechlin neüw Karsthans, o. O. o. J. (Straßburg 1521), C ij r-v. Zur Verfasserfrage s.: Siegfried Bräuer, Bucer und der Neukarsthans, in: Christian Krüger / Marc Lienhard (Hg.), Martin Bucer and Sixteenth Century Europe. Actes du colloque de Strasbourg (28–31 août 1991), Bd. 1, Leiden 1993, S. 103–127. 26 Z. B. Ursula Jost / Melchior Hoffmann, Prophetische gesicht vnd Offenbarung der götlichen würckung zu diser letsten zeit…, o. O. 1530; zum Kontext s.: Hans-Jürgen Goertz, Träume, Offenbarungen und Visionen, in: Ders. (Hg.), Radikalität der Reformation. Aufsätze und Abhandlungen, Göttingen 2007, S. 164–187. 27 U. a. Durch betrachtung vnd Bekärung Der bößen gebreych in schweren sünden, Jst Gemacht Dyser Spyegel Der Blinden, o. O. 1522. 28 Martin Luther, Von weltlicher Obrigkeit (1523), in: Weimarer Ausgabe 11, S. 264. 29 Zum Kontext: Kai Bremer, Konversionalisierung statt Konfessionalisierung? Bekehrung, Bekenntnis und das Politische in der Frühen Neuzeit, in: Herbert Jaumann (Hg.), Diskurse der Gelehrtenkultur in der Frühen Neuzeit. Ein Handbuch, Berlin 2010, S. 369–408, s. auch: Marylin J. Harrran, The Concept of Conversio in the Early Exegetical Writings of Martin Luther, in: Archiv für Reformationsgeschichte 72 (1981), S. 13–33. Ob diese reformatorischen Bekehrungen als ›Konversionen‹ gelten können, wird kontrovers diskutiert; s. dazu: Ute Lotz-Heumann u. a., Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit. Systematische Fragestellungen, in: Dies. (Hg.), Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit, Gütersloh 2007, S. 11–32.

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Leistung des handelnden Menschen verstanden werden sollte: Die Zuwendung des Menschen zu Gott setzt nämlich umgekehrt die Entscheidung Gottes für den einzelnen Menschen voraus. Von reformatorischer Seite wurde argumentiert, dass die Entscheidung für Gott keine autonome Eigenleistung des Einzelnen ist, ja: dass das Individuum sich nicht für die Wahrheit entscheiden kann, sondern heteronom von der Gnade Gottes abhängt. Die frühreformatorische Konstellation ist also bestimmt durch das Paradox von Entscheidungsnotwendigkeit und Entscheidungsunfähigkeit.30 Allerdings wurde dieses Paradox, das Gottes Handeln und dasjenige des Menschen in eine Spannung zueinander setzt, meist nicht als Problem gesehen. Diese theologische Grundsatzausrichtung hielt die Publizistik und auch die Theologen nicht davon ab, den Einzelnen zu Entscheidung und Bekehrung aufzurufen. Und dennoch schlägt sich die Passivität des Menschen bei seiner Bekehrung eben auch semantisch nieder – in Begriffen, die einerseits als Synonyme für den Ausdruck ›entscheiden‹ gelten können, aber andererseits die für das Entscheiden charakteristische agency des Einzelnen eher herunterspielen. Nun scheint dies für eine Akteursperspektive auf das Entscheiden nicht ganz untypisch zu sein – Handeln und auch spezifischer Entscheiden wird von den Akteuren oft nicht im Modus der agency, sondern der patiency, des Erleidens und Geschehens, gefasst.31 Insofern ist es stimmig, wenn die Zeitgenossen die persönliche Zuwendung zu einem Glauben oft als Entscheidung Gottes und seiner Gnade beschreiben. Flugschriftenautoren benutzen Ausdrücke wie: Sie seien von »got […] erwekt«,32 gewandelt, erleuchtet, bekehrt worden, sie seien durch Christus »zu seinem evangelio berufft«,33 mit Gott vereint worden.34 Es gibt auch eher aktivische Termini, die aber ebenfalls passivische Anklänge besitzen: etwa, wenn man der »anweysung des gotlichen worts«35 folgen oder schlicht Gott nachfolgen will. Semantisch ergibt sich also eine komplexe Situation: Der Einzelne soll ›urteilen‹, aber er kann sich nicht selbst ›bekehren‹, sondern ist dafür auf die Entscheidung Gottes angewiesen.

30 Dies führt in das theologisch schwierige Problem der Willensfreiheit; vgl. u. a. Robert Kolb, Bound Choice, Election, and Wittenberg Theological Method from Martin Luther to the Formula of Concord, Grand Rapids, Michigan 2005. 31 Instruktiv: Burkhard Schnepel, Zur Dialektik von agency und patiency, in: Paragrana 18 (2009), S. 15–22. 32 Ambrosius Blarer, Warhafft Verantwortung Ambrosii Blaurer an aynen ersamen weysen Rat zu Costentz anzaygend warumb er auß dem Kloster gewichen…, o. O. 1523, B j r. 33 Brief Bucers an Otilia von Berckheim, ediert in: Bernd Moeller, Die Brautwerbung Martin Bucers für Wolfgang Capito. Zur Sozialgeschichte des evangelischen Pfarrerstandes, in: Ludger Grenzmann u. a. (Hg.), Philologie als Kulturwissenschaft. Studien zur Literatur und Geschichte des Mittelalters, Göttingen 1987, S. 323. 34 Vom alten vnd nüen Gott / Glauben / v nd Ler, o. O. (Basel) 1521, i iij v. 35 Blarer, Warhafft Verantwortung (wie Anm. 32), A ij r.

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3. Entscheiden in frühreformatorischen Dialogflugschriften Der Ausdruck ›entscheiden‹ ist also im frühen 16. Jahrhundert kaum gebräuchlich; auch die semantischen Varianten sind nicht besonders prominent, und sie zielen auf verschiedene Aspekte des Entscheidungshandelns ab, die nicht immer logisch miteinander vermittelbar sind. Die Kontexte, in denen der Entscheidensbegriff eine Rolle spielen kann, sind zudem sehr variabel. Eine Analyse des religiösen Entscheidens in der Reformation, will sie eine emische Perspektive einnehmen, kann sich demnach kaum auf die Semantik beschränken. Stattdessen muss für eine klarere Ausarbeitung einer Akteursperspektive der Blick mindestens auch auf die ›Narrative‹ des Entscheidens gelenkt werden, die den Zeitgenossen zur Verfügung standen. Dies könnte von einer Begriffsgeschichte zu einer Geschichte von Deutungsmustern oder Narrativen führen.36 Mit Narrativ ist hier ein Deutungsmuster gemeint, das »Elemente der Weltdeutung mit möglicher Handlungsanbindung« präsentiert und dabei vergangene Erfahrung mit einer Zukunftserwartung koppelt.37 Um aber ein Narrativ von einem schlichten Deutungsmuster zu unterscheiden, müssen noch weitere Elemente hinzutreten: Narrative besitzen einen Anfang und ein Ende und erzählen in sequentieller Form einen Konflikt, der dann in irgendeinem Sinne aufgelöst wird.38 Durch die Modellierung und Auflösung von Konflikten, aber auch durch die Herstellung asymmetrischer Gegenbegriffe können Narrative gruppenintegrierend wirken,39 denn Narrative teilen die Welt oft in ›wir‹ und ›die anderen‹ auf.40 Zudem, dies ist für die hier zu beschreibende Konstellation 36 Dies hieße, die Historische Semantik für die Untersuchung komplexerer sprachlicher Ausdrücke zu öffnen; die Begriffsgeschichte würde dann zur Subdisziplin einer so verstandenen Historischen Semantik. Vgl. Steinmetz, Begriffsgeschichte (wie Anm. 8), S. 183. Zum Diskussionsstand der Historischen Semantik s. auch: Franziska Rehlinghaus, Die Semantik des Schicksals. Zur Relevanz des Unverfügbaren zwischen Aufklärung und Erstem Weltkrieg, Göttingen 2015, v. a. S. 11–33. 37 Georg Bollenbeck, Bildung und Kultur. Glanz und Elend eines deutschen Deutungsmusters, Frankfurt a. M. 1996, S. 19. 38 Albrecht Koschorke, Wahrheit und Erfindung. Grundzüge einer Allgemeinen Erzähltheorie, Frankfurt a. M. 22012, S. 61, 236 u. 243 f.; Marie-Laure Ryan, Ritual Studies and Narratology. What Can They Do for Each Other, in: Vera Nünning u. a. (Hg.), Ritual and Narrative. Theoretical Explorations and Historical Case Studies, Bielefeld 2013, S. 36. 39 Daniel Fulda, Sinn und Erzählung  – Narrative Kohärenzansprüche der Kulturen, in: Friedrich Jaeger / Burkhard Liebsch (Hg.), Handbuch der Kulturwissenschaften. Grundlagen und Schlüsselbegriffe, Stuttgart 2004 Bd. 1, S. 251–265; Ansgar Nünning, Wie Erzählungen Kulturen erzeugen. Prämissen, Konzepte und Perspektiven für eine kulturwissenschaftliche Narratologie, in: Alexandra Strohmaier (Hg.), Kultur – Wissen – Narration. Perspektiven transdisziplinärer Erzählforschung für die Kulturwissenschaften, Bielefeld 2013, S. 15–53. 40 Koschorke, Wahrheit und Erfindung (wie Anm. 38), S. 96, mit Rückgriff auf: Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: Ders.

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einschlägig, schreiben Narrative den in ihnen handelnden Menschen in aller Regel eine begrenzte oder unbegrenzte Handlungsmacht zu: agency ist ein konstitutives Element des Narrativs.41 Welche Narrative sind für die frühe Reformation prägend? Dies sind zuallererst Überzeugungsnarrative – es ging darum, Menschen vom neuen Glauben zu überzeugen. Die frühe Reformation ist daher gekennzeichnet durch eine ungeheure Ausweitung distanzmedialer Schriftlichkeit und durch marktgestützte Propaganda großen Stils. Wenn auch die Überzeugungsarbeit für die Reformation im Rahmen einer reformatorischen Öffentlichkeit vor sich ging, die durch ein komplexes Zusammenspiel von Schriftlichkeit und Mündlichkeit und durch die Trias von Druck, Predigt und Ritual geprägt war, nahm doch die millionenfach verbreitete Flugschriftenliteratur einen besonders prominenten Platz ein.42 Unter den Textgattungen, die als Flugschriften kursierten und verkauft wurden, sind die Predigt, der Lehrtraktat und der ›Sendbrief‹, also ein offener Brief ohne konkreten Adressaten, weit verbreitet.43 Innerhalb dieses Rahmens konnte dann relativ frei geschrieben werden – etwa durch die Einfügung autobiographischen Materials, was für die Rechtfertigungsschriften aus dem Kloster entflohener Mönche oder Nonnen recht typisch ist (siehe unten, 4.). Doch auch dialogische Formen, die die Tradition der humanistischen Dialoge Erasmus’ oder Huttens aufnahmen, waren möglich. Deutschsprachige Dialogflugschriften der frühen Reformationszeit präsentierten in typisierender und literarisch stilisierter Form Situationen des Entscheidens. Vertreter unterschiedlicher Glaubensauffassungen oder spezifischer Meinungen zu speziellen Einzelthemen der religiösen Kontroverse trafen hier aufeinander und tauschten ihre Argumente aus; in der Regel setzte sich eine Position durch. Allerdings waren die Texte nie als neutrale Modellierung von religiösen Entscheidungssituationen gemeint, sondern immer als Argumentationshilfen zum Überzeugen und Entscheiden. Das heißt auch: Die religiösen Optionen, die in den Texten präsentiert werden, wurden nicht als gleichwertig angesehen. Für die Autoren war die Entscheidung, die der Text vorführte, immer schon vorentschieden. Das heißt: Die diskutierten religiösen Optionen standen von vornherein asymmetrisch zueinander. Diese Optionenasymmetrie gilt generell für das eher didaktisch gemeinte Genre der Dialogflug-

(Hg.), Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 31995, S. 211–259. 41 Koschorke, Wahrheit und Erfindung (wie Anm. 38), S. 79 f. 42 Siehe zusammenfassend: Andrew Pettegree, Reformation and the Culture of Persuasion, Cambridge 2005 sowie aus der umfangreichen Literatur zur reformatorischen Öffentlichkeit: Jan-Friedrich Missfelder, Mündlichkeit und Schriftlichkeit, in: Schnabel-Schüle, Reformation (wie Anm.16), S. 298–310 sowie Tschopp, Flugschriften als Leitmedien (wie Anm. 16), S. 311–330. 43 Kai Bremer, Religionsstreitigkeiten. Volkssprachliche Kontroversen zwischen altgläubigen und evangelischen Theologen im 16. Jahrhundert, Tübingen 2005, S. 30 f.

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schriften, auch außerhalb des religiösen Kontextes. Die Art und Weise, wie Entscheiden hier dargestellt wird, dürfte also zum Teil mit Gattungsspezifika zusammenhängen. Die Gattung der Reformationsdialogflugschriften wurde weit überwiegend von reformatorisch gesinnten Autoren genutzt; insofern ›gewann‹ in der Regel die reformatorische Position. Die Flugschriften, von denen es über 150 gibt, erschienen oft anonym,44 sie wurden verkauft und vorgelesen  – und spielten in einer Art von konzeptioneller Mündlichkeit typische oder als typisch vorgestellte Situationen der Kontroverse, des religiösen Urteilens, auch des religiösen Entscheidens durch. In ihnen ist »der Prozeß des Überzeugens und des Überzeugtwerdens eingefangen«.45 Die auf Überzeugung angelegte reformatorische Flugschriftenliteratur zielte somit auf eine theologisch informierte »begründete Entscheidung«46 derjenigen, die sie lasen oder hörten. Ein typischer Text dieser Art ist eine anonyme Dialogflugschrift, die 1521 in Augsburg erschien. Sie führt die Strategien, aber auch die Schwierigkeiten religiöser Entscheidung für ihre Leser und Zuhörer in fiktionalisierter und paradigmatischer Form vor. Gleichzeitig zeigt die Schrift, wie wichtig der Einbezug von Narrativen ist – denn die Ausdrücke ›entscheiden‹ und ›urteilen‹ kommen in dem Text überhaupt nicht vor, und doch präsentiert er eine Entscheidungskonstellation. Die Ausgangssituation ist die, dass der Wirt eines Gasthauses dem Freund Hans Schöpfer erzählt, man habe letzthin erfolglos versucht, den Gast Peter Schabenhut von der Richtigkeit von Luthers Lehre zu überzeugen. Dies sei trotz des argumentativen Rückgriffes auf die Bibel nicht gelungen. Deshalb bittet der Wirt Hans Schöpfer, der »am basten mit jm zu arguierren« verstehe, am Abend in das Wirtshaus zu kommen, um bei Rettich und Krebsen ein weiteres Mal zu versuchen, Peter zu überzeugen.47 Die nur halb scherzhafte Ankündigung, man wolle Peter »mit wein töffen / das er auch gutt Lutherisch werd«,48 quittiert der ebenfalls anwesende Peter humorlos mit dem Einwand, er sei seit fünfzig Jahren getauft, und bringt ein typisches, jede individuelle Entscheidungsemphase entwertendes Traditionsargument an: »Ich will mein alten glauben behaltten / 44 Thomas Kaufmann, Publizistische Mobilisierung. Anonyme Flugschriften der frühen Reformation, in: Ders., Anfang der Reformation (wie Anm. 16), S. 356–434. 45 Werner Lenk, Die Reformation im zeitgenössischen Dialog, Berlin 1968, S. 32. Siehe zu den Dialogflugschriften auch: Alejandro Zorzin, Einige Beobachtungen zu den zwischen 1518 und 1526 im deutschen Sprachbereich veröffentlichten Dialogflugschriften, in: Archiv für Reformationsgeschichte 88 (1997), S. 77–117 und Heribert Smolinsky, Dialog und kontroverstheologische Flugschriften in der Reformationszeit, in: Ders. (Hg.), Im Zeichen von Kirchenreform und Reformation. Gesammelte Studien zur Kirchen­ geschichte in Spätmittelalter und früher Neuzeit, Münster 2005, S. 223–237. 46 Thomas Hohenberger, Lutherische Rechtfertigungslehre in den reformatorischen Flugschriften der Jahre 1521–1522, Tübingen 1996, S. 224. 47 Ain gutter grober dyalogus Teütsch / zwyschen zwayen guten gesellen / mit namen Hans Schöpfer / Peter Schabenhut  / bayd von Basel…, o. O. o. J. (Augsburg 1521), A j v. 48 Ebd., A j v-A ij r.

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den ich von meinem vater und von meinen ölttern gelernet vnd ererbt hab / da bringt mich niemant ab.«49 Die Entscheidungsoptionen, die innerhalb der Diskussion aufgemacht werden, sind erstens Papst versus Luther,50 aber zweitens auch spezifischer Ablass versus gute Werke. Ohne sich auf eine Diskussion um die (eigentlich spezifisch lutherische) Position einzulassen, dass auch die guten Werke nicht hinreichend zur Seligkeit sind, wird also die kommerzielle Form der Heilserwerbung im Ablass gegen die ›reformatorische‹ Position gesetzt, dass die guten Werke des Einzelnen im Mittelpunkt stehen müssen. Die Seligkeit, so hier die evangelische Position, hänge »an meim thun vnd lassen / vnd an dem rainen glauben«.51 »[E]s bedarf groß fleyß zu vnser säligkeit / doch muß die arbayt dar zu von vnns kommen«.52 Die ebenfalls im Raum stehende Opposition traditioneller Glaube versus biblisch begründete Richtigkeit wird von Hans Schöpfer gegen Peter Schabenhut zugunsten der biblischen Lehre aufgelöst: »Darumb soll man kain gute leer verachten / die den gebotten gots gleichförmig seind«.53 Peters Hinweis auf die Gehorsamspflicht gegenüber dem Papst wird mit Bibelzitaten widerlegt.54 Daraufhin verfällt der Altgläubige Peter interessanterweise auf antiklerikale und antimonastische Argumente: Luther sei schließlich ein Mönch, und von Mönchen komme nie etwas Gutes. Doch auch in diesem Punkt erweist sich Hans als überlegen: Da Luther nicht sei wie die schlechten Mönche, sondern ein großer Gelehrter, »so redest du wider dein aigen argument«.55 Obwohl Peter also im Laufe des Disputs immer wieder als Narr und Esel beschimpft wird (und die Situation alle gegen einen nicht gerade sympathisch wirkt), wird also durchaus auf (auch) argumentatives Ausagieren der Kontroverse gesetzt.56 Die Entscheidung für Luther wird geradezu als rationale Ableitung codiert – wer sie nicht teile, leide an schwacher Vernunft. Daher möge sich Peter von Leuten überzeugen lassen, »die weyser seinnd dann du«.57 Die Situation führt bei Peter zu einer Reaktion der Totalabwehr: Er wünscht Luther den Tod, damit er in Ruhe gelassen werde (»ich wölt Ee daz der Luther an aim bom hieng / da geb ich yetz mein rock umb dar umb laß mich nun mit friden / vnd bleib bey deim Luther So bleib ich auffs Babst seytten«58). Zumindest wünscht er, er hätte von der reformatorischen Kontroverse nie gehört, dann hätte er ein ruhiges Leben führen können:

49 Ebd., A ij r. 50 Ebd., A j v. 51 Ebd., A ij v. Zum Ablass s. jüngst die zugespitzte Interpretation von: Berndt Hamm, Ablass und Reformation. Erstaunliche Kohärenzen, Tübingen 2016. 52 Ain gutter grober dyalogus Teütsch (wie Anm. 47), A iij r. 53 Ebd. 54 Ebd., A iij v. 55 Ebd. 56 Vgl. ebd., B j v. 57 Ebd., A iiij v, s. auch B ij r. 58 Ebd., B ij v.

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»es ist ain jrrig ding als ichs all mein tag erlebt hab / ich waiß minder wie ich mich halten soll dann wer jch ain kind / nun wolt ich im ye auch geren recht tuon wyßt jch wo ichs anfachen solt / jch welt gern / ich hett all mein tag vom Luther nie nicht hören sagen vnd von seiner büchern / so wer mir nit so schwär in meinem gedancken.«59

Hans weist ihm schließlich den Weg: Ohne Luther noch zu erwähnen, sondern ganz auf die Frage »Ablass oder nicht?« fokussierend, rät er Peter, ehrlich zu bereuen und zu beichten, was Peter dann auch tut. »[D]er glaub vnd das groß vertrawen in got / ist dein original / vnd rechter aplaßbrieff«60 – unter diesem Zeichen gewinnen die Diskutanten Peter schließlich für ihre Sache. Mindestens fünferlei wird klar aus diesem fiktionalen Text von 1521, der typisch ist für die narrative Formung frühreformatorischen Entscheidens: Erstens sind die Entscheidungsoptionen nicht eigentlich altgläubig versus evangelisch, sondern verschiedene Dichotomien überlagern sich. Die Ablehnung des Ablasses und die (diffus bleibende) Entscheidung für Luther stehen im Mittelpunkt. Zweitens kommen, wie gesagt, die Ausdrücke ›entscheiden‹ und ›urteilen‹ im Text nicht vor, und doch geht es um eine Entscheidungssituation, die – drittens – dem Einzelnen aufgebürdet wird. Peter soll sich entscheiden, sich bekennen. Viertens aber möchte er dies nicht – die autonome Glaubensentscheidung ist hier dezidiert etwas, das der Einzelne eher vermeidet. Fünftens aber, so die ganze Textkonstellation, kann und soll diese individuelle Entscheidung auf der Basis rationaler Argumentation, mit dem Rekurs auf die autoritative Entscheidungsressource Heilige Schrift, getroffen werden.

4. Klosteraustritte und ihre Rechtfertigung Etwas anders stellt sich das religiöse Entscheiden in einer anderen Textgattung dar: In Rechtfertigungsschriften von Personen, die das Kloster verlassen und sich der Reformation anschließen, spielt das rationale Überzeugtwerden zwar auch eine Rolle. Aber ihm an die Seite gestellt wird das Argument, es sei Gott gewesen, der entschieden habe, und seine Gnade habe die Entscheidung für die Reformation bewirkt. Die autobiographische Stilisierung erfolgter proreformatorischer Entscheidungen konnte sich also unterschiedlicher Deutungen bedienen, die vom von Gott bewirkten lebensgeschichtlichen Bruch über die langsame, oft durch Luther­lektüre unterstützte, primär kognitive Wandlung bis zur Verschleierung einer Glaubensentscheidung reichen konnten.61 Die Vorstellung, man habe es in

59 Ebd., B iiij r. 60 Ebd., B iiij v. 61 Thomas Kaufmann, Personale Identitätskonstruktionen. ›Erfahrungsmuster‹ in der frühen Reformation, in: Ders., Anfang der Reformation (wie Anm. 16), S. 565–588.

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diesen ›autobiographischen‹ Texten mit einem authentischen Ich und seinen Erfahrungen zu tun (man also anders als im Fall der völlig fiktionalen Dialogflugschriften an dieses Ich und seine genuinen Entscheidungsmotive herankomme), ist allerdings mit einiger Skepsis zu beurteilen: Das Ich der Rechtfertigungsschriften ist in hohem Maße ein stilisiertes Ich, und die Texte sind – wie auch spätere Konversionsberichte  – eindeutig apologetischer oder kontroverstheologischer Natur, verfolgen also eine klare Wirkungsabsicht.62 Etwa zehn ehemalige Mönche und Nonnen veröffentlichten in den ersten Jahren der Reformation Druckschriften, in denen sie ihre erfolgte Entscheidung, das Kloster zu verlassen, rechtfertigten.63 De facto war der Klosteraustritt das Bekenntnis zur Reformation und wurde auch so verstanden. Argumentativ folgten die Texte meist Luthers »De votis monasticis« mit seinen scharfen theologischen Invektiven gegen das klösterliche Leben.64 Der spätere Konstanzer Reformator Ambrosius Blarer etwa führt in seiner Rechtfertigungsschrift gegenüber dem Konstanzer Rat von 1523 aus, dass er das Kloster nicht aus Karrieregründen oder Unchristlichkeit verlassen habe, sondern »auß grund vnd anweysung des götlichen worts«.65 Blarer, der eine Zeitlang Prior des Klosters Alpersbach gewesen war, berichtet, dass die erst einmal offene, später geheime Lutherlektüre ihm den Weg gebahnt habe. Der Entscheidungsprozess ist zunächst auch hier primär ein Erkenntnisprozess: Ihm sei, so Blarer, durch die Lektüre der Bibel und der Schriften Luthers »nach vnd nach der nebel vyl alts mißuerstands […] uon den augen gefallen […] was mich verursacht hab lutherischer leer günstig vnd anhengig zu sein«.66 Es geht also um einen kognitiven Erkenntnisprozess statt einer Entscheidung; dieser Erkenntnisprozess sei durch »diß mans [i. e. Luthers] schreyben vnd leeren meer gefürdert vn gewisen zuuerstand hailiger biblischer geschrift / dann vormals all anderer leerer.«67 Blarers Ziel, wes-

62 Kai Bremer, Conversus, confirma fratres tuos. Zum ›Ich‹ in Konversionsberichten in den ersten Jahrzehnten nach der Reformation, in: zeitenblicke 1 (2002), Nr. 2, http://www. zeitenblicke.de/2002/02/bremer/bremer.pdf (Stand: 29. Mai 2018); Kaspar von Greyerz, Erfahrung und Konstruktion. Selbstrepräsentation in autobiographischen Texten des 16. und 17. Jahrhunderts, in: Ders. (Hg.), Von Menschen, die glauben, schreiben und wissen. Ausgewählte Aufsätze, Göttingen 2013, S. 164–181; Ute Lotz-Heumann, Konversionserzählungen im frühneuzeitlichen Irland zwischen »kommunikativem Muster« und »Individualität«, in: Dies. u. a., Konversion und Konfession in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 29), S. 517–545. 63 Siehe das Quellenverzeichnis bei Antje Rüttgardt, Klosteraustritte in der frühen Reformationszeit. Studien zu Flugschriften der Jahre 1522 bis 1524, Gütersloh 2007, S. 333 f. 64 Ebd., sowie Johannes Schilling, »Konversionen« in der frühen Reformationszeit, in: Friedrich Niewöhner u. a. (Hg.), Konversionen im Mittelalter und in der Frühneuzeit, Hildesheim 1999, S. 43–57. 65 Blarer, Warhafft Verantwortung (wie Anm. 32), A ij r. Siehe zum Text: Rüttgardt, Klosteraustritte (wie Anm. 63), S. 103–210. 66 Blarer, Warhafft Verantwortung (wie Anm. 32), A iiij r. 67 Ebd., B j r.

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wegen er schließlich auch das Kloster verlassen musste, sei also die »erkantnüß der warhait« gewesen.68 Die Erkenntnis der Wahrheit durch den Gläubigen ist aber nur die eine Seite der Entscheidungsmedaille  – es ist nicht nur die (in diesem Fall kognitive) agency Blarers, die zu seinem Klosteraustritt geführt hat, sondern auch das Wirken des göttlichen Wortes und der Gnade Gottes. In dieser entscheidenden Hinsicht erweist sich das Ich und seine Entscheidung als heteronom: Gott habe Blarer, nachdem er sich eingehend mit der evangelischen Lehre befasst habe, »durch sie mein hertz zu ainem lebendigen glauben / vnnd starcken maurfesten vertrauwen in christum meinen hailand erwekt / hat mich verursacht vnd enzündt zuuernichtigung mein selbs […]«.69 Die Autonomie der individuellen Entscheidung tritt hier ganz zurück hinter die göttliche Lenkung, was Blarer auch zu der Einschätzung führt, dass die Durchsetzung des Evangeliums ohnehin nicht primär von menschlichen Entscheidungen abhänge, sondern Gottes Wille unterliege  – »dann wider göttlichen ratschlag kain menschlich gewalt oder weißheit fürgang haben vnd beston mag«.70 Die Heteronomie der individuellen Entscheidung, die hier zumindest auch deutlich wird, lässt sich in ähnlichen Rechtfertigungsschriften in vergleich­barer Weise finden. In einer der wenigen Schriften aus dem Kloster entwichener Nonnen,71 der Rechtfertigungsschrift Florentinas von Oberweimar, findet sich das Nebeneinander unterschiedlicher Elemente des Entscheidens ganz genauso: Auch hier ist es einerseits Gott, der durch seine Gnade dafür sorgt, dass Floren­ tina das Kloster verlässt; und andererseits ist es ihre Lektüre der Bibel und von Lutherschriften, die sie den Weg zum evangelischen Glauben finden lässt – oder, um es vorsichtiger zu formulieren: die sie von der Falschheit des Klosterlebens überzeugt. Florentina, die mit sechs Jahren in das Zisterzienserinnenkloster Helfta bei Eisleben geschickt wurde, hatte dort – ausweislich ihrer Schrift – ein Martyrium erlebt: Sie fühlte sich zunehmend ungeeignet für das Klosterleben, eine Rückkehr in die Welt wurde ihr aber nicht gestattet. So trat sie schließlich mit Luther in Kontakt, las dessen Schriften und versuchte, aus dem Kloster zu fliehen. Der gescheiterte Fluchtversuch führte zu harter Bestrafung, bevor dann im Jahr 1524 die Flucht doch gelang. In ihrer Schrift geht es Florentina unter anderem auch darum, sich gegen den Vorwurf des Diebstahls von Klostergut zu verteidigen.72 Auch sie argumentiert mit der Erkenntnis der Wahrheit, die ihr durch Luther zuteil geworden sei – auch hier also eher Erkenntnis als Wahl zwischen zwei Optionen.73 Gleichzeitig ist aber ihr Text, und stärker noch der voran68 69 70 71 72 73

Ebd., B iiij v. Ebd., B j r. Ebd., B ij r. Rüttgardt, Klosteraustritte (wie Anm. 63), S. 48 f. Ebd., S. 256–315. Florentina von Oberweimar, Eyn geschicht wie Got eyner Erbarn kloster Jungfrawen ausgeholffen hat. Mit eynem Sendebrieff M. Luthers an die Graffen zu Manßfelt, Wittenberg 1524, B j r.

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gestellte Widmungsbrief Luthers, von dem Argument durchzogen, dass die Befreiung Florentinas Ausdruck von Gottes Entscheidung und Gnadenhandeln sei – ja, dass man, so Luther, in Florentinas Befreiung »zeychen und wunder« Gottes zu sehen habe, dessen Funktion es sei, »zu bekrefftigen das Euangelion«.74 In diesen Rechtfertigungsschriften wird erstens deutlich, dass die Entscheidung des Einzelnen weniger als Wahl zwischen zwei unterschiedlichen Optionen, sondern stärker als Erkenntnis der Wahrheit und Ausgang aus dem Irrtum modelliert wird. Zweitens wird die Wahrheitserkenntnis mindestens komplementär ergänzt durch die Vorstellung, dass es eigentlich Gott sei, der entscheide und handle. Patiency statt agency ist also ein typisches Argumentationsmuster dieser Bekehrungsnarrative. Drittens ist deutlich, dass es hier in erster Linie (erst einmal) um den Austritt aus dem Kloster geht und nicht, jedenfalls nicht primär, um eine Entscheidung für oder gegen die Reformation, auch wenn dies in der Regel die Konsequenz ist. Damit ergibt sich eine Analogie zu den Dialogflugschriften: Auch diese beschäftigten sich oft mit der Entscheidung für oder gegen spezifische Praktiken, im Fall der oben diskutierten Flugschrift mit dem Ablass. Das Objekt des Entscheidens ist also, in Dialogflugschriften wie Rechtfertigungsschriften, viel konkreter als eine Glaubensentscheidung.

5. Fazit Wie lassen sich diese Beobachtungen zusammenführen? Was sagen sie aus über die frühreformatorische Kultur des religiösen Entscheidens? Das religiöse Entscheiden in der frühen Reformation erscheint aus einer emischen Perspektive, die hier aus Beobachtungen zu typischen Semantiken und Narrativen knapp rekonstruiert wurde, eher nicht als Individualisierungsgewinn. Der Einzelne muss sich entscheiden – aber er will sich nicht zwingend entscheiden, sondern sieht sich unter Entscheidungsdruck, ja -zwang. Dies hat zu tun mit dem Wegbrechen tradierter Eindeutigkeiten und legitimer kirchlicher Entscheidungs- und Beurteilungsinstanzen.75 Für die Zeitgenossen stellt sich der Glaubensstreit als ein Zwiespalt, eine »zwitrachtung« dar, die alte (und neue) Irrtümer und Wahrheiten hervorbringt, zu denen der Einzelne sich ins Verhältnis setzen muss.76 Die Entscheidung wird daher oft als Beurtei74 Ebd., A ij r-v; s. auch Rüttgardt, Klosteraustritte (wie Anm. 63), S. 274. Zu den Luther­ vorworten in Schriften weiblicher Autoren s. Charlotte Methuen, »And Your Daughters Shall Prophesy!« Luther, Reforming Women and the Construction of Authority, in: Archiv für Reformationsgeschichte 104 (2013), S. 82–109. 75 Man könnte also mit Lübbe von »Entscheidungszwang aus Geltungsschwäche von Traditionen« sprechen; s. Hermann Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, in: Ernst-Wolfgang Böckenförde (Hg.), Collegium philosophicum. Festschrift für Joachim Ritter, Basel 1965, S. 118–140, hier S. 125. 76 Charakteristisch hierfür ist der Titel einer Dialogflugschrift von 1521: Dialogus von der zwitrachtung des hailigen Christenlichen glaubens / neülich entstanden / darinn der

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lung / Urteil oder als Erkenntnis der Wahrheit codiert. Gleichzeitig wird die Entscheidung oft nicht als Entscheidung über den Glauben als solchen, sondern als relativ spezifische Handlungsentscheidung (Ablass ja oder nein; im Kloster bleiben ja oder nein) modelliert. Das Sprechen über religiöses Entscheiden, so darf man schließen, ist gerade in der Frühzeit der Reformation oft nicht ausschließlich Sprechen über religiöses Entscheiden – sondern über spezifischere Praktiken. Die Entscheidung dreht sich jedenfalls auch um die Frage, was der Einzelne tun soll, nicht nur darum, was er glauben soll.77 Dabei wird vor allem auf zwei Wege des Entscheidens verwiesen: einerseits auf ein rationales Argumentieren, das sich vor allem auf die als autoritativ verstandene Bibel stützt. Andererseits aber wird in nicht unerheblichem Maße die Entscheidung für das Evangelium gar nicht als Handeln menschlicher Akteure, sondern als Zuwendung Gottes zu diesen konzeptualisiert. An die Stelle menschlicher Entscheidensautonomie tritt also in der Akteursperspektive mindestens auch die Vorstellung einer Heteronomie, die durch Gottes Gnadenhandeln ausgelöst wird. Es gibt also offenbar zwei Strategien, um die schwierige, oft existenzielle religiöse Entscheidung und die Verantwortlichkeiten, die diese mit sich bringt, gerade nicht offen als autonome Entscheidung zu modellieren: auf der einen Seite eine Externalisierungsleistung – also die Abwälzung einer existenziellen Entscheidung auf eine höhere Macht; auf der anderen Seite die Umcodierung des Entscheidens als Erkennen. Auch dies ist sicher ein typischer Weg, die Kontingenz einer Entscheidung zu verschleiern und sie als alternativlos darzustellen.78 Kaum eine der semantischen Varianten oder deutenden Narrative legt den Schluss nahe, dass die religiöse Entscheidung – etwa im Sinne des modernen Individualisierungsnarrativs  – primär oder ausschließlich als autonome Entscheidung des autonomen Subjekts verstanden wurde. Damit widersprechen die vorgestellten Befunde relativ klar der makrohistorischen Perspektive, die am Anfang skizziert wurde und die die Reformation als Moment der Glaubensindividualisierung begreift. Dieser Widerspruch ist vielleicht nicht überraschend: Die analytische Außenperspektive, noch dazu diejenige, die sich für langfristige Entwicklungen interessiert, darf sich natürlich nicht auf die Rekonstruktion der Akteurssicht beschränken, und sie wird nicht zwingend falsch dadurch, dass die Akteure ihr zu widersprechen scheinen. mensch vnderricht wirdt / wie er sich in denen vnd andern irrthumben halten sol, Augsburg 1521. 77 Während also die frühe Reformation sich auch dadurch auszeichnet, dass viele Entscheidungsakteure dazu aufgefordert sind, sich für oder gegen spezifische Handlungen zu entscheiden, verändert sich die Situation nach 1530 zusehends dahin, dass wenige Entscheidungsakteure über viel unspezifischere Glaubenssysteme entscheiden. Die Tendenz geht also dahin, die zu entscheidende Frage von »Was kann ich tun?« zu »Was soll ich glauben?« zu verallgemeinern. 78 Vgl. die Bemerkungen bei Cornelia Vismann / Thomas Weitin, Einleitung, in: Dies. (Hg.), Urteilen / Entscheiden, München 2006, S. 7–16, hier S. 9 f.

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Und doch wird aus dieser Rekonstruktion deutlich, dass die Vorstellung, die Reformation habe individuelles religiöses Entscheiden hervorgebracht, in mancher Hinsicht zu kurz greift. Es ist, untersucht man Semantiken und Narrative des religiösen Entscheidens in der Reformation, zumindest nicht mehr so einfach wie zuvor, eine gerade Linie von der Reformation zur modernen individualisierten Religionsentscheidung zu ziehen. Dies heißt nicht, dass es gar keine Verbindungen zwischen beiden gäbe – aber es müsste klarer als bisher untersucht werden, wann und wie eigentlich die religiöse Semantik des Urteils und der Bekehrung eindeutiger zur Semantik des Entscheidens wurde. Insofern wird aus der Rekonstruktion der Akteursperspektive deutlich, wie schwierig es ist, diese mit einer langfristigen, makrohistorischen Interpretation in Einklang zu bringen.

Hannah Murphy

Decisions before Decision-Making Concepts, Categories and Technologies in Sixteenth-Century German Medical Texts

1. Intro In modern medical theory, decisions are classed as the outcome of patientphysician encounters, and decision-making as “the cognitive process resulting in the selection of  a belief or  a course of action among several alternative possibilities.”1 The ideal medical decision is impartial, objective and based on evidence. While disagreement exists about what kind of evidence should inform decisions, or what clinical conditions should produce evidence or implement it, advocates of all medical models agree that the decision-making process should be neutral.2 The neutral decision is not just  a standard, but is  a normative component of medicine itself. It should apply, no matter who decides, as the dense literature on patient decisions and ‘informed consent’ makes clear.3 The acknowledgement of practical barriers to achieving it (for example, racism, stereotyping or socio-economic factors), has provided grounds for expensive research and manifold policies.4 Indeed, to be value-neutral is itself a modern medical value, as the role of concepts such as autonomy in medical ethics makes clear.5

1 E. H. Ofstad et al., What is a Medical Decision? A Taxonomy Based on Physician Statements in Hospital Encounters: A Qualitative Study, in: British Medical Journal Open 6 (2016), doi: 10.1136/bmjopen-2015-010098 (consulted on 12 June 2019), pp. 1–10, here p. 1. 2 Carl Schneider, The Practice of Autonomy: Patients, Doctors and Medical Decisions, Oxford 1998; Jozien Bensing, Bridging the Gap: The Separate Worlds of Evidence-Based Medicine and Patient-Centered Medicine, in: Patient Education and Counselling 39 (2000), pp. 17–25; David Sackett, Evidence Based Medicine: What it Is and What it Isn’t, in: British Medical Journal 312 (1996), p. 71; Tricia Greenhalgh, Evidence-Based Medicine: a Movement in Crisis?, in: British Journal of Medicine (2014), http://www.bmj.com/content/ bmj/348/bmj.g3725.full.pdf (consulted on 12 June 2019), pp. 1–7. 3 Oonagh Cavanagh et al. (ed.), The Limits of Consent: A Socio-Ethical Approach to Human Subject Research in Medicine, Oxford 2009. 4 B. D.  Smedley et al., Unequal Treatment: Confronting Racial and Ethnic Disparities in Health Care, Washington D. C. 2003. 5 Jukka Varelius, The Value of Autonomy in Medical Ethics, in: Medicine, Health Care, and Philosophy 9 (2006), doi: 10.1007/s11019-006-9000-z (consulted on 12 June 2019), pp. 377–388.

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This value-neutral standard for medical decision-making is, however, relatively new. As recent surveys summarize, one of the key processes in the creation of modern medicine was the shift of the evidentiary standards of replication and standardization from the experimental systems of ‘science’ into the clinical contexts of medicine.6 The idea that  a decision is the product of evidence, dictated solely by what evidence is gathered and arrived at within observable clinical conditions is characteristic of this shift. Sixteenth-century medicine was not value-neutral. Sixteenth-century physicians modeled themselves as ‘servants of nature’ and they considered charactertraits, such as honour, virtue, discernment and judgment to be central to their professional practice. The medicine they practiced was Galenic. Centered on the humoral system, in which every body maintained an individual balance of humors, early modern medicine was a theoretically ‘closed’ system. Rather than the ‘open’ consideration of symptoms, pathologically generated by disease, early modern physicians were primarily concerned with detecting the imbalance of humours which caused ill health.7 In  a system such as this, there was no conception of the open alternative possibilities from which modern physicians select “their belief or course of action”.8 Sixteenth-century medicine also had different evidentiary standards. The new medical genres of the period were more interested in the rare than the replicable.9 The authors of such works, and many practitioners besides, used correspondence to pass along questions and consult about decisions. In such a system evidence was often textual (and sometimes visual) rather than material. Ethics, morality and character-traits were important here too. Trust between collaborators took precedence over standardization and replication. In such a system, early modern physicians did not conceptualize decisions as  a discrete cognitive process, independent of the patient’s body, absent of the physician’s or patient’s values, and occurring as one of multiple alternatives. Rather, early printed texts described medicine as a process, with bodily and material bases for knowledge, which revolved around judgment, discernment, lived experience, and emotional outlets as well as inputs. For example, the bestselling “Spiegel der Arzney” described medicine in terms of Kunst (art / craft), but also Erlebnis (experience), Wirkungen (effects), Nutz (use), Trost (consolation), erkennen (to perceive), regieren (to govern / manage), bessern (to improve). Decisions, however, both in the sense of Entscheidung and Beschluss, were entirely absent. 6 Abigail Woods, Between Human and Veterinary Medicine: The History of Animals and Surgery, in: Thomas Schlich (ed.), The Palgrave Handbook of the History of Surgery, London 2018, pp. 115–132. 7 Volker Hess, Von der semiotischen zur diagnostischen Medizin. Die Entstehung der klinischen Methode zwischen 1750 und 1850, Husum 1993. 8 Ofstad et al., What is a Medical Decision? (see note 1), p. 1. 9 Lorraine Daston / Katharine Park, Wonders and the Orders of Nature 1150–1750, New York 1998.

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Nonetheless, early modern physicians made decisions daily in their medical practices, and, as we shall see in more detail below, their daily practices lead steadily towards an emerging conception of what medical decisions were. The early modern identity of the physician rested on the central activities of diagnosis, prognosis and treatment. And although none of these were conceived of in theoretical terms as decision-making, in practical terms the question was murkier. Decisions were increasingly central to the work physicians produced about these activities – to new medical practices and to new kinds of medical texts. And the utility of new texts was increasingly to be found in their ability to help paper over the gap between the theoretical process of medical ‘discernment’ and the practical application of ‘decision’. Searching for an early modern history of medical decision-making therefore requires asking how a set of medical practices was used and changed when language did not support them. This chapter examines the presence of the medical decision in sixteenth-century medicine. It first addresses the question of concepts and terminology, still the main way in which most changes are noted; and then turns to the Galenic system, before looking at the new printed texts of the early modern period, and the way in which they facilitated decisions, often through non-verbal means. I argue that the emerging presence of the medical decision was driven by practice and was only later apparent in print – mediated by and negotiated through increasingly personal management of paper techno­ logies. The emerging languages of medical decision-making, the metaphors which underpinned them, and the strategies which were used to communicate them, came primarily from the new genres of surgery, anatomy and botany, developed out of artisanal practices, but common to and informing prevailing attitudes among learned physicians just at their profession crystallized. Such a brief essay cannot hope to systematize the distinction between personal, collective and literary systems of decision-making, but it demonstrates a sixteenthcentury shift in the way such distinctions were managed.

2. Concepts, practices, and categories before words The possibilities and limits of concept history (Begriffsgeschichte) depend upon the relationship between concept and word. In 1998, writing about curiosity, Neil Kenny distinguished word history from conceptual history. Curiosity, he wrote (curiositas, Curiosität, curiosus, curiesement etc.), “shot to particular prominence from about the mid-seventeenth century to the mid-eighteenth century, when it temporarily became central to the construction of both desire and knowledge in various discourses.”10 Kenny’s claims rested upon a linguistic 10 Neil Kenny, Curiosity in Early Modern Europe Word Histories, Wiesbaden 1998; id., Interpreting Concepts after the Linguistic Turn: The Example of Curiosité in Le Bonheur des sages / Le Malheur de curieux by Du Souhait (1600), in: Michigan Romance Studies 15 (1995), pp 241–270.

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analysis of a corpus of texts. In addressing the relationship between concept, word and thing, his methodology adopted a complex set of linguistic tools, interrogating the semiotics of language, as well as the contextual meaning of words. “Language”, he wrote, “is constitutive of meaning and that meaning arises from the relations between signifiers rather than from any dualistic harnessing of signifiers to referents.”11 Following his lead, the study of word history has been fruitfully applied to a range of intellectual and cultural subjects, from the idioms of je-ne-sais-quoi to ingenuity and inventiveness.12 As a subject itself concerned with philology and semiotics, medicine might appear particularly suitable for such an approach.13 However, unlike curiosity, which had an overabundance of terms and practices, all of which were undergoing great change in the early modern period, the haziness (as Kenny termed it) around the concept of medical decision-making arises from a dearth of terminology.14 Within the history of medicine, any work on the importance of lexicon, vocabulary or concept must begin with Gianna Pomata’s ground-breaking work on genre, which married consideration of new textual genres such as collections of case-histories, with new epistemic practices, such as a focus on first-person observation and empirical evidence.15 These practices arose in tandem with genres, but only later crystallized in defined sets of terminology. Unlike the very great number of legal collections of decisions, from which Pomata thought the practice of recording case-histories originated, even seventeenth-century Consilia framed the process of medicine as an integrated philosophical process, not an evidence-based, value-neutral decision. The important 1545 bibliography by Conrad Gesner has no entry even tangentially associated with decisions.16 The vernacular terminology fares even worse. Pascal Lecoq’s 1590’s medical bibliography (the beginning point of the genre for Pomata) split medicine only into categories defined by Galen.17 Even by 1734, Zedler’s Universal Lexicon devoted  a mere three lines to ‘decisions’  – “Entschied, Recht und Entschied

11 Kenny, Curiosity in Early Modern Europe (see note 10), p. 26. 12 Richard Scholar, The Je-Ne-Sais-Quoi in Early Modern Europe: Encounters with a Certain Something, Oxford 2005; Alexander Marr et al., Logodaedalus: Word Histories of Ingenuity in Early Modern Europe, Pittsburgh 2019. 13 Herbert Jaumann, Iatrophilologia. Medicus philologus and analoge Konzepte in der frühen Neuzeit, in: R. Häfner (ed.), Philologie und Erkenntnis. Beiträge zu Begriff und Problem frühneuzeitlicher “Philologie”, Tübingen 2001, pp. 151–76. 14 R. J.  Evans / A lexander Marr (ed.), Curiosity and Wonder from the Renaissance to the Enlightenment, Aldershot 2006. 15 Gianna Pomata, Observation Rising: Birth of an Epistemic Genre, ca. 1500–1650, in: Lorraine Daston / Elizabeth Lunbeck (ed.), Histories of Scientific Observation, Chicago 2011, pp. 45–80; Gianna Pomata, Sharing Cases: the Observationes in Early Modern Medicine, in: Early Science and Medicine 15 (2010), pp. 193–236. 16 Conrad Gesner, Bibliotheca Universalis, Basel 1545. 17 Pascal Lecocq, Bibliotheca Medica, Siue Catalogvs Illorum, qui ex professo Artem Medicam in hunc vsque annum scriptis illustrarunt, Basel 1590.

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nehmen, jenes wird im Processu summario gebraucht, und heist so viel, als Bescheid, differirt vom Recht, so im ordinario statt hat.”18 In 1793, a footnote in a treatise on infant mortality and illness alluded to decisions in the context of medical dispute about the causes of infanticide / abortion.19 Pomata’s work not only demonstrates the complicated relationship between concept and category within early modern medicine, it also problematizes the relationship between evidence and decision. Throughout the entire period during which medicine is often thought to have turned to empirical, evidencebased, clinical practice, decision-making as a concept, in the sense that Kenny and others have described, remains entirely absent. As the editors of and contributors to this volume will doubtless demonstrate, there were many other terms that signify  a pre-modern process of decision-making.20 Nonetheless, at first pass,  a focus on the word-history of medical decision-making would suggest that semantically speaking Entscheidung is  a twentieth (even  a late twentieth) century preoccupation. The question therefore becomes: how do we get at decision-making without text to support it? The absence of  a defined terminology of decision-making is particularly interesting since the practice of making decisions effectively constituted more than one early modern medical profession. From 1588 in Ulm, the establishment of Collegia medica across the territories of the Empire institutionalized the making of certain decisions, most notably oversight with regard to medical jurisdictions.21 With that in mind, it is perhaps less surprising that the only sixteenth-century word appearing in medical treatises to invoke decision-making processes was ‘decretum’, as across the Holy Roman Empire, German cities, the most prolific political decision-makers tied medical decisions ever closer to civic policy. This constituted on the one hand a regulatory and governmental commentary on decision-making and the authority of the physician. But, as I have argued elsewhere, Collegia medica also reflected a reaction among medical professionals to new evidential, textual and epistemic regimes.22 Medical ordinances throughout the seventeenth century continued to structure the grounds and social conditions for arriving at medical decisions, and the interaction between patient and physician upon which they depended. In 1592, the earliest printed ordinance, for example, prohibited apothecaries from prescribing

18 Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Halle 1734, vol. 8, col. 1298. 19 Nils Rosen von Rosenstein, Anweisung zur Kenntnis und Kur der Kinderkrankheiten, aus dem Schwedischen übersetzt und mit Anmerkungen erläutert von J. Andreas Murray, Wien 1793, p. 54. 20 Serena Ferente et al. (ed.), Cultures of Voting in Pre-Modern Europe, London 2017. 21 Hannah Murphy, A New Order of Medicine. The Rise of Physicians in Reformation Nuremberg, Pittsburgh 2019; Alexa Grob / Hans Joachim Winckelmann, Das Collegium Medicum zu Ulm, in: Sudhoffs Archiv 98 (2014), pp. 109–123. 22 Murphy, A New Order (see note 21).

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remedies, and barber-surgeons from diagnosing disease, and made it mandatory for a patient to consult two physicians in their quest for a conclusion.23 This might suggest the possibility of substituting diagnosis for decisionmaking in the lexical field of medical literature. One of the difficulties in accessing decision-making practices, is that unlike political decisions, which were often managed through elaborately performed systems (such as lotteries or elections) or staged via ceremonial rituals (such as disputations or trials), early modern medical elites kept the processes of arriving at decisions purposefully private. Prefaces from texts praised physicians’ judgment or discernment, and categorized physicians’ learning as accrued wisdom – a skill gained from experience, rather than rationalized by epistemic or psychological thought-processes. Because of this, as we shall explore in greater detail below, for early moderns, diagnosis could not be understood through the prism of ‘decision-making’ since it could not be a choice between multiple options. In this sense, medicine gets to the heart of the tension inherent in ‘concept history’, which is that the blurriness of some conceptual categories often eludes purely discursive analysis. Gianna Pomata’s work shows that terminological and conceptual clarity could be preempted by changes in genre. Linguistic shifts in print could respond to changes in other disciplines, as for example the role of the legal category of decisiones in providing a precedent for medical writers of consilia. I add to this that changes in terminology and discourse can arise from the non-textual components of printed or manuscript works, from images, diagrams, textual tools and paratext. Negotiating between language and social context in the creation of concept is, of course, a central conceit in Begriffsgeschichte: in what follows, I hope to show that it was a central process in the textual creation of early modern medical concepts as well.

3. Galenic decision-making: an early modern schema In the early modern period, the conceptual framework within which Hippocratic and Galenic medical ideas functioned precluded ‘decision-making’ from appearing as a well-defined activity. Since the writings of Aristotle, Hippocrates (c.460–c.370 BCE) and Galen (c.129–c.199 CE),24 medical texts had more or less adhered to a broad theory of humoralism.25 In this system of medicine, bodies relied on the balance of the four ‘humours’– blood, phlegm, black bile and yellow bile. A person’s appearance and personality (her ‘complexion’) were largely 23 Gesetz, Ordnung und Tax. Von einem E. Raht der Statt Nürmberg dem Collegio Medico, den Apotheckern und andern angehörigen daselbsten gegeben, Nürnberg 1592. 24 The Hippocratic corpus comprises about seventy works written by the school around Hippocrates, rather than necessarily by one person. Partly as a result, the texts do not comprise one coherent system. 25 Vivian Nutton, Ancient Medicine, London ²2013.

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determined by the balance of these humours. Humours could vary according to climate, gender and age. In general terms men should be hot and dry, while women were considered moister and colder. The young were hot, the old cold and dry. Galen characterized four complexions in particular: sanguine, phlegmatic, choleric and melancholic. Early modern individuals were more discerning. The Cologne wine merchant and famous autobiographer Herman Weinsberg mused: “I think I am of a sanguine complexion, because I am warm and moist by nature. I liked being cheerful and jolly and no depression has stayed with me for long. In the course of time, I have changed a bit, and become melancholic, but not much so: cholerics and phlegm have never gained much with me.”26 Weinsberg’s description of himself spoke both to the idea that complexion was determined at birth, but also to the changing balance of humours with age, and the still more challenging fact that they could be maintained and disturbed by external factors. While complexion was dependent on humours and environment, the balance of humours themselves was determined largely by what were termed the six ‘non-naturals’: air, sleep, food and drink, exercise, excretion and the passions or emotions.27 As the humours, their effect on personality and bodily constitution, as well as the presence of emotions and passions among the non-naturals might suggest, body and mind were closely linked within Galenic medicine. More generally, health was conceptually linked to ideas of moderation, maintenance and management.28 Ill-health was thought to result from the imbalance of humours. Prevention of disease and the maintenance of health, were just as great a part of day-to-day healthcare as treatment of disease and the restoration of health.29 The physician’s mastery of Galenic medicine thus encompassed knowledge of the body and its processes, but also the philosophical competence to perceive from outward observation the misalignment of humours that caused a body illhealth. This competence was put to the test in diagnosis, which lay at the heart of the physician’s professional identity.30 The art of diagnosis depended upon 26 Judith Pollmann, Memory in Early Modern Europe, 1500–1800, Oxford 2017, p. 27 et seq. See also Robert Jütte, Krankheit und Gesundheit im Spiegel von Hermann Weinsbergs Aufzeichnungen, in: Manfred Groten (ed.), Hermann Weinsberg, 1518–1597. Kölner Bürger und Ratsherr. Studien zu Leben und Werk, Köln 2005, pp. 231–251. 27 L. J. Rather, The Six Things ‘Non-natural’: A Note on the Origins and Fate of a Doctrine and Phrase, in: Clio Medica 3 (1968), pp. 337–347. 28 Michael Stolberg, Verständnis und Erfahrung von “Gesundheit” in der medikalen Laienkultur des 17. Jahrhunderts, in: Klaus Bergdolt / Ingo F. Herrmann (ed.), Was ist Gesundheit? Antworten aus Jahrhunderten, Stuttgart 2011, pp. 111–120. 29 Sandra Cavallo / Tessa Storey, Healthy Living in Late Renaissance Italy, Oxford 2013. 30 Claudia Stein, The Meaning of Signs: Diagnosing the French Pox in Early Modern Augsburg, in: Bulletin of the History of Medicine 80 (2006), pp. 617–647; Roger French, Sign Conceptions in Medicine from the Renaissance to the Early 19th Century, in: Roland Posner et al. (ed.), Semiotik. Semiotics. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur. A Handbook on the Sign-Theoretic Foundations of Nature and Culture, New York 1998, vol. 2, pp. 1354–1362; Ian Maclean, Logic Signs and

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detecting the relationship between sign (symptom) and signified (disease). Since signs were usually on the outside of the body, but disease was usually on the inside, diagnosis was a process of perception, in which the physician’s own abilities counted for at least as great a part as the symptoms themselves. Rather than determining what the disease was, the Galenic physician was, at least in theory, looking for the cause of disease. A similar semiology was involved in the other two activities conceived within the physician’s sphere of medicine: prognosis and treatment. Prognosis depended on signs to forecast the outcome of disease, and underwrote the process of treatment and its perceived effectiveness.31 This conception of the physician as reader of ‘signs’ was widely accepted. Early modern illustrations frequently depicted the physician holding  a urine flask, wearing scholarly robes, and consulting colleagues.32 The physicians’ authority and expertise in the reading of signs gradually extended beyond medicine, becoming a cornerstone of a more general cultural authority; one reason why so many wonderbooks, almanacs and general prognostications were written by physicians.33 But, while reading signs produced a functionally similar outcome to a decision, as should be clear from this, early modern diagnosis and prognosis were geared towards a process of detection, rather than decision-making. Treatment also involved decisions, although not necessarily  a conceptualized process of decision-making. Galenic medicine considered three general approaches to treatment, although in the course of  a treatment more than one would be used. The first, and most basic, was similar to that used in the prevention of disease, and relied primarily on the non-naturals: the regulation of food, diet and exercise, sleep, emotions, air and the body’s excretions. The next step in treating a patient was pharmaceutical or surgical. Basic surgery involved blood-letting, purgatives and plasters and a range of minor procedures on the surface of the body. It was often carried out by experts versed in the applied medical arts: surgeons, apothecaries, bathers or midwives.34 Nature in the Renaissance: The Case of Learned Medicine, Cambridge 2001, pp. 282–284; Nancy Siraisi, Disease and Symptom as Problematic Concepts in Renaissance Medicine, in: Eckhardt Kessler / Ian Maclean (ed.), Res et Verba in the Renaissance, Wiesbaden 2002, pp. 217–240. 31 Luke Demaitre, The Art and Science of Prognostication in Early University Medicine, in: Bulletin of the History of Medicine 77 (2003), pp. 765–788; Nancy Siraisi, Medieval and Early Renaissance Medicine, Chicago 1990, p. 135; Richard Durling, A Chronological Census of Renaissance Editions and Translations of Galen, in: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 24 (1961), pp. 230–305. 32 Michael Stolberg, Die Harnschau. Eine Kultur-und Alltagsgeschichte, Köln 2009. 33 For example Hiob Fincel, Wunderzeichen. Gründtliche verzeichnis schrecklicher Wunderzeichen und Geschichten so innerhalb 40. Jaren sich begeben haben […], Frankfurt  a. M. 1566. 34 Annemarie Kinzelbach, Erudite and Honoured Artisans? Performers of Body Care and Surgery in Early Modern German Towns, in: Social History of Medicine 27 (2014), pp. 668–688; ead., Women and Healthcare in Early Modern German Towns, in: Renaissance Studies 28 (2014), pp. 619–638.

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The third approach was ‘medicine’ itself, i. e. the administration of pharmaceutical remedies. Remedies, ‘medicines’, were of two sorts: simple and complex. Simple remedies were basic herbal potions, some with as few as one ingredient, more frequently small recipes that involved mixing single ingredients.35 Complex remedies, on the other hand, were medicines produced via pharmaceutical preparations, such as distillation. Increasingly, these included non-botanical ingredients, such as minerals. Although Galen used simples and wrote about minor pharmaceutical procedures, Arabic medicine concentrated on pharmaceutical remedies and the art of distillation and medical pharmacy was transmitted to Europe through medieval, Latin translations of Arabic pharmaceutical texts. In general, medical interest in pharmacy grew in the sixteenth century. This was due in part to the importation of new ingredients from the Americas, and in part to the controversy surrounding Arabic texts more generally.36 Although diagnosis, prognosis and treatment – the three main components of professional physicians’ practice – all depended upon a semiotic process of identification, the humoral system of medicine was therefore philosophically ‘closed’. In the Galenic system, although medicine was on the one hand far more ‘individualised’ than modern medicine, it did not admit of multiple possibilities. The focus of diagnosis on causes conformed to what the philosopher of science Ian Hacking has described as internal, a process more concerned with inferring hidden causes from observed effects, than building a hypothesis from accruing evidence.37 Because every symptom or sign was produced from within the specific individual’s humoral balance, the chain of reasoning which lead an expert from origin to ailment had little room for consideration of alternatives, and thus little wiggle room for conceptual clarity on the subject of choice or alternatives. At the same time, for physicians, the expertise involved in surgery and pharmacy, bodies of knowledge, etc. were part and parcel of the expanding portfolio of the physician and fed into the general character of sixteenth century medical ambition. In practice they facilitated new avenues for treatment / experimentation / subjects of inquiry and – ultimately – decisions.

35 By the sixteenth century, simple remedies were part of the lay field of medical knowledge and belonged to  a domestic field of expertise. On the ramifications of their growing complexity on household (predominantly female) knowledge, see Birgit Zimmermann, Das Hausarzneibuch. Ein Beitrag zur Untersuchung laienmedizinischer Fachliteratur des 16. Jahrhunderts unter besonderer Berücksichtigung ihres humanmedizinisch-pharma­ zeutischen Inhalts, Marburg 1975; Andrew Wear, Knowledge and Practice in English Medicine, 1550–1680, Cambridge 2000, pp. 47–63. 36 Richard Palmer, Pharmacy in the Republic of Venice in the Sixteenth Century, in: Andrew Wear et al. (ed.), The Medical Renaissance of the Sixteenth Century, Cambridge 2009, pp. 100–117. See also the essays in Roy Porter / Mikulas Teich (ed.), Drugs and Narcotics in History, Cambridge 1995. 37 Ian Hacking, The Emergence of Probability: A Philosophical Study of Early Ideas about Probability, Induction and Statistical Inference, Cambridge 1975.

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To further clarify the distinction between pre-modern medical decisionmaking (in theory) and modern medical decision-making (also in theory), early modern decision-making was not meant to be impartial. Far from neutral evidentiary-based decision-making (as twenty-first century terminology would have it), early modern physicians were morally and intellectually discerning. Their own character informed their decisions, as they testified frequently and loudly. Moreover, evidence itself was not neutral. Causes of disease could be rooted in affections, produced in emotions, justified by immorality, and were often simply the result of bad life-style choices. Outcomes could similarly be guided, by prayer, by penitence, by resolve, by optimism. Decisions on  a collective basis were even more morally freighted. Controversies, such as ‘whether one could flee the deadly plague’, or the treatment and control of contagious diseases such as syphilis, drew in moral theologians and civic authorities alike.38 Medical decisions could have ethical and legal implications, as when physicians opined on cases of infanticide.39 In a similar vein, ethical and political decisions alike often focused on medicine, as when the Nuremberg council decided to restructure its famous provision for leprosy in the middle of the sixteenth century.40 Over the course of the century, medicine came to be regarded, increasingly, as part of a ruler’s responsibility. As Lutheran identities around the Hausvater and Hausmutter became more complex, court women used medical authority and expertise to maneuver themselves into powerful positions.41 This was one reason that court physicians played increasingly prominent roles. Their interventions in dynastic politics spoke to the increasingly vital role of the body and matters of health in developing ideas of absolutism.42 The omnipresence of medicine in political decision-making was brought home in the number and variety of bodily metaphors which tied health and well-being to the state, justice and its civic instruments. As many historians have shown, medicine thus fed into the concept-making process of modern state formation, including its abilities to make decisions in the domains of public and personal health.43 Physicians similarly profited, consolidating professional 38 Fritz Dross, Seuchenpolizei und ärztliche Expertise: Das Nürnberger ‘Sondersiechen­ almosen’ als Beispiel heilkundlichen Gutachtens, in: Carl Christian Wahrmann (ed.), Seuche und Mensch. Herausforderung in den Jahrhunderten, Berlin 2012, pp. 283–301; Ron Rittgers, Protestants and Plague: The Case of the 1562/63 Pest in Nuremberg, in: Franco Mormando / Thomas Worceser (ed.), Piety and Plague from Byzantium to Baroque, Missouri 2007, pp. 132–155. 39 Margaret Lewis, Infanticide and Abortion in Early Modern Germany, London 2016. 40 Luke Demaitre, Leprosy in Premodern Medicine: A Malady of the Whole Body, Baltimore 2007, pp. 45–52. 41 Alisha Rankin, Pharmacy for Princesses: Noblewomen as Healers in Early Modern ­Germany, Chicago 2013. 42 Jacob Soll, Healing the Body Politic: French Royal Doctors, History, and the Birth of a Nation 1560–1634, in: Renaissance Quarterly 55 (2002), pp. 1259–1286. 43 Michel Foucault, The Birth of the Clinic: An Archeology of Medical Perception. Translated by A. M. Sheridan, London 1973; Dorothy Porter, Health, Civilization and State. A

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expertise by virtue of their intervention into ‘crisis’ situations such as epidemics, crimes, canonization or even miracles.44 The ascendancy of learned, professional expert medicine through the making of particular decisions, coupled with the consolidation of Galenism  –  a philosophically inclined medical system with no conceptual room for decisions – might appear paradoxical. One explanation might be to think of it as a coincidence which parallels the gap between theory and practice that historians have long accepted as a central aspect of Galenic medicine.45 The ‘pliancy’ of Galen’s writings, as Mary Lindemann has described it, meant that classical theory could accommodate substantial changes in practice.46 The question remains as to how the gap between theory and practice was managed. Sixteenthcentury medical texts speak to the singular dilemma running through the concepts and categories in texts by professional German physicians: how to effectively limit the practice of decision-making to physicians, while increasingly expanding what that practice could achieve.

4. Textual practice The sixteenth century is  a particularly interesting time in the history of medicine, not only because the role of medical authority was developing but also because the received textual categories of Galenic medicine were undergoing great change. The renewed attention to the ancients, which began to consolidate in print with the publication of Galen’s works, created an important sense of novelty and urgency for learned medicine.47 In 1525, the Aldine edition of Hippocratic surgical texts began to appear, quickly followed by translations and commentaries from medieval Arabic authors and early modern humanists.48 This led to a new interest in surgery on the part of university-trained physicians, and greater competition over the new fields of anatomy, botany, pharmacy and more classical approaches to medicine.

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History of Public Health from Ancient to Modern Times, London 2005; Claudia Stein, The Birth of Biopower in Eighteenth-Century Germany, in: Medical History 55 (2011), pp. 331–337. Dross, Seuchenpolizei und ärztliche Expertise (see note 38); Samuel Cohn, Cul­tures of Plague: Medical Thinking at the End of the Renaissance, Oxford 2009; Silvia De Renzi, Medical Expertise, Bodies and the Law in Early Modern Courts, in: Isis 98 (2007), pp. 315–322; Bradford A. Bouley, Pious Postmortems: Anatomy, Sanctity, and the Catholic Church in Early Modern Europe, Philadelphia 2017. Wear, Knowledge and Practice in English Medicine (see note 35). Mary Lindemann, Medicine and Society in Early Modern Europe, Cambridge 1999, p. 68. Vivian Nutton, Hellenism Postponed: Some Aspects of Renaissance Medicine, 1­ 490–1530, in: Sudhoffs Archiv 81 (1997), pp. 158–170. Vivian Nutton, Humanist Surgery, in: Wear et al., Medical Renaissance (see note 36), pp. 75–99.

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In response, practicing surgeons emphasized their manual skill and craft experience as the basis for learning. Artisanal authors, such as Hieronymus Brunschwig, Hans von Gersdorff paved the way for  a huge number of surgeons, apothecaries, and lay-authored texts.49 Their emphasis on material and practical expertise provided a very different way of conceptualizing decisionmaking – not as an abstract philosophical process, but as a profoundly exigent and interpersonal practice. This current of conceptualizing medical practice ran through vernacular literature. It was visible in texts on remedies and disease, but also in the maintenance of health, on childbirth and child-rearing, and in the relationship between piety and good-health. The way in which humanist physicians engaged with such works was not straightforward. Such books found their way into library collections and medical bibliographies compiled by learned humanists including Joachim von Watt (Vadianus), Conrad Gesner, Georg Palma and others. Although physicians were educated within  a tradition that enjoyed great continuity with the medieval period, new genres of printed books were already beginning to appear that prioritized diseases, empirically based observation, and clinical diagnosis. Some built specifically on the centrality of hermeneutics to medicine, as for example the cluster of works that emerged from later sixteenth-century physicians in Wittenberg. In 1553, for example, Caspar Peucer linked physiognomy specifically to divination.50 In 1572, Jakob Horst, better known for his participation in the case of the Golden Tooth, wrote  a more comprehensive vernacular guide to the occult in nature: “Wunderbarliche Geheimnisse der Natur in des Menschen leibe und Seel”, in which he linked complex consideration of the Aristotelian categories of the natural to such prosaic medical concerns as the washing of feet.51 One of the most important changes that took place in the sixteenth century was the development of texts which focused on disease and its categories as ontological entities themselves. While traditional Galenic compendia of medicine followed the model of the body ‘from head to toe’, these new texts were organised around diseases and culminated in cures. In 1567, for example, the court physician Johann Weyer (Weier), better known for his critique on the excesses of witch-trials, published Medicarum observationum raranum liber unus, in which he described the signs, symptoms, progression and treatment for six diseases, including the first mention of scurvy. In Gianna Pomata’s scrupulously reconstructed bibliography of compendia of observations, Weyer’s very early example occupies prime position; but the text is not just suggestive of the kind of shared decision-making practices that would come to characterize the new ‘epistemic genre’ of observations; it also represented the thought-processes 49 Hieronymus Brunschwig, Das ist das Buch der Cirurgia, Strassburg 1497. 50 Caspar Peucer, Commentarius de praecipius divinationum generibus, Wittenberg 1553. 51 Jakob Horst, Leveni Lemnii Occulta naturae Miracula. Wunderbarliche Geheimnisse der Natur in des Menschen leibe und Seel, Leipzig 1572.

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and material practices prefiguring such highly structured textual epistemes. By identifying symptoms, the text was teaching its readers to make the most important decision in the early modern professional identity of the physician, diagnosis. Like “Spiegel der Arzney”, it broke down the theoretically separate spheres of diagnosis, prognosis and treatment and rendered them all into a more mechanical and structured process of linking sign and signified, symptom and disease. Following Weyer’s text meant reading the body’s signs and making a decision around them. Rather than pioneering a brand-new approach, Weyer was largely on trend. In 1572, the Italian physician Girolamo Mercuriale published the first dermatological text: Diseases of the Skin (De morbis cutaneis)52. Even more so than Weyer, Mercurialis’ text developed an ontological concept of disease, in which symptoms could be ‘read’ to produce  a diagnosis. But texts need not have abandoned the head to toe format in order to propagate disease-concepts and clinical diagnosis. As anatomy and botany developed, many medical texts listing diseases in the scholastic format, began to describe them in more systematic terms as linked to particular, set symptoms, and treated accordingly. The little known 1579 edition of Praxis Medicinae by the physician Walther Bruel was one such example. In 1581 the physician Georg am Wald published a successful pamphlet on the subject of panaceas.53 Devoid of illustration and only twentythree pages long, his work aimed to communicate the effectiveness of an entirely new remedy. By dint of its applicability to various conditions, ailments and diseases which were often treated quite separately in medical literature, it also transcended the supposedly closed act of diagnosis, suggesting that treatment and effectiveness dictated disease, rather than the other way around. Texts such as these describe the manner in which humanist physicians internalised Galenic teachings, but nonetheless employed  a wide variety of techniques including tactile practices, visual scrutiny and deductive processes of reasoning. These new textual forms of medicine not only allowed for differences between theory and practice, but provided tools for its management. They begin to hint at the far more heterogeneous decisions made in practice by authors, readers and practitioners of medicine more generally, both professionally and within the home.

52 Hieronymus Mercurialis, De morbis cutaneis et omnibus corporis humani excrementis tractatus locupletissimi […], Venice 1572. 53 Georg am Wald, Bericht und Erklärung […] wie und was gestalt das new von jm erfunden Terra Sigillata vnd universal Artzeney, wider die Pestilentz […] zu gebrauchen sey, St. Gallen 1581.

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5. Technologies of decision-making Sixteenth-century textual developments were not just about the content of medicine, or the language used to express it; they were also about form, about the visual composition of knowledge and the way in which print expressed, conveyed and facilitated changing thought process. Well known as  a period characterized by the explosion of print, the late-fifteenth and early sixteenth century witnessed a surge in the availability of paper, and the recourse of professionals across an array of specialties to new forms of recording, storing and using information on it. The tools developed to manage what historians have referred to as an ‘information overload’ include printed accompaniments to text, such as indices, illustrations, diagrams and charts, but also more personalized and ephemeral manuscript processes and materials such as note-taking and paper slips.54 In the early-adopting field of medicine, these could take the forms of notebooks, or case-books, or many more ephemeral sources such as receipts and prescriptions, recipes recorded by individuals or by physicians. These technological developments could be as significant as practical shifts (social context), or theoretical developments (ideas). The ‘paper technologies’ of medical practice, I would suggest, underwrote the other changing elements of medicine, from empirical examination, to the instruments of surgical exploration, the development of the microscope, new methods for the preservation of anatomical specimens.55 Perhaps the best-known example of this process is correspondence. Candice Delisle has shown how medical correspondence served to smooth out and streamline disputes between physicians, providing a technology for arbitration which hovered between processing claims to authority and facilitating modes of consensus. Informal correspondences, such as that between Gesner and Matthioli traced by Delisle, gave way in print to the reporting of observation.56 The connections between published and unpublished correspondence is an ongoing subject of investigation.57 Nonetheless, it is clear that while the process 54 Ann Blair, Too Much to Know: Managing Scholarly Information Before the Modern Age, Yale 2010. 55 Anke te Heesen, The Notebook: A Paper-Technology, in: Bruno Latour / Peter Weibel (ed.), Making Things Public, Cambridge, MA 2005, pp. 582–589. 56 Florike Egmond, Observing Nature. The Correspondence Network of Carolus Clusius (1526–1609), in: Dirk van Miert (ed.), Communicating Observations in Early Modern Letters (1500–1675): Epistolography and Epistemology in the Age of the Scientific Revolution, London 2013, pp. 43–72, Candice Delisle, Accessing Nature, Circulating Knowledge: Conrad Gessner’s Correspondence Networks and his Medical and Naturalist Practices, in: History of Universities 23 (2008), pp. 35–58. 57 Nancy Siraisi, Communities of Learned Experience: Epistolary Medicine in the Renaissance, Baltimore 2013; Hubert Steinke / Martin Stuber (ed.), Medical Correspondence in Early Modern Europe = Special Issue Gesnerus 61 (2004); Jole Agrimi / Chiara Crisciani, Les “Consilia” Médicaux, Turnhout 1994; Paula Findlen, The Formation of a Scientific

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of collective decision-making was becoming increasingly integral to the representation of physicians’ decisions, the mechanisms of individual decisions relied equally, although not systematically, on structuring thought in writing. This was particularly evident in the growing number of case-books by sixteenthcentury physicians. Much as the publication of physicians’ letters has suggested standard modes of communication, the publication of case-histories, such as the extensive collection by Pieter van Foreest has meant that individual physicians’ notebooks have been linked to the growth of observation and empirical practice in printed literature.58 But their form in practice was less conventional, less standardized and, importantly, far less narrative than their printed counterparts might suggest. As Lauren Kassell has shown, even by the seventeenth century the keeping of casebooks was not standardized.59 The non-standard means by which such information was kept is particularly insightful as an accompaniment to the otherwise conventional records of medical practice. Records for example from Georg Palma, who collected books and drove forward a conservative agenda for medical reform in Nuremberg, reveal the interpenetration of evidence derived from conversation, observation and reading in reaching diagnoses.60 The patterns of decision-making in Palma’s records suggest a lateral, non-narrative set of semantic processes. Surviving troves from physicians such as Georg Handsch and Hiob Fincel would appear to conform to this. More extensive than the records left by Palma, these casebooks have mostly been analyzed for the information they reveal about patients, municipal practice, and epidemiology; nonetheless, they suggest a similarly assimilative process of decision-making.61 Such technologies, as Hess and Mendelsohn have suggested, were tied to the production of new knowledge, as much as they supported the management

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Community: Natural History in Sixteenth Century Italy, in: Anthony Grafton / Nancy Siraisi (ed.), Natural Particulars: Nature and the Disciplines in the Renaissance, Cambridge, MA 2000, pp. 369–400; Tilmann Walter, Ärztliche Selbstdarstellung im Zeitalter der Fugger und Welser. Epistolarische Strategien und Repräsentationspraktiken bei Felix Platter (1536–1614), in: Angelika Westermann / Stefanie von Welser (ed.), Person und Milieu. Individualbewusstsein? Persönliches Profil und soziales Umfeld, Husum 2013, pp. 285–314. Michael Stolberg, Formen und Funktionen ärztlicher Fallbeobachtungen in der Frühen Neuzeit (1500–1800), in: Johannes Süßmann et al. (ed.), Fallstudien: Theorien  – Geschichte – Methode, Berlin 2007, pp. 81–95. Lauren Kassell, Casebooks in Early Modern England: Medicine, Astrology and Written Records, in: Bulletin of the History of Medicine 88 (2014), pp. 595–625. Hannah Murphy, Common Places and Private Spaces: Libraries, Record-Keeping and Orders of Information in Sixteenth-Century Medicine, in: Past & Present, Suppl. 230 (2016), pp. 253–268. Michael Stolberg, A Sixteenth-Century Physician and his Patients: the Practice Journal of Hiob Fincel, 1565–1589, in: Social History of Medicine 32 (2017), doi: https://doi. org/10.1093/shm/hkx063 (consulted on 12 June 2019), pp. 221–240.

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of existing information.62 The form they took was critical, as new forms of written prescriptions, clinical records and an emphasis on seriality increasingly characterized the turn, addressed at the outset of this essay, to conceptualize medicine as a value-neutral, evidentiary, clinical subject.63 The importance of technologies like this in suggesting the mechanisms of decision-making thus resides explicitly in the insight it provides to semantics before narrative. In order to do medicine new material methods and manual practices were needed. But in order to translate information into decisions, and thence into lasting knowledge, it was necessary to use the technologies of print and paper. While the narrative connection between technologies of paper and case-histories has been well drawn out, the non-narrative aspects of notebooks, case-books and other physicians’ records have not been as fully explored.

6. Conclusion: Towards a medical history of decision-making For a historian of early modern medicine, attempts to reach a definition of decisions experience the same problem that early modern physicians encountered on a daily basis, which was the problematic gap between theory and practice. Medical decision-making in the early modern period took place essentially under two rubrics, first, that of medical theory, natural philosophy etc. and second, that of practice. Over the period under consideration, the latter rubric changed dramatically, while the former did not. Ultimately, this suggests new ideas of signs in which changing practices and cultural understandings of medical processes such as diagnosis, prognosis and decisions on treatment were driven by external, non-medical (in the sense of Galenic) changes about the meaning of language, practice, experience and semiotics. That is, more specifically, in the field of the history of medicine, I argue that the history of decision-making is driven not by anatomical discoveries, à la the circulation of blood, nor by closer optical examination, à la the invention of the microscope, but by changes in practice. These included the impetus towards classification and typology, which stemmed from animal / natural history, and from craft practice; but also depended upon political shifts in the significance and social construction of medical authority. These were best displayed by the changing technologies of text and practice. 62 Michael Stolberg, Medizinische Loci communes. Formen und Funktionen einer ärztlichen Aufzeichnungspraxis im 16. und 17. Jahrhundert, in: NTM International Journal of History & Ethics of Natural Sciences Technology & Medicine 21 (2013), pp. 37–60. 63 Volker Hess / J. Andrew Mendelsohn, Paper Technology und Wissensgeschichte, in: NTM International Journal of History & Ethics of Natural Sciences Technology & Medicine 21 (2013), pp. 1–10; id., Fallgeschichte, Historia, Klassifikation: François Boissier de Sauvages bei der Schreibarbeit, in: NTM International Journal of History & Ethics of Natural Sciences Technology & Medicine 21 (2013), pp. 61–92.

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The growth of medical literature and the accumulation of information meant that decisions became more important to and more numerous within medicine. The way in which medical information multiplied and was used ties this study to patterns of development in political systems, processes and decisions in the semantic sense as well. It means that epistemological shifts or patterns in the communication of epistemology more generally were tied to information and its availability. They preceded disciplinary differences between bodies of know­ ledge, systems of belief and geographically-specific innovations in paradigms, inventions or beliefs. Regardless of who was making a medical decision, he or she probably had access to new technologies for managing that process in the early modern period. Overall this contributed to the articulation and clarification of the cultural concept of what a decision actually was.

Philip Hoffmann-Rehnitz

Von teuflischen Früchten und hellish designs Narrative des Entscheidens in der Kipper- und Wipperinflation und der South Sea Bubble

Die South Sea Bubble, die vor dreihundert Jahren England und vor allem London erschütterte, gilt zusammen mit den damit verbundenen Spekulationsblasen in Frankreich und den Niederlanden als erste internationale Finanzkrise und als früher Ausdruck wiederkehrender irrationaler ›Exuberanzen‹, die für den modernen Finanzkapitalismus als typisch angesehen werden.1 Während die South Sea Bubble eine bis heute andauernde Rezeptionsgeschichte besitzt und ihr ein fester Platz im kulturellen Gedächtnis der westlichen Moderne und in der Geschichte des modernen Kapitalismus zukommt, ist die sogenannte Kipper- und Wipperinflation, die sich rund hundert Jahre zuvor zu Beginn des Dreißigjährigen Krieges in Teilen Mitteleuropas ereignete, nur Experten ein Begriff. Auch wird diese – keineswegs zu Unrecht – als Epiphänomen eines noch weitgehend traditionellen, in vormodernen Strukturen verhafteten Wirtschaftsund Finanzwesens angesehen. Sowohl bei der Kipper- und Wipperinflation als auch der South Sea Bubble handelt es sich um Wirtschaftskrisen, deren jeweiliger Ursprung in Problemen des damaligen Finanzwesens (im weitesten Sinne) lagen.2 Ebenso stellten sie, wenn auch in einem unterschiedlichen Ausmaß, öffentliche Medienereignisse dar. Darüber hinaus weisen sie allerdings nur wenige Gemeinsamkeiten auf. Vielmehr unterscheiden sie sich grundlegend in ihrer räumlichen und sozialen Reichweite, in den jeweiligen Akteurs- und Kon1 Siehe dazu etwa Robert J.  Shiller, Irrational Exuberance, Oxford 22005. Shiller schreibt sich hier in eine lange Tradition ein, zu der u. a. die Untersuchungen von Charles Mackay aus dem 19. Jahrhundert zählen, der die South Sea Bubble als hervorragendes Beispiel einer ­popular delusion ansieht: Charles Mackay, Extraordinary Popular Delusions and the Madness of Crowds, New York 1932 (zuerst 1841 veröffentlicht). 2 Auf den für die Vormoderne durchaus problematischen Krisenbegriff kann hier nicht näher eingegangen werden. Vielmehr wird vorausgesetzt, dass es angesichts des Ausmaßes der ökonomischen Probleme und der sozialen Folgen, die mit den Spekulationsblasen von 1720 wie auch mit der Kipper- und Wipperinflation verbunden waren, gerechtfertigt ist, diese als Krisen bzw. als Wirtschafts- und Finanzkrisen zu bezeichnen; aber auch weil diese von den Zeitgenossen als Vorgänge wahrgenommen wurden, die sich in nicht vorherseh­ barer Weise ergeben und in kurzer Zeit vollzogen hatten und die eine fundamentale Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung darstellten. Zu Krise(n) in der Frühen Neuzeit vor allem in einer problem- und kulturgeschichtlichen Perspektive vgl. Rudolf Schlögl u. a. (Hg.), Die Krise in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2016.

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fliktkonstellationen und in ihren strukturellen – wirtschaftlichen, politischen sowie medialen und kulturellen – Rahmenbedingungen und Auswirkungen. Angesichts dieser Unterschiede ist der Anspruch, der mit diesem Beitrag verfolgt wird, begrenzt. Weder wird ein systematischer Vergleich zwischen der Kipper- und Wipperinflation und der South Sea Bubble angestrebt noch sollen diese in eine übergreifende Entwicklungsgeschichte etwa im Sinne einer Kulturgeschichte (früh-)neuzeitlicher Wirtschafts- und Finanzkrisen verortet werden. Vielmehr bilden sie den Gegenstand zweier Fallanalysen, die durchaus für sich stehen können. Verbunden sind diese allerdings durch gemeinsame Erkenntnisinteressen und Problemstellungen, die an die allgemeine Thematik und Ausrichtung dieses Bandes anschließen. Im Zentrum der Ausführungen steht die Frage, inwiefern innerhalb der jeweiligen öffentlichen Krisenkom­ munikation Entscheiden dargestellt und Entscheidensszenarien entworfen wurden und in welcher Weise Narrative dabei eine Rolle spielten.3 Dabei werden sich die Ausführungen in beiden Fällen auf die Ebene der (massen-)medialen öffentlichen Kommunikation und die damit verbundenen kulturellen Repräsentationsformen beschränken. Nicht behandelt wird die Ebene des politischen und wirtschaftlichen (Krisen-)Handelns selbst. In den beiden folgenden Abschnitten zur Kipper- und Wipperzeit (1.) und zur South Sea Bubble (2.) werden jeweils zunächst kurz die wirtschaftlichen und politischen Hintergründe und Entwicklungen skizziert, bevor anschließend ein Blick auf die jeweilige (öffentliche) Krisenkommunikation und speziell auf die darin verwendeten Narrative des Entscheidens geworfen wird. Dabei liegen für beide Fälle bedingt dadurch, dass es sich jeweils um öffentliche Medienereignisse handelte, eine große, im Fall der South Sea Bubble geradezu überbordende Menge an entsprechenden und leicht verfügbaren (gedruckten) Quellen vor, die sowohl textuelle als auch visuelle Kommunikationsformate abdecken bzw. die, wie im Fall von Flugblättern oder den popular prints, beides verbinden.4 Angesichts des großen Umfangs der zur Verfügung stehenden Quellen können die folgenden Untersuchungen auch nur exemplarisch verfahren.5

3 Bei den zentralen Begrifflichkeiten und Konzepten schließt der Beitrag vor allem im Fall von ›Entscheiden‹ und ›Narrativ‹ an die Ausführungen der Einleitung an. Diese werden hier demnach nicht noch einmal erläutert. 4 Zu den popular prints s. zuletzt Massimo Rospocher u. a. (Hg.), Crossing Borders, Crossing Cultures. Popular Print in Europe, 1450–1900, Berlin 2019. 5 So wird bei der Untersuchung der Wirtschafts- und Finanzkrise von 1720 das Augenmerk auf die South Sea Bubble und damit den englischen Fall gelegt, während auf die damit eng verbundenen Ereignisse auf dem Kontinent, vor allem in Frankreich und den Niederlanden, nicht weiter eingegangen werden kann.

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1. Narrative des Entscheidens in der Kipper- und Wipperinflation der frühen 1620er Jahre Zu Beginn der 1620er Jahre wurden der Süden und die Mitte des Heiligen Römi­schen Reichs von erheblichen wirtschaftlichen Problemen erfasst, die sich in den Jahren 1622/23 krisenhaft zuspitzten. Diese Entwicklung, die allgemein als Kipper- und Wipperzeit oder als Kipper- und Wipperinflation bezeichnet wird, äußerte sich darin, dass sich in kurzer Zeit die Preise insbesondere für Grundnahrungsmittel stark verteuerten und es in Verbindung damit zu erheblichen Problemen im wirtschaftlichen Leben und vor allem beim Handel und der Güterversorgung kam.6 Die Ursachen der Teuerung und der damit verbundenen Probleme lagen in den ›Confusionen‹, die das Münz- und Geldwesen im Reich zu dieser Zeit erfasst hatten. Dies wurde von den Zeitgenossen durchaus erkannt, allerdings waren die genauen Zusammenhänge und Hintergründe schwer zu verstehen und zu durchschauen. Ihren Ursprung hatte diese Entwicklung dabei darin, dass die Obrigkeiten mehrerer süd- und mitteldeutscher Länder, darunter die Habsburger, Anfang der 1620er Jahre die Münzprägeprivilegien gegen hohe Geldsummen an private Akteure übertrugen, um so vor allem die Kosten für die damaligen Kriegsvorhaben zu finanzieren. Für die sogenannten Münzherren eröffneten sich damit (neue) Möglichkeiten bzw. wurden diese erheblich ausgeweitet, große Gewinne dadurch zu erzielen, dass die kleinen und mittleren (Scheide-)Münzen, die für das Funktionieren des alltäglichen wirtschaftlichen Austausches von zentraler Bedeutung waren, durch eine Erhöhung des Kupfer- zulasten des Silberanteils umgemünzt wurden. Dadurch verloren diese nicht nur erheblich an Wert, sondern sie büßten auch immer mehr ihre Funktion als alltägliches Zahlungsmittel ein. Dies hatte gravierende Folgen für das wirtschaftliche Leben. Zudem ergaben sich daraus auch Anreize für spekulatives Verhalten, von den Zeitgenossen gemeinhin als Wucherei bezeichnet. Als auch die Obrigkeiten die negativen Auswirkungen immer mehr zu spüren bekamen, vor allem weil die Steuern und Abgaben zunehmend in schlechten Münzen bezahlt wurden und damit real zurückgingen, ergriffen sie im Jahr 1623 Maßnahmen, um zu einem einigermaßen geordneten Münzwesen zurückzukehren, und dies durchaus mit Erfolg. Teuerungen, Versorgungsschwierigkeiten, Münzmanipulationen und ›Wucherei‹ waren alles Phänomene, die zum damaligen Erfahrungs- und Erwartungshorizont gehörten und Teil der frühneuzeitlichen Normalität waren. Entsprechend breit und vielgestaltig war die Diskussion und Darstellung dieser Probleme und ›Plagen‹ in der Frühen Neuzeit. Dennoch erschienen den Zeit­ 6 Zur Kipper- und Wipperinflation, v. a. auch zu den wirtschaftlichen Entwicklungen und Auswirkungen sowie den politischen Hintergründen, vgl. u. a. Ulrich Rosseaux, Die Kipper und Wipper als publizistisches Ereignis 1620–1626. Eine Studie zu den Strukturen öffentlicher Kommunikation im Zeitalter des Dreißigjährigen Krieges, Berlin 2001, v. a. S. 63 ff.

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genossen die Teuerung der frühen 1620er Jahre und die damit verbundenen ›Confusionen‹ des Münzwesens als etwas Unerhörtes, das alles bislang Dagewesene nicht nur übertraf, sondern sich auch nicht mit den gängigen Erklärungs- und Deutungsmustern hinreichend fassen ließ. Als entsprechend gefährlich wurden die Geschehnisse und Entwicklungen von den Zeitgenossen wahrgenommen. Die verbreiteten Wucher- und Teuerungsdiskurse boten zwar Anknüpfungspunkte, es verblieb aber eine darüber  – zumindest zunächst  – nicht deut- und erklärbare Leerstelle. Der Versuch, diese zu füllen und damit den Geschehnissen einen Sinn zu geben, trug maßgeblich dazu bei, dass sich ein öffentlicher Diskurs über die damalige Teuerung und Münzverschlechterung entfaltete, dem eine für diese Zeit, gerade mit Blick auf die Diskussion von wirtschaftlichen Zusammenhängen, ungewöhnliche Dynamik zu eigen war. »Die Kipper- und Wipperinflation«, so Ulrich Rosseaux, »war in ihrer Zeit ein Medienereignis ersten Ranges«.7 Der offensichtlichste Ausdruck dieser diskursiven Sinnsuche ist in der Figur des Kippers und Wippers zu sehen. Es handelt sich dabei um einen Neologismus, der auf die Tätigkeit des Wiegens und Aussortierens von Münzen verwies, wie sie auch auf mehreren zeitgenössischen Flugblättern abgebildet ist.8 Der Kipper und Wipper schloss zwar an etablierte und verbreitete Figuren wie den (jüdischen) Wucherer und Münz- bzw. Geldwechsler an. Er wurde aber im zeitgenössischen Diskurs als etwas von diesen Unterschiedenes ausgewiesen, weil es sich nicht nur dem Namen, sondern auch dem Wesen nach um etwas Neues handelte.9 Der diskursive Erfolg dieser Figur bestand denn auch darin, das ›Unerhörte‹ der damaligen Situation in sinnfälliger Weise darzustellen und zu personifizieren sowie dieses zugleich in den damaligen Erfahrungs- und Er7 Ulrich Rosseaux, Inflation als Medienereignis. Die Kipper und Wipper und die Öffentlichkeit des 17. Jahrhunderts, in: Geldgeschichte (2009), S. 5–22, hier S. 6. Als die Obrigkeiten seit 1623 Maßnahmen ergriffen, um die Probleme in den Griff zu bekommen, und diese auch Wirkungen zeitigten, ging die öffentliche Aufmerksamkeit für die Kipper und Wipper rasch zurück und lief der Kipper- und Wipperdiskurs aus. 8 So etwa auf dem Flugblatt Epitaphium oder deß guten Geldes Grabschrifft, o. A., Augsburg 1621. Dieses ist zusammen mit vielen anderen Flugblättern aus dem Kontext der Kipperund Wipperinflation abgedruckt in John Roger Paas, The German Political Broadsheet 1600–1700, Bd. 3, Wiesbaden 1991, hier S. 449 (P–898). Weitere Flugblätter zur Kipper- und Wipperinflation finden sich in ders., The German Political Broadsheet 1600–1700, Bd. 4, Wiesbaden 1994. 9 Dies wird etwa in der verbreiteten Charakterisierung der Kipper und Wipper als der ›letzten Frucht‹ bzw. der ›jüngsten Erfindung‹ des Teufels deutlich, so etwa in den beiden 1621 erschienenen Flugschriften De Ultimo Diaboli foetu (s. dazu auch unten) und Wachtelgesang / Das ist: Wahrhafftige / gründliche und eigentliche Nahmen Abbildung / wie nemlich jetziger zeit das schändliche / heillose Gesindlein der guten Müntz Ausspäher unnd Verfälscher / welche der Teuffel als ein Meister alles Betrugs in diesen letzten Häfen der Welt außgebrütet hat / in dem WachtelSchlag oder Gesang so artig und deutlich mit ihrem rechten Namen genennet unnd Nahmhafft gemacht werden (…), o. A., Kipswald [sic!] 1621. Darin wird der neue Name (Kipper und Wipper) direkt mit der Neuartigkeit der durch diese gekennzeichneten Phänomene und Handlungsweisen verbunden.

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wartungshorizont einzuordnen, indem die Kipper und Wipper mit etablierten diskursiven Figuren und Formen der Sinngebung verbunden wurden. Hervorzuheben ist dabei der weitgehend unpolitische Charakter nicht nur der Figur des Kippers und Wippers sondern des gesamten Kipper- und Wipperdiskurses. In diesem spielte die Ebene des politischen bzw. obrigkeitlichen Handelns und insbesondere auch die Frage, ob obrigkeitliches Handeln oder auch bestimmte politische Entscheidungen (mit-)verantwortlich für die Entstehung und Ausbreitung der von den Kippern und Wippern getragenen und verkörperten ›Confusionen‹ waren, insgesamt eine geringe Rolle.10 Auch wurden, abgesehen von allgemeinen Appellen an die Obrigkeit, kaum Möglichkeiten entworfen, geschweige denn diskutiert, wie mit den entstandenen Problemen auf politischer Ebene umgegangen werden konnte und sollte. Vielmehr wurden in einer für die damalige Zeit charakteristischen Weise die Fragen, die die Kipper- und Wipperei betrafen, in der öffentlichen Kommunikation vornehmlich auf einer moralischen und religiösen Ebene verhandelt.11 10 In diesem Sinne zeichnet sich nach Justus Nipperdey der Kipper- und Wipperdiskurs durch das weitgehende Fehlen des »dezisionistische(n) Element(s)« und damit zusammenhängend auch mit der Erschließung eines Erwartungs- und Zukunftshorizonts aus, der durch vorausschauendes, proaktives (politisches) Handeln gestaltet werden kann. Dadurch unterscheide sich die damalige Wahrnehmung grundlegend von modernen Krisenvorstellungen: Justus Nipperdey, Von der Katastrophe zum Niedergang. Gewöhnung an die Inflation in der deutschen Münzpublizistik des 17. Jahrhunderts, in: Schlögl u. a., Krise (wie Anm. 2), S. 233–263, hier S. 245. Wie unten noch gezeigt wird, ist diese These insofern zu qualifizieren, als der Entwurf von Zukunfts- und Entscheidensszenarien im Kipper- und Wipperdiskurs durchaus eine Rolle spielte, wenn auch zumeist ohne Bezug auf die politische Ebene. Zudem gab es einige – wenn auch nur wenige – Autoren, die Kritik an den Obrigkeiten und ihrem Handeln übten, so der anonyme Verfasser der Flugschrift Expurgatio Oder Ehrenrettung der armen Kipper und Wipper / So mit grosser Leibes und Lebens Gefahr jetziger zeit ihre Nahrung mit dem Wechsel suchend (…), Fragfurt [sic!] 1622. Er richtete sich zwar vor allem gegen Andreas Lampius’ Flugschrift De Ultimo Diaboli foetu, auf die unten noch genauer eingegangen wird, übte aber in allgemeiner Weise Kritik an der vorherrschenden Tendenz, die alleinige Schuld den Kippern und Wippern zuzuschreiben. Insofern ist der Titel auch nicht satirisch gemeint. Die Kipper und Wipper wurden von dem Autor zwar nicht von aller Schuld freigesprochen, jedoch machte er als die eigentlichen Schuldigen die »Ertzkipper« aus, die das ganze System organisierten und die auch die ›Patrone‹ der Kipper und Wipper darstellten (wer damit genau gemeint ist, wird allerdings offen gelassen). Dadurch geraten in letzter Instanz die Fürsten und Obrigkeiten ins Visier, auch wenn diese aus Sicht des Autors nicht »das falsche Müntzwerck vor sich proprio motu angefangen oder vorgenommen« hätten, sondern dies sei durch »geringe Leute« erfolgt, die dieses auf Eingeben des Teufels erdacht und die »die Fürsten und Städte propositio commodo dahin persuadirt und im Namen deselben zu Werck gerichtet« hätten. 11 Dies hängt nicht zuletzt damit zusammen, dass ein großer Teil der Autoren der Kipperund Wipperflugschriften protestantische Theologen waren, die vornehmlich aus dem mittel- und süddeutschen Raum stammten: vgl. dazu Rosseaux, Kipper und Wipper als publizistisches Ereignis (wie Anm. 6), S. 117 ff., v. a. S. 122 f. Die folgenden Ausführungen beschränken sich dabei auf die Untersuchung von Flugschriften und Flugblättern und

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Nicht nur durch die Verknüpfung von Neuartigem und Bekanntem handelt es sich bei dem Kipper und Wipper um eine, auch im Vergleich zu verwandten Figuren wie dem jüdischen Wucherer, ausgesprochen ambivalente Gestalt, die sich einer eindeutigen Zuordnung entzieht. So gehört zu seinen Charakteristika, dass er zwischen christlich und jüdisch changiert. Diese Ambivalenzen machen den Kipper und Wipper und den über diese Figur geführten Diskurs für die Frage nach Narrativen des Entscheidens besonders interessant. Denn der dem Kipper und Wipper zugeschriebene ambivalente Charakter bildet, wie im Folgenden noch deutlicher werden wird, die Voraussetzung dafür, dass über diese Figur und mit Blick auf die allgemeinen Geschehnisse und Probleme, die von dieser personifiziert wurden, Situationen und Spielräume diskursiv erzeugt werden konnten, in denen insbesondere durch die Konstruktion alternativer Optionen und Zukünfte Entscheiden möglich und unter bestimmten Umständen sogar notwendig war. Wie dies konkret erfolgte und inwieweit hierbei auf narrative Mittel zurückgegriffen wurde, lässt sich in exemplarischer Weise anhand der von Andreas Lampius (1576–1627), einem lutherischen Pfarrer aus Halle / Saale, verfassten Flugschrift »De Ultimo Diaboli foetu«12 diskutieren. Wie bereits aus dem Titelblatt hervorgeht, möchte Lampius darin zum einen den Ursprung und das Wesen der Kipper und Wipper aufzeigen, indem er diese jüngste ›Ausgeburt‹ und ›letzte Frucht‹ des Teufels in einen allgemeinen christlichen Deutungskontext einordnet. Dabei macht Lampius diese für den (wie es im Titel heißt) »eussersten Verderb der gantzen deutschen Nation, vom höchsten biß auff den Niedrigsten Grad / der Landesfürsten / so wol / als der allergeringsten Bettelleute in der Christenheit« hauptsächlich verantwortlich. Allerdings würden sich die (innerdamit auf diejenigen Quellen, die auf eine weitere Verbreitung innerhalb des öffentlichen Raums abzielten und sich entsprechend an ein allgemeines, in der Regel unspezifisches Publikum richteten. Nicht behandelt werden vor allem die in diesem Zusammenhang entstandenen juristischen Schriften, die sich als Teil eines Expertendiskurses mit speziellen Fragen vor allem des Münzwesens und des Münzrechts auseinandersetzten und entsprechend auch nur einen eingeschränkten Rezipientenkreis besaßen. 12 De Ultimo Diaboli foetu, Das ist / Von der letzten Bruth und Frucht des Teuffels / den Kippern und Wippern / wie man sie nennet / Welche einen newen Ranck erdacht reich zu werden / und für niemand als für sich und die ihrigen / groß Gelt und Gut zusammen kratzen / Wie wol Mit eusserstem Verderb der gantzen deutschen Nation, vom höchsten biß auff den Niedrigsten Grad / der Landesfürsten / so wol / als der allergeringsten Bettelleute in der Christenheit / was von denselben / und ihren Helffershelffern / etlichen Müntzern / Jüden und Jüdengenossen zu halten / den Elenden / Armen Kipphern / wie reich sie auch sonsten sein / zur Nachrichtung / Buß und Bekehrung beschrieben / Durch M. Andream Lampium, Pfarrherrn der Kirchen genand bey S. Lorentz zu Hall in Sachsen, Leipzig 1621. Dass diese Schrift breit rezipiert wurde und eine gewisse öffentliche Aufmerksamkeit fand, zeigt sich unter anderem darin, dass sich andere Autoren durchaus in kritischer Weise auf sie bezogen (s. dazu auch oben) und sie Ende des 17. Jahrhunderts im Kontext der sogenannten zweiten Kipperzeit neu aufgelegt wurde: Nipperdey, Von der Katastrophe zum Niedergang (wie Anm. 10), S. 252.

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weltlichen) Folgen in ihrem ganzen Ausmaß in der Zukunft erst noch zeigen.13 Zum anderen zielt Lampius darauf ab, die »Elenden / Armen Kippherrn« selbst dazu zu bewegen, mit ihrem sündigen und schädlichen Treiben einzuhalten und durch »Buß und Bekehrung« auf den rechten, christlichen Weg zurückzufinden, damit sie nicht der ewigen Verdammnis anheimfallen. Die von Lampius und auch in anderen Flugschriften und -blättern verwendete Redeweise von den Kippern und Wippern als der ›letzten Frucht‹ des Teufels ist insofern doppeldeutig, als damit nicht nur gemeint ist, dass diese die zeitlich gesehen jüngste Erscheinung innerhalb der Genealogie diabolischer Figuren darstellt. Vielmehr beinhaltet dies eine apokalyptische Dimension, handelt es sich demnach doch um die (mutmaßlich) letzte Ausgeburt des Teufels in diesen ›letzten Zeiten‹. Ebenso wie andere Autoren sah Lampius im Erscheinen der Kipper und Wipper ein Zeichen dafür, dass das Jüngste Gericht nun tatsächlich ganz unmittelbar bevorstand, da die von ihnen versursachten ›Verderbnisse‹ und ›Zerrüttungen‹ alles bislang Dagewesene übertrafen.14 In ihrem ultimativen Charakter unterschieden sich die Kipper und Wipper denn auch in dieser Sichtweise von älteren ›Früchten‹ des Teufels und den bislang bekannten Ausprägungen des wucherischen Handelns, nicht zuletzt auch von der durch die Juden betriebenen Wucherei.15 13 Nach Lampius sei »ein solcher Betrug (…) noch nie erfahren / so lange die Welt gestanden / als jetzt von den Wippern auff ihres Meisters eingeben erdacht / und haben damit Land und Leute von dem Obersten biß auff den Niedrigsten zum höchsten betrübt / welches männiglich allererst in künfftig erfahren und recht fühlen wird«: Lampius, De Ultimo Diaboli foetu (wie Anm. 12), fol. 23b. Für die wirtschaftlichen Dimensionen und Zusammenhänge sowie die weiteren innerweltlichen Folgen interessierte sich Lampius (wie auch andere Autoren) kaum, ebenso wenig für die politischen Aspekte. Vor allem machte er die Obrigkeiten nicht für die Entstehung des Kipper- und Wipperunwesens verantwortlich oder führte dieses auf irgendwelche (möglicherweise auch unterlassene) obrigkeitliche Entscheidungen zurück. Vielmehr ordnete er bereits im Titel die Landesfürsten in die von ihm konstruierte Opfergemeinschaft ein, die letztlich die ganze ›deutsche Nation‹ und alle Stände umfasste. 14 So habe sich der Teufel dazu genötigt gesehen, in diesen ›letzten Häfen der Welt‹ – wie es im Titel der Flugschrift Wachtelgesang (wie Anm. 9) heißt – noch einmal etwas ›auszubrüten‹, das besonders verheerend und unheilvoll ist. Solche Deutungen schließen an apokalyptische Vorstellungen und Endzeiterwartungen an, wie sie insbesondere im deutschen Luthertum des 16. und frühen 17. Jahrhunderts, vor allem auch in der Flugschriftenpublizistik, weit verbreitet waren: vgl. dazu u. a. Volker Leppin, Antichrist und Jüngster Tag. Das Profil apokalyptischer Flugschriftenpublizistik im deutschen Luthertum 1548–1618, Gütersloh 1999. 15 Lampius verglich die Kipper und Wipper denn auch immer wieder vor allem mit den Juden bzw. den jüdischen Wucherern und hob dabei hervor, dass jene es noch schlimmer treiben würden als diese. Verschärft wurde dies in einer solchen Sicht noch dadurch, dass es sich bei den Kippern und Wippern eigentlich um Christen handelte und sie auch immer wieder vorgaben, Christen zu sein, womit sie aber ihren wahren (›jüdischen‹) Charakter dissimulierten. Daran zeigt sich besonders deutlich der ambivalente Charakter der Figur des Kippers und Wippers. Zur Figur des Juden bzw. des jüdischen Wucherers und zu anti-jüdischen Vorstellungen innerhalb des Kipper- und Wipperdiskurses vgl. auch

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Bevor Lampius allerdings überhaupt auf die Kipper und Wipper zu sprechen kommt, legt er, allgemeinen rhetorischen Diskursmustern folgend, zunächst ausführlich dar, wie die Welt eigentlich geordnet sein sollte und in welcher Weise die realen Verhältnisse hiervon abweichen. Sein Entwurf der gottgewollten, idealen Ordnung entspricht dabei Vorstellungen einer nach Ständen geordneten und festgefügten Gesellschaft, in der jedem Menschen durch Gott ein bestimmter Ort zugewiesen ist und deren sozialethischen Grundlagen auf der Maxime beruhen, dass jeder in dem Stand bleiben soll, in den er von Gott gesetzt worden ist. Insofern zeichnen sich diese ideale Gesellschaftsordnung und eine christliche Lebensführung durch die Abwesenheit von Zweifel aus. Damit wird aber auch der Bedarf und die Notwendigkeit vor allem von solchen Entscheidungen obsolet, die die Frage betreffen, ob und wie man seinen Stand innerhalb der innerweltlichen Ordnung verändern bzw. verbessern kann. Vielmehr wird ein solcher Wunsch, und sei es auch, um der Armut zu entkommen, als Verstoß gegen Gottes Wille und als Zeichen für fehlendes Gottvertrauen und damit als Sünde ausgewiesen.16 Genau dies – also dass viele Leute »auß ihrem Stande [schreiten]« und so gegen die im Vorigen dargelegten christlichen Normen verstoßen, unter anderem indem sie, vom »Gelt geitz (…) besessen«, ihre Mitmenschen betrügen, Waren verfälschen oder überteuert verkaufen und sich in den Beruf und die ›Nahrung‹ von anderen Leuten mischen und ihnen diese so wegnehmen – zeichnete nach Lampius jedoch die gegenwärtigen Verhältnisse aus. Diese wichen dementsprechend in wesentlichen Aspekten von der von ihm entworfenen Idealvorstellung einer ständischen und christlichen Gesellschaftsordnung ab. Vor allem der Wucher und die »Untrew im Handel« waren nach Lampius weit verbreitet und wurden nicht mehr als Sünde, sondern als normal angesehen und auch in aller Öffentlichkeit betrieben.17 Allerdings habe es solche »Schind- und Wucherhändel[.]« wie auch den Geiz und die Geldgier bereits in der Vergangenheit gegeben, sie seien aber nicht zu vergleichen mit dem »vom Teuffel newerdachten Wucher / dem Wippen oder Kippen / welches vor weniger Zeit der Sathan / etlichen seinen lieben Getrewen eingegeben« habe.18

Gabriele Hooffacker, Avaritia radix omnium malorum. Barocke Bildlichkeit um Geld und Eigennutz in Flugschriften, Flugblättern und benachbarter Literatur der Kipper- und Wipperzeit, 1620–1625, Frankfurt a. M. 1988, S. 58 ff. 16 So schärfte Lampius immer wieder den allgemeinen Grundsatz ein »Es sey ein Stand so gering als er wolle / so hat doch ein Mensch darinnen den Trost / daß er in einem Göttlichen Stande sey / und das ihn auch ohne allen zweiffel Gott darein gesetzt habe«: Lampius, De Ultimo Diaboli foetu (wie Anm. 12), fol. 3a. Und auch wenn man einmal »in Armuth schwebt / und Hunger / Noth und Elend leiden muß«, so solle man auf Gott vertrauen und »getrost hoffen / das Gott endlich seiner Zusage nach / ein gnädig Außkommen geben werde«, vor allem aber solle man nicht »verzagen« und »zweiffelen«: ebd., fol. 7b–8b. 17 Ebd., fol. 8b–9a; vgl. dazu auch ebd., fol. 10a. 18 Ebd., fol. 10b.

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Mit dieser Überleitung wendet sich Lampius im zweiten Teil seiner Schrift dem eigentlichen Gegenstand seiner Ausführungen, den Kippern und Wippern, zu. Ausgehend von Ausführungen über ihren diabolischen Ursprung greift Lampius (wie auch andere Autoren) auf traditionelle christliche, insbesondere heilsgeschichtliche und eschatologische Vorstellungen und damit verbundene (asymmetrische) Gegensätze wie demjenigen zwischen (ewigem) Heil und (ewiger) Verdammnis sowie auf Narrative des Entscheidens zurück, allem voran auf Narrative der Umkehr und der Konversion.19 Dabei zeichnen sich Lampius’ Ausführungen über die Kipper und Wipper durch diejenigen Paradoxien aus, die nach Udo Friedrich die christliche Heilslehre und Eschatologie insgesamt mit Blick auf Möglichkeiten des Entscheidens charakterisieren: Zwar scheint diese, so Friedrich, »aufgrund ihrer asymmetrischen Axiologie die Entscheidung immer schon vorzugeben«, insbesondere mit Blick darauf, was als richtig und was als falsch zu gelten hat. Dennoch eröffnen sich zugleich »innerhalb des christlichen Wertegefüges komplizierte Konstellationen und Indifferenzzonen«, durch die die Möglichkeit und der Bedarf, ja unter Umständen sogar die Notwendigkeit für Entscheiden immer wieder hervorgebracht werden. Hieraus ergibt sich dann eine Vielzahl von »zum Teil gegenläufigen, ja paradoxen Strategien, die ein ganzes topisches Feld für [nicht zuletzt auch rhetorische] Entscheidungskalküle ausbilden«.20 Auch bei Lampius  – und dies bildet den Fluchtpunkt seiner Ausführungen – sind die Kipper und Wipper vor eine grundlegende, theologisch fundierte asymmetrische Wahl gestellt: Fortführung ihres »Unchristlichen unnd mehr als Jüdischen / als Teufflischen Wucherhandel[s]« und die daraus mit Sicherheit folgende ewige Verdammnis mitsamt den zugehörigen schrecklichen Höllenqualen21 – oder aber Buße und Umkehr und damit auch die Möglichkeit, das ewige Seelenheil zu gewinnen. Insofern werden die Gegenwart bzw. die nähere Zukunft zumindest mit Blick auf die Kipper und Wipper als ein Scheidewegs­ 19 Vgl. dazu Udo Friedrich, Mythische Narrative und rhetorische Entscheidungskalküle im »Dialogus miraculorum« des Caesarius von Heisterbach, in: Martina Wagner-Egelhaaf u. a. (Hg.), Mythen und Narrative des Entscheidens, Göttingen 2020, S. 23–45, hier S. 31 ff. Friedrich weist dabei auf die Beziehungen hin, die (nicht nur) mit Blick auf Mittelalter und Frühe Neuzeit zwischen der Rhetorik und rhetorischen Strategien bzw. Figuren auf der einen und christlichen Narrativen auf der anderen Seite bestehen, insbesondere mit Blick auf Narrative der Umkehr / Heimkehr bzw. der Konversion. Zur Konversion als einer Form des religiösen Entscheidens s. auch Wolfram Drews u. a. (Hg.), Religion und Entscheiden. Historische und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Würzburg 2018. In diesem Zusammenhang wurden auch immer wieder Semantiken und Narrative der Krankheit und der Heilung verwendet; vgl. dazu den Beitrag von Hannah Murphy in diesem Band. 20 Friedrich, Mythische Narrative und rhetorische Entscheidungskalküle (wie Anm. 19), S. 45. Siehe hierzu auch Reinhart Koselleck, Zur historisch-politischen Semantik asymmetrischer Gegenbegriffe, in: ders. (Hg.), Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M. 1989, S. 211–259. 21 Lampius, De Ultimo Diaboli foetu (wie Anm. 12), fol. 24b.

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szenario entworfen. Allerdings stellt sich dieses für Lampius und allgemein aus der durch ihn repräsentierten Sicht eines wahren Christenmenschen keineswegs als eine Entscheidungssituation dar. Dies ist sie ausschließlich aus Perspektive der Kipper und Wipper – und auch dies nur potentiell, da sie zunächst erkennen müssen, dass es eine Alternative zu ihrem unchristlichen Lebenswandel gibt, und sie dadurch dann auch ins Zweifeln geraten. Aber immerhin: Insofern als nach Lampius das weitere Schicksal der Kipper und Wipper noch keineswegs festgelegt ist, erscheint es als ein (zumindest potentiell) offener Möglichkeitshorizont. Dies steht allerdings unter dem Primat des Noch, denn nach Lampius ist die ›Gnadenzeit‹ und damit die Zeit, in der zumindest im Fall der Kipper und Wipper Buße und Bekehrung erfolgen können, knapp bemessen.22 Eine entsprechende Entscheidung zu treffen, erscheint damit zwar noch, sie aufzuschieben jedoch nur sehr bedingt möglich. Für die Leser*innen, zumindest soweit sie zu der von Lampius konstruierten ›Opfergemeinschaft‹ zählen, ist dies mit einer frohen Botschaft verbunden: »Also nimpt es [das Treiben der Kipper und Wipper; Anm. PHR] denn schleunig mit irem Schinden und Frewdenwesen ein Ende / Sie gehen dahin und nehmen / so sie nicht bey zeiten wahre Busse thun [Hervorhebung PHR] / ein ende mit schrecken / fahren zum reichen Manne in die Helle / haben einen nagenden unsterblichen Wurm im Hertzen / leiden Pein in den Hellischen Flammen / und haben nimmer mehr kühlung / linderung oder einigen trost / viel weniger erledigung darauß zu hoffen / sie haben ihr gutes dahin / denn in in diesem Leben haben sies empfangen / nu wird es heissen: Post sussum saurum, post vonum bibite laurum. Also versencket der Leidige Geitz diese Leute an deß Teuffels stricke in das Verderben und ewige Verdamnuß«.23

Aber auch für die Kipper und Wipper enthalten diese Ausführungen einen Hoffnungsschimmer, indem durch den markierten Nebensatz ein alternatives Zukunftsszenario zu der Höllenfahrt und zur ewigen Verdammnis angedeutet wird, wodurch sich den Kippern und Wippern ein Entscheidungsspielraum eröffnete. Ob sie die Chance auf wahre Buße und Umkehr rechtzeitig nutzten oder aber erst zur Einsicht gelangten, wenn alles schon zu spät ist, war für Lampius mehr als unsicher. So enden seine Ausführungen auch mit einem eindringlichen Appell: »Dieses mögen unsere Wipper / ihre Helffer und Helffershelffer / Jüden und Jüdensgenossen zu Hertzen nehmen / sich bekehren / [und] von ihren Bubenhändeln abstehen«.24 Und Gott möge helfen, dass sie 22 Insofern könnte, so Lampius’ Befürchtung, die Einsicht bei vielen zu spät kommen. Denn wenn Gott von »solchen Abgöttischen Mammonsknechten und Teuffelsdienern seine Hand abzucht / weil sie sich erst muthwillig von ihm gewand / so geschihets offt / das sie verzweifflen / und zum Teuffel fahren«: ebd., fol. 18b. 23 Ebd., fol. 24b. 24 Die wesentliche Bedingung hierfür ist nach Lampius, dass sie »mit der That beweisen / daß es ihnen ein rechter Ernst mit ihrer Busse sey«, indem sie unter anderem denjenigen, die sie betrogen hatten, den erlittenen Schaden »vielfeltig wider erstatten«. Hierfür bildet die Figur des Zachäus den biblischen Hintergrund. Siehe dazu auch mit Blick auf andere

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»die Straffe deß Heiligen Geistes in der Gnadenzeit annehmen / dem hellischen Verderben und Unheil entgehen / und hergegen mit uns / und wir mit ihnen durch Christum Jesum ewig gerecht und selig werden mögen«.25

Die Möglichkeit dafür, dass Lampius die Situation, in der sich die Kipper und Wipper befinden, als ein Entscheidensgeschehen ausweisen kann, liegt vor allem in der Art und Weise begründet, wie die Figur des Kippers und Wippers von ihm bestimmt wird. So sieht er in den Kippern und Wippern zwar eine Ausgeburt des Teufels, zugleich erscheinen sie nicht als passive Opfer diabolischer Mächte, sondern als Personen, die in mutwilliger Weise und durchaus auch wissentlich handeln (können).26 Lampius schreibt ihnen insbesondere in seinen ausführlichen Darlegungen darüber, in welcher Weise sie gegen die zehn Gebote und damit gegen die göttliche Ordnung verstoßen, in diesem Sinne Agency und damit auch Handlungs- und Entscheidungsfähigkeit zu. So führt er etwa mit Bezug auf das erste Gebot aus: »Sie [die Kipper und Wipper; PHR] halten nicht den wahren Gott / sondern den ungerechten Mammon«; und indem sie den falschen Werten, vor allem dem ›Geldgeiz‹, folgen, »verlassen [sie] den richtigen Weg / und gehen irre«.27 Die Befähigung zum mutwilligen Handeln ist dabei mit weiteren besonderen Charaktereigenschaften verbunden, die Lampius den Kippern und Wippern zuschreibt. Hierzu zählt, dass sie in hohem Maße selbstbezüglich handeln und denken. So würden sie nicht Gott dafür danken, dass sie zu Reichtum gekommen seien, »sondern rühmen ihren Fleiß / Sorge und Fürsichtigkeit / oder ihre Geschwindigkeit« als diejenigen Gründe, die es ihnen Flugschriften und -blätter aus der Kipper- und Wipperzeit Rosseaux, Kipper und Wipper als publizistisches Ereignis (wie Anm. 6), S. 289 f. 25 Lampius, De Ultimo Diaboli foetu (wie Anm. 12), fol. 25. Mit dieser Anrufung Gottes endet die Schrift. 26 Die Termini ›mutwillig‹ und ›wissentlich‹ werden von Lampius an mehreren Stellen verwendet, vor allem bei seinen Darlegungen darüber, inwiefern die Kipper und Wipper gegen die göttlichen Gebote handeln (für ein Beispiel für die Verwendung von mutwillig s. oben Anm. 22; zu ›wissentlich‹ s. das Folgende). Dies impliziert, dass Lampius ihnen die Fähigkeit zumaß, zwischen Recht und Unrecht unterscheiden zu können, d. h. er schrieb ihnen moralische Urteilskraft zu. Allerdings würden sie die ihnen gegebenen Fähigkeiten oftmals nicht nutzen, um (rechtzeitig) zur Einsicht zu kommen, vor allem weil sie sich von selbstsüchtigen und materialistischen Motiven wie dem Geldgeiz leiten lassen würden: »Ja ob sie gleich bißweilen zuhören und etwas mercken / fassen und behalten / wissen was recht oder unrecht ist / so thun sie doch nicht darnach«. Vielmehr sorgten sie sich um »Reichthumb und Wollust dieses Lebens / und ersticken den Saamen des Göttlichen Worts […] / nur umb Geldes willen wider seines Herren Wort und Befehlich«; dies, so betont Lampius, würden sie »wissentlich« tun: Lampius, De Ultimo Diaboli foetu (wie Anm. 12), fol. 19b. 27 Und weiter führt Lampius aus: »Sie fürchten Gott nicht / denn wenn sie einige Furcht Gottes in ihrem Hertzen hetten / so würden sie nicht so freventlich und ohne schew wider alle seine Gebote / wider die Liebe des Nechsten / und wider alle Ehr und Redseligkeit handeln / sondern würden gedencken / wir wollen uns solcher Bubenhändel entschlagen / denn der brennende Zorn Gottes wird uns gewiß einmal treffen«: ebd., fol. 17b–18a.

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ermöglichen, (zum Schaden anderer) reich zu werden.28 Diese Disposition zum ›mutwilligen‹ wie auch zum ›fürsichtigen‹ im Sinne von vorausschauendem Handeln erscheint allerdings ausgesprochen ambivalent. Denn dadurch können sie nicht nur für ihr Handeln und die damit verbundenen, schädlichen Folgen verantwortlich gemacht werden. Es ist auch die Bedingung dafür, dass die Kipper und Wipper durch die Reflexion ihres Tuns und der Auswirkungen, die dies vor allem auf ihr Seelenheil haben wird, zu Buße und Umkehr gelangen können. Wie die Kipper und Wipper absichtlich und wissentlich gegen Gottes Gebote handeln, so ist es ihnen möglich, sich gegen ihren Schöpfer (den Teufel) und ihre diabolische Natur zu wenden, ihre Lebensweise grundlegend zu ändern, sich zu bekehren, Buße zu tun und zu einem christlichen Lebenswandel (zurück) zu finden. Paradoxerweise bilden gerade diejenigen Eigenschaften die Voraussetzung dafür, dass die Kipper und Wipper auf den richtigen, den christlichen Lebensweg finden und so das ewige Seelenheil erlangen können, die im Gegensatz zum Lebenswandel eines wahren Christen stehen, wie Lampius ihn im ersten Teil entworfen hat, allem voran die Fähigkeit, zu zweifeln und die bestehenden Verhältnisse zu hinterfragen, und die damit verbundene Disposition, die Entscheidung über das eigene Schicksal in die eigene Hand zu nehmen. Allerdings handelt es sich hierbei lediglich um Ermöglichungsbedingungen. Der wesentliche Punkt ist für Lampius das Zeitproblem, das heißt die Frage, ob die Kipper und Wipper sich angesichts der knapp bemessenen ›Gnadenzeit‹ noch rechtzeitig für wahre Buße und Bekehrung entscheiden oder den richtigen Zeitpunkt verpassen werden. Mit seinen Auffassungen steht Lampius keineswegs allein. Sie finden sich in ähnlicher Form auch in vielen anderen Flugschriften und -blättern aus der Kipper- und Wipperzeit. Dies gilt für die diabolische Ursprungserzählung, die ambivalente Charakterisierung der Kipper und Wipper und ihres Handelns, die Appelle zu Buße und Bekehrung ebenso wie für die oftmals apokalyptisch grundierte Erwartung, dass die Kipper und Wipper sowie die von ihnen verursachten Übel ein baldiges Ende finden werden. Dabei wurden solche und weitere Ansichten und Deutungen über das Phänomen der Kipper und Wipper 28 Ebd., fol. 19a. Solche und ähnliche Zuschreibungen finden sich im Kontext des Kipperund Wipperdiskurses auch in anderen Schriften. So heißt es etwa in der Flugschrift von Ulrich Hartleb, Wipper-Catechismus Oder Kurtze Anleytung / mit welcher die Wipperer ihre Jugend unterrichten / und zugleich einerley Lohn und Ungerechtgkeit auffheben können, o. O. 1623, S. 23: Der Kipper »glaubt nicht daß Gotte der Herr sein Schöpffer ihn ernehren und erhalten könne / sondern müsse selbsten lauffen / und sich auffs beste als er kann / mit den seinigen auf allen Nothfall versehen«. In solchen Charakterisierungen erscheint die Figur des Kippers und Wippers geradezu als Verkörperung von Eigenschaften, die für moderne, auf rationales, vorausschauendes Handeln und Entscheiden ausgerichtete Subjektformationen zentral sind. Diese werden in diesem Zusammenhang zwar primär kritisch gesehen, mit Blick auf die Möglichkeit der Bekehrung zu einem christlichen Lebenswandel aber eben auch keineswegs ausschließlich negativ bewertet.

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in ganz unterschiedlicher Art und Weise widergegeben und auch visualisiert, vor allem in Form von illustrierten Flugblättern.29 In unserem Zusammenhang ist das Flugblatt »Der Jüdische Kipper und Auffwechßler« aus dem Jahr 1622 von besonderem Interesse,30 vor allem weil sich hier mit Blick auf das Problem des Entscheidens gewisse Parallelen zu der von Lampius verfassten Flugschrift ergeben. Dabei wird bei diesem wie auch bei anderen Flugblättern insbesondere im Bildteil auf mythologische Figuren und Motive zurückgegriffen, die allerdings in einen christlichen Wertekosmos eingebunden sind (siehe Abb. 1). In ihrem Aufbau entspricht die auf dem Flugblatt abgedruckte Abbildung frühneuzeitlichen Darstellungen zum homo (viator) in bivio, insbesondere auch zu Herkules am Scheideweg.31 Der Aufbau ist dabei zweidimensional angelegt:32 Die in der Mitte positionierte (männliche)  Hauptfigur, also der (jüdische)  Kipper, wird von zwei Frauenfiguren (Justitia auf der linken und Avarita auf der rechten Seite) eingerahmt, die jeweils unterschiedliche und miteinander konkurrierende (Un-)Tugenden bzw. Normenordnungen personifizieren. Beide versuchen, die Hauptfigur im wahrsten Wortsinn auf ihre Seite zu ziehen. Während Justitia, wie es in den in das Bild eingefügten Textteilen heißt, den Weg zum Guten (und das heißt: zum ewigen Leben) weist, bringt Avarita zwar (zunächst) Reichtum, führt aber letztlich ins Verderben. Aufgrund des symmetrischen Aufbaus wird auf den ersten Blick nahegelegt, dass hier eine Entscheidenssituation bzw. ein Geschehen, das auf eine Entscheidung hin ausgerichtet ist, dargestellt wird. Dabei gewinnt dieses Bild – und dies verbindet es mit anderen Beispielen früh29 Zu Flugblättern aus dem Kontext der Kipper- und Wipperinflation s. Paas, Political Broadsheet, Bd. 3 u. 4 (wie Anm. 8). 30 Wiederabgedruckt in: Paas, Political Broadsheet, Bd. 4 (wie Anm. 8), S. 51 (P–912). 31 Vgl. dazu den Beitrag von Martina Wagner-Egelhaaf in diesem Band; sowie Erwin Panofsky, Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst, Leipzig 1930. Speziell mit Blick auf den Kipper- und Wipperdiskurs vgl. Hooffacker, Avaritia radix (wie Anm. 15), S. 36 ff. Zum homo (viator) in bivio in Mittelalter und Früher Neuzeit vgl. allgemein Wolfgang Harms, Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges, München 1970. 32 Allgemein kann bei frühneuzeitlichen Scheidewegsbildern zwischen zwei- und dreidimensionalen Darstellungen unterschieden werden. Bei Letzteren tritt neben die vertikale und horizontale Bildachse noch eine dritte Tiefendimension hinzu, indem in der Regel zwei Wege dargestellt werden, die in Richtung Horizont führen, so wie dies etwa bei dem auf dem Deckblatt dieses Sammelbands wiedergegebenen Bild von Girolamo di Benvenuto zu Herkules am Scheideweg der Fall ist. Im Kontext der Kipper- und Wipperinflation finden sich, zumindest im Fall der illustrierten Flugblätter, allerdings keine solchen dreidimensional aufgebauten Scheidewegsdarstellungen. Auch andere Flugblätter bzw. die darauf enthaltenen bildlichen Darstellungen verwenden einen zweidimensionalen Bildaufbau, so die beiden 1621 publizierten Flugblätter Der Wucherische Müntzmeister und Geitz- und WucherSpiegel; vgl. Paas, Political Broadsheet, Bd. 3 (wie Anm. 8), S. 452 (P–901) u. 455 (P–904). Insgesamt sind solche Weg- und Bewegungsmetaphoriken innerhalb des Kipper- und Wipperdiskurses und vor allem bei den bildlichen Darstellungen weit verbreitet, wobei in aller Regel die Richtung der Bewegung vorgegeben ist. Vgl. dazu auch Hooffacker, Avaritia radix (wie Anm. 15), S. 41 ff.

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Abb. 1: Flugblatt ›Der Jüdische Kipper und Auffwechßler‹, o. A., o. O. 1622 (Ausschnitt, ohne Textteil).

neuzeitlicher Bivium-Darstellungen – seine besondere Dynamik daraus, dass unterschiedliche (Zeit-)Ebenen bzw. eine ex-ante- und eine ex-post-Perspektive miteinander verbunden sind, und zwar sowohl auf der horizontalen wie auch auf der vertikalen Bildachse. So sind die alternativen, von Justitia und Avaritia repräsentierten Optionen und die damit verbundenen Zukünfte beide noch präsent und verfügbar. Die Symmetrie der Darstellung, vor allem mit Blick auf die beiden Frauenfiguren, verstärkt dabei den Eindruck, dass die Entscheidung noch nicht gefallen ist, das Geschehen sich also noch in der Schwebe befindet. Dabei ist für die Betrachter*innen aufgrund der zugrundeliegenden asymme­ trischen Axiologie offensichtlich, welche die richtige und welche die falsche Seite ist. Gleichzeitig enthält die Darstellung aber auch eindeutige Hinweise darauf, dass Avaritia (und damit die eigentlich falsche Seite) den Sieg davonträgt: Zum einen richtet die männliche Hauptfigur, der (jüdische) Kipper, seinen Blick auf sie und neigt sich insgesamt ihr zu, während sich die Engel von ihm abwenden und er vom göttlichen Blitz getroffen wird. Zum anderen zeigt der Krebs, auf dem er steht, die Tendenz in Richtung Avaritia an (denn der Krebsgang ist nach hinten gerichtet).33 Dies legt es wiederum nahe (und diese Deutung wird auch 33 Der Krebsgang steht dabei symbolisch für eine verkehrte Welt. Die Vorstellung, dass in einer Welt, in der Wucherer und Kipper ungestraft ihr Unwesen treiben können, die

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im Textteil unterstützt), dass die Entscheidung im Grunde bereits gefallen und das Schicksal des Kippers vorgezeichnet ist.34 Insofern eröffnet das Flugblatt gerade mit Blick auf die Frage des Entscheidens ganz unterschiedliche, zum Teil sogar gegensätzliche Deutungsmöglichkeiten. Insgesamt zeigen Lampius’ Flugschrift wie auch das Flugblatt »Der Jüdische Kipper und Auffwechßler«, dass und in welcher Weise der Entwurf von Entscheidenssituationen und vor allem auch Narrative des Entscheidens innerhalb des Kipper- und Wipperdiskurses eine Möglichkeit darstellten, um das unerhörte und zunächst unerklärliche Geschehen zu deuten und ihm einen Sinn zu verleihen. Diese zeichnet sich insbesondere durch ihre Betonung von Alternativität und Kontingenz wie auch durch einen Sinn für Ambivalenzen aus, vor allem mit Blick auf die Konstruktion der Figur des Kippers und Wippers und ihres Handelns sowie durch den Entwurf von multiplen Zukunftsszenarien. Damit stehen diese beiden hier näher untersuchten Beispiele innerhalb des Kipper- und Wipperdiskurses zwar keineswegs allein. Allerdings gilt es, dies insofern zu qualifizieren, als das Gros der Flugschriften und -blätter, die in diesem Zusammenhang entstanden, zur Vereindeutigung und zur Ausschaltung von Ambivalenz und Kontingenz tendieren. So werden insbesondere bei den illus­ trierten Flugblättern Entwicklungen, gerade wenn diese (auch) die Zukunft mit einbeziehen, zumeist als gerichtet und in ihrem Verlauf vorherbestimmt dargestellt. Entsprechend dominieren lineare Narrative und Darstellungsformen, die erkennbar darauf ausgelegt sind, das beschriebene (Zukunfts-)Geschehen als vorgegeben und nicht-kontigent auszuweisen.35 So folgt etwa das 1623 gedruckte Dinge verkehrt sind, findet sich immer wieder innerhalb des Kipper- und Wipperdiskurses, so in besonders ausgeprägter Form in der Flugschrift Paradoxia Monetaria, Das ist: Sonderbare / und dem eusserlichen ansehen nach / seltzame ungewohnliche / jedoch an sich wahrhaffte Schlußreden / Uber das jetzige zerrüttede Müntzwesen, o. A., o. O. 1622, oder in Hartleb, Wipper-Catechismus (wie Anm. 28). 34 Im Textteil des Flugblatts wird das unheilvolle Treiben der Kipper und Wipper in einer Weise geschildert, die die Ambivalenzen der bildlichen Darstellung aufhebt und vereindeutigt. »Ihr kippen« würde, so heißt es darin, Gott erzürnen, und es würden auch die »lieben Englein (…) nit bleibn / Wo man solch Handthirung thut treibn«. Während Justitia sich über die Kipper beklagt, habe »Fraw Avaritia mit Macht / […] sie bald in ihr Netz gebracht / Diesem Weib / nach ihrem begehr / Folgen sie nach ohne beschwer / Aber was man erworben hat / Mit ihr fleugt hin / und nimbt ab: Alles endtlich den Krebsgang geht«. Auch sei »nichts gewiß bei ihr«, vielmehr führe sie »zum Verderben und groß Noht / Ins höllsch Fewr und ewigen Todt«. Dieses Schicksal scheint demnach dem Kipper und Wipper gewiss und unausweichlich. Allerdings eröffnet der Text, wie auch bei Lampius, am Ende dann doch einen Ausweg, denn der an die Leser*innen gerichtete Rat kann auch als Appell an die Kipper selbst gelesen werden: »Drumb ist mein raht sih dich jetzt für / Laß kippen fahren weit von dir / Ernehr dich redlich bleib im Land / Daß hast du Ehr und keine Schand«. 35 Vgl. u. a. die beiden 1621 gedruckten Flugblätter Trawrige Klage der Armen wegen der uberauß grossen Thewrung und betrübten Zeit, und Müntzbeschickung der Kipper und Wipper, abgedruckt in Paas, Political Broadsheet, Bd. 3 (wie Anm. 8), S. 427 (P-876) u. 447 (P–896). Vgl. dazu auch die Flugschrift Colloquium und Iudicium der Götter / U ber

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Flugblatt »Kurtzer und einfeltiger (…) unterricht und beschreibung (…)«36 einer gänzlich anderen (narrativen) Darstellungslogik als das oben diskutierte Beispiel, auch wenn beide ähnliche Motive enthalten wie etwa die ›Verstrickung‹ zwischen den Figuren des Kippers und Wippers und der Justitia (siehe Abb. 2).37 In diesem Fall wird das Narrativ sowohl vom diabolischen Ursprung der Kipper und Wipper als auch von ihrem Aufstieg, Fall und Untergang ins Bild gesetzt. Dies wird insofern als ein zyklisches Geschehen dargestellt, als der Weg, den die Hauptfigur nimmt, dort endet, wo alles seinen Anfang genommen hat  – nämlich in der Hölle.38 Das Geschehen am Scheitelpunkt, das das Motiv der Waage aufgreift, verbindet die auf der linken Seite dargestellte Vergangenheit des Kippers und Wippers, also seine Geburt und seinen Aufstieg, mit seiner bevorstehenden Zukunft, also Fall und Höllenfahrt. Dabei handelt es sich um einen ausgesprochen labilen Zustand, wobei sich der ›Balken‹ bereits in Richtung des Höllenschlunds neigt. Das weitere Schicksal ist damit vorgezeichnet,

und wieder die die zweene mechtige / und dem gantzen H. Röm. Reich deutscher Nation hochschädliche Feinde Mars und Mercurius (…), o. A., Elendsburg [sic!] 1622, s. dazu auch Hooffacker, Avaritia radix (wie Anm. 15), S. 172 f. Diese Flugschrift ist aus einer Entscheidensperspektive insofern von Interesse, als in ihr in ausführlicher und detaillierter Form ein von den Göttern auf dem Parnass abgehaltener Gerichtsprozess beschrieben wird. Demnach hatte Jupiter die Götter einberufen, weil sich vor allem die Bewohner ›Teutschlands‹ vehement über Mars und Merkur bzw. den ›Universal-Krieg‹ und die allgemeine Teuerung beklagt hatten, die diese und ihr Gefolge (zu dem im Fall von Merkur auch die Kipper und Wipper zählen) verursacht hatten. Allerdings steht das Urteil der Götter im Prinzip von vornherein fest bzw. ergibt sich dieses zwingend aus dem Verlauf des Prozesses, weswegen es sich dabei letztlich auch nicht um eine Entscheidung handelt. Denn auch wenn sich Mars und Merkur zu rechtfertigen versuchen, so gibt es unter den anderen Göttern keine Zweifel daran, dass sie und ihre Helfershelfer schuldig sind. Das Urteil der Götter erfolgt denn auch einstimmig (mit Bezug auf Merkurs Gefolge heißt es: »Die Götter hielten insgesamt davor / es were die Sünde so groß / daß man sie nicht an Leibe oder Gut allhier / sondern auch an der Ehren und zwar ewig straffen solte«), und da dieses endgültig ist, haben die Angeklagten keine Möglichkeit mehr zur Umkehr. 36 Der vollständige Titel lautet: Kurtzer und einfeltiger / jedoch klarer und sattsamer unterricht und beschreibung / welches doch eigentlich der ehrlichen Gesellschafft / so man KIPPER und WIPPER nennet / ursprung und ankunfft sey / durch was mittel sie zugenommen und gestiegen / was für schöne früchte sie gewircket / und schließlichen / was für ein end und belohnung sie einsten zu gewarten haben: Allen denjenigen die sich dieser Zunffte theilhaftig gemacht / oder derselben in etwas zugethan und beförderlich seyn / zur trewhertzigen warnung / anderen aber zur Lehr und Trost verfasset / und in dieser Figur vorgestellet Durch Dicæophilum Misokippum Christianopolitam, o. O. 1623. Wiederabgedruckt ist dieses in Paas, Political Broadsheet, Bd. 4 (wie Anm. 8), S. 150 (P-1013). 37 Allerdings ist es in diesem Fall die Figur des Kippers und Wippers, die Justitia (die sich am Scheitelpunkt der Darstellung befindet) bindet bzw. fesselt. 38 Entsprechend heißt es im Textteil des Flugblatts: »Vom Teuffel bin ich kommen her / Zum Teuffel ich endlich wieder kehr. Die gantze Welt hab ich verwiret / die Kunst geschwecht Justiz verkehret / Dafür die Helle wird mein Lohn / Meinen Nachkommen Spott und Hohn.«

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Abb. 2: Flugblatt ›Kurtzer und einfeltiger / jedoch klarer und sattsamer vnterricht vnd beschreibung / welches doch eigentlich der ehrlichen Gesellschafft / so man KIPPER und WIPPER nennet / vrsprung und ankunfft sey (…)‹, o. A., o. O. 1623 (Ausschnitt, ohne Textteil).

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unklar ist allein die Frage, wie lange es dem Kipper und Wipper möglich ist, das Gleichgewicht zu halten, in diesem Sinne also die Gegenwart zu verlängern und seinen Höllensturz hinauszuzögern. In diesem Fall stehen also die jeweiligen Zeitdimensionen bzw. das sich in diesen jeweils vollziehende Geschehen in einem festen Verhältnis zueinander und folgt der Ablauf der Dinge einer festgefügten, linearen Logik. Es werden keine alternativen Zukunftsszenarien und damit auch keine Entscheidungsmöglichkeiten eröffnet, das Schicksal des Kippers und Wippers – also dass er, wie es im Textteil heißt, von seiner eigenen Mutter mitsamt seinen Reichtümern aufgefressen und der ewigen Verdammnis anheimgegeben werden wird – erscheint vielmehr alternativlos.

2. Narrative des Entscheidens in der South Sea Bubble von 1720 Schon aufgrund ihrer internationalen Dimension unterscheiden sich die Finanz­ krisen, die sich 1720 in mehreren westeuropäischen Ländern ereigneten, in grundlegender Weise von der Kipper- und Wipperinflation der frühen 1620er Jahre. Grund dafür waren ›Spekulationsblasen‹, die sich zunächst in Frankreich / ​Paris und daraufhin auch in England / London und den Niederlanden ausbildeten und nacheinander im Verlauf des Jahres 1720 platzten.39 Zwischen diesen und den damit in den einzelnen Ländern verbundenen Entwicklungen bestanden enge Wechselbeziehungen, und zwar nicht nur auf wirtschaftlicher Ebene, sondern auch in der öffentlichen und kulturellen (Krisen-)Kommuni­ kation.40 Die Spekulationen und die nachfolgenden Finanzkrisen von 1720 39 In den Spekulationsblasen von 1719/20 manifestierten sich in spektakulärer Weise die strukturellen Umbrüche, die sich im Zuge der financial revolution des ausgehenden 17. und frühen 18. Jahrhunderts ergeben und in deren Zuge sich in Westeuropa und insbesondere in England die Bedingungen des öffentlichen wie privaten Finanzwesens und des Wirtschaftens im Allgemeinen grundlegend gewandelt hatten. Auf den genauen Verlauf und die historischen Hintergründe kann hier nicht genauer eingegangen werden. Auch ist die Literatur speziell zur South Sea Bubble ausgesprochen umfangreich. Vgl. dazu zuletzt Stefano Condorelli / Daniel Menning (Hg.), Boom, Bust, and Beyond. New Perspectives on the 1720 Stock Market Bubble, Berlin 2019; darin v. a. dies., Boom, Bust, and Beyond – An Introduction, in: ebd., S. 1–20 (mit weiteren Literaturverweisen); sowie Daniel Menning, Politik, Ökonomie und Aktienspekulation. South Sea Bubble und Co. 1720, Berlin 2020. Für eine kultur- und literaturgeschichtliche Untersuchung s. insbesondere Silke Stratmann, Myths of Speculation. The South Sea Bubble and 18th-century English Literature, München 2000. 40 Die engen Verflechtungen zwischen den (west-)europäischen Ländern zeigt sich unter anderem daran, dass es sich bei den im Kontext der South Sea Bubble in England bzw. London vertriebenen Publikationen, insbesondere bei Theaterstücken, satirischen Graphiken und vielen Flugblättern, oftmals um Übernahmen bzw. Übersetzungen von Veröffentlichungen handelt, die ursprünglich auf dem Kontinent und insbesondere in den Niederlanden entstanden.

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waren in den davon maßgeblich betroffenen Ländern Medienereignisse ersten Ranges, die eine große Aufmerksamkeit innerhalb der jeweiligen, eng miteinander verbundenen Öffentlichkeiten fanden. Hier schlug sich wiederum der Strukturwandel der öffentlichen Kommunikation nieder, durch den sich in der Zeit um 1700 vor allem in den Niederlanden und England ein fortgeschrittenes und differenziertes Publikations- und Medienwesen ent­w ickelt hatte. Entsprechend umfangreich war (nicht zuletzt auch im Vergleich mit der Kipper- und Wipperzeit) die Menge an Veröffentlichungen, die allein in England über die sogenannte South Sea Bubble publiziert wurden. Nicht minder groß war die Bandbreite und die Vielfalt an medialen Formaten und Genres, in denen die Geschehnisse in oftmals populärer Form thematisiert und reflektiert wurden: Diese reichten von Zeitungsbeiträgen, politischen Pamphleten, satirischen Schriften, emblematischen Drucken und Flugblättern bis hin zu Gedichten, Balladen, Theaterstücken und sogar Spielkarten.41 Wie auch im Fall der Kipper- und Wipperzeit erschien den Zeitgenossen das ›Unglück‹, das im Laufe des Jahres 1720 über ihre Länder hereingebrochen war, als ebenso monströs und ohne Vorbild wie in den zugrundeliegenden Bedingungen und Entwicklungen weitgehend unverständlich. Entsprechend wurde im öffentlichen Diskurs in ganz unterschiedlicher Art und Weise versucht, den hinter diesen ganzen Geschehnissen verborgenen Sinn sicht- und damit auch kommunizierbar zu machen – und sei es, indem der damit verbundene (kollektive) Wahn- und Irrsinn aufgezeigt wurde. Hierfür wurde auf unterschiedliche Figuren zurückgegriffen, insbesondere auf den stock-jobber, der in einem zumindest indirekten Verwandtschaftsverhältnis zum Kipper und Wipper steht.42 Gemeinhin verkörperten die stock-jobbers diejenigen Eigenschaften, die dem (spekulativen) Handel mit Aktien insgesamt zugeschrieben wurden, vor allem der Einsatz von betrügerischen Mitteln, von Korruption und Manipulation

41 Zwischen diesen bestanden vielfache Übergänge, intertextuelle Bezüge und Resonanzen, so dass der öffentliche Diskurs über die Spekulationsblasen von 1720 durch einen hohen Grad an Intermedialität ausgezeichnet ist. 42 Ausgeprägt hatte sich die Figur des stock-jobbers im Zuge der Debatten, die in England seit den 1690er Jahren in intensiver Weise über die sich im Zuge der financial revolution entwickelnden ›new economy‹ geführt wurden. Vgl. dazu u. a. Niels Grüne, Wertpapierhandel und reflexive Frühmoderne. Verhältnisbestimmungen von Wirtschaft, Politik und Moral in der englischen Finanzrevolution (ca. 1690–1735), in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 54 (2014), S. 27–47. Über die Figur des stock-jobbers wurden die neuen und als irregulär angesehenen spekulativen Formen des Handelns vor allem mit Aktien bzw. stocks repräsentiert. Die Gegenüberstellung zwischen dem regulären bzw. dem ›ehrlichen‹ und ›wahren‹ Handel auf der einen und dem irregulären stock-jobbing (oder auch im niederländischen Kontext dem windhandel) auf der anderen Seite ist zu dieser Zeit ein weit verbreitetes Motiv. Dargestellt wurde dies oftmals über bestimmte Figuren bzw. Personifikationen: Beispiele dafür sind u. a. Picarts Monument consacré (vgl. dazu unten) oder auch mehrere Theaterstücke, auf die noch genauer eingegangen wird.

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(knavery) zum Zweck der eigenen Bereicherung.43 Nicht zuletzt indem sie Gerüchte verbreiteten und falsche Versprechungen machten, wurden demnach viele Menschen dazu gebracht, zu spekulieren. Dabei konnten sie sich die sich in der Bevölkerung verbreiteten Untugenden wie Gewinnsucht und Ehrgeiz (avaritia) für ihre im Geheimen ausgeheckten, verschwörerischen Machenschaften zu Nutze machen. Mit der Ausbreitung des stock-jobbings ging im Rahmen dieses grand narrative die Ausprägung einer neuen Klasse des moneyed interest einher, die vor allem in Konflikt mit den traditionellen englischen Eliten und dem landed interest stehend und als Gefahr für die existierende soziale Ordnung angesehen wurde, nicht zuletzt aufgrund des großen und korrumpierenden Einflusses, den die stock-jobber auf die Politik besaßen. In der Verbreitung des stock-jobbings manifestierte sich demnach der moralische Niedergang der englischen Nation, in dessen Zuge sich die sozialen und ›natürlichen‹ Unterschiede, Hierarchien und Grenzen zwischen den Klassen und insbesondere auch zwischen den Geschlechtern auflösten.44 Die Exchange Alley als das Zentrum des irregulären Finanzhandels in London wurde demnach auch als derjenige Ort angesehen, wo sich dieser Prozess schon weitestgehend vollzogen hatte und wo demnach auch keine moralischen, sondern allein materielle Werte zählten.45 Dabei waren in dieser Sicht solche Transgressionen und Umwertungen der Werte, die die Welt der Exchange Alley auszeichneten, eng mit Irrationalität und Wahnsinn verbunden – und es waren dabei nicht zuletzt weibliche Figuren wie die female stock-jobbers und die stockjobbing lady, über die beide Aspekte gerade auch in ihrem Zusammenhang repräsentiert wurden.46 Für die wirtschaftlichen Zusammenhänge und Hintergründe interessierten sich nur wenige Autoren. Der Großteil der Publizisten beschäftigte sich vor allem mit den politischen und sozialen Dimensionen der Spekulationsblasen sowie mit der Frage, in welcher Verbindung sie mit der Entwicklung und dem Zustand der öffentlichen Moral standen.47 Parallel zu der sich seit Frühjahr 1720 43 Vgl. dazu u. a. Daniel Defoe, The anatomy of Exchange-Alley: or,  a system of stockjobbing (…), London 1719. Zur Figur des Stock-jobbers vgl. u. a. Anne L. Murphy, The Origins of English Financial Markets. Investment and Speculation before the South Sea Bubble, Cambridge 2009, S. 66 ff.; Helen J.  Paul, The South Sea Bubble. An Economic History of Its Origins and Consequences, New York 2011, S. 92 ff. (die hier insbesondere auf die antisemitische Dimension verweist). 44 Vgl. dazu etwa Edward Ward, A South Sea Ballad, or, Merry Remarks upon ExchangeAlley Bubbles, o. O. 1720. 45 Vgl. Stratmann, Myths of Speculation (wie Anm. 39), S. 84 f. u. 91 ff.; Mark Hallett, The Spectacle of Difference. Graphic Satire in the Age of Hogarth, London 1999, S. 57 ff. 46 Zur Bedeutung von solchen weiblichen Figuren innerhalb des South-Sea-Bubble-Diskurses und zur Genderdimension insgesamt s. auch unten. 47 Hierbei wurde an unterschiedliche politische und öffentliche Debatten angeknüpft, die in England (wie auch auf dem Kontinent) seit Längerem geführt worden waren, so über die ›Krise‹ des public credit und Maßnahmen, wie dieser wieder hergestellt werden könne, über (politische) Korruption und den Niedergang der öffentlichen Moral, über die (neu entstehenden) Finanzmärkte im Allgemeinen und die dort betriebenen regulären wie

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entwickelnden und sich beschleunigenden Spekulation mit Aktien der South Sea Company sowie anderer Kompanien, von denen eine Vielzahl in dieser Zeit gegründet wurden und deren Kurse zum Teil noch deutlich stärker als diejenigen der South Sea Company anstiegen, intensivierten sich auch die öffentlichen Diskussionen hierüber,48 vor allem nachdem im September 1720 in London die Spekulationsblase geplatzt war und dadurch viele Anleger*innen erhebliche Verluste erlitten hatten, die für manche den finanziellen Ruin bedeuteten.49 Seinen Höhepunkt erreichte der South-Sea-Bubble-Diskurs um den Jahreswechsel 1720/21.50 Dies stand in engem Zusammenhang damit, dass das Parlament im Dezember 1720 zusammenkam.51 Dabei war dieser, im Gegensatz zum Kipperund Wipperdiskurs, in hohem Maße politisch aufgeladen. In den politischen und öffentlichen Auseinandersetzungen ging es zum einen um die Frage, was die Ursachen für das ›Unglück‹ waren, von dem England heimgesucht worden

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irregulären Praktiken, speziell über das vornehmlich an der Exchange Alley betriebene stock-jobbing, sowie über Aktiengesellschaften und speziell über die 1711 gegründete South Sea Company und die damit verbundenen Projekte bzw. schemes. Diese Debatten, die in den 1710er Jahre einen vorläufigen Höhepunkt erreicht hatten, wurden 1719/20 noch einmal forciert, als in Reaktion auf die Projekte, die John Law in Frankreich vorangetrieben hatte und die dort im Frühjahr 1720 zum Platzen der ›Mississippi-Blase‹ führten, auch in England neue schemes entwickelt und propagiert wurden. Maßgeblich initiiert wurden diese durch die South Sea Company. Sie verfolgte das Ziel, einen möglichst großen Anteil an den öffentlichen Schulden durch eine Konversion von staatlichen Anleihen in Aktien des Unternehmens zu übernehmen. Damit wäre die South Sea Company zum wichtigsten Gläubiger des britischen Staats und zum wichtigsten Akteur auf dem britischen Finanzmarkt wie auch zu einem ausgesprochen mächtigen political player aufgestiegen. Gerade die Akkumulation von politischen Einflussmöglichkeiten und die damit verbundenen Möglichkeiten für Korruption stieß denn auch auf erhebliche Kritik. Unterstützung fand die South Sea Company für ihre Pläne auf Seiten der von den Whigs dominierten Regierung sowie des Parlaments. Tatsächlich gelang es der South Sea Company im Frühjahr und Sommer 1720, im Zuge mehrerer Subskriptionen den größten Teil des public debt von privaten Investoren zu übernehmen, vor allem weil diese auf steigende Aktienkurse und kurzfristige Gewinne setzten. Grund für das Platzen der Spekulationsblase war, dass eine weitere von der South Sea Company geplante Subskription scheiterte, nicht zuletzt, weil sich unter den Investoren Zweifel an einem weiteren Kursanstieg verbreiteten. In kürzester Zeit verloren die Aktien der South Sea Company (wie auch diejenigen anderer Kompanien) massiv an Wert und fielen praktisch auf ihren Ausgangskurs zurück. Catherine Labio spricht in diesem Kontext auch von einer »representational bubble«, die mit der Spekulationsblase einherging: Catherine Labio, Staging Folly in the Dutch Republic, England, and France, in: William N. Goetzmann u. a. (Hg.), The Great Mirror of Folly. Finance, Culture, and the Crash of 1720, London 2013, S. 143–157, hier S. 143. Dabei spielten die Probleme rund um das South Sea Scheme und den public credit in den Beratungen des Parlaments von 1720/21 von Anfang an eine zentrale Rolle. Als Regierung und Parlament unterschiedliche Maßnahmen ergriffen und unter anderem Letzteres eine offizielle Untersuchung über das South Sea Scheme und seine Folgen durchführte (die allerdings sehr begrenzt blieb), ebbte die öffentliche Debatte hierüber im Verlauf der ersten Hälfte des Jahres 1721 wieder ab.

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war, vor allem aber wer dafür verantwortlich zu machen war und wie sowohl mit den Schuldigen als auch mit den Geschädigten umgegangen werden sollte. Zum anderen wurde darüber diskutiert, wie der public credit am besten reformiert und gerettet werden könnte. Primärer Adressat entsprechender Forderungen und Vorschläge war neben der Regierung das Parlament, und so entwickelte sich vor allem in den ersten Wochen der bis Mitte 1721 andauernden Parlamentssession eine kontroverse und öffentlich geführte politische Auseinandersetzung, bei der eine Vielzahl an Vorschlägen und Plänen bzw. schemes und damit an Entscheidungsoptionen artikuliert und diskutiert wurde.52 Ein Großteil derjenigen Publikationen, die im Zuge der öffentlichen Auseinandersetzung über die South Sea Bubble vor allem nach deren Platzen gedruckt wurden, waren Teil der darüber geführten politischen (Konflikt- und Krisen-)Kommunikation. Dazu zählen vor allem Zeitungsartikel und Pamphlete, aber auch polemische und satirische Schriften oder (gedruckte) Petitionen. Die im engeren Sinne kulturellen Publikationen wie Gedichte und Theaterstücke (vor allem Komödien und Farcen) bilden dagegen nur einen deutlich geringeren Teil der Veröffentlichungen, die in England im Zuge der South Sea Bubble gedruckt und vertrieben wurden. Auf sie wird im Folgenden jedoch das Hauptaugenmerk gelegt. Dabei lässt sich, und zwar nicht nur im Fall des Diskurses über die South Sea Bubble, nicht streng zwischen politischer und kultureller Kommunikation unterscheiden. Vielmehr gab es hier vielzählige Überschneidungen. So sind in vielen Fällen, nicht zuletzt bei den satirischen Publikationen, beide eng miteinander verknüpft.53 Fragt man nun nach der Bedeutung von Narrativen des Entscheidens innerhalb des South-Sea-Bubble-Diskurses und nimmt man zunächst, zumindest in kursorischer Weise, die politischen Auseinandersetzungen in den Blick, wie sie vor allem nach dem Platzen der South Sea Bubble und im Umfeld des Zusammentretens des Parlaments geführt wurden, stößt man rasch auf unterschiedliche rhetorische Strategien der Dramatisierung. Diese wurden vor allem von Autoren genutzt, die den oppositionellen Tories zuzurechnen sind und die eine regierungskritische Haltung einnahmen, um ihren Sichtweisen und den 52 In den politischen Auseinandersetzungen setzten sich schließlich die zu dieser Zeit politisch dominierenden Whigs, unter Führung von Robert Walpole, mit ihrer Position durch. Diese zielte darauf ab, die allgemeine Lage zu beruhigen und allzu weitgehende Maßnahmen, vor allem aber Untersuchungen insbesondere gegen Mitglieder der Regierung zu verhindern. Den öffentlichen Diskurs dominierten allerdings zunächst diejenigen Stimmen, die wie John Trenchard und Thomas Gordon in den von ihnen verfassten Cato’s Letters ein entschiedenes Vorgehen gegen die Verantwortlichen und die ›Verräter‹, vor allem die Direktoren der South Sea Company, und ihre politischen Unterstützer forderten und die nach ›öffentlicher Rache‹ für das Leid, das diese der englischen Nation zugefügt hatten, riefen. 53 Zu satirischen Publikationen aus dem Kontext der Spekulationen von 1720 vgl. Frans de Bruyn, Satire in Text and Image. Bubble Publications in England and the Netherlands Compared, in: Goetzmann u. a., The Great Mirror of Folly (wie Anm. 50), S. 159–173.

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von ihnen vorgebrachten Forderungen innerhalb der öffentlichen Kommunikation Aufmerksamkeit zu sichern und Nachdruck zu verleihen. So wurde in vielen Schriften mit unterschiedlichen Mitteln die eigene Zeit als eine Krisensituation entworfen, in der das Land in einem unerhörten Ausmaß mit bislang noch weitgehend unbekannten Gefahren konfrontiert war.54 Dadurch wurde auch die Notwendigkeit unterstrichen, schnellstmöglich entschiedene Maßnahmen für eine baldmöglichste ›Remedierung‹ zu ergreifen. Wie diese beiden Aspekte – der Entwurf von Krisenszenarien und die Auseinandersetzung über unterschiedliche politische Entscheidungsoptionen  – miteinander verbunden waren, lässt sich in exemplarischer Weise an der Anfang 1721 veröffentlichten Flugschrift »Now or Never; Or, a Familiar Discourse Concerning the Two Schemes For Restoring National Credit (…)« zeigen.55 Diese diente dem Zweck, die von Humphrey Mackworth (1657–1727) in mehreren Pamphleten verbreiteten Ideen, wie der öffentliche Kredit insbesondere durch eine Reform des Geldwesens verbessert werden konnte, zu propagieren und zugleich damit rivalisierende Pläne bzw. schemes zu diskreditieren.56 Aufgebaut ist die Schrift in Form einer kontroversen Unterhaltung zwischen unterschiedlichen Personen, die bestimmte Gruppen der englischen Gesellschaft und die ihnen zugeschriebenen (politischen) Auffassungen und Interessen repräsentieren, darunter einem Mitglied des Parlaments, einem Lord, einem Kaufmann und einem Patrioten, der das nationale Interesse bzw. das Gemeinwohl verkörpert, sowie jeweils einem Direktor der Bank (of England), der South-Sea- sowie der East-India-Company als den Vertretern des moneyed interest. Indem in dieser Schrift partikulare wie auch allgemeine politische Interessen in dieser Weise personalisiert und die damit verbundenen unterschiedlichen Positionen in Form einer Konversation bzw. eines familiar discourses (als Form einer direkten Kommunikation) dargestellt werden, lehnt sie sich an das populäre Theater bzw. an (gedruckte) Komödien und Farcen an, auf die noch einzugehen sein wird. Dabei sprechen sich fast alle Personen mit Ausnahme der Direktoren gegen dasjenige scheme aus, das auf eine Verbindung der drei großen Kompanien abzielte, vor allem weil diese dadurch zu viel Macht erhalten würden und die Regierung und das Parlament, nicht zuletzt in Form von Korruption, unter ihre Kontrolle bringen könnten. Sollte dieser Plan realisiert werden, würde dies aus ihrer Sicht eine eminente 54 Besonders beliebt war dabei der Vergleich mit der Ausbreitung von Seuchen im Allgemeinen und mit der Pest, die 1720 in Frankreich grassierte, im Besonderen; Beispiele hierfür finden sich u. a. in John Trenchards und Thomas Gordons Cato’s Letters oder in der satirischen Schrift »News from Hell« (s. u.). 55 R[oderick] M[ackenzie], Now or Never; Or, A Familiar Discourse Concerning the Two Schemes For Restoring National Credit (…), London 1721. 56 Letztere zielten dabei darauf ab, die entstandenen Probleme durch eine Verbindung der South Sea Company mit der East India Company und der Bank of England zu lösen. Solche Ideen wurden zu dieser Zeit insbesondere von Walpole vertreten. Insofern richtete sich die Schrift auch vornehmlich gegen diesen sowie die von ihm und anderen führenden (Whig-)Politikern verfolgten Pläne.

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Gefahr für die Nation, für den public interest und die englische(n) Freiheit(en) bedeuten.57 Umso entschiedener unterstützen sie die (von Mackworth vorgeschlagene) Reform des öffentlichen Finanz- und Geldwesens.58 Im Rahmen dieses familiar discourses werden somit zwei alternative, das heißt als rivalisierend und sich gegenseitig ausschließend ausgewiesene schemes gegenübergestellt, die sich in grundlegenden Aspekten unterscheiden, vor allem in den Folgen, die sie jeweils für das öffentliche bzw. nationale Interesse haben würden. Dabei wird durch den Autor deutlich gemacht, welche in dieser Hinsicht die richtige und welche die falsche Option ist. Diese gleichen sich jedoch insofern, als beide als realisierbar angenommen werden.59 Dadurch wird eine Situation echter Alternativität und damit des Entscheidens entworfen, das heißt eine Situation, die auf eine noch zu treffende Entscheidung hin ausgerichtet ist und die insofern offen ist, als unklar ist, welche der zur Debatte stehenden Möglichkeiten letztlich realisiert wird. Der dramatische und dezisive Charakter dieses Konflikts wird, ähnlich wie im Fall von Lampius, durch eine radikale Verkürzung des Zukunftshorizonts gesteigert, innerhalb dessen sich die Angelegenheit zu entscheiden hat, denn dies habe, wie mehrfach wiederholt wird, jetzt oder nie zu erfolgen (»Now or Never« – so ja auch der Titel der Druckschrift): »It is Now or Never then on both sides«, so etwa die Einschätzung des Lords.60 Während in diesem Fall noch ein direkter Bezug zu den politischen Auseinandersetzungen bestand, die rund um die South Sea Bubble und ihrem Platzen geführt wurden, war dieser in anderen, insbesondere auch in den satirischen Schriften, wesentlich vermittelter, und zwar vor allem weil dies in einer kulturell codierten Form erfolgte. Dabei zielten solche Publikationen stärker darauf ab, das (als gefährlich und undurchsichtig erscheinende) Geschehen und seine Hintergründe insbesondere über den Rückgriff auf Allegorien sowie auf mytho­logische Motive und Figuren, die bestimmte Werte bzw. Werteordnungen und (übermenschliche)  Kräfte repräsentieren, darzustellen. Indem diese auf der Grundlage verbreiteter und konventioneller Narrative in Erzählungen eingebunden wurden, wurde versucht, übergreifende und komplexe Zusam57 Vor solchen schemes, mit denen den ›Direktoren‹ und den stock-jobbern eine weitere Gelegenheit gegeben werden würde, neue Projekte durchzuführen, und durch die sich diese zu retten versuchen wollten, wurde etwa auch von Trenchard und Gordon in ihren Cato’s Letters immer wieder eindringlich gewarnt. 58 Dies wäre auch, so das Parlamentsmitglied, »in Favour of the landed Men against the money’d Men«: Mackenzie, Now or Never (wie Anm. 55), S. 30. 59 In diesem Sinne handelt es sich, im Sinne von Alfred Schütz und Edmund Husserl, um ›problematische Möglichkeiten‹: vgl. dazu Philip Hoffmann-Rehnitz u. a., Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für Historische Forschung 45 (2018), S. 217–281, hier S. 229 f. 60 Der Patriot treibt dies auf die Spitze, indem er die Angelegenheit zu einer Entscheidung über das Schicksal der ganzen Nation erhebt: »Now or Never (as has been observ’d) honest Men must exert themselves for the Safety of the Constitution; it is the last Opportunity they may have«: Mackenzie, Now or Never (wie Anm. 55), S. 15, 19 f.

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menhänge für eine breitere Öffentlichkeit verstehbar zu machen. So wird immer wieder die Vorstellung vom diabolischen Ursprung der Spekulation und des Stock-jobbing aufgegriffen.61 Auf dieser Grundlage konnten gegebenenfalls mögliche, vor allem auch zukünftige Reaktions- und Handlungsweisen dargestellt werden. Die in den satirischen Schriften wie auch in den graphischen Satiren verwendeten Figuren und Motive waren innerhalb der öffentlichen und kulturellen Kommunikation der damaligen Zeit weit verbreitet und verfügten in der Regel über eine lange Tradition. Aufgrund ihrer Popularität waren sie und die Botschaften, die darüber vermittelt werden sollten, denn auch für einen größeren Rezipientenkreis zu dechiffrieren. In diesem Zusammenhang wurden auch Entscheidensszenarien entworfen und kamen Narrative des Entscheidens zum Einsatz, so zum Beispiel in besonders expliziter Form in der satirischen Schrift »The Battle of the Bubbles (…)«.62 Darin wird zunächst dargelegt, warum die Bewohner Englands in diesem Jahr verrückt geworden seien und ihren ganzen Wohlstand an »Foreigners and Strangers« veräußert hätten. Der Grund dafür liege demnach darin, dass England von »monstrous Beasts, of Uncommon Nature« heimgesucht bzw. infiziert worden sei.63 Bei diesen als Bubbles bezeichneten Monstern würde es sich um die Töchter von Avaritia, einer holländischen Frau, und Trickster, einem Engländer, handeln.64 Die älteste Tochter mit Namen Oceana, die die Spekulation mit Aktien der South Sea Company personifiziert, sei dabei das Vorbild für die zahlreichen anderen Töchter gewesen. Die Bubbles, die in dieser Schrift als die zentralen Akteure auftreten, hätten sich, so wird im Folgenden berichtet, in der Exchange Alley versammelt, um darüber zu beraten, wie sie ihr bereits weit fortgeschrittenes Zerstörungswerk und ihre »Hellish Designs« weiterführen und vollenden könnten: »Upon that, they commun’d many Hours, and come to most 61 Beispiele dafür sind etwa die 1720 bzw. 1721 erschienenen satirischen Schriften The Battle of the Bubble (s. dazu auch unten); und Mr. Chamberlein, News from Hell, or, A Match for the Directors. A Satire (…), London 1721. Vgl. dazu auch Stratmann, Myths of Speculation (wie Anm. 39), S. 110 ff. 62 O. A., The Battle of the Bubbles. Shewing Their several Constitutions, Alliances, Policies, and Wars; From their first Suddain Rise, to their late Speedy Decay (…). By a Stander-By, London 2. Aufl. 1720. 63 Ebd., S. 3. 64 Es ist kein Zufall, dass die Bubbles weiblich sind. Vielmehr wurde zu dieser Zeit bei der Repräsentation von wirtschaftlichen Phänomenen und Zusammenhängen gerade im Fall der Finanzmärkte und des spekulativen Verhaltens in hohem Maße auf weibliche Figuren zurückgegriffen, vor allem auch auf entsprechende allegorische und mythologische Figuren wie Fortuna oder Lady Credit und Lady South-Sea. Diese und allen voran Fortuna (s. dazu auch unten) standen für das Unkalkulierbare, Irrationale und Unstetige wie auch für Verführungskunst als die zentralen Eigenschaften, durch die sich die (neuen) Finanzmärkte und die Welt der Spekulation auszeichneten und die als typisch weibliche Attribute galten. Vgl. hierzu auch u. a. Mareike de Goede, Mastering ›Lady Credit‹. Discourses of Financial Crisis in Historical Perspective, in: International Feminist Journal of Politics 2 (2000), S. 58–81.

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execrable and abominable Resolution«.65 Bei dem geschilderten »Congress« der Bubbles handelt es sich in doppelter Weise um einen entscheidenden Vorgang, da sie auf diesem nicht nur in verschwörerischer Weise Beschlüsse fassten, sondern diese für das weitere Schicksal der englischen Nation und ihrer Bewohner auch fatal gewesen wären, wenn Oceana die dort entworfenen Pläne nicht aus Neid und Missgunst gegenüber ihren Schwestern verraten und sich, noch während die Zusammenkunft andauerte, an Merkur gewandt hätte. Der Götterbote habe wiederum Jupiter die Machenschaften der Bubbles mitgeteilt. Dieser habe daraufhin den Olymp verlassen, um von »Whitehall’s Stately Towers« seinen »most Death-doing Thunder-Bolt« in die Versammlung zu schleudern. Damit habe er die »Obscene Crowd« vernichtet.66 Die Botschaft, die hierdurch vermittelt werden sollte, war für die Leser*innen unschwer zu verstehen: Nur durch ein entschiedenes Vorgehen der politischen Institutionen (Regierung und Parlament) gegen die sinistren und monströsen Kräfte, die hinter den Spekulationsblasen des Jahres 1720 steckten, und ihre im Geheimen ausgeheckten teuflischen schemes konnte der gänzliche Untergang Englands verhindert werden. In dieser Erzählung kommt den Medien in Gestalt von Merkur eine zentrale Rolle zu, da erst durch seine Vermittlung die geheimen Machenschaften der Bubbles aufgedeckt und die politischen Institutionen zum Handeln gebracht werden konnten.67 Viele derjenigen Darstellungselemente, Figuren und Motive, die in solchen satirischen Schriften verwendet wurden, finden sich auch in den graphischen Satiren wieder, die im Kontext der Spekulationsblasen von 1720 entstanden und veröffentlicht wurden. Diese stammten zum Großteil vom Kontinent und vor allem aus den Niederlanden und wurden oftmals in leicht veränderter und sprachlich angepasster Form in England bzw. London vertrieben. Auch die emblematic prints, die William Hogarth (1697–1764) im Kontext der South Sea Bubble anfertigte, und vor allem sein weithin bekannter, 1721 entstandener »Emblematic Print on the South Sea Scheme«68 waren wesentlich von kontinentalen und insbesondere niederländischen Vorbildern und ihrer Bildsprache

65 The Battle of the Bubbles (wie Anm. 62), S. 37 f. 66 Ebd., S. 5; vgl. auch ebd., S. 38–40. 67 Auch der satirischen Schrift Chamberlein, News from Hell (wie Anm. 61) liegen ähnliche narrative Muster zugrunde, wie sie für The Battle of the Bubbles konstatiert werden können, vor allem mit Blick auf die Hintergründe und die Entstehung des ›Unglücks‹, von dem England 1720 heimgesucht wurde: Demnach sei England durch die einer Pestepidemie vergleichbare Ausbreitung von avaritia und maßgeblich verursacht von sinistren Kräften, vor allem aber den Direktoren (der South Sea Company), von einem glücklichen Land, in dem Verstand und Freiheit regierten, zu einer »Nursury of Fools« geworden und ein »general Phrenzy« entstanden. Dies würde so lange andauern, »Tilh their Career Jove with his Thunder ends«: Chamberlein, News from Hell (wie Anm. 61), S. 3, 6 u. 7 f. 68 https://en.wikipedia.org/wiki/Emblematical_Print_on_the_South_Sea_Scheme#/media/ File:William_Hogarth_-_The_South_Sea_Scheme.png (Stand: 31. März 2020).

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beeinflusst.69 Nicht nur von Hogarth, sondern auch in vielen anderen Fällen wie etwa bei Bernard Picarts (1673–1733) ›Monument consacré‹, das in England in leicht angepasster Form unter dem Titel »A monument dedicated to posterity in commemoration of ye incredible folly transacted in the year 1720« vertrieben wurde,70 wurde das Geschehen – hier die Spekulationen des Jahres 1720 und die damit verbundene kollektive ›Verrücktheit‹ – in Form von allegorischen Darstellungen und unter Verwendung von mythologischen Figuren und Motiven ins Bild gesetzt. Auch die im Kontext der Spekulationsblasen von 1720 entstandenen Druckgraphiken sind, wie die beiden genannten Beispiele zeigen, in ihrer Bildsprache konventionell, was auch wenig verwundert, wurden diese doch für ein größeres Publikum und mit Blick auf kommerziellen Erfolg produziert. Zurückgegriffen wurde dabei auf seit Langem in der kulturellen Kommunikation verbreitete und allgemein bekannte Figuren aus der antiken Mythologie wie Fortuna71 oder Merkur, daneben aber auch auf solche Motive, die wie Teufelsdarstellungen oder der Harlekin und verwandte Trickster-Figuren einer europäisch-christlichen bzw. populärkulturellen Tradition entstammten. Typisch für die Zeit waren Darstellungen, die wie im Fall von Hogarths »Emblematic Print« und Picarts »Monument consacré« in Form von ›Wimmelbildern‹ größere Menschenmengen zeigen, die oftmals in einem stadträumlichen Setting und insbesondere an zentralen Schauplätzen der Spekulation wie der Rue Quincampoix oder der Exchange Alley platziert sind und durch die das (Spekulations-) Geschehen in seiner kollektiven Dimension dargestellt wurde. Dabei nehmen einzelne allegorische und mythologische Figuren wie Fortuna oder der Teufel eine hervorgehobene Position ein. Diese repräsentieren die mehr oder weniger verborgenen Kräfte, die das Geschehen maßgeblich bestimmten. In dem hier interessierenden Zusammenhang ist dabei von besonderer Be­ deutung, dass nicht nur in den beiden genannten Fällen, sondern auch bei anderen Druckgraphiken, die auf die Ereignisse rund um die Spekulationsblasen des Jahres 1720 Bezug nehmen, Motive und Figuren weitestgehend fehlen, mit denen in der Frühen Neuzeit typischerweise Szenarien alternativer Optionalität und des Entscheidens dargestellt wurden. Dies gilt etwa für die ganze Motivik des Scheidewegs, wie sie, wie oben gesehen, bei einigen Flugblättern aus der Kipperund Wipperzeit verwendet wurde. Dadurch erscheint die hier dargestellte Welt der Spekulation und des stock-jobbing als in sich geschlossen, und es gibt auch keine Hinweise auf mögliche Auswege aus dieser. So folgen mehrere Druck69 Zu Hogarth vgl. Hallett, The Spectacle of Difference (wie Anm. 45), v. a. S. 64 f. u. 89 f.; sowie Stratmann, Myths of Speculation (wie Anm. 39), S. 128 ff. 70 https://commons.wikimedia.org/wiki/File:A_monument_dedicated_to_posterity_in_ commemoration_of_ye_incredible_folly_transacted_in_the_year_1720_LCCN​2002714833. jpg (Stand: 31. März 2020). 71 Fortuna kommt dabei unter anderem deswegen eine wichtige Rolle zu, weil sie das Fehlen von Kausalität als ein zentrales Kennzeichen der Welt der Spekulation repräsentiert. Zu Fortuna in der Frühen Neuzeit s. auch Arndt Brendecke / Peter Vogt (Hg.), The End of Fortuna and the Rise of Modernity, Berlin 2017.

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graphiken wie Picarts »Monument consacré« einem linearen (Darstellungs-) Muster: Bei dem in diesem Fall abgebildeten Geschehen handelt es sich um eine Art Umzug und damit um einen Handlungstypus, der in vorbestimmten Bahnen abläuft.72 Dagegen steht bei Hogarths »Emblematic Print« ein Karussell im Mittelpunkt, auf dem Personen aus allen Schichten sowie beiderlei Geschlechts reiten.73 Das Geschehen selbst wird von mythologischen und diabolischen Figuren gelenkt. Im Fall von Picarts »Monument consacré« handelt es sich um Fortuna, die über dem Wagen schwebt, sowie um den Teufel, der über ihr, im Verborgenen, residiert und der die Blasen hervorbringt, die Fortuna daraufhin verteilt. Bei Hogarths »Emblematic Print« ist es eine am Bildrand situierte, auf einer Art Theaterbühne und vor einem schwarzen Hintergrund stehende Teufelsfigur,74 die – trotz ihrer randständigen Positionierung – das ganze Geschehen im Blick hat und dieses dirigiert, indem sie Fortuna zerlegt und, wie es in der Subscriptio heißt, ihre goldenen Schenkel in der Menge verteilt.75 Fortunas Schenkel wie auch die Blasen dienen dabei als Medien, über die die verborgenen, diabolischen Kräfte, die der Spekulation zugrunde liegen, vermittelt werden. Dabei wird allein den mythologischen und vor allem den teuflischen Figuren Handlungsmacht und -fähigkeit zugeschrieben. Die Menschen erscheinen dagegen ohne eigenen freien Willen und in ihrem Handeln von externen, diabolischen Kräften wie auch von der Macht des Zufalls gelenkt und manipuliert. Symbolisiert wird dies durch die Verbindung von Teufel und Fortuna. Innerhalb der Welt der Spekulation sind die Menschen demnach nicht (mehr) in der Lage, 72 Dessen Zentrum bildet ein von Personifikationen der Kompanien gezogener und von einem (weiblichen) Narr gelenkter, die Spekulation symbolisierender Wagen, der eine Person, die den ehrlichen und regulären Handel darstellt, überrollt. Die Darstellung von Wägen, die auf mehr oder weniger festgelegten Wegen fahren, ist ein in der Frühen Neuzeit verbreitetes Motiv, um gerichtete, lineare Entwicklungen darzustellen. Dieses findet sich etwa auf verschiedenen Flugblättern aus der Kipper- und Wipperzeit, aber auch in vielen anderen Kontexten. 73 Damit wurde die verbreitete Vorstellung visualisiert, dass in der Welt der Spekulation sämtliche sozialen und kulturellen Grenzen, nicht nur zwischen Ständen und Geschlechtern, sondern etwa auch zwischen den Religionen, nivelliert und aufgehoben sind. Das Karussell bildete zu dieser Zeit ein wichtiges Motiv vor allem auch der satirischen Graphiken. 74 Auch die Darstellung von Theaterbühnen bildet ein zentrales Element der satirischen (Bild-)Drucke und Flugblätter dieser Zeit, insbesondere auch im Umfeld der Spekulationen von 1720. Die Bildsprache und die Metaphorik des Theaters verweisen dabei darauf, dass das Geschehen der damaligen Zeit auch in mehreren Theaterstücken, vor allem Komödien und Farcen, dargestellt wurde (s. dazu unten). 75 Indem der Teufel an der Grenze zwischen Vorder- und Hinterbühne, zwischen Innen und Außen und damit auch zwischen dem Dargestellten und dem Nicht-Dargestellten positioniert wird, erscheint er hier in besonders deutlicher Weise als eine liminale Figur, die auf die im Verborgenen agierenden Kräfte (wie etwa die Direktoren der South Sea Company oder auch die von diesen korrumpierten Politiker) verweist. Zugleich wird damit, wie auch bei Picart, der diabolische Ursprung und die ›monströse‹ Natur der Spekulation ins Bild gesetzt.

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in freiwilliger und damit auch in reflektierter Weise zu handeln, geschweige denn vernünftige Entscheidungen zu treffen. Wir haben es vielmehr mit einer Welt zu tun, in der, zumindest für die sich in ihr aufhaltenden Menschen, wesentliche Bedingungen der Möglichkeit zum Entscheiden nicht existieren. Dies ist demnach auch nur außerhalb der hier dargestellten Welt und ihres ›Rahmens‹ möglich. Allerdings wird dieses Außerhalb, wie bereits erwähnt, in den Darstellungen nicht repräsentiert, etwa in Gestalt von positiv besetzten Figuren und Motiven, die auf Alternativen und eine andere, bessere Welt bzw. auch auf einen Ausweg verweisen würden.76 Die Menschen bleiben vielmehr in der Welt der Spekulation gefangen, ohne Aussicht auf Rettung. Ein vergleichbares Setting findet sich auch in einigen Theaterstücken bzw. Komödien und Farcen, die (nicht nur) in England im Kontext der Spekulationsblasen von 1720 entstanden und gedruckt wurden und auf die abschließend kurz eingegangen wird. Gemeinhin werden darin die (negativen) Auswirkungen bzw. Irrungen und Wirrungen verhandelt, die sich vornehmlich im privaten Bereich und in den sozialen Beziehungen, aber auch mit Blick auf die gesellschaftliche Ordnung im Allgemeinen dadurch ergeben, dass die handelnden Personen sich auf die Welt der Spekulation bzw. der Exchange Alley, die oftmals den Schauplatz der Handlung bildet, einlassen.77 In einigen Fällen spielen die Stücke vollständig im Milieu der Spekulant*innen und stock-jobbers. Sie zielten dabei darauf ab, das dortige Treiben in all seinen Absurditäten darzustellen, so wie bei der von Thomas Odell verfassten Komödie »The Chimera«78 oder der ›tragisch-komischen‹ Farce »Exchange Alley, or, the Stock-Jobber turn’d Gentle­ man«.79 Hier sind alle Figuren (seien es Täter oder auch Opfer) in ihrem (als absurd dargestellten) Denken, Trachten und Handeln von dieser Welt der Unordnung und der Perversion beherrscht. Wie bei den graphischen Satiren treten in diesen Stücken keine Gegenfiguren auf, durch die sich die Ereignisse in eine positive Richtung wenden könnten und die einen Weg in Richtung ›Rettung‹ eröffnen würden.80 76 Vielmehr werden, wenn überhaupt, positive Figuren in der Opferrolle dargestellt. So wird im Fall von Picarts ›Monument consacré‹ die den guten und regulären Handel repräsentierende Person vom Wagen der Spekulation überrollt. 77 Hierzu wie zum Folgenden vgl. Stratmann, Myths of Speculation (wie Anm. 39), v. a. 147 ff. Siehe auch Inger Leemans, Verse Weavers and Paper Traders. Financial Speculation in Dutch Theater, in: Goetzmann u. a., The Great Mirror of Folly (wie Anm. 50), S. 175–189, v. a. S. 180–182 (insbesondere mit Blick auf niederländische Theaterstücke). 78 Thomas Odell, The Chimera: A Comedy (…), London 1721. 79 O. A., Exchange Alley: Or, The Stock-Jobber turn’d Gentleman; With the Humours of Our Modern Projectors. A Tragi-Comical Farce (…), London 1720. 80 Vgl. dazu auch Stratmann, Myths of Speculation (wie Anm. 39), S. 173 ff. Im Fall des Stücks »Exchange Alley« wird dies, wie auch in vielen anderen Komödien bzw. Farcen, anhand von Fragen des matrimonialen Entscheidens verhandelt: Demnach soll die Tochter eines Händlers, der in der Exchange Alley aktiv ist, heiraten. Bei den zur Wahl stehenden Personen handelt es sich allerdings ausschließlich um stock-jobbers, so zum einen um eine Person, die Teil der new gentry (der Exchange Alley) ist und die vor ihrer

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Neben solchen Stücken, die durch das Fehlen einer opt-out-Option und damit einer wirklichen Alternative zu der amoralischen Welt der Spekulation gekennzeichnet sind, finden sich aber auch Komödien und Farcen, bei denen genau dies der Fall ist und die damit die Möglichkeit für einen glücklichen Ausgang eröffnen. Hier treten denn auch neben dem klassischen Personal der Exchange Alley Figuren auf (und zwar vor allem weibliche), die sich dieser Welt und der darin erfolgenden Verkehrung der Werte entziehen (können) und die die gute und richtige (Werte-)Ordnung personifizieren und sich entsprechend tugendhaft verhalten.81 Ein Beispiel hierfür ist die von William Rufus Chetwood verfasste Komödie »The Stock-Jobbers, or: The Humour of Exchange Alley (…)«.82 Die Hauptfigur namens Herriot hat von ihren verstorbenen Eltern ein größeres Vermögen geerbt, auf das ihr Onkel, Sir Wealthy, jedoch Schulden aufgenommen hat, um mit South-Sea-Stocks zu spekulieren. Nun befürchtet er, aufgrund der ungünstigen Kursentwicklung ruiniert und zu einem undone man zu werden. In seiner Verzweiflung (er erwägt sogar, sich zu erschießen) verspricht er sich Rettung durch die Heirat von Herriot mit dem deutlich älteren und auch von seiner äußeren Erscheinung unattraktiven Mr. Moneywise, einem stock-jobber, der zu großem Reichtum gelangt und bei dem Sir Wealthy verschuldet ist. Hierdurch werden Finanzgeschäfte mit Fragen des matrimonialen Entscheidens verknüpft. Herriot verweigert sich jedoch den von ihrem Onkel und Mr. Moneywise geschmiedeten Heiratsplänen, erscheint aus ihrer Sicht eine Heirat mit Mr. Moneywise doch unpassend und widernatürlich.83 Außerdem liebt sie den jungen Lord Courtley, den sie am Schluss auch heimlich heiratet. Damit siegen die wahre Liebe und die von Herriot verkörperten Tugenden über die teufli-

»promotion« ein »working Gentleman  –  a Journey-man Taylor« und ein pedlar war: Exchange Alley (wie Anm. 79), S. 35; zum anderen um eine Person namens Africanus, der in den Augen der Händlerstochter zwar ein Monster ist, für den sie sich aber letztlich entscheidet. In ihrer Wahl wird sie auch von ihrem Vater unterstützt, denn: »Wealth alters a Man beyond Experience (…), Money would effectually render him a Gentleman«: ebd., S. 10. Insofern sind auch in der Welt der Exchange Alley die dort agierenden Personen durchaus mit (privaten) Entscheidungsproblemen konfrontiert. Allerdings sind die Optionen, die hier zur Verfügung stehen, zumindest aus Sicht des Autors bzw. aus einer allgemeineren, moralischen Perspektive immer ausschließlich schlechte und erfolgen solche Entscheidungen denn auch nicht auf der Grundlage moralischer, sondern allein aufgrund ökonomischer Kriterien. 81 Vgl. auch Stratmann, Myths of Speculation (wie Anm. 39), S. 152 ff. 82 William Rufus Chetwood, The Stock-Jobbers: Or, The Humours of Exchange Alley. A Comedy of three Acts, London 1720. 83 Sir Wealthy preist dagegen Mr. Moneywise als einen »Gentleman of Honour, Wealth, and Reputation«, der 30.000 Pfund in South-Sea-Stocks investiert habe »and been a Housekeeper near forty Years«. Es ist aber gerade diese niedere soziale Herkunft, aufgrund derer er für Herriot und ihre Zofe als unpassend erscheint, und dieser Makel lässt sich auch durch seinen neu erworbenen Reichtum nicht beseitigen: Chetwood, The Stock-Jobbers (wie Anm. 82), S. 15 f.

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schen Machenschaften und die rein materiellen Interessen der stock-jobber und über die ›Launen‹ (humours) der Exchange-Alley.84 In solchen Stücken gelingt es demnach den zentralen Frauen-Figuren nicht nur, ihre Entscheidungs- und Handlungsfreiheit in Fragen von Liebe und Ehe und allgemein in privaten und moralischen Dingen gegenüber der rein materialistischen Logik der Exchange Alley zu behaupten respektive überhaupt erst herzustellen. Sie retten damit auch die gute, reguläre soziale und moralische Ordnung gegen die Gefahr von Chaos und Umwertung der Werte, die von der Welt der Exchange Alley und dem stock-jobbing ausgeht.85 Sie repräsentieren in diesem Sinne die Möglichkeit, dass es eine Alternative zu und einen Ausweg aus dieser verkehrten und amoralischen Welt mit all ihren Absurditäten sowie den in dieser hervorgebrachten (Entscheidungs-)Dilemmata und Krisen gibt, wenn man denn tugendhaft und ehrenvoll handelt. Durch den damit verbundenen kathartischen Effekt wird gezeigt, dass es möglich ist, die Macht der Exchange Alley und der stock-jobber bzw. allgemein der Spekulation über die Menschen zu brechen und die richtige und gute, auf das Gemeinwohl und die allgemeinen Werte- und Moralvorstellungen ausgerichtete Ordnung wiederherzustellen.86 Darin kann denn auch die durchaus politische Botschaft solcher Stücke gesehen werden, auch wenn ihre Handlung in einem privaten Kontext situiert ist – in diesem Sinne ist hier das Private politisch. Denn wie im Privaten so gibt es auch auf politischer Ebene Mittel und Möglichkeiten, den zerstörerischen Auswirkungen, die von der Welt der Spekulation und den darin wirkenden diabolischen Kräften ausgeht, etwas entgegenzusetzen, gibt es also eine Alternative zu Unglück und Untergang und somit die Aussicht auf Rettung – wenn man denn,

84 Insofern endet das Stück auch mit dem Spruch: »There is no Rise or Fall of Stock in Love«: ebd., S. 42. Einem ganz ähnlichen Plot, der ebenfalls auf die Verquickung von Geldgeschäften und Spekulation auf der einen und privaten Beziehungen, vor allem Heiratsentscheidungen, auf der anderen Seite abhebt, folgt auch The Broken Stock-Jobbers: Or, Work for the Bailiffs. A New Farce (…), o. A., London 1720. In diesem Stück werden unterschiedliche Geschichten erzählt und miteinander verbunden, die alle exemplifizieren sollen, wie in der Exchange Alley viele zuerst zu Gewinnern und anschließend, durch den Verfall der Aktienkurse, zu Verlierern bzw. zu undone men bzw. women werden. Zu diesen gehört auch Lady Whimsey, die durch Aktienspekulationen sowohl ihr eigenes Vermögen als auch das ihrer Tochter Henrietta verloren hat. Weil dadurch Henrietta keinen Heller (Farthing) mehr wert ist, will Sir Crazy, dem sie versprochen war, sie nun nicht mehr zur Ehefrau haben. Allerdings wendet sich auch hier am Schluss alles zum Guten, weil Henrietta einen Colonel heiratet, der sie aus rein ehrenvollen Motiven zur Frau nimmt: »he lov’d me with no mercinary Design«. Auch Henriettas Mutter gibt der Verbindung schließlich ihren Segen, worauf der Colonel in der sich in der Exchange Alley abspielenden Schlussszene zu Henrietta sagt: »come my fair Spouse, we are the first that in this Place of Falsehood and Deceit, have dealt with one another upon honourable Terms«: ebd., S. 17 f. 85 Vgl. dazu auch Leemans, Verse Weavers (wie Anm. 77), S. 180–182. 86 Vgl. auch Stratmann, Myths of Speculation (wie Anm. 39), S. 168 f.

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so der allgemeine Tenor solcher Schriften, nur die richtigen, und das heißt vor allem in einem moralischen Sinne richtigen Entscheidungen trifft.

3. Schlussbemerkungen Auch wenn sich, wie bereits in der Einleitung hervorgehoben wurde, die Kipper- und Wipperinflation und die South Sea Bubble kaum miteinander vergleichen lassen, so können doch auf der Grundlage der beiden Fallanalysen einige allgemeine Beobachtungen über Kulturen des Entscheidens in der Frühen Neuzeit vor allem mit Blick auf ökonomische Zusammenhänge festgehalten werden. Zunächst zeigt sich für beide untersuchten Ereigniskomplexe, dass zumindest in der öffentlichen Krisenkommunikation wirtschaftliches Handeln nicht, zumindest nicht primär, als Entscheiden verstanden und gerahmt wurde. Dies gilt trotz aller Prozesse der Ökonomisierung, die sich im 17. und frühen 18. Jahrhundert insbesondere in Westeuropa vollzogen,87 auch für England um 1720. Ähnlich wie im Fall der Religion88 fand auf der Ebene des öffentlichen Diskurses eine solche Rahmung von wirtschaftlichem Handeln als Entscheiden vor allem dann statt, wenn es um die Darstellung und Repräsentation irregulären Handelns sowie derjenigen Un-Ordnungen ging, die von den als irregulär wahrgenommenen bzw. ›häretischen‹89 Figuren durch ihr Handeln hervorgebracht wurden. In dieser Hinsicht besteht ein enger Zusammenhang zwischen der Figur des Kippers und Wippers (oder auch verwandten Figuren wie dem (jüdischen) Wucherer) und derjenigen des stock-jobbers als Verkörperung des disordering, das aus zeitgenössischer Sicht mit der Ausbildung der neuen Finanzmärkte im Zuge der financial revolution einherging und das in der South Sea Bubble von 1720 seinen spektakulären Ausdruck fand. Mit solchen Figuren waren bestimmte narrative wie auch visuelle Darstellungsformen verbunden, mit denen ihr Handeln nicht zuletzt auch als Entscheiden repräsentiert und gedeutet wurde, und zwar gerade mit Blick auf die möglichen Auswirkungen, die dieses auf ihr individuelles Schicksal wie auch auf die sozialen Verhältnisse hatte bzw. haben konnte. Der Rückgriff auf solche Figuren und Narrative des Entscheidens konnte insbesondere in (wirtschaftlichen) Krisensituationen als ein Mittel dienen, um dem als unverständlich erscheinenden Geschehen einen Sinn zu verleihen und damit zumindest ein gewisses Maß an Orientierung zu schaffen. Rekurriert wurde dabei auf verschiedene Unterscheidungen, mit denen vor allem bestimmte alternative Handlungs- und / oder Entwicklungsoptionen 87 Vgl. dazu Sandra Richter / Guillaume Garner (Hg.), »Eigennutz« und »gute Ordnung«. Ökonomisierungen der Welt im 17. Jahrhundert, Wiesbaden 2016. 88 Siehe dazu insbesondere die Beiträge von Alberto Cadili und Matthias Pohlig in diesem Band. 89 Häretisch in dem Sinne, dass hier Vorstellungen des Irregulären und Abweichenden mit der Wortbedeutung von (pro-)hairesis als (Aus-)Wahl / Entscheidung verknüpft sind. Siehe dazu auch die Ausführungen hierzu in der Einleitung zu diesem Band.

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diskursiv erzeugt werden konnten. Typisch für die Art und Weise, wie diese dargestellt wurden, war, dass deutlich gemacht wurde, dass es sich dabei um asymmetrische Unterscheidungen handelte und die zu treffende Wahl demnach im Grunde als klar und eindeutig erschien, zumindest aus der Perspektive der Beobachter*innen. Unter normalen Umständen und innerhalb einer regulären Ordnung ergab sich daraus auch gar kein Entscheidungsproblem. Innerhalb der als irregulär und ›verrückt‹ repräsentierten Welt und der dort geltenden (Un-)Ordnung stellten sich die Dinge allerdings anders dar: Denn entweder erscheinen die darin agierenden Personen aufgrund der fundamentalen Umwertung der Werte so fehlgeleitet, dass sie grundsätzlich nur falsch und unmoralisch handeln können – in diesem Fall wird das Handeln aber ebenfalls nicht als Entscheiden gerahmt –, oder aber die Handlungssituation erweist sich als eine wirkliche Entscheidungssituation, die mit entsprechenden Unsicherheiten und Zweifeln verbunden ist. Solche Entscheidensdarstellungen konnten an ein reichhaltiges und differenziertes Repertoire an narrativen (auch visuellen) Repräsentationsformen anknüpfen, die wie diejenigen der Buße und Bekehrung oder des Scheidewegs und auch bestimmte mythologische Motive einen hohen Grad an Popularität besaßen und über eine zumeist bis ins Mittelalter und die Antike zurückreichende Entstehungs- und Rezeptionsgeschichte verfügten. Diese konnten dazu dienen, mögliche alternative Zukunftsszenarien zu entwerfen, deren Realisierung als abhängig von gegenwärtigen oder erst noch zu treffenden Entscheidungen gedacht wurde. Für die in solchen irregulären Welten handelnden Akteure eröffnete sich dadurch unter Umständen auch die Möglichkeit, einen Weg aus diesen heraus zu finden. Eine für die Wahrnehmung und Darstellung von Krisensituationen kennzeichnende Dramatisierung konnte dabei dadurch erreicht werden, dass die Zeit, in der eine solche Entscheidung getroffen werden konnte, als begrenzt ausgewiesen wurde. Der Entwurf solcher Entscheidensszenarien setzte voraus, dass den Figuren, die wie die Kipper und Wipper oder die stock-jobbers als Protagonisten und Projektionsfläche fungierten, bestimmte Eigenschaften wie etwa die Fähigkeit zum ›mutwilligen‹ Handeln und zur Vorausschau (›Fürsicht‹) zugeschrieben wurden, die sie als zum Entscheiden in besonderer Weise disponiert erscheinen ließen. Diese Disposition erweist sich dabei allerdings als ambivalent, da sie zugleich Ausdruck der irregulären Ordnung wie auch der Möglichkeit ihrer Überwindung darstellt. Auf einer solchen allgemeinen Ebene gibt es also durchaus gewisse Gemeinsamkeiten zwischen der Kipper- und Wipperinflation und der South Sea Bubble, vor allem mit Blick darauf, wie in der öffentlichen Krisenkommunikation auf Figuren und Narrative des Entscheidens zurückgegriffen wurde, aber auch dass ein solcher Rückgriff nur in einer begrenzten Weise erfolgte. Im Kipper-undWipper- wie auch im South-Sea-Bubble-Diskurs stellte dies eine Möglichkeit unter vielen dar, um ein undurchsichtiges und schwer deutbares, durch Unordnung und Konfusion geprägtes Geschehen in bestehende Sinnordnungen einzufügen und dieses so versteh- und erklärbar zu machen. Dabei lässt sich

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zumindest auf der Ebene der öffentlichen (Krisen-)Kommunikation nicht beobachten, dass Narrative des Entscheidens in den hundert Jahren, die zwischen beiden Ereigniskomplexen liegen, an kultureller Bedeutung gewonnen hätten. In beiden Fällen existierten unterschiedliche und durchaus populäre Figuren und narrative Möglichkeiten, um Handeln und speziell wirtschaftliches Handeln insbesondere in irregulären Kontexten und Krisensituationen als Entscheiden darzustellen. Insgesamt blieb dies aber die Ausnahme und weitgehend auf außergewöhnliche und außeralltägliche Zusammenhänge begrenzt. Dass das soziale Feld der Ökonomie und wirtschaftliches Handeln als etwas verstanden wurde, das in fundamentaler Weise von der Logik des Entscheidens geprägt ist, und dass darin auch etwas grundsätzlich Positives gesehen wurde, war frühneuzeitlichen (west-)europäischen Gesellschaften auch am Anfang des 18. Jahrhunderts noch fremd.

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Herakles – (k)ein Entscheider?  Eines der in der europäischen Kulturgeschichte am häufigsten zitierten mythologischen Narrative des Entscheidens stellt ›Herakles am Scheideweg‹ dar. Es gibt zahlreiche bildkünstlerische Verarbeitungen1 des Motivs, aber auch literarische und musikalische Versionen. Der vorliegende Beitrag untersucht, ob und in welcher Weise das Narrativ von ›Herakles am Scheideweg‹ Einsichten in eine kulturell reflexive Logik des Entscheidens vermittelt. Ein ›Narrativ‹ ist – im Unterschied zu einer ›Narration‹ – ein Erzählmuster, das immer wieder aufgerufen wird. Narrative sind meist teleologisch organisiert und folgen einer festen temporalen Ordnung des ›Vorher-Nachher‹. Aufgrund ihrer wiederkehrenden Grundstruktur, die kulturelle Selbstbeschreibungs­ muster zur Anschauung bringt, können sie als kulturreflexiv bezeichnet werden.2 Die Qualifizierungen als ›Narrativ‹ und ›Motiv‹ schließen sich nicht aus, vielmehr beleuchten sie je etwas andere Aspekte. Ein ›Motiv‹ ist die »kleinste bedeutungsvolle Einheit eines lit. Textes oder selbständig tradierbares intertextuelles Element […].«3 Der Unterschied in der Beschreibung von ›Herakles am Scheideweg‹ als ›Narrativ‹ einerseits und als ›Motiv‹ andererseits liegt darin, dass das Narrativ eine sequentielle Struktur hat und auf seine kulturelle Rekursivität verweist, während das ›Motiv‹ eine semantische Beschreibung des Grundmusters vornimmt.

1. Herakles am Scheideweg Auf Annibale Carraccis, wie Panofsky betont, kanonischem Gemälde (siehe Abb. 1) sieht man den Heroen in klassischer Nacktheit auf einem Stein sitzend und gestützt auf seine Keule. Herakles oder, wie er auf Lateinisch heißt, Herkules ist zwischen zwei Frauen­ gestalten positioniert, von denen die eine, rechts von ihm stehend, Virtus, 1 Vgl. die grundlegende ikonographische Studie von Erwin Panofsky, Hercules am Scheidewege und andere antike Bildstoffe in der neueren Kunst, Leipzig 1930. 2 Vgl. Wolfgang Müller Funk, Die Kultur und ihre Narrative. Eine Einführung, Wien 2002; Albrecht Koschorke, Codes und Narrative. Überlegungen zur Poetik der funktionalen Differenzierung, in: Walter Erhart (Hg.), Grenzen der Germanistik. Rephilologisierung oder Erweiterung, DFG -Symposion 2003, Stuttgart 2004, S. 174–185. 3 Sabine Doering, Art. ›Motiv‹, in: Metzler Literatur Lexikon. Begriffe und Definitionen, hg. v. Dieter Burdorf u. a., Stuttgart 32007, Sp. 514.

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Abb. 1: Annibale Carracci, Herkules am Scheideweg (1596), Museo Nazionale, Neapel.

züchtig gekleidet und ebenfalls wie Herakles in Vorderansicht gezeigt, mit dem ausgestreckten rechten Arm nach oben weist, wohin auch ein gewundener Pfad führt. Der ausgestreckte Finger deutet auf eine Plattform oder Hochebene, auf der Wald und ein Pferd zu sehen sind. Panofsky zufolge handelt es sich dabei um den auf dem Tugendberg grasenden Pegasus. Die links von Herakles stehende Frauengestalt ist nur leicht bekleidet und kehrt dem Betrachter bzw. der Betrachterin den Rücken zu. Sie stellt die Voluptas dar und ihr sind die Attribute der trügerischen Lust, Maske, Musikinstrument, Noten und Spielkarten, zugeordnet, während Virtus zur Rechten des Helden geradezu einem Buch zu entsteigen scheint, das, wie Panofsky ausführt, ein »Poeta laureatus […] in der Stellung eines antiken Fluß- oder Berggotts«4 in der Hand hält. Die allegorische Dichtergestalt verheißt Herakles »ewigen Dichterruhm«.5 Da sich Herakles bekanntermaßen bei all seinen glänzenden Eigenschaften nicht als Dichter hervorgetan hat, ist dies so zu verstehen, dass ihm, folgt er nur der Tugend, die Dichter ewigen Ruhm sichern würden – und das ist ja denn auch der Fall, führt man sich die reiche Rezeptionsgeschichte vor Augen. Herakles sitzt näher bei Virtus, die ihn gerade zu überreden versucht, ihrem Weg zu folgen, während die Distanz zu Voluptas, die sich überdies bereits abgewandt zu haben scheint, größer ist. Für die Betrachterin des Bildes ist damit schon klar, wie sich Herakles entscheiden 4 Panofsky, Hercules am Scheidewege (wie Anm. 1), S. 125. 5 Ebd.

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wird, aber er selbst scheint es noch nicht zu wissen.6 Sein Blick geht vor ihm ins Leere, die Stirn ist sorgenvoll gerunzelt, die Entscheidung scheint ihm schwer zu fallen. Nicht zufällig spricht Uwe Schimank davon, dass der Einzelne in der Moderne »geradezu übermenschlichen Entscheidenszumutungen ausgesetzt«7 sei. Die Zumutung des Entscheidens scheint Herakles, der als Halbgott natürlich übermenschlicher Abstammung ist, direkt ins Gesicht geschrieben. Dass sich Herakles für die Tugend entscheidet, erzählt der Mythos. Allerdings stellt sich die Frage, ob sich aus den mythologischen, künstlerischen und literarischen Darstellungen Aufschlüsse darüber gewinnen lassen, wie die herkulische Aufgabe des Entscheidens zu bewältigen sei. Konkret: Wie entscheidet Herakles?

2. Ein Mann der Tat: Handeln und Entscheiden Doch wer ist überhaupt dieser Herakles? Mythen zeichnen sich bekanntlich dadurch aus, dass es unterschiedliche Überlieferungen und Überlieferungsstränge gibt. Bereits in der Antike versuchten sogenannte ›Mythographen‹ kohärente Narrationen herzustellen, die sich dann aber von den ihnen zugrundeliegenden Quellen oftmals stark unterschieden.8 Entsprechend gibt es auch den HeraklesMythos gar nicht.9 Ein Mythograph ist denn auch Gustav Schwab, der in seinen Sagen des klassischen Altertums eine geradlinige ›biographische‹ Erzählung des griechischen Helden bietet und die unterschiedlichen Erzählungen über Herakles integriert.10 Herakles ist ein Sohn des Zeus, der sich Alkmene, der Enkelin des Perseus, in Gestalt ihres Gatten Amphitryon, des Königs von Tyrins, genähert hatte.11 Zeus’ Gattin Hera entwickelte aus Eifersucht auf Alkmene Herakles gegenüber Hassgefühle und suchte ihm zu schaden, wo immer sie konnte. Vor Herakles’ Geburt hatte Zeus verfügt, dass der erstgeborene Enkel des Perseus der Beherrscher aller anderen Perseus-Nachkommen sein sollte. Dies wäre Herakles gewesen, aber Hera veranlasste, dass Eurystheus, der ebenfalls ein Enkel von Perseus war, vor Herakles das Licht der Welt erblickte. So wurde Eurystheus König von Mykene und Herakles musste ihm dienen. Seine berühmten zwölf 6 Auf diese strukturelle Diskrepanz hat Gerd Blum in einem mündlichen Gespräch am 21.01.2016 aufmerksam gemacht. 7 Uwe Schimank, Die Entscheidungsgesellschaft. Komplexität und Rationalität der Moderne, Wiesbaden 2005, S. 25. 8 Vgl. dazu Andrea Harbach, Die Wahl des Lebens in der antiken Literatur, Heidelberg 2010, S. 6. 9 Vgl. Dorothee Kimmich, Herakles. Heldenposen und Narrenpossen. Stationen eines Männermythos, in: Walter Erhart / Britta Herrmann (Hg.), Wann ist der Mann ein Mann? Zur Geschichte der Männlichkeit, Stuttgart 1997, S. 173–191, hier S. 174. 10 Vgl. Gustav Schwab, Aus der Heraklessage, in: Ders. (Hg.), Die schönsten Sagen des klassischen Altertums, Gesamtausgabe in drei Teilen, Stuttgart 1986, S. 169–223. 11 Nachzulesen ist diese ehe- und sinnenverwirrende Begegnung, die zur Zeugung Herakles’ führte, unter anderem in Kleists Drama »Amphitryon« [1807].

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Taten oder Arbeiten, auch Dodekathlos genannt, vollbrachte der bereits in den Windeln übermäßig starke Herakles im Dienste des Eurystheus: das Erlegen des nemeischen Löwen (siehe Abb. 2), die Tötung der Hydra, das Fangen der Hirschkuh Kerynitis, die Auslieferung des erymantischen Ebers, das Ausmisten des Augiasstalls, die Vertreibung der Stymphaliden, die Bändigung des mino­ ischen Stiers (siehe Abb. 3), das Einfangen der diomedischen Stuten, den Raub des Wehrgehenks der Amazone Hyppolita, das Herbeischaffen der Rinder des Riesen Geryones, den Erwerb der goldenen Äpfel der Hesperiden und schließlich die Entführung des Cerberus aus der Unterwelt. Eine spätere Episode seines Lebens sieht Herakles im Dienst Omphales, der Königin von Lydien, wo er ein Leben »in weibischer Wollust«12 führt. Sein Tod durch ein vergiftetes Gewand, das ihm seine Gemahlin Deïaneira schickt, wird gleichfalls oft erzählt. Die zwölf Taten oder Arbeiten des Herakles gehören zum kanonischen Kern des Mythos.13 Bekanntlich erfüllt Herakles alle Aufgaben dank seiner ungeheuren Stärke mit Mut und Bravour. Ohne sich zu bedenken, packt er an und schlägt zu. Da gibt es keinen Moment des Innehaltens und des abwägenden Entscheidens. Herakles ist ein Mann der Tat, ja er verkörpert die Tat selbst.14 Mit dem Zauderer am Scheideweg scheint der Herakles der Taten auf den ersten Blick nichts gemein zu haben. Für die Frage nach dem Verhältnis von Entscheiden und Handeln, die in der Theorie des Entscheidens immer wieder aufgeworfen wird,15 stellt er gleichwohl oder vielleicht gerade deshalb einen bemerkenswerten Modellfall dar, weil die von Hermann Lübbe postulierte Notwendigkeit, in der Analytik der Entscheidung »zwischen Theorie und Praxis zu 12 Ebd., S. 209; dazu insbes. Kimmich, Herakles (wie Anm. 9), die sich den Genderaspekten von Herakles’ Aufenthalt bei Omphale widmet. Bei Omphale muss Herakles in Frauenkleidern von seinen Taten berichten. 13 Vgl. Kimmich, Herakles (wie Anm. 9), S. 174. 14 Herakles-Filme wie etwa Arthur Allen Seidelmans »Hercules in New York« (1969; mit Arnold Schwarzenegger in der Hauptrolle!) oder die Disney-Produktion »Hercules« aus dem Jahr 1997 sparen die Scheideweg-Episode aus, die offensichtlich wenig filmtauglich erscheint, und setzen vielmehr auf den actionfilmaffinen Kraftprotz Herkules. Sein Entscheiden indes bleibt in beiden Fällen zwischen Göttlichkeit und Menschlichkeit eingespannt; damit wird die ›Übermenschlichkeit‹ des Entscheidens betont. Während sich allerdings Seidelmans Hercules am Ende für die Götterwelt entscheidet, weil das Leben der Menschen doch mit Komplikationen verbunden ist, entscheidet sich Disneys Hercules gegen die Götter und für die Menschen. Seine Motivation ist die Liebe zu seiner Freundin Meg. Hier wird also das Gefühl zu einer Ressource des Entscheidens. Beide heldischen Entscheider scheinen im Moment des Entscheidens bemerkenswerterweise nicht so ganz bei sich. Über die ›Abwesenheit‹ des Helden generell vgl. Carolin Rocks, Heldentaten. Heldenträume. Zur Analytik des Politischen im Drama um 1800 (Goethe – Schiller – Kleist), München 2017. 15 »Handeln ist nämlich immer auch ein Sich-entscheiden-Müssen«; s. André Krischer, Das Problem des Entscheidens in systematischer und historischer Perspektive, in: Ders. / Barbara Stollberg-Rilinger (Hg.), Herstellung und Darstellung von Entscheidungen. Verfahren, Verwalten und Verhandeln in der Vormoderne, Berlin 2010, S. 35–64, hier S. 35.

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Abb. 2: Francisco de Zurbarán, Herkules im Kampf mit dem Nemeischen Löwen (1634), Museo del Prado, Madrid.

unterscheiden«,16 auf das Herakles-Narrativ in besonderer Weise zuzutreffen scheint. »Die Lebenswahl-Geschichte eines Helden liefert sozusagen das Aition zu seinem späteren Gelingen oder Verderben«, schreibt Harbach.17 Das heißt, weil sich Herakles einmal für den Weg der Tugend entschieden hat, kann er später im Sinn dieser seiner Entscheidung handeln und sind die späteren Taten gleichsam tugendhaft. Das Scheideweg-Motiv wäre dann ein Reflexionsbild des Entscheidens, Herakles’ spätere Taten bildeten verkörperte Entscheidung. Das wäre in der Tat eine mythographische Lesart, die dann funktioniert, wenn man die einzelnen Mytheme im Sinn einer biographischen Konstruktion aufeinander bezieht. Dass es aber gerade dann auch zu Reibungen und Widersprüchen kommt, verdeutlichen beispielsweise die Omphale-Geschichte oder auch Herakles’ Wahnsinnstaten, etwa die Tötung seines Freunds Iphitos.18 16 Hermann Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, in: Collegium Philosophicum. Studien Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, hg. v. Ernst-Wolfgang Böckenförde u. a., Basel 1965, S. 118–140, hier S. 120. 17 Harbach, Wahl des Lebens (wie Anm. 8), S. 5. 18 Vgl. Schwab, Heraklessage (wie Anm. 10), S. 200.

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Abb. 3: Herakles mit dem kretischen Stier (Mosaik, 1. Hälfte 3. Jahrhundert), Llíria bei Valencia.

3. Prodikos: Die Ursprungserzählung Die Scheideweg-Episode wird erstmals in Xenophons »Memorabilien« (5./4. Jahrhundert v. Chr.) berichtet, und zwar in Gestalt einer Fabel des Prodikos, die selbst nicht überliefert ist. Xenophon lässt Sokrates einem jungen Mann namens Aristippos die Geschichte von Herakles am Scheideweg vortragen, die folgendermaßen beginnt: »Als Herakles vom Kind zum jungen Manne heranwuchs, in welchem Alter die Jünglinge bereits selbständig werden und offenbaren, ob sie sich für ihr Leben dem Weg der Tugend zuwenden werden oder dem des Lasters, da sei er in die Einsamkeit gegangen und habe sich niedergesetzt und unschlüssig überlegt, welchen von beiden Wegen er einschlagen solle. Und es seien ihm zwei Frauen von großer Gestalt erschienen und auf ihn zugekommen, die eine schön anzusehen und edel in ihrem Wesen, deren Schmuck Reinheit der Haut, Schamhaftigkeit der Augen und Sittsamkeit der Haltung waren, und in weißem Gewande; die andere dagegen wohlgenährt bis zur Fülle und Üppigkeit, die Haut geschminkt, so daß sie sich weißer und rosiger darzustellen schien, als sie war, die Haltung so, daß sie aufrechter zu sein schien als von Natur, die Augen weit geöffnet, und in einem Kleid, in dem ihre jugendlichen Reize

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besonders vorteilhaft in Erscheinung treten sollten; und sie habe wiederholt sich selbst betrachtet und auch darauf geachtet, ob ein anderer sie anschaue, und oft habe sie nach ihrem Schatten geblickt.«19

Beide Damen suchen Herakles für sich zu gewinnen. Die eine, Κακία, die Lasterhaftigkeit, verspricht ihm ewige Glückseligkeit und Genuss, ein Leben in Freuden (Εύδαιμονία) und ohne jegliche Mühen, während Ἀρετή, die Tugend, ihm vor Augen stellt, dass die Götter »nichts ohne Mühe und Anstrengung«20 gewähren, dass man Gutes tun, dem Staat dienen, arbeiten und etwas lernen muss. Tatsächlich sind es zwei Lebenswege, die hier zur Debatte stehen. So schaltet sich die Lasterhaftigkeit in die Schilderung ihrer Kollegin, der Tugend, mit den folgenden Worten ein: »Merkst du wohl, Herakles, welch schwierigen und langen Weg zur Lebensfreude dir dieses Weib vorschlägt? Ich dagegen werde dich den leichten und kurzen Weg zur Glückseligkeit führen.«21 Noch einmal hält die Tugend mit ihren Argumenten dagegen und stellt Herakles am Ende ihrer Rede tatsächlich den auch bei Carracci verbildlichten Dichterruhm in Aussicht: »Wenn aber das vorausbestimmte Lebensende kommt, dann liegen sie [die Tugendhaften] nicht in Vergessenheit ungeehrt da, sondern durch Loblieder gepriesen leben sie in der Erinnerung fort für alle Zeit.«22 So »unschlüssig« ­Herakles, der Erzählung zufolge, zu Beginn war, so eindeutig und unproblematisch scheint die Entscheidung für ihn zu sein – man erfährt nämlich rein gar nichts von etwaigen Überlegungen Herakles’, einem mit sich zu Rategehen, einem Abwägen und Vergleichen, einer Besinnung auf Vorbilder oder Ähnlichem. Der Bericht endet irritierenderweise sogar ohne die Entscheidung des Herakles explizit mitzuteilen.23 Es heißt abschließend lediglich: »Wenn du, Herakles, Sohn rechtschaffener Eltern, dich solchen Mühen unterzogen hast, dann ist es dir möglich, die vollkommene Glückseligkeit zu gewinnen.«24 Offensichtlich kann es gar nicht anders sein und ist im Wissen des Mythos vorgegeben, dass sich der Sohn des Zeus und der Alkmene nur für die Tugend entscheiden kann. Die Entscheidung für Κακία wäre mit Sicherheit keine günstige Voraussetzung für die späteren Taten des Herakles gewesen… Harbach vertritt die These, dass Prodikos Herakles’ Entscheidung ausspart, damit das Publikum als Schiedsrichter sie treffen kann. In jedem Fall scheint das Ergebnis klar zu sein, denn am Ende lässt Xenophon wieder Sokrates zu Aristippos sprechen:

19 Xenophon, Erinnerungen an Sokrates, Griechisch-deutsch, hg. v. Peter Jaerisch, München 1987, S. 91 (II 1, 21 f.). 20 Ebd., S. 93 (II , 1, 28). 21 Ebd., S. 95 (II , 1, 29). 22 Ebd., S. 99 (II , 1, 33). 23 Vgl. Harbach, Wahl des Lebens (wie Anm. 8), S. 105, 114. 24 Xenophon, Erinnerungen (wie Anm. 19), S. 99 (II , 1, 33).

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»So etwa schildert Prodikos die Belehrung des Herakles durch die Tugend; allerdings schmückte er seine Gedanken mit noch prächtigeren Worten aus als ich jetzt. Für dich aber, Aristippos, ist es nun wünschenswert, dies zu beherzigen und zu versuchen, auch für die Zukunft deines Lebens zu sorgen.«25

4. Helden des Entscheidens? Von einem veritablen Entscheidungskampf des Herakles ist bei Prodikos also nicht die Rede. Was Eva Schlotheuber in Bezug auf mittelalterliche Textzeugnisse festhält, gilt offensichtlich auch für den antiken mythologischen Kontext: Die Protagonisten sind keine zögernden, über sich reflektierenden Subjekte, die ihren selbstbestimmten Weg suchen.26 Herakles hat kein Innenleben. Er ist – wie das zitierte Ende der Erzählung vor Augen führt – ein Exempel, das heißt ein lehrreiches Beispiel für andere, wie ein gutes Leben zu führen sei. »Vom Individuum scheidet den Heros der Typus«, schreibt Walter Benjamin in seinem Essay über Goethes »Wahlverwandtschaften«.27 In diesem Sinn ist die Fabel durch die Jahrhunderte hinweg weitererzählt und entsprechend weiterverarbeitet worden. Schlotheuber weist darauf hin, dass sich die grundlegende Entscheidungssituation des jungen Mannes, verstanden als Weggabelung, in der Antike im Buchstaben Y, der littera mystica (siehe Abb. 4), verbildlichte, die als Erfindung des Philosophen und Mathematikers Pythagoras von Samos galt.28 Der Stamm des Y symbolisiert die Zeit der Kindheit, in der noch ›unentschieden‹ ist, ob das Kind den rechten, das heißt den tugendhaften Weg, oder den linken, das heißt den lasterhaften Weg wählen wird. Die Versuchung freilich besteht darin, dass der linke Arm breiter ist, dieser Weg also als leichter zu begehen erscheint als der rechte. Herakles am Scheideweg wird also zur Figur (im rhetorischen Sinn) für die moralisch richtige Entscheidung. Als mythischer Held hat er sich immer schon richtig entschieden – deshalb gibt es keinen inneren Kampf und deshalb muss der Prozess des Entscheidens auch nicht dargestellt werden. Dennoch oder gerade deshalb stellt sich die Frage, warum dieses Motiv in der Kunst- und Literaturgeschichte so häufig aufgegriffen wurde. Warum wird Herakles immer wieder in der Situation des Entscheidens dargestellt, wenn sowieso schon klar 25 Ebd. 26 Vgl. Eva Schlotheuber, Der Mensch am Scheideweg. Personkonzeptionen des Mittelalters, in: Gabriele Jancke / Claudia Ulbrich (Hg.), Vom Individuum zur Person. Neue Konzepte im Spannungsfeld von Autobiographietheorie und Selbstzeugnisforschung, Göttingen 2005, S. 71–96, v. a. S. 91 u. 96. 27 Walter Benjamin, Goethes Wahlverwandtschaften, in: Ders., Abhandlungen, Gesammelte Schriften, unter Mitwirkung von Theodor W.  Adorno / Gershom Scholem, hg. v. Rolf Tiedemann / Hermann Schweppenhäuser, Bd. 1.1, Frankfurt a. M. 1991, S. 123–201, v. a. S. 157. 28 Vgl. Schlotheuber, Mensch am Scheideweg (wie Anm. 26), S. 72.

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Abb. 4: Y  – littera mystica als Weggabelung. Links: Geofroy Tory, Champ Fleury, Paris 1529: Y-Signum mit Attributen aus Dantes ›Divina Commedia‹. Rechts: ebd.: Y-Signum mit Attributen des Lohnes und der Strafe.

ist, wie er sich entscheiden wird – und dass er die richtige Entscheidung treffen wird? Und warum zeigt der Held in der Szene des Entscheidens dennoch die Physiognomie einer schwierigen Entscheidung wie beispielsweise in Domenico Beccafumis Darstellung (siehe Abb. 5)? Bei Beccafumi hat der Held seine Entscheidung wohl bereits getroffen, denn die nackte Voluptas steht (deutlicher noch als bei Carracci) hinter ihm; er schaut sie nicht mehr an, hat sie bereits hinter sich gelassen. Hingegen sind Virtus und Herakles in ihren Körperhaltungen aufeinander bezogen. Gleichwohl erscheint Herakles’ gequälter Gesichtsausdruck immer noch geprägt von der »Zumutung«29 des Entscheidens.

5. Prodikos revisited Ist es tatsächlich so, dass man bei Prodikos gar nichts über die Modi von Hera­ kles’ Entscheiden aus dem Text erfährt? Ist er wirklich, wie Christof Rapp in einem verwandten Kontext formuliert hat, eine »Blackbox« des Entscheidens?30

29 Schimank, Entscheidungsgesellschaft (wie Anm. 7), S. 11. 30 In seinem Vortrag »Aspekte des Entscheidens in der antiken Moralphilosophie«, den er im Kolloquium des SFB »Kulturen des Entscheidens« am 10.01.2018 in Münster hielt, sprach Christof Rapp in Bezug auf Aristoteles’ Theorie des Entscheidens von der Entscheidung als einer »Blackbox«.

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Abb. 5: Domenico Beccafumi, Ercole al bivio (ca. 1520–1525), Museo Bardini, Florenz.

Immerhin heißt es in der bereits zitierten Stelle, dass Herakles, als er sich fragte, welches Leben er führen wolle, eines der Tugend oder eines des Lasters, in die Einsamkeit gegangen sei, um dieses zu klären. Herakles hat also etwas getan, ist aktiv geworden, um zu einer Entscheidung zu kommen. Der Rückzug in die Einsamkeit und auf sich selbst könnte in einem subjekttheoretischen Paradigma, das von Individualität und Innerlichkeit ausgeht, als mentalistisch (fehl-) interpretiert werden, im vorliegenden Fall geht es jedoch wohl eher darum, die Szene des Entscheidens als solche abzustecken. Wenn dann die beiden Damen, Κακία und Ἀρετή, erscheinen, treten Leitparadigmen der in Frage stehenden moralisch-kulturellen Ordnung auf die Bühne und stecken den Rahmen für Herakles’ Entscheiden ab. Harbach macht darauf aufmerksam, dass die Übersetzung von ›Κακία‹ und ›Ἀρετή‹ mit ›Laster‹ und ›Tugend‹ zu sehr nach einer moralischen Botschaft klinge, vielmehr stehe ›Ἀρετή‹ für die Disposition des Menschen, Erfolg zu haben, das heißt für »Qualitäten, die dem Einzelnen Erfolg in der Gesellschaft und Anerkennung durch seine Mitbürger garantieren, häufig gefolgt von materiellen Vorteilen.«31 Die vermeintliche Besinnung auf sich selbst ist somit immer schon auf das Soziale bezogen. Daher ist es auch durchaus aufschlussreich, wie die Personifikationen von Κακία und Ἀρετή dargestellt werden bzw. sich selbst in Szene setzen: Echte Schönheit und vorgetäuschte, auf Effekt zielende Schönheit stehen sich gegenüber. Zuerst spricht Κακία – sie drängt sich vor, während Ἀρετή ihren gemessenen Schritt beibehält. Κακία verspricht Herakles ewige Glückseligkeit und Genuss, während Ἀρετή darauf hinweist, dass sie bereits Herakles’ Eltern kenne und sein Wesen bei der Erziehung kennengelernt habe. Ἀρετή bietet ihm die Option, sich selbst »eifrig um das Gute und Heilige [zu] bemühen«; »Mühe und Anstrengung«32 gewährleisten Nachhaltigkeit. Ἀρετή konfrontiert Herakles mit einem differenzierten Aufgabenkatalog:

31 Harbach, Wahl des Lebens (wie Anm. 8), S. 29 f. 32 Xenophon, Erinnerungen (wie Anm. 19), S. 93 (II 1, 27).

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»[…] wenn du willst, daß dir die Götter gnädig seien, so mußt du die Götter verehren, wenn du von deinen Freunden geliebt werden willst, so mußt du deinen Freunden Gutes tun, wenn du vom Staat irgendwie geehrt zu werden wünschest, dann mußt du dem Staat nützen, wenn du von ganz Griechenland wegen deiner Tugend bewundert zu werden verlangst, dann mußt du versuchen, dich um Griechenland verdient zu machen […].«33

Umsonst gibt es nichts, heißt das: Das Gute muss durch Taten, Handlungen erworben werden. Κακία schaltet sich nochmals kurz dazwischen: Da sehe er, Herakles, wie schwierig und lang der Weg zur Lebensfreude sei, den die Kollegin vorschlage, während sie ihn den kurzen Weg zur Glückseligkeit führen könne.34 Daraufhin ergreift Ἀρετή wieder das Wort, um es dann auch nicht mehr abzugeben, und sie richtet eine lange Scheltrede an Κακία: »Du Elende, was hast du denn Gutes? Oder was weißt du Angenehmes, wenn du nichts dafür tun willst? Die du auch nicht das Verlangen nach dem Angenehmen abwartest, sondern dich mit allem füllst, ehe du danach Verlangen hast, die du issest, ehe du Hunger hast, und trinkst, ehe du Durst hast […]«.35

Etc., etc. – Ἀρετή redet sich richtiggehend in Rage, und Κακία hat nichts mehr zu melden. Auch Herakles kommt nicht mehr zu Wort, der ohnehin nicht viel gesagt hat, außer sich nach dem Namen von Κακία zu erkundigen.36 Mehr ist nun freilich auch gar nicht mehr nötig, denn es ist alles gesagt: Der Entscheidungskampf wurde als szenisches Rededuell ausgetragen. Dass es nicht zuletzt um Rhetorik geht, bestätigt auch Harbach, wenn sie schreibt: »Da beide Frauen je zwei Mal zu Wort kommen, ergibt sich eine vierstufige Entwicklung in der Argumentation, die an Antiphons viergliedrige Gerichtsreden, seine Tetralogien erinnert.«37 Die theatralische Selbstdarstellung der beiden Personifikationen dient der σύγκρισις, der vergleichenden Nebeneinanderstellung zum Zweck der Entscheidung, die auf Herakles’ Unterscheidungsvermögen, mithin, Harbach zufolge, auf den λόγος zielt. Entscheidenstheoretisch gesehen externalisiert38 der Auftritt von Κακία und Ἀρετή den Prozess des Entscheidens und bringt zugleich die Rahmenbedingungen der kulturellen Werteordnung auf die Bühne. Erscheint die Rhetorik39 als Ressource, um Entscheiden zu beeinflussen, stellt 33 34 35 36 37 38

Ebd., S. 94 f. (II 1, 28). Vgl. ebd., S. 95 (II 1, 29). Ebd., S. 95 (II 1, 30). Vgl. ebd., S. 93 (II 1, 26). Harbach, Wahl des Lebens (wie Anm. 8), S. 34. Zur ›Externalisierung‹ als Modus des Entscheidens vgl. auch den Einrichtungsantrag des Münsteraner SFB : Geplanter Sonderforschungsbereich 1150 Kulturen des Entscheidens. Finanzierungsantrag 01. Juli 2015 – 30. Juni 2019, Münster 2014, S. 17, 53 u. 56 f. 39 »Evidenzmangel und Handlungszwang sind die Voraussetzungen der rhetorischen Situation«, schreibt Hans Blumenberg: Ders., Anthropologische Annäherung an die Aktualität der Rhetorik, in: Ders. (Hg.), Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede,

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der kritische Vergleich eine Ressource40 dar, um Optionen gegeneinander abzuwägen. Und hier appelliert der Text mit Sicherheit an den kritischen Verstand derer, die den Text lesen oder hören.

6. Wahl und / oder Entscheidung? Die Geschichte von Herakles am Scheideweg wird auch unter der Überschrift »Die Wahl des Herakles« überliefert. Auch Panofsky, der im Bildteil seiner Studie durchgängig die Bildunterschrift »Die Entscheidung des Hercules« wählt, spricht im Text wiederholt von der »Herculeswahl«.41 Dies mag eine Nachlässigkeit sein; doch da die Entscheidenstheorie zwischen ›Wahl‹ und ›Entscheidung‹ unterscheidet, ist diese begriffliche bzw. kategoriale Unterscheidung in Bezug auf Herakles nochmals zu überdenken. Hermann Lübbe kennzeichnet den Unterschied zwischen ›Entscheidung‹ und ›Wahl‹ folgendermaßen: »In erster Linie interessiert philosophisch die Zeitlichkeitsstruktur der Entscheidungssituation. ›Entscheidung‹ heißt nicht ohne weiteres der Akt, sich auf eine unter sich ausschließenden Möglichkeiten, deren Vorzüge und Nachteile nicht völlig durchschaubar sind, festzulegen; ein solcher Akt hieße eher eine ›Wahl‹. Zur Entscheidung wird die Wahl erst unter den Wirkungen eines Zwangs, der sie unumgänglich macht. Die Entscheidungssituation hat ihre Schärfe darin, daß in ihr die Entscheidung selbst nur für eine gewisse Zeit hinausgeschoben werden kann: Die Entscheidungssituation ist befristet.«42

Wenn es der Zeitdruck ist, der aus der Wahl eine Entscheidung macht, dann ist die Entscheidung des Herakles am Scheideweg vielleicht tatsächlich eher eine Wahl, denn von einem Zeitdruck berichten die Quellen nichts. Das Geschehen spielt in mythischer Zeitlosigkeit, in der es per se keinen Zeitdruck geben kann. Uwe Schimank wendet sich dagegen, jeden Wahlakt als Entscheidung zu fassen, und plädiert dafür, routiniertes Wählen von bewusstem, Alternativen bedenkendem Entscheidungshandeln zu unterscheiden.43 Von routiniertem Wählen kann in Herakles’ Fall keine Rede sein. Dagegen sprechen die vielfältigen Rezeptionszeugnisse, die Herakles reflektierend am Scheideweg zeigen und damit gerade die Unterbrechung der Routinen festhalten. In seiner immer

Stuttgart 1981, S. 104–136, hier S. 117; vgl. auch Udo Friedrich, Erzähltes Leben – Zur Metaphorik und Diagrammatik des Wegs, in: LiLi. Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 174 (2014), S. 51–76, hier S. 66 f. 40 Vgl. Einrichtungsantrag »Kulturen des Entscheidens« (wie Anm. 38), S. 8, 11, 14, 17, 19–24, 28 f. u. 40. Zur Praxis des Vergleichens s. die Forschungen des Bielefelder SFB 1288 »Practices of Comparing«, https://www.uni-bielefeld.de/sfb1288/ (Stand: 19. April 2018). 41 Vgl. Panofsky, Hercules am Scheidewege (wie Anm. 1), S. 60, 128. 42 Lübbe, Theorie der Entscheidung (wie Anm. 16), S. 130. 43 Schimank, Entscheidungsgesellschaft (wie Anm. 7), S. 16, 42–49, 67 f.

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schon erfolgten Entscheidung für die Tugend scheint Herakles freilich denn doch wieder in seine mythische Routine zu verfallen… Entscheidenstheoretisch, könnte man sagen, steht Herakles zwischen Wahl und Entscheidung. Er hat die Wahl zwischen zwei Wegen und man weiß, dass er den der Tugend wählt – oder immer schon gewählt hat und, solange der Mythos erzählt wird, in alle Ewigkeit wählen wird. »Wenn Entscheidungen solche Handlungen sind, die ihre eigene Kontingenz reflektieren, bedeuten sie für die betreffenden Akteure stets eine zweifache Qual der Wahl«, schreibt Schimank. Jede Entscheidung erlegt »dem betreffenden Akteur zunächst die Ungewissheit auf, was er tun soll. Dies ist die Qual vor der Wahl. Sobald diese Qual durch den Entschluss, eine bestimmte und keine andere Alternative zu wählen, beendet und die Alternative in die Tat umgesetzt wird, wird die Ungewissheit in das Risiko transformiert, das Falsche getan zu haben […]. Das ist die Qual nach der Wahl.«44

Steht Herakles die ›Qual der Wahl‹ buchstäblich ins Gesicht geschrieben, so fällt sein Entscheiden genau in jene Lücke zwischen der ›Qual vor der Wahl‹ und der ›Qual nach der Wahl‹, die in den Text- und Bildzeugnissen des Narrativs ausgespart bleibt. Allerdings wäre zu fragen, ob die Wahl im Rückblick nicht doch – und Schimanks Diktion legt das nahe – Entscheiden war.

7. Entscheiden darstellen Wie auch immer: Die Frage bleibt, warum Herakles so häufig in seiner offensichtlich vertrackten Entscheidungssituation gezeigt wird, während doch immer schon klar ist, wie er sich entscheidet. Die Antwort könnte darin liegen, dass die späteren Rezeptionszeugnisse bereits ein verändertes Subjektverständnis und einen Herakles mit Innenleben voraussetzen, so dass das Motiv des Herakles am Scheideweg zumindest als echte Entscheidungssituation erscheint. Auch wenn feststeht, wie sich der jugendliche Held entscheiden wird, spielt möglicherweise dennoch die Vorstellung mit, was wäre, wenn Herakles sich vielleicht einmal anders entscheiden würde… Mit Blick auf Alexis’ Fragment Linos verweist Harbach darauf, dass es tatsächlich schon früh parodistische Versionen des Narrativs gab, in denen sich Herakles für die Seite des Genusses entscheidet.45 Für die zahlreichen Bildkünstler, die das Motiv immer wieder aufgegriffen haben, spielt sicherlich die Motivation, ihr Können an dem bekannten Thema zu erproben, ihm vielleicht noch neue Dimensionen abzugewinnen, es dem Geschmack der eigenen Zeit anzupassen etc., eine gegenüber entscheidenstheoretischen Erwägungen vorgeordnete Rolle. Aber möglicherweise stellt es aus einer modernen, subjektkritischen Perspektive doch auch eine künstlerische Herausforderung

44 Vgl. ebd., S. 51. 45 Vgl. Harbach, Wahl des Lebens (wie Anm. 8), S. 38.

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dar, die Spannung des Entscheidungsdilemmas ins Bild zu fassen und der künstlerischen Bildkomposition die Reflexion des Entscheidens aufzutragen. Die Rezeption hält gleichsam mit Herakles am Scheideweg inne, so dass sich in dem grübelnden Helden an der Wegkreuzung zwei Perspektiven treffen, die der mythischen Figur selbst, die sich nicht zu entscheiden braucht, weil sie sich auf mythische Weise immer schon entschieden hat, und die des nachgeborenen Künstlers, der die Entscheidenssituation nochmals nachvollzieht, allerdings aus einer je spezifischen historischen Zeitgenossenschaft heraus. Zwar wissen die nachschaffenden Künstler um die mythische Entscheidung ihres Helden, aber sie drehen den Film gleichsam nochmals zurück und halten ihn im Moment der Entscheidung an. Und es ist in der Tat dieser angehaltene Augenblick, der eine je spezifische Raum-Zeit-Konstellation eröffnet. Die Zeit scheint angehalten, dafür öffnet sich eine räumliche Bühne des Entscheidens. In der Darstellung von Johann Heinrich Tischbein d. Ä. (siehe Abb. 7) wird denn auch die Perspektive des Malers kompositionstragend: Ist nämlich bei Carracci, Beccafumi, aber auch bei Batoni (siehe Abb. 6) die Tugendseite rechts aus der Perspektive Herakles’, befindet sich die ›rechte‹, das heißt die gute Seite bei Tischbein rechts vom Betrachter (und entsprechend auch vom Maler) aus gesehen. Bemerkenswerterweise ist hier, wie auch bei Batoni, das Laster dem weniger gequält wirkenden Herakles körperlich näher. Auch in Joseph Anton Kochs Darstellung (siehe Abb. 8) lässt sich Herakles vom Laster berühren, was ihn wiederum verstärkt zum Grübeln bringt. Dass das Setting hier bis hin zum Tempel auf dem Tugendberg klassisch-antikisierend ist, könnte man als Versuch der Annäherung an den Mythos lesen, aber letztlich ist die Ausstaffierung ebenso wie auch bei den anderen Versionen vom in diesem Fall klassizistischen Zeitgeschmack des Künstlers bestimmt. Die Überkreuzung von Figuren- und Betrachterperspektive scheint jedenfalls das Paradox zu erklären, dass Herakles am Scheideweg in einer Entscheidungssituation gezeigt wird, in der es nichts zu entscheiden gibt. Will sagen: Für die Künstler, die das Narrativ von Herakles am Scheideweg aus ihrer jeweiligen historischen Perspektive aufgreifen, geht es sehr wohl um eine (künstlerische) Entscheidung! Was aber erfährt man in den genannten Text- und Bildzeugnissen nun tatsächlich über den Prozess des Entscheidens? In Adamus Ghisis Stich (siehe Abb. 9) wird mit einem Cicero-Zitat46 qua subscriptio kommuniziert, dass die Überlegung, welche Lebensart man wählen soll, unter allen die schwierigste sei. Möglicherweise gibt die Darstellung auch zu verstehen, dass ein gewisser Reflexionsabstand, wie er hier ins Bild gesetzt ist, bei der Bewältigung dieser Schwierigkeit zumindest hilft. Georg Friedrich Händels »Musical Interlude« »The Choice of Hercules« von 1751 (HWV 69), zu dem Thomas Morell das Libretto schrieb, bietet ebenfalls den 46 Cic. De offic. I, 117.

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Abb. 6: Pompeo Girolamo Batoni, Herkules am Scheideweg (1748), Liechtenstein Museum, Wien.

beiden Damen Pleasure und Virtue (beide Sopran) eine Bühne, auf der Herkules zunächst fast wie eine Nebenfigur erscheint, zumal er sich erst ungefähr nach der Hälfte des Stücks zu Wort meldet.47 Wie bei Prodikos werden die beiden alternativen Optionen, zwischen denen sich Herkules zu entscheiden hat, erst im rhetorischen Wettstreit, das heißt prozessual, hervorgebracht, expliziert und qualifiziert. Und wie bei Prodikos preisen sich beide an. Mehr noch als dort jedoch ist Herkules zwischen der lasterhaften Glückseligkeit und der wahren Tugend hin- und hergerissen. Und dieses sein Hin- und Hergerissensein am Scheideweg wird szenisch-musikalisch wirkungsvoll inszeniert:

47 Händels Oper »Hercules« aus dem Jahr 1745 dramatisiert den Tod des Helden.

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Abb. 7: Johann Heinrich Tischbein d. Ä., Herkules am Scheideweg (1779), Deutsches Historisches Museum, Berlin. »Hercules Where shall I go? Pleasure To yonder breezy plain! There sweetly swim in pleasure’s winding stream. Hercules Where shall I go? Virtue To yonder lofty fane! There brightly bask in virtue’s radiant beam Hercules Where, where shall I go?«48

48 Georg Friedrich Händel, The Choice of Hercules (1751). A Musical Interlude, Words by Thomas Morell, http://opera.standford/iu/libretti/choice.htm (Stand: 08. Januar 2018), S. 18 (Trio, 5).

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Abb. 8: Joseph Anton Koch, Herkules am Scheideweg (1793), Kunstmuseum Basel.

Die im Libretto dreimal, in der musikalischen Realisierung noch mehrfach wiederholte Frage »Where shall I go?« spitzt das Entscheidungsdilemma dramatisch zu und erzeugt gleichsam eine musikalische Verräumlichung des Entscheidensmoments, indem sich beide Wege nochmals zur Darstellung bringen. Im Trio vermischen sich die Stimmen von Virtue, Pleasure und Herkules, dessen drängendes »Where, where?« den dilemmatischen Zusammenklang affektreich grundiert. Das Argument, das Pleasure bei Händel geltend macht, ist, dass Herkules schon in der Kindheit Tugend gezeigt hat – und damit die Tugend sein wahres Wesen ist: »His childhood, in its earliest rise, Bespoke him gen’rous, brave and wise, And manhood shall confirm his choice.«49

49 Ebd., S. 7 (Air, 3).

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Abb. 9: Adamus Ghisi sive Scultori, Herkules am Scheideweg (1547–87) (vermutl. nach Giulio Romano), Metropolitan Museum of Art, New York.

Virtue erinnert Herkules an seine himmlische Geburt und weist ihm entsprechend den Weg nach oben. Tugend und Laster sind hier klar an eine Oben / UntenTopologie gebunden. Überdies verspricht Virtue Herkules in der Tat Ruhm, wie er auch in Carraccis Gemälde ins Bild gefasst ist. Bemerkenswerterweise sieht Herkules gegenüber den Verlockungen von Pleasure seine Vernunft bedroht: »Oh, whither, reason, dost thou fly?«50 Wie bei Prodikos bleibt die Entscheidung an Vernunftgründe gebunden: Kontinuität und Nachhaltigkeit sind es, die den Tugendhaften sich für die Tugend entscheiden lassen! Aus der Feder von Christoph Martin Wieland stammt ein »lyrisches Drama« mit dem Titel »Die Wahl des Herkules«,51 das den Helden der Entscheidung ganz im Gewand des Rokoko zeigt. Dieser Herkules hat, ganz zeitgemäß, offenbar ein Innenleben. Er betritt auch als erster die Bühne. »Die Scene ist in einer waldigen 50 Ebd., S. 17 (Recitative, 5). 51 Christoph Martin Wieland, Die Wahl des Herkules. Ein lyrisches Drama. In Musik gesetzt von Anton Schweitzer und am 17ten Geburtstage des damahligen Herrn Erbprinzen von Sachsen-Weimar und Eisenach auf dem Hoftheater zu Weimar im Jahre 1773 aufgeführt, in: Ders., Sämtliche Werke, hg. v. der Hamburger Stiftung zur Förderung von Wissenschaft und Kultur in Zusammenarbeit mit dem »Wieland Archiv«, Biberach / R iß, und Dr. Hans Radspieler, Neu-Ulm, T. VIII , Bd. 26: Singspiele und Abhandlungen, Hamburg 1984, S. 155–186.

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Einöde«,52 die Herkules offensichtlich aufgesucht hat, um einmal wieder ganz bei sich zu sein: »Hier athm’ ich wieder frey, empfinde Des Daseyns Werth, bin wieder mein!«53

Wielands Herkules scheint etwas zivilisationsmüde und sucht sich selbst, ganz dem Zeitgeschmack entsprechend, in der Natur. Da stellt sich nun einmal mehr die Frage, ob der sich selbst reflektierende Protagonist über die Gründe seiner Entscheidung, das heißt über sein Entscheiden Auskunft zu geben vermag. Herkules hat den »unbehorchten Hain« aufgesucht, um die Götter zu fragen, was es für eine Stimme ist, die er »tief im Heiligthum / Der Seele« hört. Von den Göttern möchte er wissen, wer er ist, denn er spürt eine »Ungeduld / Nach Thaten«54 in sich und hat besorgt festgestellt, dass er anders ist als die anderen Erdensöhne. Die Dringlichkeit seiner Selbstsuche belegt die wiederholte Frage »Wer bin ich?« und es ist das Gefühl (»Ich fühl’s, ich fühl’s«55), das ihm eine Ahnung von seiner göttlichen Natur vermittelt. Seine Verliebtheit in ein Mädchen, Dejanira, lässt ihn indessen an seiner Göttlichkeit zweifeln. Wieland fügt hier proleptisch den Mythenstrang vom Tod des Helden durch das vergiftete Gewand ein, das Herkules aus der Hand seiner (späteren) Gemahlin Dejanira erhält. Hier aber nun kämpft der Zaudernde mit sich, weil er einerseits seiner Liebe zu Dejanira zu erliegen droht, andererseits seiner göttlichen Berufung folgen möchte. Dabei ist er sich selbst ein Rätsel: »Unglücklicher! Bin ich es, dessen Worte Sein eignes Ohr empören? O wie räthselhaft noch immer Mir selbst! Wie groß! Wie klein!«56

Wielands Herkules ist sich also selbst eine ›Blackbox‹, doch immerhin reflektiert er, dass es so ist. Da verwandelt sich die Szene plötzlich »in einen romantischen Lustgarten«57 und Kakia hat ihren Auftritt, die versucht, den Strauchelnden auf ihre Seite zu ziehen: Sie verspricht ihm wie schon ihre Vorgängerinnen ein genussreiches Leben und führt ihm seine Situation mit den folgenden Worten vor Augen: »Sprichst mit dir selber, staunst, Verlierst dich in Gedanken, zweifelst welchen Weg Ins Leben du erwählen sollst?«58 52 53 54 55 56 57 58

Ebd., S. 156. Ebd., S. 157. Ebd., S. 158. Ebd., S. 159. Ebd., S. 161. Ebd., S. 163. Ebd., S. 164.

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Das ›Sprechen mit sich selbst‹ ist nun wiederum ein Hinweis darauf, dass die externalisierte Szene von Herkules’ Begegnung mit den beiden Frauen auf eine innere Bühne zurückzuprojizieren ist. Kakia präsentiert sich Herkules, der sich bereits auf dem Weg zum mit sich selbst zerfallenen Subjekt zu befinden scheint, wie schon bei Prodikos als Εύδαιμονία und führt ihm vor Augen, dass selbst die Götter nur durch sie ihr »ewig sorgenfreyes Wonneleben«59 leben können. Herkules allerdings will nicht nur wissen, was die Götter genießen, sondern auch, »was sie thun. / Womit verdienen sie so schön belohnt zu werden?«60 Herkules scheint hier aus dem ihm eigenen Tatendrang heraus zu sprechen; man könnte aber auch meinen, er habe bereits die protestantische Tugendethik verinnerlicht. Dass man sich sein Glück verdienen muss, redet Kakia ihm allerdings sofort aus und Herkules scheint ihr nun auch folgen zu wollen. Schlagartig verwandelt sich die Szene wieder in »eine rauhe Wildniß, die auf einem steilen, mit Dornen bewachsenen Pfade zum Gipfel eines hohen Berges führt, wo aus einem Lorbeerwäldchen die Zinne des Tugendtempels hervor glänzt.«61 Die beiden zur Wahl stehenden Lebenswege sind hier in eine ihnen jeweils entsprechende animierte Landschaft eingebunden! Nun erscheint Arete und gebietet Einhalt. Herkules, der Wankelmütige, erkennt in ihr reumütig sofort seine innere Stimme und Arete erinnert ihn daran, dass sie »durch den Mund / Der Weisen, die [ihn] bildeten«, das »göttliche Gefühl des Adels«62 in ihm entflammte. Hier wird nun also Bildung als Ressource des Entscheidens aufgefahren und tatsächlich Herkules’ Begegnung mit Arete und Kakia zum großen Showdown der Lebensentscheidung stilisiert: »[…] Dieser große Tag Soll deines ganzen Lebens Entscheidung seyn.«63

Kakia aber lässt sich ihre Beute nicht so schnell entreißen und bringt als eine andere Ressource des Entscheidens die Zeit ins Spiel, deren entscheidenskonstitutive Bedeutung bereits vorgehoben wurde.64 Sie erinnert Herkules daran, dass »die Zeit […] kostbar, kurz das Leben« ist und er sich mit Aretes Wortgepränge die Augenblicke nicht rauben lassen soll. Arete hält mit dem Argument der »Wahrheit«65 dagegen, die keine Rednerkünste benötige. Und sie führt ihm vor Augen, dass man sich sein Glück verdienen müsse: »Soll dir die Erde ihre Schätze zollen, Du mußt sie bauen! Soll 59 Ebd., S. 165. 60 Ebd., S. 166. 61 Ebd., S. 168. 62 Ebd., S. 169. 63 Ebd. 64 Lübbe, Theorie der Entscheidung (wie Anm. 16), S. 130. 65 Vgl. Wieland, Wahl des Herkules (wie Anm. 51), S. 169.

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Dein Vaterland dich ehren, Arbeit’ für sein Glück, für seinen Ruhm. Soll Fama deinen Nahmen Den Völkern und der Nachwelt nennen, Verdien’s um sie!«66

Rede und Gegenrede gehen noch eine Weile hin und her und Wieland lässt Arete, die »Natur« und »Gesetz«67 für sich in Anspruch nimmt, sich auch direkt an ihre Widersacherin Kakia wenden, um auf diese Weise den Vergleich als Ressource des Entscheidens dramatisch zuzuspitzen. Kakia zieht ihren letzten Trumpf, die schöne Dejanira, die Herkules zum Lohn erhalte, wenn er sich für Kakia entscheide, und der arme Herkules weiß nun gar nicht mehr, was er soll. Er versucht noch matt, die Entscheidung zu vermeiden, indem er zweimal die Frage stellt, ob »nicht für beide Raum«68 in seiner Seele bzw. seinem Herzen sei. Der Entscheidungskampf scheint sich, ohne dass sich eine Lösung abzeichnet, hinzuziehen, da greift Arete zu einem Trick: Wer zwischen ihr und ihrer Feindin wanke, so sagt sie listig, habe ihr schon entsagt und darum verlasse sie den Zaudernden jetzt: »Itzt«.69 Das heißt, auch sie setzt auf den Augenblick, indem sie insinuiert, dass die Entscheidung bereits gefallen sei. Es ist der Schock dieser Drohung, ihn ›itzt‹ zu verlassen, der Herkules den entscheidenden Anstoß gibt und ihn sich nun vorbehaltlos zu Arete bekennen lässt, so dass sich, statt Arete, Kakia nun nur noch zurückziehen kann. Die Zuspitzung der Entscheidung ist von Wieland dramaturgisch raffiniert gestaltet: Aretes Rückzug hätte den Entscheidensprozess beendet und Herkules, der sich durch sein Schwanken in ihren Augen schon entschieden hatte, die Entscheidung abgenommen. Aber genau dieser Druck mobilisiert den Entscheider Herkules, der sich ja eigentlich auch entscheiden will, ja, sich entscheiden muss, denn so will es schließlich das mythische Narrativ. Im Unterschied zu den früheren Versionen reizt Wieland die Konstellation jedoch bis zum Letzten aus, durchleuchtet bis ins Einzelne die argumentativen Möglichkeiten beider Positionen – und lässt das Ganze in einer Erpressung kulminieren! Der Moment des Entscheidens erscheint also als höchst prekär: Gerade weil sich Herkules nicht entscheiden kann, setzt ihn Arete unter Druck und erzwingt so eine Entscheidung. Von einer ›rationalen‹ Entscheidung  – was immer das wäre – kann also keine Rede sein. Der Schluss ist schnell erzählt: Herkules und Arete besingen ihre Zusammengehörigkeit und bringen die Spezifik der Kon­ stellation auf den Punkt, wenn sie sich gegenseitig versichern, den / die jeweils andere / n schon seit eh und je »auserkohren« zu haben.70 Wer hat nun wen 66 67 68 69 70

Ebd., S. 170. Ebd., S. 172. Ebd., S. 178. Ebd., S. 180. Ebd., S. 185 f.

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gewählt, möchte man fragen: Herakles die Tugend oder die Tugend Herakles? Dass beide sich gegenseitig gewählt haben, macht Herakles einerseits zum Entscheider, andererseits zum Objekt der Entscheidung. Man könnte auch sagen, das Narrativ lässt Subjekt und Objekt der Entscheidung zusammenfallen und bekräftigt so die Unausweichlichkeit der im Mythos immer schon vorgegebenen Entscheidung. Gleichwohl bieten sich den diversen Bearbeitern des mythologischen Narrativs unterschiedliche Möglichkeiten seiner historischen Ausgestaltung. Will sagen: Im Rahmen des immer schon Entschiedenen werden qua Darstellung historisch wandelbare Motivierungen ethischer und ästhetischer Art lesbar.

8. Exemplum, oder das Narrativ als Ressource Die Tatsache, dass Wielands lyrisches Drama 1773 zum 17. Geburtstag des Erbprinzen von Sachsen-Weimar und Eisenach am Weimarer Hoftheater aufgeführt wurde, demonstriert, dass der sich für die Tugend entscheidende Herakles als bereits topisch gewordenes paränetisches Bild in der Fürstenerziehung funktionalisiert wurde. So setzt etwa auch die Autobiographie Karls  IV., die »Vita Caroli Quarti«, aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts mit einer Reflexion über das sündige und das Leben in Christus ein und suggeriert, dass man sich im Leben grundsätzlich zu entscheiden habe, welchen Lebensweg man wählt.71 Für die fürstliche Selbstdarstellung empfiehlt sich in jedem Fall der Weg der Tugend.72 Mit Mt 7,13 hat die Scheidewegsymbolik auch ihre explizit christliche Variante: »Gehet ein durch die enge Pforte! Denn die Pforte ist weit und der Weg ist breit, der zum Verderben hinführt, und viele sind es, die auf ihm hineingehen; denn die Pforte ist eng und der Weg ist schmal, der zum Leben hinführt, und wenige sind es, die ihn finden.«73

Ein Exempel war Herakles schon bei Prodikos. Und das Exempel ist immer auf ein Publikum bezogen. Es geht also gar nicht so sehr um die Entscheidung des Herakles, dessen Entscheidung für die Tugend feststeht und der aus guten Gründen eine ›Blackbox‹ ist, sondern der Einsatz des Exempels verlagert das Entscheiden in einen sozialen Vorgang. So soll sich der junge Mann Aristippos, dem sein Lehrer Sokrates das Exempel von Herakles am Scheideweg vorlegt, mit Hilfe ebendieses Exempels als einer Ressource des Entscheidens richtig entscheiden. Das Entscheiden wird zum Akt sozialer Interaktion. 71 Vgl. Vita Caroli Quarti. Die Autobiographie Karls IV, Einführung, Übersetzung und Kommentar von Eugen Hillenbrand, Stuttgart 1979, S. 67–73. 72 Vgl. auch Bernd Effe, Held und Literatur. Der Funktionswandel des Herakles-Mythos in der griechischen Literatur, in: Poetica 12 (1980), S. 145–166, hier S. 149: »Die strahlende ἀρετή des mythischen Helden, die sich siegreich gegen alle Widrigkeiten behauptet, bot sich geradezu als Leitbild aristokratischen Selbst- und Wertbewußtseins an […].« 73 Die Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments, Zürich 181982, NT S. 13.

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Das bekannte christliche Erbauungsbild vom breiten und vom schmalen Weg (siehe Abb. 10) beansprucht Exempel für viele zu sein, wie der Trubel auf dem Bild nach Reihlen zu verstehen gibt. Das Narrativ des tugendhaften Entscheiders wird auch hier zur Ressource des Entscheidens. Fragt sich nur, ob das Entscheiden des Ausnahmehelden als Exempel für die Erdensöhne taugt, denen gegenüber Wielands Herkules bereits seinen befremdlichen Abstand konstatiert. Da schickt Goethe nochmals einen anderen Herkules ins Rennen. In seiner Farce »Götter Helden und Wieland« aus dem Jahr 1773 lässt er einen Herkules auftreten, der auf sein tatkräftiges Alter Ego setzt und sich über das zurechtgestutzte, sich von Prodikos herschreibende Herkules-Bild Wielands mokiert.74 Mit ›Tugend‹ und ›Laster‹ im Wieland’schen Sinn kann Goethes Protagonist nicht viel anfangen. An den in der Farce persönlich auftretenden Wieland wendet er sich mit den Worten: »Dadurch wird eben alles so halb bei euch daß ihr euch Tugend und Laster als zwei Extrema vorstellt zwischen denen ihr schwankt. Anstatt euern Mittelzustand als den positiven anzusehn und den besten, wies eure Bauern und Knechte und Mägde noch tun. […] Will dir das nicht in Kopf. Aber des Prodikos Herkules, das ist dein Mann. Eines Schulmeisters Herkules. Ein unbärtiger Sylvio75 am Scheideweg. Wären mir die Weiber begegnet [gemeint sind Kakia und Arete; M. W.-E.], siehst du eine unter den Arm, eine unter den, und alle beide hätten mit fortgemußt.«76

»Herkules als ›Stürmer und Dränger‹ löst [hier] den amorumspielten Jüngling«77 Wielands ab. Warum sich entscheiden, wenn man beide(s) haben kann – und zugleich beide wegschafft?78

9. Ein (leicht ketzerisches) Fazit Herakles am Scheideweg ist ein Reflexionsbild des Entscheidens. Das Narrativ präsentiert einen Protagonisten, der die Problematik des Sich-entscheidenMüssens verkörpert. Zwar hat sich Herakles immer schon entschieden, aber 74 Vgl. dazu auch Martina Wagner-Egelhaaf, Sich entscheiden. Momente der Autobiographie bei Goethe, Göttingen 2020, S. 47 f. u. 164–168. 75 Dies ist eine Anspielung auf Wielands 1764 erschienenen satirischen, stilistisch dem Rokoko verhafteten Roman »Der Sieg der Natur über die Schwärmerey, oder die Abentheuer des Don Sylvio von Rosalva. Eine Geschichte worinn alles Wunderbare natürlich zugeht«. 76 Johann Wolfgang Goethe, Götter Helden und Wieland, in: Ders., Dramen 1765–1775, unter Mitarbeit von Peter Huber, hg. v. Dieter Borchmeyer, in: Ders., Sämtliche Werke. Briefe, Tagebücher und Gespräche, 40 Bde., hg. v. Dieter Borchmeyer u. a., 1. Abt.: Sämtliche Werke, Bd. 4, Frankfurt a. M. 1985, S. 436; vgl. S. 435. 77 Kimmich, Herakles (wie Anm. 9), S. 179. 78 Zum Mittelweg vgl. auch Friedrich, Erzähltes Leben (wie Anm. 39), S. 72–76.

Herakles – (k)ein Entscheider?   

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Abb. 10: Paul Beckmann, Der breite und der schmale Weg (Bild nach Charlotte Reihlen, Orig. 1866).

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Martina Wagner-Egelhaaf

trotzdem stellt der scheinbar offene Moment der Entscheidung eine dauerhafte Herausforderung für die künstlerische und literarische Gestaltung dar, die das Entscheiden selbst szenisch und zeitspezifisch jeweils verschieden ausgestaltet. Handeln und Entscheiden sind im Herakles-Mythos eng aufeinander bezogen: Einerseits lässt er den Taten das Entscheiden vorausgehen, andererseits zeigt das Narrativ den ›Mann der Tat‹ am Scheideweg sitzend in einer Haltung, in der er gerade nicht handelt. Dies legt den Gedanken nahe, dass das Entscheiden die allen anderen Taten vorausgehende, eigentlich herkulische Arbeit ist. Die Popularisierung zum (christlichen) Exempel, das auf seine Weise genauso rhetorisch ist wie die Reden von Kakia und Arete, macht aus der Handlungsanweisung des Wegweisers ein Kreuz bzw. das Kreuz zum Wegweiser (siehe Abb. 11), der das Entscheiden insofern erleichtern soll, als er die Schilderung der Wege vorgreifend entlarvt: Das bunte Leben links führt klar zu »Tod und Verdammnis«, während der ›rechte‹ Weg echtes »Leben und Seligkeit« verspricht, wo εὐδαιμονία bei Herakles doch gerade der falsche Weg war. Hier ist es zu einer bemerkenswerten Umbesetzung der Werte gekommen: Erschien ›ewige Glückseligkeit‹ bei Prodikos als trügerisches Versprechen, wird der christliche Herkules mit einem vergleichbaren Angebot auf den ›richtigen‹ Weg gelockt. Literarische und bildkünstlerische Zeugnisse setzen sich, wie zu zeigen war, mit überlieferten Mythen und Semantiken des Entscheidens kritisch und in ihrer Kritik auf ästhetisch produktive Weise auseinander, indem sie vorgegebene Muster um-, das heißt jeweils neu rahmen. Die Frage des Entscheidens wird so in das Medium selbst verlagert und nicht zuletzt auch zu einer Frage ästhetischen Entscheidens.

Abb. 11: Ausschnitt aus Paul Beckmann, Der breite und der schmale Weg (wie Abb. 10).

Herakles – (k)ein Entscheider?   

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Semantiken und Narrative des Entscheidens in modernen und gegenwärtigen Gesellschaften

Carolin Rocks

(Wie) Entscheiden Held*innen? Überlegungen zum Verhältnis von politischem Heroismus und Entscheiden im Drama um 1800

1. Helden als Subjekte und Objekte politischen Entscheidens: Webers Theorie des Charismas Als Held*in gilt, wer Besonderes, etwas das gemeinmenschliche Maß Überschreitendes tut und dafür Anerkennung oder sogar Ruhm erfährt. Ganz in diesem Sinne heißt es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Zedlers »Universal-Lexicon«: »Held, lat. Heros, ist einer, der […] durch tapfere Thaten Ruhm erlanget, und sich über den gemeinen Stand derer Menschen erhoben.«1 Präzisiert man die Frage nach dem Helden als Frage nach den Merkmalen eines dezidiert politischen Heroismus, der im Mittelpunkt der folgenden Überlegungen zum Problem des Entscheidens im Drama Schillers und Kleists steht, so stellen sich die beiden bei Zedler angeführten Konstituenten als maßgebliche heraus. Auch und besonders auf politischem Terrain erlangt Heldenstatus, wer Außergewöhnliches tut und wessen Handeln in der Folge die anerkennende oder sogar bewundernde Rezeption durch ein Kollektiv erfährt. Dass sich politischer Heroismus kaum ohne die Instanz der Rezipient*innen denken lässt, demonstriert darüber hinaus die vielleicht einschlägigste theoretische Fassung politischen Heldentums in der Moderne. So konzipiert Max Weber am Beginn des 20. Jahrhunderts Charisma als eine spezifische Relation zwischen dem Herrschenden und den Beherrschten, deren Legitimität »auf der außeralltäglichen Hingabe an die Heiligkeit oder die Heldenkraft oder die Vorbildlichkeit einer Person und der durch sie offenbarten oder geschaffenen Ordnungen«2 beruht. Der an dieser Stelle als ›Hingabe‹ an eine besonders befähigte Ausnahmeerscheinung konturierte Grund charismatischer Autorität wird von Weber alternativ auch als Glaubensakt3 sowie als Resultat einer gefühlsgeleiteten Bewertung4 durch eine Gemeinschaft ausgewiesen. 1 Art. ›Held‹, in: Johann Heinrich Zedler, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschaften und Künste. Welche bißhero durch menschlichen Verstand und Witz erfunden und verbessert worden, Bd. 12, Leipzig 1735, Sp. 1214 f. 2 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Soziologie. Unvollendet 1919–1920, in: Horst Baier u. a. (Hg.), Max Weber Gesamtausgabe, Abt. 1: Schriften und Reden, Bd. 23, hg. v. Knut Borchardt u. a., Tübingen 2013, Text auf S. 143–600, hier S. 453. 3 Ebd., S. 454. 4 Ebd., S. 490 u. 492.

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Ausgehend von der hier als Perspektive gewählten Weber’schen Herrschaftstypologie geht es im Folgenden um die Bedeutung von Held*innen sowie Charismatiker*innen für politische Dezisionsvorgänge. Politisches Entscheiden wird dabei als Prozess verstanden, an dessen Ende nicht mehr verschiedene Handlungsalternativen zur Diskussion stehen, sondern der in der Wahl, in der institutionellen Fixierung und Umsetzung einer Option mündet. Im Rahmen des von Weber entworfenen Profils charismatischer Herrschaft schlägt sich das Problem des Entscheidens, so meine Ausgangsbeobachtung, in zweifacher Hinsicht auf der Ebene politischen Handelns nieder: Charismatische Figuren können einerseits Subjekte, andererseits Objekte des Entscheidens sein; im letzteren Sinne ermöglichen sie kollektive Entscheidungen und gemeinschaftliches Handeln. Charismatiker*innen sind dann temporär Subjekte bzw. Hauptakteur*innen politischen Entscheidens, wenn sie, für einen gewissen Zeitraum, als Herrschende fungieren. Wichtig dabei ist, dass charismatische Herrschaft Weber zufolge stets eine Phase der Transition darstellt. Geradewegs kontrastiv zu den beiden »Alltags-Formen der Herrschaft«,5 zur rationalen sowie zur traditionalen Herrschaft, ist charismatische Führung ›außeralltäglich‹, insofern sie grundsätzlich neue Herrschaftsstrukturen ins Werk setzt und in ihrer ursprünglichen Funktionsweise nicht auf Dauer gestellt werden kann.6 Das bedeute konsequentermaßen eine Absage an die jeweils geltenden tradierten oder kodifizierten politischen Grundsätze: Charismatische Herrschaft kenne »kein Reglement, keine abstrakten Rechtssätze«,7 sondern fuße auf »aktuelle[n] Rechtsschöpfungen von Fall zu Fall«.8 Beschrieben wird hier ein genuin spontaner, diskontinuierlicher, situationsbezogener und nicht zuletzt kreativ-schöpferischer politischer Entscheidungsmodus. Webers Skizze einer solchen Herrschaftspraxis betont überdies, dass die vom Charismatiker geschaffenen, »neue[n] Gebote«9 Prinzipien darstellen, die gänzlich aus esoterischen Kommunikationskonstellationen – etwa aus »Offenbarung, Orakel, Eingebung«10 – hervorgehen. Wenn sich der Charismatiker dergestalt ins ›Gespräch‹ mit übernatürlichen Instanzen begibt, wird die Entscheidungsgenese als Vorgang konturiert, der für die jeweilige Anhängerschaft intransparent bleiben muss. Der innovative Zug charismatischer Herrschaft ist denn auch der Grund dafür, dass Weber sie als »revolutionäre Macht«11 einstuft. An dieser Stelle jedoch wird der Charismatiker nicht mehr als Subjekt des Entscheidens fokussiert. Auf einer anderen Ebene des politischen Handlungsentscheids ist Charisma 5 Ebd., S. 494. 6 Ebd., S. 498. 7 Ebd., S. 494. 8 Ebd. 9 Ebd. 10 Ebd. 11 Ebd., S. 497.

(Wie) Entscheiden Held*innen?  

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gleichwohl nach wie vor bedeutsam, und zwar als maßgeblicher Ermöglichungsgrund eines kollektiven Entscheidens. Charisma kann »eine Wandlung der zentralen Gesinnungs- und Tatenrichtung unter völliger Neuorientierung aller Einstellungen zu allen einzelnen Lebensformen und zur ›Welt‹ überhaupt bedeute[n]«.12 Damit verschiebt sich die Aufmerksamkeit hin zu einem hier nicht spezifizierten Kollektiv – den Träger*innen jener Gesinnungen und Einstellungen –, das sich enthusiastisch affiziert13 in seinem politischen Handeln an der charismatisch transportierten, neuen ›Weltsicht‹ orientiert; Charisma stellt, so Weber prägnant, eine wirkmächtige »Orientierungsrichtung […] des Handelns« dar.14 Es geht also darum, wie sich eine politische Gemeinschaft auf der Grundlage ihres affektiven Zuspruchs zum Charismatiker als Handlungseinheit formiert – pointiert beschreibt Horn den Charismatiker daher auch als »Figur einer sozialen Zentrierung«.15 Das Charisma erhält in diesem Szenario einen Objektstatus, und zwar insofern, als ein Kollektiv die charismatische Autorität einer bestimmten Figur anerkennt und sein politisches Handeln danach ausrichtet.

2. Machtversessene versus machtvergessene Held*innen. Zur Unvereinbarkeit von Charisma und politischer Institutionalität bei Schiller und Kleist Weber konturiert somit am Beginn des 20. Jahrhunderts ein charismatisches Herrschaftsprofil, das in der skizzierten doppelten Weise eine dezisionistische Bedeutung impliziert: Der Charismatiker kann als Subjekt, als Entscheidungsträger, aber eben auch als Objekt kollektiven Entscheidens in Erscheinung treten. Im Folgenden möchte ich argumentieren, dass dieses Konzept eine literarische Vorgeschichte hat, die in das deutsche Drama um 1800 führt.16 12 Ebd. 13 Weber spricht von »Begeisterung« (ebd., S. 497). 14 Ebd. Auch wenn nicht explizit diejenigen benannt werden, die sich am Charisma orientieren, legt die Etymologie mehr als nur nahe, dass ›Orientierung‹ das Verhältnis zwischen mindestens zwei Größen meint. Abgeleitet vom französischen orient = Sonnenaufgang, bedeutet das deutsche Verb ›(sich) orientieren‹ »die Position nach der (aufgehenden) Sonne bestimmen.« Siehe Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Eintrag »orientieren«, bearb. v. Elmar Seebold, Berlin 252012, online unter: https://www.degruyter.com/view/Kluge/kluge.7965 (Stand: 24. April 2019). Das Charisma stellt in dieser Konstellation den Fixpunkt, das ›Objekt‹ einer Positionsbestimmung durch ein Subjekt, in diesem Falle durch ein politisches Kollektiv dar. 15 Eva Horn, Die Große Frau. Weibliches Charisma in Schillers ›Jungfrau von Orleans‹ und Fritz Langs ›Metropolis‹, in: Michael Gamper / Ingrid Kleeberg (Hg.), Größe. Zur Medien- und Konzeptgeschichte personaler Macht im langen 19. Jahrhundert, Zürich 2015, S. 193–216, hier S. 194. 16 Die folgenden Ausführungen zu Schillers »Fiesko«, »Die Jungfrau von Orleans« und »Wilhelm Tell« sowie zu Kleists »Prinz Friedrich von Homburg« habe ich in ausführlicherer Form in meiner Dissertation entwickelt: Carolin Rocks, Heldentaten, Heldenträume. Zur Analytik des Politischen im Drama um 1800 (Goethe – Schiller – Kleist), Berlin 2020.

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Dies meint nicht einfach, dass man bei Schiller und Kleist, um die es nachstehend gehen soll, charismatische Held*innenfiguren im Weber’schen Verständnis findet, die politische Entscheidungen treffen oder an denen sich Gemeinschaften in ihrem Handeln und Entscheiden orientieren. Vielmehr soll eine Synopse von Schillers und Kleists wichtigsten politischen Heldenfiguren formuliert werden, und zwar der Frage nach dem Zusammenhang von Heroismus und Entscheiden folgend. Damit ist die These verbunden, dass die Texte diesen bei Weber eher zwischen den Zeilen hervortretenden Nexus weitaus expliziter sowie differenzierter reflektieren und daher einen subtilen theoretischen Gehalt aufweisen. Genauer lässt die Betrachtung von Held*innen in ihren politischen Entscheidungsvermögen sowie als Ermöglichungsgrund von Entscheidungen ein übergeordnetes Problem hervortreten, und zwar die Konfrontation von Charisma und politischen Institutionen: Held*innen können nicht innerhalb dieser institutionellen Rahmungen entscheiden; sie verlieren, wollen oder sollen sie als politische Entscheidungsträger*innen in die etablierten Herrschaftsstrukturen eintreten, ihre spezifische Handlungsmacht. Die politische Dramatik um 1800 reflektiert dergestalt einen Zusammenhang, der in Webers Konzept als faktische Möglichkeit einer »Veralltäglichung des Charisma«17 diskutiert wird. Demzufolge bestehe charismatische Herrschaft »in idealtypischer Reinheit« stets nur »ephemer«;18 soll sie andauern, müsse sie »ihren Charakter wesentlich ändern«,19 was nichts anderes als eine Transformation zur traditionalen oder rationalen Herrschaftsform bedeute.20 Genau diesen Schritt aber machen Schillers und Kleists Held*innen nicht. In keinem der Dramen findet sich ein politisches Szenario gestaltet, das von einer gelingenden Überführung charismatischer Autorität in die Weber’schen Alltagsformen der Herrschaft bzw. in eine institutionelle Stabilität Zeugnis ablegen würde. Schiller und Kleist verzeichnen, so ist nachstehend zu zeigen, geradewegs kontrastiv zu Weber die Unmöglichkeit einer systemischen Verankerung des Charismas und stellen stattdessen die Wirkmacht des Charismas für die Imaginationsräume der politischen Moderne aus. Vergegenwärtigt man sich die zeitgenössische politische Gemengelage, so ist die Emergenz von politischen Figuren im deutschen Drama des ausgehenden 18. Jahrhunderts, die in der analytischen Retrospektive als Charismatiker*innen im Sinne Webers klassifiziert werden können, in hohem Maße sinnfällig. Wenngleich das Phänomen charismatischer Herrschaft zweifelsfrei bis in die Antike zurückzuverfolgen ist, avanciert es im Zuge der Erosion der europäischen Absolutismen zur strukturell bedeutsamen Macht- und Repräsentationsform: »[C]harismatic leadership as  a political form begins with the downfall

17 Weber, Wirtschaft und Gesellschaft (wie Anm. 2), S. 497. 18 Ebd., S. 498. 19 Ebd. 20 Ebd.

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of the kings.«21 Der vom Thron bestenfalls vertriebene König hinterlässt, so ist im Rekurs auf Autoren wie Kantorowicz, Marin und Lefort zu sagen, eine symbolische Leere. In diesem Prozess einer sich postrevolutionär – im Zeichen des europäischen Republikanismus bzw. verschiedener Modelle von Volkssouveränität – neu formierenden Repräsentationspolitik gewinnt der ›große Mann‹ an Bedeutung; parallel zu den Instanzen des ›Volks‹ respektive der ›Masse‹,22 deren repräsentationale Register die Forschung vielfach beschrieben hat.23 Dem 19. Jahrhundert wurde gar eine Obsession mit dem Phänomen personaler Größe attestiert, die ihren Ausdruck im anwachsenden Kult um politische Machthaber, aber auch um ›Geistesgrößen‹ und Künstler findet.24 Es kann daher nicht erstaunen, wenn ein politischer Heroismus verstärkt zum Sujet der dramatischen Literatur des ausgehenden 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts wird. Schiller und Kleist modellieren Dramenheld*innen, deren politische Agitationsprofile in der Tat erkennbare Ähnlichkeiten zu Webers Konzept des Charismatikers aufweisen. Der kritisch-analytische Impetus, mit dem die Texte Szenarien charismatischer agency gestalten, tritt in pointierter Weise zu Tage, wenn man die Figuren unter dem Gesichtspunkt des Entscheidens betrachtet. Vor diesem Hintergrund möchte ich im Folgenden eine zweiteilige Figurentypologie vorschlagen: Die erste Spielart des Charismatischen zeichnet sich dadurch aus, dass ihren Protagonisten eine eigene politische Agenda umtreibt, die er / sie bewusst ausagiert und aufgrund derer sich ein Konflikt mit der respektive um die Position der Souveränität entspinnt. Dies schlägt sich auch darin nieder, dass es sich bei diesen Dramenheld*innen nicht um souveräne Herrscher handelt. Allerdings ist ein ›Wille zur Macht‹, ein Herrschaftsbegehren fest im Figurenprofil dieses ersten Typus verankert, das am deutlichsten in Schillers dramatischem Œuvre hervortritt. Parallel zu ihrer charismatischen Disposition verfolgen Figuren wie Fiesko und Wallenstein ein je spezifisches Machtkalkül. Im Zuge dessen treten sie in großem Stil als ›Entscheider‹ auf, ohne jedoch politisch zu reüssieren. Die Texte führen sinnfällig vor Augen, dass der Griff nach der Macht 21 Eva Horn, Introduction, in: New German Critique 114 (2011), S. 1–16, hier S. 2; Michael Gamper / Ingrid Kleeberg, Größe und ihre Inszenierung. Einleitung, in: Dies., Größe (wie Anm. 15), S. 7–17, hier S. 7. 22 Horn spricht in diesem Zusammenhang von »two strangely opposed and yet mutally indispensable images: the great man and the crowd«, s. Horn, Introduction (wie Anm. 21), S. 3. 23 Maud Meyzaud, Die stumme Souveränität. Volk und Revolution bei Georg Büchner und Jules Michelet, München 2012; Susanne Lüdemann / Uwe Hebekus (Hg.), Massenfassungen. Beiträge zur Diskurs- und Mediengeschichte der Menschenmenge, München 2010; Michael Gamper, Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765–1930, München 2007. 24 So Horn im Verweis auf Autoren wie Hegel, Carlyle, Burckhardt und Nietzsche, s. Horn, Introduction (wie Anm. 21), S. 3. Ähnlich auch Michael Gamper, Der große Mann. Geschichte eines politischen Phantasmas, Göttingen 2016, S. 11; Gamper / K leeberg, Größe und ihre Inszenierung (wie Anm. 21), S. 7 f.

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misslingt und dass Fiesko und Wallenstein noch darüber hinaus ihre charismatische Wirkung, ihren Status als Entscheidungsobjekte verlieren. Geradewegs kontrastiv verhält es sich bei denjenigen Held*innenfiguren, die keine Herrschaftsambitionen hegen, ja die nicht aus genuin politischer Motivation und Intention heraus, sondern vornehmlich in der Wahrnehmung ihrer Anhängerschaft Heldentaten vollbringen. In Rede steht das Figurenprofil eines machtvergessenen ›Tatmenschen‹, dessen Handeln als ein politisch gerichtetes bloß rezipiert und mitunter stilisiert wird. Der breite Zuspruch, den diese Figuren den Texten zufolge erfahren, drückt sich vor allem darin aus, dass sie ihren bevorzugten Platz im Zentrum der Symbolpolitik einer Gemeinschaft haben – und dergestalt in den betreffenden Dramen als privilegierte, vor allem aber als persistierende Entscheidungsobjekte gezeigt werden. Diejenigen Figuren also, die Schiller und Kleist gar nicht erst als bewusst agierende ›Entscheider‹ antreten lassen, behalten ihre charismatische Breitenwirkung, worin denn auch die maßgebliche Differenz zum ersten Typus besteht. Doch auch sie verlieren etwas, und zwar ihre heroische Handlungsmacht: Es kann als eine in Schillers und Kleists politischer Dramatik wiederkehrende Konstellation gelten, dass Held*innen dieses Zuschnitts nach vollzogener Tat nicht nur Einzug ins kollektive Imaginäre halten, sondern gewissermaßen contre cœur in eine Machtposition geraten, ja aufgrund so verstandener tätiger Verdienste für Nation, ›Vaterland‹  – oder welche Gemeinschaftsform auch immer in Frage steht  – zum Eintritt in die institutionelle Ordnung angehalten bis genötigt werden. Diesen Prozess modellieren die Texte in frappierender Einhelligkeit in Form von Szenen erodierender heroischer Tatkraft. Dergestalt bezeugen die Schlusspassagen von »Wilhelm Tell«, »Die Jungfrau von Orleans« und »Prinz Friedrich von Homburg« zwar auf der Rezeptionsebene einen Fortbestand des Charismas, der jedoch mit einem Verlust jedweder individuellen Handlungsmöglichkeit der Figuren einhergeht. Mit Tell, Johanna und Prinz Friedrich ist lediglich auf symbolischer Ebene ein Staat zu machen; als politische Funktionsträger*innen taugen sie ebenso wenig wie Fiesko und Wallenstein. Während Weber davon ausgeht, dass Charisma institutionell formatierbar, das  heißt in die institutionell getragenen Alltagsformen der Herrschaft überführbar ist, scheitert genau diese Möglichkeit bei Schiller und Kleist. Ich stelle im Folgenden die skizzierte Typologie anhand der dramatischen Texte vor, um zum Abschluss den Fall von Kleists »Prinz Friedrich von Homburg« (1821) zu beleuchten. Hier artikuliert sich der unauflösliche Kontrast von Heroismus und institutionell andauernden Herrschaftsformen in pointierter Weise als Problematik des Entscheidens.

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3. Weder Entscheidungsgewalt noch Charisma: Das Scheitern der Machtbewussten (»Fiesko«, »Wallenstein«) Von Goethes »Götz von Berlichingen mit der eisernen Hand« (1773) einmal abgesehen, darf man in Schillers »republikanische[m] Trauerspiel« »Die Verschwörung des Fiesko zu Genua« (1783) das vielleicht früheste Exempel einer deutschen »tragedy of charisma«25 sehen. Fiesko von Lavagna wird zu Beginn des Stückes als politischer Protagonist eingeführt, der charismatisch zu wirken versteht. Jener »Halbgott der Genueser«26 begehrt gegen den Herrscher-Clan auf, insbesondere gegen Gianettino, den machthungrigen Neffen des amtierenden Fürsten Andreas Doria. Obgleich eine vom genuesischen Adel getragene Verschwörung bereits in vollem Gange ist, handelt Fiesko als politischer Einzelgänger, wenn es darum geht, das Volk in konspirativer Absicht auf seine Seite zu ziehen. Dabei geriert er sich als ein veritabler Spieler um die Macht, erweist sich aber, darin liegt der durchaus komische Zug dieser Figur,27 als ein denkbar »schlechter Spieler«:28 Er wähnt sich des prospektiven Erfolgs seiner eigenen Performance stets gewiss und unterschätzt im Zuge dessen die politischen Aktivitäten seiner Konkurrent*innen. Eine erfolgreiche personale Magnet­w irkung29 attestiert Schiller seinem Titelhelden nur in der Anfangsphase des Stücks; als politischen Akteur lässt er ihn letztlich grandios scheitern. Der Dramatiker betreibt, so kann man zuspitzen, eine regelrecht auf Entheroisierung zulaufende Verschwörung gegen die eigene Hauptfigur. Als Pointe muss dabei der Umstand gelten, dass Schiller – in Form einer zynisch überspitzten Zufallskonstellation – die Krönung der gräflichen Heldenmission vereitelt: Dieser verwechselt seine Frau Leonore mit dem genuesischen Machthaber Gianettino Doria und tötet kurzerhand unwissentlich die eigene Gattin anstelle des Tyrannen.30 Hier tritt deutlich zu Tage, dass die Konfrontation zwischen selbsternanntem Helden und Souverän im »Fiesko« mitnichten als seriöser tragischer Zentralkonflikt entfaltet wird. 25 Francis John Lamport, The Charismatic Hero. Goethe, Schiller, and the Tragedy of Character, in: Publications of the English Goethe Society, New Series 58 (1989), S. 62–83, hier S. 66. 26 Friedrich Schiller, Die Verschwörung des Fiesko zu Genua. Ein republikanisches Trauerspiel, in: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Otto Dann u. a., Frankfurt a. M. 1988, Bd. 2: Dramen I, hg. v. Gerhard Kluge, S. 313–441, hier S. 323. Im Folgenden zitiert mit nachstehenden Seitenangaben. 27 Gerhard Kluge, Hermann und Fiesko. Kleists Auseinandersetzung mit Schillers Drama, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 37 (1993), S. 248–270, hier S. 254. 28 Torsten Hahn, Das schwarze Unternehmen. Zur Funktion der Verschwörung bei Friedrich Schiller und Heinrich von Kleist, Heidelberg 2008, S. 188. 29 »Dieser Mensch ist ein Magnet. Alle unruhigen Köpfe fliegen gegen seine Pole«, heißt es aus dem Mund seines Widersachers Gianettino Doria, Schiller, Die Verschwörung des Fiesko (wie Anm. 26), S. 324. 30 Ebd., V. Aufzug, 11. Auftritt.

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Fieskos Entscheidungen und Handlungen führen, nicht nur in diesem Extremfall, alles andere als zum politischen Erfolg, und zwar weil er eine allzu planvolle verschwörerische Affektpolitik betreibt. Er wird porträtiert als ein berechnender »Wucherer mit den Herzen der Menge«,31 dessen anfangs noch auf eine heroische one man show, aber mehr und mehr auf die politische Alleinherrschaft zielendes Entscheidungskalkül die Eigengesetzlichkeit und Unberechenbarkeit kollektiver Gefühlsdynamiken verkennt. Je mehr aber im Verlaufe des Stücks Fieskos Begehren, selbst Herzog zu werden,32 anwächst und je gewisser er sich dabei der Unterstützung des Volks wähnt, desto weniger erweist er sich als ein reüssierender politischer Entscheider. Ebenso wenig persistiert er in Schillers »republikanische[m] Trauerspiel« als Bezugsobjekt einer emphatischen Kollektiventscheidung. Der selbsternannte Herzog stirbt  – zumindest in der hier zugrunde gelegten Erstausgabe von 1783 – einen einigermaßen beiläufigen, unspektakulären, aber vor allem: unheroischen Tod, wenn er vom Rädelsführer der adeligen Verschwörer kurzerhand ins Meer gestoßen wird und unter Hilferufen ertrinkt.33 Nicht einmal ein standesgemäßes Duell ›von Mann zu Mann‹ bleibt Fiesko abschließend vergönnt. Stattdessen wird sein Heldenbild sogar post mortem desavouiert: Noch vor Fieskos Ableben hat sich das Volk, so wird in der Schlussszene klar, in einem mehr als raschen Sinneswandel dem nach Genua zurückgekehrten Altherzog Andreas Doria wieder zugewandt. Es wird nicht einmal zum Sujet erhoben, dass Fiesko damit seinen Status als charismatisches Entscheidungsobjekt, nach seinem ohnehin bereits eingebüßten Status als Entscheidungssubjekt, vollständig verloren hat. Nahezu unbeachtet lässt Schiller seinen Titelhelden in den Fluten des Ligurischen Meeres untergehen. In seiner »Wallenstein«-Trilogie (1798–1799) zeichnet Schiller eine als Entscheider ähnlich fulminant scheiternde charismatische Figur. Allein es handelt sich hier um ein Drama, das einen von weit intensiverer tragischer Dignität getragenen Konflikt zwischen Charismatiker und Herrscher entwirft. Dieser Konflikt gestaltet sich denn auch stricto sensu als Entscheidungsproblem:34 Wallenstein, Oberbefehlshaber über die Armeen des Kaisers Ferdinand II . im Dreißigjährigen Krieg, steht bekanntermaßen vor der folgenschweren Entscheidung, seinem Dienstherren und politischen Souverän die Treue zu halten oder mit den verfeindeten Schweden zu paktieren und im Zuge dessen die eigene Machtposition merklich auszubauen. Verrat also oder die den eigenen Souve­ ränitätsbestrebungen zuwiderlaufende Anerkennung der kaiserlichen Macht, so lauten die Alternativen, zwischen denen sich Wallenstein zu entscheiden hat. Schiller treibt seine dramatische Analytik charismatischer Autorität im »Wallenstein« aber im Vergleich zu seinem Verschwörungsdrama erkennbar 31 32 33 34

Ebd., S. 367. Ebd., S. 381. Ebd., S. 440. Müller-Seidel bezeichnet die Trilogie als »Entscheidungsdrama«. Walter Müller-Seidel, Episches im Theater der deutschen Klassik. Eine Betrachtung über Schillers ›Wallen­ stein‹, in: Jahrbuch der Deutschen Schillergesellschaft 20 (1976), S. 338–386, hier S. 370.

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weiter voran: Er führt keinen selbstvergessenen player im wahrsten Sinne des Wortes vor, sondern schreibt die charismatische Bindungskraft eines mächtigen Generals aus. Das schlägt sich bereits darin nieder, dass der Generalissimus im gesamten ersten Teil der Trilogie, in »Wallensteins Lager«, nicht einmal auftreten muss und gleichwohl unter seinen Soldaten in höchstem Maße präsent ist. »Wer unter seinem Zeichen tut fechten, / Der steht unter besondern Mächten.«35 – So resümiert einer seiner Untergebenen Wallensteins charismatische Wirkung auf die Armeen. Ganz analog zu Webers Darlegungen wähnt die Anhängerschaft ihren Kommandeur im Bund mit übernatürlichen Instanzen, denn neben einem Teufelsbündnis36 glaubt man ihn im Besitz einer unverwundbar machenden »Salbe von Hexenkraut«.37 Sowohl die Soldateska38 als auch die militärische Führungsriege39 beschwören nachdrücklich die unifikatorische Kraft ihres Oberbefehlshabers. Wie ernsthaft hier Charisma als Ermöglichungsgrund kollektiven Handelns und dergestalt als Machtform verhandelt wird, zeigt sich prägnant darin, dass Wallenstein von Gefolgsleuten und Gegnern gleichermaßen als Bedrohung für den kaiserlichen Souverän eingeschätzt wird. Wenn schon im Lager ein lebhafter Disput darüber geführt wird, ob der Kaiser oder der Herzog das Reich regiere,40 so beklagt ein kaiserlicher Gesandter nach seinem Besuch im Lager mit einigem Unbehagen: »Hier ist kein Kaiser mehr. Der Fürst ist Kaiser!«41 Schillers analytischer Fokus richtet sich auf die Genese eines Kollektivs im Zeichen des Charismatikers und, da es sich hier um eine militärische Gemeinschaft handelt, darauf, wie aus dieser Machtbeziehung ein starker Impuls zur Kriegsagitation hervorgeht. Die Trilogie liest sich, bedenkt man überdies den Umstand, dass sich der Herzog Entscheidungshilfe im Himmel sucht, in vielerlei Hinsicht wie eine Antizipation des Weber’schen Konzeptes: So wird Wallensteins berüchtigte Neigung zur Astrologie zum Konstituens seiner charismatischen Disposition erklärt.42 Darüber hinaus gestaltet Schiller den künstlerischen Zug der Wallen35 Friedrich Schiller, Wallenstein, ein dramatisches Gedicht. Erster Teil: Wallensteins Lager, in: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Otto Dann u. a., Frankfurt a. M. 2000, Bd. 4, hg. v. Frithjof Stock, S. 11–53, hier V. 350 f. Im Folgenden zitiert mit nachstehenden Versangaben, bei Regieanweisungen mit nachstehenden Seitenangaben. 36 Ebd., V. 352–354. 37 Ebd., V. 367. 38 Ebd., V. 796–807. 39 Friedrich Schiller, Wallenstein, ein dramatisches Gedicht. Erster Teil: Die Piccolomini, in: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Otto Dann u. a., Frankfurt a. M. 2000, Bd. 4, hg. v. Frithjof Stock, S. 55–150, hier V. 231–240. Im Folgenden zitiert mit nachstehenden Versangaben, bei Regieanweisungen mit nachstehenden Seitenangaben. 40 Schiller, Wallensteins Lager (wie Anm. 35), V. 845–894. 41 Schiller, Piccolomini (wie Anm. 39), V. 294. 42 Abermals ist es Max Piccolomini, der den politischen Instinkt seines Dienstherren auf ein inneres »Orakel« (ebd., V. 459) desselben zurückführt, und der Wallensteins Entscheidungsfindung generell mystifiziert, etwa indem er dessen Gemütsbewegungen und Handlungsgründe mit der Dynamik der Himmelskörper parallelisiert: »Wie er [Wallen-

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stein’schen Handlungspraxis  – und damit die schon von Weber konstatierte ästhetische Dimension charismatischer Herrschaft43  – wesentlich seriöser als im »Fiesko«. Beide Figuren verfolgen ein Machtkalkül, wobei Fiesko ein von ihm selbst so benanntes komödiantisches »Possenspiel«44 betreibt, Wallenstein hingegen über weite Strecken des Dramas als extrem erfolgreich politisch agierendes, veritables »Künstlergenie«45 in Szene gesetzt wird. Einschlägig ist in dieser Hinsicht der Monolog im dritten Aufzug von »Wallensteins Tod«, in dem der General seinen Aufbau der kaiserlichen Armee als Kunstwerk beschreibt.46 Noch deutlicher nennt sein zeitweise größter Bewunderer, Max Piccolomini, die politischen Schachzüge Wallensteins ein lustvolles Schauspiel.47 Der jenem Sternengläubigen zugeschriebene ästhetische Dezisionismus verdichtet sich in der Bezeichnung Wallensteins als eines »große[n] Rechenkünstler[s]«.48 Allerdings deutet sich damit bereits das Scheitern des Schiller’schen Helden an, denn hier spricht der am Mordkomplott gegen Wallenstein beteiligte Offizier Buttler, der den politischen Niedergang des Herzogs prognostiziert: »Die Menschen wußt’ er, gleich des Brettspiels Steinen, / Nach seinem Zweck zu setzen und zu schieben, / […] Gerechnet hat er fort und fort und endlich / Wird doch der Kalkul irrig sein, er wird / Sein Leben selbst hinein gerechnet haben«.49 Schiller streut im letzten Teil der Trilogie fortwährend derartige Hinweise, dass Wallensteins exzessives Machtstreben auf irrationale Bahnen gerät, ja aufgrund von Fehlurteilen und -entscheidungen, die der Text nicht zuletzt einem unverkennbaren Größenwahn anlastet, zum Scheitern verurteilt ist; dies spoilert gewissermaßen bereits der Titel »Wallensteins Tod«. stein] sein Schicksal an die Sterne knüpft, / So gleicht er ihnen auch in wunderbarer, / Geheimer, ewig unbegriffner Bahn« (ebd., V. 2549–2551). 43 So Horn im Rekurs auf Weber: »Like a theatrical role, charisma has to be ›performed‹ […]. Thus it intrinsically has an aesthetic side: charisma is born with the representation of an individual as extraordinary and ›gifted‹ – representation both as self-representation or ›performance‹ and as perception in the eyes of the supporters.« S. Horn, Introduction (wie Anm. 21), S. 11. Vgl. auch Eva Horn zu Schiller: »Schiller geht es um die Ästhetik des Charisma, oder besser: um Charisma als Phänomen, das gerade als ästhetisches seine Wirkung im Politischen entfaltet.« S. dies., Herrmanns ›Lektionen‹. Strategische Führung in Kleists ›Herrmannsschlacht‹, in: Kleist-Jahrbuch (2011), S. 66–90, hier S. 68. 44 Schiller, Die Verschwörung des Fiesko (wie Anm. 26), S. 363. 45 Peter Philipp Riedl, Legitimität und Charisma in Zeiten des Krieges. Überlegungen zu Schillers ›Walleinstein‹-Trilogie, in: Ders. (Hg.), Schiller neu denken. Beiträge zur Literatur-, Kultur- und Kunstgeschichte, Regensburg 2006, S. 91–109, hier S. 98. 46 Friedrich Schiller, Wallenstein, ein dramatisches Gedicht. Zweiter Teil: Wallenstein’s Tod. Ein Trauerspiel in fünf Aufzügen, in: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Otto Dann u. a., Frankfurt a. M. 2000, Bd. 4, hg. v. Frithjof Stock, S. 153–293, hier V. 1792–1818. Im Folgenden zitiert mit nachstehenden Versangaben, bei Regieanweisungen mit nachstehenden Seitenangaben. 47 Schiller, Piccolomini (wie Anm. 39), V. 424–433. 48 Schiller, Wallenstein’s Tod (wie Anm. 46), V. 2853. 49 Ebd., V. 2855–2861.

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Nach dem Gesagten kann es kaum verwundern, dass Weber im Zuge seiner Darlegungen zu den drei Herrschaftsformen selbst auf Schillers »Wallenstein« anspielt. In »Politik als Beruf« (1919) findet sich eine Formulierung aus »Wallensteins Tod«, genauer aus dem großem Entscheidungsmonolog des Herzogs.50 Weber spezifiziert hier seinen Begriff traditionaler Herrschaft als »Autorität des ›ewig Gestrigen‹«51 – eine Wendung, die Wallenstein anführt, wenn er über seine Schwierigkeiten sinniert, die Bindungskraft der Habsburgischen Dynastie zu erschüttern.52 Wallenstein inszeniert sich im Monolog als derjenige, der gegen die Macht des politischen Traditionalismus aufbegehrt, und wenngleich damit nicht direkt etwas über Wallensteins Charisma ausgesagt ist, scheint eine Argumentation plausibel, die in Schillers Drama eine Konfrontation von traditionaler und charismatischer Herrschaftsform verhandelt sieht.53 Keineswegs aber schildert der Text ein Szenario, in dem Wallensteins charismatischer Dezisionismus dann auch in eine auf Traditionen fußende Herrschaftsform überführt würde – eine Möglichkeit, die für Webers Modell zentral ist. Stattdessen deutet sich bereits im besagten Monolog Wallensteins politische Niederlage an. Er scheitert, so lässt sich resümieren, einerseits als Entscheider in seinem Willen zur Souveränität und wird andererseits ebenso wenig wie Fiesko als Figur präsentiert, die aufgrund anhaltenden Charismas – und sei es als Toter – einen Platz im politischen Imaginären einnehmen könnte. Vielmehr endet die Trilogie damit, dass Wallensteins größter Widersacher, Octavio Piccolomini, zum Fürsten ermächtigt wird und so, wenn auch nicht ohne persönliche Skrupel, antritt, in die Fußstapfen des Friedländers zu treten. Das legt mehr als nur nahe, dass es Schiller nicht darum geht, den Prozess einer Transformation des Charismas in ›Alltagsformen der Herrschaft‹ zu veranschaulichen. Vielmehr findet der Text seinen Abschluss in der Ermächtigung derjenigen Figur, die als der verschlagenste und fähigste Stratege im gesamten Stück gelten kann, womit ein politischer Akteur triumphiert, der sich unter keine der von Weber angesetzten Herrschaftsformen subsumieren lässt.54 50 Ebd., I. Aufzug, 4. Auftritt. 51 Max Weber, Politik als Beruf. 1919, in: Horst Baier u. a. (Hg.), Max Weber Gesamtausgabe, Abt. 1: Schriften und Reden, Bd. 17, hg. v. Wolfgang J. Mommsen / Wolfgang Schluchter, Tübingen 1992, S. 157–252, hier S. 160. 52 Schiller, Wallenstein’s Tod (wie Anm. 46), V. 208. 53 Walter Hinderer, Wallenstein, in: Ders. (Hg.), Interpretationen. Schillers Dramen, Stuttgart 1992, S. 202–279, hier S. 231 u. 240; Christoph R. Hatscher, Charisma und Res Publica. Max Webers Herrschaftssoziologie und die Römische Republik, Stuttgart 2000, S. 44 f. 54 Im Schlusstableau der »Wallenstein«-Trilogie zeichnet sich das Figurenprofil des ›strategischen Führers‹ ab, das Kleist in seiner »Herrmannschlacht« (1821) zur vollen Entfaltung bringt. Dazu pointiert Horn, Herrmanns ›Lektionen‹ (wie Anm. 43). Hier wird der Typus des charismatischen Entscheiders vollumfänglich zugunsten eines rein zweckrationalen Agenten der Macht verabschiedet. In der Zeichnung der Herrmann-Figur ist der Aspekt des Strategisch-Machtpolitischen ins Rücksichtslos-Manipulative gesteigert. Herrmann entscheidet bei Kleist weder auf der Grundlage einer im Numinosen verankerten Begabung noch fungiert er im Sinne charismatischer Affizierung als Objekt eines Kollektiv-

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4. Der schweigende ›Retter‹ der Schweiz (»Wilhelm Tell«) Ganz anders gestalten Schiller und Kleist Profile charismatisch-heroischer Handlungsmacht in »Wilhelm Tell« (1804), »Die Jungfrau von Orleans« (1801) und in »Prinz Friedrich von Homburg« (1821). Wie eingangs gesagt, werden diese Figuren als zwar Tatkräftige, aber gleichzeitig regelrecht Machtvergessene porträtiert, deren Charisma sich wiederum auf der Ebene der Rezeption umso stärker ausnimmt. Diese gegenläufige Bewegung lässt sich prägnant im Falle von Schillers Tell nachvollziehen. Aufschlussreich ist dabei die berühmteste Szene des Dramas, der Tell’sche Apfelschuss. Der Text streut von Beginn an erhebliche Zweifel daran, dass hier jemand in genuin politischer Intention oder gar als revolutionärer Überzeugungstäter zur legendären Schießprobe antritt – zugleich wird geschildert, wie die vollzogene Tat postwendend im nationalen Imaginären Blüten treibt. Kurz zum Vorspann der Szene, der bereits ein Licht auf die politische Indifferenz des Schiller’schen Protagonisten wirft: Ein Hut auf einer Stange ist bekanntermaßen der Ausgangspunkt für Tells Konflikt mit dem Lokaldespoten Herrmann Geßler. Dieses Dingsymbol hat Geßler auf einer Wiese bei Altdorf aufstellen lassen – umgeben von Wachleuten, die dafür Sorge zu tragen haben, dass die passierenden Untertanen in Form einer Verbeugung innehalten. Genau diese der Herrschaftsbeglaubigung dienende Demutsgeste unterlässt Tell, und zwar nicht, weil er dergestalt gegen den Vogt aufbegehren wollen würde. Er begeht den Affront im wahrsten Sinne des Wortes ›unbekümmert‹: »Was kümmert uns der Hut? Komm, laß uns gehen«,55 antwortet er seinem Sohn Walther in naiver Beiläufigkeit, nachdem er von diesem sogar explizit auf den Hut hingewiesen wurde. In der Folge kommt es zur Konfrontation mit dem Vogt, der die Strafe zur heroischen Herausforderung ummünzt, indem er dem als außergewöhnlichen Armbrustschützen geltenden Tell den berüchtigten Schuss auf einen Apfel, platziert auf dem Kopf des eigenen Sohnes Walther, abverlangt. Trotz dieser betont grausamen Forderung zeigt Schiller Tell ganz und gar nicht entscheids. Dass die »Herrmannschlacht« kein ›Drama des Charismas‹ formatiert, hat die jüngere Forschung rekonstruiert. Vgl. Barbara Vinken, Bestien. Kleist und die Deutschen, Berlin 2011, S. 17 u. 23. So auch Horn: »Aber Kleist geht es nicht um die auratische Persönlichkeit, sondern um Führung als eine Funktion […]«, s. Horn, Herrmanns ›Lektionen‹ (wie Anm. 43), S. 68 f. Herrmanns Strategie richtet sich in erster Linie darauf, die zerstrittenen Germanenvölker affektiv gegen den äußeren Feind, im Hass gegen die Römer, und keinesfalls im Kult um die eigene Person wieder zu vereinen. Laut Horn erschließt sich daher auch Herrmanns politisches Handeln weniger über Webers Charisma-Begriff, sondern vielmehr über die Freund-Feind-Unterscheidung im Sinne Carl Schmitts; s. ebd., S. 75. 55 Friedrich Schiller, Wilhelm Tell. Schauspiel, in: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Otto Dann u. a., Frankfurt a. M. 1996, Bd. 5: Dramen IV, hg. v. Matthias Luserke, S. 385–505, hier V. 1816. Im Folgenden zitiert mit nachstehenden Versangaben, bei Regieanweisungen mit nachstehenden Seitenangaben.

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als jemanden, der offensiv in die Auseinandersetzung mit Geßler einträte. Seine eigene Unbesonnenheit und Unbedachtheit bekennend, bittet er den Macht­ haber um Verzeihung, ja um Gnade und gelobt, ganz devoter Untertan, umgehend Besserung.56 So tritt schlechterdings kein schießwütiger Revolutionär und ganz sicher auch kein charismatischer Entscheider auf.57 Bekanntermaßen glückt der meisterhafte Apfelschuss, und er wird, das ist der maßgebliche Punkt, stante pede als Heldentat von revolutionärer Tragweite gedeutet: »Das war ein Schuß! Davon / Wird man noch reden in den spätsten Zeiten«,58 und weiter: »Erzählen wird man von dem Schützen Tell, / Solang die Berge stehn auf ihrem Grunde.«59 Aus der Perspektive der versammelten Bevölkerung eignet dem Schuss das nachgerade zwingende Potential, in das gründungsmythologische Narrativ der eidgenössischen Nationalgeschichte aufgenommen zu werden; die Tauglichkeit zum politischen Erzählstoff wird kurzerhand affirmiert. Dass die Tat vor allen Dingen eine Sache der kollektiven Deutung und der politischen Indienstnahme ist, vermerkt Schiller zusätzlich in Form eines dramenpoetischen Kniffs. Der Moment, in dem Tell auf sein Ziel anlegt, wird zunächst mittels einer Verdopplung des figuralen Konflikts herausgezögert. Einer von Geßlers Gefolgsmännern, Ulrich von Rudenz, ergreift empört Partei für Tell, ja will sogar das Schwert gegen den eigenen Dienstherrn richten.60 Dieser Moment höchster dramatischer Spannung wird jäh unter­brochen durch den Ausruf einer der Umstehenden, der Apfel sei in der Zwischenzeit längt gefallen.61 In einer Regieanweisung informiert der Text darüber, dass sich die spektakuläre Tat, auf welche die Szene zusteuert, im fein komponierten Abseits ereignet hat, denn das Augenmerk des dramatischen Ensembles ist, während Tell den Schuss vollzieht, auf die parallel verlaufende Konfrontation zwischen Rudenz und Geßler gerichtet. Es kann als zentraler Punkt in Schillers politischer Dramaturgie gelten, darauf aufmerksam zu machen, dass niemand diesen Schuss mit eigenen Augen gesehen hat. Dergestalt wird der Sach- oder auch Realitätsgehalt der Tat in Zweifel gezogen und zudem die hochtrabende Deutung konterkariert, Tell habe mit dem Apfelschuss Nationalgeschichte geschrieben. Jene Tat, die dem Augenzeugnis der Figuren entzogen bleibt, avanciert im weiteren Textverlauf geradewegs zum Kern des Revolutionsnarrativs, 56 Ebd., V. 1870–1873. 57 Zu dieser Naivität passt, dass der Text Tell wiederholt als einfältigen ›Mann der Tat‹ porträtiert (vgl. ebd., V. 148, 442–445 u. 2300), dessen Handlungen einer affektiven Unmittelbarkeit folgen und dessen politisches Reflexionspotential wenig ausgeprägt ist. Auffällig ist zudem die ›gestörte Sprache‹ des Helden: So selten er überhaupt das Wort ergreift, so häufig eignet seiner Rede ein sentenziöser, volksweisheitlicher Modus (vgl. ebd., V. 139, 435, 437, 1514 u. 2300), was gewiss kaum Anlass dazu geben kann, Tell als strategisch vorgehenden politischen Rhetoriker zu beschreiben. 58 Ebd., V. 2038 f. 59 Ebd., V. 2040 f. 60 Ebd., V. 1992–2031. 61 Ebd., S. 458, V. 2031.

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ja der Text stellt regelrecht aus, wie sehr der Tell’sche Apfelschuss die eidgenössischen Befreiungsphantasien beflügelt.62 So verkündet Werner, Freiherr von Attinghausen, immerhin Bannerherr des Vogtes, in einer pathosgetragenen Szene63 vom Sterbebett aus eine Prophezeiung, die Tells Tat zum Initialereignis einer politischen Zukunftsgeschichte macht. In Aussicht gestellt wird dabei die freiheitliche Neuordnung des Landes durch den Dreierbund von Schwytz, Uri und Unterwalden. Die figurale Interaktion lässt dabei geradezu ein politisches Standbild entstehen, das die Vision eines politischen Generationenwechsels kolportiert: Der sterbende Freiherr legt dem halbwüchsigen, seit Beginn der Szene vor ihm knienden Sohn Tells bedeutungsvoll die Hand auf den Kopf64 und lässt mit letztem Atem verlauten: »Aus diesem Haupte, wo der Apfel lag, / Wird euch die neue beßre Freiheit grünen, / Das Alte stürzt, es ändert sich die Zeit, / Und neues Leben blüht aus den Ruinen«.65 Tells Sohn wird hier zur Symbolfigur eines revolutionären Neuanfangs erklärt, und zwar nicht einfach Walther Tell als Repräsentant der jungen Generation, sondern Walther als Mitbeteiligter an der heroischen Schießprobe. Es wäre noch sehr viel mehr über diese Szene zu sagen. Für den hier verfolgten Zusammenhang ist zentral, dass man sich im symbolischen Schatten jener Tat, die von niemandem bezeugt werden kann, politisch unifiziert. Schillers »Tell«-Schauspiel verlagert sich, das wird im Vergleich mit »Fiesko« und »Wallenstein« deutlich, darauf, Prozesse der Charismatisierung bzw. Heroisierung zu beschreiben. Der Fokus liegt nicht mehr auf einem charismatischen Entscheider, den eine eigene politische Agenda antreibt, sondern darauf, wie der Heldenstatus in einem kollektiven Zuschreibungsakt verliehen wird und in der Folge zum symbolischen Konstituens für gemeinschaftliches Entscheiden und Handeln wird – wobei Schiller vermerkt, dass dieser Prozess von Projektionen, Imaginationen und Hoffnungen durchsetzt ist. Die eidgenössischen Phantasien kaprizieren sich, das darf als Pointe des Stücks gelten, indessen auf eine Figur, über deren politisches Bewusstsein der Text beredt schweigt. Mehr noch: Der Titelheld, der ja schon nicht zu den »drei und dreißig«66 auf dem Rütli versammelten Bruderbündlern zählt, das heißt, der während des emphatischen Vereinigungszeremoniells der Revolutionsgemeinschaft durch Abwesenheit aufgefallen ist,67 ist am Ende des Stückes, als man die Vogtburgen 62 So stellt auch Haas in seiner instruktiven »Tell«-Lektüre heraus, dass Tells Heroismus insbesondere »auf imaginärer Ebene« (S. 132) entsteht und produktiv wird. Claude Haas, ›Jetzt Retter hilf dir selbst – du rettest alle!‹ Zur Tragödienpolitik der (Lebens-) Rettung in Schillers ›Wilhelm Tell‹, in: Johannes F. Lehmann / Hubert Thüring (Hg.), Rettung und Erlösung. Politisches und religiöses Heil in der Moderne, Paderborn 2015, S. 123–147. 63 Schiller, Wilhelm Tell (wie Anm. 55), IV. Aufzug, 2. Szene. 64 Ebd., S. 469 u. 473. 65 Ebd., V. 2423–2426. 66 Ebd., S.426. 67 »Doch nicht den Tell erblick’ ich in der Menge.« (ebd., V. 1097), heißt es dort ebenso schlicht wie aussagekräftig im Hinblick auf die im Text ausgestellte Isolierung der TellHandlung vom revolutionären Dramen-plot.

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erobert hat und die errungene Freiheit zelebrieren will, längst daheim, bei Frau und Kindern, anstatt in der Mitte oder gar an vorderster Front der siegreichen Revolutionäre. Die Absenz des Helden, daran lässt der Text keinen Zweifel, fällt auf: »STAUFFACHER zu dem Volk: Wo ist der Tell? Soll Er allein uns fehlen, / Der unsrer Freiheit Stifter ist? Das Größte / Hat er getan, das Härteste erduldet, / Kommt alle, kommt, nach seinem Haus zu wallen, / Und rufet Heil dem Retter von uns allen.«68 Aus den symbolträchtigen Massenszenen hält Schiller seinen Protagonisten ostentativ fern, wobei ihm auch darin indirekt stets der Auftritt gesichert bleibt. Tell mag abwesend sein, anwesend ist er allemal in den Köpfen der Rütlianer, die ihn zum symbolischen Grund ihres politischen Agierens machen. Und wenn der Held nicht zum Volk kommt, kommt das Volk ganz einfach zum Helden. Deutlicher könnte der Text nicht ausstellen, dass Charisma hier als Rezeptionsphänomen präsentiert wird und dass sein Träger  – keine Züge von subjektiver Dezisionsgewalt mehr tragend – gänzlich in die Position eines Objekts kollektiven Entscheidens gerät. Und so endet das Drama vor Tells Wohnung, wo ihn die Eidgenossen jubelnd in ihre Mitte nehmen – in die er eben nicht selbst tritt und zu der er sich auch an dieser Stelle nicht verhält.69 Das Stück schließt mit dem Bild einer freudigen Gemeinschaft, die sich um ihren schweigenden Helden versammelt. Ob Tell nach dem geglückten Volksaufstand eine konkrete politische Funktion angetragen wird, ist nicht Thema des Dramas. Einen Hinweis aber darauf, wie es mit Tells allseits gefeiertem heroischen Tatendrang weitergehen wird, liefert Schiller. Noch bevor die Revolutionsgemeinschaft Tell ›heimsucht‹, wird im Gespräch zwischen diesem und seiner Familie klar, dass sich der außergewöhnliche Armbrustschütze zur Ruhe zu setzen gedenkt. Vom Sohn nach dem Verbleib der Heldenwaffe gefragt,70 verkündet Tell das Ende seiner Schützenkarriere: »Du wirst sie [die Armbrust] nie mehr sehn. / An heilger Stätte ist sie aufbewahrt, / Sie wird hinfort zu keiner Jagd mehr dienen.«71 Es wird also gar nicht weitergehen mit dem Meisterschützen Wilhelm Tell, wobei der Text auch in diesem Fall keinen Blick ins Innere des Helden gewährt. Der Schluss des Dramas transportiert somit eine zweifache Botschaft: Während Tell als »Erretter«72 gefeiert wird, die charismatische Affizierung des Volks also anhält, ist es – über die Gründe schweigt sich das Drama wie gesagt aus – mit seiner Tatkraft an ein Ende gekommen.

68 Ebd., V. 3082–3086. 69 Der Nebentext spricht diesbezüglich eine eindeutige Sprache: Man empfängt den aus seiner Wohnung heraustretenden Tell mit Jubelrufen und Huldigungsformeln, man drängt sich um ihn, umarmt ihn, ohne dass der Text eine Reaktion des Protagonisten schildern würde (ebd., S. 505). 70 Ebd., V. 3136 f. 71 Ebd., V. 3137–3139. 72 Ebd., V. 3281.

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5. Tot und ›ganz von Landesfahnen bedeckt‹. Schillers rührende Heldin (»Die Jungfrau von Orleans«) Den zuletzt genannten Punkt schreibt Schiller in der »Jungfrau von Orleans« (1801) im Figurenprofil seiner weiblichen Titelheldin weitaus tragischer aus. Johanna hat sich um die Gemeinschaft, in diesem Fall um die französische Monarchie verdient gemacht, indem sie das angeschlagene Heer im Krieg gegen die Engländer remobilisiert und schließlich zum Sieg geführt hat. Analog zu Tell wird sie dafür von Volk und Hof als politische Heldin gefeiert, die sogar den König noch an ›Glanz und Glorie‹ übertrumpft habe, wie Agnes Sorel, die Geliebte von Karl  VII ., ihr unmissverständlich zu verstehen gibt: »Frankreich ist frei, / Bis in die Krönungsstadt hast du den König / Siegreich geführt, und hohen Ruhm erstritten, / Dir huldigt, dich preis’t ein glücklich Volk, / Von allen Zungen überströmend fließt / Dein Lob, du bist die Göttin dieses Festes, / Der König selbst mit seiner Krone strahlt / Nicht herrlicher als du.«73 Die von allen gepriesene französische ›Volksgöttin‹ will aber nicht strahlen, sondern einfach nur weg: »[…] o möchte siebenfaches Erz / Vor euren Festen, […] mich schützen!«,74 entgegnet sie der Sorel, oder: »O könnt’ ich mich / Verbergen in den tiefsten Schoß der Erde!«75 Weitaus deutlicher als Tell distanziert sich Schillers weibliche Heldin vom politischen Projekt, für dessen Gelingen sie verantwortlich erklärt wird. Johanna negiert nach ihrem Schlachterfolg mehr und mehr ihre Zugehörigkeit zur nationalen Gemeinschaft – und dies sehr zum Unverständnis der männlichen Machtpolitiker, die es zusätzlich auf nichts anderes abgesehen haben, als sie nach getanem Heldendienst an der Monarchie zu verheiraten.76 Die Heldin betreibt eine groß angelegte politische Selbstexklusion, ja bezichtigt sich sogar eigens des Landesverrats,77 weil sie sich in den Feind, genauer in den englischen Feldherren Lionel verliebt hat.78 Im Hintergrund steht hier, dass Johanna – kontrastiv zu Schillers männlichem Meisterschützen – durchaus ein politisches Selbstverständnis artikuliert. Allerdings gründet sie ihre Agenda auf einen göttlichen Auftrag,79 der ihre Rolle als Retterin des französischen Gottes73 Friedrich Schiller, Die Jungfrau von Orleans. Eine romantische Tragödie, in: Ders., Werke und Briefe in zwölf Bänden, hg. v. Otto Dann u. a., Frankfurt a. M. 1996, Bd. 5: Dramen IV, hg. v. Matthias Luserke, S. 149–277, hier V. 2660–2667. Im Folgenden zitiert mit nachstehenden Versangaben, bei Regieanweisungen mit nachstehenden Seitenangaben. 74 Ebd., V. 2646 f. 75 Ebd., V. 2667 f. 76 Ebd., III . Aufzug, 4. Auftritt. 77 Ebd., V. 2711–2713. 78 Ebd., V. 2536–2541. 79 Es handelt sich jedoch, so ist zu präzisieren, um eine dezidiert religiöse Agenda, die Johanna nicht – wie etwa Fiesko und Wallenstein – selbst vollumfänglich verantwortet. Vielmehr sieht sie sich als »blindes Werkzeug« (ebd., V. 2578) ihres christlichen Gottes. Ganz in diesem Sinne endet derjenige Monolog (ebd., IV. Aufzug, 1. Auftritt), der nur vordergründig Aufschluss über Johannas ›ureigene‹ Beweggründe gibt, mit einem Ausruf

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gnadentums unauflöslich an ihre Jungfräulichkeit knüpft. Aufgrund ihrer Zuneigung zu Lionel hat sie sich nach eigener Auffassung dagegen versündigt.80 Der Krönungszug des Königs, an dem sie nach langem Drängen teilnimmt, zeigt das Bild einer gänzlich gebrochenen Nationalheldin, die ihrer einst so machtvollen, martialischen agency gänzlich beraubt erscheint:81 Ihren Gang als dem König voranschreitende Fahnenträgerin vollzieht sie »mit gesenktem Haupt und ungewissen Schritten«.82 Viele wichtige Stationen dieser Verfallsgeschichte weiblicher Handlungsmacht83 auslassend lohnt sich der Blick auf den Schluss des Dramas, da Schiller hier in aller Deutlichkeit auf die Konsequenzen einer Feminisierung der Heldenrolle aufmerksam macht. In Übereinstimmung mit Wilhelm Tell endet Johanna ›inmitten‹ der Nation, jedoch nicht als diejenige, die man aus dem Rückzug ins Private gewissermaßen erst auf die politische Bühne holen muss, sondern als Leiche. Johanna ist siegreich aus der finalen Schlacht gegen die Engländer hervorgegangen und liegt »tödlich verwundet« »in den Armen beider Fürsten [d. i. König Karls und des Herzogs von Burgund]«.84 Während ihr selbstbewusstes Bekenntnis zu einer religiös fundierten Heldenkraft durch den monarchischen Machtapparat, in dessen Horizont die weibliche Heldentat »die absolute Ausnahme«85 darstellt, rigoros abgelehnt wird,86 kann sie der Nation als tote Heldin wiederum einen Dienst erweisen, wie ihre didaskalisch präsentierte Sterbeszene zeigt: »Die Fahne entfällt ihr, sie sinkt tot darauf nieder  – Alle stehen lange in sprachloser Rührung – Auf einen leisen Wink des Königs werden alle Fahnen auf sie niedergelassen, daß sie ganz davon bedeckt wird.«87 Johannas Charisma, das könnte das Schlusstableau kaum deutlicher machen, ist im Tode wieder ungebrochen, man apostrophiert sie als ›heiliger Engel‹88 Frankreichs. Allerdings fällt sie im Zuge dessen gänzlich der symbolpolitischen

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und einem Satz, die deutlich machen, dass die Heldin ihr Tun weder zu begründen weiß noch verantworten will. Mit ihrem »Ach! Es war nicht meine Wahl!« (ebd., V. 2613) soll es nämlich letztlich Gott gewesen sein, der sie an die Spitze des französischen Heeres geführt habe. Ähnlich wie ja auch Tell in großem Stil eine politische Unbedachtheit attestiert wird, zeigt sich Schiller bemüht, Johanna nicht als zurechnungsfähige politische Überzeugungstäterin, sondern als eine sich in religiösen Selbstermächtigungsphantasien mindestens Verlierende zu porträtieren. Ebd., V. 2575–2581. Ebd., S. 246 f. Ebd., S. 246. Dazu pointiert Juliane Vogel, Die Furie und das Gesetz. Zur Dramaturgie der ›großen Szene‹ in der Tragödie des 19. Jahrhunderts, Freiburg i. Br. 2002, S. 116–121. Albrecht Koschorke, Schillers ›Jungfrau von Orleans‹ und die Geschlechterpolitik der Französischen Revolution, in: Walter Hinderer (Hg.), Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne, Würzburg 2006, S. 243–259. Schiller, Jungfrau von Orleans (wie Anm. 73), S. 275. Horn, Die Große Frau (wie Anm. 15), S. 195. Schiller, Die Jungfrau von Orleans (wie Anm. 73), V. 2205–2213. Ebd., S. 277. Ebd., V. 3523.

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Sphäre anheim, ja fungiert einzig noch als ikonographische Projektionsfläche nationaler Vereinigungsphantasien. Eine Überführung des Charismas auf das Terrain politischer Institutionen, wie sie Weber vorschwebt, gestaltet Schiller weder im »Wilhelm Tell« noch in der »Jungfrau von Orleans«. Gesteigert erscheint stattdessen im Falle der weiblichen Heldin das Problem, dass sich heroische Handlungsfähigkeit grundsätzlich konfliktuös zur politischen Systemebene verhält: Als vollumfänglich Handlungsunfähige, ja als Leiche in einem nationalen Fahnenmeer Untergehende persistiert Johannas Charisma, indem sie zur weiblichen Allegorie der Nation gemacht wird. Wilhelm Tell bleibt zwar am Leben – unbewaffnet und sprachlos zeigt ihn Schillers Schlussbild jedoch allemal.

6. Der ohnmächtige Held und die entflammte Kriegsgemeinschaft (»Prinz Friedrich von Homburg«) In Kleists 1821 postum veröffentlichtem Schauspiel »Prinz Friedrich von Homburg« wird am prägnantesten verzeichnet, wie personale Heldenkraft erodiert, so sie sich in institutionellen Rahmungen bewegen soll – und zwar ohne dass die von Weber formulierte Aussicht entfaltet würde, Charisma in einen andauernden Typus rationaler oder traditionaler Herrschaft zu transformieren. Gleichzeitig schildert das Stück einen Prozess der Charismatisierung, der sich vom individuellen Handeln oder auch Nicht-Handeln des Protagonisten ablöst, ja sich geradewegs verselbstständigt. Das Drama um den Prinzen, der sich im Krieg gegen die Schweden nicht an die Marschorder gehalten hat und zu früh mit der von ihm befehligten Reiterei in die Schlacht eingetreten ist, kulminiert dabei bezeichnenderweise in der Unfähigkeit Homburgs, sich zu entscheiden. »Mich selber ruft er zur Entscheidung auf!«89 – Voller Ungläubigkeit kommentiert der Prinz die schriftliche Aufforderung seines Kurfürsten Friedrich Wilhelm von Brandenburg, über die Aufhebung des eigenen Todesurteils durch herrscherlichen Gnadenakt selbst zu befinden. Der exakte Wortlaut des kurfürstlichen Schreibens liest sich wie folgt: »Meint ihr, ein Unrecht sei euch widerfahren, / So bitt’ ich, sagt’s mir mit zwei Worten – / Und gleich den Degen schick’ ich euch zurück.«90 Dieser ungewöhnliche Akt einer Übertragung der herrscherlichen Dezisionsgewalt, genauer des Begnadigungsrechts, an den bereits verurteilten Befehlsbrüchigen steht im Zentrum von Kleists letztem vollendeten Drama. 89 Heinrich von Kleist, Prinz Friedrich von Homburg. Ein Schauspiel, in: Ders., Sämtliche Werke und Briefe in vier Bänden, hg. v. Ilse-Marie Barth u. a. Frankfurt a. M. 1987, Bd. 2: Dramen 1808–1811, hg. v. Ilse-Marie Barth / Hinrich C. Seeba, S. 555–644, hier V. 1342. Im Folgenden zitiert mit nachstehenden Versangaben, bei Regieanweisungen mit nachstehenden Seitenangaben. 90 Ebd., V. 1311–1313.

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Wieso, steht zu fragen, tut sich Friedrich Wilhelm mit der Vollstreckung des Todesurteils und auch mit der Begnadigung des Prinzen eigentlich so schwer? Meiner Lesart zufolge liegt das ganze Problem des entscheidungsunfreudigen Kurfürsten darin, keinen ordinären Untertanen vor sich zu haben, sondern sich mit einem Charismatiker konfrontiert zu sehen, den zu disziplinieren es anderer Mittel bedarf als eines bedingungslosen Gnadenaktes oder einer strikten Exekution des Gesetzes.91 Denn Homburgs Rechtsbruch wird von der militärischen Führungsriege, mehr noch vom gesamten Hof 92 und dem Prinzen selbst93 als verzeihlicher Kavaliersdelikt eines ungestümen, jungen Helden aufgefasst; ein Gnadenakt des Herrschers wird dementsprechend von allen erwartet. Diese Solidarität freilich muss einen Herrscher, der keinesfalls nach alteuropäischabsolutistischer Façon agiert, sondern sich durchaus aufgeklärt der juridischen Entscheidungsgewalt unterordnet,94 beunruhigen und an der Effektivität seines Regimes insgesamt zweifeln lassen. Und diese Sorge hat alle Berechtigung: Es treten nach und nach immer mehr Fürsprecher Homburgs vor, ja es steht sogar eine Rebellion der Heeresleitung ins Haus, sollte die Begnadigung ausbleiben.95 Die Herausforderung für Friedrich Wilhelm besteht somit vor allem darin, dass es nicht genügt, Homburg nach seinem legendären Befehlsbruch im Kerker festzusetzen und durch das Todesurteil zu entsetzen. Das gelingt ihm sogar: Der Prinz zeigt sich gänzlich von würdeloser, unheroischer Todesfurcht ergriffen.96 Von einem solchen Verfall des Heldenmuts in Kenntnis gesetzt,97 sieht der Souverän die Gelegenheit, Homburg an die juridische Ordnung zurückzubinden, indem er ihn mit der Begnadigungsbedingung in die Rolle des Richters in eigener Sache zwingt. Homburgs Begnadigung kann, folgt man dem kurfürstlichen Schreiben, erfolgen, sobald der Prinz erklärt, ihm sei Unrecht widerfahren. Genau darin aber liegt die Pointe jener bedingten Gnade, deren Fatalität Homburg selbst sofort erkennt, wie er Prinzessin Natalie, die für seine Sache beim Kurfürsten eingetreten ist, wissen lässt: »Du hast des Briefes Inhalt 91 Darin liegt eine Parallele zu Schillers Tell, den der Vogt ja auch nicht einfach bestraft. Vielmehr fordert er Tell als exzeptionellen Armbrustschützen heraus, dessen Talente im ganzen Land bekannt sind. Geßler lässt keinen Zweifel daran, dass er mitnichten absolutistisches Recht an einem Untergebenen exerziert sehen will, sondern es darauf abgesehen hat, Tell dadurch in die Schranken zu weisen, dass dieser in der Heldenrolle versagt. So fordert der Vogt in spöttischem Rekurs auf Tells heroische Talente: »Ich will dein Leben nicht, ich will den Schuß. / – Du kannst ja alles, Tell, an nichts verzagst du, / Das Steuerruder führst du wie den Bogen, / Dich schreckt kein Sturm, wenn es retten gilt, / Jetzt, Retter, hilf dir selbst – du rettest alle!«; s. Schiller, Wilhelm Tell (wie Anm. 55), V. 1986–1990. Ähnlich argumentiert Haas, Tragödienpolitik (wie Anm. 62), S. 130. 92 Kleist, Prinz Friedrich von Homburg (wie Anm. 89), V. 1095, IV. Akt, 2. Auftritt, V. ­1596–1608. 93 Ebd., V. 820–827. 94 Ebd., V. 1115–1117. 95 Ebd., V. 1428. 96 Ebd., III . Akt, 5. Auftritt. 97 Ebd., V. 1148–1174.

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nicht erwogen! / Daß er mir Unrecht tat, wie’s mir bedingt wird, / Das kann ich ihm nicht schreiben; zwingst Du mich, / Antwort, in dieser Stimmung, ihm zu geben, / Bei Gott, so setz’ ich hin: Du tust mir Recht!«98 Es handelt sich um eine Entscheidung, die nicht nach Art eines von Homburg bisher praktizierten, gefühlsmäßigen ›Aus-dem-Bauch-heraus‹ einfach gefällt werden kann.99 Homburg bereitet die blanke Form der juridischen Entscheidungsfindung erhebliches Unbehagen, das demonstriert die in dieser Szene so intensiv geschilderte, zunächst scheiternde »Schreibübung«:100 Der Prinz weiß nicht, »wie […] [er] schreiben soll«.101 Die Schrift fungiert natürlich und nicht nur an dieser Stelle im Drama als Chiffre für das Gesetz. Indem der Kurfürst die Entscheidung über den Gnadenerweis dem Prinzen zwar übertragen hat, aber gleichzeitig an das Recht bindet, kreiert er eine ausweglose Lage für Homburg, weiß dieser doch sehr genau, dass das Gesetz keine Entscheidung zu den eigenen Gunsten zulässt. Der Prinz muss also, will er die von Friedrich Wilhelm gesetzte Bedingung nicht ignorieren, dem eigenen Todesurteil zustimmen. Diese Konstellation ist als erfolgreiche pädagogische Maßnahme des Kurfürsten gedeutet worden, die Homburgs affektiv-spontan verfahrenden Hero­ ismus, ja seine heroische Tatkraft einhegt und ihn in die Subordination zurückzwingt. Und in der Tat problematisiert Homburg die Bedingung an sich nicht im Geringsten, sondern unterwirft sich schlussendlich »schreibend«102 dem Todesurteil. Der Prinz ist nach diesem Schachzug des Herrschers seiner Handlungsfähigkeit beraubt und zeigt sich unfähig, dem kurfürstlichen Erziehungsprogramm ein jenseits des Rechts situiertes Machtmittel entgegenzusetzen  – etwa sein ›wildes Herz‹,103 das ihn zum Befehlsbruch getrieben hat. 98 Ebd., V. 1354–1358. 99 Dieser Entscheidungs- und Handlungsmodus tritt sinnfällig in derjenigen Szene zu Tage, die Homburgs Befehlsbruch schildert (vgl. ebd., II . Akt, 2. Auftritt). Der Prinz zeigt sich hier, so der Nebentext, »wild« (ebd., S. 582) entschlossen, den Sieg in der Schlacht durch eigenmächtiges Eingreifen zu vollenden. Sein unmittelbares Agitationsbegehren hat den Charakter einer beginnenden affektiven Eruption. Geradezu überheblich entgegnet er dem Obristen Kottwitz, der auf den kurfürstlichen Befehl hinweist, dem gemäß die Reiterei auf eine ausdrückliche Order zur Intervention warten solle: »Auf Ordr’ [warten]? Ei, Kottwitz! Reitest du so langsam?/Hast Du sie noch vom Herzen nicht empfangen?« (ebd., V. 474 f.). Nicht die schriftliche Anordnung ist es, die den Helden zur Tat schreiten lässt, sondern ein Sinn für die Situation, der auf die Instanz des Herzens und damit auf die Emotionen zurückgeführt wird. 100 Cornelia Zumbusch, ›nichts als leben‹. Affektpolitik und Tragödie in ›Prinz Friedrich von Homburg‹, in: Nicolas Pethes (Hg.), Ausnahmezustand der Literatur. Neue Lektüren zu Heinrich von Kleist, Göttingen 2011, S. 270–289, hier S. 285. Vgl. auch Achim Geisenhanslüke, Infame Scherze. Heinrich von Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹, in: Hans Richard Brittnacher / Irmela von der Lühe (Hg.), Risiko – Experiment – Selbstentwurf. Kleists radikale Poetik, Göttingen 2013, S. 345–368, hier S. 360. 101 Kleist, Prinz Friedrich von Homburg (wie Anm. 89), V. 1361. 102 Ebd., S. 623. 103 Ebd., V. 475, S. 582.

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Darüber hinaus benennt der Prinz sogar präzise, dass der Kurfürst durch seine Bedingung den Sinn eines herrscherlichen Gnadenerweises geradewegs verkehrt hat: »Schuld ruht, bedeutende, mir auf der Brust, / Wie ich es wohl erkenne; kann er mir / Vergeben nur, wenn ich mit ihm drum streite, / So mag ich nichts von seiner Gnade wissen.«104 Diese Worte bezeugen keine trotzige Zurückweisung der Begnadigung, sondern die glasklare Beobachtung, dass Homburg die Möglichkeit einer Gnade verstellt bleibt, die zur streitbaren Rechtsfrage entstellt ist.105 Mit dem Begriff der ›Vergebung‹ weist er auf die hierarchische Struktur, vor allem aber auf die affektive Verfasstheit eines veritablen Gnadenaktes hin: Der Verurteilte könne die Gnade nur vom verzeihenden, das heißt auf der Gefühlsebene entscheidenden Herrscher »wie ein unverdientes Geschenk«106 empfangen und keinesfalls mit diesem in einen Rechtsstreit darüber eintreten. Dieses Argument hat bereits Natalie gegenüber dem Kurfürsten geltend gemacht, als sie für Homburg vorgesprochen hat.107 In der entsprechenden Szene weist die Prinzessin den Gnadenakt als eine Handlungsoption im Sinne der herrscherlichen clementia aus.108 Dem setzt Friedrich Wilhelm jedoch sein streng verstandenes legalistisches Herrschaftsethos entgegen, das gerade die Suspension jedweder Gefühle im souveränen Entscheidungsprozess vorsehe und ihm daher einen Gnadenerweis schlechterdings verunmögliche. Sich ganz auf der Höhe der aufklärerischen Kritik am Begnadigungsrecht bewegend,109 ja als Machthaber, der die Instanz des Gerichts rückhaltlos anerkennt, verwirft er die Gnade als Ausdruck einer affektiven und daher tyrannischen Willkürherrschaft: »Mein süßes Kind! Sieh! Wär’ ich ein Tyrann, / Dein Wort, das fühl ich lebhaft, hätte mir / Das Herz schon der erznen Brust geschmelzt. / Dich aber frag’ ich selbst: darf ich den Spruch, / Den das Gericht gefällt, wohl unter104 Ebd., V. 1382–1385. 105 Clemens-Carl Härle, Staat, Kriegsmaschine, Affekt. Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹, in: Studi Germanici 35/2 (1997), S. 233–271, hier S. 265–266; vgl. anders Geisenhanslüke, der in der Ablehnung des herrscherlichen Gnadenaktes eine »vollständige Subversion des Rechts erreicht« sieht; Geisenhanslüke, Infame Scherze (wie Anm. 100), S. 360. Vgl. ebenfalls anders Kauls Einschätzung, Homburg entscheide sich frei, souverän und heroisch gegen die Begnadigung; Susanne Kaul, Poetik der Gerechtigkeit. Shakespeare – Kleist, München 2008, S. 191 f. 106 Johannes Harnischfeger, Der Traum vom Heroismus. Zu Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts (1989), Göttingen 1989, S. 244– 280, hier S. 251. 107 Kleist, Prinz Friedrich von Homburg (wie Anm. 89), IV. Akt, 1. Auftritt. 108 Ebd., V. 1111. 109 Just skizziert die für diesen Passus relevanten, rechtshistorischen Positionen einer aufklärerischen Kritik am Begnadigungsrecht. Renate Just, Recht und Gnade in Heinrich von Kleists Schauspiel ›Prinz Friedrich von Homburg‹, Göttingen 1993, S. 73–76 u. 103– 104. Auch Foi stellt heraus, dass das Begnadigungsrecht in der Strafrechtstheorie der Aufklärung als »Überbleibsel einer despotischen Willkür« (S. 43) gilt; Maria Carolina Foi, Die Souveränität aufs Spiel setzen. Kleists ›Prinz Friedrich von Homburg‹, in: Hans Richard Brittnacher / Irmela von der Lühe (Hg.), Risiko – Experiment – Selbstentwurf. Kleists radikale Poetik, Göttingen 2013, S. 39–55.

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drücken? – / Was würde doch davon die Folge sein?«110 Ob man es nun perfide, listig oder klug nennen will – diese Verhandlung über die Gnade eröffnet gerade keinen Entscheidungsspielraum für den Verurteilten. Dass der Kurfürst in der Tat der einzige ist, der über Handlungsmacht verfügt, während sich Homburg in ein juridisches ›Verfahren‹ zu fügen hat, auch das erkennt der Prinz sehr genau: »Er handle, wie er darf; / Mir ziemt’s hier zu verfahren, wie ich soll!«111 Damit aber, das demonstriert der Fortgang des Dramas eindrücklich, ist die causa ›Homburg‹ für den Kurfürsten alles andere als gelöst. Er kann Homburg zwar dadurch, dass er ihm die Entscheidung über den eigenen Fall überantwortet, als einsichtigen, zur Gesetzestreue zurückgekehrten Untertanen vorführen; in diesem Zuge implodiert zweifelsfrei die Handlungsmacht des Prinzen, nicht aber sein Charisma. Der Schluss des Stücks nämlich zeigt, wie sich Homburgs Heldenruhm ganz ohne dessen Zutun verselbstständigt. Die drohende Rebellion der Heeresführung ist ein beredtes Beispiel dafür, dass jenes heroische Charisma die Kerkermauern mühelos zu überspringen vermag, ja sich von seinem Träger loslöst und – für den Herrscher umso bedrohlicher – andere nachhaltig zu affizieren vermag. So wird dem Kurfürsten zu Beginn des fünften Aktes nicht nur von einer unverhohlenen Sympathie für den todgeweihten Prinzen berichtet, der die Offiziere in einer an den Regenten gerichteten Bittschrift Ausdruck verleihen.112 Mehr noch existiere der Plan, Homburg aus der Haft zu befreien, falls der Kurfürst auf dem Todesurteil beharren sollte.113 Als Friedrich Wilhelm daraufhin keine Anstalten macht, den Richtspruch zu revidieren, erhält er vom Feldmarschall einen Rat – einen eindringlichen Rat, der auf die besondere Macht Homburgs aufmerksam macht: »Herr, ich beschwöre dich, wenn’s überall / Dein Wille ist, den Prinzen zu begnadigen: / Tu’s, eh ein höchst­ verhaßter Schritt geschehn! / Jedwedes Heer liebt, weißt du, seinen Helden; / Laß diesen Funken nicht, der es durchglüht, / Ein heillos fressend Feuer um sich greifen.«114 Kleist legt dem Feldmarschall in diesem Passus eine konzise Analyse des affektiven Wirkmechanismus politischen Heldentums in den Mund: Held und Heer verbinde ein Band ›glühender Liebe‹, das für den Souverän deswegen so gefährlich ist, weil sich seine führenden Militärs einem anderen nicht aus Gesetzestreue, sondern mit ihren Herzen verschreiben. Der Held gerät – Kleists Metaphorik spricht hier eine deutliche Sprache – zum potentiellen Brandstifter, der die Gemeinschaft ›anzustecken‹ und damit die kurfürstliche Herrschaft in Schutt und Asche zu legen in der Lage ist. Der durchaus mit Raffinement praktizierte Gesetzesrigorismus des Kurfürsten ändert also nichts an Homburgs Heldenstatus und an der durchweg aktionistischen Solidarität seiner Anhängerschaft. Was bleibt schließlich einem 110 111 112 113 114

Kleist, Prinz Friedrich von Homburg (wie Anm. 89), V. 1112–1117. Ebd., V. 1374 f. Ebd., V. Akt, 3. Auftritt. Ebd., V. 1443–1447. Ebd., V. 1457–1462.

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Herrscher, der sich gewiss nicht als absolutistischer Gottgesandter zeigt, sondern der sich selbst und seinen Staat an das Gesetz bindet, zu tun im Machtkampf mit einem, dem das Heer sein Herz geschenkt hat? Er zeigt seinerseits Herz, indem er das Recht temporär suspendiert und doch unbedingte Gnade walten lässt. Der überraschende Gnadenakt am Ende des Dramas kann als späte Einsicht des Kurfürsten in die Bedeutung des Emotionalen für machtpolitische Entscheidungsprozesse gewertet werden. Im gnädigen Zerrreißen des Todesurteils115 kann der Souverän Gefühle zeigen und damit einen Modus der politischen Adressierung sowie Dezision praktizieren, der sich Homburgs heroischer agency annähert. Allgemeiner formuliert kreist Kleists Heldenstück somit um den intrikaten Zusammenhang von Affektivität und politischer Handlungsmacht. Die Gnade des Souveräns stellt das letzte verbleibende Mittel gegen einen von der Gemeinschaft ›Begnadeten‹ dar, der selbst am Ende des Stücks in Ohnmacht fällt. Daraus erwachend wird er unter ›Heil‹-Rufen zum »Sieger in der Schlacht bei Fehrbellin«116 erklärt – ein klarer Ausdruck seines anhaltenden Charismas, dem Homburg jedoch nur noch in gänzlicher mentaler Derangiertheit mit der Frage begegnet: »Ist es ein Traum?«117 »Mich selber ruft er zur Entscheidung auf!«118 – Wenn Kleist seinen Prinzen dergestalt das Skandalon ausrufen lässt, dass ein Held entscheiden soll, bringt er damit den Konflikt zwischen Charisma und politischer Systemebene auf den Begriff  – eine Diskrepanz, die Weber zwar ebenso verzeichnet, die ihm aber als überwindbar gilt, da Charisma in Vernunft oder Tradition überführt und auf diesem Wege in institutionelle Herrschaftsstrukturen eingebettet werden könne. Schiller und Kleist dagegen insistieren auf jenem konfliktuösen Verhältnis, indem ihre politischen Dramen die Unmöglichkeit exponieren, vom Helden / von der Heldin zum / r politischen Funktionsträger*in zu werden; weder den machtbewussten noch den machtvergessenen Charismatiker*innen gelingt dieser Schritt. Den vorgestellten dramatischen Texten eignet somit ein prägnanter Theoriewert, der sich auf den Zusammenhang von Heroismus bzw. Charisma und Entscheiden kapriziert. Charismatiker vom Schlage Fieskos oder Wallensteins werden zwar als Entscheider präsentiert, aber in einem zweiten Schritt auch als diejenigen, die nicht nur in ihren politischen Ambitionen scheitern, sondern mehr noch die Anerkennung durch die politische Gemeinschaft verlieren. Darin jedoch erschöpft sich das analytische Spektrum der Schiller’schen und Kleists’schen Dramatik nicht. In »Wilhelm Tell«, »Die Jungfrau von Orleans« und »Prinz Friedrich von Homburg« werden Held*innen porträtiert, die sich gar nicht entscheiden, dafür aber in hohem Maße entscheidend für die politische Gemeinschaft sind, indem sie als Ermöglichungsgrund für kollektives Handeln firmieren  – auch dann 115 116 117 118

Ebd., S. 642. Ebd., V. 1854. Ebd., V. 1856. Ebd., V. 1342.

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noch, wenn sie ihre Handlungsmacht längst eingebüßt haben. Diese gemeinschaftliche Entscheidung für eine Heldin oder für einen Helden jedoch beruht, darin kommen die Dramen überein, ganz und gar nicht auf guten, im Sinne von vernünftigen, Gründen. Es kann als die über Weber hinausführende Pointe in Schillers und Kleists literarischer Reflexion von Charismatisierungsprozessen – nicht von Charisma – gelten, zu zeigen, dass darin Entscheidungsmodi am Werk sind, die auf der Ebene der Gefühle, der Imaginationen und Phantasien angesiedelt sind. Die Dramen lesen sich dergestalt als Studien zur Funktionsweise charismatischer Autorität avant la lettre. Sie offerieren keine vorbildlichen, für die daran beteiligten politischen Akteure ›glücklich‹ aufgehenden Heldennarrative, sondern formatieren ein nicht erst bei Kleist abgründiges ›Drama des Charismas‹. Die Semantik und die dramatische Struktur politischer Entscheidungsbedingungen und -dynamiken erweist sich dergestalt als analytisch aufschlussreich für den Problemhorizont politischen Heldentums in der beginnenden politischen Moderne.

Stephan Ruderer

Das Narrativ des gesetzestreuen Alleinentscheiders in der Selbstdarstellung der argentinischen Caudillos zu Beginn des 19. Jahrhunderts

1. Einführung Als Charles Darwin 1833 auf seiner Forschungsreise mit der ›Beagle‹ die argen­ tinische Provinz Santa Fe besuchte, hatte er für den dortigen langjährigen ­Gouverneur Estanislao López nur folgende Worte übrig: »Der Gouverneur, ­López, war zur Zeit der Revolution gemeiner Soldat, ist aber nun seit siebzehn Jahren an der Macht. Diese Stabilität der Regierung liegt an seinem tyrannischen Gebaren, denn Tyrannei scheint für diese Länder noch immer besser geeignet als eine republikanische Staatsform.«1 Die Herrscher der argentinischen Provinzen als Tyrannen – damit entsprach Darwins Einschätzung einem Topos, der sich in dieser Zeit herausbildete und bis heute wirkmächtig bleiben sollte. Der prägende Terminus für diese Darstellung war der des ›Caudillo‹, meist negativ gedeutet als willkürlicher Alleinherrscher über eine ihm persönlich abhängige Gruppe in einem weitgehend institutionen- und gesetzesfreien Raum.2 Schon im 18. Jahrhundert definierte das Standardlexikon der spanischen Sprache den Caudillo als jemanden, »der eine Kriegsgruppe lenkt, anleitet und entscheidet, so dass alle ihm gehorchen.«3 Dass der Begriff des Caudillos als willkürlicher Alleinherrscher auch heute noch häufig mit den argentinischen Provinzgouverneuren aus der Zeit der Postunabhängigkeit in Verbindung gebracht wird, beruht ursprünglich in erster Linie auf dem wirkmächtigen Buch von Domingo Faustino Sarmiento »Barbarei und Zivilisation. Das Leben des Facundo Quiroga«. Sarmiento, einer der wichtigsten argentinischen Intellektuellen und selbst Staatspräsident in der zweiten 1 Charles Darwin, Die Fahrt der Beagle. Darwins illustrierte Reise um die Welt. Übersetzt von Eike Schönfeld, Darmstadt 2016, S. 116. 2 Vgl. Michael Riekenberg, Caudillismus. Eine kurze Abhandlung anhand des La PlataRaums, Leipzig 2010. 3 Original: »que guía, manda y rige la gente de guerra, siendo su cabeza, y como tal todos le obedecen«. Real Academia Española, Diccionario de la Lengua Española, Madrid 1729, zitiert in: Raúl Fradkin / Jorge Gelman, Juan Manuel Rosas. La construcción de un liderazgo político, Buenos Aires 2015, S. 446. Alle Übersetzungen aus dem spanischen Original sind vom Verfasser.

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Hälfte des 19. Jahrhunderts, veröffentlichte das Werk 1845 im chilenischen Exil. Dorthin war Sarmiento vor der Herrschaft von Juan Manuel Rosas geflüchtet, der als Gouverneur der Provinz Buenos Aires von 1829 bis 1852 mit kurzen Unterbrechungen seine Macht auch über die anderen argentinischen Provinzen ausweiten konnte. Sarmientos Buch beschäftigt sich zwar vordergründig mit der Figur eines anderen Caudillos, Facundo Quiroga, es stellte aber tatsächlich eine der wirkmächtigsten Deutungen der Person und Herrschaft Rosas dar. Das Buch wurde zum Klassiker der argentinischen Literatur, wird auch heute noch im Schulunterricht gelesen und beeinflusste die argentinische Geschichtsschreibung bis weit ins 20. Jahrhundert hinein.4 Sarmiento lässt in seinem Werk keine Zweifel daran, wie Entscheidungen unter Rosas gefällt werden. So macht er schon zu Beginn deutlich, dass »sich im argentinischen Leben immer mehr die Vorherrschaft der rohen Gewalt einbürgert, die Vormacht des Stärkeren, die unumschränkte, rechenschaftslose Herrschaft der Befehlserteiler, die form- und diskussionslos vollzogene Justiz«.5 Für die Herrschaft Rosas bedeutete das, dass »die Verbrechen, die die Republik erleben muss, amtlich waren, durch die Regierung angeordnet«, denn unter Rosas hängt alles ab von »der Laune des Machthabers«.6 In einer entscheidenden Stelle, in der Sarmiento die Vorzüge einer zukünftigen Regierung skizziert, wird deren republikanische, demokratische, auf Institutionen und Gesetzen beruhende Staatsform der aktuellen Herrschaft Rosas gegenübergestellt. Dabei wird über knapp zwei Seiten jeder Abschnitt mit einer Charakterisierung Rosas eingeleitet, von denen hier nur exemplarisch zwei Auszüge zitiert werden sollen: »Weil er alle gebildeten Menschen mit dem Tode bedroht hat und zum Regieren nur seine Laune, seine Tollheit und seinen Blutdurst zugelassen hat. […] Weil er aus dem Verbrechen, dem Mord, der Kastrierung und der Abkehlung [sic] ein Regierungssystem gemacht hat […].«7 Wichtig für die vorliegende Analyse ist dabei nicht nur die Idee der gewalttätigen Willkürherrschaft Rosas, sondern vor allem der damit verbundene Topos des Alleinentscheiders. Für Sarmiento entscheidet Rosas allein, jede politische Entscheidung hängt allein von seiner Willkür ab. Damit wurde ein Narrativ geschaffen, das – mit Rosas als Ikone und wichtigstem Vertreter – auf die meisten anderen argentinischen Provinzgouverneure übertragen wurde, in das allgemeine Verständnis über die Zeit der Postunabhängigkeit bis heute einging und auch von der Historiographie in unterschiedlicher Bewertung bis in die 1980er Jahre fortgeschrieben wurde.8 4 Zu Sarmiento vgl. u. a. Elías José Palti, El momento romántico. Nación, historia y lenguajes políticos en la Argentina del siglo XIX , Buenos Aires 2009, S. 55 ff. 5 Domingo Faustino Sarmiento, Barbarei und Zivilisation. Das Leben des Facundo Quiroga. Ins Deutsche übertragen und kommentiert von Berthold Zilly, Frankfurt a. M. 2007, S. 34. 6 Ebd., S. 315. 7 Ebd., S. 313 (Hervorhebung im Original). 8 Vgl. Fradkin / Gelman, Juan Manuel Rosas (wie Anm. 3), S. 11–27 für eine ausführliche Darstellung der Geschichtsschreibung über Rosas.

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Mittlerweile ist die Historiographie jedoch weiter fortgeschritten und zeichnet ein deutlich differenzierteres Bild der argentinischen Caudillos. Zahlreiche Forschungsarbeiten konnten zeigen, dass die Provinzgouverneure keinesfalls nur innerhalb einer Situation der ›institutionellen Vakanz‹ ihren eigenen Willen durchzusetzen versuchten, sondern ganz im Gegenteil innerhalb der vorgefundenen Entscheidungsinstanzen über Aushandlungen selbst maßgeblich zum Aufbau von Institutionen, Verfassungen und Gesetzen beitrugen, über die politische Entscheidungen formal abgesichert getroffen werden konnten.9 Das allgemeine Narrativ der tyrannischen Führer bedarf also wichtiger Ergänzungen. Die vorliegende Analyse dockt an die aktuellen historiographischen Entwicklungen an, indem sie versucht, die zeitgenössischen Gegendarstellungen zum Bild Sarmientos und Darwins nachzuzeichnen. Dabei liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf dem Deutungsmuster des ›Alleinentscheiders‹, welches eines der zentralen Charakteristika des Narrativs vom diktatorischen Caudillo darstellt. Dies, so die These, in erster Linie aus zwei Gründen: Zum einen kann der Blick auf den Diskurs der Caudillos selbst und ihrer Apologeten über die Darstellung, Legitimation und Durchführung politischer Entscheidensprozesse wertvolle Hinweise geben auf deren Beitrag zum Aufbau demokratischer Institutionen und formaler Verfahren im Staatsbildungsprozess. Zum anderen weisen die Selbstdarstellungen der Caudillos aber selbst schon ambivalente Züge auf, über die besser verständlich wird, warum das Narrativ ihrer Gegner eine solche Wirkmacht entfalten konnte.

2. Politische Narrative und Entscheiden Für die Analyse kann grob zurückgegriffen werden auf politik- und sozialwissenschaftliche Theorieangebote zu politischen Narrativen. Wenn dort Narrative als »cultural ways of world-making« definiert werden, also als Deutungsmuster, die »create a world with an inherent set of values and beliefs«,10 dann wird deutlich, warum sich eine Analyse von Narrativen insbesondere für die Phase der argentinischen Nachunabhängigkeitszeit anbietet. In dieser Zeit sahen sich die politischen Akteure mit der komplexen Aufgabe konfrontiert, ein neues politisches Gemeinwesen zu etablieren, Institutionen, Verfassungen und Gesetze zu erlassen und als legitim anerkannte Entscheidensprozesse zu begründen. Die Unabhängigkeit der neuen lateinamerikanischen Staaten, also die Loslösung 9 Vgl. Noemí Goldman / R icardo Salvatore (Hg.), Caudillismos Rioplatenses. Nuevas miradas a un viejo problema, Buenos Aires 1998 und Valentina Ayrolo / Eduardo Míguez, Reconstruction of the Socio-Political Order after Independence in Latin America. A Reconsideration of Caudillo Politics in the River Plate, in: Jahrbuch für Geschichte Lateinamerikas 49 (2012), S. 107–131. 10 Beide Zitate aus Vera Nünning / Jan Rupp, Ritual and Narrative: An Introduction, in: Dies. u. a. (Hg.), Ritual and Narrative. Theoretical Explorations and Historical Studies, Bielefeld 2013, S. 1–21, hier S. 9 u. 11.

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von der spanischen Monarchie, erfolgte so gut wie immer über die Idee der Rückübertragung der Souveränität auf das Volk, so dass sich in den meisten Ländern relativ bald eine republikanische Staatsform durchsetzte. Wie dabei die politischen Entscheidensstrukturen ausgestaltet werden sollten, auf welcher territorialen Ebene sich welcher Machtanspruch durchsetzen und wie die neue Macht überhaupt legitimiert werden konnte, das waren höchst strittige Fragen, die in den meisten Fällen zu Gewalt und Bürgerkriegen führten. Es ging tatsächlich darum, eine ›neue Welt‹ zu kreieren, so dass den Erzählungen über Macht und Machthaber eine hohe Bedeutung zukam. Im Anschluss an neuere politikwissenschaftliche Ansätze kann man den Narrativen Wirkmacht für »Sinnvermittlung und Legitimitätserzeugung« innerhalb gesellschaftlicher Prozesse zusprechen, wobei Erzählungen gerade in Krisensituationen – wie sie die Zeit der Postunabhängigkeit im heutigen Argentinien darstellte – als »Verbindlichkeitsnarrationen« fungieren können, über die »emergente Erzählordnungen entstehen, in deren Sinnbezügen sich eine kollektiv verbindliche Entscheidung einrichten und mit Legitimität versorgen kann.«11 Diese Möglichkeit der Legitimitätserzeugung geht einher mit der Verkörperung von Machtansprüchen über politische Narrative, die dabei häufig auf »die Einführung und Vereinnahmung mitreisender Figuren«,12 wie zum Beispiel den »Vater der Nation«, abzielen.13 Politische Narrative enthalten sowohl prozessuale als auch deskriptive Elemente, die über die Vermischung von Fakten und Fiktionen dazu dienen sollen, eine »kollektive gesellschaftliche Erzählung« herzustellen.14 Gerade in einem politischen Kontext wie dem der beginnenden Staatsbildung in den lateinamerikanischen Staaten nach der Unabhängigkeit, in dem Gewalt zwar an der Tagesordnung erschien, sich aber häufig als völlig unzureichend erwies, einen längerfristigen Machtanspruch zu erhalten, geschweige denn zu legitimieren,15 gilt der Satz von Ulrich Sarcinelli: »Die Sprache in der Politik steht damit im Dienste von Machtgewinn und Machterhalt«.16 Es verwundert also nicht, dass

11 Vgl. Frank Gadiner u. a., Politische Narrative, Kulturen einer politikwissenschaftlichen Erzähltheorie, in: Ders. u. a. (Hg.), Politische Narrative. Konzepte  – Analysen  – Forschungspraxis, Wiesbaden 2014, S. 3–38, hier S. 11 (Zitat), 10 (Begriffe). 12 Vgl. für die Idee der Verkörperung von Machtansprüchen ebd., S. 11, Zitat auf S. 12. 13 Für die Idee des »Vaters der Nation«, in der der für das Folgende relevante »Alleinentscheider« auftaucht, insbesondere in autoritären Kontexten, vgl. Anja Franke-Schwehm, Politische Narrative in autoritären Herrschaftskontexten, in: Gadiner u. a., Politische Narrative (wie Anm. 11), S. 363–386, hier S. 369 ff. 14 Dominik Schreiber, Narrative der Globalisierung. Gerechtigkeit und Konkurrenz in faktualen und fiktionalen Erzählungen, Wiesbaden 2015, S. 14. 15 Vgl. Silke Hensel / Stephan Ruderer, Violencia y toma de decisiones políticas en Argentina y México de la postindependencia, in: Svenja Blanke / Sabine Kurtenbach (Hg.), Violencia y desigualdad. Adlaf Congreso 2016, Buenos Aires 2017, S. 35–51. 16 Ulrich Sarcinelli, Sprache und Kommunikation im politischen Diskurs, in: Gereon Flümann (Hg.), Umkämpfte Begriffe. Deutungen zwischen Demokratie und Extremismus, Bonn 2017, S. 59–78, hier S. 60.

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die von ihren politischen Gegnern als tyrannische Caudillos gebrandmarkten argentinischen Provinzgouverneure versuchten, schon zu Lebzeiten einen eigenen, positiv besetzten Diskurs über ihr Handeln durchzusetzen. Seit der bahnbrechenden Studie von Jorge Myers herrscht unter argentinischen Historikern Konsens, dass der politische Diskurs insbesondere bei Rosas entscheidend zur Langlebigkeit seiner Herrschaft beigetragen hat.17 Dem Gouverneur von Buenos Aires gelang es, über den öffentlichen Diskurs eine Verbindung von Legalität und Repression, von breiter Zustimmung der Bevölkerung und teilweise gewalttätiger Unterdrückung der Opposition zu erzeugen, die es ihm ermöglichte, dem von seinen Gegnern angeführten Narrativ des tyrannischen Caudillos eine positive Bezugsfolie für seine Anhänger entgegenzusetzen.18 Dominierend erwies sich dabei eine Strategie der kommunikativen Eskalation, über die die politische Gesellschaft in Föderalisten (federales, Anhänger Rosas) und Zentralisten (unitarios, Gegner Rosas) eingeteilt wurde, wobei in diesem Fall die unitarios selbst als tyrannische Monster porträtiert wurden, deren Machenschaften jegliche Gewaltanwendung gegen sie alternativlos werden ließ.19 Dieses in der Zeit sicherlich wirkmächtigste diskursive Element führte zu einer Zuspitzung der Entscheidenssituationen (man war entweder für oder gegen Rosas) und diente als wichtiges rhetorisches Legitimationsmittel für politische Entscheidungen (viele Entscheidungen mussten zum Schutz des Vaterlandes vor den unitarios getroffen werden). Auch aus diesem Grund ist es für die folgende Analyse als Hintergrundfolie bedeutsam; das Element federales versus unitarios soll aber nicht im Mittelpunkt stehen, vielmehr geht es dezidiert um die Narrative des Entscheidens, also darum, wie die Caudillos ihre politischen Entscheidungen und die Art und Weise, wie diese zustande kamen, in der Öffentlichkeit darstellten und legitimierten.

3. Die Selbstdarstellung der Caudillos Die Analyse der Art und Weise, wie Entscheidensprozesse von den Akteuren selbst erzählt und dargestellt wurden, ist bisher für den La-Plata-Raum der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch nicht erfolgt, sie kann jedoch sowohl einen Beitrag leisten zu einem differenzierteren Bild der politischen Anführer als auch miterklären, warum sich dieses differenzierte Bild bis in die Aktualität kaum durchzusetzen vermochte. Im Folgenden soll der Fokus nicht nur auf den Selbstbeschreibungselementen des ›prototypischen‹ Caudillos Juan Manuel 17 Jorge Myers, Orden y virtud. El discurso republicano en el régimen rosista, Buenos Aires 1995. 18 Vgl. ebd., S. 84. 19 Vgl. Birgit Enzmann u. a., Von ›alternativloser Gewalt‹ bis zum Ausdruck des ›allgemeinen Volkswillens‹. Gewalt als Ressource in Entscheidensprozessen im postkolonialen Argentinien und Mexiko, in: Ulrich Pfister (Hg.), Kulturen des Entscheidens. Narrative – Praktiken – Ressourcen, Göttingen 2019, S. 211–229.

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Rosas20 liegen, sondern auch auf der Darstellung des langjährigen, von Darwin erwähnten Provinzgouverneurs von Santa Fe, Estanislao López (regierte von 1818 bis 1838). Der Einschluss López’ in die Analyse erfolgt vor allem, weil López nicht nur neben Rosas der auch auf nationaler Ebene einflussreichste Provinzgouverneur der zweiten und dritten Dekade des 19. Jahrhunderts war, sondern auch weil der langjährige Verbündete von Rosas entscheidend an dessen Aufstieg zur Macht beteiligt war und in den ersten Jahren die Rolle eines politischen Vorbilds eingenommen hatte.21 Dabei muss bedacht werden, dass sich auf dem Gebiet des heutigen Argentinien ab 1820 zahlreiche unabhängige Provinzen herausbildeten, die sich im Innern als eigenständige Staaten konstituierten und sich über Pakte und ›außenpolitische‹ Verträge gegenüber den anderen Provinzen positionierten. Da die Provinz Buenos Aires aufgrund ihres Hafens als einzige über die Einnahmen aus dem Außenhandel verfügte, kam ihr eine Vormachtstellung gegenüber den anderen Provinzen zu, die von diesen insofern anerkannt wurde, als sie den außenpolitischen Vertretungsanspruch gegenüber anderen Nationen an den Gouverneur von Buenos Aires delegierten.22 Wir haben es also auf dem Gebiet des La Plata-Raums nach der Unabhängigkeit nicht mit einem Staat zu tun, sondern mit zahlreichen Provinzstaaten, deren Gouverneure zumindest vom Anspruch her auf der gleichen Ebene miteinander korrespondierten.23 Diese Situation führte unter anderem zu zwei Merkmalen, die im Folgenden auch im Mittelpunkt der Analyse stehen sollen. Zum einen provozierte die strittige Frage nach der Ausrichtung der neuen Republik als föderalistisch oder zentralistisch organisierter Staat zahlreiche Bürgerkriege zwischen den einzelnen Provinzen, die Entscheidung zur Gewalt stellte also ein bedeutendes Thema dar. Zum anderen kam es aber innerhalb der Provinzen zu einem zumeist von den Gouverneuren forcierten Prozess des Institutionenaufbaus, über den formale Verfahren und Instanzen zum Treffen von politischen Entscheidungen geschaffen wurden. Im Folgenden soll analysiert werden, wie López und Rosas diese beiden Prozesse, also die Entscheidung zur Gewalt und die Bedeutung von formalen Entscheidensverfahren, in ihren eigenen Verlautbarungen darstellten. Bei Sarmiento – das machen die kurzen obigen Zitate deutlich – entsprang die Entscheidung zur Gewalt allein Rosas’ Willkür. Der tyrannische Caudillo 20 Auch in neueren Lexikonartikeln wird Rosas  – entgegen der aktuellen Forschung  – immer noch zum ›Prototypen‹ des Caudillos stilisiert, vgl. Wil Pansters, Art. ›Caudillismo / caciquismo / coronelismo‹, in: Silke Hensel / Barbara Potthast (Hg.), Das Lateinamerika-Lexikon, Wuppertal 2013, S. 53–56, hier S. 54. 21 Vgl. Sonia Tedeschi, López, in: Jorge Lafforgue (Hg.), Historias de Caudillos Argentinos, Buenos Aires 1999, S. 199–234. 22 Vgl. Marcela Ternavasio, Historia de la Argentina, Buenos Aires 2009, S. 119 ff. 23 Vgl. José Carlos Chiaramonte, Raíces históricas del federalismo latinoamericano, Buenos Aires 2016, S. 105 ff. Aus diesem Grund gab es auch bis Mitte des 19. Jahrhunderts keinen Staat mit dem Namen ›Argentinien‹. Aus Gründen der Lesbarkeit wird das Wort trotzdem teilweise verwendet, wenn es um die Provinzen im Rio de la Plata Gebiet geht.

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entschied sich ohne die Befolgung von Regeln, formalen Verfahren oder anderen guten Gründen für die gewalttätige Repression seiner Gegner. In den Berichten von Rosas oder López sah dies  – auf den ersten Blick nicht verwunderlich  – anders aus. Der Einsatz von Gewalt bedingt immer ein hohes Legitimationsbedürfnis.24 Interessant an den Diskursen der Provinzgouverneure erscheint jedoch, dass hier die eigene Gewalt häufig als alternativlos dargestellt wurde, die Entscheidung zur Gewalt also von außen aufgezwungen war, es sich bei Krieg oder Repression im Grunde gar nicht um eigene – und erst recht nicht willkürliche – Entscheidungen handelte.25 Zwei Motive spielten eine besondere Rolle dafür, die eigene Gewalt jeweils als alternativlos erscheinen zu lassen. Zum einen ließen, im Rahmen des oben erwähnten wirkmächtigen Topos von federales versus unitarios, also eindeutig Guten gegen eindeutig Böse, die boshaften Machenschaften der politischen Feinde gar keine andere Wahl als den Eintritt in den Bürgerkrieg oder die Repression deren Anhänger. So beschrieb Rosas in einem Brief an López ausführlich die Intrigen der Unitarier, um daraus zu folgern: »In solch einer Situation […] bleibt keine andere Möglichkeit, um das Land von der Anhäufung des Schlechten zu befreien, als die Säuberung von allem, was nicht dem allgemeinen Willen der Republik entspricht.«26 Für die föderalistischen Provinzgouverneure war klar, dass man die Unitarier nicht mit Argumenten überzeugen konnte und diese sich auch nicht an festgeschriebene Regeln halten würden. Der einzige mögliche Umgang mit ihnen war der Gewalteinsatz. So rechtfertigte López schon 1820 seine Kampfhandlungen im Bürgerkrieg mit folgenden Worten: »Ich sehe kein anderes Mittel als wieder loszumarschieren und ihnen, mit den Waffen, den Weg der Gerechtigkeit zu zeigen, da sie ihn mit der Vernunft nicht verstehen wollen.«27 Gegenüber den »wilden Unitariern«28 konnte man nur mit Gewalt reagieren, die Entscheidung zur Gewalt lag also in der Unmenschlichkeit der Gegner begrün24 Vgl. hierzu u. a. Byung-Chul Han, Was ist Macht?, Stuttgart 2005, S. 100. 25 Die Rede von ›alternativlosen Entscheidungen‹ ist eigentlich semantischer Unsinn, da eine Entscheidung immer die Wahl zwischen Alternativen voraussetzt. Als Legitimationsfigur – und darum geht es an dieser Stelle – besitzen sie allerdings eine hohe Wirkmächtigkeit und treten historisch gesehen häufig auf. 26 Original: »En tales circunstancias […] no queda otro recurso para salvar al país del inmenso cumulo de males que lo amenaza sino el de la depuración de todo que no sea conforme al voto general de la República«. Rosas an López, 20.4.1835, in: Archivo General de la Provincia de Santa Fe (AGPSF), Gobierno, Bd. 5, 1835, fol. 43. 27 Original: »no hallo otro medio que marchar otra vez  a mostrarles, con las armas, el camino de la justicia ya que no lo quieren ver con la razón«. López al Cabildo interino, 12.3.1820, in: Archivo General de la Provincia de Santa Fe (AGPSF), Papeles de López, Parte II , Santa Fe 1977, S. 13. 28 Mit der Kopfzeile »Tod den wilden Unitariern« musste zu Zeiten Rosas jedes offizielle Schreiben beginnen. Über dieses Lemma wurde der Topos der ›unmenschlichen‹ (wilden) Gegner wirkmächtig verbreitet. Vgl. Fradkin / Gelman, Juan Manuel Rosas (wie Anm. 3), S. 290.

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det und entsprang nicht dem eigenen Willen. Dabei war man sich auf Seiten der sogenannten Caudillos sehr bewusst, im Falle von Gewalthandlungen gerade nicht als ›Caudillo‹ zu erscheinen, denn die negative Konnotation des Begriffs wurde auch im Narrativ der Gouverneure beibehalten, nur eben auf ihre Gegner und Kritiker angewandt.29 So schrieb Rosas während des Bürgerkriegs mit den Unitariern im Jahr 1830 an López, dass man auf keinen Fall auf die Forderungen der Gegenseite eingehen dürfe, denn sonst würde man selbst dastehen »wie Caudillos der Anarchie und Unordnung«. Entscheidend war vielmehr, dass »man uns niemals vorwerfen kann, dass wir zu Krieg aufstacheln.«30 In diesen Worten wird die Eigenwahrnehmung von Rosas und seinen Verbündeten sehr deutlich. Den Provinzgouverneuren war die Gefahr, als Caudillo gebrandmarkt zu werden, durchaus gegenwärtig, von daher galt es, auf jeden Fall zu vermeiden, in der Öffentlichkeit als Auslöser von Gewalthandlungen identifiziert zu werden. Die Entscheidung für die Gewalt sollte – zumindest im Diskurs – immer von Anderen ausgehen, die eigene Selbstdeutung war von der eines ›anarchischen Caudillos‹ weit entfernt. Diese Haltung kennzeichnete auch die Rechtfertigung von López für seinen Eintritt in den Bürgerkrieg mit den Unitariern, bei der er explizit den Vorwurf der Gegenseite zurückweist, die Provinz Santa Fe als willkürlicher Alleinentscheider zu regieren. In seiner Antwort an den gegnerischen General skizziert er den ›demokratischen‹ Institutionenaufbau seines ›Staates‹, um die Idee einer Caudillo-Regierung entschieden zu verneinen: »Die Provinz von Santa Fe, in der die Legislative und die Judikative unabhängig von der Exekutive existieren, wird dargestellt wie eine Gruppe von unterwürfigen Sklaven, die nur der Stimme ihres Herrschers gehorchen: sie verlangt Genugtuung für diese Beleidigung«, denn: »die Gewalt gibt nicht das Recht, so zu beleidigen«.31 Die weiteren Ausführungen in dieser Rechtfertigung verweisen aber auch schon auf den zweiten Grund, warum die föderalistischen Anführer ihre Entscheidungen zur Gewalt als alternativlos darstellen konnten. López erinnerte den feindlichen General daran, dass er im Falle, dass er keine zufriedenstellende Erklärung für dessen Beschuldigungen bekommen sollte, »sogar noch auf das Mittel, das der Artikel 6 des Vertrags del Cuadrilátero vom 25. Januar 1822 be29 Einzige Ausnahme hierzu ist die Selbstbezeichnung von López als ›Caudillo‹ in der von ihm 1819 für Santa Fe erlassenen Verfassung. Später sollte das auch bei ihm nicht mehr vorkommen, vgl. Fradkin / Gelman, Juan Manuel Rosas (wie Anm. 3), S. 427. 30 Original: »como caudillos de la anarquía y el desorden« […] »que jamas se nos impute que hemos provocado la guerra«. Rosas an López, 15.7.1830, in: Enrique Barba (Hg.), Correspondencia entre Rosas, Quiroga y López, Buenos Aires 1958, S. 120 u. 122. 31 Original: »La Provincia de Santa Fe en la que el Poder Legislativo y Judicial se ejercen con independencia del Ejecutivo está retratada […] como un grupo de esclavos sumisos a la voz de su amo: ella exige satisfacción de esta infamia« […] »la fuerza […] no dá seguridad para difamar así«, López a José Manuel Díaz Vélez, ministro secretario general del despacho del gobierno provisorio de la provincia de Buenos Aires, 30.12.1828, in: Leyes y decretos de la Provincia de Santa Fe. Recopilación Oficial, Bd. 1, Santa Fe 1925, S. 260 f.

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reitstellt, zurückgreifen werde«, und nur im äußersten Fall »sich genötigt sehe, die Würde seiner Provinz auf die einzige Weise wieder herzustellen, die dann noch bleibe«.32 Hier lässt sich ein zweites wichtiges Element in der Eigenwahrnehmung der Caudillos ausmachen. López bezieht sich ausdrücklich auf einen Artikel eines Vertrags zwischen den Provinzen, der formal die Möglichkeiten von Kriegshandlungen untereinander regelte, also auf ein formales Verfahren für die Entscheidungsfindung zur Gewalt. Der Hinweis auf die Einhaltung von formalen Institutionen und Regeln diente hier nicht nur der Zurückweisung des Caudillo-Vorwurfs (in Santa Fe herrscht Gewaltenteilung), sondern auch der Rechtfertigung der eigenen Gewalt, die erst nach Ausschöpfung aller formalen Kanäle und abgesichert durch Verträge als ›letztes Mittel‹ angewandt wird. Insbesondere für López, aber auch für Rosas war der Verweis auf formale Verfahren der Entscheidungsfindung im Hinblick auf die Legitimation der eigenen Gewalt wichtig. Hier zielte die Darstellung darauf ab, dass die Entscheidung zur Gewalt gerade nicht der eigenen Willkür entsprang, sondern innerhalb rechtmäßiger formaler Kanäle ablief bzw. sogar erst zur Verteidigung dieser formalen Verfahren eingesetzt werden musste, da sich der politische Gegner nicht an diese formalen Vorgaben halte. Beide Anführer waren sich der Bedeutung von formalen Verträgen und Pakten für ihr Handeln bewusst: »Das Vaterland gibt ein erschreckendes Bild ab, wenn der Glaube an die Pakte zerstört wird.«33 Die Analyse der Selbstdarstellung der Caudillos gibt mit dem Element der Bedeutung von formalen Verfahren aber auch den Blick frei auf eine differenziertere Einordnung der Handlungen dieser Provinzgouverneure, da das Insistieren auf Regeln und Gesetzen mehr war als ein rein diskursiver Bestandteil der öffentlichen Präsentation. Vielmehr, das konnte die neuere Forschung zeigen, handelten viele dieser Herrscher gerade nicht in einer Situation der ›institutionellen Vakanz‹, sondern passten sich der vorgefundenen republikanischen Entscheidensarchitektur an bzw. trugen selbst zum Aus- oder Aufbau von staatlichen Institutionen bei.34 So ist es nicht verwunderlich, dass dieser Aspekt des eigenen Handelns auch in das Deutungsmuster der öffentlichen Selbstrepräsentation übertragen und als semantisches Element gegen die Caudillo-Kritik herangezogen wurde. Besonders deutlich manifestierte sich dies an der Selbstbezeichnung Rosas’ als »Wiederhersteller der Gesetze«, einem Titel, mit dem sich der Gouverneur offiziell schmückte und der auf eines der wichtigsten Legitimationselemente seiner Herrschaft abzielte. Wie Rosas selbst während seiner ersten Rede vor dem Parlament der Provinz Buenos Aires nach seinem erneuten Machtantritt 1835 darstellte, war er angetreten, »um die Ordnung, die Garan32 Original: »usaría aún del medio que le suministre el artículo 6 del tratado del 25 de enero de 1822, acordado en el congreso del cuadrilátero«, […] »se vería forzado a sostener la dignidad de su provincia del único modo que le quedara«. Ebd., S. 262 f. 33 Original: »Horroriza […] el cuadro que presenta nuestra patria, si la fe de los pactos se destruye«. Rosas an Felix de Àlzaga, 20.7.1829, in: Marcela Ternavasio (Hg.), Correspondencia de Juan Manual de Rosas, Buenos Aires 2005, S. 72. 34 Vgl. Fradkin / Gelman, Juan Manuel Rosas (wie Anm. 3), S. 203 ff.

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tien und die Gesetze, die bisher nicht befolgt wurden, wiederherzustellen.«35 Die Einhaltung von formalen Verfahren der Entscheidensfindung  – Gesetze und Regeln, die die politische Ordnung begründeten – diente im öffentlichen Diskurs als prinzipielle Legitimation, auch im Hinblick auf die außergewöhnlichen Sondervollmachten, die das Parlament Rosas eingeräumt hatte und die ihm eine fast diktatorische Machtfülle gestatteten. Das Narrativ des gesetzestreuen Entscheiders fungierte – ganz im Sinne der Aussage Sarcinellis – als Vorlage für Machtgewinn und Machterhalt. Dabei wurde dieses Narrativ auch in weniger öffentlichen Zusammenhängen weitergeführt. Beispielhaft hierfür soll ein Briefwechsel zwischen Rosas und López angeführt werden, der zwar vordergründig nicht unbedingt für eine breitere Öffentlichkeit bestimmt war, in dem aber deutlich wird, wie sehr die Anführer auch in ihren internen Debatten das Argument der Gesetzestreue heranzogen, um ihre Entscheidungen zu legitimieren. Der zentrale Gegenstand des Briefwechsels war ein deutlicher Konflikt der beiden Verbündeten um die Auslegung des Vertrags vom 4. Januar 1831, mit dem sich die argentinischen Provinzen zu einer föderalistischen Liga zusammengeschlossen hatten.36 Beide Gouverneure verfolgten in diesem Konflikt unterschiedliche Interessen, beide argumentierten aber rein formal mit dem Argument der strikten Einhaltung des Vertrages. Auf den Hinweis von Rosas, dass López Auslegung nicht dem Inhalt zweier Artikel des Pacto Federal entspreche, antwortete dieser: »ich freue mich, Sie überzeugen zu können, dass aufgrund des Tenors dieser beiden Artikel die Kommission, oder, was das Gleiche ist, die Regierungen der Liga über ihre Repräsentanten, religiös und buchstabengetreu die beiden von Ihnen zitierten Artikel einhalten, genauso wie alle 17 Artikel des Vertrags vom 4. Januar.«37 Ganz dem Tenor dieser formalen Argumentation folgend, wies Rosas in seiner Antwort wiederum darauf hin, dass »die Legalität für mich ein allumfassendes Element ist, und ich keine Opfer scheue, um mich nicht dem Vorwurf der Inkonsequenz auszusetzen«.38 Der Konflikt wurde letztlich aufgrund der größeren Machtfülle Rosas’ und der finanziellen Abhängigkeit López’ von Buenos Aires im Sinne des »Wiederherstellers der Gesetze« entschieden. Wichtig für die vorliegende Analyse erscheint aber vor allem die Argumentation, in der beide versuchen, das Narrativ des gesetzestreuen Entscheiders in den Vordergrund 35 Original: »para restablecer el órden, las garantías y las mismas leyes desobedecidas«. Mensaje a la Honorable Representación de la Provincia, 31.12.1835, in: Registro Oficial de la Provincia de Buenos Aires, Buch 14, Nr. 3, 1835, S. 379. 36 Vgl. Chiaramonte, Raíces históricas (wie Anm. 23), S. 143 ff. 37 Original: »yo me lisonjeo de convencer a usted que por el tenor de estos mismos articulos, la comisión, o lo que es lo mismo, los gobiernos de la liga por conducto de sus respectivos comisionados, han cumplido fiel y religiosamente con estos dos artículos que usted cita, con todos y cada uno de los 17 de que se compone el Tratado de 4 de enero«. López an Rosas, 24.4.1832, in: Barba, Correspondencia (wie Anm. 30), S. 184. 38 Original: »la legalidad es para mi un elemento general y no hay sacrificio que no haría por no cargar con la nota de inconsecuente«. Rosas an López, 17.05.1832, in: ebd., S.195.

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zu stellen, und die exemplarisch für die öffentliche Selbstdarstellung der Provinzgouverneure stehen kann. Auch hier wird der Versuch deutlich, sich vom Vorwurf des willkürlichen Caudillos abzuheben. Beiden bisher behandelten – zentralen – Elementen der Selbstdarstellung der Provinzherrscher ist diese Stoßrichtung gemeinsam: In Bezug auf die Gewalt wurde versucht, diese als von außen aufgezwungen erscheinen zu lassen, man selbst entschied sich gerade nicht wie der ›barbarische Caudillo‹ für die Gewalt, sondern war gezwungen, in Einhaltung der Gesetze oder zur Abwehr vor den monströsen Feinden, gewalttätig zu handeln. In ähnlicher Weise stellten die politischen Entscheidungen gerade keine Willkürhandlungen dar, sondern folgten strikt den legalen, formalen Verfahren und Vorgaben. In diese Versuche, ein positiv besetztes Selbstbild in Bezug auf das Entscheidungshandeln der Provinzherrscher zu konstruieren, mischten sich aber auch ambivalente Töne, die diesem Bild eine andere Akzentuierung geben konnten. Deutlich wird dies schon in der eben analysierten Diskussion, in der López Rosas unter anderem vorwarf, bei seiner Auslegung der Artikel von falschen Beratern umgeben zu sein. Die Antwort Rosas verweist auf ein weiteres Element in der Selbstdarstellung des Entscheiders: »Befreien Sie sich für immer von ihrer Täuschung, [ich sei von falschen Beratern umgeben,] alle Handlungen dieser Regierung entspringen, so lange ich ihr vorsitze, nur der Inspiration durch mein Gewissen. Ich berate mich, diskutiere, höre in diversen Geschäften zu, und danach handle ich nach meiner Entscheidung und mit der ganzen Unabhängigkeit eines Mannes, der sich als solcher schätzt.«39 Hier wird die Eigenwahrnehmung des Prozesses des politischen Entscheidens der argentinischen Provinzgouverneure in wenigen Worten beschrieben. So gibt es zwar eine Instanz der Beratung, in der die Meinung Anderer eingeholt wird, doch letztlich entscheidet der Herrscher in völliger Unabhängigkeit nur seinem Gewissen verpflichtet allein. Dabei handelte es sich zwar um einen positiv besetzten Alleinentscheider, der dem Wohl des Vaterlandes dient, der Gesetzestreue verpflichtet ist und nur aufgrund der chaotischen Umstände, die seine Herrschaft notwendig machen, die Macht übernimmt. Eine Deutung, die Rosas in der oben schon zitierten Rede zu seinem zweiten Machtantritt unmittelbar vor dem Hinweis auf die »Wiederherstellung der Gesetze« vorgibt: »es war die fatale Zeit gekommen, in der der persönliche Einfluss über die Massen notwendig wurde«.40 Der »persönliche Einfluss« wurde zwar mit der Gesetzestreue verbunden, das Vaterland blieb jedoch in dieser Erzählung abhängig von einer einzelnen Person. Der Caudillo war – auch in der Selbstwahrnehmung – ein Alleinentscheider. 39 Original: »Desengañese usted desde ahora para siempre, cuantos actos observe usted de este gobierno mientras yo lo presida, no vienen de otra inspiracion que de mi concienca. Consulto, discuto, oigo en los negocios, y después obro con arreglo y mi juicio y con toda la independencia de un hombre que se estima en algo«. Ebd., S. 199. 40 Original: »habia llegado aquel tiempo fatal, en que se hace necesario el influjo personal sobre las masas«. Mensaje a la Honorable Representación de la Provincia, 31.12.1835, in: Registro Oficial de la Provincia de Buenos Aires, Buch 14, Nr. 3, 1835, S. 379.

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Dieses Narrativ lässt sich schon aus dem Briefwechsel von Rosas und López herauslesen, auch wenn der Historiker dafür eher auf das achten muss, was nicht gesagt wurde. An so gut wie keiner Stelle in der umfangreichen Korrespondenz der beiden Verbündeten erscheint ein Hinweis darauf, dass man seine Entscheidungen vom Willen des jeweiligen Provinzparlaments – in den jeweiligen Landesgesetzgebungen das offizielle Organ der Legislative – abhängig mache oder gar den Entscheidungen der Legislative folge. Weder beim Versuch, die eigene Entscheidung zu legitimieren, noch dabei, den anderen zu einer bestimmten Entscheidung zu drängen, rekurrierten die beiden Anführer in ihrer privaten Korrespondenz auf andere Quellen als ihr eigenes Gewissen und ihre Handlungsstärke, um ihre politischen Entscheidungen zu begründen.41 Deutlicher, da explizit angeführt, wird das Narrativ des gewissenhaften Alleinentscheiders aber in den Erzählungen ihrer Anhänger und Apologeten. Beispielhaft für diesen Diskurs soll aus den noch zu Lebzeiten der Gouverneure erschienenen Biographien von Rosas und López zitiert werden, die von Pedro de Angelis, einem bedeutenden Intellektuellen und Journalisten und vehementen Rosas-Verteidiger, verfasst wurden. De Angelis schrieb beide Lebensbeschreibungen in Rosas’ Auftrag, und man kann davon ausgehen, dass sich hier das Selbstbild der Beschriebenen deutlich widerspiegelte.42 In beiden Texten tauchen die oben dargestellten Elemente der Selbstdarstellung der Caudillos auf: De Angelis beschreibt seine Protagonisten als gesetzestreue Entscheider, die zum Einsatz von Gewalt allerhöchstens durch desaströse Umstände oder barbarische Feinde gezwungen wurden, tatsächlich aber ihre Macht, und damit auch ihre Entscheidungsposition, allein auf die breite Zustimmung der Bevölkerung stützen konnten. So wurde in der Rosas-Biographie dessen »unveränderlicher Respekt für die Institutionen des Landes« hervorgehoben, der ihn trotz zahlreicher Aufforderungen von Freunden davon abgehalten habe, einen illegalen Machtwechsel zu forcieren.43 In ähnlicher Weise wird die Entscheidung López’, in einen Bürgerkrieg gegen einen ehemaligen Verbündeten einzutreten, damit begründet, dass jener »ohne die geringste Idee von der Heiligkeit der Verträge, sich daran machte, jenen [Vertrag] vom 24. November 1820 zu brechen«.44 Die 41 Vgl. Barba, Correspondencia (wie Anm. 30). In der Sammlung von Barba sind natürlich nicht alle Briefe der beiden aufgenommen, doch eine große Anzahl. Daneben handelt es sich bei den zitierten Aussagen um ›private‹ Korrespondenz, die aber durchaus in dem Bewusstsein geschrieben wurde, dass der Andere dies veröffentlichen könnte, und in der sich das Selbstverständnis der Caudillos stärker widerspiegelt als in manchen ›öffentlichen‹ Aussagen. 42 Vgl. Pedro de Angelis, Acusación y Defensa de Rosas, hg. v. Rodolfo de Trostiné, Buenos Aires 1946. Zur Bedeutung von de Angelis vgl. auch Myers, Orden y virtud (wie Anm. 17), S. 165 ff. 43 Original: »Su respeto inalterable a las instituciones del pais«. Pedro de Angelis, Ensayo histórico sobre Rosas, 1830, in: de Angelis, Acusación (wie Anm. 42), S. 203. 44 Ortiginal: »sin la menor idea de la santidad de los tratados, se preparaba a violar aquel del 24 de noviembre de 1820«. Pedro de Angelis, Biografía de Estanislao López, 1830, in: ebd., S. 214.

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Gewalt wurde hier aufgezwungen von einem Gegner, der die formalen Kanäle der Entscheidungsfindung nicht anerkennen wollte – und der damit im absoluten Gegensatz stand zum »Respekt für die Institutionen« der Protagonisten. Diesen dagegen war die »Zustimmung des Volkes«45 gewiss, denn aufgrund ihres »gerechten, menschlichen und mitfühlenden« Charakters repräsentierten sie die »einzige Autorität in der Provinz, die respektiert wurde«.46 In beiden Darstellungen dominierten die Elemente der Anerkennung der Legalität und der vorhandenen Institutionen sowie die Bedeutung der Zustimmung des Volkes, welche als Hauptgrund für ihre Autorität, und damit für die Berechtigung, politische Entscheidungen zu treffen, ausgemacht wurde. Gleichzeitig tritt in den Texten aber – viel stärker als in den Eigendarstellungen – die Idee des heroischen Alleinentscheiders zu Tage. So wird zu López zwar noch einmal betont, dass er aufgrund der »freien Wahl seiner Mitbürger« an die Macht gekommen sei, charakterisiert wird er dann aber als jemand, der »fest in seinen Absichten, sich nie durch Forderungen oder Drohungen seiner Gegner hat beeinflussen lassen«47. López agierte in seiner Provinz wie »ein Vater im Schoß seiner Familie«,48 also als jemand, der – ganz dem patriarchalischen Gesellschaftskonzept der Zeit entsprechend – allein die Entscheidungen zum Wohl seiner Mitbürger trifft. Noch deutlicher wird das Element des entschlossenen Alleinentscheiders bei der Erzählung Rosas’, denn im Falle einer schwierigen politischen Mission war »nur der Herr Rosas, aufgrund seines kreativen Genies, in der Lage, ein solch gigantisches Unternehmen aufzunehmen«,49 und wenn deutlich wurde, dass man der gewaltsamen Auseinandersetzung nicht aus dem Weg gehen konnte, so »zögerte der Herr Rosas nicht eine Sekunde«.50 Aufgrund ihrer Ausnahmenerscheinungen  – so suggerieren die Erzählungen  – waren beide Protagonisten dazu in der Lage, heldenhaft und allein zu entscheiden. Dabei handelte es sich bei diesen Alleinentscheidern nicht um egoistische Caudillos, sondern um gütige Anführer, die nur das Wohl des Vaterlandes im Sinn hatten. So »genügte eine Unterredung des Herren Rosas mit dem exzellenten Gouverneur von Santa Fe, um das Fundament für eine ehrliche und dauerhafte Versöhnung [ihrer beiden Provinzen] zu legen.«51 So sehr die Zustimmung des Volkes für die Gouverneure und ihre Liebe zu den Institutionen betont wurde, 45 Original: »favor popular«. Ebd., S.213. 46 Original: »justo, humano y compasivo con todos« […] »única autoridad, que fuese respetada«. Beide Zitate aus de Angelis, Acusación (wie Anm. 42), S. 193. 47 Original: »El voto libre de sus conciudadanos« […] »Firme en su propósito, jamás se dejó amedrentar de los clamores y de las asechanzas de sus antagonistas«. Beide Zitate aus de Angelis, López (wie Anm. 44), S. 213. 48 Original: »como un padre en el seno de su familia«. Ebd., S. 220. 49 Original: »Efectivamente, solo el Sr. Rosas, por su genio creador, pudo encargarse de una empresa tan gigantezca«. De Angelis, Acusación (wie Anm. 42), S. 203. 50 Original: »El Sr. Rosas no trepidó un instance ». Ebd., S. 204. 51 Original: »bastó una entrevista del Sr. ROSAS con el Exnio. Sr. gobernador de Santa Fé, para echar los cimientos de una reconciliación franca y duradera«. Ebd., S.196.

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so sehr wurde auch klar, dass jegliche politische Entscheidung allein den Handlungen und Ideen dieser außergewöhnlichen Personen entsprang. Dem Vorwurf des willkürlichen und blutrünstigen Caudillos wurde zwar die Friedensliebe und Gesetzestreue der entscheidenden Akteure entgegengehalten, die Idee des Alleinentscheiders wurde aber nicht in der gleichen Weise mit einem – ja durchaus denkbaren – Hinweis auf demokratische Entscheidensprozesse unter Einbezug des Parlaments oder der Regierungsminister beantwortet. In diesem Fall vertauschte das Narrativ nur die Adjektive: aus dem ›tyrannischen‹ und ›verbrecherischen‹ Caudillo von Darwin und Sarmiento wurde jetzt der heldenhafte und gütige Alleinentscheider in den Biographien von Rosas und López. Mit Fokus auf dem Bild des Entscheidens und des Entscheiders lässt sich somit ein ambivalentes Fazit im Hinblick auf die Selbstdarstellungen der argentinischen Gouverneure zu Beginn des 19. Jahrhunderts ziehen.

4. Fazit Auch in Argentinien schrieben die Gewinner die Geschichte. Nach dem Sturz Rosas’ 1852 und der darauffolgenden Vereinigung der Provinzen zu einem Nationalstaat kam in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Generation seiner Feinde an die Macht. Diese griffen das in erster Linie von Sarmiento geprägte Narrativ des tyrannischen Caudillos dankbar auf, um die eigene Regierung als Inbegriff der Zivilisation positiv von der als blutrünstig charakterisierten und zur Barbarei zählenden Diktatur Rosas abzusetzen (Sarmiento war selbst von 1868 bis 1874 Staatspräsident).52 In dieser Geschichtsdeutung ist sicherlich der wirkmächtigste Grund für die Langlebigkeit des negativ besetzten CaudilloNarrativs zu sehen. Entscheidend zu dieser Langlebigkeit beigetragen haben aber – das sollte die Analyse zeigen – auch die Selbstdarstellungen der Provinzgouverneure um Rosas, die ein wichtiges Element der Erzählung vom Caudillo, nämlich die Idee des Alleinentscheiders, ebenso beinhalteten, wenn auch im Versuch, diesem Alleinentscheider eine positive Konnotation beizugeben. Für die Anhänger der Caudillos basierten sämtliche politischen Entscheidungen ebenso auf dem alleinigen Willen dieser starken Führerpersönlichkeiten. Diese Idee gründete neben den patriarchalischen Gesellschaftsvorstellungen der Zeit auch auf zeittypischen Gender-Aspekten. Der männliche Gaucho zeichnete sich durch physische Kraft, heldenhaftes Verhalten im Kampf und die Fähigkeit zu schnellen, unumstößlichen Entscheidungen aus.53 Diesem Typus sollten – gerade in der öffentlichen Darstellung – auch die politischen Herrscher entsprechen. Aus diesem Grund trug auch das Selbstbild der argentinischen Anführer zur Idee der tyrannischen Caudillos bei, da auch der positive Diskurs die autoritären Entscheidensmerkmale der Herrscher hervorhob. Über die Betonung der 52 Vgl. Palti, El momento romántico (wie Anm. 4), S. 55 ff. 53 Vgl. Richard Slatta, Gauchos and the vanishing frontier, Nebraska 1992, S.180 ff.

Das Narrativ des gesetzestreuen Alleinentscheiders   

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ambivalenten Elemente im Selbstbild der Provinzgouverneure kann eine Analyse der Narrative vom Entscheiden und Entscheider miterklären, warum das Stereotyp vom willkürlichen Caudillo auch in der Historiographie eine solche Wirkmacht entfalten konnte. Darüber hinaus trägt die Analyse der öffentlichen Präsentation der Entscheidenshandlungen dieser Gouverneure dazu bei, ein differenziertes Bild der politischen Herrscher der unmittelbaren Nachunabhängigkeitszeit auf dem Gebiet des heutigen Argentinien zu zeichnen. Es wurde deutlich, dass das von Rosas und López vorgegebene Bild des gesetzestreuen, friedliebenden Herrschers, der nur aufgrund der fatalen äußeren Umstände die Macht zur Rettung des Vaterlandes und zur Wiederherstellung der Institutionen übernehmen musste, der »Sinnvermittlung und Legitimitätserzeugung« dienen sollte, über die die eigenen Machtansprüche verkörpert werden konnten. Mit dem ›Wiederhersteller der Gesetze‹ wurde eine »Verbindlichkeitsnarration« geschaffen, mit der die eigenen Entscheidungen mit Legitimität versehen werden konnten.54 So wenig wie der kritische Historiker nun ein solches Selbstbild vollständig übernehmen kann, so wenig ist jedoch die komplette Verwerfung dieser Erzählungen – wie von der älteren Historiographie bis weit ins 20. Jahrhundert hinein geschehen  – anzuraten. Für die langfristige Wirkmacht solcher Verbindlichkeitsnarrationen müssen diese zumindest eine Verankerung in der Realität, also in der konkreten historischen Entwicklung, aufweisen.55 Weder Rosas noch López hätten sich allein aufgrund von gewalttätiger Repression so lange an der Macht halten können. Die Betonung von Legalität und Erneuerung der Institutionen verweist auf ein echtes Anliegen der Caudillos, die über die Schaffung von formalen Institutionen – Verfassungen, Gesetzen, Pakten – und das Zurückgreifen auf formale Verfahren – Wahlen, Plebiszite – nicht nur den eigenen Machtanspruch absicherten, sondern auch zum Prozess der Staatsbildung entscheidend beitrugen. Erfolgreiche Herrscher wie López oder Rosas vermochten es, über Aushandlungen ihre eigenen Entscheidungsbefugnisse zwar auszuweiten, mussten dabei aber gleichzeitig die republikanischen Ansprüche an Machtgewinn und -erhalt erfüllen. Das ja auch selbst propagierte Bild des Alleinentscheiders kann in dieser Art von der historischen Analyse nicht mehr aufrechterhalten werden56. Die Untersuchung der Selbstdarstellung der Caudillos zeigte aber, warum es in seiner Wirkmächtigkeit trotzdem nicht zu unterschätzen ist.

54 Siehe oben Einleitung. 55 Vgl. für die Wirkmächtigkeit von Erinnerungsdiskursen die überzeugenden Überlegungen von Steve Stern, Remembering Pinochet’s Chile. On the Eve of London 1998, Durham 2006, S. 114 ff. 56 So sprechen auch Fradkin / Gelman in ihrer aktuellen Biographie von Rosas nicht mehr als Caudillo, vgl. dies., Juan Manuel Rosas (wie Anm. 3), S. 432.

Michael Seewald

Lehrentscheidung? Ein Versuch über zwei Konzeptionen magisterialen Handelns in der katholischen Kirche

1. Einleitung: Die These Der Begriff der Lehrentscheidung ist in der katholischen Theologie fest eta­ bliert. Das bedeutendste Handbuch der Dogmatik, eine erstmals 1854 herausgegebene und seitdem kontinuierlich ergänzte Sammlung lehramtlicher Texte, trägt im Deutschen den Titel: »Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirch­lichen Lehrentscheidungen«. Peter Hünermann, der gegenwärtige Herausgeber, gibt Hinweise, wie man Lehrentscheidungen zu interpretieren habe. So müsse man fragen, welche Instanzen eine »Lehrentscheidung treffen« und wer der »Adressatenkreis der Lehrentscheidung« sei; »aus welchen Quellen die Lehrentscheidung« sich hergeleitet finde sei ebenso bedeutsam wie »die Form, in der eine Lehrentscheidung vorgetragen«1 werde. Betrachtet man die inflationäre Verwendung des Begriffs der Lehrentscheidung in der Dogmatik, erscheint es umso verwunderlicher, wie wenig bisher darüber nachgedacht wurde, welche Implikationen die in diesem Begriff enthaltene Behauptung, dass Lehrinhalte entscheidungsförmig gewonnen werden, mit sich bringt. »Die einschlägigen Entscheidungstheorien sind bislang nicht von der Theologie, sondern in erster Linie von sozialwissenschaftlichen Disziplinen, insbesondere von der Ökonomie, der Psychologie, der Soziologie und Politikwissenschaft, aber auch auf den Grundlagen mathematischer und philosophischer Erkenntnisse«2 erarbeitet und innerhalb dieser Disziplinen, kaum jedoch in der dogmatischen Theologie, rezipiert worden. Diese Lücke ist bedauerlich, denn, so Günther Wassilowsky, der »Vorgang des Entscheidens verkörpert die soziale Ordnung einer Gemeinschaft insgesamt und stellt diese Ordnung durch intersubjektives Handeln immer wieder aufs Neue her. Entscheidungspraktiken bilden also den Kern von Institutionen überhaupt. Deswegen kann man Entscheidungsfindungsverfahren als eine ›Kulturtechnik‹ ver1 Peter Hünermann, Hinweise zum theologischen Gebrauch des ›Denzinger‹, in: Heinrich Denzinger, Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum. Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, verb., erw., übers. unter Mitarbeit von Helmut Hoping, hg. v. Peter Hünermann, Freiburg i. Br. 452017, S. 9–13, S. 10 f. Hervorhebungen M. S. 2 Günther Wassilowsky, Abstimmen über die Wahrheit? Entscheidungskulturen in der Geschichte der Kirche, in: Stimmen der Zeit 233 (2015), S. 219–233, hier S. 220 f.

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stehen, die Aufschluss gibt über den Anspruch und die Verfassung einer Institution im Allgemeinen und der katholischen Kirche im Speziellen.«3

Im Folgenden soll die These vertreten werden, dass etwa zur Mitte des 19. Jahrhunderts eine neue Konzeption magisterialen Handelns entstand, die neben eine ältere gestellt wurde und dort bis heute steht, obwohl beide Konzeptionen sich nicht spannungsfrei zueinander verhalten. Die erste, ältere Konzeption ordnet dem durch privilegierten göttlichen Beistand gestärkten Lehramt eine epistemische Funktion bei der Erkenntnis der wahren Glaubenslehre zu.4 Das Lehramt betrachtet sich dabei als herausgehobenen Zeugen dessen, was es als von Gott bereits Gesetztes zu entdecken behauptet. Die Rede von der Wahrheit der Glaubenslehre wird in diesem Zusammenhang korrespondenztheoretisch gedacht: Wahr ist eine vom Lehramt getroffene Aussage, wenn ihr propositionaler Gehalt dem Sachverhalt, den sie auszudrücken versucht, entspricht; dass diese Entsprechung zustande kommt, soll durch die Einwirkung göttlicher Inspiration, die der Papst und die Bischöfe im Akt des Lehrens empfangen, gesichert werden. Die zweite Konzeption magisterialen Handelns hingegen sieht das Subjekt des Lehrens – allen voran den Papst – als souveränen Produzenten der Glaubenslehre. Dabei steht nicht der epistemische, entdeckende Aspekt im Vordergrund, sondern die durch Akte des Entscheidens eine Lehre allererst konstituierende Tätigkeit des Magisteriums. Die Wahrheit der Glaubenslehre wird in diesem Sinne nicht korrespondenz-, sondern geltungstheoretisch verstanden: Wahr ist eine Aussage, wenn das Lehramt zu ihren Gunsten entschieden hat; dass das Magisterium in der Lage ist, wahre Aussagen vorzulegen, wird juridisch durch das Narrativ der göttlichen Stiftung eines päpstlichen Gesetzgebungsprimats begründet, der sich auch auf die Glaubenslehre erstreckt.

2. Begriffliche Klärungen: Magisteriales Handeln, Entscheiden und die doktrinale Dimension von Religiosität Die Verwendung des Wortes ›Lehramt‹ (magisterium) ist im Kontext katholischer Theologie mehrdeutig.5 Inhaber eines Lehramtes sind Einzelpersonen oder Gruppen, die von Amts wegen, sei es durch Ordination (Kleriker) oder Bestellung (Theologen), beanspruchen, die katholische Glaubenslehre korrekt darzulegen. Der Unterschied zwischen dem magisterium cathedrae magistralis 3 Ebd., S. 224. 4 Diese ältere Konzeption, die auf die Erkenntnis der Glaubenslehre abzielt und nicht mit einer expliziten Semantik des Entscheidens arbeitet, wäre mit frühneuzeitlichen protestantischen Vorstellungen darüber zu vergleichen, wie Glaubensinhalte bestimmt werden, wenn auch im Protestantismus das Lehramt keine analoge Rolle einnimmt. Vgl. den Beitrag von Matthias Pohlig in diesem Band. 5 Vgl. Francis A. Sullivan, Magisterium. Teaching Authority in the Catholic Church, Mahwa 1983, S. 24–34.

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der Theologenschaft und dem magisterium cathedrae pastoralis der Bischöfe besteht darin, dass die Bischöfe mit dem Papst an ihrer Spitze nicht nur Wahrheitsansprüche in der Gemeinschaft der Kirche formulieren, sondern durch die ihnen zukommende Leitungsvollmacht auch ein Wahrheitsregiment über diese Gemeinschaft ausüben. Während Theologen nur mit Argumenten, allenfalls noch mit der Autorität des Weisen, für das werben können, was sie als wahre Lehre betrachten, sind Bischöfe in der Lage, ihre Vorstellungen der rechten Glaubenslehre herrschaftsförmig durchzusetzen. Unter dem Begriff der Herrschaft wird mit Max Weber der Sachverhalt verstanden, »daß ein bekundeter Wille (›Befehl‹) des oder der ›Herrschenden‹ das Handeln ande­ rer (des oder der ›Beherrschten‹) beeinflussen will und tatsächlich in der Art beeinflußt, daß dies Handeln, in einem sozial relevanten Grade, so abläuft, als ob die Beherrschten den Inhalt des Befehls, um seiner selbst willen, zur Maxime ihres Handelns gemacht hätten (›Gehorsam‹).«6

Im Laufe des 19. Jahrhunderts hat sich der Begriff des Lehramtes immer stärker zugunsten des magisterium cathedrae pastoralis verschoben. Wenn von magisterialem Handeln die Rede ist, soll in diesem Kontext daher die Tätigkeit des Papstes und der Bischöfe in Ausübung des ihnen zukommenden Lehramtes bezeichnet werden, dessen Spezifikum gegenüber den Theologen in der Verknüpfung mit einem kirchlichen Leitungsamt besteht. Magisteriales Handeln ist in diesem Sinne ein Konzept, von dem es verschiedene Konzeptionen geben kann. »Das ›Konzept‹ umfasst den zentralen Bedeutungsgehalt eines Begriffs; ›Konzeptionen‹ sind spezifische Interpretationen der darin enthaltenen Bestandteile.«7 Magisteriales Handeln kann, muss aber nicht entscheidungsförmig ›konzeptionalisiert‹ sein. Wenn von Entscheiden die Rede ist, gilt es, mindestens zwei Ebenen auseinanderzuhalten: eine intramental konnotierte und eine sozial ausgerichtete. Im intramentalen Sinne lassen sich Entscheidungen als Ergebnisse eines inneren Abwägungs- oder Deliberationsprozesses verstehen, der »Intentionen einer besonderen Art« hervorbringt, »nämlich solche, die durch eigene Handlungen erfüllt werden. Wir können auch sagen, dass Entscheidungen als Absichten Ergebnisse eines Abwägungsprozesses darstellen, die darauf gerichtet sind, durch eigene Handlungen erfüllt zu werden.«8 Folgt man dieser Bestimmung, kann es keine Handlung ohne eine vorausgehende Entscheidung, verstanden als der Abschluss eines Gründe abwägenden Vorgangs und die Ausstattung eines Grundes mit motivierender Kraft, geben. Verortet man den Begriff des Entscheidens 6 Max Weber, Herrschaft, in: Ders., Wirtschaft und Gesellschaft. Die Wirtschaft und die gesellschaftlichen Ordnungen und Mächte. Nachlaß (Studienausgabe der Max-WeberGesamtausgabe I/22–4), Tübingen 2009, S. 1–11, hier S. 5. 7 Rainer Forst, Toleranz im Konflikt. Geschichte, Gehalt und Gegenwart eines umstrittenen Begriffs, Frankfurt a. M. 52017, S. 30 f. 8 Julian Nida-Rümelin, Über menschliche Freiheit, Stuttgart 2012, S. 51.

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hingegen stärker in einem sozialwissenschaftlichen Kontext, so bezeichnet Entscheiden nicht die Voraussetzung allen Handelns, sondern eine spezifische Form des Handelns, was im Umkehrschluss bedeutet, dass auch von der Möglichkeit nicht entscheidungsförmigen Handelns ausgegangen wird. Uwe Schimank hebt Entscheidungshandeln etwa von spontan gefühlsgeleitetem, traditionalem oder routinisiertem Handeln ab. Für Entscheidungshandeln ist laut Schimank »erstens ein Sondieren des Alternativenspektrums konstitutiv – im Unterschied zum Verdrängen dieses Spektrums durch Traditionen, Routinen oder spontane Gefühle. Das zweite konstitutive Merkmal von Entscheidungen ist das Relativieren der gewählten Alternative in Hinblick auf die nicht gewählten Alternativen – im Unterschied dazu, wie traditionale Normen, routinisierte Verhaltensvorschriften oder subjektive Gefühlslagen die ihnen jeweils gemäße Handlungsalternative verabsolutieren. Sich entscheiden bedeutet so, auf eine Kurzformel gebracht: Alternativen bedenkend zu handeln.«9

Diese idealtypische Differenzierung verschiedener Arten des Handelns, die realiter vermutlich nur als res mixta anzutreffen sind, lässt sich auch auf unterschiedliche Dimensionen des Religiösen anwenden. Die Identifikation eines Individuums mit einer Religionsgemeinschaft kann vornehmlich emotionale Gründe haben, die Teilnahme an rituellen Praktiken auf routinisierten Mustern beruhen oder die Übernahme religiöser Überzeugungen als traditionales Handeln erscheinen. Die genannten drei Dimensionen (Identifikation, Praxis und Überzeugungen) können jedoch auch stärker entscheidungsförmig angelegt sein. Das gilt ebenso für jenen Aspekt des Religiösen, den Charles Y. Glock, der Begründer der religionssoziologischen Dimensionsforschung, als ideological dimension beschrieben hat.10 Die ideologische  – man könnte auch sagen: die doktrinale, sich in Gestalt von als wahr angenommenen Propositionen niederschlagende – Dimension des Religiösen kann in zwei Weisen das Resultat von Entscheidungshandeln sein: auf einer konstitutiv-normativen und auf einer rezeptiv-faktischen Ebene. In konstitutiv-normativer Hinsicht wird die doktri­ nale Dimension des Religiösen dort entscheidungsförmig hervorgebracht, wo ihre normative Gestalt – also das, was vonseiten des Lehramtes als zu glauben vorgelegt wird  – sich durch Akte des Entscheidens konstituiert. Von solch magisterialem Handeln zu unterscheiden ist die tatsächliche Rezeption des lehramtlich Vorgelegten durch Individuen oder Gruppen. Der Ist-Stand der 9 Uwe Schimank, Die Entscheidungsgesellschaft. Komplexität und Rationalität der Mo­ derne, Wiesbaden 2005, S. 49. 10 Zu verschiedenen Schattierungen der Dimensionsforschung samt einem Plädoyer zugunsten von drei religiösen Dimensionen – Identifikation, religiöse Praxis und religiöser Glaube (der Glocks »ideologische Dimension« einschließt) – vgl. Detlef Pollack, Probleme der Definition von Religion, in: Zeitschrift für Religion, Gesellschaft und Politik 1 (2017), S. 7–35, S. 16–19.

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doktrinalen Dimension des Glaubens von Individuen oder Gruppen, die sich selbst als katholisch identifizieren, ist nicht identisch mit dem doktrinalen Soll-Stand, den das Lehramt als Resultat magisterialen Handelns vorlegt. Die Gründe für diese Nichtidentität liegen unter anderem darin, dass sich spätestens seit dem 19. Jahrhundert der Druck des Entscheidens auf die beiden genannten Ebenen der ideologischen Dimension katholischen Glaubens erhöht hat. Denn erstens wurde das Bewusstsein für die entscheidungsförmige Konstitution der normativen Gestalt der Glaubenslehre, die ein Produkt lehramtlichen Handelns darstellt, geschärft und zweitens steht dieses Produkt, sofern es überhaupt rezipiert wird, zunehmend vor der Herausforderung, das Nadelöhr individuellen Entscheidens zu passieren.

3. Die Krise von Konzeption I Dafür, dass sich die doktrinale Dimension katholischen Glaubens im 19. Jahrhundert einem zunehmenden Entscheidungsdruck ausgesetzt sah, lassen sich mindestens drei Faktoren verantwortlich machen: Kontingenzsteigerungen im Bereich theologischer Wissenschaft, ein verändertes Autoritätsverständnis und die rechtlich abgesicherte Etablierung dessen, was man als säkularen Raum bezeichnen könnte. 3.1. Das wachsende Bewusstsein für den Kontingenzcharakter der Glaubenslehre

Spätestens mit der Entstehung einer von der vorwiegend apologetisch ausgerichteten Doxographie unterschiedenen Dogmengeschichte wurde die Annahme eines Lehramtes, das bloß das semper, ubique et ab omnibus Geglaubte bezeugt, fragwürdig.11 Die historische Kritik, die zunächst auf die Bibel, dann aber auch – so eine Wortschöpfung von Johann Friedrich Wilhelm Jerusalem aus dem Jahr 1747 – auf die »historia dogmatum« Anwendung fand, schärfte den Blick für Brüche in der Entwicklung der christlichen Glaubenslehre, für Neuerungen, die es darin dem Kontinuitätsanspruch des Lehramtes nach gar nicht geben dürfte, sowie für philosophische oder politische Faktoren, die die Herausbildung einer Doktrin beförderten, obwohl die göttliche Wahrheit gegen11 Zur Herausforderung einer Diskontinuitäten freilegenden Dogmengeschichte für die Konzeptualisierung der christlichen Glaubenslehre vgl. Michael Seewald, Dogma im Wandel. Wie Glaubenslehren sich entwickeln, Freiburg i. Br. 2018, S. 52–65. Die Wendung semper, ubique et ab omnibus fasst den Canon Vincentianus zusammen und avancierte seit der Wiederentdeckung des Vinzenz von Lérins im 16. Jahrhundert zu einer Kurzformel des ekklesialen Kontinuitätsanspruchs, die sowohl von im konfessionellen Sinne katholischen als auch von protestantischen Autoren verwendet wurde.

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über diesen kontingenten Einflüssen doch immun sein müsste.12 Jerusalems These, dass die Ausformung der Christologie, der Trinitäts- und Gnadenlehre sowie der Ekklesiologie mit dem Neuen Testament unvereinbare Entwicklungen seien, wurde fünfzig Jahre nach ihrer Veröffentlichung durch den Aufklärer Andreas Riem in seinen »Fortgesetzten Betrachtungen über die eigentlichen Wahrheiten der Religion oder Fortgang da, wo Herr Abt Jerusalem stillstand«, explizit auf die kirchliche Hierarchie und das Lehramt bezogen. Das Christentum habe, so Riem, »mehrere Stifter. Christus und seine Apostel veranlaßten dasselbe. Ersterer lehrte zum Theil auf einen andern Zweck, als einige Apostel, welche davon abgingen, und in der Lehre Veränderungen trafen, welche der Religion vortheilhaft wurden, da der Plan Christi zu eingeschränkt war.«13

Der Diskontinuitätsverdacht könnte radikaler nicht sein. Bereits die Apostel haben die Lehre Jesu verfälscht, indem sie einen anderen Zweck als Jesus verfolgten, nämlich die vom Judentum separierte Religionswerdung ihrer Bewegung gegenüber dem als zu »eingeschränkt« wahrgenommenen »Plan Christi«. Der Papst und die Bischöfe, die – zumindest ihrem Selbstbild zufolge – Nachfolger der Apostel sind, tun laut Riem Ähnliches. Sie seien nicht Bewahrer einer ursprünglichen Lehre, sondern an institutioneller Stabilisierung interessierte Agenten, die die Glaubenslehre zeitbedingt ihren eigenen Interessen anpassen und auf dieser Grundlage doktrinale Entscheidungen treffen. Der christlichen Glaubenslehre, wie sie durch Jahrhunderte auf verschlungenen Wegen entstanden ist, kommt damit Kontingenzcharakter zu. Sie hätte angesichts anderer Konstellationen anders werden können, als sie tatsächlich geworden ist, und sie kann sich, sollte es den hierarchisch-institutionellen Interessen der Kirchenleitung dienen, weiterhin ändern. Solche Thesen waren im Katholizismus des 19. Jahrhunderts in ihrer vollen Radikalität zwar nicht anschlussfähig. Sie übten auf ihn jedoch in zweierlei Weise beträchtlichen Einfluss aus. Erstens gab es auch moderate Theologen, wie Franz Oberthür, die das skizzierte Diskontinuitätsnarrativ in abgemilderter Form übernahmen. So spielte Oberthür, nicht nur beeinflusst durch den Gallikanismus, sondern auch durch die Neologie, mit dem Gedanken, dass das Papsttum eine für die Kirche entbehrliche Institution bilde, deren Abschaffung durch eine höhere Perfektibilitätsstufe des Glaubens wünschenswert er­scheine.14 Zweitens übte die Erschütterung der Idee, dass die Kirche unter 12 Vgl. Karl Aner, Die Historia dogmatum des Abtes Jerusalem, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 47 (1928), S. 76–103. 13 Andreas Riem, Das reinere Christenthum oder die Religion der Kinder des Lichts (Band 2: Fortgesetzte Betrachtungen über die eigentlichen Wahrheiten der Religion oder Fortgang da, wo Herr Abt Jerusalem stillstand), Berlin 1794, S. 3. 14 Auszüge aus Oberthürs ungedruckter »Selbstbiographie« zur Primatsfrage finden sich bei Johann Baptist Schwab, Franz Berg, Geistlicher Rath und Professor der Kirchengeschichte an der Universität Würzburg. Ein Beitrag zur Charakteristik des katholischen

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Leitung des Lehramtes die getreue Bewahrerin einer deposital bei ihr hinterlegten Offenbarung sei, auch ex negativo Einfluss auf die katholische Theologie aus, weil diese Infragestellung für die Scholastik des 19. Jahrhunderts eine Negativfolie bereitstellte, von der man sich abzusetzen hatte. »Erneuerung und Wiederaufrichtung« der durch die »Erschütterungen des späteren 18. und anfangenden 19. Jahrhunderts« sowie durch die »religions- und kirchenfeindlichen Zeitströmungen schwer geschädigten katholischen Theologie«15 bildeten die Leitmotive der Neuscholastik, deren Vertreter sich mehrheitlich in den Dienst einer angeschlagenen magisterialen Autorität stellten. 3.2. Das Misstrauen gegenüber Autoritäten

Bei der Verwendung des Autoritätsbegriffs gilt es, mindestens zwei Aspekte zu unterscheiden: epistemische und juridische Autorität. Inhaber epistemischer Autorität ist eine Person oder Institution, der von jenen, die sie als Autorität anerkennen, zugetraut wird, Erkenntnis zu vermitteln. Juridische Autorität hingegen beruht nicht auf einem supponierten Wissens-, sondern einem Machtgefälle. Inhaber juridischer Autorität ist eine Person oder Institution, die in der Lage ist, Regeln zu setzen, über deren Einhaltung zu wachen und Verstöße zu sanktionieren. Beide Formen der Autorität können, müssen aber nicht gebündelt auftreten. Ein Weiser kann über epistemische Autorität verfügen, ohne juridische Autorität zu besitzen. Ein Parlament als Gesetzgeber hat juridische Autorität, obwohl Parlamentariern nicht per se zugetraut wird, über größeres Wissen zu verfügen als andere Menschen, weshalb ihnen keine epistemische Autorität zukommt. Während es epistemische Autorität in der Kategorie des testimonium vornehmlich mit einem korrespondenztheoretischen Verständnis von Wahrheit zu tun hat, der Weise also konsultiert wird, weil man ihm zutraut, etwas erkannt zu haben und diese Erkenntnis weiterzuvermitteln, steht bei juridischer Autorität die potestas zur Hervorbringung und Durchsetzung einer bestimmten Ordnung im Vordergrund.16 Im theologischen Kontext des späten 18. und des 19. Jahrhunderts sind beide Aspekte des Autoritätsbegriffs problematisiert worden: sowohl die vonseiten des Lehramts beanspruchte epistemische Autorität, der zufolge der Papst und die Bischöfe durch den privilegierten

Deutschlands, zunächst des Fürstbistums Würzburg, im Zeitalter der Aufklärung, Würzburg 1869, 246 f. Zu Oberthürs theologischem Ansatz vgl. Michael Seewald, Theologie aus anthropologischer Ansicht. Der Entwurf Franz Oberthürs (1745–1831) als Beitrag zum dogmatischen Profil der Katholischen Aufklärung, Innsbruck 2016. 15 So die – freilich parteiische – Wahrnehmung von Martin Grabmann, Die Geschichte der katholischen Theologie seit dem Ausgang der Väterzeit. Mit Benützung von M. J. Scheebens Grundriss, Darmstadt 1983, S. 218. 16 Zur Unterscheidung von epistemischer und juridischer Autorität vgl. Michael Seewald, Reform. Dieselbe Kirche anders denken, Freiburg i. Br. 2019, S. 67–74.

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Beistand Gottes Wahres lehren, als auch die Frage, inwiefern den Inhabern des Lehramtes juridische Autorität zukommt. Paradigmatisch für die Wirkmacht von Autoritätskritik steht die Beschäftigung Kants mit dem Problem der Verbindlichkeit von Glaubensbekenntnissen. Könnte, fragt der Königsberger Philosoph, »eine Gesellschaft von Geistlichen, etwa eine Kirchenversammlung, […] berechtigt sein, sich eidlich unter einander auf ein gewisses unveränderliches Symbol zu verpflichten, um so eine unaufhörliche Obervormundschaft über jedes ihrer Glieder und vermittelst ihrer über das Volk zu führen und diese sogar zu verewigen? Ich sage: das ist ganz unmöglich. Ein solcher Contract, der auf immer alle weitere Aufklärung vom Menschengeschlechte abzuhalten geschlossen würde, ist schlechterdings null und nichtig; und sollte er auch durch die oberste Gewalt, durch Reichstage und die feierlichsten Friedensschlüsse« – oder den Papst und die Bischöfe, könnte man aus katholischer Sicht hinzufügen – »bestätigt sein. Ein Zeitalter kann sich nicht verbünden und darauf verschwören, das folgende in einen Zustand zu setzen, darin es ihm unmöglich werden muß, seine […] Erkenntnisse zu erweitern, von Irrthümern zu reinigen und überhaupt in der Aufklärung weiter zu schreiten.«17

Kant lehnt die Idee ab, dass ein einmal erreichter Erkenntnisstand in Glaubensfragen durch künftige Erkenntnisse allenfalls noch ergänzbar, auf keinen Fall aber mehr korrigierbar sein soll. Für ihn steht jede Erkenntnis unter dem Anspruch, sich kritisieren und durch diese Kritik womöglich korrigieren zu lassen. Neben das Kontinuitätsnarrativ des Lehramtes tritt somit ein Fortschrittsnarrativ: Erkenntnis, auch in Glaubensfragen, ist verbesser- und erweiterbar, weshalb es keine ein für alle Mal fixierbaren Glaubensbekenntnisse geben könne. Dass die epistemische Autorität des Lehramtes behauptet, Kritik an Lehrverbindlichkeiten sei nicht nötig, gar unmöglich, und die juridische Autorität des Lehramtes versucht, eine solche Kritik zu unterbinden, erscheint Kant »null und nichtig«. Er sieht darin ein Herrschaftsinstrument, um eine »unaufhörliche Obervormundschaft« kirchlicher Institutionen zu erhalten. Dieses Streben nach Vormundschaft stößt dort besonders deutlich an Grenzen, wo ihm diese Grenzen rechtlich gesetzt werden. 3.3. Die operative Schließung des Rechts

Es ist eine sich aus dem problematischen Kirche-Welt-Schema ergebende Gefahr der Theologie, die gegenwärtige Gestalt religiöser Institutionen und ihrer Aufgabenzuschreibungen vornehmlich durch endogene, dogmatische Faktoren erklären zu wollen. Damit einher geht die Tendenz, diese Institutionen und ihre Kompetenzen aus legitimatorischen Interessen so weit wie möglich zurückzu17 Immanuel Kant, Was ist Aufklärung? (Kants Werke. Akademie-Textausgabe 8), Berlin 1971, S. 38 f.

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datieren und ihre Gewordenheit als genuin theologische, nicht primär von politischen oder sozialen Einflüssen geleitete Entfaltung eines bereits zuvor vorhandenen Keims zu deuten.18 Der hier als Kirche-Welt-Schema bezeichnete Ansatz ekklesialer Selbstdeutung ist jedoch – trotz biblischer Formeln (Joh 17,16), auf die man sich berufen konnte – erst im 19. Jahrhundert entstanden.19 Seinen Hintergrund bildete eine durch gesellschaftliche Differenzierungsprozesse vermittelte Verselbständigung von Funktionsbereichen, die sich gegenüber religiösen, erst recht gegenüber kirchlich-konfessionellen Logiken abschlossen, weshalb man sich theologisch ebenfalls abzugrenzen und die neu gezogene Grenze auch dogmatisch zu definieren suchte. Die Folgen dieser Differenzierung entsprechen dem, was Charles Taylor als die erste Schattierung des von ihm eingeführten Säkularitätsbegriffs beschreibt: »Wir spielen unsere Rollen in verschiedenen Tätigkeitsbereichen – im Rahmen der Ökonomie, der Politik, der Kultur, des Bildungswesens, des Berufs und der Freizeit –, doch die Normen und Prinzipien, nach denen wir uns dabei richten, und die Überlegungen, die wir anstellen, verweisen uns im allgemeinen weder auf Gott noch auf irgendwelche religiösen Überzeugungen. Die Erwägungen, die unserem Handeln vorausgehen, bewegen sich innerhalb der ›Rationalität‹ jedes einzelnen Bereichs.«20 18 Ein wirkmächtiges Beispiel für die rückdatierende, endogene und legitimierende Herleitung des gegenwärtigen Stands päpstlichen Lehrens findet sich bei Yves Congar, Saint Thomas Aquinas and the Infallibility of the Papal Magisterium (Summa Theol., II-II , q. 1, a. 10), in: Thomist 38 (1974), S. 81–105. 19 Hünermann bezeichnet »den Gegensatz von Kirche und moderner Welt« als eine »Grundidee Leos XIII .« (Peter Hünermann, Die theologische Anerkennung des Wechselverhältnisses von Kirche und Welt auf dem II . Vatikanischen Konzil, in: Martin Kirschner / Jo­ achim Schmiedl (Hg.), Diakonia  – Der Dienst der Kirche in der Welt, Freiburg i. Br. 2013, S. 57–78, hier S. 60). Das Zweite Vatikanische Konzil sieht das Verhältnis zwischen »Kirche« und »Welt« zwar nicht mehr als Gegensatz, hält aber die Dichotomie, die diesem Schema zugrunde liegt, prinzipiell aufrecht. Konzilsaussagen von folgender Art sind grotesk: »Wie es aber im Interesse der Welt liegt, die Kirche als gesellschaftliche Wirklichkeit der Geschichte und als deren Sauerteig anzuerkennen, so verkennt auch die Kirche nicht, wieviel sie aufgrund der Geschichte und Entwicklung der Menschheit empfangen hat«, s. Gaudium et Spes, Nr. 44 = Denzinger, Enchiridio symbolorum (wie Anm. 1), Nr. 4344. Solche Aussagen implizieren, dass die Kirche eine »der Welt« gegenüberstehende Größe ist, deren Anerkennung im Interesse »der Welt« liege, so wie die Kirche auch manches von »der Welt« gelernt habe. Die Pastoralkonstitution des Konzils spricht an manchen Stellen über die »Geschichte und Entwicklung der Menschheit«, als ob die Kirche nicht dazugehörte und ihr beobachtend, gelegentlich (aber selten) auch lernend, gegenüberstünde. Zu einem alternativen Modell vgl. Michael Seewald, Antimoderne Modernität. Versuche über die Kirche als Modus der Welt, in: Johanna Rahner / Thomas Söding, (Hg.), Kirche und Welt – ein notwendiger Dialog. Stimmen katholischer Theologie, Freiburg i. Br. 2019, S. 184–196. 20 Charles Taylor, Ein säkulares Zeitalter, Berlin 2012, S. 13. Es gibt eine lebhafte, von Weber über Luhmann bis in die Gegenwart reichende Diskussion zu der Frage, inwiefern die beschriebene Differenzierung und die mit ihr einhergehende Säkularisierung sich selbst wiederum »Sonderentwicklungen im Bereich der Religion« verdanken: Niklas Luhmann, Die Ausdifferenzierung von Religion, in: Ders. (Hg.), Gesellschaftsstruktur und Se­

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In Taylors bloß exemplarischer Aufzählung fehlt ein bedeutender Bereich, dessen Auswirkungen auf die katholische Kirche und das Selbstverständnis ihres Lehramtes kaum überschätzt werden kann: der Funktionsbereich des Rechts. Nils Jansen betrachtet den im 19. Jahrhundert weitgehend zum Abschluss gekommenen Prozess der »operativen Schließung des Rechts«21, durch den Recht sich nur noch auf Recht, nicht mehr auf Religion als Quelle zu beziehen vermochte, als konstitutiv für die Entstehung der modernen Gesellschaft. Dieser Prozess sei bereits im gelehrten Recht der mittelalterlichen Legistik vorgebildet gewesen und habe in den Vernunftrechtskonzeptionen der Frühen Neuzeit seine theoretische Ausformung in Abgrenzung zu konfessionellen Geltungsansprüchen erfahren. »In diesem Prozess der Differenzierung der natürlichen Vernunft des Rechts von weltlichen und kirchlichen Rechtsvorschriften entfalteten die zumeist protestantischen Vernunftrechtslehrer also eine universelle Eigenlogik des Rechts. […] Zum anderen war es der Vernunftrechtslehre freilich immer auch um eine Abgrenzung gegenüber der Theologie zu tun: Für die eigenständige Autorität des Rechts und seiner Eliten war es nämlich von entscheidender Bedeutung, die gesellschaftsbezogene universelle Vernunft des Rechts und die jenseitsbezogenen, irreversibel konfessionalisierten Gebote der Religion zu entflechten.«22

Will man die Entwicklung des Lehramtes nicht rein endogen, sondern auch als Antwort auf exogene Faktoren  – also Bedingungen, die weder die Kirche als Institution noch die Theologie als Wissenschaft hervorgebracht haben – erfassen, kommt der operativen Schließung des Rechts auch für das Verständnis magisterialen Handelns Bedeutung zu. Denn das magisterium cathedrae pastoralis wurde eingangs vom magisterium cathedrae magistralis dadurch unterschieden, dass seine Inhaber nicht nur von Amts wegen Wahrheitsansprüche erheben, sondern durch ihre Leitungsvollmacht auch ein Wahrheitsregiment in der Kirche führen, ihre Ansprüche also herrschaftsförmig durchsetzen können. Dieses Gehorsam urgierende Moment magisterialen Handelns ändert seinen Charakter, wenn es sich angesichts eines rechtlich durch die Gewalt des Staates geschützten Raums entfaltet, in dem seine Herrschaftsansprüche ihre Grenze finden. Das Recht auf Religionsfreiheit, das den Einzelnen – nicht das Lehramt – in der Eigenlogik des Rechts als kompetente Beurteilungsinstanz religiöser Fragen betrachtet, bietet jedem die Möglichkeit, eine Religionsgemeinschaft zu verlassen und sich so dem Wahrmantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Frankfurt a. M. 1989, Bd. 3, S. 259–357, hier S. 261. Taylor vertritt dabei zum Beispiel die Ansicht, dass »der Zug zur persönlichen Religion selber Teil des Entwicklungsimpulses für verschiedene Elemente der Säkularisierung geworden ist«: Charles Taylor, Die Formen des Religiösen in der Gegenwart, Frankfurt a. M. 42013, S. 18. 21 Nils Jansen, Recht und gesellschaftliche Differenzierung. Fünf Studien zur Genese des Rechts und seiner Wissenschaft, Tübingen 2019, S. 264. 22 Ebd., S. 120.

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heitsregiment des Magisteriums zu entziehen, wenn er ihm nicht mehr folgen möchte. Der Raum des Säkularen, der durch die rechtliche Einhegung religiöser Institutionen entsteht, bleibt diesen nicht bloß äußerlich, sondern affiziert auch ihre innere Konstitution, indem er das Verhältnis zwischen Lehrenden und Hörenden, Befehlenden und zum Gehorsam Verpflichteten auf eine andere Grundlage stellt. Denn wo ein Raum des Säkularen von einem Raum lehramtlicher Geltungsansprüche abgegrenzt wird, redupliziert sich diese Unterscheidung durch den »›re-entry‹ der Unterscheidung in das durch sie Unterschiedene«23. Auf beiden Seiten der Unterscheidung finden sich beide Seiten der Unterscheidung. Religion bewegt sich, obwohl und weil religiöse Wahrheitsansprüche von den Geltungsansprüchen des Rechts unterschieden bleiben, innerhalb des verrechtlichten und in dieser Verrechtlichung säkularen Raums. Umgekehrt ragt der säkulare Raum des Rechts in die soziale Struktur von Religionsgemeinschaften hinein, weil die bloße Möglichkeit des Verlassens einer Gemeinschaft, die er jedem bietet, die soziale Interaktion innerhalb dieser Gemeinschaft verändert. Bei Konflikten über die epistemische Autorität des Lehramts zwischen Inhabern des Magisteriums und dissentierenden Mitgliedern schwingt stets die Möglichkeit mit, der Kirche nicht angehören zu müssen und durch ein Verlassen des Bereichs, in dem das lehramtliche Wahrheitsregiment urgierbar ist, auch die juridische Autorität des Lehramts ins Leere laufen zu lassen. Obwohl die beschriebene Schließung des Rechts lange vor dem 19. Jahrhundert begann, erreichte sie, was das Verhältnis zwischen katholischer Kirche und Staat anging, erst in den Jahrzehnten nach der Französischen Revolution eine für das Wahrheitsregiment des Lehramtes bedrohliche, realpolitische Gestalt. Die Päpste von Pius VI . bis Pius XII . haben daher die Trennung von Staat und Kirche sowie die Idee der Religionsfreiheit scharf verurteilt.24

4. Die Entstehung von Konzeption II 4.1. Magisteriales Handeln als Entscheiden

Fasst man die drei skizzierten Entwicklungen  – ein gestiegenes Kontingenzbewusstsein für die historisch gewordene Gestalt der doktrinalen Dimension christlicher Religiosität, die Autoritätskritik der Aufklärung und die operative Schließung des Rechts  – in ihrer Bedeutung für magisteriales Handeln zusammen, ergibt sich folgendes Bild: Die Konzeption, der zufolge das Lehramt lediglich ein unveränderliches, der Kirche von Christus eingestiftetes depositum fidei korrespondenztheoretisch zur Sprache bringt, indem es dieses Depositum

23 Niklas Luhmann, Die Religion der Gesellschaft, hg. v. André Kieserling, Frankfurt a. M. 2000, S. 84. 24 Vgl. Denzinger, Enchiridion symbolorum (wie Anm. 1), Nr. 2915 u. Nr. 2955.

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gegen Entstellungen verteidigt und das schon immer Gegebene möglicherweise sprachlich, nicht aber sachlich kontingent expliziert, ist im 19. Jahrhundert in eine Glaubwürdigkeitskrise geraten. Magisteriales Handeln wie bis dato als bloßes »témoigner de ce qu’on a reçu«25 zu deuten, erschien kaum noch haltbar. Denn die Unterscheidung zwischen der deposital verfassten, mit dem Tod des letzten Apostels abgeschlossenen traditio constitutiva auf der einen und der diese lediglich explizierenden traditio continuitiva auf der anderen Seite, ist angesichts der Diskontinuitäten, die die Dogmengeschichte in der Entwicklung der christlichen Glaubenslehre freigelegt hat, fraglich geworden. Diese Fragwürdigkeit ließ sich angesichts einer ausgeprägten Autoritätsskepsis (zumindest in religiösen Fragen) durch die epistemische Autorität des Lehramtes nicht mehr stillstellen und durch die rechtliche Begrenzung der juridischen Autorität des magisterialen Wahrheitsregiments auch nicht mehr unterdrücken. Angesichts dieser Herausforderungen entwickelte sich eine zweite Konzeption lehramtlichen Handelns, die die erste zwar nicht vollständig ersetzte, sich ihr aber zur Seite stellte. Die Pointe dieser zweiten Konzeption lässt sich entscheidungstheoretisch gut erfassen. Denn, so Schimank, je »besser eine Handlungssituation für den Akteur definiert ist, desto vergeblicher oder unnötiger wird für ihn Entscheidungshandeln. […] Schaut man demgegenüber sich schlecht definierte Situationen an, wird deutlich, dass sie zugleich die Notwendigkeit und die Möglichkeit implizieren, durch Entscheidungen zu einer besseren Problembewältigung zu kommen. Solche Situationen rufen beim Akteur zunächst eine mehr oder weniger drastische Orientierungslosigkeit hervor. Sie werden als überraschend, unvorhergesehen, neuartig, dramatisch, unbestimmt, konturlos, vieldeutig und ähnliches mehr erlebt – was alles unterschiedliche Ausdrucksformen dafür sind, dass dem Akteur fertige Handlungsschemata fehlen.«26

Wie schlecht definiert katholische Theologen des 19. Jahrhunderts die Lage ihrer Kirche erlebten, zeigt eine Formulierung des Apologeten Albert Maria Weiß, der »zu den prägenden Gestalten der Theologie seiner Zeit«27 gehörte: »Alles ist in Frage gestellt, alles in Fluß geraten, alles zu einem unergründlichen Brei von Urschleim durcheinandergerührt.«28 Weiß ging davon aus, dass die 25 Yves Congar, Bref historique des formes du ›magistère‹ et de ses relations avec les docteurs, in: Revue des sciences philosophiques et théologiques 60 (1976), S. 99–112, hier S. 108. Zur Lehramtsdeutung Congars vgl. Philippe Büttgen, Yves Congar et la sémantique du magistère, in: Bulletin du centre d’études médiévales d’Auxerre 7 (2013), S. 1–9, S. 5. 26 Schimank, Entscheidungsgesellschaft (wie Anm. 9), S. 73 f. 27 Florian Baab, ›Woher der religiöse Zweifel?‹. Zur Krisendiagnostik deutschsprachiger Apologeten im Umfeld des Ersten Vaticanums, in: Julia Knop / Michael Seewald (Hg.), Das Erste Vatikanische Konzil. Eine Zwischenbilanz 150 Jahre danach, Darmstadt 2019, S. 11–27, hier S. 20. 28 Albert Maria Weiß, Apologie des Christentums. Erster Band: Der ganze Mensch. Handbuch der Ethik, Freiburg i. Br. 31894, S. 3.

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Kirche aus einem stabilen Zustand, in dem alles seinen Ort und seine Ordnung gehabt habe, in einen Zustand der Instabilität und des Indefiniten übergegangen sei, den er sogar mit dem sprichwörtlichen Tohuwabohu vergleicht (»Urschleim«), das vor Gottes schöpferischem Handeln geherrscht habe (Gen 1,2). Nichts weniger als die Schöpfungsordnung selbst samt des sie interpretierenden Lehramtes standen für Weiß also in seiner Zeit auf dem Spiel. Die sich verändernde Selbstbeschreibung magisterialen Handelns ab der Mitte des 19. Jahrhunderts lässt sich als Versuch beschreiben, die als schlecht definiert wahrgenommene Situation der katholischen Kirche durch Entscheiden zu bewältigen und so den Faktoren der Destabilisierung Herr zu werden. Kirchenrechtlich und dogmatisch wurde die Möglichkeit geschaffen, Lehrentscheidungen im strengen Sinne – Alternativen abwägend – zu treffen. Dies gelang erstens durch die Zuspitzung magisterialen Handelns auf das Subjekt des Papstes unter weitgehender Ausschaltung der Bischöfe. Zweitens profilierte sich der Papst konkurrenzlos als ein mit juridischer Autorität ausgestatteter Souverän, der über die nun in Abgrenzung zum Staat sich definierende societas perfecta der Kirche herrschte. Eine Schlüsselstellung kommt dabei dem Ersten Vatikanischen Konzil zu. 4.2. Der Papst als Souverän über der Kirche

Hermann Josef Pottmeyer hat 1975 in seiner Habilitationsschrift, die in ihren systematisch-theologischen Implikationen weitgehend unrezipiert geblieben ist, dargelegt, dass »die päpstliche Unfehlbarkeit für die ultramontane Theologie im wesentlichen eine verfassungspolitische Frage war: Es ging um Unabhängigkeit nach außen und klare Entscheidungskompetenz nach innen. Die Übernahme des absolutistischen Souveränitätsbegriffs hat die Unfehlbarkeitsfrage im 19. Jahrhundert wesentlich bestimmt.«29

Souveränität oder maiestas bezeichnen in diesem Zusammenhang das Recht, eine letztinstanzliche, verbindliche Entscheidung zu treffen, und die Verfügungsgewalt über die nötigen Mittel, um die getroffene Entscheidung auch durchzusetzen. Ein Kennzeichen des Souveräns besteht darin, dass er seinen Entscheidungen aus sich heraus Gültigkeit zu verleihen vermag, also auf keine Approbation angewiesen und keiner Kontrollinstanz unterworfen ist. Diese – zumindest idealiter – bestehende Fähigkeit, losgelöst von allen Bindungen Verbindlichkeiten zu setzen, rückt die Majestät des Souveräns in die Nähe der absoluten Macht des Schöpfergottes. Diese Parallele wurde zuerst jenseits von kirchlichen Verfassungsfragen gezogen. Jean Bodin etwa formulierte: »Diximus jura maiestatis eum habere, qui post Deum immortalem subditus sit nemini«30, 29 Hermann Josef Pottmeyer, Unfehlbarkeit und Souveränität. Die päpstliche Unfehlbarkeit im System der ultramontanen Ekklesiologie des 19. Jahrhunderts, Mainz 1975, S. 353. 30 Jean Bodin, De republica libri sex, Frankfurt 1646, I 10 (S. 169).

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Souveränitätsrechte kommen demjenigen zu, der nach Maßgabe des unsterblichen Gottes niemandem Untertan ist. Der Souverän ist in diesem Sinne irdischer Stellvertreter Gottes oder gar »ein sterblicher Gott«31. Es ist wenig überraschend, dass der Nexus von Souveränität und Göttlichkeit auch in den ultramontanen Papstdeutungen des 19. Jahrhunderts Anklang fand und die papalen Selbstdarstellungen bewusst mit ihm spielten. Pius IX . inszenierte sich als alter Christus, um in der christologischen Simultaneität von Erniedrigung und Erhöhung, Niedrigkeit und Herrlichkeit, Macht und Ohnmacht einerseits seinen Herrschaftsanspruch zu manifestieren, andererseits aber auch, wie Jörg Seiler formuliert, »somatische Solidarität« der Katholiken mit sich zu erzeugen. Vor deutschen Bischöfen sagte Pius IX .: »›Ich bin arm und in Bethlehem, deswegen kommt man, um mir Geschenke darzubringen‹. Diese Parallelisierung mit dem armen, ohnmächtigen Jesuskind scheint Pius geliebt zu haben, da er sie öfters verwendete. Hier rücken die Person Jesus, das Corpus Christi mysticum und der Papstleib eng zusammen. Die begriffliche Unschärfe der Körpersemantik ist gewollt. Ein klares Beispiel findet sich 1861 im Rückblick auf das bittere Jahr 1859/60: ›Man hat da gesehen, dass die Einheit der katholischen Kirche nicht blos [sic] im Katechismus steht, sondern dass Millionen Katholiken in lebendiger, geistiger Einheit mit dem Oberhaupt der Kirche verbunden sind, wie die Glieder des Leibes mit dem Haupt‹.«32

Die Kirche wird von dem sich in Bedrängnis sehenden Pontifex nicht nur als Leib Christi, sondern auch als korporativer Papstleib gedeutet. Die Grenze zwischen Christus und dem Papst ist damit fließend.33 Manch radikaler Infallibilist, wie der spätere Kardinal Gaspard Mermillod, vertrat im Anschluss an solche Vorstellungen die These von der dreifachen Inkarnation Gottes: Gott werde Mensch in Jesus Christus, in den konsekrierten eucharistischen Gaben und in der Person des Papstes. Zahlreiche Antiinfallibilisten hingegen hielten die Definition des päpstlichen Jurisdiktionsprimates samt doktrinaler Unfehlbarkeit nicht nur für zeitlich inopportun oder theologisch falsch, sondern auch für ein Sakrileg. Bischof Joseph Georg Stroßmayer, ein Wortführer der Minorität auf dem Konzil, schrieb in einem Brief über die Souveränitäts- und Göttlichkeitsallüren Pius’ IX .: »Die römischen Kaiser wurden durch einen servilen Senat

31 Zur Deutung und Rezeption dieses von Thomas Hobbes geprägten Begriffs vgl. Ludwig Siep, Der Staat als irdischer Gott. Genese und Relevanz einer Hegelschen Idee, Tübingen 2015, S. 26 f. 32 Jörg Seiler, Somatische Solidarität als Moment ultramontaner Kommunikation. Die Inszenierung der Körperlichkeit Pius’ IX . in der Rottenburger Bistumszeitung, in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte 101 (2007), S. 77–106, hier S. 99 f. 33 Zur seit Innozenz  III . belegten Deutung des Kardinalskollegiums als Leib des Papstes und der Inszenierung der Päpste als »sichtbarer Christus« vgl. Agostino Paravicini Bagliani, Der Leib des Papstes. Eine Theologie der Hinfälligkeit, München 1997, S. 73–76.

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zum Gott erhoben; heute macht jemand sich selbst zum Gott, und wir sollen es unterschreiben.«34 Die Souveränitätsstellung des Papstes wurde auf dem Ersten Vatikanischen Konzil durch das Narrativ begründet, dass Christus dem Apostelfürsten Petrus »den Jurisdiktionsprimat über die gesamte Kirche Gottes«35 verliehen habe. Weil dieser Primat »bis heute und allezeit in seinen Nachfolgern, den Bischöfen des heiligen Römischen Stuhles« fortbestehe, gelte: »Der heilige Apostolische Stuhl und der Römische Pontifex hat über den gesamten Erdkreis den Primat inne.«36 Sieht man von den politischen Implikationen der Rede eines nicht näher spezifizierten und damit seinem Gegenstandsbereich nach auch nicht begrenzten Universalprimats ab – vermutlich wollte sich der Papst die Möglichkeit eines politischen Primats über die Fürsten und Nationen zumindest offenhalten37 –, zeigt sich, dass auch die doktrinale Dimension katholischen Glaubens von dieser Festlegung erfasst wird. Bereits Joseph de Maistre, eine Schlüsselfigur des frühen Ultramontanismus, hatte über die Verfasstheit des Papsttums formuliert: »Ist die monarchische Form erst einmal etabliert, ist die Unfehlbarkeit nichts anderes als eine notwendige Konsequenz der Suprematie. Anders gesagt: Es handelt sich um ein und dieselbe Sache unter zwei verschiedenen Bezeichnungen.«38

Der magisterial handelnde Papst ist also lediglich ein Modus des souverän gesetzgeberischen Papstes. Da Gesetzgebung das Resultat von Entscheidungen ist, wird auch die Glaubenslehre auf ihrer konstitutiv-normativen Ebene als entscheidungsförmig hervorzubringende Größe gedacht. Auf dieser Linie definiert das Erste Vatikanische Konzil: »Im apostolischen Primat, den der Römische Pontifex als Nachfolger des Apostelfürsten Petrus über die ganze Kirche innehat, ist auch die höchste Gewalt des Lehramtes eingeschlossen.«39 In einem Kontext, in dem die Glaubenslehre als Gesetz aufgefasst wird, bedarf es 34 Beide Zitate (Mermillod und Stroßmayer) finden sich bei Klaus Schatz, Vaticanum I. 1869–1870. Band 2: Von der Eröffnung bis zur Konstitution ›Dei Filius‹, Paderborn 1993, S. 178–181. 35 Conciliorum Oecumenicorum Decreta – Dekrete der Ökumenischen Konzilien. Band 3: Konzilien der Neuzeit, im Auftrag der Görres-Gesellschaft ins Deutsche übertragen und hg. unter Mitarbeit v. Gabriel Sunnus und Johannes Uphus v. Josef Wohlmuth, Paderborn 2002, S. 812 (Z. 16–18). 36 Ebd., S. 813 (Z. 9–31). 37 Dass das Erste Vaticanum einen solchen politischen Primat des Papstes »über Fürsten und Völker« anstrebte, war eine bereits im Vorfeld des Konzils oft artikulierte Befürchtung, so auch in der von Ignaz von Döllinger verfassten Zirkulardepesche des bayerischen Ministerpräsidenten Chlodwig von Hohenlohe an die diplomatischen Vertretungen des Königreichs. Vgl. Klaus Schatz, Vaticanum I. 1869–1870. Band 1: Vor der Eröffnung, Paderborn 1992, S. 277 f. 38 Joseph de Maistre, Du pape (Œuvres du Comte J. de Maistre), Paris 1841, S. 249: »La forme monarchique une fois établie, l’infaillibilité n’est plus qu’une conséquence nécessaire de la suprématie, ou plutôt, c’est la même chose absolument sous deux noms différen[t]s.« 39 Conciliorum Oecumenicorum Decreta (wie Anm. 35), S. 815 (Z. 5 f.).

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zur Ausübung des Lehramtes einer gesetzgeberischen Gewalt, die das Konzil als suprema magisterii potestas bezeichnet. Die Ausübung seines Lehramtes wird damit zum Teil des Jurisdiktionsprimats, der souveränen Gesetzgebungsgewalt, die der Papst innehat. Wie prominent der normative Charakter des Glaubens in legalistischer Terminologie interpretiert wurde, zeigt Matthias Joseph Scheeben, einer der meist rezipierten neuscholastischen Theologen der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Magisteriales Handeln stellt für Scheeben »einen Akt richterlicher Jurisdiktion«40 dar, dem »äußere Rechtskraft« zu eigen sei, der also im öffentlichen Raum der Kirche befolgt werden müsse, dem aber auch »innere Rechtskraft«41 zukomme, durch die er den persönlichen Glauben jedes Katholiken bindende Wirkung beanspruche. Das Erste Vatikanische Konzil denkt magisteriales Handeln nicht mehr im Sinne der ersten hier vorgestellten Konzeption in der Kategorie des testimonium, der mit epistemischer Autorität vorgetragenen Zeugnisgabe, sondern in der der potestas, der mit juridischer Autorität ausgestatteten, souveränen Vorlage durch den Papst. Verkünde der Papst etwas »ex cathedra«, also in Wahrnehmung seines magisterium cathedrae pastoralis, besitze dies seine Geltung allein »aus sich heraus«, nicht durch seine Übereinstimmung mit dem depositum fidei oder mit dem Glauben derjenigen, die der souveräne Richterspruch binde (»non autem ex consensu ecclesiae«); weil das gesetzgebende Wort des Souveräns von niemanden verändert werden könne, sei es »irreformabile«42. Damit wird die Fortgeltung der ersten Konzeption zwar nicht verneint. Aber die Korrespondenz des lehramtlich Vorgelegten mit dem als von Gott gesetzt Geglaubten und der Kirche deposital Anvertrauten ist für die Geltung einer päpstlich vorgetragenen Glaubenslehre irrelevant, weil diese Geltung allein in der juridischen Autorität des Papstes wurzelt. Gegenüber dieser Autorität wiederum kann nichts – und sei es aus den versiertesten theologischen Erwägungen heraus  – geltend gemacht werden. Das Vorhandensein einer Vielzahl möglicher Alternativen in der Ausformung der Glaubenslehre, das es nötig gemacht hat, magisteriales Handeln überhaupt erst als Entscheidungshandeln zu konzeptualisieren, wird durch den Aufstieg des Papstes zum oberstem Entscheidungsträger der Kirche einerseits lehramtlich ernstgenommen; zugleich bewirkt die juridische Autorität des Papstes andererseits, dass die nichtgewählten Alternativen als legitime Möglichkeiten im Rechtsraum der Kirche ausgeschaltet werden. Die Wahrheit einer Lehraussage liegt nicht mehr darin begründet, dass das, was sie propositional als wahr beansprucht, mit dem Sachverhalt, auf den sie Bezug nimmt, tatsächlich übereinstimmt, sondern in ihrer In-Geltung-Setzung durch den Papst als Ergebnis eines Entscheidungsprozesses. Aus diesem Grund gibt es für das Erste Vaticanum auch keine unfehlbaren Lehraussagen. Wer die Existenz un40 Matthias Joseph Scheeben, Handbuch der Katholischen Dogmatik. Erstes Buch: Theologische Erkenntnislehre, hg. v. Martin Grabmann, Freiburg i. Br. 21948, § 464 (S. 218). 41 Ebd., § 493 f. (S. 232 f.). 42 Conciliorum Oecumenicorum Decreta (wie Anm. 35), S. 816 (Z. 27–32).

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fehlbarer Lehren behauptet (und das sind viele katholische Theologen), hat den Skopus dieses Konzils nicht verstanden und vermischt zwei zu unterscheidende Ordnungen: die des Gesetzgebers, der unfehlbar zu handeln beansprucht, und die des Gesetzes, das mit dem Anspruch auf Unabänderlichkeit vorgelegt wird. Darauf macht Francis A. Sullivan aufmerksam, der »die Existenz einer Klasse von ›unfehlbaren Propositionen‹« ablehnt; »Unfehlbarkeit wird richtigerweise nicht von Propositionen als solchen, sondern von der Lehrautorität in Ausübung ihrer Lehrfunktion ausgesagt. […] Der Sachverhalt wird adverbial angemessener ausgedrückt als adjektivisch; nicht: ›diese Art von Proposition ist unfehlbar‹, sondern ›dieser Lehrer hat unfehlbar gesprochen‹.«43

Unfehlbarkeit ist ein Prädikat der im Sinne des Ersten Vaticanums hierarchisch als societas perfecta organisierten Kirche mit dem Papst an ihrer Spitze, der durch magisteriales Handeln »irreformable« Sätze im Sinne unabänderlicher Gesetze hervorbringt. Die Irreformabilität dieser Glaubenslehren unterscheidet sich dem Grund ihrer Verbindlichkeit nach von der ersten hier vorgestellten Konzeption magisterialen Handelns dadurch, dass sie allein in der Autorität des Gesetzgebers wurzelt.

5. Ausblick Die erste Konzeption magisterialen Handelns, die den Fokus auf die epistemische, nicht entscheidungsförmige Autorität des Lehramtes legt, führt zu der beständigen Rückfrage, ob die lehramtlicherseits bezeugte Korrespondenz mit dem depositum fidei tatsächlich besteht oder zumindest, ob sie besser zum Ausdruck gebracht werden kann als das Magisterium dies in einer bestimmten Situation getan hat. Ein bloßes Verneinen dieser Frage stellt sie nicht still. Weil »jeder Ausschluß eine Form wählen, eine Unterscheidung treffen muß, regeneriert sich in allem sinnhaften Operieren zugleich das Medium der anderen Möglichkeit und letztlich der unmarkierbare Weltzustand, der nichts mehr ausschließt. Immer bleibt etwas Ungesagtes vorbehalten, so daß alles, was bestimmt wird, auch dekonstruierbar bleibt.«44

Dieser Dekonstruktion und der Frage, ob die Glaubenslehre – betrachtet man das bei den Wegmarken ihrer Entstehung Ausgeschlossene und Abgelehnte – 43 Sullivan, Magisterium (wie Anm. 5), S. 80: »As I understand it, belief in the infallibility of the magisterium does not postulate the existence of a class of ›infallible propositions‹ which would be intrinsically more perfect than other true propositions. Infallibility is correctly not predicated by the propositions as such but of the teaching authority in the exercise of its teaching function. […] The matter is more properly expressed adverbially than adjectivally; not: ›this kind of proposition is infallible‹, but: ›this teacher has spoken infallibly‹.« 44 Luhmann, Die Religion der Gesellschaft (wie Anm. 23), S. 21.

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auch aus guten Gründen anders aussehen könnte als sie tatsächlich geworden ist, versucht das Magisterium durch eine zweite Konzeption Herr zu werden. Diese zweite Konzeption zielt durch eine bis dato ungekannte Steigerung der juridischen Autorität des Papstes darauf, jede Rückfrage an magisteriales Handeln zu unterbinden. Die Plausibilität einer solchen Konzeption beruht darauf, dass die Kirche als monarchisch organisierte Gesellschaft mit dem Römischen Pontifex als absolutem und souveränem Herrscher an ihrer Spitze gedacht werden muss. Wo ein solches Kirchenbild nicht mehr trägt, bedürfte das Lehramt einer weiteren, dritten Konzeption, die die Naivität der ersten – durch die verkannt wird, wie sehr das als vorgefunden Ausgegebene sich bereits der Formung verdankt – vermeidet und zugleich nicht dem unverhohlenen Autoritarismus der zweiten Konzeption verfällt. Zu einer solchen dritten Konzeption hat das Zweite Vatikanische Konzil mit seinem nebulösen Verständnis eines »übernatürlichen Glaubenssinns des ganzen Volkes«45 und seiner Lehre von der Kollegialität der Bischöfe einige zaghafte Skizzen vorgelegt. Ihre genauen Konturen müssten aber erst noch ersonnen werden, weil die Papaltheorie des Ersten Vaticanums, betrachtet man den aktuellen Katechismus der Katholischen Kirche oder den Codex des kanonischen Rechts, weiterhin Geltung besitzt und vonseiten des Lehramtes mit allen Mitteln versucht wird, sie unverändert in Geltung zu belassen.

45 Lumen Gentium, Nr. 12 = Denzinger, Enchiridion symbolorum (wie Anm. 1), Nr. 4130.

Franziska Rehlinghaus

Von den Außen- und Innenseiten des Entscheidens Zum Kern moralstatistischer Debatten im 19. Jahrhundert

1. Einleitung Der historischen Entwicklung des Entscheidens kann man sich, zumindest auf den ersten Blick, prinzipiell aus zwei Perspektiven widmen: einerseits aus der Perspektive einer Kulturtechnik, die unter wandelbaren gesellschaftlichen Voraussetzungen geformt, vermittelt und erlernt wurde, und somit vornehmlich als kommunikatives und soziales System begriffen werden kann,1 oder andererseits als einem individuellen mentalen Prozess, der als bewusster oder unbewusster Aushandlungsprozess mit dem eigenen Ich beschrieben werden könnte. Es ist angezweifelt worden, dass diese subjektzentrierte, psychologische, ›protosoziologische‹ Perspektive für Historiker*innen überhaupt wissenschaftlich erfassbar ist, da sie einen Blick in die inneren Gedankengänge der Individuen voraussetzen würde und voraussichtlich eher anthropologische Konstanten denn historisch kontingente Prozesse enthüllen würde. So scheint die zweite Perspektive für die erste kaum einen heuristischen Wert zu besitzen.2 Nähert man sich der Historizität des Entscheidens jedoch aus einer begriffsgeschichtlich-diskursiven Perspektive, so wird sehr schnell deutlich, dass das Nachdenken über Entscheidungsprozesse als soziale Phänomene zumindest im 19. Jahrhundert nicht von der Frage zu trennen war, wie sie sich im Individuum manifestierten. Ich möchte das im Folgenden an der Debatte zeigen, die sich an der maßgeblich vom belgischen Astronomen und Mathematiker Adolphe Quetelet geprägten Moralstatistik entzündete und zwischen Mathematikern, Philosophen und Theologen in wissenschaftlichen Abhandlungen geführt wurde. Sie ist deshalb von besonderer Bedeutung, weil hier vermutlich zum ersten Mal vordergründig isoliert erscheinende Individualentscheidungen als Ausfluss sozialer Bedingungen erkannt und ganz systematisch in ihrer Regelmäßigkeit zu erfassen versucht wurden.

1 So die Konzeption des Sonderforschungsbereich 1150 »Kulturen des Entscheidens« an der WWU Münster. 2 Philip Hoffmann-Rehnitz, Kommentar zur Sektion ›Praktiken des Entscheidens‹, in: Arndt Brendecke (Hg.), Praktiken der Frühen Neuzeit. Akteure, Handlungen, Artefakte, Köln 2015, S. 678–683.

Von den Außen- und Innenseiten des Entscheidens   

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Dabei war es nicht jede Form individuellen Handelns, die als Entscheidung begriffen wurde. In den Blick gerieten in erster Linie Akte, die im Sinne des lateinischen decidere als scharfe Einschnitte in den Ablauf der Ereignisse angesehen wurden. Entscheidungen dieser Güte teilten die Kontinuität der Zeit und den Zustand der Welt in ein distinktes ›Davor‹ und ›Danach‹, weil sie unmittelbar auf die moralischen Fundamente der Gesellschaft einwirkten und die soziale Ordnung dabei herausforderten. Durch die Brille der Moralstatistik betrachtet präsentierten solche Typen von Entscheidungen nicht allein, aber vornehmlich die Schattenseite der Gesellschaft: Es ging um Verbrechen, um Suizide und Gerichtsprozesse. Von diesen Ereignissen her gedacht, bestand die dichotome Struktur des Entscheidens nicht allein in der Gegenüberstellung von ›gut‹ und ›böse‹, ›sittlich‹ und ›unmoralisch‹, ›richtig‹ und ›falsch‹, sondern auch in der wechselseitigen Ausschließlichkeit zwischen dem Begehen und dem Unterlassen einer Tat. Dass die Nicht-Entscheidung, die das Unterlassen ja eigentlich implizierte, auch als eine Entscheidungsoption gelten konnte, wurde erst später reflektiert. Der Entscheidungs-Begriff war zunächst ausschließlich den Ereignissen zugeordnet, die eine sicht- und messbare Zäsur im Kontinuum der Zeit markierten3 und damit einen statistisch erfassbaren Fall-Charakter besaßen.4 Im Laufe der Debatte wurde nach langem Ringen ein Verständnis von Entscheiden als einem Akt entwickelt, der weder dem Individuum noch der Gesellschaft allein zugerechnet werden konnte. Gerade im deutschen Sprachraum wurde die Aussagekraft und Legitimität der Moralstatistik als Ausdruck einer »sozialen Physik« daran bemessen,5 wie Entscheidungen im Inneren des Menschen entstanden und ob man sie, wenn man ihre Entstehungsmechanismen vollständig durchleuchtete, dann überhaupt noch Entscheidungen würde nennen können. Das ist insofern erstaunlich, als auch schon die Zeitgenossen bemerkten, dass die Statistik ja eigentlich nur äußere Handlungen zu dokumentieren im Stande war und weder Instrumentarien noch Methoden besaß, um Einblicke in die Motivlagen der Menschen zu erlangen.6 Dabei kristallisierte sich sehr bald die Überzeugung heraus, dass die aus den Statistiken abgeleiteten sozialwissenschaftlichen Erkenntnisse ohne eine psychologische Fundierung 3 Günther Ortmann, Kür und Willkür. Jenseits der Unentscheidbarkeit, in: Arno Scherzberg / Tilmann Betsch (Hg.), Kluges Entscheiden. Disziplinäre Grundlagen und interdisziplinäre Verknüpfungen, Tübingen 2006, S. 167–194, hier S. 171 f. 4 Siehe zur Epistemologie des Falls: Susanne Düwell / Nicolas Pethes, Fall, Wissen, Repräsentation. Epistemologie und Darstellungsethik von Fallnarrativen in den Wissenschaften vom Menschen, in: Dies. (Hg.), Fall – Fallgeschichte – Fallstudie. Theorie und Geschichte einer Wissensform, Frankfurt a. M. 2014, S. 9–33; Sibylle Brändli u. a. (Hg.), Zum Fall machen, zum Fall werden. Wissensproduktion und Patientenerfahrung in Medizin und Psychiatrie des 19. und 20. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2009; Johannes Süßmann u. a. (Hg.), Fallstudien. Theorie – Geschichte – Methode, Berlin 2007. 5 Nach Quetelets Hauptwerk: Adolphe Quetelet, Sur l’homme et les développement de ses facultés. Essai de physique sociale, Paris 1835. 6 Moritz Wilhelm Drobisch, Moralische Statistik, in: Leipziger Repertorium der deutschen und ausländischen Literatur 25 (1849), S. 28–39.

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Franziska Rehlinghaus

weit davon entfernt waren, allgemeingültige Gesetze in den »moralischen und intellektuellen Handlungen des Menschen«7 zu beschreiben.8 Die Positionen, die sich in der Debatte gegenüberstanden, schieden sich dabei nicht allein an der Frage von Determinismus und Indeterminismus, wie es in der bisherigen Forschung zur Geschichte der Statistik zumeist dargestellt wird.9 Ungleich differenzierter ging es darum, wie der Prozess des Entscheidens und der Akt der Entscheidung sprachlich gefasst wurden, ob als Zufallsentscheid, als Wahl, als Abwägungsprozess oder als Urteil. Dementsprechend änderten sich auch die Bilder und Metaphern, mit denen die Autoren versuchten, dem Prozess des Entscheidens auf die Spur zu kommen. Es spricht vieles dafür, dass die Unversöhnlichkeit der Standpunkte von der Inkompatibilität dieser Vorstellungen herrührte, weil sie zugleich unterschiedliche Menschen-, Gesellschafts- und Weltbilder implizierten. In ihrer Chronologie vollzog sich die Debatte von der Außen- zu der Innenseite des Entscheidens und von da aus wieder zurück, wobei das Ergebnis letztlich offen und uneindeutig blieb. Ausgehend von Quetelets moralstatistischen Befunden über die Regelmäßigkeit quantitativ erfassbarer menschlicher Entscheidungen auf nationaler Ebene, die ihre prinzipielle Voraussagbarkeit implizierte, fragten seine Adepten und Gegner alsbald nach ihrer Verankerung in gesellschaftlichen Zuständen. Erst allmählich verlagerte sich der Fokus auf die Frage, wie die Interdependenz von sozialen Zuständen und individuellem Entscheiden als psychologischer Vorgang begriffen werden konnte. Welche Schlussfolgerungen daraus für das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft gezogen wurden, soll dann im letzten Abschnitt erarbeitet werden.

2. Die Außenseite des Entscheidens 2.1. Der soziale Ursprung individueller Entscheidungen

Im 19. Jahrhundert etablierten die europäischen Gesellschaften ausgefeilte Praktiken der Selbstbeobachtung, die erst die Bedingungen dafür schufen, um Kollektiv-Kategorien wie ›Gesellschaft‹, ›Bevölkerung‹ oder ›Volk‹ überhaupt 7 Adolphe Quetelet, Soziale Physik oder Abhandlung über die Entwicklung der Fähigkeiten des Menschen, Jena 1914. 8 Zu den Debatten über den Gesetzesbegriff der Moralstatistik: Theodore M. Porter, The Rise of Statistical Thinking. 1820–1900, Princeton, NJ 21986, S. 151 ff. 9 Zum Diskurs über den Determinismus in der Moralstatistik liegen zahlreiche Studien vor, welche die breite zeitgenössische Debatte über die Entstehung von Entscheidungen allerdings nicht gesondert in den Blick nehmen: Alain Desrosières, Politik. Eine Geschichte der statistischen Denkweise, Berlin 2005; Ian Hacking, The Taming of Chance, Cambridge 1990; Stephen M. Stigler, The History of Statistics. The Measurement of Uncertainty before 1900, Cambridge 1986; Anthony Oberschall, Empirical Social Research in Germany. 1848–1914, Paris 1965; Porter, Rise (wie Anm. 8).

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zu sozialen Entitäten werden zu lassen. Die totale Erfassung der Gesellschaft als »gährende[r], keimende[r], treibende[r] Inhalt« des Staates10 war das erklärte Ziel, und die Technik der Wahl war dabei zunächst die »Politik der großen Zahl« bzw. die »statistische Denkweise«.11 Es waren die Arbeiten Adolphe Quetelets, die die methodischen Grundlagen statistischen Wissens maßgeblich festigten, innovativ voranbrachten und über die Fachwissenschaft hinaus popularisierten. Weit über die traditionelle Datensammlung der amtlichen Bevölkerungsstatistik hinaus, die vornehmlich die absoluten Zahlen über Geburten, Eheschließungen und Todesfälle bzw. Wirtschaftsdaten umfasste, widmeten sich Quetelets länderübergreifende Studien der statistischen Erfassung des Sozialen in all seinen Äußerungsformen. In Anlehnung an Quetelets eigene astronomische Profession wurden die von ihm maßgeblich geförderten statistischen Büros deshalb auch als »Menschenwarten« gerühmt, die mit einem makroskopischen In­ strumentarium die »Gravitationsgesetze in der kreisenden Lebensbewegung der Menschen« zu berechnen versprachen.12 In euphorischen Aussagen wie dieser bündelte sich das geradezu grenzenlose Vertrauen in die Universalität der naturwissenschaftlichen Methode, wie es sich auch im Comte’schen Positivismus niederschlug und ab Mitte des Jahrhunderts in materialistischen Weltbildern seine vorläufige Apotheose fand.13 Dabei lag der eigentliche innovative Gehalt von Quetelets Untersuchungen darin, dass er verschiedene Datenreihen auf synchroner und diachroner Ebene miteinander in Beziehung setzte und aus den zutage tretenden Regelmäßigkeiten weitreichende Aussagen über ihre Korrelationen abstrahierte, die er als »empirische Fakten« zur Grundlage einer Wissenschaft von der Gesellschaft erhob.14 Quetelet widmete sich im Laufe seiner Tätigkeit am belgischen Landesamt für Statistik beispielsweise der menschlichen Physiognomie, den Geburten und Sterbefällen in Bezug zu solchen Faktoren wie Geschlecht, Geographie, Jahreszeit und Witterung, aber er wertete auch die literarische oder musikali10 Moritz Veit, Gesellschaft und Staat, in: Der Gedanke 1 (1861), S. 58–66, hier S. 58. Zur Geschichte des Gesellschaftsbegriffs s. Manfred Riedel, Art. ›Gesellschaft, bürgerliche‹, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Stuttgart 1975, Bd. 2, S. 719–800. 11 Desrosières, Politik (wie Anm. 9). 12 So die etwas polemische Zusammenfassung der zeitgenössischen Statistik-Emphase durch: Alexander von Oettingen, Moralstatistik und die christliche Sittenlehre. Versuch einer Socialethik auf empirischer Grundlage, Erlangen 1868, Bd. 1, S. 62. 13 Zum Materialismusstreit, in dem die Moralstatistik als Argument eine Rolle spielen sollte, s. Andreas Arndt / Walter Jaeschke (Hg.), Materialismus und Spiritualismus. Philo­ sophie und Wissenschaften nach 1848, Hamburg 2000; Kurt Bayertz u. a. (Hg.), Der Materialismus-Streit, Hamburg 2007; Frederick Gregory, Scientific Materialism in Nine­ teenth Century Germany, Dordrecht 1977; Annette Wittkau-Horgby, Materialismus. Entstehung und Wirkung in den Wissenschaften des 19. Jahrhunderts, Göttingen 1998; Franziska Rehlinghaus, Die Semantik des Schicksals. Zur Relevanz des Unverfügbaren zwischen Aufklärung und Erstem Weltkrieg, Göttingen 2015, S. 347–376. 14 Theodore M. Porter, Statistical and Social Facts from Quetelet to Durkheim, in: Sociological Perspectives 38 (1995), S. 15–26, hier S. 15.

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sche Produktivität männlicher Autoren und Komponisten in Abhängigkeit von ihrem Lebensalter aus. Die neuen Befunde riefen Verwunderung hervor, weil Quetelets Datenreihen natürliche Gesetzmäßigkeiten zu enthüllen schienen, die in den Erscheinungen verborgen waren und sich erst bei Betrachtung einer großen Zahl an Fällen offenbarten. Insgesamt wurden diese Ergebnisse jedoch wenig kontrovers diskutiert, auch weil sie sich noch ganz traditionell in einen göttlichen Heilsplan einordnen ließen.15 Demgegenüber waren es Quetelets Ausführungen über Eheschließungen, Gerichtsverfahren, Verbrechen und Suizide, die die Gemüter erhitzten. Denn hierbei ging es um Phänomene, die zweifelsohne Ausfluss bewusster, individueller Entscheidungen waren und zudem eine moralische Dimension besaßen. Auch hier hatte Quetelet erstaunliche Entdeckungen gemacht: Seine Daten zeigten nicht nur, dass Jahr für Jahr nahezu dieselbe Anzahl von Menschen den Entschluss fasste, freiwillig aus dem Leben zu scheiden. Darüber hinaus wählten diese Menschen mit gleichbleibender Häufigkeit auch die unterschiedlichen Mittel, um ihr Vorhaben in die Tat umzusetzen. Ähnliches galt für die Anzahl und die Arten von Verbrechen. »Diese Regelmässigkeit bei einer Handlung, welche so völlig vom freien Willen des Menschen abzuhängen scheint«,16 überraschte nicht nur Quetelet. Ebenso wie viele andere Fachkollegen zeigte sich auch Ernst Engel, Vorstand des Königlich-Sächsischen Statistischen Büros, angesichts der »Ähnlichkeiten« der Daten über längere Zeiträume hinweg mehr und mehr davon überzeugt, »dass alle menschlichen Handlungen und selbst diejenigen, bei denen der freie Wille die alleinige Entscheidung zu haben scheint, gewissen höheren Naturgesetzen gehorchen«.17 Die Annahme solcher höheren Naturgesetze verleitete Quetelet zu weitreichenden Interpretationen, die den Statistiker wie einen Laplace’schen Dämon zum allwissenden Orakel werden ließen: »Wir können im voraus aufzählen, wie viele ihre Hände mit dem Blut ihrer Mitmenschen besudeln werden, wie viele Fälscher, wie viele Giftmischer es geben wird, fast so, wie wenn man im voraus die Geburten und Todesfälle angeben kann, die einander folgen müssen. Die Gesellschaft birgt in sich die Keime aller Verbrechen, die künftig begangen werden. Sie ist es gewissermaßen, die sie vorbereitet, und der Schuldige ist nur das ausführende Werkzeug.«18

15 Eine Betrachtungsweise, die seit Johann Peter Süssmilchs Untersuchungen über die regelmäßige Geschlechterverteilung bei Geburten durchaus üblich war: Johann Peter Süssmilch, Die göttliche Ordnung in den Veränderungen des menschlichen Geschlechts aus der Geburt, Tod, und Fortpflanzung desselben, Berlin 1741. 16 Adolphe Quetelet, Ueber den Menschen und die Entwicklung seiner Fähigkeiten, Stuttgart 1838, S. 481. 17 Ernst Engel, Das Königreich Sachsen in statistischer und staatswirthschaftlicher Beziehung, in: Jahrbuch für Statistik und Staatswirthschaft des Königreichs Sachsen 1 (1853), S. 1–560, hier S. 81. 18 Quetelet, Soziale Physik (wie Anm. 7), S. 106.

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In dieser Sentenz bündelt sich der explosive Kern der neuen Befunde, der aus der Kombination mehrerer Annahmen bestand: Zunächst einmal hatte Quetelet daraus, dass entsprechende Taten in der Vergangenheit regelmäßig aufgetreten waren, ihre Vorhersagbarkeit für die Zukunft abgeleitet. Der voraussetzungsvolle Grundgedanke dahinter war, dass man von gleichbleibenden Ereignissen auf konstante Ursachen schließen konnte.19 Allerdings, und das war folgenschwer, war es in dieser Denkweise offenbar eben nicht das einzelne Individuum, das sich für oder gegen eine bestimmte Tat entschied und damit als Urheber und Träger einer Entscheidung gelten konnte, sondern stattdessen die Gesellschaft als »corps social«, die die Einzelentscheidungen erst hervorbrachte und dementsprechend auch für sie in die Verantwortung zu nehmen war.20 Einer der schärfsten Kritiker Quetelets und Umdeuter der moralstatistischen Methode, der Theologe Alexander von Oettingen, fasste die populäre Interpretation dieser Befunde eindrücklich zusammen: »Dem Anschein nach glauben Viele, es läge in jener Theorie nicht blos dieses inbegriffen, dass die Gesammtzahl der in einem gegebenen Raum und in einer gegebenen Zeit begangenen Morde gänzlich die Wirkung der allgemeinen Umstände der Gesellschaft ist, sondern auch, dass es ein jeder besondere Mord ist; dass der einzelne Mörder […] ein blosses Werkzeug in den Händen allgemeiner Ursachen ist; dass er selbst keine andere Wahl hat oder dass, wenn er sie hätte und darnach handeln wollte, irgend ein Anderer genöthigt sein würde seine Stelle einzunehmen; dass, wenn einer der wirklichen Mörder sich des Verbrechens enthalten hätte, irgend ein Anderer, der sonst unschuldig geblieben wäre, einen Extramord begangen haben würde, um die Durchschnittszahl herzustellen.«21

Die Frage, die hier verhandelt wurde, war also diejenige, wo eigentlich der Ort der Entscheidung für eine bestimmte Tat zu suchen war und wem sie zugerechnet werden konnte. Und ihre Antwort hing maßgeblich von den erkenntnistheoretischen und sozialontologischen Voraussetzungen der Gesellschaftsbetrachtung ab.

19 Stigler, History of statistics (wie Anm. 9), S. 171; Desrosières, Politik (wie Anm. 9), S. 99. 20 Porter, Statistical and Social Facts (wie Anm. 14), S. 17. 21 In der Zusammenfassung von John Stuart Mills Argumenten gegen die weitreichenden Deutungen der Moralstatistik: von Oettingen, Moralstatistik (wie Anm. 12), S. 172. Zu Alexander von Oettingens Analyse der Moralstatistik und ihren Implikationen für die Sozialethik s. Thomas-Andreas Põder, Solidarische Toleranz. Systematische Erstgestalt einer Kreuzestheologie und Sozialethik in der Postaufklärung. Das Werk Alexander von Oettingens, Göttingen 2016, S. 271–280.

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2.2. Kugeln, Würfel, Lose – Entscheiden als Akt des Zufalls

Konzentrieren wir uns zunächst noch auf das Werk Quetelets, so wird schnell evident, dass seine provozierende Interpretation maßgeblich von der Anwendung der Wahrscheinlichkeitstheorie auf die Statistik beeinflusst war.22 Alain Desrosières hat überzeugend herausgearbeitet, dass die Genese statistischen Denkens unter Zuhilfenahme der Wahrscheinlichkeitsrechnung ihren Ursprung in Überlegungen zur Entscheidungsgewissheit hatte.23 Während es in den frühneuzeitlichen Debatten aber noch darum gegangen war, aus probabilistischen Überlegungen Leitlinien für zukünftige Entscheidungen abzuleiten, beschäftigten sich die moralstatistischen Debatten mit der Frage, ob Handeln als Produkt von Entscheidungen selbst mit Mitteln der Wahrscheinlichkeitstheorie erfasst und begriffen werden konnte. Durch Pierre Simon Laplace und Carl-Friedrich Gauß hatte die Wahrscheinlichkeitsmathematik im 19. Jahrhundert eine neue, gesichertere Grundlage erhalten, für die Quetelet nun in der Gesellschaftsanalyse ein neues Anwendungsfeld fand. Statistik und Wahrscheinlichkeitstheorie hatten beide die Analyse großer Datenmengen zur Voraussetzung, und in der Verteilung sozialer Erscheinungen erblickte Quetelet nun genau die Theorie der zufälligen Fehler, die in der Zufallsmathematik mit Hilfe der Normalverteilung beschrieben wurden.24 Ausschlaggebend war hierfür das Bernoulli’sche »Gesetz der großen Zahl«, auf das sich Quetelet immer wieder berief, und das besagte, dass sich, bei konstanten Voraussetzungen, die relative Häufigkeit eines Ereignisses, je öfter es eintrat, immer mehr ihrer theoretischen Wahrscheinlichkeit annäherte. Quetelet nun folgerte aus diesem Gesetz, dass die Stabilität seiner statistischen Befunde auf die Konstanz der sie bedingenden Ursachen zurückzuführen sei und dass sich unter diesen Voraussetzungen auch Aussagen über die Wahrscheinlichkeit zukünftiger Ereignisse treffen lassen würden. Indem er also stochastisches Denken in die Statistik implementierte, prägte Quetelet einen Gesellschaftsbegriff, bei dem das »Zusammensein in der Gesellschaft […] noch etwas mehr als ein Nebeneinandersein von Einzelnen« ist,25 weil sich separate Einzelereignisse und damit individuelle Entscheidungen erst gemeinsam betrachtet wie Mosaiksteinchen zu einem vollständigen Bild zusammensetzen. Quetelet selbst drückte dieses Verständnis in einer Metapher aus, die immer wieder rezipiert, aber auch kritisiert worden ist: 22 Siehe zur wissenschaftsgeschichtlichen Entwicklung: Lorenz Krüger (Hg.), Ideas in the Sciences, Bd. 2, Cambridge, Mass. 1990; Ivo Schneider, Die Entwicklung des Wahrscheinlichkeitsbegriffs in der Mathematik von Pascal bis Laplace, München 1972. 23 Desrosières, Politik (wie Anm. 9), S. 51 ff. 24 Zum Einfluss Quetelets auf die Mathematik s. Theodore M. Porter, The Mathematics of Society. Variation and Error in Quetelet’s Statistics, in: British Journal for the History of Science 18 (1985), S. 51–69. 25 Georg Friedrich Knapp, Quetelet als Theoretiker, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 18 (1872), S. 89–124, hier S. 98.

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»[…] derjenige, welcher einen kleinen Abschnitt einer auf einer Fläche gezogenen sehr großen Kreislinie zu nahe prüfen würde, [würde] in diesem Bruchteil nichts weiter sehen, als eine bestimmte Menge materieller Punkte, die mehr oder weniger bizarr, mehr oder weniger willkürlich, mag die Linie im übrigen auch noch so sorgfältig gezogen sein, wie von ungefähr vereinigt sind. Aus größerer Entfernung würde sein Auge eine größere Anzahl von Punkten überblicken, die er bereits regelmäßig auf einen Bogen von bestimmter Ausdehnung verteilt sehen würde; noch weiter zurücktretend, würde er bald keinen von ihnen mehr einzeln sehen, aber er würde das Gesetz begreifen, nach dem sie im allgemeinen angeordnet sind, und die Natur der gezogenen Kreislinie erkennen. Es wäre sogar denkbar, daß die verschiedenen Punkte der Kurve, anstatt materielle Punkte zu sein, kleine beseelte Wesen wären, die in einer eng umgrenzten Sphäre nach freiem Willen handeln könnten, ohne dass diese Spontanbewegungen wahrnehmbar wären, sobald man in richtiger Entfernung stände.«26

Die Handlungen und auch Entscheidungen eines Individuums – unter wahrscheinlichkeitstheoretischer Perspektive als singuläre Ereignisse betrachtet  – fügten sich also unter dem statistischen Blick in die Regelmäßigkeit der Erscheinungen ein. Statistik erschien damit als eine Universalwissenschaft, die mit mathematischer Gewissheit die allgemeingültigen Gesetze enthüllte, die im Inneren individueller Willensentscheidungen verborgen waren. Quetelets Orientierung an der Wahrscheinlichkeitsrechnung führte dazu, dass die Frage, wonach und wie sich das zukünftige Handeln von Individuen entschied, auch mit Verweis auf typische Wahrscheinlichkeitsexperimente beantwortet wurde. Das Motiv der Urne, aus der Kugeln gegriffen wurden, der Münze oder des Würfels, die geworfen wurden, oder des Loses, das gezogen wurde, um die Wahrscheinlichkeit des zukünftigen Schicksals einer festgesetzten Anzahl von Menschen zu erläutern, tauchte in den Debatten über die Moralstatistik immer wieder auf. Für die Frage nach der historischen Semantik des Entscheidens ist es bemerkenswert, dass mit diesen Verweisen der Rekurs auf traditionelle Entscheidungsmedien (Los, Münze, Würfel), die noch in der Renaissance der Göttin Fortuna zugeordnet gewesen waren, omnipräsent war. Er führte zu einer Vermischung des Zufalls- mit dem Notwendigkeitsbegriff, die die Frage nach der Entscheidungsmächtigkeit auf eine noch komplexere Ebene hob. In den Vordergrund rückte die Frage nach der Kontingenz, um die – wie Wolfgang Knöbl es noch einmal pointiert formuliert hat – »Sozialwissenschaftler seit dem 19. Jahrhundert wie Voodoo-Priester« kreisten.27 Quetelet selbst hatte die Anwendbarkeit des »Gesetzes der großen Zahl« auf die Gesellschaft am Beispiel eines Münzwurfes mit unterschiedlichen Münzen erklärt, bei dem sich, je öfter man ihn durchführe, die Häufigkeit der Ergebnisse allmählich einem bestimmten Verhältnis, einem »état moyen« annähere, der 26 Quetelet, Soziale Physik (wie Anm. 7), S. 104. 27 Wolfgang Knöbl, Das Problem der Kontingenz in den Sozialwissenschaften und die Versuche seiner Bannung, in: Frank Becker u. a. (Hg.), Die Ungewissheit des Zukünftigen. Kontingenz in der Geschichte, Frankfurt a. M. 2016, S. 119–137, hier S. 121.

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durch die physische Beschaffenheit der Münzen präformiert sei.28 Ganz ähnlich argumentierte er mit Hilfe eines Bernoulli-Experimentes mit schwarzen und weißen Kugeln, bei dem sich die Ergebnisse der Ziehungen, je öfter sie stattfinden, der Normalverteilung des Kugelverhältnisses der Grundgesamtheit nähern.29 Der Mathematiker Moritz Wilhelm Drobisch übernahm dieses Bild und exemplifizierte daran die ungleichmäßigen Wirkungen von konstanten und akzidentiellen Ursachen auch auf menschliches Tun, so dass ihm die Kugeln zugleich Bilder für Menschen waren, die »zu einer gewissen Gattung an willkürlichen Handlungen«, wie Eheschließungen, Verbrechen und Suiziden, prinzipiell befähigt seien, sie aber eben nur zu einem bestimmten Prozentsatz tatsächlich vollzögen.30 Der Ort der Entscheidungskompetenz blieb damit vollkommen abstrakt, weil Drobisch sie, um im Bild zu bleiben, weder bei der Hand oder Maschine ansiedeln wollte, die die Kugeln aus der Urne zogen (die er nur als akzidentielle Ursache gelten ließ), noch bei den Kugeln selbst.31 Was sich mit Verweis auf das Münz- und das Urnen-Experiment also noch etwas undeutlich gestaltete, nämlich eine reine Zufallsbestimmtheit von Entscheidungen, die jedoch aus einer Makroperspektive betrachtet den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit unterlagen, gewann größere Klarheit in einem Bild, das der Ökonom Adolph Wagner zur Erläuterung der Queteletschen Lehre prägte. Wagner zeichnete in seiner 1864 erschienenen Abhandlung über »Die Gesetzmässigkeit in den scheinbar willkürlichen Handlungen vom Standpunkte der Statistik« ein hochumstrittenes Bild: Er ließ einen Staat vor dem geistigen Auge der Leser entstehen, in dem die Anzahl von Eheschließungen, Geburten und Todesfällen unter Einschluss von Suiziden zu Beginn eines Jahres per Gesetz bestimmt und die Menschen, die zur Erfüllung dieser Zahlen beitragen müssten, per Los ausgewählt würden: »Alsdann bestimmt das Loos unter den einzelnen Geschlechtern, Alters-, Civilstands-, Berufsclassen die einzelnen in der gesetzlichen Zahl, welche sich heirathen sollen. Ein anderes Gesetz der Staatsgewalt normirt im Voraus die Zahl derjenigen Personen, welche ihrem Leben in dem nächsten Jahre durch Selbstmord ein Ende zu machen haben, und vertheilt diese Zahl nach einem vorausbestimmten Verhältniss auf die Geschlechter, die Alters-, die Berufsclassen u. s. w., verordnet endlich auch 28 Adolphe Quetelet, Lettres sur la théorie des probabilités, appliquée aux sciences morales et politiques, Brüssel 1846, S. 213–215. 29 Ders., Essai sur le développement des facultés de l’homme, Brüssel 1869, Bd. 2, S. 38. Der Ausdruck »Normalverteilung« wurde allerdings erst 1894 durch Karl Pearson geprägt. Quetelet sprach stattdessen von »Binomialverteilung« oder »Möglichkeitsverteilung«: Desrosières, Politik (wie Anm. 9), S. 86. 30 Moritz Wilhelm Drobisch, Moralische Statistik und die menschliche Willensfreiheit. Eine Untersuchung, Leipzig 1863, S. 13. An dieser moralstatistischen Argumentation, die von Quetelet geprägt worden war, entzündete sich später die Kritik Émile Durkheims: Auf diese Weise habe Quetelet »das Anormale verwendet, um das Normale zu bestimmen.« Émile Durkheim, Der Selbstmord, Frankfurt a. M. 132014, S. 351. 31 Drobisch, Moralische Statistik (wie Anm. 30), S. 8–12.

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gleichzeitig, wie viele dieser, den verschiedenen Classen angehörenden Personen das Wasser, den Strick, die Pistole, das Messer, das Gift usw. als Mittel zum Selbstmorde benutzen sollen. Wiederum bezeichnet dann das Loos aufgrund dieser Vorschrift die Individuen, welche sich das Leben zu nehmen haben. […] Und das Volk dieses Staats fügt sich vollkommen darein und führt Jahr aus Jahr ein die Gesetze getreu aus.«32

Geringfügige Abweichungen am Ende eines Jahres würden durch leicht veränderte Quoten für die kommenden Jahre ausgeglichen. So absurd und abenteuerlich ein solcher Staat auch erscheinen müsse, weil der »geschilderte Zustand so unerträglicher, so höchst unnatürlicher, unmenschlicher Art« sei, so wundersam sei es, dass sich genau dieser Prozess als »Folge der natürlichen Organisation der menschlichen Gesellschaft« von selbst vollziehe. »Denn jenes fremdartige Bild des abentheuerlichsten Volks und Staats, ist es nicht genau dasjenige, welches uns unsere Völker und Staaten bieten, nur dass hier ein dem Einzelnen unfühlbares Gesetz der Natur zur Ausführung gelangt?«33 In diesem Bild wird zweierlei deutlich: Zunächst einmal wurden nur diejenigen Ereignisse als Produkte von Zufallsentscheiden spezifiziert, die ihre Relevanz durch ihr tatsächliches Eintreten gewannen, nicht dadurch, dass sie ausblieben. Erst als ›Fall‹ betrachtet wurden sie überhaupt zähl- und messbar. Der zweite wichtige Aspekt von Wagners Bild war, dass es Notwendigkeit und Kontingenz miteinander verknüpfte: In seinem fiktionalen Staat wurden Entscheidungen per Gesetz und per Los in ein System integriert, um den Prinzipien der Stochastik in der Betrachtung gesellschaftlicher Erscheinungen Rechnung zu tragen. Motivgeschichtlich säkularisierte Wagner damit solche Vorstellungen, die im Zufallsentscheid eine Offenbarung Gottes gesehen hatten, und band sie an das mythologische Fortuna-Motiv zurück, hatte die unbeständige Göttin des Glücks, die für die Zuteilung der Lebenslose und damit auch für die Bestimmung zum Tode zuständig war, doch gerade in der ersten Hälfte des Jahrhunderts eine neue Renaissance erlebt.34 Die Macht der Entscheidung oblag in Wagners Bild also nicht dem Individuum und auch nur partiell dem Staat, der lediglich die Form organisierte, innerhalb derer der Zufall waltete. 32 Adolf Wagner, Die Gesetzmässigkeit in den scheinbar willkührlichen menschlichen Handlungen vom Standpunkte der Statistik, Hamburg 1864, S. 44–45. Zu Wagner s. David Lederer, Sociology’s ›One Law‹. Moral Statistics, Modernity, Religion, and German Nationalism in the Suicide Studies of Adolf Wagner and Alexander von Oettingen, in: Journal of Social History 46 (2013), S. 684–699. 33 Wagner, Gesetzmässigkeit (wie Anm. 32), S. 45 f. 34 Zum Niedergang des Fortuna-Motivs im 17. Jahrhundert und seinem Aufgehen im statistischen Denken s. Peter Vogt, The Death of Fortuna and the Rise of Modernity. Prolegomena to any Future Theory of Modernity, in: Ders. / A rndt Brendecke (Hg.), The End of Fortuna and the Rise of Modernity. Contingency and Certainty in Early Modern History, München 2017, S. 125–150, hier S. 148–150. Zur Renaissance von FortunaVorstellungen in der Romantik s. Ulrike Tanzer, Fortuna, Idylle, Augenblick. Aspekte des Glücks in der Literatur, Würzburg 2011, S. 95–134; Rehlinghaus, Die Semantik des Schicksals (wie Anm. 13), S. 155–220.

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Pointiert arbeitete Wagner heraus, welche Zumutung diese Art eines Zufallsentscheids für den Einzelnen bedeuten musste, weil sie keine rationale Begründung impliziere, alle gleich betreffen könne und deshalb für den Einzelnen nicht erwartbar sei. Obgleich der Ablauf des Geschehens also festen, rational nachvollziehbaren Regeln zu gehorchen schien, wurde ein sich im Los offenbarendes Gesetz als Bankrotterklärung von Recht und Gerechtigkeit empfunden. Mit dem Verweis auf den durch das Los »organisierten Zufall«, der Kontingenz und Entscheiden gewissermaßen aneinander koppelte, entzog Wagner den Betroffenen die Entscheidungskompetenz über ihr Ergehen, externalisierte diese und machte sie damit für das Individuum unverfügbar.35 Nicht zu Unrecht wurde Wagner von kritischen Lesern der Einwurf entgegengebracht, dass er zwei vollkommen »unterschiedliche Ansichten über die Natur der willkürlichen Handlungen einigermaassen [!] durcheinander« gebracht36 und mit der Doppeldeutigkeit des Gesetzesbegriffs, als intentionalen Willensakts eines Staates einerseits und als Naturgesetzmäßigkeit andererseits, fragwürdige Analogien gebildet habe.37 Noch 1871 wetterte Gustav Schmoller gegen »die Absurditäten, die man häufig aus den statistischen Zahlenreihen gefolgert« habe, nämlich dass »das statistische Gesetz einer Anzahl ganz harmloser Menschen das Pistol in die Hand drückte, damit die Zahl sich erfülle.«38 Im Kern berührten solche Bilder aber eine Frage, die ab Mitte des Jahrhunderts im Zentrum der deutschen Debatte über die Moralstatistik stand: Waren individuelle Entscheidungen vollständig determiniert und dadurch eigentlich unmöglich, und wenn ja, wodurch?

3. Die Innenseite der Entscheidung 3.1. Das Neigen der Waagschale: Zur Unmöglichkeit der freien Wahl

Quetelet selbst hatte vermeiden wollen, dass die Auseinandersetzung mit moralstatistischen Daten auf individuelle Handlungen rückprojiziert wurde, und betonte in seinen Schriften immer wieder, dass die von ihm konstatierten Gesetze nur dann zur Geltung kämen, wenn man vom einzelnen Menschen abstrahiere und dadurch die Elemente aus der Analyse beseitige, die als individuelle Be35 Siehe zum Los als Entscheidungsmedium: Barbara Stollberg-Rillinger, Die Entscheidung durch das Los. Vom praktischen Umgang mit Unverfügbarkeit in der Frühen Neuzeit, in: André Brodocz u. a. (Hg.), Die Verfassung des Politischen. Festschrift für Hans Vorländer, Wiesbaden 2014, S. 63–84; dies., Um das Leben würfeln. Losentscheidung, Kriegsrecht und inszenierte Willkür in der Frühen Neuzeit, in: Historische Anthropologie 22 (2014), S. 182–209. 36 Drobisch, Moralische Statistik (wie Anm. 30), S. 17. 37 Von Oettingen, Moralstatistik (wie Anm. 12), S. 207. 38 Gustav von Schmoller, Ueber die Resultate der Bevölkerungs- und Moral-Statistik. Vortrag, Berlin 1871, S. 17.

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sonderheit nur einen geringen Einfluss auf die Masse hätten.39 Die Gesetze der sozialen Physik hätten »nichts Individuelles mehr an sich, und deshalb wird man sie nur unter gewissen Einschränkungen auf die Individuen anwenden können. Jede Anwendung, die man davon auf den einen einzelnen Menschen machen wollte, wären im wesentlichen falsch, ebenso wie wenn man nach den Sterblichkeitstabellen den Zeitpunkt feststellen wollte, wann eine bestimmte Person sterben müsse.«40

Die Begründung, die Quetelet lieferte, taugte aus drei Gründen kaum dazu, die Frage nach dem Spielraum des Individuums und der Vorhersagbarkeit seiner Handlungen aus den Debatten fernzuhalten: Indem er an dieser Stelle auf die Sterbeziffern verwies, setzte er den individuellen Todeszeitpunkt, der (mit Ausnahme des Suizids) dem menschlichen Willen entzogen war, mit solchen Handlungen gleich, die als Inbegriff individueller Willensentscheidungen galten. Zudem gerieten seine Überlegungen über die Nivellierung individueller Besonderheiten in Widerspruch zur Vorstellung vom ›mittleren Menschen‹, welcher sich ja eben nicht aus deren Vernachlässigung, sondern im Gegenteil als deren Mittelwert ergab. Daraus folgte, zum dritten, dass man es gerade in Bezug auf Suizide und Verbrechen mit den Handlungen einer verschwindenden Minderheit zu tun hatte, die eben nicht die Regel, sondern eine Ausnahme mehrheitlichen Verhaltens repräsentierte.41 Die genannten Aspekte trugen dazu bei, dass sich insbesondere die deutsche Debatte recht bald an der Frage abarbeitete, inwiefern die gesellschaftlichen Befunde ihren Ursprung oder Niederschlag im Mikrokosmos des Individuums fanden. Die entscheidende Frage war, ob der Einzelne angesichts der Allgemeingültigkeit sozialphysikalischer Gesetze überhaupt entscheidungsmächtig war oder ob »bei der Gesammtbevölkerung eines Landes Handlungen, welche bei dem Einzelnen von freier Willensentschließung abhangen, in ihrer Gesammt­ heit bis zu einem gewissen Grade der freien Willensentschliessung entzogen« waren.42 Quetelets Auffassung, dass der Wille des Einzelnen, als rein akzidentielle Ursache, bei der Betrachtung einer großen Zahl an Menschen irrelevant sei,43 39 40 41 42

Quetelet, Ueber den Menschen (wie Anm. 16), S. 103. Ebd., S. 141–142. Dazu ausführlich besonders: Durkheim, Der Selbstmord (wie Anm. 30), S. 350–353. So in Bezug auf Johann Eduard Wappäus: von Oettingen, Moralstatistik (wie Anm. 12), S. 201. 43 Adolphe Quetelet, Du système social et des lois qui le régissent, Paris 1848, S. 69 f.: »Devant un pareil ensemble d’observations, faut-il nier de libre arbitre de l’homme? certes [!] je ne le crois pas. Je conçois seulement que l’effet de ce libre arbitre se trouve resserré dans des limites très-étroites et joue, dans les phénomènes sociaux, le rôle d’une cause accidentelle. Il arrive alors qu’en faisant abstraction des individus et en ne considérant les choses que d’une manière générale, les effets de toutes les causes accidentelles doivent se neutraliser et se détruire mutuellement, de manière à ne laisser prédominer que les véritables causes en vertu desquelles la société existe et se conserve.«

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teilte hingegen kaum einer der Autoren, die sich Mitte des 19. Jahrhunderts mit der Moralstatistik auseinandersetzten. Die Debatte über die Vereinbarkeit moralstatistischer Gesetze mit der in­ dividuellen Willensfreiheit startete in Deutschland ab den späten 1850er Jah­ren. Hier wurde sie als Äußerungsform kumulierter psychologischer Prozesse interpretiert, was deutlich auf den Aufstieg der materialistisch-inspirierten wissenschaftlichen Psychologie in dieser Zeit verweist.44 Unter ihrem Eindruck schien der Schlüssel, um das Problem der Willensfreiheit zu lösen, in der Frage nach der Genealogie von Entscheidungen im Inneren des Menschen zu liegen. Anders als in der statistischen Fallrationalität im Makrokosmos wurde Entscheiden hier als innerer Abwägungsprozess interpretiert, der zwischen zwei festgelegten Optionen schwankte, von denen eine letztlich obsiegte. Semantisch wurde dieser Vorgang als »Wahl« spezifiziert.45 Unter diesem veränderten Blickwinkel wurde auch das Nicht-Eintreten eines Falles, also die Entscheidung gegen ein Verbrechen oder den Suizid, zu einer möglichen, ebenbürtigen Option. Freilich divergierten die Autoren in ihren Einschätzungen darüber, wie die Gründe zu bemessen waren, die am Ende ausschlaggebend wirkten, und ob der Wille als ein Faktor dabei mitgedacht werden müsse. Insbesondere die beteiligten Philosophen und Theologen beriefen sich in ihrer Einschätzung dieser Frage darauf, dass allein das individuelle Bewusstsein der freien Selbstbestimmung dafür spreche, dass der Wille »mit freier, von äußerem Zwange wie von innerer Nöthigung unabhängiger Wahl sich zu entscheiden« in der Lage sei.46 Damit setzte beispielsweise der katholische Philosoph Georg Hagemann den Willen an den Anfangspunkt jeder Entscheidung und ernannte ihn zum »zureichenden Grund« jeden Handelns, weil der Wille das Vermögen besitze, »sich auch gegen das stärkere Motiv oder die bessere Einsicht [zu] entscheiden.«47 Zunder in die Debatte brachten bekennende Deterministen wie J. C. Fischer, Heinrich Dankwardt oder Sigismund Eduard Löwenhardt um 1860, die es durch Quetelets Untersuchungen als erwiesen ansahen, dass die angebliche menschliche Willensfreiheit eine Chimäre sei, weil sie auf Entscheidungen per definitionem keinen Einfluss ausüben könne. In diesem Sinne argumentierte der Militärarzt und Gerichtsmediziner Löwenhardt zunächst gegen die Möglichkeit eines motivlosen Willens und desavouierte darüber die Annahme einer freien Willkür, wie sie im Konzept des liberum arbitrium ihren Ausdruck fand.

44 Siehe dazu auch die Rezeption der Moralstatistik durch Wilhelm Wundt: Ders., Grundzüge der physiologischen Psychologie, Leipzig 1874, S. 833 f.; ders., Vorlesungen über die Menschen- und Thierseele, Bd. 2, Leipzig 1863, S. 175–178. 45 Zur sprachlichen Erfassung von Entscheidungen als ›Wahl‹ s. Tanja Pritzlaff, Entscheiden. Eine begriffliche Rekonstruktion, Frankfurt a. M. 2006, S. 19–55. 46 Georg Hagemann, Elemente der Philosophie, Freiburg i. Br. 31874, Bd. 3, S. 128. 47 Ebd., S. 132.

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»Der Wille soll die Abhängigkeit sein, zwischen verschiedenen Anregungen zu wählen, diese Willkür beweist also, daß ich vor der Ausführung überlege, welcher ich als der angemessensten folge. Wenn ich nun das Bessere wähle oder wenn ich die Fähigkeit, mich nach (Vernunft-)Gründen zu bestimmen, ›Willensfreiheit‹ nenne, so bekenne ich eben, daß ich mich durch einen und zwar den meisten anregenden Grund bestimmen lasse, mithin ohne Willensfreiheit handle. Wenn ich nun aber, wie man zu sagen pflegt, ›instinktiv‹ oder in ›Leidenschaft‹ oder ›Affekt‹, mithin ohne Ueberlegung handle, so handle ich sicher ohne Willensfreiheit.«48

Am Beispiel eines Menschen, in dem »der Gedanke [entsteht], einen Diebstahl zu begehen«, konkretisierte der Rostocker Jurist Heinrich Dankwardt etwas detaillierter insgesamt fünf denkbare »Gegenmotive« gegen die »Begierde«, die letztlich zur Abkehr vom Vorhaben führen könnten: nämlich die Angst vor Strafe, das eigene Ehrgefühl, die Eitelkeit, die »an den Hohn der Menge erinnert«, die Menschenliebe und das Gefühl der Gewissenhaftigkeit. Ob eines dieser Motive den Diebstahl letztlich verhindere und damit überhaupt als Ausdruck von Freiheit angesehen werden könne, hinge jedoch letztlich »vom individuellen Charakter ab, und dieser von Geburt und Erziehung. Es steht nicht in seiner freien Willkühr, den Diebstahl zu begehen oder zu unterlassen.«49 Insbesondere mit denjenigen Motiven, die potentiell unangenehme Gefühle nach einer Entscheidung antizipierten, griff Dankwardt Überlegungen voraus, die rund hundert Jahre später in der sogenannten Regret Theory modelliert werden sollten. Von dieser Warte aus gesehen sind Entscheidungen nicht nur durch Erfahrungen und Einflüsse aus der Vergangenheit determiniert, sondern auch durch Aussichten auf eine Zukunft, die sich, obgleich die Entscheidung Kontingenz eigentlich zu minimieren verspricht, zumindest hypothetisch als unsicher erweisen und von den erhofften Entwicklungen abweichen kann.50 So zeigte sich bereits bei Dankwardt eine Reflexion über die ganz eigene Temporalität von Entscheidungsprozessen, die sich nicht nur in der Linearität kausaler Abfolgen auflösen ließ. Tauchten sowohl bei Löwenhardt als auch bei Dankwardt Vernunft und Leidenschaft bzw. »Intellect« und »Begierde«51 noch als Attribute des Individuums auf, die die inneren Pole bezeichnen sollten, zwischen denen der Wille vor einer Entscheidung schwankte, so trennte J. C. Fischer in seiner Kompilation sämt-

48 Sigismund Eduard Löwenhardt, Die Identität der Moral- und Natur-Gesetze, Leipzig 1863, S. 156. Der Bezug zur Rolle der »Instinkte« ist möglicherweise auf Löwenhardts Wundt-Rezeption zurückzuführen: Wundt, Vorlesungen (wie Anm. 44), S. 398, 342. Zum Konzept des freien Willen (liberum arbitrium) innerhalb der spätmittelalterlichen Scholastik s. den Beitrag von Georg Jostkleigrewe in diesem Band. 49 Heinrich Dankwardt, Psychologie und Criminalrecht, Leipzig 1863, S. 53 f. 50 Siehe zur Regret- oder Disappointment Theory: Hans-Rüdiger Pfister u. a., Die Psychologie der Entscheidung. Eine Einführung, Berlin 42017, S. 207–210. 51 Dankwardt, Psychologie (wie Anm. 49), S. 53.

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licher materialistisch-inspirierter Schriften seiner Zeit52 die Gründe für die »Genesis eines Entschlusses« radikal von einem vermeintlichen Willen ihres Trägers und externalisierte dabei die ausschlaggebenden Gründe: »Nicht wir sind es, welche den bei einer Entscheidung mitwirkenden Gründen ihre bestimmenden Eigenschaften geben, diese sind vielmehr deren mitgebrachtes, ursprünglich-eigenthümliches Erbtheil. […] Jeder Entschluß neigt sich auf jene Seite, auf welcher die meisten günstigen und gewichtigsten Gründe sich zeigen. […] Nicht freie Wahl, sondern gesetzmäßige Nothwendigkeit bestimmt ihn. Und nie giebt das Bewußtsein von der Freiheit unseres Willens den entscheidenden Ausschlag; nie bildet dieses Bewußtsein ein Motiv, das zur That treibt.«53

In Fischers Darstellung war die Entscheidung also unabhängig von demjenigen, der sie letztlich traf, so dass Entscheiden als solches nicht mehr als aktiver, individueller Akt, sondern als unwillkürliches Sich-Neigen angesehen wurde, das von Einflüssen bestimmt wurde, die außerhalb des Menschen zu suchen waren. Im Bild der Waage fand diese Vorstellung ihren angemessenen Ausdruck und war in dieser Form ein gängiger Topos der Determinismusdebatten des 19. Jahrhunderts. Das Bild war maßgeblich durch eine Preisschrift »Ueber die Freiheit des menschlichen Willens« popularisiert worden, die Arthur Schopenhauer bereits 1839 formuliert hatte: »Das natürliche Bild eines freien Willens ist eine unbeschwerte Waage: sie hängt ruhig da, und wird nie aus ihrem Gleichgewicht kommen, wenn nicht in eine ihrer Schalen etwas gelegt wird. So wenig wie sie aus sich selbst die Bewegung, kann der freie Wille aus sich selbst Handlung hervorbringen; weil eben aus Nichts nichts wird. Soll die Waage sich nach einer Seite senken; so muß ein fremder Körper ihr auferlegt werden, der dann die Quelle der Bewegung ist. Ebenso muß die menschliche Handlung durch etwas hervorgebracht werden, welches positiv wirkt und etwas mehr ist, als eine bloß negative Freiheit.«54

Obgleich Schopenhauer ohne Blick auf die Ergebnisse Queteletscher Studien argumentiert hatte, wurde er in den moralstatistischen Debatten als Referenz immer wieder zitiert.55 1884 brachte der Bonner Philosophieprofessor Carl Schaarschmidt das Bild präzise auf den Punkt: Die Deterministen in der Debatte behaupteten,

52 Zur Rolle Fischers im Materialismusstreit s. Rehlinghaus, Die Semantik des Schicksals (wie Anm. 13), S. 354–359. 53 J. C. Fischer, Ueber die Freiheit des menschlichen Willens, Leipzig 1858, S. 133 f. 54 Arthur Schopenhauer, Die beiden Grundprobleme der Ethik, behandelt in zwei akademischen Preisschriften, Leipzig 21860, S. 73. 55 So bspw. Dankwardt, Psychologie (wie Anm. 49), S. 53; W.  Schmidt, Die Statistik der sittlichen Thatsachen und die sittlichen Wissenschaften, in: Deutsche Blätter (Dezember 1874), S. 716.

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»dass die Wahl keine freie, keine eigentliche Wahl sei, sondern dass das Schwanken des Willens (oder vielmehr des Wollenden) vor der Entscheidung, ganz wie das Schwanken der Wage mit den Gewichten, nur vorübergehend sei, ohne das eigentliche Resultat, die Entscheidung durch das stärkste Motiv, beeinträchtigen zu können. Das Ich wäre also das indifferente, passive Element bei der Entschliessung: das active und entscheidende wäre doch wieder das stärkste Motiv.«56

Mit Bezug auf die moralstatistischen Tabellen verorteten die strengen Deterministen die eigentlichen Ursachen menschlicher Handlungen so allein in solchen Faktoren, die wie die Witterung, die Geographie, die Tages- und Jahreszeiten, das Alter und Geschlecht, die soziale Schicht und viele andere dem menschlichen Zugriff entzogen waren und die Waagschalen von außen kommend zum Sinken brachten. Indem Fischer, Löwenhardt, Dankwardt und andere solcherart die Kontingenz des Entscheidens negierten, stellten sie die Möglichkeit, Entscheidungen überhaupt treffen zu können, also generell in Frage, woraus sich unmittelbare gesamtgesellschaftliche Folgen, insbesondere für die Jurisdiktion, ergaben: So leitete Dankwardt aus den statistischen Daten über die Regelmäßigkeit von Verbrechen ein deutliches Urteil ab: »Hat denn der Mensch Freiheit des Willens? Ist Strafe (aus Rachsucht oder Reflexion) nicht Unvernunft? Die Antwort ist: Der Mensch ist unfrei. Jedes Verbrechen hängt von dem natürlichen Character des Verbrechers in Verbindung mit den rein zufälligen Umständen ab. Man kann ihn für sein Thun ebensowenig verantwortlich machen, wie den Stein, der, den Gesetzen der Schwere folgend, uns den Kopf verletzt.«57

3.2. Der innere Gerichtssaal – Entscheiden als Urteil zwischen Einsicht und Begierde

Tatsächlich wurde die Ablehnung der freien Willkür als eines motivlosen Willens im Entscheidungsprozess im Laufe der kommenden Jahre zum Gemeingut,58 während die Frage nach der Willensfreiheit jedoch umstritten blieb. Dass »die Handlungen des Menschen und die Entschlüsse und Vorsätze des menschlichen Geistes […] unter derselben unvermeidlichen und mechanischen Noth­ wendigkeit stehen, wie die Ereignisse der äussern Natur […] oder ob der Geist

56 Carl Max Wilhelm Schaarschmidt, Zur Widerlegung des Determinismus, in: Philosophische Monatshefte 20 (1884), S. 193–218. 57 Dankwardt, Psychologie (wie Anm. 49), S. 51. 58 So Georg Friedrich Knapp in seiner Zusammenfassung der Debatte von 1871: »Es herrscht ferner auch darin Einigkeit, dass gegenüber der grossen Regelmässigkeit in der Anzahl der jährlich geschehenden Handlungen nicht mehr länger an Willensfreiheit geglaubt werden kann, wenn man unter einem freien Willen einen motivlosen Willen versteht.« Georg Christian Knapp, Die neuern Ansichten über Moralstatistik. Vortrag, gehalten in der Aula der Universität zu Leipzig am 29. April 1871, Jena 1871, S. 241.

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des Menschen die Fähigkeit habe, sich […] aus sich selbst heraus […] zu diesem oder jenem Handeln zu entschliessen,« schien nicht abschließend geklärt.59 Und so wagten zahlreiche Autoren noch einen tieferen Blick in die Psyche des Menschen, um die ›Lücke‹ zu finden,60 in der sich ein Raum für individuelle Autonomie auftat. In dieser Art beschrieb der Gymnasiallehrer Adolf Heuermann 1876 in einer kleinen Schrift über die »Bedeutung der Statistik für die Ethik« die psychologischen Schritte, die einer konkreten Tat vorausgingen, und kam zu folgendem Ergebnis: »Nach dem oben Gesagten unterscheiden wir in dem Verlauf einer Handlung zweierlei: 1. Den Schritt von der Vorstellung derselben bis zur Entscheidung des Willens für oder gegen sie, worin das Erwägen der einzelnen Gründe und Gegengründe eingeschlossen ist; 2. Die auf die Entscheidung folgenden Umstände, zunächst die Ausführung der That – denn wenn diese nicht erfolgt, sondern durch einen anderen Entschluss aufgehoben wird, so war der erste noch keine wirkliche Willensentschliessung –, dann das Gefühl der Verantwortlichkeit für sie und ihre Folgen.«61

In diesem Verlauf sei der einzige Raum, an dem so etwas wie Freiheit zu finden sei, der Moment unmittelbar vor der Entscheidung, »wo es möglich, aber nicht gewiss ist, dass der Wille sich entschliesst.« Heuermann bettete den Ablauf einer Tat also in ein zeitliches Kontinuum ein, das ihm ermöglichte, zwei unterschiedliche Sichtweisen auf eine Entscheidung in ein Vorher und ein Nachher zu differenzieren. Dabei bemerkte er folgendes Paradox: Gerade dann, wenn eine Entscheidung a priori als Akt der Freiheit bewertet worden sei, erzeuge sie in der Retrospektive ein Gefühl der Unfreiheit, weil sie die Handlung als eigene ausweise und den Einzelnen damit für sie verantwortlich mache. Fehle dieser Raum der Freiheit vor einer Entscheidung jedoch, fühle sich der Einzelne frei und ungebunden. In dem Moment des Entscheidens also trete unweigerlich eine radikale Kontingenzreduktion ein, die zu dem Schluss verleite, dass die Entscheidung auch von ihrem Ursprung determiniert gewesen sei. »Wie kommt es, […] dass, wenn zwischen den Motiven und dem Willen Raum für eine freie Entscheidung ist, das Gewissen sich gebunden fühlt; dagegen frei von der Verantwortung, wenn dort zwingende Nothwendigkeit stattfand?«62

Für Heuermann war die Antwort auf diese Frage klar: »Gewiss nur darum, weil der Wille mit zu den nothwendigen Bedingungen gehört, welche zurechnungsfähige Handlungen herbeiführen, nicht aber selbst mit Nothwendigkeit herbeigeführt wird.« Vom Willen hinge es letztlich ab, wie sich Motive vor einer Entscheidung geltend machten. Innere und äußere Motive könnten so zwar zum 59 Hermann Siebeck, Das Verhältnis des Einzelwillens zur Gesammtheit im Lichte der Moralstatistik, in: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 33 (1879), S. 347–370. 60 Pritzlaff, Entscheiden (wie Anm. 45,) S. 40. 61 Adolf Heuermann, Die Bedeutung der Statistik für die Ethik, Osnabrück 1876, S. 8. 62 Ebd., S. 8.

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Handeln anregen, auffordern und veranlassen, aber das »Angeregtwerden« sei »kein Gezwungenwerden«.63 Dass der Wille seine Zustimmung auch versagen könne, lehre die Erfahrung.64 Heuermann hatte mit dieser Herleitung herausgearbeitet, dass es einen qualitativen Unterschied zwischen Motiven / Gründen für eine Entscheidung und zwingenden Ursachen gab, die kausaldeterministisch und damit zwangsläufig ein bestimmtes Handeln hervorbrachten. Ohne es in der erforderlichen Deutlichkeit auszusprechen, hatte Heuermann damit die »Rationalisierungslücke« erkannt, die vor einer Entscheidung nur durch einen ›Sprung‹ überschritten werden kann.65 Für die Regelmäßigkeiten in den statistischen Daten bedeutete das, dass das Verhältnis von akzidentiellen und notwendigen Ursachen eigentlich umgekehrt betrachtet werden musste: Hatte die Moralstatistik bislang nur diejenigen Faktoren in den Blick genommen, die lediglich als Anreize einer bestimmten Tat anzusehen waren, war sie zum Willen der Menschen als eigentlichem Motiv einer Handlung bislang noch gar nicht vorgedrungen.66 Heuermann hatte in seiner Analyse des Entscheidungsprozesses den Willen und die Vielzahl äußerer Reize als antagonistische Kräfte gegenübergestellt, es dabei aber vermieden, auf den Zusammenhang zwischen Motiven und Willen näher einzugehen, weil er den Willen an den absoluten Anfang seiner Kausalkette setzte. Damit war über das Wesen des Willens freilich noch nichts gesagt. Eine andere Herangehensweise wählten der bereits mehrfach erwähnte Moritz Wilhelm Drobisch und einige Jahre später sein ehemaliger Schüler, der Baseler Philosoph Hermann Siebeck.67 Zwar interpretierten auch sie den Prozess des Entscheidens als ein hochgradig formalisiertes inneres Ablaufverfahren, positionierten aber den Willen an einer anderen, weniger prominenten Stelle, weshalb es ihnen gelang, die Frage nach der Willensfreiheit von derjenigen nach der Möglichkeit des Entscheidens zu trennen. In seiner Abhandlung »Ueber die moralische Statistik und die menschliche Willensfreiheit« von 1863 zeigte sich Drobisch überzeugt davon, dass die Moralstatistik ein für alle Mal bewiesen habe, dass das motivlose Wollen ein Ding der Unmöglichkeit sei: Sie habe stattdessen überall Veranlassungen, Triebfedern und Beweggründe entdeckt, die gemeinsam als ›Motive des Handelns‹ gelten könnten.68 Deshalb müsse, so Siebeck in seiner Abhandlung von 1879, die Beantwortung der Frage nach der Freiheit des Einzelnen nicht so sehr in den äußeren Bedingungen sei-

63 Ebd. 64 Ebd., S. 9. 65 »Die Entscheidung überspringt einen Mangel an rationalen Bestimmungsgründen des Handelns«: Hermann Lübbe, Zur Theorie der Entscheidung, in: Ernst-Wolfgang Böcken­ förde (Hg.), Collegium Philosophicum. Studien. Joachim Ritter zum 60. Geburtstag, Basel 1965, S. 118–140, hier S. 131. 66 Heuermann, Bedeutung (wie Anm. 61), S. 13. 67 Drobisch, Moralische Statistik (wie Anm. 30); Siebeck, Verhältnis (wie Anm. 59). 68 Drobisch, Moralische Statistik (wie Anm. 30), S. 55.

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ner Existenz gesucht werden, sondern darin, wie diese Einflüsse »im geistigen Innern verarbeitet werden, um überhaupt Entschlüsse zu erzeugen.«69 Besonders interessant ist es nun, dass beide Autoren für die Rekonstruktion inneren Entscheidens auf ein Bild zurückgriffen, das deutlich auf gesellschaftliche Ordnungsstrukturen verwies: Der Akt des Entscheidens wurde als ein innerer Gerichtsprozess imaginiert, bei dem zwei konfligierende Parteien um die Gültigkeit ihrer Argumente stritten, bis ein Richterspruch den Streit beendete. War die stilisierte Waage bei J. C. Fischer und anderen als Sinnbild des freien Willens noch ein abstraktes Bild geblieben, das vor allen Dingen die Passivität des Individuums im Wahlakt betonte, so stellten Drobisch und Siebeck das Urteilsvermögen des Einzelnen in das Zentrum ihrer Betrachtung und verliehen ihm damit neue Handlungsmächtigkeit.70 Dafür bedienten sie sich immer wieder sprachlicher Anleihen aus der Jurisdiktion. Die zugrundeliegende Prämisse war zunächst, dass jeder Mensch die Fähigkeit besaß, vor seinen Handlungen »zu überlegen und zu erwägen, d. h. zu beurteilen«, ob sie wert seien, getan oder unterlassen zu werden.71 Und das vollzog sich demnach folgendermaßen: Im inneren Gerichtsprozess standen sich auf der einen Seite »Begierden«, »Leidenschaften« und »Wünsche« und auf der anderen Seite die »sittliche Einsicht« der Vernunft gegenüber. Siebeck interpretierte die Begierde als etwas, das zwar von außen angeregt werde, aber dem erst »von innen aus seine Realisierung bewilligt oder versagt« werden müsse.72 Dabei stehe der Ausgang des Prozesses jedoch noch nicht von vorneherein fest. Denn die innere Justitia verhalte sich im Zustand der Überlegung erst einmal neutral: »Die Ueberlegung ist unparteiisch, wenn sowohl den verlockenden Begierden als der sittlichen Einsicht (der Vernunft) verstattet ist, ihre Stimmen vernehmen zu lassen und ihre Ansprüche geltend zu machen.« In diesem mentalen Akt distanzierte sich der innere Betrachter also zunächst von beiden zur Disposition stehenden Entscheidungsalternativen, indem er sich ihnen als etwas Drittes gegenüberstellte. Er vermochte die beiden Optionen dadurch als eine Einheit in den Blick zu nehmen und war dem unbeherrschbaren »Schwanken[.] zwischen den Alternativen« aus dieser übergeordneten Perspektive gewissermaßen enthoben.73 Vor dem Hintergrund dieses Szenarios wurde der Wille als Faktor des Entscheidens letztlich bedeutungslos. »In die Entscheidung darf sich aber der Wille und jegliches Begehren überhaupt nicht einmischen, sondern sie muss ganz und gar der Vergleichung der Werte überlassen bleiben, die den Ansprüchen der streitenden Parteien zuzuerkennen sind.«74 69 Siebeck, Verhältnis (wie Anm. 59), S. 350. 70 Zum Verständnis des Entscheidens als Urteilen s. Pritzlaff, Entscheiden (wie Anm. 45), S. 86–122, bes. S. 95. 71 Drobisch, Moralische Statistik (wie Anm. 30), S. 72. 72 Siebeck, Verhältnis (wie Anm. 59), S. 354. 73 Pritzlaff, Entscheiden (wie Anm. 45), S. 124. 74 Drobisch, Moralische Statistik (wie Anm. 30), S. 73.

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Weil Drobisch und Siebeck damit die Frage nach der Freiheit des Willens geschickt aus dem Zentrum der Betrachtung rückten, gelangten andere Einflussfaktoren verstärkt in den Blick. Die Entscheidung des neutralen inneren Richters war ihnen zufolge natürlich nicht willkürlich, sondern sie hing vor allem davon ab, welchen Werten und Maßstäben sich dieser verpflichtet fühlte, oder, um im Bild zu bleiben, welches innere Rechtssystem eigentlich Gültigkeit besaß. Maßgeblich sei dafür der individuelle Grad der »sittlichen Urtheilsfähigkeit«,75 der den Ausschlag dafür gebe, wie die Entscheidung ausfalle. Unzweifelhaft band Drobisch damit, viel deutlicher noch als Heuermann, den Akt des Entscheidens an ethische Normen – und damit letztlich an sozial-determinierte, kontextabhängige Faktoren76 – und billigte nur diejenigen Entschlüsse als wahre »Entscheidungen«, die einer moralischen Maxime gehorchten und damit zu Gunsten der Einsicht ausfielen. Diese unbedingte moralische Bestimmung des Entscheidens äußerte sich auch darin, dass Drobisch sich, ähnlich wie Dankwardt es getan hatte, auf ein potentielles Gefühl der Reue berief, das jeder Mensch unbedingt vermeiden wolle, weshalb auch Menschen mit nicht vollständig ausgebildetem Urteilsvermögen dazu in der Lage seien, »eine Entscheidung über das Vorzuziehende und zu Verwerfende […] stets zu Gunsten mindestens des vergleichungsweise Besseren« zu treffen.77 Drobisch und Siebeck erblickten im Akt des Entscheidens daher eine doppelte Freiheit: Sie ergab sich einmal aus einer Freiheit der Intelligenz, die eine Unabhängigkeit des Urteils garantierte, zum anderen aber auch aus der Fähigkeit, die Begierde eine Zeitlang zu unterdrücken, bis ein endgültiges Urteil gefällt wurde. Auch hier blitzte somit wieder die ›Lücke‹ auf, die den Moment zwischen Entscheiden und Entscheidung als einen Raum von Kontingenz auswies, um von Drobisch und Siebeck jedoch sofort mit dem Hinweis auf die sittliche Gebundenheit des Urteils geschlossen zu werden. So wurde die Freiheit selbst fast paradox als eine »Gebundenheit des Willens« interpretiert. »Sie bildet keinen Gegensatz zur Nothwendigkeit, vielmehr erwarten wir von einem streng sittlichen festen Charakter, dass ihm sittliches Wollen und Handeln zur andern Natur und somit, unter Ausschluss alles Zufälligen, nothwendig geworden sey.«78 Drobisch und Siebeck erwiesen sich in dieser Rekonstruktion als maßgeblich von Kant inspiriert, determinierten dessen Konzept einer intelligiblen Freiheit aber, indem sie diese als etwas noch zu Erwerbendes charakterisierten und abhängig vom »eigentliche[n] Kern des Menschen«,79 nämlich dem »Charakter« machten. Der Charakter wurde als Produkt einer »mitgebrachten Individua-

75 Ebd. 76 Pritzlaff, Entscheiden (wie Anm. 45), S. 100. 77 Drobisch, Moralische Statistik (wie Anm. 30), S. 73. 78 Ebd., S. 106. 79 Siebeck, Verhältnis (wie Anm. 59), S. 354.

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lität«, von »Erziehung« und von »Lebenserfahrung« interpretiert.80 Für die Einzelentscheidung bildete der Charakter nun das »Forum, vor welchem das jeweilig vorhandene Begehren erst eine Prüfung seiner Angemessenheit oder Rechtmässigkeit bestehen muss, ehe ihm gestattet wird, in Wollen überzugehen und in Handlung auszubrechen.«81 Im Wesentlichen wurde die Möglichkeit des individuellen Entscheidens damit als die Fähigkeit der Triebbewältigung nach der Maßgabe sittlicher Normen interpretiert: »Wo sonach auf Grund des Charakters die Entscheidung über ein aufsteigendes Begehren nach rein sittlichen Grundsätzen stattfindet, da ist im Gegensatze zu äusserer Beeinflussung Freiheit, d. h. Selbstbestimmung innerhalb der Persönlichkeit vorhanden, denn nicht nur der beeinflusste Faktor (das entstandene Begehren) gehört der Persönlichkeit an, sondern auch derjenige, von welchem die Beeinflussung ausgeht (der moralische Grundsatz) ist auf ihrem eignen Boden erwachsen, nämlich im Fortgange ihrer selbstthätigen geistigen Entwickelung.«82

Der Entwicklungsgedanke zeigte deutlich, dass Drobisch und Siebeck den Charakter als veränderlich ansahen.83 Die mit ihm verbundene Urteilfähigkeit war demnach kein von Geburt an voll ausgebildetes Vermögen, sondern vielmehr eine erlern- und optimierbare Fähigkeit, die je nach Situation in unter­ schiedlichen Graden erforderlich war und individuell unterschiedlich stark zutage trat.84 »Nach der Höhe derselben wird es sich richten, welcher Art die Grundsätze sind, die in dem Charakter eines Menschen die herrschenden werden, also etwa ob er es bloss zu Utilitätsprincipien oder Gesichtspunkten des Ehrgeizes u. dgl. bringt oder zu rein moralischen Grundsätzen. […] Je höher nun jene Grundsätze in Bezug auf ihren moralischen Werth stehen, desto freier ist der Mensch.«85

Das war eine klare Position gegen Quetelets ›Hang‹ zum Verbrechen, dem prinzipiell jeder Mensch hilflos ausgeliefert zu sein schien. Von dieser Warte aus bestritt Siebeck die Möglichkeit, über das Zählen äußerer Handlungen, wie es die Moralstatistik tat, auf die Beschaffenheit der Freiheit der Menschen zu schließen, da deren wahren Äußerungsformen häufig »im Verborgenen« blühten und sich der »Einreihung unter die Kategorien der Moralstatistik durch ihre Eigenartigkeit« entziehen würden.86 Dafür verwies er auf Fälle der Entsagung, der Selbstverleugnung, der Bescheidung, die als bewusste Entscheidungen gegen das innere Begehren Ausfluss eines hohen Maßes individueller Freiheit seien und sich in den statistischen Datenreihen, weil sie 80 Ebd; so auch Drobisch, Moralische Statistik (wie Anm. 30), S. 65. 81 Siebeck, Verhältnis (wie Anm. 59), S. 354. 82 Ebd. 83 Ebd., S. 355. 84 Ebd., S. 364 f. 85 Ebd., S. 355 f. 86 Ebd., S. 360 f.

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eben keine ›Fälle‹ markierten, gar nicht erst niederschlagen würden. Wie der Einzelne diesen Grad an Freiheit erreichen könne, hing in dieser Sicht wiederum von den Bedingungen der Gesellschaft ab, deren Aufgabe es sei, ihre Glieder zur sittlichen Freiheit zu erziehen. Entscheidungen entstünden somit also als Wechselwirkungen von gesellschaftlichen Einflüssen und innerer Erkenntnis, als Abwägung zwischen innerem Begehren und Einsicht in das Gute: »Ist doch nach unsrer Auffassung der Sache jeder einzelne Entschluss des Menschen in seinem Inhalte, seiner Art und Eigenthümlichkeit bedingt durch die Einwirkung der umgebenden Verhältnisse, sowie andrerseits durch denjenigen Grad von individueller Selbständigkeit und principieller Erkenntnis, welchen das betreffende Individuum sich erworben hat.«87

Was in den Ausführungen Drobischs und Siebecks deutlich wird, ist, dass Entscheiden im 19. Jahrhundert, verstanden als ein »mentales, inneres Geschehen individueller Akteure, von dem das Handeln seinen Ausgang nimmt«, zwar rationalisiert werden sollte, dabei aber nicht in ein utilitaristisches, »trivialwissenschaftliche[s] Rational-Choice-Modell« mündete.88 Stattdessen wurde es sehr differenziert zurückgebunden an zeitgenössische Vorstellungen von Persönlichkeit, Sittlichkeit und Moral. Das Modell des Gerichtssaals mit einem eigenen, individuellen und wandelbaren Rechtssystem, dem Forum des Charakters und den streitenden Parteien von Begierde und Einsicht verweist darauf, wie sehr die soziale Bedingtheit des Entscheidens auch von denjenigen mitgedacht wurde, denen es mehr um die Innenseite als um die Außenseite der Entscheidung zu tun war. So bedurfte die Beschreibung psychologischer Vorgänge zumindest in ihrer narrativen Rekonstruktion einer sozialen Rahmung, um Entscheiden als mentalen Akt überhaupt analytisch fassen zu können.89 3.3 Der Einzelne und die Gesellschaft

In Siebecks und Drobischs, aber auch schon in Quetelets Ausführungen zur Materie hatte sich angedeutet, dass die Diskreditierung des Entscheidens als pure deterministische Ableitung äußerer Einflüsse und innerer Motive auch deshalb nicht opportun erschien, weil sie nicht nur die individuelle, sondern auch die gesellschaftliche Entscheidungsfähigkeit ad absurdum geführt und damit jede Form gesellschaftlichen Wandels unmöglich gemacht hätte. Das Bild des inneren Gerichtshofes mochte sich dabei auch deswegen angeboten haben, weil die moralstatistischen Erhebungen für die Kriminalitätserfassungen auch den Ausgang von Gerichtsverfahren, insbesondere der Schwurgerichte dokumentiert 87 Ebd., S. 369. 88 Barbara Stollberg-Rillinger, Praktiken des Entscheidens. Zur Einführung, in: Brendecke, Praktiken der Frühen Neuzeit (wie Anm.2), S. 360–364, hier S. 631. 89 Für diesen Hinweis danke ich Philip Hoffmann-Rehnitz.

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und damit weitreichende Debatten über die Angemessenheit oder Zufälligkeit von Strafen ausgelöst hatte.90 Schon Quetelet hatte in seinen Schriften sehr deutlich formuliert, dass die Konstanz der statistischen Daten von der Konstanz der sie bedingenden Ursachen abhing, dass aber die Veränderung gesellschaftlicher Zustände durch politische Entscheidungen unweigerlich einen Einfluss auf zukünftige Entschlüsse von Individuen haben musste. Der »Gesetzgeber« war ihm diejenige Instanz, die sich der moralstatistischen Daten bedienen müsse, um die gesellschaftlichen Bedingungen zu verändern, wenn er beispielsweise die Anzahl der Verbrechen mindern wolle.91 In Bezug auf Veränderungen in der Kriminalitätsgesetzgebung schrieb Quetelet: »Dieses merkwürdige Ergebnis lässt begreifen, welchen Einfluss eine gute Gesetzgebung und eine erleuchtete Regierung ausüben können. Man ändere die bestehende Ordnung, und alsbald wird man die Tatsachen, die sich mit solcher Beharrlichkeit wiederholt hatten, sich ändern sehen. Die Statistiker werden dann zu untersuchen haben, ob die Veränderungen vorteilhaft oder nachteilig gewesen sind.«92

So inkonsequent eine solche Argumentation vor dem Licht weitaus deterministischerer Aussagen Quetelets erschien, weil ja eben auch eine veränderte Gesetzgebung letztlich auf (regierende) Individuen angewiesen war, die sich aus sich selbst heraus für eine Gesetzesänderung hätten entscheiden müssen, umso mehr suchten die Autonomieverfechter nach den Ursachen gesellschaftlichen Wandels, die auf die »Freiheit der Persönlichkeit« zurückzuführen waren. Zunächst einmal begann eine Uminterpretation der statistischen Daten, die nun anstatt als Belege der Unfreiheit als Dokumentation menschlicher Entscheidungsfreiheit gelesen wurden. So bemerkte Carl Schaarschmidt in den »Philosophischen Monatsheften« von 1884 recht trocken: Wenn die Häufigkeit der Eheschließungen sich nach den Ernteerträgen richte, »also als von einem menschlicher Willkür entrückten Umstande abhängig erscheint«, so zeige diese Tatsache doch eigentlich das Gegenteil von dem, was sie eigentlich beweisen wolle. »Denn wenn die Leute sich durch die ungewöhnliche Höhe der Kornpreise, d. h. mit andern Worten durch die Theuerung vom Heirathen abschrecken lassen, so zeigen sie eben dadurch Ueberlegung, also zeigen sie, dass sie ihren Neigungen durch vernünftige Selbstbestimmung begegnen, was doch sicher eine Sache der Freiheit ist.«93

90 Alexander von Oettingen, Moralstatistik in ihrer Bedeutung für eine christliche Sozialethik, Erlangen 21874, S. 463–465; Georg von Mayr, Die Gesetzmässigkeit im Gesellschaftsleben. Statistische Studien, München 1877, S. 341. Siehe dazu: Desiree Schauz, Strafen als moralische Besserung. Eine Geschichte der Straffälligenfürsorge 1777–1933, München 2008, S. 249. 91 Quetelet, Ueber den Menschen (wie Anm. 16), S. 98. 92 Ders., Soziale Physik (wie Anm. 7), S. 347. 93 Schaarschmidt, Widerlegung (wie Anm. 56), S. 214.

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Der langjährige Leiter des Königlich-Württembergischen Statistisch-Topographischen Bureaus und Tübinger Ordinarius für Statistik Gustav Rümelin hatte bereits einige Jahre zuvor genau denselben Umstand zum Anlass genommen, um die Miteinbeziehung von äußeren Umständen in menschliche Entscheidungen als Ausdruck einer Freiheit zu interpretieren, die den Menschen vor dem Tier auszeichne. »Die Thiere begatten sich, ob ihre Nahrungsmittel spärlicher oder reichlich vorhanden sind und lassen dann die Jungen verkommen. Der Mensch, frei von der zwingenden Herrschaft des Naturtriebes, überlegt, ob es räthlich ist, zur Gründung einer Familie zu schreiten. Daß nun aber nicht Einer, sondern Viele unter den gleichen oder ähnlichen Bedingungen eine so vernünftige Erwägung anstellen und daß sich die Wirkung dieses Faktors bei der Volkszählung bemerklich macht, das ist der handgreiflichste Beweis für, aber nicht gegen die Willensfreiheit.«94

Ließ sich also durch einen ähnlichen Grad sittlicher Freiheit der Individuen einer Gesellschaft die Regelmäßigkeit ihrer Entscheidungen erklären, so ging der uns bereits bekannte Hermann Siebeck noch weiter, indem er auch aus den Abweichungen von diesem durchschnittlichen Grad an Freiheit die statistischen Abweichungen herleitete, die in allen Datenreihen auftauchten und die langfristig auch zur Veränderung gesellschaftlicher Zustände führen würden. »Es giebt immer eine Anzahl an Individuen, welche den durch die äussern Verhältnisse nahe gelegten Entscheidungen und Entschliessungen sich entziehen, weil für die in den betreffenden Fällen andere, tiefer begründete Principien zur Wirksamkeit gelangen, als für die grosse Mehrzahl der andern Handelnden.«95

Von diesen Überlegungen ausgehend verwies Siebeck darauf, dass die Statistiken gerade in den Klassen von Entscheidungen absolut gesehen besonders niedrige Zahlen aufwiesen und stärker schwankten, bei denen eine besondere »Willensenergie« erforderlich sei (Suizide, Morde, Eheschließungen mit erheblichem Altersunterschied der Ehegatten) und die sich daher »selbständiger« gegen die »nach der entgegengesetzten Entschließung drängenden Motive« zu behaupten hätten. So ließen sich also sowohl die Regelmäßigkeiten in den großen Zahlen moralstatistisch relevanter Ereignisse als auch die Regelmäßigkeit der Abweichungen auf die Freiheit der Entscheidung zurückführen. »Hat sich uns somit gezeigt, dass der Mensch den Grund seiner Freiheit und Selbst­ bestimmungsfähigkeit nur erwerben kann auf Grundlage und in Wechselwirkung mit den Einflüssen von Seiten der Gesellschaft, dass aber andrerseits die Regelmässigkeit sowohl wie die Schwankungen in der Summe gleichartiger Handlungen von der Ueberlegungs- und Entschliessungsfähigkeit der Einzelnen unter der Wirkung von Grundsätzen des Handelns selbst mitbedingt sind, so liegt darin zugleich der 94 Gustav Rümelin, Moralstatistik und Willensfreiheit, in: Ders. (Hg.), Reden und Aufsätze, Freiburg i. Br. 1875, S. 370–377, hier S. 373. 95 Siebeck, Verhältnis (wie Anm. 59), S. 359.

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Beweis, dass Freiheit und Gesetzmässigkeit sich in Wirklichkeit nicht ausschliessen und widersprechen, sondern gegenseitig bedingen […].«96

Von diesem Standpunkt ausgehend war es nicht mehr weit bis zur Überzeugung, dass es eben nicht die Individuen waren, deren Entscheidungen verborgenen Ge­setzen und damit einer ›sozialen Physik‹ gehorchen mussten, sondern dass diese Gesetze von den Individuen erst hervorgebracht wurden und dabei das bildeten, was sich hinter dem Begriff ›Gesellschaft‹ verbarg.97 Die gewissermaßen zirkuläre Beziehung zwischen Individuum und Gesellschaft, die sich eben auch durch das vertiefte Nachdenken über die Natur des Entscheidens offenbart hatte, charakterisierte Gustav Rümelin treffend: Zahlreiche Einflussfaktoren wirkten auf jeden Einzelnen ein und ließen ihn, weil er sie mit anderen teile, zum Mitglied einer Gruppe werden. Damit gehöre jedes Individuum, »so abweichend die Empfänglichkeit für jedes einzelne dieser Motive« auch sein möge, einem »gewissen gemeinsamen Grundtypus an. Man kann aber dabei keineswegs sagen, jeder Einzelne sei nur ein Product dieses Gruppencharakters, sondern mindestens mit gleichem Recht, die Gruppe sei das Gesammtproduct der Einzelnen, welche von gleichen psychischen Elementen aus unter ähnlichen äußeren Einwirkungen gleiche oder verwandte Vorstellungsreihen bilden und so einen Masseneffekt hervorbringen, der vermöge der socialen Anlagen unserer Natur auch wieder rückwirkend den Einzelnen bestimmt. […] Das Problem, auf das die Moralstatistik führt, ist nur auch wieder die Wechselwirkung zwischen der Gesellschaft und dem Einzelnen, das complizirte Verhältnis des Schiebens und Geschobenwerdens. Mit der metaphysischen Frage über die menschliche Willensfreiheit, hat sie nichts zu schaffen.«98

Theodore M.  Porter hat detailliert die Ahnenreihe herausgearbeitet, die in der europäischen Debatte dazu führte, dass es genau diese Wechselbeziehung zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. speziell im Deutschen zwischen Individuum und »Gemeinschaft« war, die aus sozialwissenschaftlicher Sicht zur Quelle individueller Entscheidungen avancierte. In mehreren Schritten verabschiedeten sich die Gelehrten von Quetelets bloßen Korrelationen zwischen menschlichen Handlungen und externen, ›kosmischen‹ Einflüssen, indem sie zunächst die Bedeutung von Faktoren wie Klima, Wetter, Jahres- und Tageszeit in Frage stellten, um sukzessive die gesellschaftlichen Bedingungen als wahre Ursachen derjenigen Handlungen herauszuschälen, die als Produkte individueller Entscheidungen besonders erklärungsbedürftig waren.99 Porter lässt diese Entwicklung in Emile Durkheims radikale Absage an alle individualpsycho96 Ebd., S. 360 f. 97 Letztlich verbarg sich hinter diesem Paradigmenwechsel auch die säkulare Verabschiedung von der Vorstellung einer personalen und intentional agierenden Entscheidungsinstanz, die außerhalb des Individuums existierte und bestimmte Handlungen erzwang. 98 Rümelin, Moralstatistik (wie Anm. 94), S. 372–377. 99 Porter, Statistical and Social Facts (wie Anm. 14), S. 21–25.

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logischen Erklärungsmuster für die faits sociaux münden, die der Gesellschaft eine Eigenlogik zuerkannte, die nicht in der Summe ihrer Einzelteile aufging.100 Nicht umsonst fehlt in Durkheims Studie jede Erörterung der Motive, die zum Suizid eines Einzelnen führen konnten, weshalb sich folgerichtig auch solche Begriffe wie »décision«, »décider« oder »opter« nicht finden.101 Freilich wurde dessen Soziologie-Verständnis in Deutschland nur zögerlich rezipiert und weitgehend abgelehnt, auch gerade weil Durkheims Studie zum Suizid vornehmlich als ein weiterer Beitrag zur Moralstatistik gelesen wurde.102 Zu tief hatte sich in den deutschen Debatten die Überzeugung herausgebildet, dass sich das Individuum als eigentlicher Träger von Entscheidungen nicht in statistischen Zahlenreihen auflösen ließ.

4. Zusammenfassung Es ist auffällig, dass gerade in Deutschland die Debatte über die Moralstatistik in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einer Auseinandersetzung über die Natur, die Möglichkeit und den Ort des Entscheidens wurde. Anders als beispielweise in Frankreich taten sich viele deutsche Autoren schwer damit, eine Eigengesetzlichkeit sozialer Erscheinungen anzuerkennen, die ohne Einflussmöglichkeit und Verantwortlichkeit des Einzelnen blieb. Was sich auf historiographischer und philosophischer Ebene für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts als prägend erwies, die Überbetonung des individuellen Momentes, der ›inneren Erfahrung‹ und des ›Verstehens‹ als Grundlage einer geisteswis­ senschaftlich-hermeneutischen Methode und das Verständnis von Entscheidungen ›großer Männer‹ als treibendem Motor der Geschichte,103 verfehlte seinen Einfluss auf die Debatten über die Moralstatistik also nicht. So war es auch einer spezifisch ›deutschen‹ Denktradition geschuldet, dass hier vornehmlich »von innen nach außen« argumentiert wurde, wie es Georg Friedrich Knapp 1871 pointiert formulierte.104 Die moralstatistischen Datensätze hatten zunächst die Außenseite des Entscheidens als einen mannigfach determinierten gesellschaftlichen Akt offenbart, der – obgleich kontingent für den Einzelfall – mit Hilfe probabilistischer Verfahren erfassbar und damit auch vorhersagbar erschien. Der Verweis auf Kugeln, Münzen oder Lose, die als traditionelle Entscheidungsmedien immer auch implizit die unberechenbare und launische Göttin Fortuna ins Spiel brachten, war nicht nur Methode, sondern auch Metapher des Zusammenhangs 100 Siehe dazu insbesondere: Durkheim, Der Selbstmord (wie Anm. 30), S. 364–374. 101 Ders., Le suicide. Étude de sociologie, Paris 1897. 102 Ursula Baumann, Vom Recht auf den eigenen Tod. Die Geschichte des Suizids vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Weimar 2001, S. 251. 103 Friedrich Jaeger / Jörn Rüsen, Geschichte des Historismus. Eine Einführung, München 1992, S. 135. 104 Knapp, Neuern Ansichten (wie Anm. 58), S. 243.

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von Regelhaftigkeit in der Masse und Zufälligkeit im Einzelfall. Der Akt des Entscheidens erschien in dieser Außensicht dem Individuum entzogen zu sein. Indem ihm etwas ›zufiel‹, war es nicht ein aktives Subjekt, sondern nur das passive Objekt von Gesetzmäßigkeiten, die es per Zufall zu bestimmten Handlungen zwangen und die damit eigentlich die Position einnahmen, die vormals transzendente Mächte innegehabt hatten. Der Ort der Entscheidung blieb damit weitgehend unklar und abstrakt, der Akt des Entscheidens selbst wurde zum Zufallsentscheid, der zwar berechenbar war, aber für den Einzelnen kontingent und unverfügbar blieb. Obwohl Quetelet es nicht beabsichtigt hatte, wendete sich die Debatte alsbald der Innenseite des Entscheidens zu. Das hatte damit zu tun, dass Entscheidungen im statistischen Diskurs immer als moralische Entscheidungen spezifiziert wurden. Die Entscheidungen, für die sich die Moralstatistik also interessierte, gehorchten einer dichotomen Logik von ›richtig‹ und ›falsch‹, von ›gut‹ und ›böse‹, was per se schon auf ihre soziale Einbettung verwies. Umso drängender wurde die Frage nach der individuellen Zurechenbarkeit, und damit änderten sich auch die Bilder, die zur Veranschaulichung von Entscheidungsprozessen gezeichnet wurden: Entscheiden von Innen betrachtet vollzog sich als ein Akt des Abwägens, bei dem es vor allen Dingen darauf ankam, unter welchen Voraussetzungen und nach welchen Kriterien die Waagschalen gefüllt wurden. Verwies schon die Waage implizit auf die Sphäre des Rechts, so offenbarten die gleichsam psychologisch-sezierenden Versuche, mit deren Hilfe Einblicke in die Geistesfunktionen des Menschen gewonnen werden sollten, die mentalen Vorgänge als Prozess eines urteilsfähigen inneren Richters. Dadurch wurde nicht nur die individuelle Autonomie betont, sondern dies bedeutete auch gewissermaßen eine neue Selbstermächtigung. Im Zuge dieser Überlegungen kam es zum einen zu einer Neudefinition solcher psychologischen Begriffe wie ›Wille‹, ›Freiheit‹ und eben auch ›Entscheidung‹ und zum anderen auch zu einer grundsätzlichen Neubestimmung des Verhältnisses von Individuum und Gesellschaft. Die Debatten über die Moralstatistik führten langfristig weg von einem unilinearen Modell, das entweder nur von Innen nach Außen oder nur von Außen nach Innen argumentierte, hin zu der Vorstellung, dass die Gesellschaft das Produkt eines zirkulären Prozesses war, in dem die Frage nach dem eigentlichen Ursprungsort des Entscheidens der Frage nach der Henne und dem Ei glich. Dass die Summe individueller Entscheidungen eine Voraussetzung für die Erschaffung sozialer Ordnung war, erschien ebenso evident wie die Tatsache, dass die so geschaffene Gesellschaft dann wiederum zurückwirkte auf das, was vom Einzelnen entschieden werden konnte. Die Erklärungsansprüche der Moralstatistik schrumpften im Laufe der Debatten, auch aufgrund ihrer zahlreichen methodischen Fallstricke, auf ein bescheideneres Maß zusammen: Angetreten als Universalwissenschaft, die die ewigen Gesetze des Sozialen zu enthüllen versprach, galt sie gegen Ende des Jahrhunderts als eine nützliche Hilfswissenschaft der an Einfluss gewinnenden Sozialwissenschaften. Was die jahrzehntelange moralstatistische Debatte

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jedoch enthüllt hatte, war, dass es eines Restes der Unerklärbarkeit bedurfte, um individuelle Entscheidungen als soziales Handeln überhaupt verstehen und beschreiben zu können. So hatte die Moralstatistik einen erheblichen Anteil daran, dass »die bürgerliche Gesellschaft« auch in der Zukunft als ein »höchst verwickeltes durch unzählige Bande verknüpftes Ganzes« begriffen wurde, »worein der Einzelne wie eine Masche in’s Netz sich einfügt; jedoch kein Gebilde von starrem Charakter, sondern einem beständigen Wechsel, einem Abgang und Ersatz der Bestandteile unterworfen […], sodass alle Wandlungen des Ganzen sich nur langsam vollziehen. Sie zeigt dem Einzelnen zwar, dass er nicht einmal eine Einheit der siebenten Decimalstelle werth ist, aber sie belehrt ihn zugleich, dass sich das grosse Ganze nur ändert durch die beim Einzelnen vollzogenen Aenderungen.«105

Auch wenn man sich im 21. Jahrhundert mit den Möglichkeiten, Varianten und Kulturen des Entscheidens beschäftigt, kommt man an dieser grundlegenden Erkenntnis letztlich nicht vorbei.

105 Ebd., S. 248.

Andreas Fahrmeir

Personalentscheidungen Das Narrativ der ›Bestenauslese‹ und die Vielfalt der Entscheidungsmodi

1. Einleitung Anfang des Jahres 2018 gab es in verschiedenen Kontexten Diskussionen über politische Personalentscheidungen. Einige kreisten um die Dauer, für die Spitzenpolitiker ihre Ämter innehaben sollten. Während China die Beschränkung der Amtszeit des Staatspräsidenten auf zwei Wahlperioden aufhob1 – eine Idee, die der amerikanische Präsident Donald Trump prompt auch für die USA ins Gespräch brachte2 –, dachte der designierte bayerische Ministerpräsident Markus Söder darüber nach, die maximale Amtszeit eines bayerischen Ministerpräsidenten auf zehn Jahre zu begrenzen.3 Das geschah sowohl aufgrund seiner Erfahrungen mit seinem Vorgänger als auch vor dem Hintergrund intensiver werdender Debatten über die Bewertung der langen Amtszeit der Bundeskanzlerin.4 Andere betrafen das Verhältnis der Legalität und Legitimität von Entscheidungen. So erfüllte die Ernennung Martin Selmayrs zum Generalsekretär der EU-Kommission zwar die formalen Anforderungen: Es gab Ausschreibungen und Gegenkandidaten. Dennoch wurde die Entscheidung für ihn kritisiert, weil die rasche Aufeinanderfolge von zwei Ernennungen, die Form der Ausschreibung, die konkrete Gegenkandidatin und die Veränderung des Wikipedia-Lebenslaufs des Kandidaten5 den Anschein erweckten, das kurzfristige Entscheidungsverfahren sei von langer Hand inszeniert worden, und 1 China’s Xi Allowed to Remain ›President for Life‹ as Term Limits Removed, in: BBC News Online, http://www.bbc.com/news/world-asia-china-43361276 (Stand: 11. März 2018). 2 ›Maybe We’ll Give that a Shot‹: Donald Trump Praises Xi Jinping’s Power Grab, in: The Guardian Online, https://www.theguardian.com/us-news/2018/mar/04/donald-trumppraises-xi-jinping-power-grab-give-that-a-shot-china (Stand: 04. März 2018). 3 Begrenzte Amtszeit. Söder will nicht ewig regieren, ursprünglich https://www.tagesschau. de/inland/soeder-169.html (Stand: 16. Januar 2018), Archiv-URL : https://web.archive.org/ web/20180116163403/https://www.tagesschau.de/inland/soeder-169.html (Stand: 28. April 2019). 4 Exemplarisch Wolfgang Streek, Merkel. Ein Rückblick, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16. November 2017, S. 11. 5 Peter Müller, Aktion Eigenlob. Wie der EU -Spitzenbeamte Martin Selmayr seinen Wiki­ pedia-Eintrag aufhübschte, in: Der Spiegel 12 (2018), http://www.spiegel.de/spiegel/martinselmayr-wikipedia-seite-aufgehuebscht-eu-karriere-gemacht-a-1198492.html (Stand: 18. März 2018).

Personalentscheidungen  

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zwar unter Beteiligung von Personen, die in diesem Zusammenhang eigentlich keine Entscheidungsbefugnis besaßen.6 Die Rückwirkung der Frequenz und Kommunikation von Personalentscheidungen auf die Autorität der Amtsinhaber wurde ebenfalls mit Blick auf die abrupte, wenn auch kaum überraschende Entlassung des amerikanischen Außenministers Rex Tillerson debattiert. Es wurde befürchtet, die häufige Nutzung des unbestrittenen Rechts des amerikanischen Präsidenten zur Entlassung von Ministern und Mitarbeitern mache sein Vorschlagsrecht für die Nachfolge bedeutungslos: Den neuen Amtsträgern fehle die Autorität, im Namen der Regierung zu sprechen, da jeder vermute, auch ihre Amtszeit werde nicht lange dauern.7 Wenn sie gegenwärtig in einen größeren Rahmen gestellt werden, gelten solche Episoden meist als Beleg für die Bedrohung demokratischer oder bürokratischer Mechanismen zur Besetzung wichtiger Ämter.8 Man kann sie aber auch  – was an dieser Stelle geschehen soll  – als Einblicke in Eigenarten von (politischen) Personalentscheidungen (oder Personalentscheidungen mit hoher politischer oder gesellschaftlicher Relevanz) und ihre Konsequenzen für die Narrative verstehen, die solche Entscheidungen im Allgemeinen wie im Einzelfall plausibilisieren oder kritisieren. Zu diesem Zweck sollen zunächst Eigenarten von Personalentscheidungen dargestellt werden; dazu gehört vor allem der Zwang, sie immer wieder neu zu treffen. Zum Umgang mit dieser Herausforderung stehen verschiedene Modi der Personalentscheidung zur Verfügung, die ihrerseits das zentrale Problem – nämlich vor einer Entscheidung zwischen unbekannten Alternativen, nicht einer Wahl zwischen bekannten Optionen zu stehen – praktisch lösen und durch den Verweis auf grundsätzliche Annahmen über die Funktion der Entscheidung begründen. Anschließend wird auf den Übergang von einer absolutistischen Praxis der Beauftragung von Personen mit zentralen Aufgaben in Politik und Verwaltung zur kompetitiven Besetzung von Schlüsselpositionen in der Verwaltung im 19. Jahrhundert eingegangen. Anhand dieses Beispiels wird illustriert, wie Begründungen die Kritik an der Praxis, die sie eigentlich legitimieren sollen, erleichtern können und dadurch zu einer Reform der Modi der Personalentscheidung beitragen können, ohne

6 Personalie Selmayr. »Das stinkt zum Himmel«, ursprünglich in: https://www.tagesschau.de/ ausland/selmayr-kritik-eu-parlament-101.html (Stand: 26. Juli 2019), Archiv-URL : https:// web.archive.org/web/20180726034656/http://www.tagesschau.de/ausland/selmayr-kritikeu-parlament-101.html (Stand: 28. April 2019). 7 Pelosi Statement on Firing of Secretary of State Rex Tillerson, ursprünglich in: https://www. democraticleader.gov/newsroom/31318/ (Stand: 13. März 2018), Archiv-URL : https://web. archive.org/web/20180313144912/https://www.democraticleader.gov/newsroom/31318/ (Stand: 28. April 2019). 8 Etwa Karin Bensch, Gefundenes Fressen für Europa-Feinde, ursprünglich in: https://www. tagesschau.de/ausland/eu-selmayr-101.html (Stand: 10. April 2018), Archiv-URL : https:// web.archive.org/web/20180410160601/http://www.tagesschau.de/ausland/eu-selmayr-101. html (Stand: 28. April 2019).

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Andreas Fahrmeir

dass durch die Veränderung eine grundsätzliche Lösung des zugrundeliegenden Dilemmas zu erwarten wäre.

2. Eigenarten von Personalentscheidungen Außer in Nordkorea, wo der Tod einer Person nicht das Ende ihrer Amtszeit bedeuten muss, sind Personalentscheidungen selbst dann, wenn sie – wie nun im Fall Xi Jinpings – auf unbestimmte Zeit getroffen werden, Entscheidungen, die es periodisch zu wiederholen gilt. Früher oder später kann dieselbe Person nicht einfach im Amt bestätigt werden, sondern es muss eine gänzlich neue Personalentscheidung getroffen werden. Das kann sehr häufig passieren, wie in der Regierung Trump, wo – so Oppositionsführerin Nancy Pelosi – »personal whims and his [Trump’s] worship of Putin«9 den Zeitpunkt bestimmen, es kann überwiegend im Rahmen einer im Vorfeld festgelegten Periodizität von Amtszeiten erfolgen, deren Ende sich leicht absehen lässt, oder es kann – wie künftig wohl in China – in längeren Intervallen der Fall sein. Gleichwohl: Von Zeit zu Zeit muss immer eine neue Person gefunden werden, um ein Amt auszufüllen, wenn das Amt nicht abgeschafft wird. Die Aufhebung der fixen Periodizität von Amtszeiten in China führt also nicht dazu, dass die Personalentscheidung endgültig ist, sondern lediglich dazu, dass der Zeitpunkt, zu dem ein Nachfolger des Staatspräsidenten gefunden werden muss, weil der Amtsinhaber nicht mehr zur Verfügung steht, künftig nicht mehr bekannt ist, während sich der Machtwechsel unter dem bisherigen System – wenn man von plötzlichen Todesfällen absieht – gut vorbereiten ließ. Die größere oder geringere Wahrscheinlichkeit, mit der sich der Termin ermitteln lässt, zu dem eine Personalentscheidung ansteht, hat Folgen für das Verfahren der Suche nach möglichen Nachfolgern: Die Kritik an der Auswahl Selmayrs entzündete sich gerade daran, dass erst unmittelbar vor der Entscheidung bekannt geworden sein soll, dass der Spitzenposten der EU-Bürokratie vakant war, und deswegen keine ernsthaften konkurrierenden Bewerbungen zu erwarten gewesen seien. Die Dauer, für die die Entscheidung wirksam wird, hat zudem Folgen für die Bedeutung der Personalentscheidung, da sie die Aussichten von Rivalen vergrößert oder vermindert, das Amt eines Tages selbst innehaben zu können, selbst wenn sie diesmal nicht zum Zuge kamen; entsprechend warnten Kritiker der Aufhebung einer maximalen Amtszeit Xis vor einer ›Zerstörung Chinas‹ durch verschärfte Konflikte zwischen Angehörigen der Partei-Elite, die allesamt über mächtige Netzwerke verfügen sollen, die sie gegeneinander in Stellung bringen könnten.10 9 Wie Anm. 7. 10 ›This Could Destroy China‹: Parliament Sets Xi Jinping up to Rule for Life, in: The Guardian Online, https://www.theguardian.com/world/2018/mar/11/this-could-destroy-chinaparliament-sets-xi-jinping-up-to-rule-for-life (Stand: 11. März 2018).

Personalentscheidungen  

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An dieser Prognose wird deutlich, dass Personalentscheidungen, die politische Spitzenpositionen betreffen, aus unterschiedlichen Gründen ein besonderes Risiko der Destabilisierung zugeschrieben wird – sei es, weil sich die ausgewählten Personen nach ihrer Ernennung anders verhalten, als man vermutete, sei es, weil die Gefahr besteht, dass eine Personalentscheidung zu offenen Konflikten zwischen konkurrierenden Personen oder Netzwerken führt, deren signifikante Ressourcen in einen ›Kampf‹ um die zu besetzende Position einfließen, der von einem metaphorischen zu einem physischen werden kann. Ein weiterer Grund ist, dass Manipulationen der Verfahren der Personalentscheidung die Legitimität der Strukturen, in deren Rahmen sie getroffen werden, in besonderer Weise zu beschädigen vermögen und damit das Risiko erhöhen, dass die Unterlegenen das Ergebnis nicht anerkennen und dass dieses Legitimitätsdefizit in einem Einzelfall zugleich auf die Akzeptanz anderer Entscheidungen ausstrahlt. Die Furcht vor negativen Folgen verfehlter Personalentscheidungen ist selbstverständlich nicht auf den politischen Bereich begrenzt. Sie ist dort aber besonders prononciert, weil durch einen Grundsatzkonflikt im schlimmsten Fall ein ganzes Herrschaftssystem gefährdet sein kann. Generell besteht aber immer dann, wenn eine Position, die wegen ihres Einkommens, ihres Einflusses oder ihres Prestiges begehrt ist, durch mehrere hierfür formal qualifizierte Personen ausgefüllt werden kann und diese daran auch interessiert sind, die Möglichkeit, dass ein Konflikt entsteht, der das Potential hat, die jeweilige Institution zu beschädigen oder zu sprengen. Dabei kann es sich um einen Staat handeln, aber auch um eine Kirche, ein Unternehmen, eine Bürokratie, einen Verein, eine Partei oder eine Universität. Dieses Risiko kann als Argument dafür benutzt werden, Personalentscheidungen generell zu vermeiden, indem Regeln dafür sorgen, dass nur eine Person für ein Amt qualifiziert ist, so dass sich die Frage des Interesses anderer Personen nicht stellt. Das wäre beispielsweise bei einer strikten Erbfolgeregelung der Fall. Diese müsste allerdings die Möglichkeit der Adoption ebenso ausschließen wie die Tötung von Erbberechtigten, und sie dürfte keine Unsicherheiten über die Bewertung entfernterer Verwandtschaftsverhältnisse oder die Möglichkeit der Veränderung von Erbfolgeregelungen zulassen; ansonsten kann es auch hier zu faktischen Personalentscheidungen kommen. Sowohl die Praktiken am byzantinischen Kaiserhof (wo Adoption und die Tötung möglicher Rivalen eine große Rolle spielten11) als auch die Häufigkeit von Konflikten über die Interpretation von Erbfolgeregelungen im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts (vom Spanischen über den Österreichischen zum Bayerischen Erbfolgekrieg12) machen deutlich, dass es selbst durch die Erblichkeit von Ämtern selten über längere Zeiträume gelingt, Kon-

11 Peter Schreiner, Byzanz 565–1453, München 42011, S. 294–302. 12 Matthias Schnettger, Der Spanische Erbfolgekrieg 1701–1713/14, München 2014, S. 16–27; Barbara Stollberg-Rilinger, Maria Theresia. Die Kaiserin in ihrer Zeit. Eine Biographie, München 2017, S. 66–79.

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flikte (und damit Entscheidungen) über die Ansprüche konkreter Personen zu vermeiden. Hinzu kommt, dass nicht nur das Risiko fundamentaler Konflikte über Personalentscheidungen besteht; der Verzicht auf Personalentscheidungen erscheint ebenfalls als riskant. Denn auch ›falsche‹ Personalentscheidungen können desaströse Effekte haben; ihnen kann ebenfalls der Ruin eines Unternehmens, die Spaltung einer Kirche, der Niedergang einer Herrschaftsordnung, die Paralyse einer Bürokratie oder der Reputationsverlust einer Universität zugeschrieben werden. Dieses Risiko spricht dagegen, sich auf Dauer Regeln auszuliefern, die so starr sind, dass man sich ihnen auch im Fall offensichtlicher Amtsunfähigkeit der designierten Person unterwerfen müsste. Jede Regel, die Ausnahmen im Falle einer Amtsunfähigkeit zulässt, schafft aber die Möglichkeit der Diskussion darüber, ob sie in einem konkreten Fall greifen soll und wer Nachfolger oder Stellvertreter werden kann – so dass wieder eine Personalentscheidung fällig werden wird. Die semantische und narrative Rahmung und die Kommunikation von Personalentscheidungen von größerer Bedeutung müssen somit zwei kaum vereinbaren Kriterien gerecht werden: Sie müssen plausibel machen, dass die Entscheidung für eine bestimmte Person unabweisbar ist, denn davon hängt ihre Annehmbarkeit für unterlegene Personen oder Netzwerke ab. Zugleich muss sichtbar werden, dass die Entscheidung in einer Weise getroffen wurde, die ihrer (potentiellen) Bedeutung gerecht wird, dass also alle Möglichkeiten ernsthaft erwogen wurden, denn nur dann kann sie den direkt oder indirekt von der Entscheidung Betroffenen (also Bürgern, Mitarbeitern, Gläubigen, Unter­ gebenen) als legitim erscheinen. Das unterstreicht aber, dass die Entscheidung auch anders hätte ausgehen können, die Präferenz für eine Person also keineswegs unabweisbar war. Ausgangspunkt der Kommunikation von Personalentscheidungen sind die Verfahren, in deren Rahmen sie getroffen werden. Es gibt dafür bestimmte Modi, etwa die Wahl, das Los, die Abstammung, die Beauftragung, die Kooptation oder den Wettbewerb.13 Diese Modi schließen sich nicht aus, sondern können miteinander kombiniert werden. Das kann im Rahmen einer einzelnen Personalentscheidung geschehen, also innerhalb der relativ kurzen Phase, in der die Zahl möglicher Anwärterinnen und Anwärter auf eine Position auf eine Person reduziert wird; ein Beispiel wäre ein Losentscheid nach einer Wahl, die mit Stimmengleichheit endet. Es kann aber auch im Rahmen typischer Biographien der Fall sein, die zu Schlüsselpositionen führen, etwa indem ein Erfolg im Rahmen der wettbewerblich organisierten Aufnahme von Trainees ins Manage13 Vgl. zur inzwischen sehr umfangreichen Literatur etwa Barbara Stollberg-Rilinger, Cultures of Decision-Making, London 2016; Ulrich Pfister (Hg.), Kulturen des Entscheidens: Narrative – Praktiken – Ressourcen, Göttingen 2018; Andreas Fahrmeir (Hg.), Personalentscheidungen für gesellschaftliche Schlüsselpositionen: Institutionen – Semantiken – Praktiken, München 2017.

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ment eines Unternehmens die Voraussetzung dafür darstellt, später vom Eigentümer mit einer Aufgabe im Vorstand betraut zu werden. Für sich genommen betonen die Modi aber entweder die Notwendigkeit, rasch zu einer eindeutigen Entscheidung zu kommen, oder das Bedürfnis, diese Entscheidung erst nach sorgfältiger Abwägung und unter breiter Partizipation der von ihr Betroffenen zu fällen. Verfahren, die Personalentscheidungen dem Zufall des Loses, dem Hinweis externer Zeichen oder der Erbfolge unterwerfen, sorgen für die eindeutige Identifikation von Amtsträgern, verhindern, dass einzelne Personen als erfolglose ›Verlierer‹ einer für sie ungünstigen Entscheidung identifizierbar sind, und machen es schwer bis unmöglich, konkrete Personen für ›falsche‹ Personalentscheidungen zur Rechenschaft zu ziehen. Kritisierbar sind sie wegen ihrer Manipulierbarkeit etwa durch das Erfinden von Zeichen, das Austauschen von Losen oder das Unterschieben von Kindern. Sie setzen voraus, dass die metaphysischen oder theologischen Annahmen, die begründen, warum ein zufälliges Verfahren zu optimalen Entscheidungen führen soll, allgemein geteilt werden, und / oder dass die Notwendigkeit der Stabilisierung der Gesellschaft durch den Verzicht auf Auseinandersetzungen um Personalentscheidungen als ein Wert an sich anerkannt wird. Verfahren wie eine öffentliche Wahl zwischen mehreren Kandidaten oder Wettbewerbe unterstreichen dagegen die Bedeutung der Entscheidung. Dabei betonen sie entweder die Legitimation durch Zustimmung der Wählerschaft oder die Expertise, die in die Entscheidungsfindung einfließt. Da solche Verfahren aber vergleichsweise komplex und langwierig sein können – zumal wenn es sich um eine Wahl unter einander unbekannten Abwesenden oder eine Experten-Auswahl aus einer sehr großen Zahl von Bewerberinnen und Bewerbern handelt –, produzieren sie relativ lange Phasen der Unsicherheit und – etwa im direkten Vergleich zum Los – sehr hohe Kosten. Zudem setzen sie eine explizite Kandidatur oder Bewerbung voraus, die auch in einer Niederlage münden kann. Auch bei diesen Entscheidungsmodi besteht ein Risiko der Manipulation der Verfahren oder einer Kontroverse über die Aussagekraft ihrer Ergebnisse. Vor allem aber kann der Umgang mit den unterlegenen Personen in besonders statusorientierten Gesellschaften ein Problem sein, da diese versucht sein könnten, sich gegen das Ergebnis zu wehren, und eventuell über die materiellen Ressourcen und Klientelnetzwerke verfügen, das auch zu tun. Entscheidungsmodi wie die Kooptation oder die Beauftragung – man denke an die Aufnahme in eine Akademie oder die Berufung von Managern durch die Eigentümer eines Unternehmens – stehen zwischen diesen beiden Polen. Hier muss nicht immer bekannt werden, wer für eine Position erwogen wurde; an die Stelle der Externalisierung der Verantwortung für das Ergebnis steht aber hier die klare Zuordnung zu bekannten Personen, deren Urteilsfähigkeit mithin breit anerkannt sein muss, um Gültigkeit zu beanspruchen. Alle Modi der Personalentscheidungen haben somit Stärken und Schwächen, die betont oder in den Hintergrund gedrängt werden können. Große

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Erzählungen oder »Rechtfertigungsnarrative«,14 welche die Entwicklung von Personalentscheidungsverfahren epochenübergreifend schildern und die etwa in der Literatur zu Personalberatung zu finden sind, vermuten zwei Tendenzen: erstens eine Verbesserung der Qualität von Personalentscheidungen durch ihre zunehmende experimentelle Durchdringung, Professionalisierung und Verwissenschaftlichung, und zweitens eine Korrespondenz zwischen der Art, in der Personalentscheidungen getroffen werden, und generellen gesellschaftlichen Erwartungen – etwa der Betonung gesellschaftlicher Hierarchien in Ständegesellschaften oder der Erwartung von Gleichheit in demokratischen Rechtsstaaten.15 Dieses Narrativ bietet zwar eine prinzipielle Begründung für die Präferenz für bestimmte Entscheidungsmodi zu bestimmten Zeiten an, und es liefert eine Erklärung für deren Modifikation in Richtung auf eine universal gedachte ›best practice‹  – gegenwärtig etwa die Professionalisierung von Personalentscheidungen in Wirtschaft und Bürokratie oder auch die Beratung von Parteien durch Experten in Fragen der Personalauswahl im Vorfeld politischer Wahlen. Sie können aber insofern nur begrenzt zur historischen Erklärung einzelner Personalentscheidungsverfahren herangezogen werden, als in einer Gesellschaft selten alle Schlüsselpositionen mittels desselben Entscheidungsmodus vergeben werden  – weder sind in einer absoluten Monarchie alle Posten erblich, noch werden in modernen meritokratischen Gesellschaften alle Positionen in wettbewerblichen Verfahren vergeben. Vielmehr besteht offenbar eine Wechselwirkung zwischen der Art der Personalentscheidung (unter Anwesenden oder Abwesenden, für eine Stelle mit oder ohne Einkommen, für eine Stelle mit existentieller oder lediglich zentraler Bedeutung für eine Gesellschaft, in der Moderne auch für bestimmte gesellschaftliche ›Systeme‹ oder ›Subsysteme‹) und allgemeinen gesellschaftlichen Präferenzen, die dazu führt, dass zur gleichen Zeit am gleichen Ort ganz unterschiedliche Modi der Personalentscheidung bestehen können. Da die Koexistenz verschiedener Modi, in denen Personalentscheidungen getroffen werden können, somit keineswegs die Ausnahme, sondern eher die Regel ist, müssen Narrative entsprechend formuliert sein: Sie müssen nicht nur konkrete Entscheidungen begründen, sondern auch die Präferenz für den Modus, in dem diese Entscheidung fiel, legitimieren. Diese Narrative können mehr oder weniger konsistent und plausibel sein, und sie können auf allgemeine Erfahrungen oder auf einzelne Beispiele rekurrieren. Diese können das System der Personalentscheidungen bestätigen oder eine Kritik an ihm begründen. Im Folgenden sollen kurz drei Beispiele für solche Narrative diskutiert werden, 14 Rainer Forst, Zum Begriff des Rechtfertigungsnarrativs, in: Andreas Fahrmeir (Hg.), Rechtfertigungsnarrative. Zur Begründung normativer Ordnungen durch Erzählungen, Frankfurt a. M. 2013, S. 11–28. 15 Exemplarisch Peter Boxall (Hg.), The Oxford Handbook of Human Resource Management, Oxford 2007; Neal Schmitt (Hg.), The Oxford Handbook of Personnel Selection and Assessment, Oxford 2012.

Personalentscheidungen  

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die aus dem 18. und 19. Jahrhundert stammen und vor allem den Bereich von Politik und Verwaltung betreffen. Im Mittelpunkt steht die Frage, welche Implikationen sie für Entscheidungsverfahren hatten.

3. Pragmatischer Absolutismus: Reformzwang durch Zufall? Es wäre kohärent, wenn Erbmonarchien durchgängig eine Präferenz für Abstammung als Surrogat für Personalentscheidungen gehabt hätten. Eine solche Präferenz ließe sich dadurch begründen, dass sie Konflikte vermied, klare Verhältnisse herbeiführte und prinzipiell der Logik einer als stabil gedachten ständischen Gesellschaft entsprach, in der sich Status und Beruf häufig vererbten. In der Praxis war dies freilich anders; in der französischen Monarchie des 17. und 18. Jahrhunderts folgten bei weitem nicht alle Töchter und Söhne ihren Müttern und Vätern auf ähnliche Positionen.16 Für kirchliche Ämter war eine Personalentscheidung durch direkte Abstammung durch den Zölibat ohnehin ausgeschlossen. Auch die nächstliegende Alternative, der Rückgriff auf Verwandtschaftsverhältnisse wie das zwischen Onkel und Neffe (der in der päpstlichen Verwaltung und der Reichskirche ja durchaus etabliert war17), ließ sich nur eingeschränkt durchsetzen. Ihr widersprachen nicht nur die Anforderungen an eine minimale theologische Kompetenz, die zwar viele, aber nicht alle Neffen erfüllen konnten, sondern auch die Erwartung, dass zumindest bei den besonders prominenten kirchlichen Personalentscheidungen eine besondere individuelle Befähigung ausschlaggebend sein müsse – und sei es nur »›the archbishop of Paris must at least believe in God‹«.18 Dagegen schien die Kompetenzerwartung im Bereich der Justiz und Verwaltung mit der Erblichkeit von Ämtern prinzipiell kompatibel, sofern zur erblichen Berechtigung zu einem Amt auch der Nachweis einer inhaltlichen Kompetenz hinzutrat.19 Allerdings war selbst die ursprüngliche Vergabe zahlreicher Ämter, etwa der käuflichen Sitze in den parlements, die dann per Erbfolge weitergegeben werden konnten, eher durch das wettbewerbliche Element des Erfolgs auf dem (Finanz-)Markt bestimmt. Dieser Aspekt spielte beim Zugang zum Hof als Ort, an dem Ämter durch königliche Patronage vergeben wurden, über den Umweg der Monetari-

16 Luciano Allegra, Un modèle de mobilité sociale préindustrielle. Turin à l’époque napoléonienne, in: Annales. Histoire. Sciences Sociales 60 (2005), S. 443–474. 17 Birgit Emich, Bürokratie und Nepotismus unter Paul V. (1605–1621). Studien zur frühneuzeitlichen Mikropolitik in Rom, Stuttgart 2001; Johannes Süßmann, Vergemeinschaftung durch Bauen: Würzburgs Aufbruch unter den Fürstbischöfen aus dem Hause Schönborn, Berlin 2007. 18 John McManners, Church and Society in Eighteenth-Century France, Oxford 1999, Bd. 1, S. 53. 19 Exemplarisch Caroline Le Mao, Parlement et parlementaires. Bordeaux au Grand Siècle, Seyssel 2007.

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sierung von ›Protektion‹ gleichfalls eine große Rolle.20 Insofern kontrastierte die Logik von Abstammung und Stand mit der Erfahrung der großen Bedeutung, die Talent, Mobilität und Innovation haben konnten – was für die Begründung von Personalentscheidungen das Problem aufwarf, ob beides miteinander in Einklang gebracht werden konnte. In einem Abschnitt seiner Memoiren zur Unterweisung des Thronfolgers äußert sich Ludwig XIV. auch zu der Personalentscheidung über Ministeräm­ ter.21 Diese stütze sich auf Informationen über mögliche Kandidaten. Die Zuverlässigkeit solcher Nachrichten könne ein König in doppelter Weise gewichten. Einmal könne das hinsichtlich ihrer potentiellen Aussagekraft geschehen, und zwar in aufsteigender Reihung von der öffentlichen Meinung über gezielt eingeholte Einschätzungen bis hin zur eigenen Erfahrung damit, wie sich potentielle Kandidaten für ein Ministeramt bei kleineren Aufgaben bewährten. Mit Blick auf ihre Zuverlässigkeit hätten aber alle Informationsquellen Grenzen. Weil sie letztlich nicht interessegeleitet sei, sei die »réputation générale et établie« kaum zu täuschen, aber sie sei nicht besonders gut informiert. Weil sie Interessen verfolgten, müsse man bei den auf genauerer Kenntnis beruhenden Berichten Einzelner über ihre Freunde und Feinde darauf achten, was sie trotz ihrer Grundhaltung Negatives bzw. Positives berichteten; selbst die eigene Wahrnehmung des Monarchen müsse erst durch Erfahrung und Einfühlungsvermögen geschult werden, bevor dieser sich auf seine Eindrücke verlassen könne. Das ändere freilich nichts daran, dass der entscheidende Faktor ein anderer sei. Prinzipiell gehe es zwar darum, die geeignetste Person zu finden. Da man nicht alle Personen in den Blick nehmen könne, sei das aber gar nicht möglich. Daher müsse der Monarch seine Auswahl aus einer zufällig zusammengesetzten Gruppe von Menschen treffen, die nicht nach ihrer Eignung, sondern nach anderen Kriterien ausgewählt wurden. »Ni vous, ni moi, mon fils, n’irons pas chercher pour ces sortes d’emplois ceux que l’éloignement ou leur obscurité dérobent à notre vue, quelque capacité qu’ils puissent avoir. Il faut se déterminer nécessairement sur un petit nombre que le hasard nous présente, c’est-à-dire qui sont déjà dans les charges, ou que la naissance, l’inclination ont attachés de plus près à nous.«

An dieser Formulierung ist interessant, dass sie nicht auf Vorstellungen einer Entsprechung von Hierarchie oder Leistung abhebt, die sicherstellen würden, dass adelige Abstammung (beispielsweise über den Umweg der Erziehung) 20 Sharon Kettering, Brokerage at the Court of Louis XIV, in: Historical Journal 36 (1993), S. 69–87. 21 Charles Dreiss (Hg.), Mémoires de Louis  XIV pour l’instruction du dauphin, Paris 1860, Bd. 2, S. 432 f. Vgl. zum Kontext insbesondere Leonhard Horowski, Das Europa der Könige, Macht und Spiel an den Höfen des 17. und 18. Jahrhunderts, Reinbek bei Hamburg 2017, bes. S. 325–376.

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besondere Eignung garantiert. Sie geht auch nicht davon aus, dass der Zugang zum Hof – und damit die Möglichkeit, überhaupt durch die Beobachtung kleiner Leistungen aufzufallen – ihrerseits Folge einer kompetitiven Situation sein könnte, in der sich geeignete Kandidaten eher durchsetzen als weniger geeignete. Sie verweist lediglich darauf, dass nach Lage der Dinge aus pragmatischen Gründen (die sich freilich mit Statuserwägungen überschnitten) eine Personalentscheidung unter Anwesenden erfolgen müsse, was eine Privilegierung der Eignung zumindest begrenzte. Fragt man danach, was unter diesen Bedingungen ›falsche‹ Personalentscheidungen verhinderte, so schien die Verantwortung dafür allein der Person des Monarchen zugeschrieben zu werden, der sie noch nicht einmal an einen Minister delegieren konnte, der – im Gegensatz zum Monarchen selbst – dann bei Fehlentscheidungen hätte ausgewechselt werden können. Liest man diese Diagnose – in Anlehnung an die in ihr enthaltenen Instruktionen zur Beurteilung von freundlichen Ratschlägen  – gegen den Strich, so kann man darin, in Analogie zu Alexis de Tocquevilles Erwägungen über die Übergänge vom Ancien Régime zur Revolution,22 das Ende des monarchi­schen Systems der Personalauswahl vorweggenommen sehen. Denn der Verweis auf einen transzendenten Mechanismus, der richtige Entscheidungen sicherstellte, fehlte, obgleich er für die Legitimation der Erbfolge selbst zentral war. Zwar konnte die Annahme göttlicher Fügung auch für die Monarchie zum Problem werden, wenn persönliches Fehlverhalten des Monarchen – etwa Ludwigs XV. als inzestuös gedeutetes sexuelles Verhältnis zu vier Schwestern – Gefahr lief, als Strafe Gottes für die französische Bevölkerung wahrgenommen zu werden, was wiederum zur Delegitimation der Dynastie beitrug.23 Aber erst der Rekurs auf das ›Gottesgnadentum‹ oder ähnliche Argumentationsfiguren machte das Vertrauen auf die Geburt überhaupt vermittelbar, auch wenn die Instruktionen Ludwigs XIV. nahelegten, dass nicht der reine Zufall der Geburt, sondern eine Kombination aus göttlichem Ratschluss, ausgeklügelter Erziehung (zu der die Beratung durch den Vorgänger gehörte) und etablierten Strukturen gute Ergebnisse garantierten. Fiel dieses Vertrauen weg, erschien die Nähe zum Hof also nur noch als Möglichkeit des privilegierten Zugangs zu einer Ernennung und wertete man die Abstammung nur noch als Zufall, so war keineswegs evident, dass Positionen optimal besetzt wurden. Dieser Eindruck wurde im Fall der französischen Monarchie durch eine Reihe problematischer Personalentscheidungen verstärkt: etwa die Berufung von John Law oder anderer Autoren von letztlich kassierten Reformplänen wie Maupeau, Turgot oder Necker durch die Monarchie.24 So22 Alexis de Tocqueville, L’ancien régime et la révolution, Paris 2009. 23 Robert Darnton, An Early Information Society: News and the Media in Eighteenth-Century Paris, in: American Historical Review 105 (2000), S. 1–35. 24 Nicolas Buat / John Law, La dette, ou comment s’en débarrasser, Paris 2015; Michael Sonenscher, Before the Deluge: Public Debt, Inequality, and the Intellectual Origins of

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bald ernsthaft erwogen wurde, dass die beste Person nur deswegen übergangen wurde, weil der Entscheider nichts von ihr wusste, wurde offensichtlich, gegen welche Kritik das System kaum mehr zu verteidigen war, und vorgegeben, wie Personalentscheidungen fortentwickelt werden mussten, nämlich in Richtung einer umfassenden Bewertung der Begabung eines immer weiter gezogenen Kreises von Personen, der am Schluss alle Staatsbürger, wenn nicht die gesamte Weltbevölkerung umfassen konnte. Zu lösen waren dabei vor allem das Problem der Distanz und Eingrenzung des Personenkreises, der in die engere Wahl genommen werden sollte – beides konnte zumindest prinzipiell durch Prüfungen gelöst werden, zu denen nur Personen eines bestimmten Alters und mit bestimmten Vorkenntnissen Zugang erhalten sollten. In dieser Begründung der Struktur von Personalentscheidungen ist der ›concours‹ des 19. Jahrhunderts25 prinzipiell ebenso angelegt wie die Kritik an weiteren arbiträren Restriktionen wie eben der Einschränkung auf männliche Bewerber. Alternativ hätte die Argumentation auch zu einem Losverfahren führen können, das die Wirkung des Zufalls nicht mehr verschleiert, sondern evident gemacht hätte.26 Allerdings hätte eine solche Begründung von Personalentscheidungen durch das Los eine starke gesellschaftliche Gleichheitsvorstellung oder weitgehende soziale und ökonomische Gleichheit vorausgesetzt, wie sie für die Begründung antiker Losverfahren unter gleichen Bürgern Voraussetzung war.27

4. Immunisierung gegen Kritik: Die Suggestivkraft der Zahlen? Großbritannien in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert war eine dynamische Klassengesellschaft mit ständischen Zügen. Einerseits war die Gesellschaft durch Adelsränge strukturiert und durch ›deference‹ geprägt;28 andererseits bestimmte sich der Ort von Individuen in der Gesellschaft weitgehend durch ihr Vermögen, das in der Geschäftswelt rasch vermehrt oder vermindert werden konnte. Auch Adelstitel reflektierten teilweise das Vermögen, wobei eine Präferenz für die Vergabe von neuen Adelstiteln an alleinstehende Männer ohne Familie für den Eindruck der Offenheit der hochadeligen (und zugleich

25 26 27 28

the French Revolution, Princeton 2007; Durand Echeverria, The Maupeou Revolution: A Study in the History of Libertarianism, France, 1770–1774, Baton Rouge 1985. Annika Klein, »Augen und Arme des Ministers«. Die Inspection générale de l’instruction publique 1802–1900, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 68 (2017), S. ­388–402. Perspektivisch: David Van Reybrouck, Gegen Wahlen. Warum Abstimmen nicht demokratisch ist, Göttingen 2016. Karen Piepenbrink, Losverfahren, Demokratie und politische Egalität: Das Losprinzip im klassischen Athen und seine Rezeption im aktuellen Demokratiediskurs, in: Antike & Abendland 59 (2013), S. 17–31. David Cresap Moore, The Politics of Deference. A Study of the Mid-Nineteenth Century English Political System, Hassocks 1976.

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politischen) Eliten sorgte, ohne den Kreis der dominanten Familien allzu sehr auszuweiten.29 Allerdings war es Anfang des 19. Jahrhunderts wahrscheinlicher, durch Patro­nage, die zu einem Posten in der Justiz oder im Staatsdienst führte, zu großem Vermögen zu gelangen als durch unternehmerischen Wagemut.30 Hatte das Ansehen der Bürokratie schon durch die Debatte über diese ›old corruption‹ gelitten, so schien sie in den 1850er Jahren – ebenso wie andere Institutionen wie die Universitäten oder die Verwaltung Londons – dringend reformbedürftig, besonders was die Qualität ihrer bis dahin vor allem durch Beziehungen rekrutierten Mitarbeiter betraf. Um diese zu verbessern, wurde seit Mitte der 1850er Jahre schrittweise ein Verfahren etabliert, das die Inhaber von Schlüsselpositionen in der öffentlichen Verwaltung durch kompetitive Examina auswählte. So trat etwa für die wenigen dutzend Positionen, die jährlich an der Spitze der Verwaltung des indischen Subkontinents freiwurden, an die Stelle einer vorbereitenden Ausbildung im Hayleybury College der East India Company31 1858 ein offener Wettbewerb um die Möglichkeit, sich mittels eines Stipendiums ein bis zwei Jahre auf eine Prüfung in indischen Sprachen und anderen für die künftigen Aufgaben nützlichen Fächern vorzubereiten, die man bestehen musste, um in den Indian Civil Service aufgenommen zu werden. Auch am Beginn der Karriereleiter, die an die Spitze der heimischen Verwaltung führte, sollte fortan ein anonymisierter Wettbewerb unter möglichst vielen Bewerbern stehen, der eine Entscheidung für die jeweils beste Person ermöglichen würde. Zwar sollte die Frage, wer auf den Gipfel oder nur in die obersten Ränge aufsteigen würde, durch Beförderungen ›nach Verdienst‹ geklärt werden, aber bereits der Erfolg im Wettbewerb garantierte eine lebenslange Einstellung zu einem mindestens auskömmlichen bis fürstlichen Einkommen. 1895 wurden die Wettbewerbe für Posten in der indischen Verwaltung, der Verwaltung des Vereinigten Königreichs und der sogenannten Eastern Cadet­ ships zusammengeführt und 1906 noch einmal geringfügig modifiziert. Fortan konnten alle britischen Untertanen zwischen 18 und 24 Jahren, die gewisse Mindestvoraussetzungen des Lesens, Schreibens und Rechnens erfüllten und eine Prüfungsgebühr entrichteten, die im Erfolgsfalle rasch wieder verdient war, an ›competitive examinations‹ teilnehmen.32 Die Auswahl der Prüfungsdisziplinen, die sich an Schul- und Studienfächer anlehnten, lag bei den Kandidaten. Die Leistung in den Teilprüfungen wurde numerisch bewertet; die Summe der 29 Ged Martin, Bunyip Aristocracy. The New South Wales Constitution Debate of 1853 and Hereditary Institutions in the British Colonies, Sydney 1986. 30 W. D.  Rubinstein, Men of Property. The Very Wealthy in Britain Since the Industrial Revolution, London 1981. 31 Callie Wilkinson, The East India College Debate and the Fashioning of Imperial Officials. 1806–1858, in: Historical Journal 60 (2017), S. 943–969. 32 Richard E. Chapman, The Civil Service Commission 1855–1991. A Bureau Biography, London 2004.

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Zahlen ergab eine Gesamtpunktzahl (nach den Regeln von 1906 aus 6000): je höher die Zahl, desto weiter vorne stand der Betreffende in der Rangfolge. Der Platz in der Rangfolge implizierte die Personalentscheidung, weil zunächst der Erste, dann der Zweite (und so weiter) aus den verfügbaren Regionen und Behörden den Karriereweg auswählen konnte, den er einschlagen wollte. Mithin hatten die Besten die freie Auswahl (und entschieden sich in der Regel für das Finanzministerium oder Indien), für die Personen auf den hinteren Rängen blieben nur die weniger attraktiven Angebote übrig  – etwa eine Anstellung bei der Civil Service Commission, also in der Behörde, welche die Prüfungen ausrichtete. Das Verfahren kannte keine einzelne Person, die über eine Bewerbung entschied. Die Punkte wurden durch die Angehörigen einer Prüfungskommission vergeben, die theoretisch wegen ihrer fachlichen Kompetenz ausgewählt wurden; das geschah allerdings wohl vielmehr auf der Grundlage ihrer Beziehung zu einer vertrauenswürdigen Institution (etwa einer prestigeträchtigen Universität) und ihrer Zugehörigkeit zu Netzwerken. Nicht beteiligt an der Entscheidung waren die unmittelbar von ihr Betroffenen, also künftige Vorgesetzte oder Kollegen, auch nicht die mittelbar von ihr Betroffenen, also Politik und Öffentlichkeit. Insofern wurde die Personalentscheidung einerseits Experten überantwortet, andererseits den Kandidaten. Eignung wurde als eine allgemeine, vage konturierte Fähigkeit verstanden, die sich darin ausdrückte, dass man sich schnell und zugleich gründlich in Wissensbestände einarbeiten konnte. Wie der 1859 erschienene Roman »The Three Clerks« von Anthony Trollope, der ein negatives Bild des Verfahrens zeichnete, deutlich machte, spielten moralische Kriterien – beispielsweise der Respekt vor der Lebensleistung und den Bedürfnissen älterer, vielleicht weniger brillanter Kollegen – keine Rolle (mehr). Der ›Staat‹ suchte Diener, die sich vor allem durch Begabung und Effizienz hervortaten. Das Verfahren beruhte auf der Annahme, dass sich beide Eigenschaften aus der Fähigkeit, sich gut auf Prüfungen vorzubereiten, ableiten ließen – obgleich die Punkte so vergeben wurden, dass selbst die besten Kandidaten weit hinter den quantifizierten Ansprüchen zurückblieben und somit immer signalisiert wurde, dass noch erheblicher Raum für Leistungssteigerungen bestand. Die Art und Weise, wie dieses Verfahren begründet wurde, sollte es als weitgehend alternativlos erscheinen lassen. Schließlich habe man – so der Bericht für das Jahr 1860 der Civil Service Commission – in der Vergangenheit Personalentscheidungen nur auf zwei Weisen getroffen: entweder durch Patronage, also ausschließlich unter Berücksichtigung der Nähe von Bewerbern zur auswählenden Person, oder durch die Abwägung von Qualitäten – also faktisch im Rahmen eines Wettbewerbs, dem es aber an Professionalität gefehlt habe.33 Genau diese

33 Sixth Report of Her Majesty’s Civil Service Commissioners, Together with Appendices, London 1861, S. xxxvi.

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Professionalität habe man nun erreicht, und man werde sie weiter steigern  – was in der Praxis vor allem eine Erweiterung der Zahl der Prüfungsfächer und Debatten über die Gewichtung dieser Fächer bedeutete. Weniger leicht fiel es dagegen, nachzuweisen, dass die Kandidaten, die nach dem neuen Prinzip ausgewählt wurden, wirklich besser waren als die, die ihre Posten unter dem alten Regime erhalten hatten. Einige Beobachter teilten die Einschätzung, andere verwiesen auf systemische Probleme oder vermuteten unerwünschte Nebenfolgen, etwa negative gesundheitliche Folgen des Prüfungsstresses.34 Die Befürworter des Systems rekurrierten einerseits auf die unabweisbaren Vorteile dieser Form der Entscheidungsfindung. Unabhängig davon, wie sehr man die Kriterien und Praktiken des Wettbewerbs kritisierte und zugunsten einzelner Kandidaten intervenierte: Es war kaum zu widerlegen, dass die abgewiesenen Bewerber von Personen, die nach den Kriterien der Prüfung besser waren, ›überholt‹ worden waren. Kritik war nur möglich, wenn sie diese Kriterien selbst in Frage stellte. Diesem grundsätzlicheren Einwand setzten die Befürworter unterschiedliche Korrelationen entgegen: in den ersten Jahren die Tatsache, dass Personen aus guten Familien bei den Wettbewerben gut abschnitten, also sowohl sozial als auch intellektuell geeignete Kandidaten ausgewählt worden seien; in den späteren Jahren die Tatsache, dass die Wettbewerbsergebnisse weitgehend die Rangfolge bei anderen Examina widerspiegelten. Entscheidender als dieser im Kern tautologische Befund – gute Leistungen bei Examina erwiesen sich als präzise Vorhersage guter Leistungen bei weiteren Examina – war ein Problem, das sich gerade aus dieser Korrelation ergab: Wenn die Wettbewerbe auch nicht mehr aussagten als universitäre Prüfungen, dann konnte man auch auf den Wettbewerb verzichten und das Auswahlverfahren stattdessen auf die Frage konzentrieren, wer besser (und wer weniger gut) in den Arbeitszusammenhang des öffentlichen Dienstes passte – also von einem Wettbewerb zu einem Auswahlverfahren fortschreiten, das in den Augen seiner Kritiker eine Rückkehr zu einigen der Praktiken der Patronage darstellte,35 die dann vielleicht irgendwann wieder durch einen Wettbewerb verdrängt werden würden.

34 Thirty-Third Report of Her Majesty’s Civil Service Commissioners, Together With Appendix, London 1889, S. xii-xv. 35 So in der Fachzeitschrift The New Civilian, 25. Juli 1925, 11. Januar 1928. Zur weiteren Entwicklung: Nils Löffelbein, »The Very Brightest Young Men and Women in the Civil Service«. Personalentscheidungen in der höheren Staatsverwaltung Großbritanniens in der Regierungszeit Margaret Thatchers 1979–1990, in: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 68 (2017), S. 419–434.

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5. Invisibilisierung: Verschwundene Kandidaten? Wahlen gehören zu den sichtbarsten Personalentscheidungen. Zumindest dem Kreis der Wählenden müssen die Kandidaten bekannt sein. Wer kandidiert, setzt sich dem Risiko der Niederlage aus – allerdings auch der Möglichkeit, bei einer späteren Gelegenheit Erfolg zu haben, wenn die Wahl für eine begrenzte Amtszeit erfolgt und wenn das eigene Alter zum Zeitpunkt der Wahl noch nicht so hoch ist, dass eine zweite Chance nicht zu erwarten steht. Das 19. Jahrhundert gilt  – zurecht  – auch als Jahrhundert der Demokratisierung, das durch eine schrittweise Ausweitung der Wahlen im politischen Bereich gekennzeichnet war.36 Ausweitung bedeutet dabei die Übernahme von Wahlen als Mittel der politischen Personalentscheidung im lokalen oder regionalen Zusammenhang von Wahlkreisen in einer wachsenden Anzahl von Staaten, die Erweiterung des Kreises der Wahlberechtigten auf einen immer signifikanteren Anteil der männlichen Bevölkerung und schließlich die Vergrößerung der Bedeutungen von Personalentscheidungen durch Wahlen, indem die Zusammensetzung der Regierungen einer wachsenden Anzahl von Staaten durch die Mehrheit der ins Parlament gewählten Abgeordneten bestimmt wurde. Das 19. Jahrhundert gilt aber auch als ein Jahrhundert, in dem Fragen der Ehre, des Status und des Rangs eine größere Bedeutung behielten, als das Etikett des ›bürgerlichen Jahrhunderts‹ nahelegte.37 Das warf für Wahlen ein doppeltes Problem auf: Einerseits schränkte ein vermögensorientiertes Wahlrecht die Kandidatur oft genug auf Angehörige der lokalen Eliten ein – die durch ihre Bekanntheit, Ausbildung und private Mittel ohnehin eine überdurchschnittliche Aussicht auf Erfolg hatten. Andererseits wurde es dadurch für diesen Personenkreis besonders schwierig, eine eventuelle Niederlage hinzunehmen. Dieses Problem war bei indirekter Wahl durch Wahlmänner, wie sie im frühen 19. Jahrhundert weit verbreitet war, relativ leicht einzuhegen: In diesem System standen die konkreten Kandidaten erst kurz vor der abschließenden Wahl fest (nämlich sobald die Wahlmänner feststanden, aus deren Kreis der erfolgreiche Kandidat in der Regel stammen würde oder sogar musste), so dass es in der Regel weder sinnvoll noch möglich war, einen Wahlkampf zu führen, der sich an die breitere Öffentlichkeit richtete. Die Kenntnis möglicher Konkurrenzsituationen konnte somit auf den engeren Kreis der lokalen oder regionalen Eliten beschränkt bleiben, die diese Information gegebenenfalls im Interesse der Stabilisierung der sozialen Ordnung für sich behalten konnten – wie es etwa bei den zahlreichen englischen Parlaments-

36 Umfassend: Thomas Stockinger, Dörfer und Deputierte. Die Wahlen zu den konstituierenden Parlamenten von 1848 in Niederösterreich und im Pariser Umland (Seine-etOise), Wien 2012; vgl. auch Andreas Fahrmeir, Citizenship. The Rise and Fall of a Modern Concept, New Haven 2007. 37 Ute Frevert, Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft, München 1991.

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wahlen ohne kompetitive Abstimmungen der Fall war.38 Bei einer allgemeinen Wahl – wie sie etwa 1848 vielfach stattfand – war das aber keine aussichtsreiche Strategie. Hier war die Niederlage nur dadurch abzumildern, dass keine Kandidatur erklärt wurde, sondern Personen, die sich zur Wahl stellten, in der eigenen Darstellung nur auf die Bitten ihrer ›Freunde‹ reagierten und sich auf deren Druck für ein Amt zur Verfügung stellten, das sie gar nicht anstrebten.39 Insofern entsprachen – nahm man die Rhetorik ernst – beide möglichen Ergebnisse der Abstimmung, nämlich Wahl und Nichtwahl, den persönlichen Präferenzen der Betroffenen: das ›Opfer‹, den Wahlkreis zu vertreten, ebenso wie der Respekt vor dem Wunsch, das nicht zu tun. In gewissem Sinn verringerte die Ausweitung des Kreises der möglichen Kandidaten das Problem insofern, als jeder einzelne auf immer geringere Ressourcen zurückgreifen konnte – wenn im Prinzip Alle durch Alle wählbar sind, ist die Möglichkeit der unterlegenen Kandidaten, effektiv gegen ein Ergebnis vorzugehen, denkbar gering. Trotzdem hängen Personalentscheidungen durch Wahlen, was ihren Erfolg und ihre Akzeptanz betrifft, nicht nur von der regelkonformen Abwicklung ab, sondern von der Anerkennung, dass sowohl die erfolgreichen als auch die unterlegenen Kandidaten für die Funktion des Systems entscheidend sind, also gleichermaßen Achtung verdienen – eine Übereinkunft, die sich langsam durchgesetzt hat, die aber gegenwärtig immer stärker unter Druck zu geraten scheint. Daneben steht allerdings eine Tradition der Invisibilisierung der Kandidatur nach erfolgter Entscheidung. Im 19. Jahrhundert war das in den zahlreichen Fällen möglich, in denen es zu gar keiner formellen Wahl kam, sondern nur zur ritualisierten Akklamation des erfolgreichen – da einzigen – Kandidaten. Wenn Gegenkandidaten erwogen wurden – von den Angehörigen der lokalen Eliten, von Parteinetzwerken, von Einzelnen  –, mussten sie nicht bekannt werden, sondern die Auseinandersetzungen konnten im kleinen Kreis stattfinden, vor 38 Frank O’Gorman, Voters, Patrons, and Parties: The Unreformed Electoral System of Hanoverian England, 1734–1832, Oxford 1989; Moore, Politics of Deference (wie Anm. 28). 39 Vgl. exemplarisch Hull Election, in: The Hull Packet and Original Weekly Commercial, Literary and General Advertiser, 23. Juni 1818, S. 3: »In the evening Mr. Staniforth addressed his friends, and spoke in very handsome terms of his two adversaries; declining however to stand forward in his own person, as a candidate. […] On Tuesday the friends of Mr. Staniforth, formally by deputation, announced to the committees of the two other candidates that he would be proposed at the hustings on the following day.« Staniforth, der den Wahlkreis Kingston-upon-Hull lange vertreten hatte, sich aber nun in finanziellen Schwierigkeiten befand und mit einer Abwahl rechnen musste, unterlag bei der Abstimmung mit rund 300 Stimmen, versuchte aber, durch eine Prüfung der Wahlberechtigung noch einen Sieg durchzusetzen, mit der Begründung, er wolle sich nur gegen unberechtigte Anschuldigungen verteidigen: »[…] a scrutiny having been demanded on the part of Mr. Staniforth, on the grounds of its having been asserted that much undue influence had been used in procuring voters for him.«, ebd. Vgl. auch J. M. Collinge, Staniforth, John (d. 1830), of Norton Hall, Suff., in: The History of Parliament, http://www. historyofparliamentonline.org/volume/1790-1820/member/staniforth-john-1830 (Stand: 05. Mai 2019).

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einem erheblich kleineren Publikum, und mit einem entsprechend geringeren Risiko eines Reputationsverlusts. Auch in diesem Modus fallen Personalentscheidungen daher nicht unbedingt öffentlich  – was immer das Risiko einer Verlagerung der Personalentscheidung in ›Hinterzimmer‹ und des vollständigen Verzichts auf (realistische) Gegenkandidaten in sich birgt, also den Übergang von einer politischen Personalentscheidung durch Wahl zu einer eher bürokratischen durch Expertenurteil oder einer eher traditionalen durch Abstammung vorantreiben kann.

6. Das Problem der Personalentscheidung Das ›Prinzip der Bestenauslese‹, das die Semantik moderner Personalentscheidungen in Unternehmen und Bürokratien prägt, ist prinzipiell keineswegs neu – obgleich das Narrativ einer dauernden Verbesserung der Präzision, Gerechtigkeit und Effektivität von Personalentscheidungen das anzunehmen scheint. Allerdings variieren die Kriterien für die Bewertung und Begründung von Entscheidungsverfahren mit der Zeit, gegebenenfalls sogar in kurzen Zeiträumen. Kein Modus der Personalentscheidungen ist gegen Kritik immun, wenn auch die Ansatzpunkte für Kritik unterschiedlich sind und verschiedene Implikationen haben. Das hat Folgen für die Begründung von Personalentscheidungen, die auf solche Kritik reagiert, sie aber letztlich weder verhindern noch völlig widerlegen kann. Das gilt für Personalentscheidungsverfahren als Ganzes, wie hier in einem pauschalen, exemplarischen Überblick gezeigt werden sollte. Es gilt auch für einzelne Personalentscheidungen. Allerdings scheint es so zu sein, dass es auf dieser individuellen Ebene eine Präferenz dafür gibt, Personalentscheidungen nicht zu explizieren. Gewiss sind im Laufe der Zeit viele Quellen verloren gegangen. Viele Konstellationen waren sicher den unmittelbar Beteiligten bekannt, wurden aber nicht dokumentiert. Jedoch fällt bei einer vergleichenden Betrachtung auf, dass es epochenübergreifend sehr schwer ist, die Begründungen einzelner Personalentscheidungen detailliert zu rekonstruieren. Bei den Civil Service Examinations wurden lange Zeit lediglich die erfolgreichen Kandidaten namentlich benannt, die erfolglosen dagegen nur durch ihre Nummer in der Rangliste kenntlich gemacht, was sie denkbar blass erscheinen ließ. Erst der Einwand, solche selektiven Angaben erleichterten mögliche Manipulationen, führte zu einer Veränderung.40 Diese blieb freilich partiell: Denn während nun Namen, Fächer und Punkte bekannt waren, lässt sich die eigentlich interessante Frage  – auf welchem Weg und anhand welcher Kriterien Kandidaten welche Punktzahl zugeordnet wurde  – nicht mehr beantworten, da die Prüfungsunterlagen früh makuliert wurden. Das wiederum lag nicht daran, dass serielle Quellen prinzipiell nicht gelagert worden wären  – die Empfehlungsschreiben für die Kandidaten sowie die Angaben zu ihrer Gesundheit (Körpergröße und 40 The National Archives, Kew, CSC 5/51, Korrespondenz vom Oktober 1912.

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Allgemeinzustand)  schienen den Angehörigen der Civil Service Commission durchaus von historischem Interesse zu sein. Dagegen schien die Bewertung der Prüfungen nicht problematisch, zumal ihre Vergleichbarkeit dadurch sichergestellt war, dass jede Kohorte im selben Fach durch dieselben Personen bewertet wurde.41 Das belegt die oben konstatierte Neigung, Personalentscheidungen als eindeutig erscheinen zu lassen – ebenso wie einige der eingangs angeführten Diskussionen darauf verweisen, wie problematisch diskutable Entscheidungen für die Legitimität von Institutionen und Verfahren werden können. Es macht aber zugleich deutlich, dass es schwerfällt, die Entscheidung zu isolieren und sie von ihrer generischen Begründung und der Form ihrer Rahmung und Kommunikation zu trennen. Dabei neigen Narrative, in denen Personalentscheidungen eine Rolle spielen, dazu, die Offenheit der Entscheidungssituation zu minimieren oder die Entscheidung gänzlich unsichtbar zu machen. Das liegt einerseits in der Natur der Sache. Personalentscheidungen fallen selten völlig spontan oder völlig willkürlich. In vielen historischen Konstellationen wird und wurde das Risiko, das sich mit Personalentscheidungen verbindet, dadurch eingehegt, dass sie in ihrer Wirkung begrenzt wurden. Losverfahren in der Antike beispielsweise dienten dazu, Personen aus einem begrenzten Kreis (beispielsweise Athener Bürger) für eine begrenzte Zeit zu in der Regel kollegial ausgeübten Aufgaben heranzuziehen. Die meisten politischen Amtsträger unterhalb der Monarchen konnten im Absolutismus entlassen, abberufen, exiliert oder auf andere Weise marginalisiert werden. Moderne politische Personalentscheidungen stehen in der Regel am Ende von Karrieren, in denen sich Kandidatinnen und Kandidaten jeweils bewährt haben, bevor sie ein Amt mit höherer Bedeutung übertragen bekommen. Gerade in einer biographischen wie einer autobiographischen Perspektive erscheinen Personalentscheidungen weniger als Entscheidungen denn als konsequente Schritte hin zu einem Ziel – in extremer Form etwa bei dem Marquis de Chateaubriand, der bei der Darstellung seines Lebens unterstellte, dass dieses einem höheren Plan folgte (wodurch er gezwungen war, seinen Tod narrativ zu antizipieren).42 Andererseits bleiben Personalentscheidungen Entscheidungen, die auch anders hätten fallen können  – auch wenn die Narrative anderes nahelegen. Vielleicht gelten Personalentscheidungen vor allem dann als besonders problematisch, wenn die Invisibilisierung ihrer Kontingenz  – wie in den einleitenden Beispielen  – nicht gelingt, weil dadurch Widersprüche zu expliziten Regeln, formalisierten Praktiken oder impliziten Erwartungen sichtbar werden. Ob das aber eine fundamentale Krise bedeuten muss, die die Modi von Personalentscheidungen grundlegend verändern wird, bleibt in allen genannten Fällen jeweils dahingestellt. 41 The National Archives, Kew, CSC 5/45, Aktennotiz vom 27. Juni 1913. 42 Wie ja bereits der Titel, »Mémoires d’outre-tombe«, deutlich machte. Dass diese Antizipation ihrerseits Schwierigkeiten aufwies, machten dann die beiden Vorworte der ersten und zweiten Auflagen zu Lebzeiten von 1833 und 1846 deutlich, vgl. z. B. Chateaubriand, Mémoires d’oute-tombe, hg. v. Edmond Biré, Paris [1899], Bd. 1, S. XLIII-LV.

Constanze Sieger

»Das gibt nie eine Verschmelzung« oder die »gegebene Lösung«? Legitimationsnarrative in den Eingemeindungsentscheidungen der Weimarer Republik

Der FC Schalke 04 gehört zu den international bekannten deutschen Bundesligavereinen und trägt doch wenig dazu bei, seinem Heimatort zu ähnlicher Berühmtheit zu verhelfen. Wahrscheinlich wissen noch nicht einmal alle Menschen in Deutschland, dass die Veltinsarena nicht nur ›auf Schalke‹, sondern ›in Gelsenkirchen‹ steht. Noch weniger weit verbreitet dürfte das Wissen darum sein, dass es sich bei ›Schalke‹ um ein ehemaliges eigenständiges westfälisches Amt handelte, welches 1903 aufgelöst und Teil der Stadt Gelsenkirchen wurde.1 Das Amt Schalke – ein Zusammenschluss aus mehreren Landgemeinden, dem ein Amtmann vorstand – stellte im Kontext der Industrialisierung und Urbanisierung des Ruhrgebietes keinen Einzelfall dar; vielmehr erfuhr eine Vielzahl von Kommunen vom Kaiserreich bis in die Bundesrepublik zahlreiche Grenzänderungen, indem eine Vielzahl von Orten ein-, um- oder ausgemeindet wurden. Die Prozesse des Entscheidens, die diesen Grenzverschiebungen zu Grunde lagen, sind das Thema der nachfolgenden Ausführungen. Im Sinne des SFB 1150 »Kulturen des Entscheidens« wird Entscheiden als sozialer Prozess aufgefasst, der die konkrete Benennung von mindestens zwei Alternativen beinhaltet, von denen nur eine realisiert wird und werden kann. Die Art und Weise, wie die Festlegung auf eine der beiden Alternativen erfolgt, ist dabei ebenfalls konstitutiv für die Benennung dieser Festlegung als ›Entscheidung‹. Erfolgt die Festlegung auf Grundlage von Routinen oder aus der strikten Ableitung von formalen Regeln, handelt es sich eben nicht um einen Prozess des Entscheidens.2 Solche Vorgaben existierten in Bezug auf die Gemeindebildung jedoch nicht, und so blieben die Eingemeindungsentscheidungen im Kaiserreich und in der Weimarer Republik kontingent. Entsprechende Grenzziehungen ließen sich nun – anders als beispielsweise noch in der Frühen Neuzeit – auch nicht 1 Vgl. Stefan Goch, Gelsenkirchen, in: Cornelia Kneppe / Mechthild Siekmann (Hg.), Westfälischer Städteatlas, X. Lieferung, Nr. 3, Altenbeken 2008, S. 3. 2 Vgl. zum Begriff des Entscheidens: Philip Hoffmann-Rehnitz u. a., Entscheiden als Problem der Geschichtswissenschaft, in: Zeitschrift für historische Forschung 45 (2018), S. 217–281. Bei dem hier verhandelten Gegenstand wäre eine Ableitung aus bereits formulierten gesetzlichen Vorgaben z. B. dann gegeben gewesen, wenn etwa folgende gesetzliche Regelung bestanden hätte: Sobald eine Gemeinde eine Einwohnerzahl XY erreicht, ist sie aus dem Kommunalverband herauszulösen und wird zu einem eigenständigen Kommunalverband.

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mehr eindeutig an physischen Gegebenheiten festmachen. Statt Grenzsteine und Stadtmauern waren es nun genaueste geometrische Vermessungen und rechtliche Zuordnungen, die sich im Medium der Karte (Kataster) unabhängig von der physischen Anwesenheit vor Ort genau benennen und ablesen ließen. Sind von Menschen gemachte Grenzen immer auch flexibel und kontingent, so galt dies vor dem Hintergrund von Industrialisierung, Urbanisierung und Bevölkerungszuwachs im Ruhrgebiet des Kaiserreichs in ganz besonderem Maße. Hier trafen im »Revier der großen Dörfer« die rasanten Industrialisierungsprozesse auf eine – mit Ausnahme von Dortmund und Essen – wenig ausgeprägte Städtelandschaft.3 Dieser Umstand brachte infrastrukturelle Probleme mit sich – spiegelte sich aber eben auch in zahlreichen, schnell aufeinanderfolgenden Gebietsveränderungen wider, die eben nicht zu einer ausgreifenden Erweiterung eines bereits bestehenden städtischen Zentrums führten. In der Weimarer Republik handelte es sich um eine dicht besiedelte Region, deren kommunale Grenzen teilweise ineinander übergingen. Ebenso gab es Gemeinden und Bezirke, deren kommunale Zugehörigkeiten in den vergangenen fünfzig Jahren häufig und rasch gewechselt hatten. Aus diesem Grund war hier eben zu keinem Zeitpunkt von vorneherein ›entschieden‹, welche Kommune wohin eingemeindet wird. Zudem existierte – was im ersten Abschnitt dieses Beitrags ausführlich erläutert wird – im Kaiserreich in formaler Hinsicht keine klare hierarchisch organisierte Entscheidenszuschreibung zwischen den beteiligten Akteuren (Innenministerium, Provinzialregierung, Regierungsbezirk, Kreis und Kommune), so dass im Kaiserreich eben nicht ›von oben‹ über die kommunalen Grenzen entschieden wurde. Erst in der Weimarer Republik wechselte der Ort des Entscheidens, indem im Landesparlament über die kommunalen Grenzziehungen im Ruhrgebiet auch gegen den Willen der betroffenen Gemeinden entschieden wurde. So steht zu vermuten, dass es sich aus Sicht der betroffenen Kommunen um einen umstrittenen Vorgang handelte. Wie mit dieser Konstellation  – hohe Kontingenz des Entscheidungsgegenstandes bei gleichzeitiger Verlagerung des Ortes der Entscheidung  – umgegangen wurde, ist Gegenstand der folgenden Ausführungen. Dabei werden insbesondere die Narrative, die auf Ebene des preußischen Landtags und des Innenministeriums Anwendung fanden, in den Blick genommen. Nach Paul Ricœur ist es eine wesentliche Funktion von Narrativen, aus der »wilden Kontingenz eine geregelte Kontingenz« werden zu lassen.4 Diese Aussage entwickelt Ricœur im Kontext der Frage, wie »die Erzählung aus einer Mannigfaltigkeit von Ereignissen eine Geschichte« macht.5 Nach Ricœur übernimmt die narrative Struktur, zumindest wenn es um die Geschichtsschreibung geht, verschiedene Funktionen, um die Ereignisse durch eine Erzählstruktur in einen 3 Detlev Vonde, Revier der großen Dörfer. Industrialisierung und Stadtentwicklung im Ruhrgebiet, Essen 1989. 4 Paul Ricœur, Zufall und Vernunft in der Geschichte, Tübingen 1986, S. 16. 5 Ebd., S. 12.

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Zusammenhang zu stellen. Die narrative Struktur, die der Geschichtsschreibung inhärent ist, stellt durch den Plot (›Einfädeln einer Intrige‹) eine »Synthese des Heterogenen« zwischen intendierten, zweckrationalen und kontingenten Ereignissen her, die zudem in zweifacher Weise in eine zeitliche Anordnung gebracht werden: einerseits durch eine »diskrete, offene und theoretisch unbestimmte Sukzession von Geschehnissen«, andererseits durch die Konfiguration der Ereignisse in ein Schema von Anfang, Mitte und Schluss.6 Ohne Paul Ricœur in allen theoretischen Implikationen zu folgen, die sein Ansatz mit sich bringt, lässt sich in Anlehnung an seine Ausführungen (und nicht nur an seine) Narrativ als ein Erzählmuster verstehen, durch das Ereignisse mit unterschiedlicher Entstehungsgeschichte in eine zweckgerichtete, lineare Anordnung gebracht werden, die zu einer ›Zähmung‹ der Kontingenz führt. Narrative des Entscheidens bieten somit eine Möglichkeit, einen Umgang mit der Kontingenz des Entscheidens zu finden. Wie genau dieser Umgang im Kontext der Eingemeindungen im Ruhrgebiet in der Weimarer Republik aussah, soll nachfolgend anhand eines Beispiels genauer analysiert werden. Im Mittelpunkt steht dabei die bis heute umstrittene Eingemeindung von Buer nach Gelsenkirchen, deren gesetzliche Grundlage im Jahr 1928 vom preußischen Landtag verabschiedet wurde. Dazu werden in einem ersten Schritt die formalen Verfahren und Kontexte dargestellt, bevor im Anschluss die Narrative des Entscheidens in den Blick genommen werden.

1. Phasen der Grenzveränderungen Wirft man einen Blick auf die Phasen, in denen sich die Grenzveränderungen im Ruhrgebiet über die politischen Systeme hinweg vollzogen, so lassen sich unterschiedliche formale Vorgehensweisen, Akteure und Anlässe für die Grenzveränderungen feststellen. Hierbei können drei unterschiedliche historische und verfahrenstechnische Kontexte unterschieden werden, in denen es zu Grenzveränderungen der Kommunen kam. Zunächst sind hier die zahlreichen Aus-, Eingemeindungen und Stadtwerdungsprozesse zur Zeit des Kaiserreiches (1871–1914) zu nennen. Den Anlass für die Grenzveränderungen bildete ein massives Wirtschafts- und Bevölkerungswachstum, auf das mit einer Vielzahl von Einzelfallentscheidungen reagiert wurde.7 Die Aushandlungen fanden zwischen den beteiligten Gemeinden, Ämtern, Städten, Kreisen und Regierungsbezirken statt, bevor sie vom Innenministe6 Vgl. ebd., S. 16. 7 Eine systematische Untersuchung über die Eingemeindungen im Kaiserreich steht bisher noch aus. Den besten Überblick gibt immer noch: Horst Matzerath, Städtewachstum und Eingemeindungen im 19. Jahrhundert, in: Jürgen Reulecke (Hg.), Die deutsche Stadt im Industriezeitalter. Beiträge zur modernen deutschen Stadtgeschichte, Wuppertal 21980, S. 67– 89. Allerdings klammert Matzerath den ›Sonderfall‹ Ruhrgebiet weitgehend aus. Einen Einblick in die Eingemeindungsvorgänge für den Raum Essen geben: Klaus Wisotzky, Wie

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rium genehmigt und qua Gesetz rechtskräftig wurden. Alle beteiligten Akteure von der Gemeinde bis zum Regierungspräsidenten besaßen ein Vetorecht, das heißt, wenn es auf einer Ebene nicht zu einer Einigung kam, dann wurde der gesamte Vorgang blockiert.8 Die Initiative ging je nach Kontext und Konstellation von unterschiedlichen Akteuren aus, wobei hier kein Muster zu erkennen ist – in einem Fall waren es die beteiligten Stadt- und Gemeindeverordnetenversammlungen der betroffenen Kommunen, in einem anderen der zuständige Landrat oder Regierungspräsident.9 Insgesamt sind in der Hochphase der Industrialisierung viele Einzelfallentscheidungen ad hoc getroffen worden, die durch weitere Entscheidungen wieder korrigiert wurden.10 In welchem Umfang es zu unsystematischen Grenzänderungen in dem Zeitraum kam, zeigt allein die Betrachtung des Raums Gelsenkirchen: Im Jahr 1865 wurden die Gemeinden Schalke, Heßler, Braubauerschaft (später Bismarck), Bulmke, Hüllen und Gelsenkirchen aus Wattenscheid ausgegliedert, um das eigenständige Amt Gelsenkirchen zu bilden. 1875 schied Gelsenkirchen als eigenständige Stadt aus diesem Amtsverband aus. Die verbliebenen Gemeinden bildeten 1877 daraufhin das Amt Schalke. 1878 verließ auch Ückendorf den Amtsverband Wattenscheid und bildete ein eigenständiges Amt. 1887 wurde aus dem Amt Schalke das Amt Braubauerschaft mit den Gemeinden Braubauerschaft, Bulmke und Hüllen ausgegliedert. Auch im Norden des heutigen Gelsenkirchener Stadtgebietes kam es zu Grenzveränderungen, indem

Essen größer wurde. Die Eingemeindungspolitik der Stadt Essen im Kaiserreich, in: Essener Beiträge 127 (2014), S. 181–314 und Hein Hoebink, Mehr Raum, mehr Macht. Preussische Kommunalpolitik und Raumplanung im rheinisch-westfälischen Industriegebiet, 1900–1933, Essen 1990, S. 23–45. Aus der Perspektive der verschiedenen Stadtentwicklungen betrachtet sehr viel reflektierter als Hoebink das Thema: Detlev Vonde, Revier der großen Dörfer (wie Anm. 3). 8 Vgl. Hoebink, Mehr Raum (wie Anm. 7), S. 23 sowie: Landgemeindeordnung für die Provinz Westfalen v. 19.03.1856, in: Gesetzsammlung für die Königlich-Preußischen Staaten (GsPr) 1856, S. 265–292. 9 Wie bereits erwähnt steht hier eine umfassende Untersuchung noch aus und zeigen sich je nach Region in Westfalen sehr unterschiedliche Vorgehen und Strategien. In den Regionen des Münsterlandes bildete ein Ausscheiden aus dem Amtsverband im Kontext der Stadtrechtsverleihung eher den Regelfall (hier dann häufig auf Initiative einer Gemeinde). Vgl. exemplarisch dafür das Beispiel Gronau: Gerhard Lippert / Ute Richters, Die Neuordnung der Stadt Gronau im Jahr 1898. Ergebnisse einer Archivrecherche zum 100jährigen Jubiläum, in: Hanspeter Dickel (Hg.), 100 Jahre Stadt Gronau. Aufsätze, Berichte und Dokumente zum Zeitraum von 1898–1998, Gronau 1998, S. 35–54. Für das Ruhrgebiet hingegen konstatiert Vonde eher »eine Allianz von Großindustrie und Verwaltungsspitzen«, Vonde, Revier der großen Dörfer (wie Anm. 3), S. 194 – ein Vorgang, der sich zumindest für die Eingemeindung von Altendorf nach Essen bestätigen lässt, da hier Krupp durch Landkäufe tätig wurde. Nach 1900 übernahm jedoch der Oberbürgermeister die Initiative für weitere Eingemeindungen. Vgl. Wisotzky, Wie Essen größer wurde (wie Anm. 7), S. 190–288. 10 Vgl. dazu auch Vonde, Revier der großen Dörfer (wie Anm. 3), S. 191 f.

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1885 das Amt Gladbeck und 1891 das Amt Horst aus dem Amt Buer herausgelöst wurde.11 Insgesamt waren es bis zur Jahrhundertwende vor allem schnell aufeinanderfolgende Aus- und Umgemeindungen, die vorgenommen wurden, um dem rasanten Städte- und Bevölkerungswachstum in der vormals dörflich geprägten Ruhrregion zu begegnen. Um 1900 änderte sich dieses Vorgehen im Raum Gelsenkirchen: Es waren nun vor allem Eingemeindungsvorgänge von Ämtern und Gemeinden in größere umliegende Städte, die nicht mehr nur vereinzelt, sondern im Verbund getroffen wurden: Im Jahr 1903 wurden schließlich die Gemeinden Schalke, Hessler, Ückendorf, Bulmke, Bismarck und Hüllen von der Stadt Gelsenkirchen eingemeindet.12 Im Vergleich mit dieser Vielzahl an Entscheidungen über Aus- und Eingemeindungen war die Anzahl der Grenzveränderungen in der Weimarer Republik schon allein mit Blick auf die Stadt Gelsenkirchen überschaubar: Im Jahr 1926 wurde die Gemeinde Rotthausen zusammen mit einigen anderen Gemeindeteilen nach Gelsenkirchen eingemeindet, ab 1928 dann die Stadt Buer und das Amt Horst.13 Die Eingemeindung von Buer und Horst wurde vom preußischen Landtag im Rahmen des »Gesetzes über die weitere Neuregelung des westfälischen Industriebezirks im Jahr 1928« erlassen.14 Dieses Gesetz beinhaltete nicht nur Regelungen, die Gelsenkirchen betrafen, sondern ebenso umfassende Grenzänderungen von Verwaltungsbezirken im gesamten Ruhrgebiet. Zusammen mit zwei weiteren Gesetzen im Jahr 1926 und 1929 wurden sämtliche Um- und Eingemeindungsentscheidungen des Ruhrgebietes in der Weimarer Republik vom preußischen Landtag getroffen, während die Beschlüsse der einzelnen Gemeinden keine bindende Wirkung hatten.15 Die veränderte Verfahrensweise und der schwindende Einfluss der beteiligten Kommunen sind vor dem Hintergrund erstaunlich, dass die rechtlichen Rahmenbedingungen trotz Systemwechsel zunächst gleichblieben. So galt die 1856 erlassene Städte- und Landgemeindeordnung für Westfalen bis in das Jahr 1933.16

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Vgl. Goch, Gelsenkirchen (wie Anm. 1), S. 3. Vgl. ebd. Vgl. ebd. Vgl. »Gesetz über die weitere Neuregelung der kommunalen Grenzen im westfälischen Industriebezirk« v. 23.03.1928, in: Preußische Gesetzessammlung (PrGS) 1928, S. 17–22, hier S. 18. 15 Vgl. »Gesetz über die Neuregelung der kommunalen Grenzen im rheinisch-westfälischen Industriebezirke« v. 26.02.1926, in: PrGS 1926, S. 53–78 und »Gesetz über die kommunale Neugliederung des rheinisch-westfälischen Industriegebietes« v. 29.07.1929, in: PrGS 1929, S. 91–137. Vgl. zu diesem Vorgang auch: Hoebink, Mehr Raum (wie Anm. 7), S. 87–230. Allerdings steht auch hier noch eine systematische Untersuchung aus. Dazu auch: Sabine Mecking, Bürgerwille und Gebietsreform. Demokratieentwicklung und Neuordnung von Staat und Gesellschaft in Nordrhein-Westfalen 1965–2000, München 2012, S. 51–55. Zur Bedeutung der Gutachten und Stellungnahmen weiter unten in diesem Aufsatz. 16 Vgl. Landgemeindeordnung 1856 (wie Anm. 8).

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Äquivalent dazu wurden in der Weimarer Republik die Eingemeindungen auf sehr ähnlicher gesetzlicher Grundlage vorgenommen.17 Insgesamt ist beim Vergleich der Eingemeindungen vom Kaiserreich bis in die Weimarer Republik ein Übergang vom inkrementalistischen Entscheiden zum Planen zu beobachten: Es wurden nicht mehr von Fall zu Fall korrigierend schnell hintereinander neue Gesetze erlassen, sondern in einem übergeordneten Rahmen Pläne erstellt und Perspektiven entworfen, die die Grundlage für die Eingemeindungsgesetze bildeten.18 Dieses planhafte Vorgehen sollte in den 1960er und 1970er Jahren noch einmal deutlich intensiviert werden, indem bundesweit im Rahmen der ›Gebietsreform‹ zahlreiche Grenzveränderungen

17 So bestand bereits im Kaiserreich zumindest theoretisch die Möglichkeit, eine Eingemeindung gegen den Willen der betroffenen Gemeinden vorzunehmen. So gibt es bspw. in der Landgemeindeordnung von 1856 schon einen Passus dazu, dass Grundstücke, »wenn [es] im öffentlichen Interesse als nothwendiges Bedürfniß sich ergiebt«, auch gegen den Willen der beteiligten um- oder eingemeindet werden können. Zumindest konnte bei strittigen Fällen der Oberpräsident als letzte Instanz entscheiden, wenn eine Einigung »auf dem Verwaltungswege« nicht erzielt werden konnte. Vgl. die §§ 6 und 9 der Landgemeindeordnung 1856 (wie Anm. 8). Systematisch eingesetzt wurde diese Möglichkeit jedoch erst in der Weimarer Republik und erfuhr vor dem Erlass des Eingemeindungsgesetzes von 1928 eine Erweiterung. So heißt es dazu im Handwörterbuch der preußischen Verwaltung: »Die Auflösung von Landgemeinden im Verwaltungswege war bisher nur unter bestimmten Voraussetzungen, die Auflösung von Stadtgemeinden nur durch Gesetz zulässig, während nach § 1 Ziff. 2 des Gesetzes vom 27.12.1927 die Auflösung von Stadt- und Landgemeinden wie jede andere Grenzveränderung »aus Gründen des öffentliches Wohles« erfolgen kann.« Art. ›Eingemeindung‹, in: Handwörterbuch der preußischen Verwaltung, hg. v. Rudolf von Bitter, Berlin 31928, Sp. 677–679. 18 Vgl. zur Unterscheidung zwischen Inkrementalismus und Planung: Uwe Schimank, Die Entscheidungsgesellschaft. Komplexität und Rationalität der Moderne, Wiesbaden 2005, S. 237–370. Inkrementalismus ist nach Schimank dadurch gekennzeichnet, dass in einer oder in mehreren Phasen, die Entscheiden kennzeichnen (bspw. Informationssammlung, Optionenkreierung, Umsetzbarkeit, Evaluation), starke Kompromisse gemacht werden, z. B. weil Handlungszwang besteht und die Komplexität des zu entscheidenden Gegenstandes vollständige Informationssammlung und Alternativenerstellung unmöglich macht oder aber eine Einigung in der Sozialdimension nicht möglich ist. Planung weist laut Schimank bspw. deswegen ein Mehr an Rationalität auf, weil anstehende Entscheidungen antizipiert und aus diesem Grund unter Umständen umfassend abgewogen werden können. Übergänge zwischen Inkrementalismus und Planung passieren laut Schimank nicht einfach so – sind also in dem Sinne keine Entscheidens-Entscheidung –, sondern werden durch eine massive Komplexitätsreduktion in der Sozial- oder Sachdimension hervorgerufen. Hier ist m. E. vor allem ein Wandel in den ›Zwecken‹, denen der Zuschnitt einer Kommune (ob nun Stadt, Gemeinde oder auch Amt) genügen sollte, festzustellen, insofern als in der Weimarer Republik die Idee der kommunalen Selbstverwaltung über alle politischen Lager hinweg gänzlich zu Gunsten der Kommunalen Leistungsverwaltung aufgegeben wurde. Vgl. dazu auch: Gabriele Metzler / Dirk van Laak, Die Konkretion der Utopie. Historische Quellen der Planungsutopien der 1920er Jahre, in: Isabel Heinemann / Patrick Wagner (Hg.), Wissenschaft – Planung – Vertreibung. Neuordnungskonzepte und Umsiedlungspolitik im 20. Jahrhundert, Stuttgart 2006, S. 23–43.

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vorgenommen wurden, die für Nordrhein-Westfalen jüngst umfassend untersucht wurden.19

2. Anfang – Mitte – Ende der Erzählung oder: Warum wird überhaupt entschieden? Im Folgenden gilt es, die Narrative der Eingemeindungsentscheidungen unter Rückgriff auf Ricœurs Ausführungen näher in den Blick zu nehmen. Zuerst also geht es um die Anordnung der Ereignisse in eine sukzessive Struktur von Anfang, Mitte und Schluss. Mit Blick auf das Entscheiden heißt das auch: Wann wird der Gestaltungsraum ›geöffnet‹, um die Optionen herzustellen und damit den Prozess des Entscheidens zu beginnen? Dies führt dann eben auch zu der Frage, wie überhaupt die Entscheidens-Entscheidung insgesamt, nämlich die Grenzen im Ruhrgebiet zu verändern, von den verschiedenen Akteuren (Kommunen, Staatsministeriu m, Abgeordnete des preußischen Landtags) plausibilisiert wurde. Dazu werden die Akten des Innenministeriums, die Gesetzesvorlage und die Diskussionen im Landtag sowie Denkschriften und Zeitungsartikel in den Blick genommen. Bei der Art und Weise, wie Entscheiden begründet wurde, ist zwischen dem Erlass des Gesamtgesetzes und der damit verbundenen Diskussionen auf der einen und der konkreten Gelsenkirchener Situation auf der anderen Seite zu unterscheiden. Zunächst einmal wurde für die Begründung der Gesetzesvorlage von 1928 auf das Gesetz von 1926 verwiesen und werden beide in einen starken Zusammenhang gesetzt. Sieht man sich die Begründung von 1926 an, so werden hier genau genommen zwei Begründungen der Entscheidensnotwendigkeiten angeführt. Die erste Begründungserzählung greift zeitlich weiter aus, indem sie direkt zu Beginn darauf verweist, dass bereits seit 1919 Überlegungen existierten, kommunale Grenzänderungen vorzunehmen, für die 1922 Gutachten erstellt worden seien, deren weitere Bearbeitung und Umsetzung jedoch wegen des »Ruhreinbruchs« im Jahr 1923 pausiert habe. Hier wird als Anlass für die Überlegungen zur Grenzänderung die »außerordentlich starke Vermengung und Verwirrung« der kommunalen Grenzen im rheinisch-westfälischen Industriegebiet genannt. Diese habe ganz generell zu einer »willkürliche[n] und ungerechte[n] Verteilung der Lasten«, »Verwaltungserschwerungen« und einer Beeinträchtigung der »ersprießliche[n] Zusammenarbeit der Gemeinden 19 Vgl. dazu insgesamt Mecking, Bürgerwille (wie Anm. 15). Dass die ersten Städte-, Raumund Wirtschaftsplanungen der 1920er Jahre im Sinne von Verbandsbildung (Ruhrsiedlungsverband) und Großstadtbildung (bspw. ›Groß-Berlin‹), in dessen Kontext eben auch die Eingemeindungen im Ruhrgebiet zu sehen sind, zumindest eine geistesgeschichtliche Kontinuität zu den ›technokratischen‹ Gebietsreformbestrebungen in der Bundesrepublik aufweisen, zeigt sehr schön: Ariane Leendertz, Ordnung schaffen. Deutsche Raumplanung im 20. Jahrhundert, Göttingen 2008.

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und der Wirtschaftsfaktoren« geführt.20 Als Ursache wurde die »Zerreißung wirtschaftlicher Zusammenhänge durch kommunale Grenzen« ausgemacht, da die kommunalen Grenzen der wirtschaftlich-industriellen Entwicklung nicht nachgekommen seien. Es gehe darum, »eine Berichtigung der vorhandenen Fehler« vorzunehmen, »um eine Heilung der entstandenen Mängel aufgrund des historisch Gewordenen« herbeizuführen.21 Zusätzlich zu diesem grundsätzlich festgestellten Reformbedarf wird ein zweiter Grund vorgebracht, der die zeitliche Dringlichkeit und damit die gegenwärtige Notwendigkeit des Entscheidens noch viel stärker hervorhebt: »Inzwischen haben sich die kommunalen Verhältnisse im Industriebezirk erheblich verändert und verschlimmert, so daß die Neuregelung noch dringlicher geworden ist.«22 Hier werden als Begründungen die Krise des Bergbaues, der Ruhreinbruch und die ungünstige Verteilung der Steuern zwischen Staat und Kommunen ins Feld geführt.23 In dem für Gelsenkirchen und Buer maßgeblichen Gesetzesentwurf wurde die allgemeine Argumentation nicht erneut wiederholt oder ergänzt, sondern es wurde lediglich auf das Gesetz von 1926 mit den Worten verwiesen, dass es derzeit »sachlich geboten« sei, eine Änderung der Grenzen vorzunehmen.24

3. Begründungen für die Eingemeindung von Buer und Horst nach Gelsenkirchen Wie stellen sich diese Befunde nun mit Blick auf die konkreten Paragraphen dar, die sich mit Gelsenkirchen und Buer beschäftigen? Im Gesetzesentwurf von 1925 wurde bereits auf Gelsenkirchen verwiesen, indem das »Bedürfnis« nach neuem Siedlungsgelände angeführt wurde. Es sei jedoch noch keine »Lösung« in Sicht, die »spruchreif« sei.25 Hierauf wurde 1927 dann wieder Bezug genommen, indem erwähnt wurde, dass bereits 1926 auf das »dringende Bedürfnis nach neuem Siedlungsgelände« für die Stadt Gelsenkirchen hingewiesen worden sei, welches »nur nach Norden im Wege eines Interessenausgleichs mit der Stadt Buer befriedigt werden« könne.26 Dieser Feststellung seien auch die beiden betroffenen Städte Gelsenkirchen und Buer gefolgt. Sie würden bereits seit 1922 über eine Zweckverbandsbildung verhandeln, die langfristig die »kommunale Verschmelzung« zum Ziel habe.27 Die zunächst hauptsächlich zwischen diesen beiden Gemeinden geführten Verhandlungen seien erst dadurch zu einer Frage für die Staatsregierung geworden, dass die Gemeinde Horst-Emscher »leis20 Vgl. Sitzungsberichte des preußischen Landtages 1925, Berlin 1925, Sp. 32 f. 21 Ebd. 22 Ebd., Sp. 32. 23 Vgl. ebd., Sp. 32 f. 24 Sitzungsberichte des preußischen Landtages 1927, Berlin 1928, Sp. 7. 25 Sitzungsberichte 1925 (wie Anm. 20), Sp. 34. 26 Sitzungsberichte 1927 (wie Anm. 24), Sp. 14. 27 Ebd., Sp. 27.

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tungsunfähig« geworden sei und so »die Notwendigkeit« bestanden habe, die »Landgemeinde Horst-Emscher mit einer benachbarten Großstadt zu vereinigen, wobei sich die Vereinigung der Gemeinde mit den Städten Buer und Gelsenkirchen [Hervorhebung im Original; C. S.] als die einzig zweckmäßige Lösung herausstellte.«28 Bevor auf die weiteren Begründungen und Argumentationen eingegangen wird, sei an dieser Stelle darauf verwiesen, dass die Anknüpfung an den Gesetzesentwurf von 1925 nicht ganz richtig ist, in dem weder das Bedürfnis nach Siedlungsgelände als »dringend« benannt wurde noch bereits auf Buer als einzig sinnvolle Möglichkeit im Gesetz selbst verwiesen wurde, sondern vom Ausschuss des Ruhrkohlenbezirks dieser Vorschlag vorgebracht wurde. Wird bei den konkreten Ausführungen zu Gelsenkirchen das Jahr 1922 als Anfangspunkt gesetzt, so erscheint gleich zu Beginn auch schon der Schlusspunkt des Plots klar, nämlich: Die Eingemeindung von Horst-Emscher und Buer nach Gelsenkirchen stellte demnach die einzig richtige und notwendige Lösung der Eingemeindungsfrage dar. In der Mitte erfolgt eine Darstellung, wie das Staatsministerium die aufgeworfenen Alternativen geprüft und als ›falsch‹ erkannt habe: So habe etwa der westfälische Provinzialausschuss dafür votiert, Horst-Emscher an Gladbeck »anzugliedern«, und ebenso hätten sowohl Buer als auch Gladbeck »zur Stützung ihres Anspruchs […] auf historischem, wirtschaftlichem und kulturellem und geographischem Gebiet liegende Gründe« angeführt. Doch die Staatsregierung sei anders als der Provinzialausschuss »nach sorgfältiger Prüfung aller in Betracht kommenden Umstände in Übereinstimmung mit dem hierzu vom Ruhrsiedlungsverband erstatteten Gutachten allerdings der Meinung, daß den zugunsten von Buer sprechenden Gründen größeres Gewicht beizumessen ist.«29 Diese von der Staatsregierung so titulierte »Meinung« wird allerdings nur en passant eingeführt. Die Argumentation geht vielmehr in eine andere Richtung, durch die die Frage nach der Gewichtung der Rechtmäßigkeit der verschiedenen Ansprüche unerheblich wird. Denn die »Entscheidung über das kommunale Schicksal Horst-Emschers« müsse »unter dem wegen seiner überragenden Bedeutung für das Allgemeinwohl, alles andere beherrschend, im Vordergrund stehenden Gesichtspunkt getroffen werden, daß das kommunale Zusammenwirken von Buer und Gelsenkirchen in jeder Weise gefördert und möglichst eng gestaltet wird. Dazu aber ist die Gemeinde Horst-Emscher und ihr Gebiet unentbehrlich und zwar ungeteilt.«30

Die durch die Gesetzesvorlage bezüglich Gelsenkirchen, Horst und Buer getroffenen Regelungen werden damit abstrakt zunächst einmal als »Entscheidung« bezeichnet, nur um dann deutlich zu machen, dass diese Entscheidung eigentlich keine ist, weil mit ihr eine andere Frage verbunden ist, deren Antwort zugleich schon fast mitgeliefert wird. Im weiteren Verlauf werden inhaltliche 28 Ebd., Sp. 14. 29 Ebd., Sp. 27. 30 Ebd., Sp. 27 f.

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Gründe und Gutachten »zur Prüfung« angeführt, um dann noch einmal deutlich zu machen: »Muß aus allen diesen Gründen die Angliederung von Horst Emscher an die Städtegruppe Gelsenkirchen-Buer als die gegebene Lösung erscheinen, so steht, was das kommunale Zusammenwirken dieser beiden Städte selbst betrifft, die Staatsregierung auf dem Standpunkt […], daß dies […] nur durch die völlige Verschmelzung zu einer kommunalen Einheit – unter gleichzeitiger Angliederung von Horst-Emscher – geschehen kann.«31

Im weiteren Verlauf der Argumentation bemüht sich die Staatsregierung weiterhin darum, auch die Frage nach der »Vereinigung« zwischen Gelsenkirchen und Buer dahingehend zu vereindeutigen, dass ein Zweckverband nicht ausreichend, sondern ein vollständiger Zusammenschluss ›notwendig‹ sei. Die Staatsregierung setzte sich mit dem Gesetzesentwurf über die Ablehnung der Stadtverordnetenversammlung von Buer hinweg, doch wie ging sie mit der durch die Ablehnung aufgeworfenen Alternative um? Wie wird sie in die Erzählung eingegliedert? Die Stadtverordnetenversammlung von Buer fügte zur Ablehnung eine Stellungnahme an, in der sie deutlich machte, eine völlige Zusammenlegung nicht überstürzt vornehmen und den Zusammenschluss an die Bedingung der »Aufteilung des gesamten Industriebezirks« knüpfen zu wollen.32 Diese Argumentation beinhaltet nicht nur zeitliche, sondern auch inhaltlich-konditionale Forderungen. Die Staatsregierung reduzierte die Argumentation auf einen zeitlichen Aspekt und merkte an, dass bezüglich des Zusammenschlusses »nur hinsichtlich des Zeitpunktes Meinungsverschiedenheiten bestehen«.33 Weil nun aber über das »Schicksal der nicht mehr lebensfähigen Gemeinde Horst-Emscher schleunigst entschieden werden« müsse, sei eine sofortige Zusammenlegung im »Interesse der Allgemeinheit« unabdingbar.34 Zusammenfassend argumentierte die Staatsregierung in ihrer Begründung etwa so: Weil Gelsenkirchen neues Siedlungsgelände brauche, müsse es mit Buer zusammengelegt werden; um diese Zusammenlegung sinnvoll durchführen zu können, müsse Horst-Emscher in Gänze Buer zugeschlagen werden. Weil aber HorstEmscher unbedingt, und zwar möglichst schnell, mit einer größeren Stadt vereinigt werden müsse, müsse nun auch schleunigst Buer mit Gelsenkirchen zusammengeschlossen werden, weil Buer nur dann dazu fähig sei, die Leistungsunfähigkeit von Horst-Emscher aufzufangen, wenn es mit Gelsenkirchen eine Einheit bildete. In ihrer Grundstruktur wurde die vorgebrachte Argumentation in der ersten Beratung über das Gesetz im Landtag vom Innenminister weitestgehend wiederholt und noch einmal bekräftigt:

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Ebd., Sp. 28. Ebd., Sp. 29. Ebd., Sp. 30. Ebd., Sp. 29 f.

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»Die Ihnen vorgeschlagene Vereinigung der Städte Gelsenkirchen und Buer findet ihren unmittelbaren Anlaß in der Leistungsunfähigkeit der Gemeinde Horst-Emscher des Landkreises Recklinghausen, die eine Vereinigung dieser Gemeinde mit einer anderen Gemeinde notwendig macht. […] Für die Zuteilung kamen zunächst in Betracht die Städte Gladbeck und Buer. Nach eingehender Prüfung habe ich in diesem Punkte entgegen dem Gutachten des Provinzialausschusses die Vereinigung mit der Stadt Buer für das Richtige gehalten, aus Gründen, die im Einzelnen in der Begründung der Vorlage dargelegt sind und die ich nachzulesen bitte. Entscheidend war hierbei aber die Tatsache, daß die Gemeinde Horst-Emscher ein untrennbarer Bestand der Städteverbindung Buer-Gelsenkirchen war, die bereits in einem früheren Gutachten des Siedlungsverbandes als notwendige Entwicklung erkannt war. Der Erkenntnis, daß die Zukunftsentwicklung der raumarmen Stadt Gelsenkirchen nur in einer Vereinigung mit der Stadt Buer liegen kann, hat auch der Landtag bei der Beratung des Gesetzes vom 26. Februar 1926 […] Rechnung getragen[.] […] Vor allem muß die Zuteilung der Gemeinde Horst-Emscher zu einer endgültigen Lösung des Verhältnisses zwischen den beiden Städten führen, da ja die Gemeinde Horst nicht zu einem von ihnen allein gehört.«35

Insgesamt ist bezüglich der Begründungen zu Horst-Gelsenkirchen-Buer festzustellen, dass die Zusammenlegung zwar durchaus auch im Wortlaut als Entscheidung bezeichnet wird, die von der Staatsregierung vorgeschlagene Regelung aber durch die konditionalen Verknüpfungen eben nicht als das Ergebnis eines offenen Entscheidungsprozesses mit unterschiedlichen Alternativen dargestellt wird, sondern im Hinblick auf übergeordnete politische Ziele (das Allgemeinwohl und die angestrebte Einheit von Wirtschaft, Infrastruktur und Verwaltung) sowie die zeitliche Notwendigkeit als die einzige Möglichkeit und damit als alternativlos. Diese Deutung, mit der der kontingente Charakter der vorgeschlagenen Regelung letztlich negiert wurde, ergab sich zwar auch durch die Beschaffung von Gutachten und die Abwägung von Sachfragen, wurde zudem aber noch einmal untermauert durch eine Verknüpfung verschiedener Pfadabhängigkeiten. Auch wenn es eigentlich auf der Hand liegt, dass es sich bei der Veränderung kommunaler Grenzen um eine kontingente Entscheidung handelt, so stellt sich nach der Betrachtung dieser Aussagen die Frage, inwiefern diese Kontingenz auch dem Staatsministerium bewusst war und inwiefern der sprachlichen Darstellung als ›alternativlose Entscheidung‹ ein gewisses Kalkül zu Grunde lag. Hierfür lohnt sich eine Beschäftigung mit den vorbereitenden Unterlagen des Ministerialdirektors von Leyden, die die Verhandlungen und Korrespondenzen aus dem Jahr 1927 vor Fertigstellung des Gesetzesentwurfes im November wiedergeben. Noch im März und April des Jahres 1927 warben sowohl der Ober­bürgermeister von Buer, Emil Zimmermann, als auch Karl v. Wedelstädt, der Oberbürgermeister von Gelsenkirchen, für die rasche Bildung eines 35 Vgl. ebd., Sp. 22048.

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Zweckverbandes zwischen Buer und Gelsenkirchen sowie die dafür unbedingt erforderliche Eingemeindung von Horst. Ebenso fügten beide die positiven Stellungnahmen des Magistrates bzw. der Stadtverordnetenversammlung mit an.36 Bereits ab Ende April wurden jedoch informelle Absprachen zwischen den Oberbürgermeistern von Gelsenkirchen und Buer sowie dem Regierungspräsidenten von Arnsberg und dem Verbandsdirektor des Ruhrsiedlungsverbandes deutlich, die alle Bezug auf einen Zusammenschluss von Buer, Gelsenkirchen und Horst nahmen.37 In einem Vermerk zu einer Besprechung zwischen dem Ministerialdirektor, den Oberbürgermeistern, dem Verbandsdirektor, dem Amtmann von Horst und dem Regierungsvizepräsidenten von Arnsberg vom 31.05.1927 werden die jeweiligen Positionen umrissen: Die Eingemeindung befürwortete v. Wedelstädt, während Oberbürgermeister Zimmermann ebenso skeptisch war wie der Verbandsdirektor Schmidt; der Ministerialdirektor hielt vehement an der Eingemeindung von Horst und Buer nach Gelsenkirchen trotz vorgebrachter Alternativvorschläge (Eingemeindung im Gesetz auf »in 5 Jahren« festschreiben) und der ablehnenden Haltung des »später herbeigerufen[en]« Amtmanns von Horst fest. Gleichzeitig forderte er Oberbürgermeister Zimmermann dazu auf, »dafür [zu] sorgen, dass, wenn nicht Zustimmung erfolgt, die Ablehnung nicht zu schroff ausfällt.« Ebenso wurde Verbandsdirektor Schmidt gebeten, »einen Bericht zu machen, der die Notwendigkeit des völligen Zusammenschlusses darstellt und warum Zw[eck]v[erband] überholt gefährlich ist.«38 Dieser »Bericht« wurde in den nachfolgenden Argumentationen gegenüber den beteiligten Regierungspräsidenten zu einem »Gutachten«, welches »ebenfalls die Notwendigkeit des alsbaldigen Zusammenschlusses der beiden Städte betont«.39 Bevor der in Auftrag gegebene und von Schmidt verfasste Bericht weitergeleitet wurde, korrigierte ihn der Ministerialdirektor und insistierte sehr deutlich darauf, jeglichen Hinweis auf Vorteile des Zweckverbandes aus dem Bericht zu streichen,

36 Oberbürgermeister Zimmermann an Ministerialdirektor v. Leyden v. 11.03.1927 und Oberbürgermeister v. Wedelstädt an Ministerialdirektor v. Leyden v. 16.04.1927, in: Geheimes Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz (GStA PK), I . HA , Rep. 77, Tit. 3301, Nr. 4, Bd. 1. 37 So schreibt Verbandsdirektor Schmidt im April 1927: »In der Besprechung der Eingemeindungsangelegenheit Horsts am 22. April 1927 machten Sie den Vorschlag, der Frage der sofortigen Vereinigung der Städte Gelsenkirchen und Buer näher zu treten.«, Verbandsdirektor Schmidt an v. Leyden v. 25.04.1927, in: GStA PK , I . HA , Rep. 77, Tit. 3301, Nr. 4, Bd. 1, Fol. 17. 38 Vermerk Ministerialdirektor v. Leyden v. 03.06.1927, in: GStA PK , I . HA , Rep. 77, Tit. 3301, Nr. 4, Bd. 1, Fol. 33 f. 39 Ministerium des Inneren an Regierungspräsidenten Münster v. 14.07.1927, in: GStA PK , I . HA , Rep. 77, Tit. 3301, Nr. 4, Bd. 1, Fol. 48. Dass der Begriff »Gutachten« bewusst gewählt wurde, zeigt die handschriftliche Korrektur eines Entwurfs im Juni 1927, in: GStA PK , I . HA , Rep. 77, Tit. 3301, Nr. 4, Bd. 1, Fol. 35r. Hier wird unter anderem das Wort »Bericht« durch »Gutachten« ersetzt.

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um keinerlei argumentativen Anknüpfungspunkt gegen eine Eingemeindung zu bieten.40

4. Interpretation der Legitimationsnarrative bei den betroffenen Akteuren Wie aber wurde diese Narration von der »sachlich richtigen« und einzig möglichen Entscheidung von den beteiligten Akteuren aufgenommen? Hier gilt es, zwischen den verschiedenen Akteursgruppen zu differenzieren. Zunächst einmal sind die – abseits des preußischen Landtags – beteiligten Funktionsträger zu nennen. Es wird eine skeptische Haltung von Oberbürgermeister Zimmermann und Verbandsdirektor Schmidt deutlich, indem beide auf die »Mentabilität der beteiligten Körperschaften« und den zu erwartenden Widerspruch des Zentrums hinwiesen, so dass ihrer Auffassung nach »ein forciertes Betreiben der Sache eher schaden als nützen« würde.41 Insofern argumentierten beide auf einer anderen Ebene – nicht die sachlich richtige Notwendigkeit wird in Frage gestellt, sondern die zeitlichen Umstände werden als ungünstig für das ›Gelingen‹ der an sich richtigen Entscheidung erklärt. Gelsenkirchens Oberbürgermeister v. Wedelstädt hingegen begrüßte eine sofortige Vereinigung euphorisch und verlieh seiner Freude darüber Ausdruck, »dass die Staatsregierung hier einmal die Kühnheit hat, noch über die Initiative der Gemeinden hinweg ein klar erkanntes großes Ziel ohne Zögern erreichen zu wollen«. Er offenbarte aber auch Motive, die nicht allein ein großes Ziel vor Augen hatten, indem er darauf verweist, dass der Zweckverband zur Folge gehabt hätte, dass »die meisten seiner Arbeiten auf dem Gebiete der jetzigen Stadt Buer ausgeführt werden müssten, während die Bezahlung natürlich zu etwa 2/3 aus der Stadtkasse von Gelsenkirchen zu leisten gewesen wäre.«42 Insgesamt aber rekurrierte v. Wedelstädt vehement und wiederholt auf das Narrativ von der sachlich richtigen und notwendigen Entscheidung der Eingemeindung.43

40 Diese Streichung hat der Ministerialdirektor zwar wohl mündlich veranlasst, aber sie spiegelt sich in der schriftlichen Antwort Robert Schmidts wider, der darauf hinweist, dass er mit der Streichung eines bestimmten Passus einverstanden sei, da auch er es richtig finde, »in diesem Stadium, in dem es darauf ankommt, die sofortige restlose Vereinigung zu erstreben, jeden Hinweis auf die Vorteile eines Zweckverbandes zu unterlassen, weil sonst jeder Zweifelnde dahinter haken würde.« Schmidt an v. Leyden v. 09.07.1927, in: GStA PK , I . HA , Rep. 77, Tit. 3301, Nr. 4, Bd. 1, Fol. 42. 41 Verbandsdirektor Schmidt an Ministerialdirektor v. Leyden v. 25.04.1927, in: GStA PK , I . HA , Rep. 77, Tit. 3301, Nr. 4, Bd. 1, Fol. 17. 42 Oberbürgermeister v. Wedelstädt an Ministerialdirektor v. Leyden v. 05.05.1927, in: GStA PK , I . HA , Rep. 77, Tit. 3301, Nr. 4, Bd. 1, Fol. 18. 43 Vgl. etwa exemplarisch Oberbürgermeister v. Wedelstädt an den preußischen Innenminister v. 08.10.1927, in: GStA PK , I . HA , Rep. 77, Tit. 3301, Nr. 4, Bd. 1, Fol. 64.

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Der Amtmann von Horst argumentierte allein aus der Perspektive der von ihm geleiteten Gemeinde und machte darauf aufmerksam, dass Horst damit rechnete, weniger Einflussmöglichkeiten in einer Großkommune zu besitzen, und sich deswegen gegen eine Eingemeindung aussprechen würde.44 Der von der Amts- und Gemeindeversammlung von Horst getroffene Beschluss bezüglich der Eingemeindung besagt dann jedoch, dass sich »die Gemeinde HorstEmscher […] einer Entscheidung im Sinne des Vorschlags der Staatsregierung auf Bildung einer Stadt Gelsenkirchen-Buer-Horst unterwerfen« werde.45 Auf die offizielle Stellungnahme der Stadtverordneten von Buer ist bereits an anderer Stelle hingewiesen worden, während die Stadtverordnetenversammlung von Gelsenkirchen nach einer Ansprache des Oberbürgermeisters, der die »Notwendigkeit des Zusammenschlusses« erläuterte, der Vereinigung zustimmte.46 Die protokollierten Äußerungen der Abgeordneten im preußischen Landtag lassen einen unterschiedlichen Umgang mit der Gesetzesvorlage erkennen. So lehnten die Kommunisten die in dem Gesetzestext vorgeschlagenen Grenzänderungen ab. Sie betrachteten den gesamten Entwurf als »Stückwerk«, da sie die Bildung der »Ruhrstadt«, das heißt die Vereinigung des rheinisch-westfälischen Ruhrgebiets zu einer einzigen Großstadt, als »einzige Möglichkeit [betrachten,] die Probleme deren Lösung dort notwendig ist, zu lösen«.47 Mit dieser Forderung wurden alle Eingemeindungsvorschläge der Gesetzesvorlage zueinander in Beziehung gesetzt und aus dieser Perspektive als unzureichendes »Stückwerk« betrachtet. Bezüglich der Bildung von Gelsenkirchen-Buer wurde insbesondere moniert, dass Westerholt als eigenständige Gemeinde erhalten bliebe.48 Festzuhalten bleibt, dass sich die Kommunisten durch den Rückbezug auf die Ruhrstadt gänzlich unbeeindruckt vom »Notwendigkeitsnarrativ« der Gesetzesvorlage zeigten. Die Deutsche Volkspartei (DVP) bezog zwar keine eindeutige Stellung zu der Gesetzesvorlage, setzte jedoch dem Narrativ der sofortigen Notwendigkeit und der eindeutigen Entscheidungsmöglichkeiten gezielt eine andere Sichtweise entgegen. So bezeichnete der Abgeordnete es als »etwas gesucht«, dass für Gelsenkirchen schon wegen der bisher beschlossenen Grenzänderungen allein eine räumliche Ausdehnung nach Norden möglich sei.49 Ebenso wurde die dauerhafte Leistungsunfähigkeit von Horst in Frage gestellt und auf andere Beispiele verwiesen, in denen die wirtschaftliche Entwicklung nicht eindeutig vorhergesehen werden konnte. Dabei wurden keine Alternativen als eindeutig besser beschrieben, sondern es wurde lediglich der Umstand unterstrichen, dass es sich 44 Vgl. Vermerk Ministerialdirektor v. Leyden v. 03.06.1927, in: GStA PK , I . HA , Rep. 77, Tit. 3301, Nr. 4, Bd. 1, Fol. 33 f. 45 Vgl. Sitzungsberichte 1927 (wie Anm. 24), Sp. 29 f. 46 Vgl. Protokoll Stadtverordnetenversammlung Gelsenkirchen v. 20.09.1927, in: GStA PK , I . HA , Rep. 77, Tit. 3301, Nr. 4, Bd. 1, Fol. 66. 47 Vgl. Sitzungsberichte 1927 (wie Anm. 24), Sp. 22054. 48 Vgl. ebd., Sp. 22056. 49 Vgl. ebd., Sp. 22052.

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»um schwierige Fragen« handelt, »die da an uns herantreten.«50 Insgesamt wird also die Kontingenz der einzelnen Entscheidungen herausgestellt, ohne sich auf eine Alternative festzulegen. Interessanterweise wurde die Rede über den Komplex Gelsenkirchen-Buer-Horst mit dem Hinweis eingeleitet, dass hierbei wohl »Verbandsdirektor Schmidt« der »Vater dieses Gedankens« sei – ein Umstand, der sich aus der Betrachtung der informellen Absprachen anders darstellt, aber bis heute in der Literatur so beschrieben wird.51 Wie wurde das Narrativ der Staatsregierung in der massenmedialen Öffentlichkeit – in diesem Fall den Lokalzeitungen und den eingereichten Denkschriften – aufgenommen? Ohne die Debatte an dieser Stelle im Detail auswerten zu können, sind hier unterschiedliche narrative Reaktionen im Umgang mit dem Gesetzesentwurf zu erkennen. Als erstes Beispiel ist ein Zeitungsartikel aus dem Jahr 1927 zu nennen. Hier löste gerade die im Gesetzesentwurf formulierte Notwendigkeit und Vereindeutigung der Entscheidung Empörung aus. Darin wurde die Frage gestellt: »Wer hat die Staatsregierung so falsch über Buer unterrichtet?«52 Dabei ging es darum, deutlich zu machen, dass die Bueraner Bevölkerung eine Eingemeindung nach Gelsenkirchen keineswegs als ›unkompliziert‹ betrachtete. Zudem wurde moniert, dass die »diktatorisch am grünen Tisch beschlossene Eingemeindung von Buer und Horst nach Gelsenkirchen als lächerlich bedeutungslose Angelegenheit im Rahmen der jetzt beabsichtigten Grenzänderungen« betrachtet werde.53 Das Motiv des ›diktatorischen‹ Vorgehens der Staatsregierung findet sich ebenso in einer Denkschrift der Zen­ trumsfraktion wie auch in weiteren Zeitungsartikeln.54 Darin wurde vermehrt darauf verwiesen, dass es ein solches Vorgehen weder im Kaiserreich noch bisher in der Weimarer Republik gegeben habe. Ins Feld geführt wurde dabei, dass es eben nicht nur die Gemeindevertretungen seien, die eine Eingemeindung ablehnten, sondern verschiedene Bevölkerungsgruppen, Verbände und Vereine.55 Eine weiterhin weit verbreitete Strategie ist der Hinweis darauf, dass durch die Eingemeindung von Buer und Horst nach Gelsenkirchen die Bildung einer kommunalen Einheit nur schwer erreicht werden könne und dass die im Gesetzesentwurf dargestellte »Universalität der gemeinsamen Interessen« eben nicht gegeben sei. Deswegen urteilte ein Zeitungsartikel: »Das gibt nie eine ›Ver50 Vgl. ebd., Sp. 22053. 51 Vgl. ebd., Sp. 22052. 52 Buersche Volkszeitung v. 07.11.1927, in: Institut für Stadtgeschichte Gelsenkirchen (ISG), Amt Horst 34. 53 Buersche Volkszeitung v. 07.11.1927, in: ISG , Amt Horst 34. 54 Vgl. zur Umgemeindungsfrage: Gelsenkirchen  – Buer  – Horst. Eine Denkschrift der Zentrumsfraktion der städtischen Körperschaften von Buer im Oktober 1927 sowie weitere Zeitungsartikel, in: ISG , Amt Horst 34. Dort auch ein Flugblatt mit dem Aufruf zur Zusammenkunft. Dort heißt es: »Schärfste Ablehnung einer solchen Regierungsdiktatur ist die einzig mögliche Antwort.« Ebenso finden sich hier zahlreiche weitere Artikel, die sich mit der Frage der Eingemeindung beschäftigen und auf Diktatur verweisen. 55 Vgl. Denkschrift Zentrum Buer (wie Anm. 54), S. 12–17.

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schmelzung‹! Weshalb Gelsenkirchen – Buer – Horst keine organische Einheit bilden kann«.56 Mit dieser Wortwahl rekurrierte der Autor einerseits auf den Gesetzesentwurf selbst und gleichzeitig auf eine zeittypische Begründungsfigur der Städteplanung, die sich als Disziplin in diesem Zeitraum erst herausbildete. Die Stadt sollte ›organisch‹ aufgebaut, wohlgeordnet und geplant, mit verschiedenen funktionalen Bezirken einen einheitlichen Gesamtverband bilden. In diesen Kontext der geplanten Stadt ist beispielsweise auch die Gartenstadtbewegung einzuordnen.57 Darüber hinaus wurde zumindest in der Denkschrift des Zentrums wiederholt auf die Leistungsfähigkeit Buers hingewiesen, die auch ohne eine Eingemeindung nach Gelsenkirchen ausreichend sei, um Horst ›aufzunehmen‹. So sollte auf der Sachebene das die zeitliche Dringlichkeit begründende Argument entkräftet werden, um so die Alternative der zeitlichen Verschiebung wieder möglich zu machen  – ein Punkt, der im Ausschuss für Gemeindeangelegenheiten, in dem der Gesetzesentwurf diskutiert wird, kon­ trovers behandelt wurde.58

5. Zusammenfassung Die Eingemeindungen in der Weimarer Republik markieren den Übergang von unsystematischen Einzelfallentscheidungen zu einer systematischen Neuregelung der kommunalen Grenzen im Ruhrgebiet, die auch als Planung verstanden werden kann. Im Zuge dieser veränderten Vorgehensweise verschob sich bei zunächst unveränderter Gesetzeslage auch der Ort des Entscheidens von allen beteiligten Akteuren hin zum gesetzgebenden Landtag. Um diese Verlagerung zu legitimieren, kamen im Wesentlichen zwei Strategien zum Einsatz: Zum einen wurden alle beteiligten Akteure verfahrensmäßig eingebunden, um deutlich zu machen, dass ihre Interessen Berücksichtigung finden, indem beispielsweise die Gemeindeparlamente befragt wurden. Blieb die Zustimmung auf dieser Ebene aus  – und dies hat vor allem der Blick auf die Narrative sichtbar gemacht  –, wurde in den Gesetzesbegründungen versucht, den dezisionären Charakter der Grenzänderungen und damit die Kontingenz der Entscheidung dadurch zu verdecken, dass die im Gesetz festgelegten neuen Grenzziehungen eben nicht als das Ergebnis von Entscheidungen dargestellt wurden. Vielmehr wurden die Grenzänderungen einerseits als korrektiver Nachvollzug der in wirtschaftlicher 56 Horster Volks-Zeitung v. 10.11.1927, in: ISG , Amt Horst 34. 57 Vgl. Leendertz, Ordnung schaffen (wie Anm. 19), S. 27–46; Dietmar Reinborn, Stadtebau im 19. und 20. Jahrhundert, Stuttgart 1996 und David Kuchenbuch, Eine Moderne nach »menschlichem Maß«. Ordnungsdenken und social engineering in Architektur und Stadtplanung – Deutschland und Schweden, 1920er bis 1950er Jahre, in: Thomas Etzemüller (Hg.), Die Ordnung der Moderne. Social engineering im 20. Jahrhundert, Bielefeld 2009, S. 109–128. Metzler / van Laak, Konkretion der Utopie (wie Anm. 18). 58 Vgl. hierzu die Mitschriften aus dem Ausschuss für Gemeindeangelegenheiten v. 13.01.1928 in: ISG , Amt Horst 35, S. 4–13.

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und siedlungstechnischer Hinsicht bereits vollzogenen Entwicklung bezeichnet. Andererseits stellten Staatsregierung und Landtag das Gesetz als diejenige Lösung dar, die mit Blick auf die abzusehenden Entwicklungen und die vorliegenden Informationen die zweckmäßigste war und dem Allgemeinwohl am meisten diente. Der preußische Landtag hatte demnach auch keine Entscheidung im eigentlichen Sinne getroffen, weil es dieser Deutung gemäß hierzu keine wirkliche Alternative gab, sondern er hatte lediglich erkannt, was die einzig richtige und zeitnah durchzuführende Lösung darstellte. Dieses Narrativ überzeugte, so konnte gezeigt werden, die direkt betroffenen Akteure, Gegner und Kritiker der ›Vereinigung‹ von Buer und Gelsenkirchen zwar nicht. Jedoch konnte so das Gros des Landtags von der Dringlichkeit der vorgeschlagenen Regelung – und zwar auch gegen den Willen der betroffenen Gemeinden – überzeugt werden, so dass schließlich der Entwurf für das Gesamtgesetz auch angenommen wurde.

Stefan Lehr

»Genossen, das geschieht nicht zufällig«1 Narrative des politischen Entscheidens in der staatssozialistischen Tschechoslowakei (1945–1989)

Narrative sind kulturspezifische, individuelle und kollektive Denkmuster, die Wahrnehmungen und Verhalten bilden und ausdrücken, so Walburga Hülk.2 Sie können zur Legitimitätserzeugung dienen.3 Sie rekurrieren vielfach auf Bekanntes, auf Denkfiguren, die im kulturellen, gebildeten oder auch populären Gedächtnis verankert sind. Das kann beispielsweise ein ideologisches oder auch ein propagandistisches Muster sein.4 Der vorliegende Beitrag fragt, wie und mit welchen Narrativen kommunistische Politiker in der staatssozialistischen Tschechoslowakei in ihren Reden und Schriften politisches Entscheiden darstellten. Welcher typischen, klischeehaften Erzählmuster bedienten sich die führenden Parteifunktionäre zur Beschreibung politischer Entscheidungsprozesse? Inwiefern veränderten sich diese Darstellungen im Laufe der Jahre, wie stark waren sie von Kontinuitäten und Diskontinuitäten geprägt? Zudem gilt es, nach der Funktion und Wirkung, die der erzählerischen Deskription des Entscheidens zukam, zu fragen. Die These des Beitrages ist, dass es typische, offizielle Narrative des politischen Entscheidens im Staatssozialismus gegeben hat. Diese beinhalteten mehrere, im Folgenden noch zu erläuternde Elemente und stellten Entscheidungsprozesse als modern, demokratisch und auf Verfahren beruhend dar. Dem Regime dienten diese Narrative zur Legitimitätserzeugung und Verschleierung der diktatorischen Herrschaftspraktiken. Die kommunistischen Machthaber besaßen dank der Kontrolle über die staatlich gelenkten Medien eine faktische Deutungshoheit. Sie konnten die Verbreitung abweichender Erzählmuster weitgehend unterbinden.5 Wie für die DDR kann man auch für die sozialistische 1 János Kornai, Kraft des Gedankens. Ungewöhnliche Erinnerungen an eine intellektuelle Reise, Wien 2011, S. 175. 2 Walburga Hülk, Narrative der Krise, in: Uta Fenske u. a. (Hg.), Die Krise als Erzählung. Transdisziplinäre Perspektiven auf ein Narrativ der Moderne, Bielefeld 2013, S. 113–131, hier S. 118. 3 Frank Gadinger u. a., Politische Narrative. Konturen einer politikwissenschaftlichen Erzähltheorie, in: Dies. (Hg.), Politische Narrative. Konzepte – Analysen – Forschungspraxis, Wiesbaden 2014, S. 3–38, hier S. 10. 4 Hülk, Narrative (wie Anm. 2), S. 125. 5 Darina Volf, Über Riesen und Zwerge. Tschechoslowakische Amerika- und Sowjetunionsbilder 1948–1989, Göttingen 2017, S. 20; Stephan Merl, Politische Kommunikation in der Diktatur. Deutschland und die Sowjetunion im Vergleich, Göttingen 2012, S. 43 f.

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Tschechoslowakei von einer »inszenierten Öffentlichkeit« sprechen.6 Jedoch trug die einseitige positive Selbstdarstellung des Regimes, die im Widerspruch zur Wahrnehmung weiter Teile der Bevölkerung stand, nicht zu dessen Glaubwürdigkeit bei. Im vorliegenden Beitrag werden zunächst die Bestandteile, die die Narrative des Entscheidens im Staatssozialismus prägten, wie das kollektive und einstimmige Entscheiden, präsentiert und analysiert. Daran knüpft eine chronologische Sequenz an, die insbesondere auf die Veränderungen während des Prager Frühlings 1968 und deren Revision in der daran anschließenden Zeit der »Normalisierung« sowie auf die Endphase der kommunistischen Herrschaft in der Tschechoslowakei eingeht. Als Quellengrundlage dienen primär die Reden und Aufsätze von Spitzenfunktionären der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei (KPTsch) auf Parteitagen,7 Zentralkomitee-Sitzungen8 und Parteikonferenzen.9 Die Ansprachen mehrerer Generalsekretäre der KPTsch publizierte die Partei.10 Darüber 6 Ralph Jessen, Diktatorische Herrschaft als kommunikative Praxis. Überlegungen zum Zusammenhang von »Bürokratie« und Sprachnormierung in der DDR-Geschichte, in: Alf Lüdtke / Peter Becker (Hg.), Akten, Eingaben, Schaufenster. Die DDR und ihre Texte. Erkundungen zu Herrschaft und Alltag, Berlin 1997, S. 57–75, hier S. 73. 7 X. sjezd Komunistické strany Československa. Projevy a dokumenty, in: Nová mysl 8, H. 7 (1954), S. 650–952; XI . sjezd Komunistické strany Československa. Zvláštní číslo (Nová mysl), Praha 1958; XII . sjazd Komunistickej strany Československa 4.–8. decembra 1962, Bratislava 1962; XIII . sjezd Kommunistické strany Československa. 31. května – 4. června 1966, Praha 1966; XIV. sjezd Komunistické strany Československa. Praha 25. května – 29. května 1971, Praha 1971; XV. zjazd Komunistickej strany Československa. Dokumenty  a materiály, Bratislava 1976; Dokumenty z jednání XVI . sjezdu KSČ , in: Nová mysl 35, H. 5 (1981), S. 19–175; Politická zpráva Ústředního výboru KSČ XVII . sjezdu Komunistické strany Československa, in: Nová Mysl 40, H. 4 (1986), S. 5–43. Seit dem 14. Parteitag (1971) liegen jeweils die Reden und Dokumente auch in deutscher Übersetzung vor: Ansprachen und Resolution des XIV. Parteitages der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. 25.–29. Mai 1971, Prag 1971; XV. Parteitag der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei 12. bis 16. April 1976, Berlin 1976; Der XVI . Parteitag der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Prag, 6.–10. April 1981, Prag 1981; XVII . Parteitag der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Prag, 24.–28. März 1986, Prag 1986. 8 Klement Gottwald, Bericht auf der Tagung des Zentralkomitees der KPČ am 22. Februar 1951, Prag 1951. 9 Antonín Novotný, Die gegenwärtige Situation und die Aufgaben der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Referat des Ersten Sekretärs des Zentralkomitees der KPTsch auf der Landeskonferenz der KPTsch am 11. Juni 1956, Berlin 1956. 10 Klement Gottwald, Spisy XII : 1945–1946, Praha 1955; ders., Spisy XIII : 1946–1947, Praha 1957; ders., Spisy XIV: 1947–1948, Praha 1958; ders., Spisy XV: 1948–1949, Praha 1961; ders., Vybrané spisy ve dvou svazcích. Sv. 2: 1939–1953, Praha 1955; ders., Aus seinen Werken 1944–1949, Prag 1981; ders., Ausgewählte Reden und Aufsätze, Berlin 1955; ders., Ausgewählte Reden und Schriften 1925–1952, Berlin 1974; Rudolf Slánský, Jak zajistit budování socialismu v  naši vlasti. Referát na IX . řádném sjezdu Komunistické strany Československa v  Praze dne 26. května 1949, Praha 1949; Antonín Zápotocký,

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hinaus erschienen im Zentralorgan des Zentralkomitees (ZK) der KPTsch , der Tageszeitung Rudé právo (»Rotes Recht«), und in anderen parteieigenen Publikationsorganen wie der Monatszeitschrift Nová mysl (»Neuer Gedanke«) regelmäßig Beiträge der führenden Politiker. Diese Texte schrieben die Spitzenfunktionäre in der Regel nicht selbst, sondern sie entstanden im Zentralkomitee und wurden vor der Veröffentlichung in dessen Präsidium besprochen und genehmigt. Somit kann man in ihnen eine »kollektive gesellschaftliche Erzählung« sehen, die sich als Narrativ bezeichnen lässt.11

1. Elemente staatsozialistischer Entscheidensnarrative Die kommunistischen Erzählmuster des politischen Entscheidens waren in der sozialistischen Tschechoslowakei stark von Kontinuitäten geprägt. Zu ihren Bestandteilen zählen die Berufung auf die Sowjetunion, die Kommunistische Partei der Sowjetunion (KPdSU) und den Marxismus-Leninismus. Diese dienten als Inspirationsquelle, um richtige Beschlüsse zu treffen. Zudem wurde – unabhängig von der Realität – über den gesamten in Betracht gezogenen Zeitraum in den staatlich gelenkten Medien auf das kollektive Entscheiden sowie die Einstimmigkeit, mit der Entscheidungen getroffen wurden, rekurriert. Gewisse zu beobachtende Veränderungen der Entscheidungsnarrative gingen mit allgemeinen gesellschaftlichen und politischen Entwicklungen innerhalb des »Ostblocks«, wie der Entstalinisierung nach 1956 oder der »wissenschaftlichtechnischen Revolution (WTR)« seit den 1960er Jahren, einher.12 In Phasen der politischen Liberalisierung, wie in der Zeit des Prager Frühlings, lassen sich Výbor z díla 2, Praha 1984; Antonín Novotný, Projevy a stati 1: 1954–1957, Praha 1964; ders., Projevy a stati 2: 1958–1962, Praha 1964; ders., Projevy a stati 3: 1962–1964, Praha 1964; Vybrané prejavy prvého tajomnika ÚV KSČ súhdruha A.  Dubčeka. K  otázkam obrodzovacieho procesu v  KSČ , Bratislava 1968; Gustáv Husák, Ausgewählte Reden und Aufsätze. April 1969  – April 1971, Berlin 1971; ders., Die Tschechoslowakei für Sozialismus und Frieden. Ausgewählte Reden und Aufsätze 1944–1977, Frankfurt a. M. 1978; ders., Výbor z projevů a statí I & II : 1969–1981, Praha 1982; ders., Vybrané prejavy. Máj 1970  – december 1971, Bratislava 1972; ders., Prejavy  a state. Február 1972  – jún 1974, Bratislava 1976; ders., Projevy a stati. Srpen 1974 – duben 1976, Praha 1977; ders., Projevy a stati. Květen 1976 – prosinec 1978, Praha 1979; ders., Projevy a stati. Leden 1979 – duben 1981, Praha 1981; ders., Projevy a stati. Květen 1981 – prosinec 1983, Praha 1984; ders., Výbor z projevů a statí. II : 1969–1985, Praha 1986; ders., Z projevů a statí. Leden 1984 – červen 1987, Praha 1987; ders., Speeches and Writings, Oxford 1986; Vasil Bil’ak, Vybrané projevy a stati. I: 1953–1971, Praha 1980; ders., Vybrané projevy a stati. II : 1971–1980, Praha 1980; Jozef Lenárt, Vybrané projevy a stati I 1949/1972, Praha 1983, ders., Vybrané projevy a stati II 1973–1980, Praha 1983. 11 Vgl. Dominik Schreiber, Narrative der Globalisierung. Gerechtigkeit und Konkurrenz in faktualen und fiktionalen Erzählungen, Wiesbaden 2015, S. 14. 12 Vgl. beispielsweise Arnold Bucholz, Die Rolle der wissenschaftlich-technischen Revolution (WTR) im Marxismus-Leninismus, in: Nico Stehr (Hg.), Wirtschaftssoziologie. Studien und Materialien, Wiesbaden 1975, S. 457–478; Stefan Guth, One Future Only.

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Modifikationen der ursprünglichen Narrative feststellen. Dies trifft auch auf die Perestrojka-Periode Ende der 1980er Jahre zu, als Wahlmöglichkeiten beim Entscheiden wieder eine größere Bedeutung gewannen. Die kommunistischen Politiker versuchten, politische Entscheidungsprozesse in der Öffentlichkeit als modern, demokratisch, auf Analyse und wissenschaftlicher Grundlage beruhend darzustellen. Sie beriefen sich dabei auf mehrere kollektive, in der Regel sowohl staatliche als auch parteiliche Institutionen, die Parteitage sowie auf formalen Verfahren beruhende Abläufe. Gustáv Husák schilderte beispielsweise in einer Rede im Mai 1970, dass der Präsident der Republik auf Vorschlag des ZK-Präsidiums der KPTsch und der Regierung den sowjetischen Generalsekretär Leonid Brežnev durch die Verleihung der höchsten Auszeichnung des Landes  – dem Ehrentitel »Held der ČSSR«  – gewürdigt habe.13 Auch für die Sozialpolitik lässt sich diese Nennung mehrerer Institutionen beobachten, die gemeinsam über etwas entschieden. So hatte das Zentralkomitee der KPTsch zusammen mit der Regierung und der Gewerkschaft über die Verlängerung der Dauer des Mutterschaftsurlaubs von einem auf zwei Jahre nach Geburt eines zweiten und weiterer Kinder im Jahre 1971 entschieden. Dabei habe man sich auf die Ergebnisse des XIV. Parteitags im Mai desselben Jahres gestützt.14 Auch hinsichtlich einer Rentenerhöhung heißt es in demselben Dokument, dass die bereits oben genannten Institutionen (ZK , Regierung, Gewerkschaft) diese im Sinne der Beschlüsse des XIV. Parteitags gemeinsam angenommen hätten.15 Auf diese Weise wurden – entgegen der Realität – Organe und Orte wie die Regierung und der Parteitag oder das Parlament als Entscheidungszentren und -orte inszeniert. In der Praxis war es aber so, dass zunächst das Präsidium des Zentralkomitees der KPTsch einen Beschluss bewilligen musste. War dies der Fall, stimmten die anderen Organe nur noch formal zu.16 Den im fünfjährigen Rhythmus stattfindenden Parteitagen kam als inszenierter Entscheidungsort eine zentrale Rolle zu.17 Betrachtet man die Beschrei-

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The Soviet Union in the Age of the Scientific-Technical Revolution, in: Journal of Modern European History 13 (2015), S. 355–376. Rede G. Husáks auf der Prager Burg anlässlich des Abschlusses des Vertrages über Freundschaft, Zusammenarbeit und gegenseitigen Beistand mit der Sowjetunion, 6.5.1970, in: Husák, Die Tschechoslowakei (wie Anm. 10), S. 111 f. Ebenso verfuhr man gegenüber Nikolaj Podgorny, dem Vorsitzenden des Präsidiums des Obersten Sowjets, und Alexej Kossygin, dem Ministerratsvorsitzenden der UdSSR , – beide wurden mit dem Orden des »Weißen Löwen« ausgezeichnet. Ebd., S. 112. Rede G. Husáks auf einer gemeinsamen Tagung des ZK der KPTsch und des Zentralvorstandes der Nationalen Front in Prag am 17.9.1971, in: ebd., S. 134–154, hier S. 136 f. Ebd., S. 138. Vgl. hierzu beispielsweise Stefan Lehr, Das Politbüro als Ort des politischen Entscheidens in der sozialistischen Tschechoslowakei in der Zeit der sogenannte Normalisierung (1969–1989), in: Thomas Großbölting / Stefan Lehr (Hg.), Politisches Entscheiden im Kalten Krieg. Orte, Praktiken und Ressourcen in Ost und West, Göttingen 2020, S. 127–145. Vgl. für die DDR Jessen, Diktatorische Herrschaft (wie Anm. 6), S. 63.

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bung der dortigen Entscheidensprozesse, so wird die Betonung des vermeintlich demokratischen und wissenschaftlichen Charakters deutlich. Für den XII . Parteitag im Dezember 1962 entschied beispielsweise das Zentralkomitee im April desselben Jahres, zunächst eine umfassende Analyse des Standes der Volkswirtschaft und einen neuen Volkswirtschaftsplan zu erarbeiten.18 Zudem wurde ein Dokument »Über die Perspektiven der weiteren Entwicklung unserer sozialistischen Gesellschaft« veröffentlicht und dadurch sei reges Interesse innerhalb der Partei geweckt und eine intensive Diskussion hervorgerufen worden, die eine Reihe von Hinweisen eingebracht habe.19 Auch in anderen parteieigenen Darstellungen werden die Diskussionen und Analysen, die den Beschlüssen des Zentralkomitees bzw. des Parteitages vorrausgingen, akzentuiert.20 Die propagandistische Täuschung durch das kommunistische Regime ging so weit, dass es das Volk als Entscheidungsträger darstellte. So sollte das sozialistische politische System »die demokratische Grundlage bilden, die es den breiten Volksmassen ermögliche, am öffentlichen Leben teilzunehmen und über politische, ökonomische und kulturelle Fragen des gesellschaftlichen Lebens zu entscheiden«, wie es in der offiziellen Geschichte der KPTsch hieß.21 Dass es sich dabei jedoch um die Manipulation aller quasi-demokratischen Entscheidungen handelte, blieb der Bevölkerung nicht verborgen. Das Präsidium des Zentralkomitees und dessen Apparat bereiteten die Diskussionen und Beschlüsse auf den ZentralkomiteeSitzungen und den Parteitagen sorgfältig vor.22 Das wichtigste Element der kommunistischen Entscheidensnarrative war das Leninsche Prinzip der kollektiven Führung.23 Selbst als Stalin in der UdSSR diktatorisch regierte und den Parteigremien eine reine Fassadefunktion zukam,24 18 Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPTsch (Hg.), Geschichte der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei, Berlin 1981, S. 278. 19 Ebd., S. 278. 20 Beispielsweise: »Nach mehreren Diskussionen und Analysen nahm die Tagung des Zentralkomitees der KPTsch im Januar 1965 das Dokument »Grundsätze des vervollkommneten Systems der planmäßigen Leitung« und die entsprechenden Beschlüsse an.« Ebd., S. 284. Auf der Grundlage einer Analyse der Hauptursachen, die zu der innerparteilichen und gesellschaftlichen Krise geführt hatten, beschloss das Zentralkomitee auf einer Dezembertagung 1970 das Dokument »Lehren aus der krisenhaften Entwicklung in der Partei und der Gesellschaft nach dem XIII . Parteitag der KPTsch«. Ebd., S. 306. 21 Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPTsch, Geschichte der Kommunistischen Partei (wie Anm. 18), S. 338. 22 Ota Šik, Das kommunistische Machtsystem, Hamburg 1976, 153 f.; Jiří Pelikan, Ein Frühling, der nie zu Ende geht. Erinnerungen eines Prager Kommunisten, Frankfurt a. M. 1976, S. 172 f. 23 Jan Večeřa, Kolektivnost – leninská zásada stranického vedení, Praha 1959; Tomáš Mrhal, Co jsou leninské principy a normy stranického života, Praha 1983, S. 35–39; Ders. / Miroslav Šolc, Kolektivnost vedení a osobní odpovědnost v činnosti stranické organizace, Praha 1983, S. 8–17; Ján Machyniak, Kolektívnosť – najvyššia zásada stranického vedenia, Bratislava 1984; Leninské principy a metody stranického vedení, Praha 1986, S. 141–162. 24 Vgl. Oleg Chlevnjuk, Das Politbüro. Mechanismen der politischen Macht in der Sowjetunion der dreißiger Jahre, Hamburg 1998; ders., Master of the House. Stalin and his Inner

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hatte dieser Grundsatz offiziell Geltung. Das tschechische Präsidiumsmitglied Josef Frank erläuterte ihn beispielsweise im Februar 1951 in einer Ansprache auf einer Sitzung des Zentralkomitees der KPTsch in Prag. Die bolschewistische Methode der Organisationsleitung sei die der kollektiven Führung. Eine Organisation richtig zu leiten, heiße, alle Fragen gemeinschaftlich zu beurteilen und zu entscheiden. Kritik und Selbstkritik seien ständig weiterzuentwickeln und man habe auf eine enge Verbindung mit den Parteiorganisationen, -mitgliedern sowie auch den Parteilosen zu achten. Beschlüsse der Partei sollen das Werk kollektiver Anstrengung sein, die aufgrund solider Sachkenntnis zu fällen seien. Eine gründliche Auseinandersetzung mit der Materie habe den Entscheidungen voranzugehen. Frank berief sich auf Stalin, den er zitierte: Treffe nur eine Person einen Beschluss, begehe die Partei einen schweren Fehler. In der KPTsch komme es noch häufig vor, dass nur einige wenige oder auch nur ein einziger Funktionär unvorbereitet sowie ohne Kommunikation und Überprüfung Entscheidungen träfen.25 Nach dem Tode Stalins und Gottwalds im Jahre 1953 erfuhr das Prinzip des »kollektiven Leitens und Entscheidens« aus der Zeit Lenins – dem sowjetischen Vorbild folgend – auch in der Tschechoslowakei eine eindeutige Aufwertung. Auch wenn in dem Land die Entstalinisierung bedeutend zögerlicher verlief als in anderen osteuropäischen Ländern, lässt sich diese Entwicklung auch hier beobachten.26 So hob das Plenum des Zentralkomitees der KPTsch im Dezember 1953 den Grundsatz der kollektiven Parteiführung explizit hervor.27 Die Partei solle über grundlegende Fragen nur nach vorheriger, gemeinschaftlicher Verhandlung entscheiden. Es sei falsch, Beschlüsse auf der Grundlage der Erfahrungen einzelner Personen zu treffen, ohne die »Weisheit des Kollektivs« zu berücksichtigen. Solche Entscheidungen seien »immer oder fast immer einseitig«.28 Auf dem X . Parteitag der KPTsch im Juni 1954 trug der ein Jahr zuvor neu gewählte Generalsekretär Antonín Novotný den Bericht des Zentralkomitees vor.29 In diesem ging Novotný mehrmals auf die kollektive Führung ein. Sie sei, Circle, New Haven 2009; ders., Stalinskoe politbjuro v 30-e gody. Sbornik dokumentov, Moskva 1995; ders., Stalin. Eine Biographie, München 2015. 25 K některým vnitrostranickým otázkám. Referát soudruha Josefa Franka, in: Zasedání ÚV KSČ ve dnech 21.–24.2.1951 na hradě pražském, Praha 1951, S. 135–164, hier S. 144 f. 26 Dies hing damit zusammen, dass mehrere Personen der Parteiführung selbst noch in die Verbrechen der stalinistischen Zeit verstrickt gewesen waren. Deswegen war ihnen nicht an deren Aufklärung gelegen. Vgl. Muriel Blaive, Une déstalinisation manquée. Tchécoslovaquie 1956, Brusel 2005; dies., Promarněná příležitost. Československo a rok 1956, Praha 2001. 27 Vgl. Kolektivnost – základní zásada stranického vedení, in: Rudé právo, 18.12.1953, S. 1. 28 Ebd. 29 Zu Novotný vgl. Karel Kaplan / A ntonín Novotný, Vzestup a pád »lidového« aparátčíka, Brno 2011. Novotnýs Neujahrsansprachen behandelt Jan Kalous, Nezapomenutelné novoroční projevy »nejkrásnějšího« prezidenta, in: Jiří Petráš / Libor Svoboda (Hg.), Předjaří. Československo 1963–1967, České Budějovice 2016, S. 170–176.

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so Novotný, der höchste Grundsatz, um die Partei zu leiten. Deswegen schlug das Zentralkomitee dem Parteitag vor, dieses Prinzip Lenins in den Parteistatuten zu verankern.30 Es sei ein »untrennbarer Bestandteil der innerparteilichen Demokratie« und gebe die beste Gewähr für richtige Beschlüsse. Zudem garantiere es eine aktive Teilnahme aller Parteimitglieder am Entscheidungsprozess. Andererseits betonte Novotný einschränkend, dass das Prinzip der Kollektivität nicht die Bedeutung der persönlichen Verantwortung abschwächen dürfe, da die Tendenz bestehe, unter dem Mantel der Gemeinschaft die Verantwortlichkeit von sich zu weisen. Außerdem sei die Autorität der Parteiführung nicht zu mindern.31 Der Erste Sekretär der KPdSU, Nikita Chruščev, kritisierte in seiner berühmt gewordenen Geheimrede auf dem XX . Parteitag der KPdSU am 25. Februar 1956 den Personenkult um Stalin und die unter seiner Herrschaft erfolgten Gewaltexzesse.32 Nachdem der tschechoslowakische Generalsekretär Antonín Novotný dem sowjetischen Parteitag in Moskau beigewohnt hatte, sprach er auf einer Sitzung des Zentralkomitees der KPTsch Ende März 1956 zu den führenden Parteifunktionären in Prag.33 Er berichtete, dass in der Sowjetunion unter Stalin jahrelang die kollektive Führung und die Prinzipien des »demokratischen Zentralismus« faktisch nicht praktiziert worden seien. Die Praxis, dass nur noch eine Person entschied, habe sich immer stärker ausgeprägt. Stalin seien unberechtigterweise übernatürliche Eigenschaften zugeschrieben worden. Unter Lenin dagegen habe man die Parteigrundsätze eingehalten; die Parteitage und Plenumssitzungen des Zentralkomitees hätten regelmäßig stattgefunden. Auf ihnen seien alle wichtigen Probleme kollektiv gelöst worden.34 Novotný gab zu, 30 Změny v stanovách KSČ . Referát s. Václava Paška, in: X. Sjezd KSČ . Projevy a dokumenty, Sonderheft der Zeitschrift Nová mysl 7 (1954), S. 747–753, hier S. 748; Stanovy KSČ , in: ebd., S. 916–930, hier S. 921. Vgl. auch Josef Pokstefl, Verfassungs- und Regierungssystem der ČSSR , Wien 1982, S. 325. 31 Ze zprávy ÚV KSČ X . Sjezdu KSČ , 11.6.1954, in: Novotný, Projevy a stati 1 (wie Anm. 10), S. 9–111, hier S. 38; Zpráva ÚV KSČ X. sjezdu strany, in: Nová Mysl 7 (1954), S. 705. 32 Vgl. Reinhard Crusius / Manfred Wilke (Hg.), Entstalinisierung. Der XX . Parteitag der KPdSU und seine Folgen, Frankfurt a. M. 1977; Vladimir Naumov, Zur Geschichte der Geheimrede N. S. Chrushchevs auf dem XX . Parteitag der KPdSU, in: Forum für Osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte 1 (1997), S. 137–177; Rede des Ersten Sekretärs des CK der KPSS , N. S. Chruščev auf dem XX . Parteitag der KPSS [»Geheimrede«] und der Beschluß des Parteitages »Über den Personenkult und seine Folgen«, 25. Februar 1956, http://www.1000dokumente.de/?c=dokument_ru&dokument=0014_ ent&object=translation&l=de (Stand: 10. Juni 2020). Die offiziell publizierten Dokumente des Parteitags heben wiederholt das »Leninsche Prinzip der Kollektivität der Leitung« hervor, ohne jedoch Stalin zu kritisieren. Vgl. XX . Parteitag der KPdSU vom 14.–25. Februar 1956, Düsseldorf 1956, S. 100 f. u. 222 f. 33 Z referátu na zasedání ÚV KSČ , 29.3.1956, in: Novotný, Projevy a stati 1 (wie Anm. 10), S. 257–307, hier S. 282. 34 Diese Aussage ist nur bedingt richtig. Zweifelsohne wurde in Lenins Zeit noch kontrovers innerhalb der Partei diskutiert, jedoch ging das Fraktionsverbot des X. Parteitages vom März 1921 auf Lenin zurück. Zudem benutzte Lenin wiederholt erfolgreich die Methode,

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dass sich auch in der KPTsch die falsche Praxis entwickelt habe, auf den Sitzungen des Zentralkomitees Entscheidungen nur zu bestätigen. Nach dem XXII . Parteitag der KPdSU (1961) nahm auch in der Tschechoslowakei die Kritik am Personenkult zu.35 Novotný referierte auf einer Sitzung des Zentralkomitees der KPTsch im November 1961 in Prag über die Ergebnisse des Moskauer Parteitags und die daraus zu ziehenden Schlüsse. Der tschechoslowakische Parteichef räumte nun ein, dass der Personenkult um Klement Gottwald, Novotnýs Vorgänger, sich auch negativ auf dessen Handeln und Entscheiden ausgewirkt habe.36 So wie Stalin aus dem Mausoleum auf dem Roten Platz entfernt wurde, sei nun auch Gottwalds Leichnam auf gewöhnliche Art zu begraben. Dessen Mausoleum in Prag stehe nicht in Übereinstimmung mit Lenins Verständnis der kollektiven Führung.37 Auch ein 1955 fertiggestelltes monumentales Stalin-Denkmal am Prager Moldauufer wurde nun auf Vorschlag Novotnýs durch einen Beschluss des Zentralkomitees entfernt, da es den Personenkult widerspiegele.38 Im September 1963 betonte Novotný auf einer Sitzung des Zentralkomitees erneut die Notwendigkeit, das »Leninsche Prinzip des kollektiven Leitens und Entscheidens« konsequent durchzusetzen.39 Die Arbeitsweise der Parteiorgane müsse aufgrund von wirtschaftlichen Problemen grundlegend geändert werden. Die Mehrzahl der Probleme werde in den einzelnen ZK-Abteilungen separat und zusammenhangslos behandelt. Er drängte darauf, dass sich möglichst viele Parteimitglieder, vor allem jedoch alle ZK-Mitglieder, tagtäglich und aktiv an den Entscheidungen über die grundlegenden politischen Fragen beteiligten. Novotný forderte, neue Kommissionen des Zentralkomitees einzusetzen. Deren Aufgabe solle sein, die Hauptprobleme des Landes unter Berücksichtigung aller relevanten Aspekte und Zusammenhänge zu analysieren und Entscheidungen zuzuführen. Auf dieser Grundlage sei dann eine Gesamtkonzeption für den Aufbau der sozialistischen Gesellschaft auszuarbeiten.40 Grundlegende Fragen müssten prinzipiell vorab bereits geklärt sein, wenn sie den obersten Parteiorganen zur definitiven Entscheidung vorgelegt würden. Dabei sei sicherzustellen, dass die Lösungen in Übereinstimmung mit den Interessen der sozialistischen

mit seinem Rücktritt zu drohen, wenn er seine Meinung, beispielsweise nach einer verlorenen Abstimmung, nicht durchsetzen konnte. Vgl. William Zimmerman, Russland regieren. Von Lenin bis Putin, Darmstadt 2015, S. 25–28. 35 Materialy XXII s’ezda KPSS , Moskva 1961. 36 Zpráva z XXII sjezdu KSSS a závěry pro práci strany, z referátu na zasedání ÚV KSČ , 15.11.1961, in: Novotný, Projevy a stati 2 (wie Anm. 10), S. 569–629, hier S. 595. 37 Ebd., S. 598. 38 H.  Gordon Skilling, Czechoslovakia’s Interrupted Revolution, Princeton, New Jersey 1976, S. 32 u. 42. 39 Referát na zasedání ÚV KSC , 20.9.1963, in: Novotný, Projevy  a stati 3 (wie Anm. 10), S. 261–286. 40 Ebd., S. 272.

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Gesellschaft stünden. Auch dürfe eine Maßnahme sich nicht kontraproduktiv auf eine andere auswirken.41 Diese neue Organisationsform werde das System des kollektiven Entscheidens stärken. Die Verantwortlichkeit des einzelnen Parteifunktionärs dürfe davon allerdings nicht tangiert werden. Kollektive Leitung und persönliche Verantwortung seien zwei Seiten derselben Medaille.42 Im Vergleich mit anderen sozialistischen Ländern sei die Tschechoslowakei bislang wesentlich unflexibler, langsamer in den politischen Entscheidungsprozessen und in der Umsetzung neuer, progressiver Ideen, so Novotný.43 Zudem sei niemand bereit, verantwortungsvoll zu entscheiden.44 Damit spielte er auf die in den sozialistischen Diktaturen bekannte Praxis an, Entscheidungen an in der Hierarchie höherstehende Organe und Personen »nach oben« weiterzureichen, um für diese nicht verantwortlich gemacht zu werden. Die noch unter Novotný primär aufgrund von wirtschaftlichen Problemen eingesetzten ZK-Kommissionen, aus denen 1965 vier interdisziplinäre Kommissionen der Akademie der Wissenschaften hervorgingen,45 bereiteten die Reformen des Prager Frühlings maßgeblich vor. In der Beschreibung von Entscheidungsprozessen wurde nun  – im Zusammenhang mit der sogenannten wissenschaftlich-technischen Revolution und der Kybernetik  – verstärkt die wichtige Rolle der Wissenschaft erwähnt, wenn es darum ging, wie Entscheidungen richtig zu treffen sind.46 Ein weiterer wichtiger Bestandteil der sozialistischen Entscheidensnarrative war die Berufung auf den Marxismus-Leninismus. Nach der Befreiung der Tschechoslowakei von der NS -Besatzung im Mai 1945 hob der Parteivorsitzende Klement Gottwald die Fähigkeit der Kommunistischen Partei hervor, aufgrund der »marxistisch-leninistisch-stalinistischen Theorie und Praxis« die 41 42 43 44 45

Ebd., S. 273. Ebd., S. 274. Ebd., S. 274. Ebd., S. 275. Zu den interdisziplinären Wissenschaftskommissionen vgl. Jiří Hoppe u. a., »O nový československý model socialismu.« Čtyři interdisciplinární vědecké týmy při ČSAV  a UK v 60. letech, Praha 2015; ders. u. a., »O nový československý model socialismu.« Edice dokumentů ke čtyřem interdisciplinárním vědeckým týmům při ČSAV a UK v 60. letech, Praha 2016. 46 Zur Kybernetik vgl. Matthias Völkel, Die Kybernetik als Ressource des politischen Entscheidens in der Sowjetunion?, in: Thomas Großbölting / Stefan Lehr (Hg.), Politisches Entscheiden im Kalten Krieg. Orte, Praktiken und Ressourcen in Ost und West, Göttingen 2020, S. 165–183; Slava Gerovitch, From Newspeak to Cyberspeak: A History of Soviet Cybernetics, Cambridge 2002; Egle Rindzeviciute, Purification and Hybridisation of Soviet Cybernetics: The Politics of Scientific Governance in an Authoritarian Regime, in: Archiv für Sozialgeschichte 50 (2010), S. 289–309; Benjamin Peters, From Cybernetics to Cyber Networks: Norbert Wiener, the Soviet Internet, and the Cold War Dawn of Information Universalism, Columbia University 2010, https://www.proquest.com/dissertations-theses/cybernetics-cyber-networks-norbert-wiener-soviet/docview/858947200/ se-2?accountid=201395 (Stand: 25. Mai 2021).

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richtigen Entscheidungen treffen zu können.47 Diese Fähigkeit habe die Partei bereits in der Vergangenheit ausgezeichnet, und sie werde sie auch in Zukunft unter Beweis stellen. Der Politik der KPTsch schrieb Gottwald Weisheit zu. Die Partei besitze die Kunst, vorauszusehen und damit die weitere Entwicklung richtig abzuschätzen. Sie sei daher in der Lage, alle Kräfte auf die Bewältigung der anstehenden Aufgaben zu konzentrieren.48 Im Unterschied zu den anderen Parteien betrieben die Kommunisten Gottwald zufolge keine kurzatmige Politik.49 In einer Rede in Mährisch-Ostrau im Mai 1946 verkündete er, es sei eine historische Tatsache, dass die KPTsch im letzten Jahrzehnt die Entwicklung richtig vorausgesagt habe und wisse, wie das befreite Land aufzubauen sei.50 Die Machtübernahme im Februar 1948 erklärte Gottwald damit, dass die Partei gut auf sie vorbereitet gewesen sei und so in der politischen Krise die richtigen Entscheidungen treffen konnte.51 Auch der Erste Sekretär der KPTsch im Jahre 1968, Alexander Dubček, schrieb den Kommunisten die Fertigkeit zu, avantgardistisch zu denken.52 Sein Nachfolger Gustáv Husák berief sich auf die Fähigkeit der Partei, dank des Marxismus-Leninismus, »die strategischen und taktischen Aufgaben richtig zu formulieren, die Hauptziele zu bestimmen, wirksame Taktik und Arbeitsformen zu wählen, richtige Kader auszusuchen und vorzubereiten, sie zu verteilen, und die angenommenen Aufgaben systematisch zu kontrollieren«.53 An einer anderen Stelle sprach Husák von den Kommunisten als »wissenschaftlichen Sozialisten«.54 In all diesen Fällen suggerierten die Redner, dass die Partei aufgrund des Marxismus-Leninismus richtige Entscheidungen treffen könne. Dabei maßen sie ihrer Weltanschauung einen wissenschaftlichen Charakter bei.55 Die zukünftige gesellschaftliche Entwicklung im Sozialismus betrachteten sie als einen gesetzmäßigen, plan- und steuerbaren Prozess.56 47 O politice KSČ v dnešní situaci, přednáška v Praze, 9.7.1945, in: Gottwald, Spisy XII (wie Anm. 10), S. 77. 48 Ebd., S. 78. 49 Dopis ÚV KSČ všem členům k přípravě VIII . sjezdu KSČ ve dnech 28.–31.3.1946, 15.1.1946, in: Gottwald, Spisy XII (wie Anm. 10), S. 244. 50 Projev v Ostravě, 23.5.1946, in: Gottwald, Spisy XIII (wie Anm. 10), S. 67 f. 51 Z referátu na zasedání ÚV KSČ , 9.4.1948, in: Gottwald, Spisy XIV (wie Anm. 10), S. 354. 52 Vybrané prejavy prvého tajomnika ÚV KSČ súhdruha A. Dubčeka (wie Anm. 10), S. 7. 53 Gustáv Husák, Bericht über die Tätigkeit der Partei und die Entwicklung der Gesellschaft seit dem XIII . Parteitag der KPTsch und über die weiteren Aufgaben der Partei, in: Ansprachen und Resolution (wie Anm. 7), S. 7–89, hier S. 72 f. 54 Rede auf der Internationalen Beratung der kommunistischen und Arbeiterparteien in Moskau, 11.6.1969, in: Husák, Die Tschechoslowakei (wie Anm. 10), S. 71–92, hier S. 75. 55 Gustáv Husák, Leninské učení o straně  a československá realita, in: Otázky míru  a socialismu, č. 1 (1970); ders., Projevy  a stati. Duben 1969  – leden 1970, Praha 1970, S. 356–375; ders., Výbor z projevů a statí I, S. 150–169. Deutsche Version: Gustáv Husák, Die Leninsche Lehre von der Partei und die tschechoslowakische Wirklichkeit, in: ders., Die Tschechoslowakei (wie Anm. 10), S. 93–110, hier S. 106 f. 56 Ebd., S. 96 u. 102.

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Ein anderes Element der staatssozialistischen Narrative, das auch bei der Beschreibung von Entscheidungen angewandt wurde, war die Berufung auf die Sowjetunion als Vorbild und »ewiger« Verbündeter. Bereits das erste Regierungsprogramm vom 5. April 1945 legte »als unerschütterliche Linie« der tschechoslowakischen Außenpolitik ein »engstes Bündnis« mit der Sowjetunion fest.57 Berufungen auf den großen Bruderstaat und die KPdSU als Entscheidungsressource finden sich von nun an bis 1989 kontinuierlich.58 Beispielsweise heißt es zur Vorbereitung des XV. Parteitags der KPTsch im April 1976, dass die tschechoslowakischen Kommunisten wesentliche Anregungen aus den Beschlüssen des einen Monat zuvor tagenden XXV. Parteitags der KPdSU gewonnen haben. Die Beschlüsse, die sie sehr intensiv studierten, seien »eine Quelle der Inspiration, der Belehrung und Anregung« für das eigene Handeln. Dies gelte insbesondere für die Festlegung der Aufgaben zum weiteren Aufbau der sozialistischen Gesellschaft und die Bestimmung der Linie und des Programms der Partei.59 Auf dem Parteitag selbst wurde dann noch einmal auf die historische Bedeutung der Beschlüsse der sowjetischen Bruderpartei hingewiesen. Sie stellten einen »schöpferischen Beitrag zur Entwicklung der Theorie und Praxis des wissenschaftlichen Kommunismus« dar, der auch für die weitere Arbeit der KPTsch wichtige Lehren enthalte.60 Des Weiteren erfreute sich die Berufung auf die Einmütigkeit, mit der entschieden wurde, großer Beliebtheit. So waren die kommunistischen Politiker zur Legitimierung von Entscheidungen darum bemüht, deren Einstimmigkeit zu betonen. Wahlen und Beschlüsse fällten die Organe unisono.61 Auch wenn im Präsidium des Zentralkomitees der KPTsch in der Regel nicht abgestimmt wurde, stellte man auch eine knapp getroffene Entscheidung in der Öffentlichkeit als einstimmig gefällt dar. Sowohl Dubček als auch Husák akzentuierten die Wichtigkeit der Einheit des Führungsgremiums nach außen. Man könne lange diskutieren, dann gelte jedoch der gemeinsame Beschluss als für alle verbindlich.62 57 Vgl. Punkt  IV. des Kaschauer Regierungsprogramms. Program československé vlády Národní Fronty Čechů a Slováků, přijatý na prvé schůzi vlády dne 5. dubna 1945 v Košicích, Praha 1945 – Deutsche Übersetzung in: Bundesministerium für Vertriebene, Flüchtlinge und Kriegsgeschädigte (Hg.), Die Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus der Tschechoslowakei. Augsburg 21994, S. 185–203, hier S. 188 f. 58 Vgl. Volf, Über Riesen und Zwerge (wie Anm. 5). 59 Institut für Marxismus-Leninismus beim ZK der KPTsch (Hg.), Geschichte der Kommunistischen Partei (wie Anm. 18), S. 342 u. 344. 60 Ebd., S. 346. 61 Tabery betont die Einstimmigkeit bei der Wahl des Präsidenten in der kommunistischen Zeit. Erik Tabery, Hledá se prezident. Zákulisí voleb hlavy státu, Praha 2008, S. 41 f.; Husák, Projevy  a stati 1979–1981 (wie Anm. 10), S. 167; Husák, Die Tschechoslowakei (wie Anm. 10), S. 72. 62 »Die Partei kann nicht endlos diskutieren. Trotz unterschiedlicher Ansichten, die sich in den Diskussionen bei der Lösung der einzelnen Fragen ergeben, muss die Diskussion in einem bestimmten Moment abgeschlossen, müssen Schlussfolgerungen gezogen und

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2. Prager Frühling In der Zeit des Prager Frühlings, also von Januar bis August 1968, verstärkten sich die Reformtendenzen innerhalb der KPTsch massiv.63 Am Beispiel des Aktionsprogramms der KPTsch vom 5. April 1968, dem Schlüsseldokument der Reformbewegung, lässt sich diese Entwicklung, die sich auch hinsichtlich der Vorstellung vom richtigen Entscheiden äußerte, deutlich nachweisen.64 Für die vorangegangene Krise des Landes machten die Reformkommunisten in dem 60-seitigen Programm unter anderem eine übertriebene Konzentration von parteiinternen Entscheidungen auf einige wenige Funktionäre verantwortlich. Sie hätten dadurch eine außerordentliche Stellung innegehabt. Dies treffe insbesondere auf den Anfang Januar 1968 durch Alexander Dubček abgelösten Parteichef Antonín Novotný zu.65 Das Aktionsprogramm bekannte sich zu einem neuen Modell der sozialistischen Demokratie. Die Partei werde sich künftig bemühen, die demokratischen Grundsätze der gesellschaftlichen Führung mit denen des fachlichen und wissenschaftlichen Leitens und Entscheidens in Einklang zu bringen.66 Zur Lösung umstrittener Fragen sollten immer mehrere, fachlich begründete Vorschläge erstellt werden, um kompetent entscheiden zu können, was im öffentlichen Interesse liege. Darüber hinaus sei die Öffentlichkeit besser zu informieren.67 Die zwingenden Voraussetzungen für »verantwortungsbewusste Entscheidungen der Kollektivorgane« bei der Suche nach der besten Lösung seien sachliche Diskussionen und ein offener Meinungsaustausch. Das beschlossene Aktionsprogramm sah vor, alle Entscheidungen über wichtige Fragen sowie die Besetzung von Ämtern auf demokratische Weise und Beschlüsse gefasst werden. Im Sinne des gefassten Beschlusses muss die Partei dann auch arbeiten. Nur ein solches Vorgehen kann die Aktionseinheit und Aktionsfähigkeit der Kommunistischen Partei als der führenden politischen Kraft in der sozialistischen Gesellschaft gewährleisten.« Ebd., S. 109. Dubček sprach davon, dass sich die Minderheit der Entscheidung der Mehrheit unterordnen müsse, damit die Partei ihre Aktionsfähigkeit bewahre. Prejav na pléne ÚV KSČ v aprili 1968, in: Vybrané prejavy prvého tajomnika ÚV KSČ súhdruha A. Dubčeka (wie Anm. 10), S. 94. 63 Zur Periodisierung jener acht Monate vgl. Zdeněk Mlynář, »Prager Frühling« 1968 und die gegenwärtige Krise politischer Systeme sowjetischen Typs, in: Ders. (Hg.), Der »Prager Frühling«. Ein wissenschaftliches Symposium, Köln 1983, S. 17–66, hier S. 34. 64 Rok šedesátý osmý v usneseních a dokumentech ÚV KSČ , Praha 1969, S. 103–146; Dieter Segert, Prager Frühling. Gespräche über eine europäische Erfahrung, Bonn 2008, S. ­26–35; Martin Schulze Wessel, Der Prager Frühling. Aufbruch in eine neue Welt. Stuttgart 2018, S. 177–185. Vgl. auch die Erinnerungen der an der Ausarbeitung leitend beteiligten Personen wie Zdeněk Mlynář und Ota Šik, die nach 1969 in die Emigration gingen. Zdeněk Mlynář, Nachtfrost. Erfahrungen auf dem Weg vom realen zum menschlichen Sozialismus, Köln 1978; Ota Šik, Prager Frühlingserwachen. Erinnerungen, Herford 1988. 65 Rok šedesátý (wie Anm. 64), S. 108. 66 Ebd., S. 111. 67 Ebd.

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durch geheime Wahlen zu treffen. Zur Demokratisierung des Parteilebens sollten die Beziehungen zwischen der Partei und der Wissenschaft ausgebaut werden. Die Reformkommunisten schrieben der Wissenschaft, womit primär die Akademie der Wissenschaften und ihre Institute gemeint waren,68 eine Schlüsselrolle für richtiges Entscheiden zu. Es gelte, rasch ein verbindliches System der wissenschaftlichen Expertise und Begutachtung wichtiger Themenkomplexe vorzubereiten, das zu belastbaren Entscheidungen auf allen Ebenen der Leitung beitragen solle.69 Die Wissenschaft solle nicht nur vorbereitend wirken, sondern den Entscheidungsprozess auch weiter begleiten.70 Ein Vorschlag der Akademie der Wissenschaften ging sogar soweit, dass ihr alle wichtigen Gesetzesentwürfe zur Begutachtung vorzulegen seien.71 Die bisherige Praxis der zentralistischen Leitung wurde im Aktionsprogramm scharf kritisiert. Sie habe zu Verbitterung in der Bevölkerung geführt und deren Interessen und Bedürfnisse nicht ausreichend berücksichtigt. Statt fachlich qualifizierten, »wissenschaftlichen« Entscheidens habe Willkür geherrscht.72 Die Reformkommunisten beabsichtigten, Untersuchungen der öffentlichen Meinung anzustellen, die Ergebnisse zu veröffentlichen und sie zur Vorbereitung wichtiger Entscheidungen einzusetzen.73 Als die Kritik der Sowjetunion und ihrer Verbündeten am Reformprozess in der Tschechoslowakei zunahm, verteidigte ihn der im Januar 1968 neu gewählte Parteichef der KPTsch , Alexander Dubček. Jedes Land habe das Recht, sich selbstständig sowie nach eigener Abwägung für den besten Weg des sozialistischen Aufbaus, das beste Modell des sozialistischen Lebens zu entscheiden.74 Dubček sagte circa drei Wochen vor der militärischen Invasion der Sowjetunion und vier weiterer verbündeter Staaten des Warschauer Paktes (Polen, Ungarn, DDR , Bulgarien) in der Tschechoslowakei in einer Fernseh- und Radioansprache vor Verhandlungen mit der Sowjetunion in Čierna nad Tisou,75 dass man 68 Martin Franc / Miroslav Kunštát, Vývoj plánování vědy v Československu a NDR v letech 1945–1989, in: Československý časopis pro fyziku 65, 5 (2014), S. 302–312, hier S. 305; Martin Franc, Pod dohledem vědců? Snahy ČSAV o expertizaci politického a hospodářského rozhodování v druhé polovině 60. let 20. století, in: I. Lorencová (Hg.), Věda a technika v Československu v 60. letech 20. století, Praha 2011, S. 19–24. 69 Rok šedesátý (wie Anm. 64), S. 138. 70 Ebd., S. 114; Mlynář, Nachtfrost (wie Anm. 64), S. 327 f. 71 Franc / Kunštát, Vývoj plánování (wie Anm. 68), S. 305. 72 Ebd., S. 115. Mlynář, Nachtfrost (wie Anm. 64), S. 329 f. 73 Rok šedesátý (wie Anm. 64), S. 118. Zu den Befragungen allgemein vgl. Jaroslaw A. Piekalkiewicz, Public Opinion Polling in Czechoslovakia, 1968–69. Results and Analysis of Surveys Conducted During the Dubcek Era, New York 1972. 74 Televízny prejav z 18. júla 1968, in: Vybrané prejavy prvého tajomnika ÚV KSČ súhdruha A. Dubčeka (wie Anm. 10), S. 220–224, hier S. 223. 75 Schwarzau an der Theiß ist ein kleiner ostslowakischer Ort an der Grenze zur damaligen Sowjetunion. Zu den Verhandlungen vgl. Alexander Dubček, Leben für die Freiheit, München 1993, S. 243–255; Jaromír Navrátil (Hg.), The Prague Spring 1968, Prague 1998, S. 300–307, 320–323 u. 330; Schulze Wessel, Der Prager Frühling (wie Anm. 64), S. 272–279.

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nach bestem Wissen und Gewissen souverän über das eigene Schicksal entscheiden möchte.76 Dieser mutige Versuch der Selbstbehauptung bei der Wahl von alternativen Wegen im Rahmen des Sozialismus wurde nach der militärischen Niederschlagung des Prager Frühlings durch die altvertraute Phrase der »Solidarität mit der Sowjetunion« ersetzt. Einerseits hob Dubček also das Recht hervor, zwischen divergierenden Wegen zu wählen. Andererseits stellte er selbst die Politik der Prager Reformkommunisten wiederholt als alternativlos dar. Im Juli 1968 sah er die einzige Möglichkeit der weiteren Arbeit in der konsequenten Realisierung des Aktionsprogramms.77 Wenige Wochen vor der sowjetischen Invasion verkündete Dubček Anfang August in einer Ansprache erneut, man müsse den im Januar begonnenen Weg des Reformprozesses entschlossen weitergehen. Dafür habe sich das Volk nach »eigenem Wissen und Gewissen einstimmig« entschieden. Es gebe keine andere Möglichkeit.78 Dubček war sich bewusst, dass man ohne umfassende Analyse nur schwer endgültige Schlüsse ziehen könne. Es erschien ihm jedoch als sicher, den im Januar 1968 angetretenen Weg aufgrund der breiten Unterstützung der Bevölkerung fortsetzen zu müssen.79

3. »Normalisierung« Die sowjetische Invasion in der Nacht vom 20. auf den 21. August 1968 in der Tschechoslowakei verurteilte das ZK-Präsidium der KPTsch unverzüglich in einer Erklärung, die über die Medien verbreitet wurde.80 Zudem gelang es den Reformkommunisten, den geplanten XIV. Parteitag vorzeitig einzuberufen und ihn vor den Besatzern zu verheimlichen.81 Dieser als XIV. außerordentlicher Parteitag in die Geschichte eingegangene Kongress protestierte entschieden gegen die militärische Intervention.82 Der sowjetische Plan, eine prosowjetische Kollaborationsregierung mit Unterstützung einiger orthodoxer KPTsch-Spitzenfunktionäre zu bilden, scheiterte aufgrund dieser Ereignisse zunächst. Sowjetische Agenten entführten die leitenden Prager Reformer nach

76 Televizny a rozhlasovy prejav 27.7.1968, in: Vybrané prejavy prvého tajomnika ÚV KSČ súhdruha A. Dubčeka (wie Anm. 10), S. 233–237, hier S. 234. 77 Prejav na pléne ÚV KSC , 19. júla 1968, in: ebd., S. 225–232, hier S. 227. 78 Televizny a rozhlasovy prejav 4. Augusta 1968, in: ebd., S. 242–246, hier S. 242. 79 Ebd., S. 245. 80 Dubček, Leben (wie Anm. 75), S. 265–270; Navrátil, The Prague Spring (wie Anm. 75), S. 420–426. 81 Lukáš Cvrček, Vysočany 1968. Mimořádný XIV. sjezd KSČ , in: Securitas imperii 15/1 (2009), S. 138–183. 82 Vgl. Jiří Pelikán (Hg.), The Secret Vysočany Congress. Proceedings and Documents of the Extraordinary Fourteenth Congress of the Communist Party of Czechoslovakia, 22 August 1968, New York 1972.

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Moskau und internierten sie.83 Die dort geführten bilateralen Verhandlungen zur Lösung der Krise, zu denen der tschechoslowakische Präsident Ludvík Svoboda sowie weitere leitende KPTsch-Politiker hinzugestoßen waren, mündeten im sogenannten geheimen Moskauer Protokoll84 sowie einem offiziellen sowjetischen Kommuniqué,85 welches den »vorübergehenden Einmarsch« der Truppen des Warschauer Paktes legitimierte. In der Folgezeit konnten sich die tschechoslowakischen Reformgegner innerhalb der Kommunistischen Partei mit Unterstützung der Sowjetunion durchsetzen. Die Neuerungen des Prager Frühlings, wie die Presse-, Reise- und Versammlungsfreiheit, wurden wieder aufgehoben, Reformkräfte aus ihren Ämtern sukzessive abberufen. Mit der Ablösung Dubčeks als Generalsekretär der KPTsch durch Gustáv Husák im März 1969 war dieser Prozess der »Konsolidierung« bzw. »Normalisierung« weitgehend beendet.86 Nach dem Ende des politischen Machtkampfs war es an der neuen Führung, die zurückliegenden Ereignisse zu erklären und die Entscheidung für die Intervention zu legitimieren sowie als das einzig Richtige darzustellen.87 Hierzu griff sie die sowjetische Kritik am Prager Frühling auf. Für die vermeintliche Fehlentwicklung machten die Reformgegner die Uneinigkeit im Führungsgremium verantwortlich. Den »konterrevolutionären, rechten Kräften« sei es aufgrund der »Unentschlossenheit und Labilität« Dubčeks gelungen, die Partei und die Medien zu unterwandern und für ihre Zwecke zu instrumentalisieren. Die Intervention stellten sie als einzig möglichen Weg zur Rettung des Sozialismus dar. So bewiesen die »objektive Beurteilung und Erläuterung der Ursachen und Zusammenhänge unwiderlegbar«, dass die »Konterrevolution« nicht anders aufzuhalten gewesen sei. In einer solchen Situation musste entschieden werden, ob man weiter warten sollte, bis die vermeintlichen »Konterrevolutionäre« um 83 Schulze Wessel, Der Prager Frühling (wie Anm. 64), S. 280. 84 Das Moskauer Protokoll erklärte den außerordentlichen 14. Parteitag für ungültig, hob die Reformen auf und legitimierte die Invasion. Vgl. Mlynář, Nachtfrost (wie Anm. 64), S. 342–346. 85 Kommuniqué über die sowjetisch-tschechoslowakischen Verhandlungen 23.–26.8.1968 in Moskau, in: Stefan Karner u. a. (Hg.), Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968. Bd. 2 (Dokumente), Köln 2008, S. 980–983. 86 Vgl. Kieran Williams, The Prague Spring and its Aftermath. Czechoslovak Politics 1968–1970, Cambridge 1997; Zdeněk Doskočil, Duben 1969. Anatomie jednoho mocenského zvratu, Brno 2006; Kevin McDermott, Communist Czechoslovakia, 1945–1989. A Political and Social History, London 2015; Stefan Karner u. a. (Hg.), Prager Frühling. Das internationale Krisenjahr 1968, 2 Bde., Köln 2008; Jan Pauer, Prag 1968. Der Einmarsch des Warschauer Paktes. Hintergründe, Planung, Durchführung, Bremen 1995; Jaromír Navrátil (Hg.), The Prague Spring 1968. A National Security Archive Documents Reader, Budapest 1998. 87 Poučení z krizového vývoje ve straně a společnosti po XIII . sjezdu KSČ , Praha 1971; deutsche Version: Die Lehren aus der krisenhaften Entwicklung in Partei und Gesellschaft nach dem XIII . Parteitag der KPČ . Resolution zu aktuellen Fragen der Einheit der Partei, Praha 1971.

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Dubček einen Bürgerkrieg entfesseln würden. Daher sei der Einmarsch der verbündeten Truppen »eine notwendige und die einzig richtige Lösung« gewesen.88 Dies habe »die gründliche Überprüfung der Fakten« über die Verhältnisse in der Partei bestätigt, so die bis 1989 offiziell gültige Interpretation der Ereignisse von Seiten der KPTsch .89

4. Die Perestrojka in der Tschechoslowakei (1985–1989) In der Zeit der »Normalisierung« nutzte das Regime die bereits zuvor verwendeten Narrative zur Darstellung des politischen Entscheidens. Veränderungen lassen sich erst in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre feststellen. Sie hängen mit der unter Generalsekretär Michail Gorbačev in der Sowjetunion eingeleiteten Perestrojka (russ. für Umbau, Umgestaltung) zusammen. Diese bezeichnet den von Gorbačev ab Anfang 1986 eingeleiteten Prozess zum Umbau des wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Systems der Sowjetunion.90 Die erste Phase der Reformen konzentrierte sich primär auf die Wirtschaft. Auf dem Plenum des Zentralkomitees der KPdSU im Januar 1987 verkündete Gorbačev jedoch auch eine gesellschaftliche Umgestaltung. Im Zuge der Perestrojka wurde unter dem Schlagwort Glasnost’ (russ. für Offenheit, Transparenz) sukzessiv eine größere Meinungsfreiheit in den Medien eingeführt. Gorbačev sprach wiederholt von einem sozialistischen Pluralismus der Meinungen.91 Auch im politischen System der Sowjetunion kam es nun zu Reformen innerhalb der KPdSU; ermöglicht wurden geheime Wahlen und die Auswahl zwischen mehreren Kandidaten.92 Da es in der Tschechoslowakei seit 1945/1948 eine jahrzehntelange Tradition war, von der Sowjetunion zu lernen und letzterer eine Vorbild- und zugleich Führungsfunktion im sozialistischen Lager zukam, wurden Gorbačovs Reden weiterhin in den tschechoslowakischen Medien publiziert sowie auch ausführlich über die Parteitage und ZK-Plenen der KPdSU berichtet. Die reformfeindliche dogmatisch-konservative KPTsch-Parteispitze, die nach der Niederschlagung des Prager Frühlings in der Tschechoslowakei an die Macht gekommen war, setzte Gorbačovs Reformpolitik jedoch nur selektiv und zeitlich versetzt um.93 Zu sehr erinnerte sie an den Prager Frühling. Primär

88 »Jede andere Lösung ohne die Hilfe der UdSSR hätte keine Hoffnung auf Erfolg gehabt«. Ebd., S. 57. 89 Ebd., S. 58. 90 Archie Brown, Seven Years that Changed the World. Perestroika in Perspective, Oxford 2007; Richard Sakwa, Gorbachev and his Reforms 1985–1990, Cambridge 1990. 91 Thomas Remington, A Socialist Pluralism of Opinions: Glasnost and Policy-Making under Gorbachev, in: The Russian Review 48 (1989), S. 271–304. 92 Stephen White, After Gorbachev, Cambridge 1993, S. 28–73. 93 Martin Štefek, Komunistická strana Československa a proces přestavby v letech 1­ 985–1989, in: Jiří Kocian u. a. (Hg.), Bolševismus, komunismus a radikální socialismus v Česko­

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konzentrierte sich die tschechoslowakische Perestrojka (tsch. přestavba) auf den »Umbau des wirtschaftlichen Mechanismus«. Dabei verfolgte die Parteiführung pragmatische Ziele wie die Leistungs- und Effizienzsteigerung in der Produktion.94 An politischen Reformen, die eine wirkliche Demokratisierung bedeutet hätten, war der KPTsch-Führung, die den Verlust ihrer Macht fürchtete, allerdings nicht gelegen. Trotzdem änderte sich 1988/1989 der Ton. Die Politiker thematisierten nun in ihren Reden vermehrt auch die »Vertiefung der innerparteilichen Demokratie«. Dazu gehörte die Diskussionsfreiheit. So heißt es in einem Leitartikel in der Parteizeitung Rudé právo am 3. Januar 1989, dass bisher nicht in jeder Parteiorganisation die freie Diskussion und das Anhören anderer Meinungen gesichert gewesen seien. Ziel der KPTsch sei es nun, dies nachdrücklich zu ändern, da man nur durch den Austausch von verschiedenen Meinungen zu richtigen Schlüssen gelangen könne.95 So gehöre zur »innerparteilichen Demokratie« auch das Entscheiden auf der Grundlage von mehreren Vorschlägen. Neu war auch die Betonung der Bedeutung einer breiten öffentlichen Informiertheit. So berichtete die Parteizeitung seit Januar 1987 nach Jahrzehnten wieder regelmäßig von den wöchentlichen Sitzungen des Präsidiums des Zentralkomitees der KPTsch , wie das tschechoslowakische Politbüro seit 1962 hieß. Ein weiteres Novum, welches jedoch dem sowjetischen Vorbild folgte, war, dass bei Parteiwahlen mehrere Kandidaten zur Auswahl stehen sollten sowie dass die Wahlen für Parteigremien geheim durchzuführen seien. In einem Artikel unter dem Titel »Demokratie für uns« in der Parteizeitung im Februar 1989 findet sich die Feststellung, dass ein Mensch am produktivsten sei, wenn er sich an Entscheidungen über die Bedingungen und Ergebnisse seiner Arbeit beteilige.96 Zur Pluralisierung des politischen Lebens sollten die neben der KPTsch in der »Nationalen Front« vereinigten gleichgeschalteten Blockparteien und Organisationen aktiviert werden. In dem Artikel »Raum für Initiative und Diskussion« heißt es im Februar 1989, dass die Parteiorgane und die staatliche Verwaltung die wichtigen Entscheidungen treffen. Die in der Nationalen Front vereinigten Parteien und Organisationen bestätigen zwar diese Beschlüsse beziehungsweise nähmen sie nachträglich zur Kenntnis, ohne sich jedoch vorher zu ihnen geäußert zu haben. So eine Form der Nichtbeteiligung der Nationalen Front am

slovensku, Praha 2010, S. 92–138; ders., Za fasádou jednoty. KSČ   a SED po roce 1985, Červený Kostelec 2014; Beata Blehova, Der Fall des Kommunismus in der Tschechoslowakei, Wien 2006; dies., Von Brežnev zu Gorbačev, von Štrougal zu Adamec. Die wirtschaftliche Reformideen in der Tschechoslowakei und der sowjetische Einfluss, in: Niklas Perzi u. a. (Hg.), Die Samtene Revolution. Vorgeschichte  – Verlauf  – Akteure, Frankfurt a. M. 2009, S. 57–70. 94 Michal Pullmann, Konex experimentu. Přestavba a pád komunismu v Československu, Praha 2011. 95 Výroční schůze – významná etapa přestavby strany, in: Rudé právo, 3.1.1989, S. 1. 96 Demokracie pro nás, in: Rudé právo, 10.2.1989, S. 4.

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Entscheiden träge sicher nicht dazu bei, deren Bedeutung in den Augen ihrer Mitglieder zu heben.97 Das Sekretariatsmitglied der KPTsch , Rudolf Rohlíček, sprach in dem Beitrag »Wege der Aktivierung der Nationalen Front« unter anderem über die Vorbereitung einer neuen Verfassung, die einen sozialistischen Pluralismus der Meinungen und Interessen sowie die Möglichkeit vorsah, mehrere Kandidaten für Wahlämter vorzuschlagen. Auch Rohlíček betonte nun die Bedeutung einer öffentlichen Diskussion und forderte, die Bevölkerung besser zu informieren. Der Austausch von Meinungen, eine wirkliche Diskussion, seien ein wichtiges Mittel zum richtigen Entscheiden, so der Politiker im April 1989.98 Der seit Oktober 1988 im Amt befindliche Premierminister Ladislav Adamec sprach in einer Rede im Frühjahr 1989 von Meinungspluralismus, der Methode des politischen Dialogs und der Notwenigkeit einer breiten Informiertheit.99 Bestehende Missstände und Fehler wurden nun eingestanden und folgendermaßen erklärt: Obwohl beispielsweise der XVI . Parteitag der KPTsch auf viele Probleme offen hingewiesen und richtige Beschlüsse gefasst hatte, wurden diese in der Praxis nicht umgesetzt. Derweil wurde auch kritisiert, dass in der Vergangenheit oft die Parteiorgane die staatlichen Institutionen ersetzten, indem sie für diese entschieden.100 Nach dem Umbruch von 1989 lässt sich die Tendenz ehemaliger Generalsekretäre beobachten, die Verantwortung für Entscheidungen von sich wegzuweisen, indem sie sich auf die kollektive Entscheidungsfindung beriefen. Der Generalsekretär der KPTsch in den Jahren 1987–1989, Miloš Jakeš, antwortete in dem Dokumentarfilm »Milda« 2017 auf die Frage, was er beispielsweise als Parteichef entschieden habe: »Ich weiß nicht. Ich würde sagen, mit dem Entscheiden ist das trügerisch. Es existierte nämlich das kollektive Entscheiden und ich hatte praktisch nur die Befugnis, einem Gast eine Tasse Kaffee oder ein Glas Wein anzubieten«.101 Auch sein Vorgänger Gustav Husák meinte nach der Samtenen Revolution von 1989: »Ich war nicht alleine in der Entscheidungsfindung«.102 Er wies insbesondere auf die konservativ-dogmatischen Kräfte um Vasil’ Bil’ak hin, die sehr intensiv mit der sowjetischen Seite zusammenarbeiteten und sich gegen Reformen stellten. Auch der langjährige SED -Chef Erich Honecker berief 97 98 99 100 101

Prostor pro iniciativu i diskusi, in: Rudé právo, 27.2.1989, S. 1. Cesty aktivizace Národní fronty, in: Rudé právo, 13.4.1989, S. 3. Projev soudruha Ladislava Adamce, in: Rudé právo, 5.4.1989, S. 1. Dvacet let po dubnovém zasedání ÚV KSČ , in: Rudé právo, 17.4.1989, S. 3. »To nevím. Já bych řekl s tím rozhodováním je to ošidné. Poněvadž existovalo kolektivní rozhodování a já vlastně prakticky žádnou právomoc […] než hostu nabídnout kafe nebo skleníčku vína jsem neměl.« Pavel Křemen: Milda, Česko 2017, 38:20–38:59, https://www. youtube.com/watch?v=eFppkjSJ18s (Stand 10. Juni 2020). 102 Viliam Plevza (Hg.), Vzostupy a pády. Gustáv Husák prehovoril, Bratislava 1991, S. 145. Vgl. Michal Pullmann, Gustáv Husák (1913–1991). ČSSR : Der Herr mit Vergangenheit, in: Martin Sabrow / Susanne Schattenberg (Hg.), Die letzten Generalsekretäre. Kommunistische Herrschaft im Spätsozialismus, Berlin 2018, S. 145–172, hier S. 163.

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sich in einem Interview nach der Wende auf die kollektive Beschlussfassung: »Ich hatte überhaupt nicht die Macht. Ich konnte nur kollektiv gefasste Beschlüsse durchführen«.103

5. Fazit Die kommunistischen Politiker der Tschechoslowakei bemühten sich, politische Entscheidungsprozesse als demokratisch, wissenschaftlich, die Argumente abwägend und auf formalen Verfahren beruhend darzustellen. Die narrative Präsentation dieser Vorgänge in Reden und Schriften sowie in den Medien sollte der Legitimation des Regimes dienen. Zentral und durch Kontinuität geprägt war die Erzählung vom kollektiven Entscheiden, bei der man sich auf das Leninsche Prinzip der gemeinsamen Führung berief. Es ging davon aus, dass eine Gruppe nach Abwägen bessere Entscheidungen treffe, als dies eine einzige Person könne. Ebenfalls zur Legitimierung bedienten sich kommunistische Funktionäre der kontinuierlich angewandten Erzählung des einstimmigen Entscheidens. Gerne beriefen sie sich darüber hinaus als wissenschaftliche Grundlage und Entscheidungsressource auf den Marxismus-Leninismus und die Sowjetunion bzw. die KPdSU. Seit den 1960er Jahren, vor allem jedoch während des Prager Frühlings 1968, betonte man auch die Bedeutung anderer wissenschaftlicher Erkenntnisse, soweit sie nicht im Widerspruch zur vorherrschenden Ideologie standen, um Entscheidungsprozesse und Entscheidungen zu legitimieren. Hinsichtlich der alternativen Entwicklungspfade waren die staatssozialistischen Regime durch ihre streng dogmatische Auslegung des MarxismusLeninismus eingeschränkt. Die Ideologie gab in vielen Fällen den Weg vor, prädestinierte sozusagen die richtige Wahl, die damit begrenzt war. Der bekannte ungarische Wirtschaftswissenschaftler János Kornai erwähnte die im Titel genannte Phrase »Genossen, das geschieht nicht zufällig« im folgenden Zusammenhang: Im sozialistischen System liebten es Parteisekretäre, Journalisten, Geschichtslehrer und Abteilungsleiter im Planungsamt, eine Erklärung mit diesen Worten einzuleiten, um dann festzustellen, dass es keine Alterna­ tiven gebe.104 In der Liberalisierungsphase des Prager Frühlings dagegen wurde die Bedeutung von Pluralität und Alternativen betont. Zudem schrieb man in jener Zeit der wissenschaftlichen Expertise für das Entscheiden eine ganz zen103 Zitiert nach Martin Sabrow, Erich Honecker (1912–1994). Der Repräsentant des Realsozialismus in der DDR , in: Ders. / Schattenberg, Die letzten Generalsekretäre (wie Anm. 102), S. 203–230, hier S. 213. 104 »Man müsse tun, was der historische Fortschritt diktiere. Und dieses Diktat fiel in der Regel mit ihren Anweisungen zusammen. Es gab keine andere Option, als die Landwirtschaft zu kollektivieren. Der Wirtschaftsplan wurde in einer einzigen Fassung konzipiert, die jede Organisation zu bestätigen hatte, mochte sie auch formell berechtigt sein, ihn abzulehnen oder zu akzeptieren. Es gab nur eine Partei, und die war zu wählen.« Kornai, Kraft (wie Anm. 1), S. 175.

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trale, neue Rolle zu. Auch in der Endphase des Kommunismus, die unter dem Einfluss der sowjetischen Reformpolitik Gorbačevs stand, lassen sich ähnliche Phänomene beobachten. Viele der kommunistischen Erzählmuster des politischen Entscheidens sind von Hypokrisie und Rationalitätsfassaden geprägt, die den diktatorischen Charakter des Regimes verschleiern sollten und im Widerspruch zur Realität standen. Auf diese Weise entstand eine Diskrepanz zwischen den in der Gesellschaft verbreiteten Deutungen und Normen auf der einen Seite und den offiziellen Narrativen auf der anderen. Letztendlich trug dieser Widerspruch auch mit zum Verlust des Glaubens an die Legitimität des Regimes in der Gesellschaft bei.105 Andererseits unterscheiden sich mehrere sozialistische Narrative des Entscheidens nicht grundlegend von anderen in der Moderne gebrauchten Deutungsmustern, die auch in parlamentarischen Demokratien benutzt werden, wie beispielsweise die Betonung der Alternativlosigkeit von Entscheidungen sowie die Berufung auf formale Verfahren und kollektives Entscheiden.

105 Volf, Über Riesen und Zwerge (wie Anm. 5), S. 247.

Michael Niehaus

Entschiedenheit Zur Frage des Entscheidens in Lebenshilfe-Ratgebern im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts

1. Problemstellung Um 1900 lässt sich eine tiefgreifende Veränderung der Ratgeber-Literatur feststellen.1 Sie betrifft die Quantität (der Markt an Ratgeber-Büchern und Ratgeber-Broschüren nimmt ungeahnte Ausmaße an), die Inhalte (neben den Ratgebern für spezifische Segmente wie Manieren oder Hygiene wird zunehmend Unterstützung bei der erfolgreichen Selbsthilfe in Sachen Lebensführung überhaupt angeboten), die Adressaten (nunmehr kann das Leben eines jeden bei geeigneter Führung erfolgreich und glücklich verlaufen), die Form (es kommt zu einer Ausdifferenzierung der Formate, in denen Ratschläge vermittelt werden), die Sender (zunehmend legitimiert nicht mehr nur fachliche Expertise und institutionelle Autorität dazu, sich Rat gebend an ein Publikum zu wenden) und das Vertriebssystem (unter anderem entstehen auf Ratgeberliteratur spezialisierte Buchreihen und Verlage). Man kann sagen, dass sich in den ersten dreißig Jahren des 20. Jahrhunderts das Marktsegment der Ratgeberliteratur ausbildet, wie wir es – mutatis mutandis – heute kennen.2 Die moderne Ratgeberliteratur sagt uns weniger, was wir tun sollen, sondern sie will uns in erster Linie dabei unterstützen, unser Lebens-Ziel zu verwirklichen. Wir sollen – so oder so – in den Stand gesetzt werden, auf unser Ziel zuzusteuern und es aus eigener Kraft zu erreichen. Die Ratgeberliteratur des beginnenden 20. Jahrhunderts verbucht dieses Ziel in der Regel unter dem Begriff Erfolg, während man seit dem ausgehenden 20. Jahrhundert meist den Begriff Glück vorzieht (die Gründe für diese Verschiebung brauchen uns an dieser Stelle nicht zu interessieren). Damit sind zwar verschiedene Schwerpunkte gesetzt – der Erfolg wird zum Beispiel eher als etwas ›Erzwingbares‹ ausgewiesen als das

1 Die hier vorgestellten Überlegungen stehen im Kontext des DFG -Projekts »Poetik des Erfolgs. Institutionelle und narrative Dimensionen von Erfolgsratgebern (1900–1933)«. Ich danke meinen Mitarbeitern Horst Gruner und Wim Peeters für ihre Unterstützung. 2 Freilich handelt es sich um ein Segment mit äußerst unscharfen Grenzen. Fließende Übergänge gibt es insbesondere zum populärwissenschaftlichen Fachbuch, zur allgemeinen ›praktisch-philosophischen‹ Betrachtung und zum persönlich gehaltenen Erfahrungsbericht, der in der Nähe dessen anzusiedeln ist, was man neuerdings als Memoir bezeichnet.

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Glück –, aber in beiden Fällen steht die Forderung der Selbststeuerung mit ihren spezifischen Aporien im Raum.3 Für ein selbstgesteuertes, selbstverantwortetes Leben scheint das Fällen von (richtigen) Entscheidungen essenziell. In Bezug auf die Ratgeberliteratur des beginnenden 21. Jahrhunderts formuliert Sabine Maasen in einem mit »Es ist Ihre Entscheidung. Die Hypostasierung der Wahl in Ratgeberbüchern« betitelten Aufsatz, es handle sich bei dieser um ein »Genre präskriptiver Art«, das »Techniken« anbiete, »um zu entscheiden und das Entschiedene zu erreichen«,4 und dabei voraussetze, dass Selbststeuerung möglich ist, wenn man wirklich will: »Doch wie lernt man zu wollen und zu wählen? Da hilft wohl nur eine Entscheidung zur Paradoxie: Ich muss das Wollen wollen und das Wählen wählen.«5 Und wie geht das? Das Genre arbeite, so Maasen pointiert, an der »Formulierung und Prozeduralisierung dieses Paradoxes«, indem es »Mikrotechniken« zur Verfügung stelle, mit denen »Individuen sich als ›Entscheider‹ subjektivieren und auf diese Weise selbst regulieren« – »ganz im Sinne moderner governmentality studies, Regierungstechniken«.6 Diese Parallelisierung von auf den Einzelnen bezogenen »Mikrotechniken« des Selbstmanagements, der Selbstoptimierung auf der einen Seite und der auf Organisationen und Verbände usw. bezogenen »Regierungstechniken« auf der anderen Seite liegt zwar nahe, sie verdeckt aber, wenn man sich für die Logik des Entscheidens überhaupt und für die Logik des Entscheidens in LebenshilfeRatgebern im Besonderen interessiert, die eigentliche Frage. Es ist kein Zufall, dass das, was eine Entscheidung eigentlich ist bzw. was als eine Entscheidung zu gelten hat, von Maasen nicht näher expliziert wird. Niklas Luhmann (auf den sich Maasen selbst hin und wieder bezieht) beginnt seinen Aufsatz »Die Paradoxie des Entscheidens« mit der Feststellung: »Entscheidungen werden oft als Ursachen ihrer Wirkung angesehen.«7 Man tut der Einfachheit halber so, als ob das, was geschieht, die Folge eines – wie auch immer – autonomen (verantwortlichen) Entscheidungsereignisses ist. Entscheidungsereignisse werden aus dem Gesamtverhalten herausgehoben und den 3 Siehe zum Verhältnis von Glück und Erfolg genauer die Beiträge in dem von Stephanie Kleiner und Robert Suter herausgegebenen Band: Stephanie Kleiner / Robert Suter (Hg.), Guter Rat. Glück und Erfolg in der Ratgeberliteratur 1900–1940, Berlin 2015, insbesondere die Einleitung der Herausgeber (ebd., S. 9–41), sowie Wim Peeters / Horst Gruner, Glück durch Erfolg. Über die narrative Verfasstheit von Glück in der modernen Ratgeberliteratur (1990– 1933), in: Sylvie Le Moël / Elisabeth Rothmund (Hg.), Theoretische und fiktionale Glückskonzepte im deutschen Sprachraum (17. bis 21 Jahrhundert), Berlin 2019, S. 263–280. 4 Sabine Maasen, Es ist Ihre Entscheidung! Die Hypostasierung der Wahl in Ratgeberbüchern, in: Friedrich Balke u. a. (Hg.), Paradoxien des Entscheidens. Wahl / Selektion in Kunst, Literatur und Medien, Bielefeld 2004, S. 211–241, hier S. 212. 5 Ebd. 6 Ebd., S. 212 f. 7 Niklas Luhmann, Die Paradoxie des Entscheidens, in: Friedrich Balke u. a., Paradoxien des Entscheidens (wie Anm. 4), S. 17–55, hier S. 17.

Entschiedenheit  

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sogenannten ›Entscheidern‹ zugerechnet. Dies gilt – und um diese geht es Luhmann – für Organisationen und deren Beobachtung bzw. Selbstbeobachtung. »Der Sprachgebrauch dient, indem er nur wenige Entscheidungen als Entscheidungen markiert, dem ›upgrading‹ des Entscheidens, der Aufwertung bestimmter Entscheidungen als schwierig und wichtig. Das Mysterium der Entscheidung und das Mysterium der Hierarchie stützen einander wechselseitig.«8

Entscheidungen können vorbereitet und de facto vorweggenommen werden, das »Erfordernis der Zurechnung von Entscheidungen« bleibt bestehen.9 Da eine vollkommen rationale Entscheidung keine mehr ist, wird auf diese Weise Willkür zugeschrieben: »Man müßte also nicht fragen, wie der Entscheider sich fühlt, wenn er Willkür in sich aufsteigen spürt oder wenn er sich ›einen Ruck geben muß‹; sondern man muß diejenigen beobachten, die Willkür attributieren. Willkür scheint eine attributionsdienliche Fiktion zu sein.«10 Bezieht man nun dieses Verfahren der Entscheidungszuschreibung auf den Einzelnen als den Adressaten von Ratgeberliteratur, so stellt man sogleich fest, dass es eigentlich keinen Grund geben kann, weshalb es hier zu Zuschreibungen von Entscheidungen kommen soll. Die Hypostasierung eines irreduzibel willkürlichen Entscheidungsereignisses widerspricht zunächst einmal der Subjektposition des ›Ratbedürftigen‹. In der Ratgeberliteratur werden daher gerade keine Subjekte konstruiert, die vor einer Entscheidung stehen. Das heißt zunächst, dass sich die ratsuchenden Leser selbst nicht als ›Entscheider‹ beobachten. Das ist plausibel. Aber warum folgt daraus, dass auch die ratgebenden Verfasser nicht von Entscheidungen sprechen, wenn es darum geht, das Verhalten der Ratsuchenden zu beschreiben? Der Titel von Maasens Ausführungen – »Es ist Ihre Entscheidung!« – ist letztlich kein Zitat aus dem Ratgeber-Diskurs, sondern dessen beständiger Subtext, der da lautet: »Das Leben, Ihr Leben, ist Resultante von Entscheidungen, Ihrer Entscheidungen.«11 Es wird dem Subjekt, mit anderen Worten, zugemutet, sich selbst als ›Entscheider‹ zu verstehen, sein vergangenes und sein zukünftiges Leben als eigenen Zuständigkeitsbereich aufzufassen. Diese Adressierung ist eine notwendige Folge jedes Ratgeberdiskurses, da dieser nur Hilfe zur Selbsthilfe sein kann und Selbsthilfe als Möglichkeit stets unterstellen muss. Eine solche Zuschreibung von Autonomie ist aber nicht nur kontrafaktisch, sie ist auch gänzlich abstrakt. Gerade weil die LebenshilfeRatgeber dem Ratsuchenden als solchem aufbürden, sein Leben als Resultante seiner Entscheidungen aufzufassen, sprechen sie in Bezug auf jede konkrete Situation eine andere Sprache, die ohne die Kategorie der Entscheidung aus-

8 Ebd., S. 18 f. 9 Michael Niehaus, Die Entscheidung vorbereiten, in: Cornelia Vismann / Thomas Weitin (Hg.), Urteile / Entscheiden, München 2006, S. 17–36, hier S. 23 f. 10 Ebd., S. 19. 11 Maasen, Es ist Ihre Entscheidung! (wie Anm. 4), S. 211.

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kommt. In der Ratgeberliteratur zumal aus der hier in den Blick genommenen Epoche ist fast nie von Entscheidungen die Rede. Warum das so sein muss, soll im Folgenden am Material nachvollzogen werden.

2. Der Wille als Entscheidungsersatz Man kann die Hauptmasse der unzähligen Ratgeberbücher und -broschüren, die Ende des 19. Jahrhunderts und in den ersten Dezennien des 20. Jahrhunderts erscheinen, für den vorliegenden Zweck überblickshalber in verschiedene Gruppen einteilen. Eine erste Gruppe bilden gewiss die ›Nervenheilratgeber‹, die denjenigen, welche unter der Neurasthenie – der Krankheit der modernen Zivilisation – leiden, Rat, Trost und Hilfe verspricht. Eine andere, in sich sehr heterogene Gruppe verheißt sichere Wege zum Erfolg mittels des einen oder anderen Systems. In eine dritte Gruppe ließen sich all jene Ratgeber zusammenfassen, deren Anleitungen zum richtigen Leben innerhalb einer mehr oder weniger umfassenden (und mehr oder weniger esoterischen) Lehre erfolgen, wie es etwa in den Handreichungen der Neugeist-Bewegung der Fall ist. Allen drei Gruppen ist indes, freilich unterschiedlich ausgeprägt, ein Moment gemeinsam, ohne welches letztlich kein Ratgeber auskommt, das aber um 1900 zur zentralen Kategorie avanciert: das Moment des Willens.12 Nach 1900 wird der Kern der nervösen Leiden immer häufiger in einer »Willensschwäche« gesehen, weshalb »das Wesen der Therapie in einer Stärkung des Willens« bestehen musste.13 »Die Neurasthenie charakterisiert sich vornehmlich durch eine Willensstörung«,14 dekretiert etwa der Arzt Wilhelm Graff und will sie durch dieses Merkmal von »Nervosität und Hysterie«15 abgrenzen. Hilty gilt die Neurasthenie als »ein Krankheitszustand, in welchem dem Willen des Menschen nach und nach die Herrschaft über sich selbst zu entgehen scheint.«16 12 Umfassend hierzu Ingo Stöckmann, Der Wille zum Willen. Der Naturalismus und die Gründung der literarischen Moderne 1880–1900, Berlin 2009; sowie speziell zur Ratgeberkultur Michael Cowan, ›The Gymnastics of the Will‹. Abulia and Will Therapy in Early 20th Century German Culture, in: KulturPoetik. Journal for Cultural Poetics 5 (2005), S. 169–189. 13 Joachim Radkau, Das Zeitalter der Nervosität. Deutschland zwischen Bismarck und Hitler, München 2000, S. 399. 14 Wilhelm Graff, Wie muss der Neurastheniker leben und wie wird er gesund?, Berlin 1907, S. 8. 15 Ebd. 16 Carl Hilty, Über Neurasthenie, Bern 1906, S. 18 f.; schon Paul Julius Möbius erklärt in seinem Lehrbuch ›Die Nervosität‹, dass die »Willensschwäche ein Hauptzug« der Nervosität und diese bei der »Neurasthenie« am »reinsten ausgeprägt« sei, nämlich als »Ausdruck einer allgemeinen Erschöpfung«. »Die Kranken sagen selbst: ›ich kann nicht wollen‹«; s. Paul Julius Möbius, Die Nervosität, Leipzig 1882, S. 105; sie ist aber nicht das entscheidende Definitionsmerkmal (auch kommt bei der Kur der unmittelbaren Stärkung des Willens keine zentrale Rolle zu). Im Übrigen spielt im Diskurs über Nervenschwäche,

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Dass der Wille auch in der zweiten Gruppe, den Erfolgsratgebern, meist eine zentrale Rolle spielt, liegt auf der Hand. Buchtitel wie »Tatmensch. Eine Lebensberatung zu kraftvoller erfolgreicher Lebensgestaltung«17 verkünden es indirekt, Buchtitel wie »Ich will! Durch Selbsterziehung zum Lebenserfolg. Eine praktische Willensschulung von Prof. Dr. Otto Gramzow«18 unverhohlen. »[D]as Schicksal, das die Karten verteilt, ist im wesentlichen dein eigener Wille«, dekretiert auch der Erfolgs-Papst19 Orison Swett Marden in »Wer sich viel zutraut, der wird viel leisten!«, einem seiner vielen aus dem Amerikanischen ins Deutsche übersetzten Erfolgsratgeber.20 Zu dieser Gruppe kann man weiterhin auch diejenigen Ratgeber rechnen, die sich unmittelbar als ›Willensratgeber‹ verstehen und den persönlichen Erfolg mehr oder weniger als Abfallprodukt eines starken Willens auffassen, wie etwa der Philosoph Broder Christiansen (unter dem Pseudonym Uve Jens Kruse) in »Ich will! – Ich kann! Eine Schule des Willens und der Persönlichkeit«, der mit den Worten anhebt: »Kannst du wollen? Jedermann glaubt es von sich; in Wahrheit sind Allzuviele nur Willensstümper«.21 Diese Ratgeber modulieren letztlich in endlosen Variationen das Axiom: »Wem der Wille klar, stahlhart und wie Stahl zugleich geschmeidig ist, dem wird alles andere wie von selbst zufallen.«22 Auf eine etwas andere Weise willensbasiert sind auch die eher esoterischen Vorschläge etwa aus dem Dunstkreis der Neugeist-Bewegung, die sich um diese Zeit im Gefolge des amerikanischen New Thought Movement in Deutschland etablierte. Hier spielt der Begriff der (Selbst-)Suggestion eine besonders große Rolle. Robert Rameau etwa verspricht in »Der Erfolg im Leben und die Macht des persönlichen Einflusses« Großes mittels der durch Willensanstrengung möglichen »Ausübung des menschlichen Magnetismus«;23 nach Max Wardalls

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Nervosität und Neurasthenie neben dem Willen noch ein weiterer – mit ihm allerdings zusammenhängender Begriff eine zentrale Rolle: derjenige der Energie; dazu Horst Gruner, Typisch nervös. Der Nervenkranke im populären Gesundheitsbuch um 1900, in: Lucia Aschauer u. a. (Hg.), Fallgeschichten. Text- und Wissensformen exemplarischer Narrative in der Kultur der Moderne, Würzburg 2015, S. 87–110. Reinhold Gerling, Tatmensch. Eine Lebensberatung zu kraftvoller erfolgreicher Lebensgestaltung, Prien 1921. Otto Gramzow, Ich will! Durch Selbsterziehung zum Lebenserfolg. Eine praktische Willensschulung von Prof. Dr. Otto Gramzow, Berlin-Schildow 1934. Orison Swett Marden, Wer sich viel zutraut, der wird viel leisten! Einzig berechtigte Übersetzung aus dem Englischen von Dr. Max Christlieb, Stuttgart 1910; Marden hatte unter anderem großen Erfolg mit seiner 1897 ins Leben gerufenen Zeitschrift Success (mit einer halben Million Subskribenten). Ebd., S. 193. Uve Jens Kruse, Ich will! – Ich kann! Eine Schule des Willens und der Persönlichkeit, Leipzig 51925, S. 7. Ebd., S. 8; zu diesem Buch sowie zu Broder Christiansen im Allgemeinen Thomas Steinfeld, Ich will, ich kann. Moderne und Selbstoptimierung, Konstanz 2016, insbes. S. 18–29. Robert Rameau, Der Erfolg im Leben und die Macht des persönlichen Einflusses, Dresden o. J., S. 54.

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»Gedanken-Radio« übertrifft die »Gedanken-Kraftstation des Menschen« bei richtiger Anwendung den »vollkommensten Radio-Apparat um ein weites« und verheißt »Glück, Harmonie und die Meisterung des Lebens«.24 Aber es gibt auch andere Auswüchse: In der Talisman-Bücherei (Bd. 43) verkündet (Prof.) Hiram E. Butler25 aus San Francisco (in der 8. Auflage) unter dem Titel »Praktische Methoden den Erfolg zu sichern. Geheimnisse des Geschlechtslebens«, es sei die erste Bestimmung der »sexuellen Kräfte«, der »Erneuerung unserer eigenen Lebenskraft« zu dienen, weswegen auch Eheleute den Geschlechtsverkehr nur »einmal in 18 Monaten«26 ausüben sollten, und sogar die Lebenskraft raubenden nächtlichen Pollutionen könnten »durch einen vollständige[n] Entschluss im Gemüte«27 sowie durch die Reduktion des nächtlichen Schlafs auf bis zu einer halben Stunde pro Nacht verhindert werden, weil die Aufsparung des Spermas so viel zusätzliche Kraft geben würde. Man sieht leicht, dass der Wille in diesen drei Gruppen jeweils in unterschiedlichem Grad ins Spiel kommt.28 Wo es um Neurasthenie geht, wird die pathologische Unfähigkeit, überhaupt wirklich zu wollen, in den Mittelpunkt gerückt. Eine Stärkung des Willens wird als die Voraussetzung für die Gesundung und die Rückkehr in das normale gesellschaftliche Leben angesehen. Die Erfolgsratgeber versprechen gesellschaftlichen Erfolg durch die Steigerung des Willens über das normale Maß hinaus, weil Tugenden wie Durchsetzungsfähigkeit und Selbstdisziplin einen starken Willen voraussetzen. In der dritten Gruppe hingegen mündet dies in mehr oder weniger okkulte Vorstellungen von einer Freisetzung der im Menschen schlummernden Willenskraft, die das normale gesellschaftliche Maß übersteigt. In allen drei Fällen jedoch wird Willen als etwas betrachtet, wovon man nicht zu viel haben kann. Das ist eine notwendige Folge der Umstellung auf diese ›Währung‹: Wenn man den Willen hat, kann man (so die implizite Schlussfolgerung) auch willentlich davon Abstand nehmen, ihn voll und ganz zum Einsatz zu bringen. 24 Max Wardall, Gedanken-Radio. Der Mensch als Gedanken-Sender und -Empfänger. Ein praktischer Weg zu Glück, Harmonie und Meisterung des Lebens. Einzig berechtigte Übertragung aus dem Englischen von Ludwig Arens, Pfullingen o. J., S. 7. 25 Hiram Erastus Butler (1841–1916) gründete in den 1880er Jahren in Amerika die Genii of Nations, Knowledges, and Religions sowie die Esoteric Fraternity. Dass er Professor war, wie die deutsche Ausgabe behauptet, darf man bezweifeln. 26 Hiram E.  Butler, Praktische Methoden den Erfolg zu sichern. Geheimnisse des Geschlechtslebens, Dresden 81930, S. 35. 27 Ebd., S. 37. 28 Natürlich gibt es innerhalb des ersten Drittels des 20. Jahrhunderts eine Entwicklung der ›Ratgeberkultur‹, die nicht nur die Ausdifferenzierung auf verschiedenen Ebenen betrifft, sondern auch Verschiebungen im Hinblick auf den Stellenwert von zentralen Kategorien einschließt. So setzt nach dem Ersten Weltkrieg teilweise auch eine Reaktion auf das unhinterfragte ›Willensnarrativ‹ ein. Diese historische Dimension kann jedoch im Rahmen der Frage nach dem systematischen Ort der ›Entscheidung‹ in Ratgebern unberücksichtigt bleiben. Ebenso wenig wird auf (ebenfalls existierende) Ratgeber eingegangen, in denen nicht oder nur indirekt auf den Willen abgestellt wird.

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Was hat das nun mit dem Problem der Entscheidung zu tun? Die These kann hier nur lauten, dass die Inthronisierung des Willens in der einen oder anderen Form die Ratgeber davon entbindet, die Frage nach der Entscheidung zu stellen. Der Wille wird als eine Kraft gedacht, die dem Subjekt jederzeit und also auch in jeder Entscheidungssituation zur Verfügung steht. Also hat das so positionierte Subjekt auch die Kraft zur Entscheidung. Aber was heißt das? Wenn ein Subjekt am Scheideweg steht und sich zwischen Alternativen entscheiden muss, dann handelt es sich dabei ja nicht um einen Kraftakt. Aber ein Ratgeber positioniert das Subjekt, das er anspricht, eben nicht ›am Scheideweg‹. Einem Subjekt am Scheideweg kann nicht geraten werden. Es muss ›selbst entscheiden‹. Dort, wo ihm zu etwas geraten werden kann, handelt es sich nur scheinbar um einen Scheideweg mit gleichberechtigten Alternativen. Letztlich wird das beratene Subjekt auf diese Weise doppelt gesichert: Erstens wird vorausgesetzt, dass das willensstarke Subjekt jederzeit die Kraft dazu hat, sich für einen Weg zu entscheiden; und zweitens wird vorausgesetzt, dass das willensstarke Subjekt auf jedem der zur Entscheidung stehenden Wege seinen Weg machen wird. Auch in diesem Sinne darf das Sprichwort, demzufolge dort, wo ein Wille ist, auch ein Weg ist, verstanden werden. Für denjenigen, der seinen Blick unverwandt nach vorn auf seinen Weg richtet, kann sich die Frage, ob ein anderer Weg erfolgversprechender gewesen wäre, überhaupt nicht stellen. Auf diese Weise wird die Paradoxie des Entscheidens – wie es für Organisationen nicht möglich ist – durch die Logik der auf den Willen eines Einzelnen abzielenden Ratgeber zum Verschwinden gebracht. Um das Treffen von Entscheidungen wird, so ist die implizite Botschaft der Ratgeber, viel zu viel Aufhebens gemacht.

3. Entscheidung und Entschluss Auch das, worum nicht viel Aufhebens gemacht werden soll, ist gleichwohl vorhanden. Der Begriff, mit dessen Hilfe – wenn auch meist nur en passant – über das gesprochen wird, was man als Entscheidung beschreiben und beobachten kann, ist der Entschluss. In welchem Verhältnis steht der Begriff des Entscheidens zu dem des Entschlusses? Zunächst einmal ist festzuhalten, dass Entscheidungen nicht nur Handlungen sind (indem man eine Entscheidung trifft oder fällt), sondern eben auch Ereignisse (wie entscheidende Schlachten, Wahlentscheidungen oder Losentscheide). Gerade dies, dass auch Ereignisse als Entscheidungen bezeichnet werden, lässt die Dimension des Ereignishaften auch bei den Entscheidungen hervortreten, die als Handlungen zugerechnet werden. Der Entschluss hingegen ist immer auf das Handeln eines einzelnen Subjekts (oder selten auch eines Kollektivsubjekts) bezogen, das einen Entschluss fasst. Schon dies macht die unterschiedliche Semantik (und ›Grammatik‹) der Worte Entscheidung und Entschluss deutlich. Sie wirkt auch dann nach, wenn man nicht mehr von Entscheidungen überhaupt, sondern nur noch von Entscheiden als Handeln spricht. Häufig werden Entscheiden und Entschließen synonym

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verwendet, bisweilen aber so unterschieden, dass das Entscheiden die »Tätigkeit des Auswählens« zwischen Alternativen bezeichnet, der Entschluss hingegen »als spezifischer Begriff für das Ergebnis einer Wahl, also den Abschluß des Auswählens, benutzt«29 wird. »Definitionen, die die Begriffe Entschluss und Entscheidung gegeneinander abzugrenzen versuchen, argumentieren« also »in der Regel auf der Ebene der Zeitstruktur«, und zwar so, dass der Entschluss den »Endpunkt des ›Schwankens‹ zwischen den Motiven« bildet, wie Tanja Pritzlaff in ihrer Untersuchung »Entscheiden als Handeln« mit Bezug unter anderem auf Wilhelm Wundts »Grundriss der Psychologie«30 zusammenfasst. Abgesehen von dieser zeitlichen Ebene – doch mit dieser zusammenhängend – wird dem Entschluss aber auch »ein besonderes Vermögen des Akteurs« zugeordnet, nämlich »Ausdruck von ›Willensstärke‹ oder einer besonderen ›Entschlusskraft‹«31 zu sein. Demzufolge hat der Entschluss eine andere Herkunft als die Entscheidung; er schöpft gewissermaßen aus einer anderen Quelle. Beim Entschluss geht es nicht um die kognitive Fähigkeit des Abwägens, sondern um die Kraft, das Abwägen zu beenden oder aber gar nicht erst beginnen zu lassen. Das ist aber nur eine Seite. Ganz allgemein kann man sagen: Von Entscheidungen spricht man vor allem, wenn man für deren Folgen nicht zu sorgen hat. Wer sich am Scheideweg für die eine Alternative entscheidet, auf den kommen die Konsequenzen des gewählten Weges von selbst zu. Wo in den Ratgebern der Begriff der Entscheidung verwendet wird, geschieht dies in erster Linie, wenn es um geschäftliche Entscheidungen geht, wo man sich »einen genauen Einblick« in die »Vorgänge und Einzelheiten verschaffen« muss; wer hingegen »in unerfahrener Gutgläubigkeit und naiver Sorglosigkeit ohne klare Überlegung an eine Entscheidung herantritt, der verstößt gegen die elementarste Forderung, die man an einen denkenden Menschen zu stellen berechtigt ist«.32 Der Entschluss hingegen ist etwas, was das Subjekt selbst betrifft und für dessen Folgen es selber sorgen muss. Vom Entschluss ist die Rede, wenn es keine im Prinzip gleichberechtigten Alternativen gibt, sondern eine Forderung an das Subjekt ergeht, sich loszureißen und etwas zu seiner Sache zu machen, sich zu binden. Während eine Entscheidung sorgsam bedacht werden muss, gilt das zu lange Bedenken vor einem Entschluss als Zaudern und Zagen. So heißt es etwa: »Zaghaftigkeit gilt mit Recht schon als verlorenes Gleichgewicht; das Ringen mit

29 Christian Bungenstock, Entscheidungsorientierte Kostenrechnungssysteme. Eine entwicklungsgeschichtliche Analyse, Wiesbaden 1995, S. 39. 30 Tanja Pritzlaff, Entscheiden als Handeln. Eine begriffliche Rekonstruktion, Frankfurt a. M. 2006, S. 57. 31 Ebd., S. 58. 32 Paul Lechler, Geschäftserfolg und Lebenserfolg, Stuttgart 1912, S. 80; das gilt ebenso für die Ratgeber der Gegenwart. Der ›Taschen-Guide‹ »Entscheidungen treffen. Schnell, sicher, richtig« von Matthias Nöllke (Freiburg 62015) beispielsweise beschäftigt sich ohne weitere Begründung ausschließlich mit beruflichen Entscheidungen.

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dem Entschluß muß durch hinreichendes Vorausdenken abgekürzt werden«.33 Oder: Wenn man das »Gesetz des Erfolges«34 beherzigt, wonach man »an jede Aufgabe mit dem Vorsatz herantritt, das Wichtigste auszuführen, selbst wenn es noch so schwer sein sollte«, dann wird »das schädliche Zaudern vermieden«.35 Von einem Entschluss ist genau dann die Rede, wenn ihm Kräfte im Subjekt entgegenwirken.36 Waldemar Schweisheimer erklärt in seinem Buch »Warum so nervös? Nervöse Leiden und ihre Überwindung« anhand von kleinen Narrationen, welche Gegenkräfte das bei den werdenden Nervenkranken sein können: Ein Mann »verspricht sich Trost und Linderung durch die Erwartung einer Reise. Will freie Zeit benutzen, um sich gänzlich loszulösen aus umständegeschmiedeten, selbstgehärteten Sklavenketten. […] Der Mann verschiebt die Reise. Verschiebt sie weiter, von Monat zu Monat, von Woche zur nächsten. Er kommt nicht los. Er kann sich nicht losreißen aus dem Alltagsgetriebe.«37 Oder ein ebenfalls im Alltag gefangener Mann denkt an einen kleinen Genuss: eine Rose kaufen, eine Tafel Schokolade verschenken, ein Konzert besuchen. »Der Mann geht bewegt daran, den Entschluß auszuführen. Auf einmal: – er zögert, er besinnt sich, stiehlt sich fort […].«38

33 Ludwig Schwenk, Schaffensfreude und Lebenskunst. Ein Handbuch für junge Männer, Stuttgart 1918, S. 49. 34 Fritz Theodor Gallert, Erfolg-Methode. Wie jeder Mensch ungeahnte Erfolge erzielen kann, München 1919, S. 12. 35 Ebd., S. 24; das Zaudern hat für den pragmatischen Sinn der Ratgeber schlechthin keinen Wert; die Vorstellung, dass das Zaudern deshalb, weil es nicht ›pragmatisch‹ ist, ein Ort der Erkenntnis sein kann, muss ihnen fremd sein; vgl. etwa Joseph Vogls Essay ›Über das Zaudern‹: »Wenn also Wille und Entschlossenheit sich dadurch auszeichnen, dass sie einen Abschluss und einen Endzustand herbeiführen, dem eigenen Ich einen festen Inhalt und Halt geben«, so habe man es bei den Fällen des Zauderns »mit prekären Zuständen zu tun, in denen eher das Ungewollte getan wird, das ›ich will‹ nicht zu einem Wollen führt, das Wollen selbst das Gewollte verhindert und der Blick auf Handlungsfolgen jedes Handeln suspendiert oder in einen unendlichen Regress von Gründen und Ursachen treibt. Damit wird zugleich eine ›theoretische‹ oder ›theoretisierende‹ Passion benannt, in der der Übergang zur Praxis nicht oder nicht mehr funktioniert«; s. Joseph Vogl, Über das Zaudern, Zürich 2007, S. 59 f. Zu den ›großen Männern‹, die von den Ratgebern als Beispiele für Entschlossenheit hingestellt werden, zählt der zaudernde Feldherr Wallenstein nicht (zu Wallenstein ebd., S. 39–56). 36 Die Berücksichtigung der ›Gegenkräfte‹ wird immer wieder betont: »Immer und überall wirkt Kraft und Gegenkraft […]. Das Schicksal als Gegenspieler des menschlichen Willens besteht aus Kräften, äußeren und inneren Kräften, die wir teils selbst in Schwung bringen und die teils – von uns geschaffen – von außen auf uns wirken.«; s. Ernst Issberner-Haldane, Werde Erfolgsmensch! Eine Schulung zum Ziel des persönlichen Erfolgs, Berlin-Schildow 1938, S. 14. 37 Waldemar Schweisheimer, Warum so nervös? Nervöse Leiden und ihre Überwindung, München 1925, S. 114. 38 Ebd., S. 112.

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Schon auf der sprachlichen Ebene wird hier deutlich, dass dem Entschluss, insofern die ihm entgegenstehenden Kräfte nach seiner Fassung andauern, eine problematische Zeitlichkeit innewohnt: Der Mann hat zwar einen ›Entschluss‹ gefasst, aber er führt ihn nicht aus. Die Ausführung (für die man selber sorgen muss) ist aber ein notwendiger Bestandteil des Entschlusses, der mithin kein ›wirklicher‹ Entschluss gewesen sein wird. Anders als bei der Entscheidung, für deren Folgen die brute facts oder die institutional facts dieser Welt sorgen, setzt der Entschluss Willensstärke voraus, weil er sich in der Haltbarkeit der Selbstbindung bewahrheiten muss. Deswegen hieß es etwa bei Butler, dass die nächtlichen Pollutionen nur »durch einen vollständige[n] Entschluss im Gemüte«39 beseitigt werden können. Das Festhalten an einem Entschluss, der im Hinblick auf ein klar umrissenes Ziel gefasst wird, gibt sozusagen das Maß für die Willensstärke an. Willensstärke ist Entschlossenheit, und Willensschwäche Unentschlossenheit.40 Für das Funktionieren der Ratgeber liegt es näher, dieses Problemfeld mit Hilfe der Kategorie des Willens anzugehen als mit der Kategorie des Entschlusses. Wie man bereits an den beiden zitierten Beispielen Schweisheimers sieht, kann die Güte eines Entschlusses nur innerhalb einer konkreten Situation beurteilt werden und bedarf dann eines gewissen Grades an narrativer Entfaltung. Und das Gleiche gilt für die Stärke eines Entschlusses, die sich ebenfalls nicht unmittelbar feststellen lässt, sondern die Beobachtung der Beharrlichkeit voraussetzt, mit der das Subjekt an ihm festhält. Schon dies macht plausibel, dass die Ratgeber auf den Willen als Möglichkeitsbedingung des Entschlusses fokussieren müssen. Hinzu kommt, dass die Paradoxien der Entschlossenheit zum Entschluss41 in anderer Weise offenbar sind als die des Willens zum Wollen. Und das hängt damit zusammen, dass der Entschluss trotz allem vom Entscheidungsproblem kontaminiert ist. Ein etwas genauerer Blick in Orison Swett Mardens »Wege zum Erfolg« macht deutlich, was es damit auf sich hat.

39 Butler, Praktische Methoden (wie Anm. 26), S. 37. 40 Es verwundert nicht, dass in Martin Heideggers ›Sein und Zeit‹, das ja in diesem Zeitraum entstanden ist (es wurde 1927 veröffentlicht), der Entschlossenheit der Rang eines Existenzials zukommt. Sie wird dort definiert als »das verschwiegene, angstbereite Sichentwerfen auf das eigenste Schuldigsein«; s. Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1927/141977, S. 296 f. (§ 60). Und der »Titel« der Unentschlossenheit drückt nach Heidegger »nur das Phänomen aus, das als Ausgeliefertsein an die herrschende Ausgelegtheit des Man interpretiert wurde.« (ebd., S. 299). 41 Die Marburger Studenten haben in den späten 1920er Jahren, wie berichtet wird, das Existenzial der Entschlossenheit in Sein und Zeit mit dem Ausspruch parodiert: »Ich bin entschlossen, nur weiß ich nicht wozu«; s. Rüdiger Safranski, Ein Meister aus Deutschland. Heidegger und seine Zeit, Frankfurt a. M. 1994, S. 191.

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4. Der Blick nach vorn In »Wege des Erfolgs« gibt es ein Kapitel, das den Titel »Brich alle Brücken hinter dir ab!« trägt.42 Im Grunde steht dort nicht viel anderes als das, was Marden auch in anderen Kapiteln (und in anderen Ratgebern) mit immer neuen Wendungen und Beispielen wiederholt. Eine interessante Ausnahme ist dieses Kapitel jedoch, weil es die Sachlage des Erfolgshungrigen mit Hilfe der Kategorien Entschluss und Entscheidung beschreibt. Das Kapitel beginnt mit dem Rückgriff auf die Tat eines großen Mannes: Caesar überschreitet den Rubikon  – ein Zurück gibt es nicht mehr.43 »Wie Napoleon« hatte Caesar »den Mut zu unabänderlichen Entscheidungen, die jede widerstreitende Überlegung ein- für allemal ausschließen.«44 Caesar und Napoleon werden uns hiermit sozusagen als Entscheidungsprofis vorgestellt, die wir uns zum Vorbild nehmen sollen: »Junge Leute machen, wenn sie sich in ein wichtiges Unternehmen einlassen, leicht den Fehler, sich ein Hinterpförtchen offen zu lassen für den Fall, daß die Sache schief ginge.«45 Nun ist vorderhand gar nicht ganz einzusehen, was daran so falsch sein sollte, wenn man nicht alles ›auf eine Karte setzt‹ – also letztlich die eine große Entscheidung in eine Abfolge mehrerer kleiner Entscheidungen aufteilt. Marden zufolge liegt dieser Fehler in der mangelnden ›Entschlusshaftigkeit‹ einer solchen Aufteilung. Entscheidungen werden eben auf dem Feld der Ratgeber immer schon als Entschlüsse aufgefasst, welche doppelt charakterisiert sind durch das Sich-Losreißen auf der einen und das Sich-Binden auf der anderen Seite. Das diesbezügliche Dogma lautet: »Niemand kann alle Kräfte entfalten und das Höchste ihm Mögliche leisten, so lange er weiß, daß er sich irgendwie durchretten kann, sobald ihm das Gefecht zu heiß wird.«46 Dass Marden hier zwei große Feldherrn als Beispiele anführt, zeugt nicht nur vom bellizistischen Hintergrund dieses dezisionistischen Dogmas, es ist auch deshalb bezeichnend, weil es sich wiederum um ein Entscheiden durch ›Entscheider‹ handelt, die eben nicht nur für sich, sondern auch (und vor allem) für andere entscheiden. Überträgt man das auf den Einzelnen, so heißt das, dass dieser in sich selbst eine ›Entscheider‹-Position generieren und isolieren muss, 42 Marden, Wer sich viel zutraut, der wird viel leisten! (wie Anm. 19), S. 86–96. 43 Von den Psychologen Heinz Heckhausen und Peter M. Gollwitzer wurde in den 1980er Jahren das sogenannte »Rubikonmodell der Handlungsphasen« entwickelt, das vier Handlungsphasen vorsieht (Abwägen, Planen, Handeln, Bewerten). Es gibt also das Handeln und das ›eigentliche Handeln‹. Das eigentliche Handeln ist nur durch Volition möglich, die im Grunde nur ein anderes Wort für Willenskraft ist; dessen Ursprünge liegen wiederum in der Willenpsychologie zu Beginn des 20. Jahrhunderts liegen (Kurt Levin und Narziß Ach). 44 Marden, Wer sich viel zutraut, der wird viel leisten! (wie Anm. 19), S. 87. 45 Ebd. 46 Ebd.

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auf dass die Entscheidung ein Entschluss werde. Die weitere These besagt dann, dass das Wissen um die Unwiderruflichkeit der Entscheidung rekursiv den Willen zur erfolgreichen Fortsetzung des Weges verstärkt. Das ist das Credo, das Marden (und andere Ratgeber) unermüdlich wiederholen: »An dem einen Punkt hängt dein ganzer Lebenserfolg: ob du dein Streben fest und unerschütterlich auf das Ziel richtest. Alle Brücken hinter dir abbrechest und den Mut habest, dein Schicksal auf einen großen Wurf zu setzen.«47 Das logische Problem dieser gewissermaßen entscheidungs- oder entschließungstheoretischen Beschreibung der Bedingung von »Lebenserfolg« besteht vor allem darin, dass hier eine große, historisch herausgehobene  – eben entscheidende  – Situation als Modell vorgestellt wird, die entsprechend narrativ und rhetorisch aufgeladen ist. Dadurch wird der Anschein erweckt, dass das ›Abbrechen der Brücken‹ seinerseits eine einmalige Handlung und somit ein einmaliger ›Willensakt‹ ist, mit der sich das Subjekt sozusagen programmieren kann. Dass das nicht so ist, machen die weiteren Ausführungen von Marden selbst deutlich. Leute hätten, so erklärt er, häufig keinen Erfolg, weil es ihnen »nicht recht Ernst ist«: »Sie wünschen zwar einen Erfolg, aber sie wollen ihn nicht mit der ganzen Kraft des Willens«.48 Hier ist man wieder – nolens volens – bei der Kraft des Willens angelangt. Die Verschiebung auf einen großen Entscheidungsmoment und auf einen Entscheider, der in einem einmaligen Willensakt die Brücken abbricht, genügt eben nicht. Am Ende steht vielmehr wieder die Notwendigkeit der Selbstdisziplin: »Sie mögen nicht Verzicht leisten auf kleine Annehmlichkeiten und wollen liebgewordene Behaglichkeiten nicht hinopfern um einer großen Zukunft willen. Sie wollen die Abende, die freien Augenblicke, die sie erübrigen können, nicht zur weiteren Ausbildung ihrer Person, ihrer Fachkenntnisse verwenden, um so tüchtig als möglich zu werden für die große Lebensarbeit.«49

Kein Rubikon weit und breit. Worum es geht, sind also nicht Entscheidung und Entschluss, sondern Entschiedenheit und Entschlossenheit. Diese freilich wirken sich dann in positiver Rückkopplung auf konkrete Entscheidungen und Entschlüsse sowie deren Erfolg aus. »Es ist erstaunlich«, doziert Marden, »wie alle Kräfte in uns erwachen und ihren Beistand anbieten, sobald wir mit unbeugsamem Sinn unserm Ziel zustreben und nichts anderes betreiben als den einen großen Zweck. Ein mächtiger Schwung erfasst den ganzen Menschen und reißt Geist und Körper zur höchsten Entfaltung ihrer Fähigkeit hin. Bist du erst einmal entschlossen, deinen Weg zu gehen, so sind viele Hindernisse, die der Zögernde und Zagende sieht, für dich gar nicht vorhanden. Ein kräftiger Entschluß verscheucht alle Schreckgespenste, vor denen der Mattherzige zittert.«50 47 Ebd., S. 88. 48 Ebd., S. 89. 49 Ebd. 50 Ebd., S. 91.

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Aus dem einen großen Entschluss, alles dem großen Ziel, dem Erfolg unterzuordnen, folgt die Entschlossenheit, die sich dann bei allen weiteren Entschlüssen wohltätig bemerkbar macht. Dieser eine große Entschluss der Zielsetzung ist jedoch gerade keine Entscheidung, weil eine Entscheidung die Alternativen beim Beschreiten eines Weges betrifft. Entscheidungen können nur dort getroffen werden, wo es Hindernisse auf dem Weg gibt und die Frage auftaucht, welche Alternativen es gibt, wenn man sie umgehen oder bei Seite räumen will. Dass diese Hindernisse für den wahrhaft Entschlossenen ›gar nicht vorhanden‹ sind, zeigt sehr deutlich, auf welche Weise diese Beschreibungslogik die Ent­scheidungsproblematik aus der Welt schafft: In der Selbstbeschreibung des Subjekts wird einfach darauf verzichtet, Entscheidungsereignisse als solche zu markieren. Das Problem der Entscheidungsschwachen besteht nicht so sehr darin, dass sie sich nicht entscheiden können, sondern vor allem darin, dass sie andauernd Entscheidungssituationen sehen. Weil Entscheidungssituationen dadurch definiert sind, dass man sich irren kann, befällt die Unentschlossenen (und darum auch Unentschiedenen) die Furcht, sie könnten ihre Entscheidung »nachher bereuen«, und das »schädigt ihre Urteilsfähigkeit«.51 Auch hier regiert also die positive (bzw. negative) Rückkopplung. Weil die »Versuchung, alles noch einmal zu überlegen, […] einer frischen Tatkraft verhängnisvoll« ist, gibt Marden den Rat: »Lieber tausendmal sich irren, als der verderblichen Gewohnheit des Schwankens zum Opfer zu fallen«.52 Kein Zweifel, dass das ein guter Rat ist. Nur setzt sich Marden damit in Widerspruch zu seinem eigenen Beschreibungsansatz. Es müssen schon ziemlich kleine Irrtümer sein, wenn sie tausendmal begangen werden können. Es sind jedenfalls nicht solche, bei denen es angemessen ist, von einem Rubikon zu sprechen oder davon, die Brücken hinter sich abzubrechen. Die große Entscheidungssituation wird zwar mit großen Worten aufgebaut, muss nachher aber wieder demontiert werden. Zu Entscheidungssituationen, die sich schlecht leugnen lassen, können Ratgeber daher nicht viel Vernünftiges beisteuern. Beleg hierfür ist etwa Mardens folgende Erklärung: »Beklagenswert ist es auch zu sehen, wie manche Leute viel Zeit und Leid daran wenden, um die Folgen einer vorschnellen Entscheidung ungeschehen zu machen, die sie in einem unbedachten und unbewachten Augenblick, vielleicht in einem Anfall von Leidenschaft und Mutlosigkeit getroffen haben.«53

Der Rat, man solle rasch und zupackend entscheiden, besagt natürlich nicht, dass man sich ›vorschnell‹ und ›unbedacht‹ entscheiden soll. Über das rechte Maß kann aber ein Ratgeber nur sehr Allgemeines von sich geben. Bezeichnend ist dabei auch, dass die vorschnelle Entscheidung hier nicht auf ein Übermaß 51 Ebd., S. 92. 52 Ebd., S. 93. 53 Ebd., S. 92.

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an Entschlossenheit zurückgeführt wird (wie könnte es das geben?), sondern im Gegenteil auf »Mutlosigkeit«, also letztlich Unentschlossenheit. Der Unentschlossene hält sich mit den negativen Folgen seiner Entscheidung auf. Der Entschlossene hingegen immunisiert sich, indem er nach vorn schaut. Falsche Entscheidungen sind ihm nur Kollateralschäden, über die er hinweggehen und die er vergessen muss. Die eigentliche Paradoxie, die im Anraten dieser unbekümmerten Marschroute liegt, ist offensichtlich. Was soll man denn nun tun, wenn einem die »Unentschlossenheit«, wie Marden es formuliert, »im Blute« liegt?54 Marden gibt hier die klare Anweisung, sich am eigenen Schopfe aus dem Sumpf zu ziehen: »Wenn du an dir die unselige Gewohnheit beobachtest, unentschlossen zu sein, immer zu schwanken und zu zweifeln, so entschließe dich, die Gewohnheit zu überwinden, oder sie wird dich überwinden. Nichts schädigt den Charakter so als die Gewohnheit, wichtige Angelegenheiten zur Entscheidung aufzuschieben. Wenn du solche Neigung in dir spürst, so zwinge dich zu raschen, festen, endgültigen Entschlüssen.«55

Freilich muss man einen starken Willen haben, wenn man sich dergestalt zwingen können soll. Womit wir wieder beim Anfang wären.

5. Willensentwicklung Eine Minimalform von Entscheidung (und mithin Entschluss) darf von jedem gedruckten Ratgeber (cum grano salis) allerdings vorausgesetzt werden, nämlich die Entscheidung, eben diesen Ratgeber zu lesen, sich von ihm adressieren zu lassen. Freilich wird gerade diese Entscheidung vorausgesetzt, sie hat bereits in der Vergangenheit stattgefunden, der Leser hat sich insofern entschieden. Er hat letztlich eine Kaufentscheidung getroffen. Welche Implikationen dieser ›Entschiedenheit‹ unterstellt werden, ist Sache der Interpretation. Zwar kann man sich beliebig viele Ratgeber kaufen, aber auch damit erweist man sich als ansprechbar. Mit der Ansprechbarkeit ist bereits ein Anfang gemacht, und es wird zur Sache der Ratgeber, den Anfang als entscheidend zu definieren, als etwas, was es nunmehr zu festigen und zu verstärken gilt. Allerdings klingt es etwas unbedarft, wenn ein Ratgeber dies unverhohlen expliziert wie Fritz Theodor Gallert in seinem Büchlein »Erfolg-Methode. Wie jeder Mensch ungeahnte Erfolge erzielen kann« (1919), der seine captatio benevolentiae sogleich in die erste Überschrift fasst: »Sie haben bereits bewiesen, daß Sie intelligent, optimistisch und vorwärtsstrebend sind! Inwiefern?«56 Erstens: »Nur intelligente Menschen verschaffen sich Aufklärung«, wie es in diesem Buch geschieht. Zweitens haben Sie (der Leser) »durch den Kauf dieses 54 Ebd., S. 93. 55 Ebd. 56 Gallert, Erfolg-Methode (wie Anm. 34), S. 3.

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Buches bewiesen, daß Sie Optimist sind, denn Sie hofften, etwas Nützliches zu finden«.57 Und drittens haben Sie durch das Verlangen nach einer ErfolgsMethode, »das Sie ebenfalls durch den Erwerb dieses Buches an den Tag gelegt haben«, gezeigt, »daß Sie vorwärtsstrebend sind«.58 Ratgeber setzen – auf der institutionellen Ebene der Einrichtung eines Bandes zwischen Verfasser und Leser – das Wohlwollen des Lesenden ihnen gegenüber voraus. Damit ist natürlich noch nicht sonderlich viel getan, aber immerhin stellt es einen Ansatzpunkt dar. Das Wohlwollen ergibt sich natürlich aus der Zustimmung des Lesers zu dem Ziel, dessen Erreichbarkeit der Ratgeber verheißt. Die Willenspsychologie entwirft zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein aus mehreren Phasen bestehendes Modell der Willensbildung. Der dem Jesuitenorden angehörende Julius Bessmer unternimmt in »Das menschliche Wollen« die Rekonstruktion dieser Phasen, indem er die Ergebnisse der neuen empirischen Psychologie so überzeugend mit der Terminologie der Scholastik (insbesondere Thomas von Aquin) verknüpft, dass man sich füglich fragen kann, wie viel Theologie in der Psychologie steckt (und umgekehrt). Das soeben genannte »Wohlgefallen am erkannten Ziele« (voluntas) ist nach seinem Modell der Anfang, der »Keim« des Wollens. Das »eigentümliche Wollen des Zieles« (intentio) hingegen schließt »den Willen ein, die notwendigen Mittel« zur Erreichung des Ziels anzuwenden;59 über diese notwendigen Mittel will der Ratgeber informieren. Dieser Willensabsicht folgt die »Überlegung« (consilium): »Man geht mit sich selbst zu Rate über Mittel und Wege, das Ziel zu erreichen«;60 hätte man etwa mehreren Erfolgsratgebern seine wohlwollende Aufmerksamkeit geschenkt, müsste man abwägen. Bevor es aber zum Akt der willentlichen Wahl (electio) des anzuwendenden Mittels kommt, muss noch – als ein eigenständiger Willensakt – der »consensus oder die Beistimmung«61 angenommen werden. So komplex wie dieses Gesamtpaket müssen dann auch die »Krankheitserscheinungen im Willensleben« ausfallen, mit denen sich Bessmer ausführlich beschäftigt. Die Hauptkrankheit ist natürlich die Willensschwäche. Diese »kann sich kundgeben entweder in einem Mangel an treibender und an hemmender Kraft in der Ausführung oder in der Schwäche des Strebens nach dem Ziele oder endlich in der Entschlussunfähigkeit.«62 Konkreter: »Der Wille ist schwach, wenn er nur halb will, es nur zu Velleitäten bringt; er ist schwach, wenn er die Ausführung immer hinausschiebt, mit den Willensimpulsen zaudert. Der Wille ist schwach, wenn die Ausführung lässig ist, keine Ausdauer zeigt, vor den gewöhnlichsten Schwierigkeiten kapituliert.«63 57 Ebd. 58 Ebd., S. 5. 59 Julius S. J. Bessmer, Das menschliche Wollen, Freiburg i. Br. 1915, S. 62. 60 Ebd., S. 63. 61 Ebd., S. 66. 62 Ebd., S. 143. 63 Ebd.

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Mit der anfänglichen voluntas wird es eher keine Schwierigkeiten geben, aber an der intentio, dem consilium, dem consensus und der electio kann es hapern. All dies kann Symptom der Willensschwäche sein. Und da es bei der electio nicht nur auf den Akt der Wahl ankommt, sondern vor allem darauf, diesem auch dauerhafte Folgen folgen zu lassen, kann es letztlich die Erreichung des Ziels sein, die von den Ratgebern als finales Kriterium für das Fehlen von Willensschwäche ausgewiesen wird. Steht diese Tautologie latent am Ende der Kette, so steht an ihrem Anfang das theoretische und praktische Problem, wie man unter den Umständen der Willensschwäche das Wollen wollen kann. Waldemar Domroeses Buch »Der Wille zur Persönlichkeit«, in dem sich »Theorie und Praxis kameradschaftlich die Hand«64 reichen wollen, versucht dieses Problem in dem Kapitel »Der Wille zum Wollen«65 zu lösen, das er zunächst mit den Worten zuspitzt: »Können wir wollen, wenn wir willensschwach sind? Dann müßten wir uns förmlich wie ein Münchhausen am eigenen Zopfe aus dem Sumpfe ziehen können!«66 Um hier Abhilfe zu schaffen, müssen wir uns zunächst klar machen, dass das Wollen eine komplizierte Sache ist, die gelernt sein will. Ein Symptom unserer Willensschwäche besteht insbesondere im kognitiven Fehler, dass wir versuchen, uns weiszumachen, dass der Wille etwas anderes ist, als er ist. Unter Berufung auf Ernst Meumann betont auch Domroese: »Jeder Vorsatz, jeder Entschluß, der nicht in die Tat ausmündet, ist nur ein verkümmertes Wollen und hat die Bedeutung eines Wunsches. Es gibt keinen Willen ohne Handlung!«67 Diese Einsicht soll dann in den »Vorsatz« münden, »von jetzt ab wirklich zu wollen«.68 Dieser Vorsatz ist möglich, weil der Wille – so auch Bessmer – nicht primär ist und die Willensschwäche einen »sekundären Mangel« darstellt.69 Anders ausgedrückt: Den Vorsatz etwa, sich einen Willensratgeber zu kaufen, kann ein jeder fassen, der die nötige Einsichtsfähigkeit hat. Und in diesen Ratgebern kann man dann lesen, wie man den Vorsatz, ›von jetzt ab wirklich zu wollen‹, in die Tat umsetzt. Nach Domroese muss es zunächst darum gehen, 64 Waldemar Domroese, Der Wille zur Persönlichkeit. Eine wissenschaftlich begründete Methode zur Willenserziehung, Steigerung der geistigen Fähigkeiten, zur rednerischen Schulung und Entwicklung der Persönlichkeit, Leipzig 1924, S. VII . 65 Ebd., S. 26–39. 66 Ebd., S. 26. 67 Ebd., S. 30; in ›Intelligenz und Wille‹ des Psychologen Ernst Meumann heißt es etwa: »[E]s ist eine irreführende Ausdrucksweise, wenn man von einem Willen spricht, der nicht zugleich ausführende Handlung ist. Denn der Charakter des wirklichen Willens und der Willenshandlung entsteht erst dadurch, dass ein Wunsch sich in die Ausführung umsetzt«; s. Ernst Meumann, Intelligenz und Wille, Leipzig 1908, S. 188. 68 Ebd. 69 »Wohl kann der Wille nicht wollen; aber es kann keinen Willen geben, dem das Wollen primär unmöglich ist. Wir müssen endgültig darauf verzichten, den primären Sitz des Übels im Willen zu suchen. Willenlosigkeit und Willensschwäche stellen einen sekundären Mangel dar; ihre Quelle liegt anderswo, nämlich in den Vorbedingungen des Wollens.«; s. Bessmer, Das menschliche Wollen (wie Anm. 59), S. 144.

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zu erkennen, welche der drei von ihm benannten Grundkräfte Wille, Gefühl und Intelligenz in uns am meisten entwickelt ist: »Hier ist unser Sprungbrett, hier setzen wir den Hebel bei uns an und versuchen, durch Höherbildung unserer natürlichen Anlage eine Mitbeeinflussung der anderen Grundkräfte zu erzielen.«70 Ein Beispiel: »Angenommen, zu unserer angeborenen Willensdisposition gehört als einzige instinktive Willensrichtung musikalische Liebhaberei.« Dann müssen wir, um unser »Allgemeinwollen« zu stärken, zunächst die »unserer natürlichen Anlage entsprechende […] Willensrichtung« anregen, wobei »Selbst­ überwindung« nicht nötig ist, »weil die Beschäftigung unserem Wesen entspricht«. Wir machen »aus dem Vergnügen eine Arbeit« und »dehnen die musikalischen Übungen täglich immer weiter aus«. Durch vernünftig gesetzte Ziele kann »die Arbeit infolge der angeborenen treibenden Faktoren zur Lebensarbeit werden«, weil mit der »Teilbetätigung des Willens […] der Wille ein allgemeiner geworden« ist: »Die in einem Punkte gewonnene Ausdauer läßt sich jetzt leichter auch auf andere Gebiete und in andere Richtungen lenken.«71 Das Zauberwort ist das Üben. Die Notwendigkeit des Übens wird von den Ratgebern allenthalben betont. Übungen aller Art werden vorgeschlagen und gepredigt. Man erklärt, »daß der Wille sich trainieren läßt wie ein Muskel«,72 dass das »Band zwischen Wollen und Tat« durch Übungen so fest werden kann »wie beim Soldaten das Band zwischen Führerbefehl und Gehorsam«: »Die gleiche Festigkeit soll durch Gewöhnung in Ihnen werden, nur daß Sie beides zugleich sind, Soldat, aber auch der Führer.«73 Die Kulturtechnik des Übens löst das Problem, »daß man wohl Handlungen wollen« kann, »nicht aber Zu­stände«74 und eben auch nicht den Zustand des Wollen-Könnens. Übungen kann sich allerdings jeder ausdenken. Zu den Übungen, die Kurt Rado in seinem kleinen Führer »24 Stunden richtig leben« empfiehlt, gehört die Folgende: »Spanne die ganze Körpermuskulatur intensiv an, indem Du beide Fäuste schließest, Armund Beinmuskulatur intensiv anspannst, die Zähne aufeinanderbeißt und dir im Geiste die Worte vorstellst: ›Ich will!‹ Danach verlasse mit einem Ruck das Bett und beginne die fünfte Übung.«75 70 71 72 73 74

Domroese, Der Wille zur Persönlichkeit (wie Anm. 64), S. 27. Ebd., S. 33 f. Kruse, Ich will! – Ich kann! (wie Anm. 21), S. 7. Ebd., S. 41. J. Marcinowski, Der Mut zu sich selbst. Das Seelenleben des Nervösen und seine Heilung, Berlin 1912, S. 34. 75 Kurt Rado, 24 Stunden richtig leben, Prien 51921, S. 6 f.; dass die Funktion des Ratgebers dann zunächst im Unterstützen des Übens besteht, wird etwa von Adolf Vomácka in einem Ratgeber für Neurastheniker direkt ausgesprochen: »Durch Übung kann man selbst ›Wollen‹ erlernen […] und durch letzteres alles erreichen. Daß es hierzu stets einer gewissen wach zu haltenden Aufmunterung bedarf, soll man nie aus dem Auge verlieren. Sofern selbe einem nicht seitens des Arztes, weil man ihn nicht immer um sich haben kann, genügend, seitens der Familie nicht mit vollem Verständnis zuteil wird […], dann

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Das Üben ist eine letzte Antwort auf die Paradoxie des Entscheidens. Man kann sich nicht für die Entscheidung entscheiden, man kann sich nicht zum Entschluss entschließen, man kann auch das Wollen nicht wollen, aber man kann das Üben üben. Denn es liegt ja gerade im Begriff des Übens, dass man es nicht schon können muss. Deshalb gibt es Übungsprogramme. Üben ist – so entdeckt man jetzt – immer auch Üben des Übens. Im Gegenzug gilt freilich, dass beim Üben nichts Entscheidendes geschieht. Das Üben ist diesseits oder jenseits des Entscheidens. Von der Entscheidung aus betrachtet, ist das Üben eine der Methoden, sich auf eine Entscheidung vorzubereiten, die man nicht selber trifft.

6. Die günstigen Gelegenheiten Wenn man auf den entscheidenden Moment wartet, muss man gewappnet sein. Das Üben ist eine der Formen, mit denen man sich wappnen kann. Es reiht sich zugleich ein in die Tugenden des Fleißes und der Ausdauer, mit denen man die Bahn des Erfolgs beschreitet. Beispiele hierfür sind die Geschichten großer Männer, die in vielen Ratgebern mehr oder weniger ausführlich aufgeführt werden. Einschlägig ist hier besonders der sogenannte »Smiles-Schramm«. Hierbei handelt es sich um ein Amalgam des einflussreichen Buchs »Self-help« des Schotten Samuel Smiles und der Zutaten des deutschen Schriftstellers Hugo Schramm-Macdonald mit dem Titel »Der Weg zum Erfolg durch Eigene Kraft. Nach dem Englischen für das deutsche Volk bearbeitet«,76 in dem nicht zuletzt die angelsächsischen Beispiele großer Männer durch deutsche Beispiele großer Männer ersetzt bzw. ergänzt wurden.77 Im Kapitel »Fleiß und Ausdauer« etwa erfährt man, wie lange Alfred Krupp unter schwierigsten Bedingungen durchhalten musste, bevor sich endlich der Erfolg einstellte78 oder wie sich Isaac Newton auch dadurch nicht entmutigen ließ, dass sein Schreibtisch ohne eigenes Verschulden in Flammen aufging und mit ihm »die mühevollsten Berechnungen, auf die er viele Jahre verwandt hatte«79 usw.

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kann vielleicht das vorliegende Buch diesen Platz ausfüllen.«; s. Adolf Vomácka, Was das Nervöse, der Neurastheniker von seiner Krankheit wissen und wie er leben muss, um gesund zu werden, Leipzig 1907, S. 27. Samuel Smiles, Der Weg zum Erfolg durch Eigene Kraft. Nach dem Englischen für das deutsche Volk bearbeitet von Dr. Hugo Schramm-Macdonald, Heidelberg 1980. Dazu Wim Peeters, Selbsthilfe »durch die Macht des Beispiels«. Der Weg zum Erfolg durch eigene Kraft von Hugo Schramm-Macdonald, in: Kleiner / Suter, Guter Rat (wie Anm. 3), S. 93–113, hier S. 93–98. Das ›Self Help‹-Buch von Samuel Smiles (1812–1904) erschien erstmals 1859. Der »Weltbestseller« (ebd., S. 94) wurde mehrfach ins Deutsche übersetzt. Rat wird hier in erster Linie (noch) durch die Nacherzählung des Lebens großer Männer erteilt, von denen man lernen könne. Smiles, Der Weg zum Erfolg (wie Anm. 76), S. 212 f. Ebd., S. 224.

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Für die Frage nach dem Entscheiden ist dieses hohe Lied auf Fleiß und Übung, auf Ausdauer und Geduld von Interesse, weil ihm eine gleichsam passive Seite innewohnt: nämlich die Seite des Wartens. Man kann den Erfolg nicht erzwingen, sondern man muss auf ihn warten können. Die entscheidende Kategorie ist hier die »günstige Gelegenheit« (sozusagen der kairos). Denn sie ist es, auf die man warten und auf die man vorbereitet sein muss, von ihr »hängt unendlich viel ab«.80 An Beispielen aus der Sphäre großer Männer ist kein Mangel. Eine scheinbar zufällige Gelegenheit war es, die Röntgen die Entdeckung der Röntgenstrahlen bescherte und James Watt die Entdeckung der Dampfmaschine, und eine »Kette geschickt genutzter Gelegenheiten brachte den von Haus aus armen Napoleon I. hoch«.81 Und das gilt auch im Kleinen, doziert Ludwig Schwenk in seinem »Handbuch für junge Männer«: »Täglich gibt es gute Gelegenheiten, sei es, daß sich zufällig eine interessante Beobachtung machen, sei es, daß sich einem Kameraden, einem Freund, einem Vorgesetzten eine Gefälligkeit erweisen läßt.«82 Im Großen wie im Kleinen sind Gelegenheiten das, was man geistesgegenwärtig und entschlossen ergreifen muss. Der Erfolg ist nicht gewiss, weil man ihn erzwingen kann, sondern weil sich die günstigen Gelegenheiten zwingend ergeben, wenn man sie nur zu erkennen vermag. Diese günstigen Gelegenheiten werden gerade nicht als Entscheidungen markiert, vor denen man steht, sondern als Ereignisse herausgehoben, die entscheidend sein können, wenn man sie entschlossen beim Schopfe packt. Und die Geschichten großer Männer können auch zum Beispiel dafür dienen, dass Entscheidungen durchaus auch falsch sein dürfen, wenn sie nur nicht ein Symptom der Unentschlossenheit sind. Insofern dient auch die ratgeberische Rede von den günstigen Gelegenheiten dazu, das Problem des Entscheidens aus der Welt zu schaffen. In dem Büchlein »Der Erfolg im Leben. Ein Buch für strebsame Leute« erzählt Heinrich Ernst Schwartz, wie er seinen Weg machen konnte, weil er eine günstige Gelegenheit ergriffen hat. Nach einer Schusterlehre wird der Jüngling Kolporteur, was ihm immerhin die Zeit lässt, seinen umfassenden »Wissensdurst« zu stillen und sich einem Kreis junger Leute, darunter Studenten, anzuschließen, denen gegenüber er sich als Buchhalter ausgibt. Dies führt dazu, dass sich die Mutter eines seiner neuen Freunde an ihn mit der Frage wendet, ob er nicht im Familiengeschäft die Bücher führen und den Geschäftsleiter vertreten könne. Das ist die günstige Gelegenheit: »Ich kam zwar in einige Verlegenheit, sagte aber mit der kecken Entschlossenheit eines Neunzehnjährigen zu.«83 Diese günstige Gelegenheit konnte aber nur ergriffen werden und nur der Beginn

80 Schwenk, Schaffensfreude und Lebenskunst (wie Anm. 33), S. 48. 81 Ebd. 82 Ebd. 83 Heinrich Ernst Schwartz, Der Erfolg im Leben. Ein Buch für strebsame Leute, Wien 1906, S. 15.

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seiner Laufbahn sein, weil er zuvor mehr getan und gelernt hatte als seiner Stellung entsprach. Diese kleine Geschichte kann als Beispiel dafür genommen werden, in welcher Weise die Erfolgsratgeber mit Narrationen arbeiten, die denjenigen, die Erfolg haben, die Entscheidungen gleichsam abnehmen. Möglich ist dies freilich nur aufgrund der Abstraktheit des Ziels. Diese Abstraktheit ist einerseits ge­w issermaßen das Apriori der Erfolgsratgeber, auch wenn es nicht immer so dezidiert gesagt wird wie bei Oscar Schellbach: »Wenn hier vom Erfolg gesprochen wird, so handelt es sich nicht um spezielle, sondern um alle Erfolgsgebiete.«84 Andererseits spiegelt sie sich aber in der Zielorientierung selbst. Denn für jeden Einzelnen, der den Weg des Erfolgs beschreitet, muss gelten, dass er über den Weg selbst nicht entscheiden kann und dass es viele Wege zum Erfolg gibt. Er kann sich das Feld, in dem er tätig ist und Erfolg hat, nicht selbst aussuchen, insofern er auf die günstige – die entscheidende – Gelegenheit warten und sie entschlossen ergreifen muss. In diesem Sinne heißt es bei Andrew Carnegie (1835–1919) – dem Tycoon, der sein »Evangelium des Erfolgs« in diversen Schriften verbreitet hat –: »Sind Sie einmal auf einem bestimmten Felde tätig, so halten Sie an Ihrem Entschluß, den Kampf auf diesem Felde aufzunehmen, bis Sie zu den Ersten gehören, fest.«85 Aber welches Feld das ist, darüber entscheidet anderes. Insofern muss der Erfolgreiche gut vorbereitet sein auf die günstigen Gelegenheiten – vielseitig und in gewisser Weise auch unentschieden: »In vielen Sätteln sitzen, verschiedene Pferde reiten können, darin liegt das Geheimnis des Erfolgs.«86

84 Oscar Schellbach, Mein Erfolgs-System. Ein gründlich erprobter und leicht gangbarer Weg zu persönlichem Erfolg, Hamburg 1928, S. 6. 85 Andrew Carnegie, Das Evangelium des Erfolgs, in dt. Übers. hg. v. Joseph M. Grabisch, Berlin 41933, S. 48. 86 Reinhold Gerling, Meine Nervosität, wie sie entstand und wie ich sie heilte. Ein neuer Weg zur dauernden Heilung krankhafter nervöser Zustände, besonders der sexuellen Neurasthenie, Oranienburg 1915, S. 76.

Regina Grundmann

»Und der Wähler wähle!« Semantiken und Narrative des Entscheidens in Responsa des orthodoxen Judentums im 20. Jahrhundert

Responsa sind ein etabliertes Forschungsgebiet der Judaistik / Jüdischen Studien.1 Neben der Erstellung von Editionen lagen die Forschungsschwerpunkte bislang hauptsächlich in der Erforschung von Responsa als sozialhistorischen Quellen und als Quellen zur Geschichte der Halacha.2 Von Peter J. Haas und insbesondere von Mark Washofsky, der an das Law and Literature Movement anknüpft, sind Ansätze entwickelt worden, die sich auf Responsa als literarische Texte und auf die Rhetorik von Responsa fokussieren.3 Diese Ansätze bieten wichtige Anknüpfungspunkte für eine Untersuchung der literarischen Dimension von Responsa. Der Fokus einer solchen Untersuchung, die ein Forschungsdesiderat darstellt, liegt auf Responsa als literarischen Texten, auf dem Respondenten als Autor, der sein Responsum prägt und gestaltet und dabei spezifische 1 Ein Responsum ist ein Gutachten, das eine halachische Autorität als Antwort auf eine schriftlich gestellte Anfrage verfasst. Das Responsa-Genre hat sich über einen Zeitraum von mehr als 1300 Jahren in verschiedenen jüdischen Zentren produktiv entwickelt. Res­ ponsa sind kein homogenes Genre, sondern sie werden durch die Person des jeweiligen Respondenten und den jeweiligen Kulturraum sowie durch veränderte Lebenswelten und kulturellen Wandel sowohl auf der inhaltlichen als auch auf der rhetorischen Ebene maßgeblich geprägt. Vgl. hierzu Regina Grundmann, Responsa als Praxis religiösen Entscheidens im Judentum, in: Wolfram Drews u. a. (Hg.), Religion und Entscheiden. Historische und kulturwissenschaftliche Perspektiven, Baden-Baden 2018, S. 163–178. 2 Vgl. hierzu ausführlich Grundmann, Responsa als Praxis religiösen Entscheidens (wie Anm. 1), S. 164. 3 Vgl. Peter J. Haas, The Modern Study of Responsa, in: David R. Blumenthal (Hg.), Approaches to Judaism in Medieval Times, Bd. 2, Chico 1985, S. 35–71; Peter J. Haas, Responsa. Literary History of  a Rabbinic Genre, Atlanta 1996; Mark Washofsky, Responsa and Rhetoric. On Law, Literature and the Rabbinic Decision, in: John C. Reeves / John Kampen (Hg.), Pursuing the Text. Studies in Honor of Ben Zion Wacholder, on the Occassion of his Seventieth Birthday, Sheffield 1994, S. 360–409; Mark Washofsky, Responsa and the Art of Writing. Three Examples from the Teshuvot of Rabbi Moshe Feinstein, in: Peter S. Knobel / Mark N. Staitman (Hg.), An American Rabbinate. A Festschrift for Walter Jacob, Pittsburgh 2001, S. 149–204; Mark Washofsky, Taking Precedent Seriously. On Halakhah as  a Rhetorical Practice, in: Walter Jacob / Moshe Zemer (Hg.), Re-Examining Reform Halakhah, New York 2002, S. 1–70; Mark Washofsky, Narratives of Enlightment. On the Use of the »Captive Infant« Story by Recent Halakhic Authorities, in: Walter Jacob (Hg.), Napoleon’s Influence on Jewish Law. The Sanhedrin of 1807 and its Modern Consequences, Pennsylvania 2007, S. 95–147.

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rhetorische Strategien einsetzt, sowie auf Responsa als Kommunikationsmittel zwischen Autor und Leser.4 Diese literaturwissenschaftliche Perspektive wird im vorliegenden Beitrag mit einem entscheidenstheoretischen Ansatz verbunden. So soll gezeigt werden, dass die Respondenten in den Responsa nicht nur bestimmte Semantiken verwenden, um den Entscheidensprozess zu rahmen, sondern dass sie sich auch eines spezifischen, in Teilen variierten Narrativs des Entscheidens bedienen, um die von ihnen in den Responsa beschriebenen Vorgänge und Handlungen als Teil eines Entscheidensprozesses zu bestimmen. Der Entscheidensprozess, den der Respondent in dem Responsum schildert, lässt sich – so die These – in theoretischer Hinsicht als Narrativ des Entscheidens auffassen. Helene Basu, Bruno Quast und Martina Wagner-Egelhaaf definieren in der Einleitung zum Sammelband »Mythen und Narrative des Entscheidens« ein Narrativ als ein »festgefügtes, zeitlich gerichtetes und axiologisches Erzählmuster […], das immer wieder aufgerufen wird«. Narrative sind demnach »als Geschichten modellierte Konzepte, die diskursiv sedimentiert sind.«5 In modifizierter Form lässt sich diese Definition auch auf Responsa übertragen: Im Rahmen seiner Analyse der für die Thematik relevanten halachischen Quellen positioniert sich der Respondent im Hinblick auf unterschiedliche, zum Teil einander widersprechende Meinungen innerhalb der halachischen Literatur und diskutiert auch alternative Entscheidungsmöglichkeiten. Unter Rückgriff auf bestimmte Topoi und Semantiken bewertet er die für die in dem Responsum behandelte Thematik relevanten halachischen Quellen in Bezug auf sein eigenes Entscheiden und begründet, ob und warum er die von anderen Gelehrten getroffenen Entscheidungen für richtig oder falsch hält. Bei seiner Analyse der relevanten halachischen Quellen folgt der Respondent dem innerhalb des halachischen Systems anerkannten Prinzip, dass die Rischonim, die früheren Gelehrten, als autoritativer gelten als die Acharonim, die späteren Gelehrten.6 Zugleich existiert seit gaonäischer Zeit (7.–11. Jahrhundert) das Prinzip hilkheta ke-vatra’ei, das heißt, dass Halacha ist, was die späteren Gelehrten entscheiden. Dieses Prinzip greift allerdings nur, wenn die späteren Gelehrten die Meinungen der früheren Gelehrten detailliert diskutieren und belegen können, dass ihre Auffassung, auch wenn sie früheren Autoritäten widerspricht, die richtige ist.7

4 Eine systematische Untersuchung der literarischen Dimension von Responsa erfolgt derzeit in dem Projekt B04 »Rhetorische Strategien in jüdischen und islamischen Rechtstexten« des SFB 1385 »Recht und Literatur« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, das die Verfasserin gemeinsam mit Norbert Oberauer leitet. 5 Helene Basu u. a., Einleitung, in: Dies. (Hg.), Mythen und Narrative des Entscheidens, Göttingen 2019, S. 7–20, S. 8. 6 Vgl. hierzu Menachem Elon, »Authority, Rabbinical«, in: Encyclopedia Judaica, Jerusalem 2 2007, Bd. 2, S. 703–705, hier S. 705; ders., Jewish Law, History, Sources, Principles, Philadelphia 1994, Bd. 1, S. 267. 7 Vgl. hierzu ebd., S. 267–272.

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Von diesen Prinzipien des halachischen Systems ausgehend bedeutet ein Narrativ des Entscheidens bezogen auf die Spezifika des Genres der ResponsaLiteratur, dass der Entscheidensprozess von den Respondenten nach wiederkehrenden Mustern beschrieben wird, wobei Autoritätshierarchien als Wertesystem mittransportiert werden. In der Responsa-Literatur sind solche Erzählmuster zumeist in der Darstellung des Entscheidens impliziert als Denkbewegung, die den erzählten Entscheidensprozess konstruiert. Diese Erzählmuster und Denkbewegungen dienen den Respondenten als Blaupause zur Legitimierung ihres Entscheidens. Von den Respondenten wird der Weg zur Entscheidungsfindung dargestellt und inszeniert, während sich der tatsächliche Entscheidensprozess gegebenenfalls auch anders abgespielt haben kann. Die Erzählmuster selbst werden durch verschiedene Topoi und sprachliche Figuren strukturiert. Mit der Beschreibung seiner Denkbewegung und Argumentation, die ein Narrativ des Entscheidens impliziert, verfolgt der Respondent zwei grundlegende, miteinander zusammenhängende Ziele: zum einen, sich als Autorität auf dem Gebiet der Halacha zu inszenieren, zum anderen, den Adressaten und gegebenenfalls weitere Leser seines Responsums von der im Responsum mitgeteilten Entscheidung zu überzeugen. Für die skizzierten Thesen stehen zwei maßgebliche Repräsentanten des Charedischen Judentums, das heißt des Ultraorthodoxen Judentums, exemplarisch: Eliezer Yehuda Waldenberg (1915–2006), Jerusalem, und Moshe Feinstein (1895–1986), New York. Waldenberg, der als Richter am israelischen Supreme Rabbinical Court tätig war, gehörte zu den führenden halachischen Autoritäten insbesondere im medizinethischen Bereich. Seine zahlreichen Responsa wurden unter dem Titel »Tzitz Eliezer« zwischen 1945 und 1998 veröffentlicht.8 Feinstein war als Posek haDor, als »Dezisor der aktuellen Generation«, die höchste Autorität des nordamerikanischen Orthodoxen Judentums. Er verfasste mehrere Tausend Responsa, die unter dem Titel »Iggrot Moshe« zwischen 1959 und 1996 publiziert wurden.9 Die beiden Poskim (»Dezisoren«) Feinstein und Waldenberg sind für diesen Beitrag gerade auch deshalb von besonderem Interesse, weil sie in den 1970er Jahren in ihren Responsa eine Kontroverse über eine Entscheidung des jeweils anderen ausgetragen haben. Eine wichtige Quelle für die Wahrnehmung des halachischen Entscheidens­ prozesses durch die Poskim stellt Moshe Feinsteins Vorwort zu seiner Responsasammlung »Iggrot Moshe« dar. Anhand dieses Vorworts lässt sich zeigen, wie ein maßgeblicher Posek (»Dezisor«) des 20. Jahrhunderts Entscheiden in Bezug auf Responsa reflektiert und dabei ein in der Responsa-Literatur gängiges Narrativ des Entscheidens theoretisiert (1.). Wie Entscheiden semantisch gerahmt wird, mit welchen Topoi und sprachlichen Figuren die beschriebenen Erzählmuster strukturiert werden und mit welchen rhetorischen Strategien Autorität inszeniert wird, soll anhand von Beispielen aus den Responsa Feinsteins 8 Tzitz Eliezer, 22 Bde., Jerusalem 1945–1998. 9 Iggrot Moshe, 8 Bde., New York 1959–1996.

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und Waldenbergs exemplarisch gezeigt werden (2.). Am Beispiel des Disputs zwischen Feinstein und Waldenberg wird ein besonderer Fall innerhalb der Responsa-Literatur analysiert: der innerhalb der Responsa selbst offen ausgetragene Dissens unter zeitgenössischen Respondenten über den jeweiligen von dem Respondenten beschriebenen Entscheidensprozess und die jeweilige halachische Entscheidung. Auf diese Weise eine Kontroverse auszutragen, stellt die Respondenten im Hinblick auf die Inszenierung von Autorität vor besondere Herausforderungen und wirkt sich auch auf der rhetorisch-semantischen Ebene aus (3.). Abschließend soll die Frage nach Semantiken und Narrativen in Responsa weiterer Denominationen des Judentums aufgeworfen werden (4.).

1. Moshe Feinsteins Reflexionen über Entscheiden in Responsa Moshe Feinstein hat im Vorwort zu seiner Responsa-Sammlung »Iggrot Moshe« das Entscheidensverfahren, das Responsa darstellen, und die damit verbundenen Herausforderungen grundlegend reflektiert und beschrieben. Feinsteins Ausführungen dienen primär dazu, sein eigenes Entscheiden zu legitimieren. Deutlich wird an den Ausführungen, dass halachisches Entscheiden keineswegs selbstverständlich ist. Im Hinblick auf die Frage, ob ein Gelehrter die an ihn gerichteten Anfragen beantworten soll, verweist Feinstein zunächst auf die Auslegung von Sprüche 7,26 im Babylonischen Talmud: »Denn viele hat sie verwundet niedergeworfen – Das ist ein Gelehrter, der noch keine Entscheidungen treffen darf, es aber dennoch tut. Zahlreich sind die von ihr Erschlagenen – Das ist ein Gelehrter, der Entscheidungen treffen darf, es aber nicht tut.«10 Feinstein beruft sich dann auf eine vorangegangene Autorität, auf den bedeutenden Gelehrten Akiva Eger (1761–1837), der sich auf Grund der zuletzt angeführten Auslegung in bSota 22b dazu verpflichtet fühlte, die an ihn gerichteten Anfragen zu beantworten. Feinstein führt weiter aus, dass diejenigen, die davon absähen, halachische Entscheidungen zu treffen, dies täten, weil auch nach wie vor – wie in den Tagen der talmudischen Gelehrten – nach der »Wahrheit des Gesetzes«11 entschieden werden müsse und man sich vor einer falschen Entscheidung fürchte. Diese Angst habe die Poskim der vorangegangenen Generationen jedoch nicht von ihrer Verpflichtung abgehalten, eine Entscheidung zu treffen, denn »sie [die Tora] ist nicht im Himmel«, was bedeute, dass die Tora von den Gelehrten ausgelegt werden müsse.12 Von besonderer Bedeutung ist für Feinstein in diesem Zusammenhang die folgende talmudische Erzählung, in der es um die herausragenden Verdienste des Aqiba ben Josef (2. Jahrhundert nach der Zeitrechnung) als Ausleger der Tora geht:

10 bSota 22b. 11 Iggrot Moshe, Orach Chayim, 1, Vorwort. 12 Vgl. Dtn 30,12 und bEr 55a.

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R. Jehuda sagte im Namen Rabs: In der Stunde, in der Mose in die Höhe stieg, fand er den Heiligen, gepriesen sei er, wie er dasaß und Kronen für die Buchstaben [der Tora] knüpfte. Da sagte er vor ihm: Herr der Welt, wer wartet darauf? Er antwortete ihm: Ein Mensch wird dereinst am Ende einiger Generationen erstehen; Aqiba ben Josef ist sein Name, der über jedes einzelne Häkchen [der Tora] Berge von Halachot auslegen wird.13

Diese talmudische Passage verdeutliche, dass Gott die Buchstaben der Tora souverän und unabhängig gemacht habe, damit die Gelehrten sie nach ihrem jeweiligen Verständnis auslegen können. Feinstein fühle sich daher verpflichtet, die an ihn gerichteten Anfragen zu beantworten. Feinstein theoretisiert den Entscheidensprozess des Posek und greift dabei auf das folgende Narrativ zurück: Jeder Posek müsse zunächst alle relevanten halachischen Quellen in der Reihenfolge der Hierarchisierung der Autoritäten nach der Tradition gewissenhaft studieren und analysieren. Im Hinblick auf die durch die Tradition vorgegebene Hierarchisierung verweist Feinstein mehrfach darauf, dass die jeweils vorangehende Gelehrtengeneration bedeutender und damit autoritativer als die aktuelle sei. Je weiter zeitlich eine Gelehrtengeneration von der Gegenwart entfernt sei, desto autoritativer sei ihre Lehre. Auch im Hinblick auf sich selbst hebt Feinstein hervor, dass er die an ihn gerichteten Anfragen erst dann beantworte, nachdem er die halachischen Quellen zu der Thematik sorgfältig analysiert habe: »Selbst auf die Ausführungen unserer großen Gelehrten stütze ich mich nicht blind, sondern ich habe sie mit größter Anstrengung geprüft.«14 Damit unterstreicht und inszeniert Feinstein gleichzeitig die eigene Autorität, der er sich genau bewusst ist: Er sieht sich in der Position, halachische Quellen bewerten zu können. Die Gründe für seine Entscheidung, das heißt seinen Argumentationsgang, lege er in seinen Responsa dar, damit der Anfragende die Argumentation prüfen und sich selbst ein Urteil bilden könne. Insofern verstehe er sich eher als Lehrer denn als Posek. Implizit hebt er dadurch hervor, dass die Entscheidung letztendlich beim Anfragenden selbst liegt. Deutlich wird an diesen Ausführungen, dass aus der Sicht des Posek die in dem Responsum mitgeteilte Entscheidung in der Halacha aufgefunden wird, wodurch versucht wird, die Kontingenz des Entscheidens zum Verschwinden zu bringen. Zugleich verweist Feinstein auf die Rolle Gottes als oberste Instanz im Entscheidensverfahren, das Responsa darstellen. Wenn der Posek seine 13 bMen 29b. Vgl. zu dieser Erzählung Regina Grundmann, »Wer sein Leben für Worte der Tora hingibt, in dessen Namen sagt man keine Halakha.« Die Heiligkeit des Lebens und das Sterben für Gott aus rabbinischer Sicht, in: Sebastian Fuhrmann / Regina Grundmann (Hg.), Martyriumsvorstellungen in Antike und Mittelalter. Leben oder sterben für Gott?, Leiden 2012, S. 217–240, hier S. 220 f. 14 Iggrot Moshe, Orach Chayim, 1, Vorwort.

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Entscheidung nach der gewissenhaften Analyse aller relevanten halachischen Quellen treffe, dann belohne Gott ihn für seine Mühen, selbst wenn seine Entscheidung nicht richtig sein sollte. Das richtige Verständnis der Halacha setzt für Feinstein allerdings immer göttlichen Beistand für den Posek voraus, was er auch für seine Responsa in Anspruch nimmt. Dies stellt gewissermaßen eine metaphysische Rückversicherung für den Respondenten dar.

2. Topoi und Semantiken zur Rahmung des Entscheidens Die oben beschriebenen Erzählmuster werden durch bestimmte Topoi strukturiert, die in bewertender Weise eine argumentative Wendung einleiten. Ein in den Responsa Feinsteins und Waldenbergs sowie in der Responsa-Literatur insgesamt häufig verwendeter Topos, mit dem die beschriebenen Erzählmuster strukturiert werden, ist der Bescheidenheitstopos, für den häufig die charakteristische Formulierung ›meiner bescheidenen Meinung nach‹ verwendet wird. Eine Variation dieses Topos besteht beispielsweise darin, dass sich Feinstein selbst als einen Gelehrten von geringer Bedeutung, ohne Kenntnis der Tora und ohne Weisheit beschreibt.15 Mit dem Rückgriff auf derartige Bescheidenheitstopoi geben die Respondenten eine Zurückhaltung vor, die jedoch gerade ihrer Kompetenz als Experten auf dem Gebiet der Halacha umso mehr Gewicht verleihen soll. Ein weiterer geläufiger Topos ist der Autoritätstopos, der aus dem beschriebenen Narrativ hervorgeht. Dieser Topos besteht in der Berufung auf eine Autorität, die höher bewertet wird als eine andere Autorität. Er lässt auch die Variante zu, eine bestimmte Autorität als nicht hinterfragbar zu präsentieren. So beruft sich Feinstein zum Beispiel zur Legitimierung seiner Entscheidung in Bezug auf Abtreibungen16 insbesondere auf den bedeutenden Gelehrten Moses Maimonides (12.  Jahrhundert). Gegen jegliche Kritik an der in der halachischen Literatur vieldiskutierten Stelle zu dieser Thematik in Maimonides’ Kodifikationswerk »Mischne Tora«17 führt Feinstein den autoritativen Status der Lehren des Maimonides an: Maimonides’ Haltung in Bezug auf Abtreibungen dürfe nicht hinterfragt werden, da dadurch alle seine Entscheidungen und die gesamte »Mischne Tora« diskreditiert würden.18 Gleichfalls findet der Topos des Wegs in diesem Kontext häufig Anwendung, wobei ›Weg‹ entsprechend dem hebräischen Wort derech sowohl metaphorisch aufgefasst werden kann als auch als Ausdruck für den Argumentationsgang im engeren Sinne. Zusätzlich klingt die Konnotation des Lebenswandels an. So wendet beispielsweise Waldenberg diesen Topos auf eine Auslegung des Moshe Schick an: »Dieser Weg des Maharam Schick [Moshe Schick] ist meiner bescheidenen Meinung nach ein neuer Weg, 15 16 17 18

Vgl. ebd. Vgl. Abschnitt 3 dieses Beitrags. MT, Hilkhot Rotzeach 1,9. Vgl. Iggrot Moshe, Choshen Mishpat, 2,69.

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den unsere Gelehrten, seligen Andenkens, nicht gegangen sind.«19 Der Topos des Prüfens und Wählens ist ein in diesem Kontext weiterer bedeutsamer Topos: Die Poskim halten die Leser dazu an, ihren Argumentationsgang zu prüfen und auf dieser Grundlage zu wählen, das heißt eine Entscheidung für verbindlich anzuerkennen oder abzulehnen. Bedeutsam ist in diesem Zusammenhang auch der verbreitete Topos der Verwunderung über die Entscheidung eines anderen Gelehrten, die der Respondent nicht teilt oder in Frage stellt. So schreibt Feinstein zum Beispiel: »Welch ein Erstaunen über das, was ich im Buch ›Rav Pealim‹ eines sephardischen Gelehrten sah […].«20 In weiteren Formulierungen schlägt sich dieser Topos nieder, wenn der Respondent sich zum Beispiel über die Entscheidung eines anderen Gelehrten »überaus verwundert« oder schlicht »verwundert« zeigt.21 Eine häufig anzutreffende Semantik, um die eigene Entscheidung in Abgrenzung von anderen Gelehrten zu legitimieren, ist die unmissverständliche Formulierung »Das ist einfach und klar« oder »Das ist klar und einfach«,22 die bereits in mittelalterlichen Responsa geläufig ist.23Auch eigene, vorangegangene Entscheidungen markieren die Poskim mit dieser Formulierung. So weist Feinstein beispielsweise die Bitte, eine frühere, in einem anderen Responsum mitgeteilte Entscheidung näher zu erläutern, mit den Worten zurück, dass er nicht die Notwendigkeit dazu sehe, da seine in dem anderen Responsum mitgeteilten Ausführungen »klar und eindeutig« seien.24 Eine ähnliche Semantik wird auch zur Legimitierung des Entscheidens anderer Gelehrter verwendet, zum Beispiel, wenn ein Posek schreibt, dass andere Gelehrte »klar« formuliert hätten.25 Zu den positiven, legitimierenden Semantiken, mit denen das Entscheiden anderer Gelehrter bewertet wird, gehört auch, dass ein Gelehrter »richtig«, das heißt zutreffend, geschrieben habe. So positioniert sich Waldenberg in einem Responsum beispielsweise positiv zu einer Auslegung des Judah Löw: Dieser habe, so Waldenberg, in seinem Kommentar »Gur Aryeh« »richtig« geschrieben, um die Auslegung einer Quelle durch einen anderen Gelehrten zu widerlegen.26 Feinstein wiederum schreibt zum Beispiel über eine für seine Entscheidung zentrale Quelle (Tosafot zu Niddah 44a), dass die Tosafot »ausgezeichnet« gefragt hät-

19 Tzitz Eliezer 9,51,3. Vgl. z. B. auch Tzitz Eliezer 18,30; 21,56. Zu dem Topos vgl. auch Abschnitt 3 dieses Beitrags. 20 Iggrot Moshe, Choshen Mishpat, 2,69. Vgl. z. B. auch Iggrot Moshe, Yoreh Deah, 2,60; 3,161. 21 Tzitz Eliezer 14,100. Vgl. z. B. auch Iggrot Moshe, Yoreh Deah, 3,161; Iggrot Moshe, Orach Chayim, 1,15. 22 Vgl. z. B. Tzitz Eliezer 7,3; 8,35; 12,59; 14,24. 23 Vgl. zu Semantiken des Entscheidens in mittelalterlichen rabbinischen Responsa Nicola Kramp-Seidels Beitrag in diesem Band. 24 Iggrot Moshe, Choshen Mishpat, 2,74. 25 Vgl. z. B. Tzitz Eliezer, 1,27; 2,11, 3,23. 26 Tzitz Eliezer 9,51,3.

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ten.27 Eine explizite Formulierung ist in diesem Kontext auch, wenn die Worte eines anderen Gelehrten als »bedeutend« bezeichnet werden.28 Auch bei der negativen, kritisierenden Bewertung anderer Meinungen sind verschiedene Semantiken auszumachen. Zum Teil erfolgt die negative Markierung semantisch auf eine eher subtile, implizite Weise, zum Beispiel dann, wenn Waldenberg versucht, den Einwand Jair Bacharachs gegen die Tosafot zu Niddah 44a, deren Ausdruck der Respondent für nicht präzise hält, mit den Worten zu entkräften: »Meiner bescheidenen Meinung nach ist es schwierig, so etwas von den Tosafot zu behaupten«,29 wofür er im Weiteren Argumente anführt. Auf eine semantisch explizite Weise erfolgt die negative Markierung mit Formulierungen wie »Dies ist nicht richtig« oder »Dies ist überhaupt nicht richtig«,30 ein bestimmtes Responsum sei »nicht zu beachten«31 oder man könne sich auf die Worte eines bestimmten Gelehrten »nicht stützen«.32 Zur negativen Markierung der Meinungen anderer Gelehrter gehört auch die deutliche Formulierung »Dies ist eine Sache, die sich so überhaupt nicht sagen lässt.«33 Insgesamt machen die angeführten Beispiele deutlich, dass die Poskim zur Strukturierung des oben erläuterten Erzählmusters auf etablierte Topoi zurückgreifen und dazu ein breites und differenziertes Spektrum an Formulierungen mit graduellen Abstufungen verwenden. Diese Topoi und Semantiken sollen zugleich auch das Vermögen des Respondenten, halachische Quellen bewerten zu können, rhetorisch unterstreichen und dienen damit auch der Inszenierung von Autorität.

3. Rhetorische Strategien im Fall von Dissens unter zeitgenössischen Respondenten Für eine exemplarische Untersuchung der Inszenierung von Autorität und ihre rhetorisch-semantischen Implikationen im Fall von Dissens unter zeitgenössischen Respondenten bietet sich insbesondere der in entscheidenstheoretischer Hinsicht höchst interessante Disput zwischen Waldenberg und Feinstein an, der in den 1970er Jahren in ihren Responsa ausgetragen wurde. Auslöser der Kon­ troverse war ein 1976 veröffentlichtes Responsum Feinsteins, in dem er Waldenberg scharf angriff, der ein Jahr zuvor im Falle der unheilbaren und tödlichen Tay-Sachs-Erkrankung des Ungeborenen einen Schwangerschaftsabbruch bis

27 Iggrot Moshe, Choshen Mishpat, 2,69. Vgl. u. a. auch Iggrot Moshe, Orach Chayim, 1,95; 1,163. 28 Tzitz Eliezer 10,25,5. 29 Tzitz Eliezer 9,51,3. 30 Vgl. u. a. Iggrot Moshe, Orach Chayim, 4,79; 5,39; Iggrot Moshe, Choshen Mishpat, 2,69; Tzitz Eliezer 5,33. 31 Vgl. z. B. Iggrot Moshe, Orach Chayim, 1,51; Iggrot Moshe, Choshen Mishpat, 2,69. 32 Ebd. 33 Ebd.

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zum siebten Schwangerschaftsmonat erlaubt hatte,34 während Feinstein Abtreibungen generell halachisch als Mord betrachtete und eine Abtreibung nur im Fall akuter Lebensgefahr der Mutter erlaubte.35 Feinsteins Responsum, das an seinen Schwiegersohn Moshe Dovid Tendler adressiert ist, geht nicht auf eine konkrete Anfrage zurück, sondern stellt eine Erwiderung auf das Responsum Waldenbergs dar.36 In dem langen Responsum analysiert Feinstein zunächst detailliert die relevanten halachischen Quellen und setzt sich auf dieser Grundlage am Ende des Responsums mit der Position Waldenbergs auseinander. Seine scharfe Kritik an Waldenberg leitet Feinstein mit den Worten ein, dass es in vielen Staaten, Israel eingeschlossen, erlaubt sei, »ungeborene Kinder zu töten« und dass deshalb bereits »unzählige« Ungeborene getötet worden seien.37 Aus diesem Grund müsse ein Zaun um die Tora errichtet werden und erleichternde Entscheidungen in Bezug auf das gewichtigste aller Verbote  – das Mordverbot – seien unbedingt zu vermeiden. Er sei daher »erstaunt« gewesen, als er »die Antwort eines Gelehrten in Israel« gesehen habe, die »dem Direktor des Shaarei Zedek Krankenhauses geschrieben und in dem Heft [Nr.] 13 [der Zeitschrift] Assia veröffentlicht wurde.«38 Feinsteins Affront besteht vor allen Dingen darin, dass er Waldenberg, zu diesem Zeitpunkt bereits ein bekannter Posek, nicht beim Namen nennt, sondern ihn als einen unbedeutenden Gelehrten darstellt, dessen Name nicht erwähnenswert ist. Dennoch ist durch die Erwähnung der Quelle und die Nennung des Adressaten des Responsums unmissverständlich deutlich, auf wen sich Feinstein bezieht. Bei seiner kurzen Wiedergabe der Hauptargumente Waldenbergs wirft Feinstein diesem vor, relevante Quellen unvollständig angeführt und falsch interpretiert zu haben. Daher solle man nicht den Fehler begehen, nach der »Antwort dieses Gelehrten«39 zu handeln. Verstärkend schließt er mit einem Zitat aus dem babylonischen Talmud – »Gott möge ihm vergeben«40 –, wobei klar erkennbar ist, dass Feinstein dieses Zitat auf Waldenberg und dessen aus Feinsteins Sicht offensichtlich falsche Auslegung 34 Tzitz Eliezer 13,102. Zu Waldenbergs Begründung dieser Entscheidung vgl. Daniel B. Sinclair, Jewish Biomedical Law. Legal and Extra-legal Dimensions, Oxford 2003, S. 52–59; Daniel Schiff, Abortion in Judaism, Cambridge 2002, S. 164–169; Melanie MordhorstMayer, Medizinethische Entscheidungsfindung im orthodoxen Judentum, Leipzig 2013, S. 135–173. 35 Iggrot Moshe, Yoreh Deah, 2,69. Vgl. auch ebd. 2,60. Zu Feinsteins Begründung dieser Entscheidung vgl. Sinclair, Jewish Biomedical Law (wie Anm.34), S. 53–59; Schiff, Abortion in Judaism (wie Anm. 34), S. 169–176; Mordhorst-Mayer, Medizinethische Entscheidungsfindung (wie Anm. 34), S. 185–227. 36 Vgl. Schiff, Abortion in Judaism (wie Anm. 34), S. 169. 37 Iggrot Moshe, Choshen Mishpat, 2,69. 38 Ebd. Waldenberg hatte das Responsum zunächst in der vom Schlesinger Institute for Medical-Halachic Research herausgegebenen Zeitschrift »Assia« veröffentlicht. 39 Ebd. 40 Vgl. bEr 29a; bJoma 86a; bSanh 99a; bSuk 32b. Vgl. auch den Raschi-Kommentar zu diesen Stellen. So heißt es in dem Raschi-Kommentar zu bSanh 99 auf Hillel bezogen: »Gott, gesegnet sei Er, vergebe ihm, dass er Dinge gesagt hat, die nicht so sind.«

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halachischer Quellen und eine daraus resultierende Fehlentscheidung bezieht. Bereits in der mittelalterlichen Responsaliteratur werden die weitreichenden Folgen einer Fehlentscheidung für die Respondenten deutlich thematisiert.41 Feinstein selbst weist in dem oben erwähnten Vorwort zu »Iggrot Moshe« darauf hin, dass sich ein Posek der Gefahr einer Fehlentscheidung immer bewusst sein müsse. Ein Posek werde, so Feinstein, von Gott belohnt, auch wenn seine Entscheidung sich als falsch erweisen sollte, vorausgesetzt, dass der Posek seine Entscheidung mit der allergrößten Sorgfalt getroffen habe.42 Wenn Feinstein also Waldenbergs Responsum als eine klare Fehlentscheidung darstellt, die der Vergebung Gottes bedürfe, unterstellt er ihm, dass Waldenberg die halachischen Quellen nicht sorgfältig genug und nach seinem besten Vermögen analysiert habe. Mit der Bitte, dass Gott ihm vergeben möge, versucht Feinstein somit, Waldenberg die halachische Expertise abzusprechen und seinen Status als halachische Autorität zu negieren. In ihrer Schwere stellt diese Bitte eine nicht mehr zu steigernde Abqualifizierung des Gegners dar. Zugleich inszeniert Feinstein abschließend nochmals deutlich seine eigene Autorität, indem er mit der Formel schließt: »Derjenige, der schreibt und unterschreibt zur Ehre der Tora und zur Ehre Gottes.«43 Seine Antwort auf Feinstein veröffentlichte Waldenberg ein Jahr später in Form eines Responsums, das an keinen spezifischen Adressaten gerichtet ist und daher als eine allgemeine Stellungnahme Waldenbergs zu Feinsteins harscher Kritik an seiner halachischen Entscheidung zu betrachten ist. Anders als Feinstein, der Waldenberg nicht namentlich erwähnt, hebt Waldenberg in der Einleitung seines Responsums hervor, dass man ihm die Ausführungen des »Gaon Rabbi Moshe Feinstein Shlit’a«44 gezeigt und er diese gründlich studiert habe. Obwohl eigentlich auf jedes Detail der Worte Feinsteins ausführlich geantwortet werden müsse, werde er sich kurzfassen und »nicht mit Lärm, sondern mit sanftem Schweigen«45 antworten, womit er offen den konfrontativen Ton des Responsums Feinsteins kritisiert. Die Einleitung beschließt Waldenberg mit der Aufforderung an den Leser, sich selbst ein Urteil über die jeweiligen Argumentationen und Entscheidungen Feinsteins und Waldenberg zu bilden und für sich zu entscheiden, welche Argumentation und damit welche Entscheidung ihn mehr überzeugt. Waldenberg greift dabei den Topos des Prüfens und Wählens auf, den auch Feinstein in seinem Vorwort zu »Iggrot Moshe« anwendet. Mit dem Appell »Und der Wähler wähle!«46 verdeutlicht Waldenberg an dieser 41 42 43 44

Vgl. Grundmann, Responsa als Praxis religiösen Entscheidens (wie Anm. 1), S. 168 f. Vgl. Iggrot Moshe, Orach Chayim, 1, Vorwort und Abschnitt 1 dieses Beitrags. Iggrot Moshe, Choshen Mishpat, 2,69. Tzitz Eliezer 14,100. Gaon ist ein Ehrentitel für einen herausragenden Gelehrten; Shlit’a ist ein Akronym, das ›Möge er ein langes und gutes Leben leben. Amen‹ bedeutet. 45 Ebd. 46 Ebd. Dieser Appell wird von Waldenberg gleichermaßen in anderen Responsa verwendet. Auch andere Respondenten greifen auf diesen Appell zurück, u. a. in den Varianten ›Und der Wähler wähle und prüfe‹ sowie ›Und der Prüfer prüfe und der Wähler wähle‹. Vgl.

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Stelle prägnant die zentrale Rolle, die dem Leser eines Responsums bei dem Entscheidensverfahren zukommt: Der Leser eines Responsums muss letztendlich entscheiden, welche halachische Entscheidung für ihn überzeugender und damit maßgeblich ist. Dabei geht Waldenberg natürlich davon aus, dass er die besseren Argumente hat, denn er inszeniert sich in der Einleitung seines Res­ ponsums als der überlegenere Gelehrte, der es nicht nötig hat, lautstark und polemisch zu antworten, sondern um Sachlichkeit bemüht ist. Im Laufe des Res­ ponsums wird der Ton Waldenbergs allerdings offensiver und schärfer. Er wirft Feinstein unter anderem vor, dass er seine Argumente in »pilpula«,47 das heißt in Haarspaltereien, ausdehne. Über den Topos des Wegs kritisiert er insbesondere Feinsteins Methodik: Feinstein habe die Tosafot zu Niddah 44a uminterpretiert und ihnen einen gegenteiligen Sinn verliehen, indem er von einem Schreibfehler spreche. Mit seiner Korrektur der Stelle habe Feinstein den »einfachsten Weg« gewählt. Daraufhin wendet sich Waldenberg direkt an Feinstein mit den deutlichen Worten: »Bei aller Ehre, nein, mein Herr, dies ist nicht der Weg!«48 Keinem der herausragenden Gelehrten der vorherigen Generationen sei dieser »leichteste und einfachste Weg«49 in den Sinn gekommen, zu behaupten, dass es in den Tosafot den Fehler eines Schreibers gebe und dass statt ›erlaubt‹ [mutar] ›verboten‹ [asur] zu lesen sei, womit Waldenberg sich auf die Autorität der Tradition beruft. Marc Washofsky hebt in Bezug auf die direkte Ansprache Feinsteins hervor, dass diese in »a language rarely heard in halakhic argument«50 formuliert sei, was zum einen erkennen lässt, wie sehr Feinsteins harsche Kritik Waldenberg getroffen hat, zum anderen, dass der in Responsa ausgetragene Dissens unter zeitgenössischen Respondenten auch zu neuen Semantiken zur Legitimierung der eigenen halachischen Entscheidung führt. Zudem lassen sich bei Waldenberg verschiedene rhetorische Strategien beobachten. Neben der direkten Ansprache Feinsteins, die dem Responsum einen dialogischen, lebendigen und offensiven Charakter verleiht, stellt Waldenberg beispielsweise auch rhetorische Fragen, um seine Kritik an der Vorgehensweise Feinsteins zu bekräftigen. So schreibt er über Feinsteins Vorgehen, das für Waldenbergs Argumentation zentrale Responsum des Joseph Trani [Maharit] mit dem Vorwurf der Fälschung abzutun: »Und was macht der Gaon Rabbi Moshe Feinstein mit diesen Worten des Maharit? Er wählt sich ebenfalls den einfachsten Weg, indem er schreibt, dass diese Antwort offenkundig keinesfalls zu beachten sei.«51 z. B. Tzitz Eliezer 4,11; 4,14; 9,41; 18,53; Teshuvot Yaskil Avdi II , Even haEzer 4; Teshuvot Divrei Chayim, Teshuvot nosafot 29. 47 Tzitz Eliezer 14,100. 48 Ebd. 49 Ebd. 50 Mark Washofsky, Abortion and the Halakhic Conversation, in: Walter Jacob / Moshe Zemer (Hg.), The Fetus and Fertility. Essays and Responsa, Pittsburgh 1995, S. 39–89, hier S. 54. 51 Tzitz Eliezer 14,100. Das Stilmittel der rhetorischen Frage wendet Waldenberg auch in anderen Responsa an. Vgl. z. B. ebd. 13,102.

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Darüber hinaus bedient er sich auch eines subtilen Wortspiels, indem er über Feinsteins Auslegung des Responsums Joseph Tranis schreibt: »Und ich rufe: Verwunderung! Verwunderung!«52 Diese Formulierung spielt auf Leviticus 13,45 an (vergleiche tameah, »erstaunt sein«, und tamei, »unrein«).53 Zudem verwendet er an verschiedenen Stellen die erste Person Plural, um die Leser seines Responsums stärker in den Argumentationsgang einzubeziehen. Gezielt versucht Waldenberg auf diese Weise, die Persuasivität seiner Argumentation rhetorisch zu bekräftigen. Waldenberg hält Feinstein seinerseits vor, verschiedene Quellen, die nicht zu seiner Argumentation passten, übergangen zu haben, zum Beispiel Waldenbergs Responsum zum »Schwangerschaftsabbruch aus Gründen der Gesundheit, des Makels der Mamserut oder der Familienehre«:54 Feinstein »verdächtige« ihn daher »grundlos«, das Responsum Nr. 97 Joseph Tranis nicht zur Kenntnis genommen zu haben.55 Waldenberg lässt sein Responsum mit der Bitte enden, dass Gott »uns vor Irrtümern rette und unsere Augen durch seine heilige Tora erhelle«,56 eine Aussage, die sich sowohl konkret auf die Poskim Waldenberg und Feinstein als auch auf Poskim im Allgemeinen beziehen lässt. Waldenbergs an Gott gerichtete Bitte kann als eine Metareflexion über Responsa als Entscheidungsverfahren gelesen werden: Nach Waldenberg sind Fehler in dem Entscheidungsverfahren, das Responsa darstellen, nicht ausgeschlossen, ein Aspekt, den auch Feinstein in dem Vorwort zu »Iggrot Moshe« betont. Durch die Verwendung der ersten Person Plural macht Waldenberg deutlich, dass sich grundsätzlich auch eine derart bedeutende halachische Autorität wie Feinstein irren kann, während er sich in den Augen der Gelehrten, die ihn als Posek haDor anerkennen, nicht irren kann. So ist zum Beispiel über Aharon Kotler, der vor Feinstein die größte halachische Autorität für das amerikanische Orthodoxe Judentum war und der Feinstein zum Posek haDor erklärte, überliefert: »Reb Aharon once could not contain his surprise upon hearing a psak that has been recently issued by Reb Moshe. Nevertheless, he said, ›The halachah is like him at all times. If the posek hador says that the halachah is so, then we must listen to him.‹«57 Indem Waldenberg seinerseits nicht mit einer direkt an Feinstein gerichteten Invektive endet, versucht er sich abschließend erneut als der sachlichere und überlegenere Gelehrte mit einem größeren Problembewusstsein zu inszenieren. Nicht die durch einen Ehrentitel verliehene Autorität ist damit für Waldenberg ausschlaggebend, sondern ausschließlich die Kraft der Argumente. Insgesamt zeigt die Kontroverse zwischen Feinstein und Waldenberg, dass ein in Responsa selbst ausgetragener Disput unter zeitgenössischen Responden52 Ebd. 14,100. 53 Vgl. Washofsky, Abortion and the Halakhic Conversation (wie Anm. 50), S. 82, FN 51. 54 Tzitz Eliezer 9,51,3. 55 Ebd. 14,100. 56 Ebd. 57 Zit. nach Shimon Finkelman / Nosson Scherman, Reb Moshe. The Life and Ideals of HaGaon Rabbi Moshe Feinstein, New York 1986, S. 97 f.

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ten, bei dem von einer direkten Reaktion der jeweils anderen Partei und gegebenenfalls auch von Stellungnahmen weiterer Poskim auszugehen ist, zu neuen Inszenierungsstrategien führen kann. Sowohl Feinstein als auch Waldenberg treten in ihrem jeweiligen Responsum als Autoren hervor, die sich als Autorität inszenieren, wobei sie zum Teil dieselben oder ähnliche, durch die Tradition vorgegebene, gängige Topoi und Semantiken zur Rahmung des Entscheidens­ prozesses verwenden. Waldenberg greift darüber hinaus auch auf weitere, zum Teil neue rhetorische Strategien und Semantiken zur Legitimierung seiner halachischen Entscheidung zurück.

4. Ausblick: Semantiken und Narrative des Entscheidens in Responsa des Konservativen Judentums und des Reformjudentums Innerhalb der im 20. Jahrhundert verfassten Responsa stellen das hier präsentierte spezifische, in Teilen variierte Narrativ des Entscheidens sowie die hier diskutierten, den Entscheidensprozess rahmenden Topoi und Semantiken wesentliche Charakteristika von Responsa des Orthodoxen Judentums dar. Das Responsa-Genre, das sich über einen Zeitraum von mehr als 1300 Jahren dynamisch entwickelte, hat während des 20. Jahrhunderts grundlegende Veränderungen erfahren, die in den Responsa des Konservativen Judentums (Masorti) und des Reformjudentums bzw. des Liberalen / Progressiven Judentums sichtbar werden. Diese Veränderungen lassen sich unter fünf zentralen Aspekten systematisieren. (1) Neue Verfahrensmodi: Innerhalb des Konservativen Judentums und des Reformjudentums bzw. des Liberalen / Progressiven Judentums wurde der Verfahrensmodus von Responsa ausdifferenziert, indem jeweils ein für Responsa zuständiges Gremium eingesetzt wurde.58 Durch die Gründung spezieller Responsa-Komitees wurden neue institutionelle Rahmen für das Verfassen von Responsa geschaffen, sodass sich die mit Responsa verbundenen Autoritätskonzepte veränderten. (2) Gewandelte Gender-Rollen: Responsa des Konservativen Judentums sowie des Reformjudentums bzw. des Liberalen / Progressiven Judentums werden auch von Frauen verfasst. Gegenwärtig verfasste Responsa sind damit nicht mehr ein ausschließlich von männlichen Akteuren bestimmtes Genre. (3) Verwendung säkularer Wissensbestände: Die Ressourcen des Entscheidens haben in Responsa des Konservativen Judentums und des Reformjudentums bzw. des Liberalen / Progressiven Judentums eine grundlegende Veränderung erfahren. Für Respondenten des Konservativen Judentums stellt die Halacha, die dynamisch interpretiert wird, zwar weiterhin die prioritäre 58 Es handelt sich um das Responsa Committee der Central Conference of American Rabbis (CCAR), der Vereinigung der Rabbiner des US -amerikanischen Reformjudentums, und das Committee on Jewish Law and Standards (CJLS) der Rabbinical Assembly (RA), der Vereinigung der Rabbiner des Konservativen Judentums.

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Ressource des Entscheidens dar, die aber durch weitere, nichthalachische Ressourcen ergänzt werden kann. Für Respondenten des Reformjudentums bzw. des Liberalen / Progressiven Judentums hingegen ist die Halacha nur eine von zahlreichen Ressourcen des Entscheidens.59 (4) Sprache: Die Entscheidung der offiziellen Vertretungen des Reformjudentums und des Konservativen Judentums in den USA , Responsa in der Landessprache zu verfassen, bedeutet, Res­ ponsa einem breiteren Adressatenkreis zugänglich zu machen. Die auf Englisch verfassten Responsa richten sich an ein anderes Publikum als die ›traditionellen‹, auf Hebräisch verfassten Responsa. (5) Neue Medien: Das Aufkommen der neuen Medien hat die Möglichkeiten, ein Responsum einzuholen, grundlegend erweitert. Es gibt nicht nur die Option, eine Anfrage in Briefform an einen Respondenten zu richten, sondern Anfragen können mittlerweile auch per E-Mail verschickt oder in Chatrooms und über Apps gestellt werden. Für den Respondenten bestehen neue Möglichkeiten, seine Entscheidung herzustellen, etwa durch die Veröffentlichung des Responsums auf Homepages und in Internetportalen oder durch die Zustellung per E-Mail.60 Sowohl das Verfassen von Responsa in der Landessprache als auch die neuen Veröffentlichungsmöglichkeiten von Responsa haben wesentliche Auswirkungen auf die Form, den Aufbau und den Stil von Responsa. Das Verfassen von Responsa innerhalb neuer institutioneller Rahmen, andere Autoritätskonzepte, neue Gender-Rollen, das Verfassen von Responsa in der Landessprache, die Einbeziehung nichthalachischer, säkularer Ressourcen des Entscheidens sowie Innovationen in Form, Aufbau und Stil der Responsa wirken sich auch maßgeblich auf die Semantiken und Narrative des Entscheidens aus, die in den Responsa verwendet werden. In von nicht orthodoxen Respondenten verfassten Responsa kommen andere Semantiken und Narrative des Entscheidens zur Anwendung als in Responsa der Orthodoxie.61 Dennoch gilt auch für gegenwärtige Responsa des Konservativen Judentums und des Reformjudentums bzw. des Liberalen / Progressiven Judentums, dass die Respondentinnen und Respondenten als Autorinnen und Autoren ihre Responsa prägen und gestalten. Unter unterschiedlichen Prämissen versuchen Respondenten aller Denominationen, die Adressaten ihrer 59 Zwar ist für orthodoxe Respondenten die Halacha als theonomes Recht nach wie vor die einzig legitime und normative Ressource des Entscheidens, aber Anfragen, insbesondere zu medizinischen Themen, erfordern dennoch zum Teil, dass selbst orthodoxe Respondenten nichthalachische, säkulare Wissensbestände, wie etwa wissenschaftliche Erkenntnisse, in ihre Entscheidungen miteinbeziehen. Vgl. z. B. Iggrot Moshe, Yoreh Deah 4,54; Iggrot Moshe, Choshen Mishpat 2,72. 60 Auch von Respondenten des Orthodoxen Judentums werden die neuen Medien genutzt. Wie die neuen Medien von Respondenten des Orthodoxen Judentums im Einzelnen und mit welchem Ziel genutzt werden und welche Implikationen sich daraus für Responsa als Entscheidensverfahren ergeben, ist noch zu untersuchen. 61 Ein Beitrag zu Semantiken und Narrativen des Entscheidens in Responsa des gegenwärtigen Konservativen Judentums und des Reformjudentums bzw. des Liberalen / Progressiven Judentums ist in Vorbereitung.

»Und der Wähler wähle!«  

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Responsa nicht nur inhaltlich, sondern auch auf der rhetorischen Ebene von der in dem Responsum mitgeteilten Entscheidung zu überzeugen. Die Inhalte und die Rhetorik von Responsa sind dabei eng miteinander verbunden, denn die Überzeugungskraft inhaltlicher Argumente hängt nicht zuletzt von ihrer rhetorischen Präsentation ab, wobei denominationsübergreifend jeder Respondent als Autor diese rhetorische Präsentation individuell ausgestaltet.

Isabel Heinemann

Von Birth Control zu Human Rights Semantiken reproduktiven Entscheidens im langen 20. Jahrhundert

Sexualaufklärung, hormonelle Verhütung, legale Abtreibung, assistierte Reproduktion – auf den ersten Blick haben sich die Möglichkeiten reproduktiven Entscheidens in den westlichen Gesellschaften in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fundamental verändert und erweitert.1 Frauen und ihre Partner können heute wählen, ob und wann sie Kinder bekommen, welches Verhütungs­mittel sie verwenden, ob sie Fertilitätsbehandlung, Adoption oder gar Leihmutterschaft in Anspruch nehmen, um ihren Kinderwunsch zu erfüllen. Gesundheits­ wissen, Kontrazeptiva, aber auch legale Abtreibungen und die moderne Reproduktionsmedizin sind für einen breiten Personenkreis zugänglich.2 Damit gehen jedoch wiederum neue Ausschlüsse und Einschränkungen der Optionen reproduktiven Entscheidens nach Rasse, Klasse und Geschlecht oder auch Religionszugehörigkeit einher, gerade im 21. Jahrhundert.3 Die Volatilität reproduktiver Entscheidungsrechte und -freiheiten zeigen nicht nur nationale Sterilisations- und Familienpolitiken – man denke an die Praxis eugenischer Sterilisationen in den USA der 1960er Jahre oder die Versuche der polnischen 1 Für eine umfassende Diskussion der Frage, wie sich die Möglichkeiten reproduktiven Entscheidens in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts veränderten vgl. Isabel Heinemann, Vom »Kindersegen« zur »Familienplanung«? Eine Wissensgeschichte reproduktiven Entscheidens in der Moderne 1890–1990, in: Historische Zeitschrift 310 (2020), S. 23–51. Der vorliegende Aufsatz, der Teile des HZ -Artikels aufgreift, entstand ebenfalls im Rahmen des von mir geleiteten Teilprojektes »Reproduktives Entscheiden in Deutschland und den USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts« des SFB 1150 »Kulturen des Entscheidens«. 2 Für den Vorschlag einer Typologie reproduktiven Entscheidens vgl. Claudia Roesch, »Children by Choice«. Family Decisions in the Campaigns of the Planned Parenthood Foundation, 1942–1973, in: Ann-Kathrin Gembries u. a. (Hg.), Children by Choice? Changing Values, Reproduction, and Family Planning in the 20th Century, Berlin 2018, S. 59–76. Zur Entwicklung der Möglichkeiten assistierter Reproduktion und ihren Konsequenzen vgl. Michi Knecht u. a. (Hg.), Reproductive Technologies as Global Form, Frankfurt a. M. 2012; Andreas Bernard, Kinder machen. Neue Reproduktionstechnologien und die Ordnung der Familie, Frankfurt a. M. 2014; Elisabeth Beck-Gernsheim, Die Reproduktionsmedizin und ihre Kinder. Erfolge – Risiken – Nebenwirkungen, Salzburg 2016. 3 Rickie Solinger, Beggars and Choosers. How the Politics of Choice Shapes Adoption, Abor­ tion, and Welfare in the United States, New York 2001; Dorothy Roberts, Killing the Black Body. Race, Reproduction, and the Meaning of Liberty, New York 1999; Jennifer Nelson, Women of Color and the Reproductive Rights Movement, New York 2003.

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Regierung seit den 1990er Jahren, Abtreibung wieder zu verbieten.4 Auch die Konzepte globaler Bevölkerungsplanung und -politik beinhalteten zumeist eine repressive Komponente – zumindest wenn es um die reproduktiven Entscheidungsfreiheiten von Frauen (und Männern) des globalen Südens ging.5 Zu all diesen Aspekten liegen bereits inspirierende erste Forschungen vor. Doch wie haben sich die Semantiken reproduktiven Entscheidens im Laufe des 20. Jahrhunderts verändert? Inwiefern hat die Veränderung der Begriffe reproduktiven Entscheidens die Erweiterung oder Einschränkung von Handlungsoptionen nur nachvollzogen bzw. ist diesen vorausgeeilt? Dies soll hier am Beispiel der USA untersucht werden. Die Arbeitshypothese dabei ist, dass ein Zusammenhang besteht zwischen den Begriffen, mit welchen reproduktives Entscheiden gefasst wird, und den gesellschaftlichen Rahmenbedingungen und Spielräumen dieses Entscheidens selbst. Konkret geht der Beitrag den folgenden Fragen nach: Wann löste die Forderung nach Geburtenkontrolle die Rede vom Schicksal mit Blick auf die Kinderzahl und den Altersabstand der Kinder ab? Wann wurde reproduktives Entscheiden als reproductive choice oder right to choose gerahmt, also als Möglichkeit der Wahl bzw. als ›Recht‹ zu wählen? Ersetzte der Gedanke der reproductive rights, also von einklagbaren reproduktiven Rechten, sukzessive das Konzept von choice? Wie verhielt sich schließlich der zeitgenössische Begriff der reproductive justice zu den Vorstellungen von Kontrolle, Planung, Wahl und Rechten? Um diese Fragen zu klären, untersuche ich die Berichterstattung der New York Times für das gesamte 20. Jahrhundert und kontrastiere diese mit Äußerungen von Sozialexpertinnen und -experten und Frauenrechtsorganisationen. Der Fokus auf die New York Times rechtfertigt sich durch die Tatsache, dass diese die führende überregionale Zeitung der USA war und noch immer ist, die zudem durch umfassend recherchierte Berichte den internationalen Standard für verlässlichen Zeitungsjournalismus gesetzt hat. Im Untersuchungszeitraum erzielte sie mit einer Printauflage von über 1,5 Millionen Exemplaren eine sehr hohe Verbreitung. Daher steht zu vermuten, dass sich die Diskurse über reproduktives Entscheiden hier aussagekräftig erfassen lassen. Aus diesen Quellen – New York Times und Äußerungen von Sozialexpertinnen und -experten sowie Frauenrechtsorganisationen – entwickele ich eine Typologie sich verändernder Semantiken reproduktiven Entscheidens. Zuvor stelle ich jedoch erst die Entwicklung der Rahmenbedingungen reproduktiven Entscheidens im 20. Jahr4 Johanna Schoen, Choice and Coercion. Birth Control, Sterilization and Abortion in Public Health and Welfare, Chapel Hill 2005; Alexandra Minna Stern, Eugenic Nation. Faults and Frontiers of Better Breeding in Modern America, Berkeley 2005; Joanna Mishtal, The Politics of Morality. The Church, the State, and Reproductive Rights in Postsocialist Poland, Athens, OH 2015; Silvia De Zordo u. a. (Hg.), A Fragmented Landscape. Abortion, Governance and Protest Logics in Europe, New York, Oxford 2017. 5 Rickie Solinger / Mie Nakachi (Hg.), Reproductive States. Global Perspectives on the Invention and Implementation of Population Policy, New York 2016; Matthew Connelly, Fatal Misconception. The Struggle to Control World Population, Cambridge 2008.

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hundert vor. Methodisch versteht sich mein Text als Beitrag zur historischen Semantik der Zeitgeschichte, in welcher bislang die »geschlechterspezifische Perspektive eine besondere Leerstelle« darstellt.6 Dies möchte dieser Artikel ein Stück weit korrigieren. Der Beitrag untersucht folglich am Beispiel der USA wie sich die Semantiken reproduktiven Entscheidens im Laufe des langen 20. Jahrhunderts veränderten. Ausgehend von einem Phasenmodell reproduktiven Entscheidens werden die zentralen Umbrüche in den Semantiken von birth control, reproductive choice / right to choose, reproductive rights, reproductive justice zeitlich und gesellschaftshistorisch verortet. Zugleich werden die jeweiligen Akteursgruppen – Sozialexpertinnen und -experten, Birth Control Movement, weiße Frauenbewegung, African American Women’s Health Movement – vorgestellt. Dabei wird gefragt, wem zu welchem Zeitpunkt überhaupt reproduktives Entscheiden zugestanden wurde und wem nicht und wie sich diese In- und Ausschlüsse in den Diskursen veränderten. Ein Ausblick auf die Veränderung der Semantiken reproduktiven Entscheidens in den Konferenzen der UN rundet den Beitrag ab.

1. Ein Verlaufsmodell reproduktiven Entscheidens im 20. Jahrhundert Um zu verstehen, wie Reproduktion im 20. Jahrhundert zunehmend entscheidbar wurde und für wen, ist ein Phasenmodell reproduktiven Entscheidens hilfreich, so habe ich an anderer Stelle argumentiert.7 Am Beispiel der USA habe ich dargelegt, dass drei Faktoren reproduktives Entscheiden determinieren: erstens Verhütungswissen, zweitens Zugang zu Verhütungsmitteln und legaler Abtreibung sowie drittens Agency der Akteurinnen, die nicht durch restriktive Geschlechternormen eingeschränkt sein darf. Diese Faktoren waren im Laufe des 20. Jahrhunderts in den USA unterschiedlich ausgeprägt, woraus sich wiederum vier Phasen reproduktiven Entscheidens entwickeln lassen: 1) Birth Control Movement und paternalistischer Expertendiskurs über Reproduktion 6 Kathrin Kollmeier, Begriffsgeschichte und Historische Semantik, Version: 2.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte (29.10.2012), http://docupedia.de/zg/kollmeier_begriffsgeschichte_v2_ de_2012 (Stand: 01. März 2019); dies. / Stefan-Ludwig Hoffmann, Einleitung zur Debatte: Zeitgeschichte der Begriffe? Perspektiven einer Historischen Semantik des 20. Jahrhunderts, in: Zeithistorische Forschungen / Studies in Contemporary History 7 (2010), S. 75–78, online unter http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-KollmeierHoffmann-1-2010 (Stand: 01. März 2019); Willibald Steinmetz, New Perspectives on the Study of Language and Power in the Short Twentieth Century, in: Ders. (Hg.), Political Languages in the Age of Extremes, Oxford 2011, S. 3–51. Zur Weiterentwicklung der Grundgedanken des begriffshistorischen Klassikers »Geschichtliche Grundbegriffe« vgl. Reinhart Koselleck, Sozialgeschichte und Begriffsgeschichte, in: Ders., Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache, Frankfurt a. M. 2006 (zuerst 1986), S. 9–31. 7 Heinemann, Wissensgeschichte (wie Anm. 1).

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in den 1910er bis 1930er Jahren, 2) Familienplanung zum Wohl der Nation und Einhegung des internationalen Bevölkerungswachstums in den 1940er und 1950er Jahren, 3) Ausweitung von Verhütungsmittelzugang und Frauenrechten in den 1960er und 1970er Jahre, 4) Auseinandersetzungen um Abtreibung und Reproduktion armer oder nicht-weißer Frauen in den 1980er und 1990er Jahren. Seit 1916 gab es in den USA eine Bewegung für Geburtenkontrolle (birth control), ins Leben gerufen von der Krankenschwester, Feministin und Aktivistin Margaret Sanger (1879–1966), die zu diesem Zeitpunkt in Brooklyn, New York, die erste Beratungsklinik einrichtete. 1921 folgte die Gründung der American Birth Control League (ABCL) durch Sanger, 1923 kam das Clinical Research Bureau als wissenschaftlich-klinischer Arm des Birth Control Movement hinzu. Sanger und ihren Mitstreiterinnen ging es vor allem um die Zugänglichkeit von Verhütungswissen, um die Gesundheit amerikanischer Mütter zu stärken. Ziel war die Abschaffung der Comstock Laws (1873), welche die Zirkulation von Verhütungsschrifttum und die Abgabe von Verhütungsmitteln als Verstoß gegen die Sittlichkeit mit hohen Strafen bewehrten, was Sanger selbst mehrfach ins Gefängnis brachte. Allerdings herrschte in der frühen Geburtenkon­ trollbewegung noch ein paternalistischer Expertendiskurs vor: Es ging darum, Frauen zu informieren und ihnen die Planung ihrer Schwangerschaften zu ermöglichen, nicht um eine grundsätzliche Infragestellung der traditionellen Geschlechterrollen.8 Im Rahmen der internationalen Konjunktur der Eugenik nach dem Ersten Weltkrieg propagierten in den 1920er und 1930er Jahren Vertreter der amerikanischen Eugenik-Bewegung wie Paul B.  Popenoe oder Harry H. Laughlin die Sterilisation der als ›defizitär‹ und damit ›unerwünscht‹ Betrachteten sowie die verstärkte Fortpflanzung der ›Erwünschten‹. Die Sterilisationspraxis im Staat Kalifornien seit 1909 und schließlich der Entscheid des Supreme Court 1927 im Fall Buck v. Bell, der die Zwangssterilisationen von Anstaltsinsassen bundesweit erlaubte, setzten genau dies um und schränkten so die reproduktive Handlungsfähigkeit von betroffenen Familien und Individuen ganz erheblich ein. Eugenisches Gedankengut seinerseits prägte auch Teile des Birth Control Movement, dies zeigen beispielsweise Sangers Korrespondenzen ganz deutlich.9 Nach dem Zweiten Weltkrieg wandelte sich die Argumentation der Experten: Statt Selektion sollte in den 1940er und 1950er Jahren eine bewusste Familienplanung zum Wohle der amerikanischen Nation und der Welt beitragen. Zwar wurden sukzessive die Zugänge zu Verhütungswissen und Verhütungsmitteln 8 Diese Fixierung auf den ›Mann als primären Entscheider‹ im ersten Drittel des 20. Jahrhundert spiegelt auch der Beitrag von Michael Niehaus zu Entscheidungshilfe-Ratgebern in diesem Band; hier werden Frauen allerdings nicht als Entscheiderinnen adressiert. Dabei stellten der Bereich reproduktiven Entscheidens und das frühe Birth Control Movement zumindest ein erstes Einfallstor für weibliche Entscheidungsmöglichkeiten dar, allerdings in den Grenzen der klassischen Geschlechterordnung. 9 Vgl. z. B. Margaret Sanger an Clarence Gamble, 28.11.1950. Harvard University, Countway Library of Medicine (HUCML), Clarence Gamble Papers, HMS c 23, Box 195, Folder 3096.

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(für verheiratete Angehörige der Mittelschicht) ausgeweitet, doch stellten diese weniger individuelle Rechte denn die Stärkung der US -amerikanischen Familie im Kalten Krieg und die Einhegung des globalen Bevölkerungswachstums in den Mittelpunkt. Neben der aus Sangers American Birth Control League hervorgegangenen Planned Parenthood Federation of America (PPFA) wurden nun vor allem Bevölkerungswissenschaftlerinnen und -wissenschaftler des maßgeblich von der Rockefeller Foundation geförderten Population Council, des staatlichen Population Reference Bureau und die Aktivistinnen und Aktivisten von Graswurzelbewegungen wie Zero Population Growth aktiv. Ihr Ziel war es, gesunde, bewusst geplante amerikanische Familien zu fördern und die vermeintliche population explosion in den Entwicklungsländern, aber auch unter der nichtweißen US -Bevölkerung einzuhegen. Auch hier sollte die Entscheidung primär bei den zumeist männlichen Experten liegen, die ab den 1960er Jahren zudem mit Pille und Spirale über neue Technologien verfügten. Frauen wurden dagegen erst sukzessive als Entscheiderinnen begriffen, hier­an hatte die Frauenbewegung der 1960er und 1970er Jahre und besonders ihre Kampagne für legale Abtreibung den zentralen Anteil. In den 1960er und 1970er Jahren stiegen zudem durch medizinische Techniken und Präparate Optionen für individuelle Reproduktionsentscheidungen an. Die Markteinführung der ›Pille‹, zunächst als Präparat Enovid der Firma Searle, im Jahr 1960 stellt hier einen wichtigen Wendepunkt da. Obgleich zunächst nur verheiratete Frauen aus der Mittelschicht in den Genuss einer Verschreibung kamen, nutzen bereits 1969 8.5 Millionen Frauen das orale Kontrazeptivum.10 Erst das Aufbegehren der Studentinnen an zahlreichen Colleges im ganzen Land und die Forderung der neu entstandenen Frauenbewegung nach reproduktiver Entscheidungsfreiheit führten dazu, dass ab Ende der 1960er Jahre die Pille auch von Unverheirateten bezogen werden konnte.11 Der Supreme Court erklärte erst im Jahr 1972 die Nutzung von Verhütungsmitteln durch unverheiratete Paare für legal.12 Ein weiterer Meilenstein für die Entwicklung reproduktiven Entscheidens in den USA war das Urteil des Supreme Court im Fall Roe v. Wade vom 22. Januar 1973, das Abtreibung unter Verweis auf das persönliche Entscheidungsrecht der Frau (»right to privacy«) für legal erklärte und damit die einzelstaatlichen Abtreibungsverbote aufhob. Lediglich im Fall einer Spätabtreibung (im zweiten oder dritten Trimester der Schwangerschaft) erhielten die Einzelstaaten Regelungsbefugnisse. Zugleich zeigten die weiterhin praktizierten Zwangssterilisationen an psychisch kranken, ethnisch unerwünschten oder sozial devianten Frauen in vielen Bundesstaaten die Kontinuität einer fortschreitenden Ökonomisierung des Sozialen in Verbindung mit rassistischen Ausgrenzungspraktiken. 10 Birth Control Pills ›Safe‹, Drug Agency Report Says: F. D. A.  Calls Birth Control Pills ›Safe‹, New York Times, 05.09.1969, S. 1; Beth Bailey, Sex in the Heartland, Cambridge 2004, S. 105. 11 Heather Prescott Munro, Student Bodies. The Impact of Student Health on American Society and Medicine, Ann Arbor 2007. 12 In der Entscheidung Eisenstadt v. Baird vom 22.3.1972.

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In den 1980er Jahren trafen Abtreibungsgegnerinnen und -gegner und Abtreibungsbefürworterinnen und -befürworter in aller Schärfe aufeinander. Grundlage waren unterschiedliche Auffassung von den Entscheidungsrechten der Frau (»my body, my choice«, so ein Slogan des Pro-Choice Movement) und zumeist religiös gefassten Vorstellungen vom Lebensrecht des Fötus (»right to life of the fetus«).13 Letzteres stellten die Abtreibungsgegnerinnen und -gegner uneingeschränkt über die Entscheidungskompetenz der Mutter. Reproduktion galt somit zwar als weithin entscheidbar, doch aus Gründen unbedingten Lebensschutzes wollten sowohl Vertreterinnen und Vertreter der Anti-Abtreibungsbewegung als auch konservative Politikerinnen und Politiker das Entscheidungsrecht der Frau wieder zurücknehmen. Ein weiteres umstrittenes Thema waren die vermeintlich defizitären Reproduktionsentscheidungen von Wohlfahrtsempfängerinnen. Das Stereotyp der vermeintlich irreparabel geschädigten afroamerikanischen Familie trat einmal mehr als Gegenstand moralischer Verfallsängste (Unehelichkeit und Teenager-Schwangerschaften, dysfunktionale Familien) und ökonomischer Bedrohungsszenarien (Kostenexplosion, Wohlfahrtsmissbrauch, »Welfare Queens«) auf den Plan. Zusammengefasst: Bereits in den 1940er Jahren galt den überwiegend männlichen Bevölkerungsplanern Reproduktion weithin als entscheidbar, auch wenn Frauen durch den eingeschränkten Verhütungsmittelzugang kaum wirkliche ›Entscheidbarkeit‹ erlebten. Ebenso konnte auch in den 1980er Jahren  – abhängig von ökonomischen Partizipationsmöglichkeiten und Bildungszugängen  – Reproduktion als etwas nicht Entscheidbares, nicht zu Entscheidendes wahrgenommen werden, auch wenn Expertinnen und Experten eine ›rationale Entscheidung‹ einforderten. Das für die USA herausgearbeitete Verlaufsmodell reproduktiven Entscheidens lässt sich durchaus auf andere westliche Gesellschaften übertragen: Bewegung zur Geburtenkontrolle, Eugenik-Bewegung, Förderung von Familienplanung, Kontrolle des internationalen Bevölkerungswachstums, Abtreibungs- und Frauenbewegung, konservativer Backlash – diese für die Rahmung reproduktiven Entscheidens zentralen Entwicklungen finden sich in vielen Staaten Westeuropas in ähnlicher Form, jedoch mit leichten chronologischen Abweichungen. Auch die Bedeutung von Expertenwissen und Experteninterventionen scheint vergleichbar, wobei die determinierende Wirkung der Faktoren Rasse und Klasse in den USA deutlich stärker hervortritt, wie zum Beispiel die äußerst negative gesellschaftliche Kommentierung der Reproduktionsentscheidungen nicht-weißer Frauen illustriert.14 Doch in welchen Semantiken wurde reproduktives Entscheiden überhaupt gefasst? 13 Zu den konfliktreichen Auseinandersetzungen und den Entscheidungsnarrativen der Abtreibungsbefürworterinnen vgl. den Beitrag von Claudia Roesch in diesem Band. 14 Für einen Überblick über europaweite Transformationen vgl. die Beiträge in: Gembries u. a., Children by Choice? (wie Anm. 2). Zu Konzepten als deviant aufgefasster afroamerikanischer Mutterschaft vgl. Anne Overbeck, At the Heart of it All. Discourses on the Reproductive Rights of African American Women, Berlin 2018.

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2. Semantiken reproduktiven Entscheidens von birth control zu reproductive justice Der mit Abstand traditionsreichste Begriff für reproduktives Entscheiden ist derjenige der birth control, der Geburtenkontrolle, symbolisiert er doch zumindest die Möglichkeit von Familienplanung und bewusster Reduktion der Kinderzahl anstelle einer Kette ungeplanter und womöglich gesundheitsschädigender Schwangerschaften. Wissen über Verhütung und Zugang zu Kontrazeptiva sollten Frauen die Entscheidung darüber ermöglichen, wie viele Kinder sie bekommen wollten und in welchem zeitlichen Abstand. Der Begriff selbst hängt auf das Engste zusammen mit dem Namen Margaret Sangers, der Pionierin der Geburtenkontrolle in den USA . Die Historikerin Ellen Chesler hat in ihrer umfassenden Sanger-Biographie herausgearbeitet, dass Sanger es war, die während der Arbeit an ihrer Aufklärungszeitschrift »The Woman Rebel« gemeinsam mit befreundeten Aktivisten den Begriff im Jahr 1914 erfand – das bisher gängige »family limitation« war ihnen zu passiv.15 In der New York Times taucht der Begriff erstmals am 6. Februar 1915 auf, in einem kurzen Bericht über einen Fonds für William Sanger, den Ehemann Margaret Sangers: »Mrs. Sanger, who was formerly a nurse, came out in favor of birth control and the restriction of the size of families.«16 Margaret Sanger hatte sich zum Zeitpunkt bereits nach Europa abgesetzt, um einer Verhaftung zu entgehen, doch William Sanger war beim Verteilen der von Margaret verfassten Broschüre »Family Limitation« im Januar 1915 verhaftet worden. Dies stellte einen Verstoß gegen das Verbot der Verbreitung ›obszönen‹ Schrifttums durch die sogenannten Comstock Laws von 1873 dar. Ein längerer Bericht über das Thema der birth control erschien hingegen am 27. Mai 1915.17 Hier wurde die organisatorische Gründung des Birth Control Movement (durch die Registrierung von 1.000 Unterschriften) zum Kampf für die Legalisierung von Geburtenkontrollinformationen, aber auch um den Zusammenhang zwischen (noch illegaler) Geburtenkontrolle und Armutsprävention sowie sozialer Eugenik thematisiert. Auch in den Folgejahren sollte der Begriff birth control die Diskussion in der Zeitung dominieren: Ein erster Höhepunkt war in den 1930er Jahren erreicht, als 427 Artikel birth control in der Titelzeile trugen (1.451 Erwähnungen in Titel und Text), ein weiterer zwischen 1960 und 1969. In diesem Zeitraum wurden 530 Artikel publiziert, deren Titel birth control enthielt, nicht weniger 15 Ellen Chesler, Woman of Valor. Margaret Sanger and the Birth Control Movement in America, New York 1992, S. 97; The Selected Papers of Margaret Sanger (SPMS), hg. v. Esther Katz u. a., Chicago 2003, Bd. 1, S. 70. 16 Raise a Fund for Sanger. Free Speech Argument for Man Arrested by Comstock, New York Times, 07.02.1915, S. 12. 17 Big Meeting Moves for Birth Control. Serious Gathering in Academy of Medicine Would Change the Penal Law, New York Times, 27.05.1915, S. 4.

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Abb. 1: Auswertung der Berichterstattung der New York Times über ›birth control‹, 1910–1999.

als 3.141 Artikel arbeiteten insgesamt mit dem Begriff. In den 1930er Jahren berichtete die New York Times im Wesentlichen über den Zusammenhang von Eugenik und Geburtenkontrolle zum Zwecke der Einhegung der Reproduktion der ›Unerwünschten‹18 sowie über die Versuche Sangers seit 1931 als Vorsitzende des National Committee on Federal Legislation for Birth Control (NCFLBC), eine Strafrechtsreform herbeizuführen.19 Dadurch sollte die Verbreitung von Schrifttum zu birth control und die Abgabe von Verhütungsmitteln an Patientinnen durch Ärztinnen und Ärzte nicht mehr unter die Comstock-Laws fallen. Die Trendwende kam allerdings erst mit einer Entscheidung des US -amerikanischen Berufungsgerichtshofs vom 6. Dezember 1936 mit dem kuriosen Titel »United States against One Package of Japanese Pessaries« (Die Vereinigten Staaten gegen ein Päckchen Japanischer Pessare)20, worin die Richter Ärztinnen und Ärzten das Recht zubilligten, Verhütungsmittel aus medizinischen Gründen zu importieren und zu verschreiben. Im konkreten Fall ging es um den Import von Pessaren aus Japan durch die Ärztin Dr. Hannah Stone vom Clinical Research Bureau, den Sanger als Testfall angestrengt hatte. Damit en18 Birth Control Peril to Race, Says Osborn, New York Times, 23.08.1932, S. 1; Birth Control Ban Fought By Doctors, 14.02.1931, New York Times, S. 21; Finds Race Aided by Birth Control, New York Times, 20.01.1930, S. 15. 19 Doctors Assailed Over Birth Control, New York Times, 24.3.1931, S. 9; Hails Church Move for Birth Control, New York Times, 15.4.1931, S. 32; 200 Hear Mrs. Sanger, New York Times, 26.03.1931, S. 56. 20 U. S. versus One Package of Japanese Pessaries, 86F.2d 737 (2nd Cir. 1936) vom 07.12.1936.

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dete ein jahrzehntelanger Streit um die Strafbarkeit der Verbreitung von Verhütungsinformationen und die Verteilung von Verhütungsmitteln aufgrund der Comstock Laws. In den 1960er Jahren hingegen kreiste die Berichterstattung der New York Times unter dem Schlagwort birth control um die durch die Pille revolutionierten Optionen reproduktiven Entscheidens, gegen Ende der Dekade allerdings auch um die Frage der Sicherheit des neuen Verhütungsmittels.21 Ab 1965 wurde der Begriff birth control im Hinblick auf die Haltung der Katholischen Kirche – also noch im Vorfeld der päpstlichen Enzyklika »Humanae Vitae« von 1968 – und die Entscheidung vieler Katholikinnen, sich über das Verhütungsverbot hinwegzusetzen, diskutiert.22 Hinzu kam, dass die New York Times birth control zudem immer häufiger in Verbindung mit dem Begriff right to choose verwandte. Dies reflektierte zunächst jedoch weniger die Formierung der zweiten Phase der Frauenbewegung und deren Forderung nach choice, sondern vielmehr Präsident Johnson’s War on Poverty, der auch über Verhütungsinformationen und die Verteilung von Verhütungsmitteln auf eine Reduktion der Armut (hauptsächlich der nicht-weißen Bevölkerung) in den USA abzielte.23 Als Feministinnen um Betty Friedan 1966 die amerikanischen Frauenrechtsorganisation National Organisation of Women (NOW) gründeten, traten sie für »full equality for all women in America, in truly equal partnership with men« ein.24 Zudem machte die Organisation binnen kurzem auch die Forderung nach reproduktiver Selbstbestimmung zum Kernthema.25 Auf ihrer ersten Jahrestagung nach der Gründung hielt die National Organisation of Women bereits fest, »that it is a basic right of every woman to control her reproductive life, and therefore, NOW supports the furthering of the sexual revolution of our century by pressing for widespread sex education, provision of birth control

21 Jane E. Brody, The Pill. Revolution in Birth Control, New York Times, 31.03.1966; dies., Birth Control Pills. A Balance Sheet on Their National Impact / Birth Control Pills. A Balance Sheet on Their Impact on Women and Research, New York Times, 23.03.1969; Richard D. Lyons, Birth Control Pills ›Safe‹, Drug Agency Report Says, New York Times, 05.09.1969, S. 1. 22 Evert Clark, Catholics Reaffirm Birth-Control Bans in Reply to Johnson, New York Times, 09.01.1965, S. 1; Robert C. Doty, Birth Control Prohibition Reaffirmed by Pope Paul, New York Times, 27.11.1965, S. 1; John Cogley, U. S. Catholic Unit Urges a Restudy of Birth Control, New York Times, 28.09.1965, S. 1. 23 Nan Robertson, Unwed to Receive Birth Control Aid, New York Times, 01.04.1966, S. 1; Nan Robertson, U. S. Doing More on Birth Control, New York Times, 10.04.1966, S. 149; Douglas Robinson, State Eases Rule on Birth Control, New York Times, 21.12.1966, S. 1; ders., Welfare, Birth Control, and Fear, New York Times, 25.12.1966, S. 8E. 24 NOW, Statement of Purpose, 1966. Schlesinger Library Harvard University (SLHU), MC 496, Box 1, Folder 1, online unter http://now.org/about/history/statement-of-purpose/ (Stand: 01. März 2019). 25 Hierzu vgl. Isabel Heinemann, Wert der Familie. Ehescheidung, Frauenarbeit und Reproduktion in den USA des 20. Jahrhunderts, Berlin 2018, S. 211–216 u. 309–319.

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information and contraceptives, and urges that all laws penalizing abortion be repealed.«26 Während hier noch die Begriffe reproductive control und birth control in Zusammenhang gesetzt wurden, dauerte es noch gute zehn Jahre, bis der von den Feministinnen favorisierte Ausdruck reproductive choice Eingang in die Berichterstattung der New York Times fand. Dort war er von Anfang an mit den hitzigen Debatten um Abtreibung verbunden. Der Supreme Court hatte am 22. Januar 1973 im Urteil Roe v. Wade Ersttrimesterabtreibungen für legal erklärt – wenn sie ein Arzt vornahm. Daraufhin verstärkte sich die Konfrontation zwischen den Frauenrechtlerinnen – die sich als Protagonisten der Pro-ChoiceBewegung verstanden – und der entstehenden Antiabtreibungsbewegung, die sich selbst als ›Pro Life‹ bezeichnete.27 Die erste Erwähnung von reproductive choice in der New York Times findet sich zum sechsten Jahrestag von Roe v. Wade: Die Zeitung zitierte in einem Bericht über Demonstrationen von 60.000 Abtreibungsgegnerinnen und -gegnern in Washington die National Organisation of Women-Präsidentin Eleanor Smeal mit den Worten: »We feel abortion must be one of the choices, but reasonable people must have a common goal for reducing the need for abortion. […] The issue of abortion must not be used to eliminate other avenues of reproductive choice.«28 Auch weitere Artikel aus den frühen 1980er Jahre verbanden stets die Erwähnung von reproductive choice mit den Berichten über Aktivistinnen aus der Frauenbewegung, die gegenüber abtreibungskritischen Politikerinnen und Politikern auf ihrer ›reproduktiven Entscheidungsfreiheit‹ beharrten.29 Von den 1960er zu den 1970er Jahren verschob sich der Diskurs über reproduktives Entscheiden in den Berichten der New York Times von der Thematisierung von choice, also Wahl, stärker zur Forderung nach rights, also Rechten. Während choice in den 1960er Jahren zumeist in Verbindung mit reproduction (3.476 Erwähnungen in Titel und Text) auftauchte, dominierte in den 1970er Jahren die Verbindung von choice mit human rights (3.949 Erwähnungen in Titel und Text) die Berichterstattung. Es ist interessant, dass auch der damalige Präsident von Planned Parenthood, der Gynäkologe Alan F.  Gutmacher, diese Wendung von birth control zu contraception as a human right mittrug. Er schrieb 1966 in einem Artikel über den weltweiten Siegeszug der Pille: »First,

26 Minutes of National Conference of NOW (National Organization for Women) held at the Mayflower Hotel, Washington D. C., November 18 & 19, 1967. SLHU, MC 496, Box 23, Folder 2. 27 Zu den Protesten gegen Roe v. Wade und der Genese der Anti-Abtreibungsbewegung in den USA vgl. Johanna Schoen, Abortion after Roe, Chapel Hill 2015; Mary Jo Ziegler, After Roe. The Lost History of the Abortion Debate, Cambridge 2015. 28 Karen De Witt, Abortion Foes March in Capital on Anniversary of Legalization, New York Times, 23.01.1979, S. 10. 29 Phil Gailey / Warren Waever Jr., Washington Talk, 10.12.1982, S. A32; Tessa Melvin, Two Ceremonies Reflect a Division on Women’s Issues, New York Times, 01.09.1985, S. WC6.

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through the efforts of Francis Place, Charles Knowlton, Charles Bradlaw, Annie Besant, Margaret Sanger, Mary Stopes and many others the right to practice and prescribe birth control has been secured. Since then a right to practice contraception has been accorded the status of a human right.«30 Von reproductive rights als solchen, also reproduktiven Rechten, war dagegen in der New York Times bezeichnenderweise 1977 erstmals im Kontext des von National Organisation of Women angestrebten (und 1982 endgültig am Widerstand konservativer Frauengruppen und einzelner Staaten gescheiterten) Equal Rights Amendment (ERA) zu lesen: In einem Artikel über die kontroversen nationsweiten Debatten um das Gleichberechtigungsgesetz beschrieb die Journalistin Linda Carlton reproductive rights als zweites zentrales Ziel der Aktivistinnen aus der Frauenbewegung gleich nach dem Equal Rights Amendment.31 Andere Artikel thematisierten ebenfalls reproductive rights ausschließlich im Kontext von Berichten über Aktivitäten der Frauenbewegung in den späten 1970er Jahren.32 Interessant dabei ist auch, dass die Vertreterinnen der National Organisation of Women zu diesem Zeitpunkt reproductive rights – inklusive staatlich finanzierter Abtreibungen für Bedürftige – genau wie das Equal Rights Amendment als economic issue auffassten: »At this point, key feminist groups such as NOW, as well as the National Women’s Political Caucus and the Women’s Legal Defense Fund, make it clear that ›reproductive rights‹, which include federally financed abortions, are viewed as an economic issue for women, together with ratification of the rights amendment.«33 Diese Rahmung von Fragen reproduktiven Entscheidens als Fragen von ökonomischer Bedeutung durch die Frauenbewegung setzte sich in den 1980er Jahren fort und reagierte auf die Strategie der konservativen Reagan-Regierung, sowohl die Wohlfahrtspolitik weiter auszudünnen als auch keine öffentlichen Gelder für die Durchführung von Abtreibungen zur Verfügung zu stellen.34 Dies rief vor allem afroamerikanische Feministinnen auf den Plan, die nun den Begriff der reproductive rights als Gegenentwurf zu dem  – zunächst von der weißen Frauenbewegung formulierten – Begriff der reproductive choice weiter

30 Alan F.  Gutmacher, The Pill around the World, in International Planned Parenthood Federation (IPPF) Medical Bulletin, 2.9.1966. Gutmacher Papers, H Ms c155, Countway Medical Library, Harvard University, Box 11, Folder 60. 31 Linda Carlton, Sisterhood, Powerful But Not Omnipotent. Feminism May Sink or Swim With the E. R. A., New York Times, 17.07.1977, S. 132. 32 Pamela G. Hollie, Mood at NOW Conference is Business-Like as E. R. A. is Pushed, New York Times, 08.10.1979, S. B11; Bernhard Weinraub, Feminists Turn to Economic Issues for 1980, New York Times, 23.10.1979, S. A21; Clyde Haberman / A lwin Krebs, Notes on People (über einen Wechsel an der Spitze von Planned Parenthood), New York Times, 24.11.1978, S. C24. 33 Weinraub, Feminists (wie Anm. 32); vgl. auch Hollie, Mood (wie Anm. 32). 34 Donald T. Critchlow, Intended Consequences. Birth Control, Abortion, and the Federal Government in Modern America, New York 1999.

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Abb. 2: Auswertung der Berichterstattung der New York Times zu den Themen ›birth control‹, ›reproductive rights‹ und ›reproductive choice‹, 1970–1999.

entwickelten.35 Dies entstand auch aus der großen Diskrepanz zwischen den zahlreichen weißen, wohlhabenden Abtreibungsbefürworterinnen und ihrer unbefangenen Forderung nach choice und den mit hohen Abtreibungsraten, aber auch hoher Kindersterblichkeit und den Folgen unfreiwilliger Sterilisationen konfrontierten afroamerikanischen Aktivistinnen  – das sah sogar die New York Times.36 Insgesamt taucht der Begriff der reproductive rights in den 1970er Jahren immerhin achtmal in Überschriften der New York Times auf, in den 1980er Jahren dann 79 mal und in den 1990ern sogar 375 mal. Zum Vergleich: Reproductive choice schafft es dagegen nur in eine Titelzeile in den 1970er Jahren, 20 in den 1980er Jahren und 82 in den 1990er Jahren. Für die Forderung nach breit gefassten reproductive rights, die gerade auch die Entscheidungsmöglichkeiten von Women of Color stärker mit reflektierte, war auch das National Black Women’s Health Project (NBWHP, 1984–1990) von Billye Avery und später Loretta Ross entscheidend, da hier die spezifischen Bedürfnisse afroamerikanischer Frauen im Hinblick auf Gesundheitsversorgung, 35 Nelson, Women of Color (wie Anm. 3); dies., More Than Medicine. A History of the Feminist Women’s Health Movement, New York 2015; Angela Davis, Racism, Birth Control, and Reproductive Rights, in: Marlene Gerber Fried (Hg.), From Abortion to Reproductive Freedom. Transforming a Movement, Boston 1990, S. 15–26; Loretta Ross, African-American Women and Abortion, in: Rickie Solinger (Hg.), Abortion Wars. A Half Century of Struggle, 1950–2000, Berkeley, CA 1998, S. 161–207. 36 E. J.  Dionne, Tepid Black Support Worries Advocates of Abortion Rights, New York Times, 16.04.1989, S. 1; Tamar Lewin, Study Cites Lack in Prenatal Care, New York Times, 02.11.1989, S. A25.

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Verhütung und Familienplanung erstmals von einer eigens gegründeten Selbsthilfeorganisation formuliert und nach außen vertreten wurden.37 Darunter fielen der Schutz vor Eingriffen in die reproduktive Autonomie nicht-weißer Frauen in Form von Sterilisationen und Langzeitverhütungsmitteln, aber auch die Verbesserung von Bildung und Gesundheitsversorgung, die Erforschung spezifischer Gesundheitsrisiken afroamerikanischer Frauen und die Entwicklung von Präventionsmaßnahmen, die Vermittlung von Gesundheitswissen, Organisationstechniken und Führungskompetenzen an schwarze Frauen.38 Das alles sollte zunächst auf dem Weg eines Austausches der afroamerikanischen Frauen in ihren Communities erfolgen, unter Anwendung von »group psychosocial therapy techniques […] to empower Black women to attain healthy living and overall physical, mental and spiritual wellness.«39 Anders als der Begriff reproductive rights, den sowohl weiße Feministinnen als auch feminists of color verwandten, geht der Begriff reproductive justice hingegen ausschließlich auf die Aktivistinnen der verschiedenen nicht-weißen Frauengesundheitsbewegungen zurück. Diese schlossen sich 1997 zum Sister Song Collective for Reproductive Justice zusammen.40 Die Idee der Aktivistinnen hierbei war African Americans, Native Americans, Latinas und Asian Americans zusammenzubringen, um gemeinsam für die reproduktiven Rechte und Handlungsfähigkeiten von Frauen aus marginalized communities einzutreten. Dabei war reproductive justice kein passiver Begriff, etwas, das den Frauen von

37 Das NBWHP war eine Ausgründung aus dem NWHP, welches seinerseits aus dem Boston Women’s Health Book Collective (BWHBC), einer weitgehend von weißen Aktivistinnen getragenen Gesundheitsbewegung, hervorgegangen war. Zum NBWHP vgl. Evan Hart, Building a More Inclusive Women’s Health Movement. Byllye Avery and the Development of the National Black Women’s Health Project, 1981–1990, Dissertation, University of Cincinnati 2012; vgl. auch das Interview mit Billye Avery von Loretta Ross: Transcript of Video Recording, July 21 and 22, 2005. Voices of Feminism Oral History Project, Sophia Smith Collection, Northampton, MA . Online unter https://www.smith. edu/libraries/libs/ssc/vof/transcripts/Avery.pdf (Stand: 10. Februar 2021). Zum BWHBC vgl. Wendy Kline, Bodies of Knowledge. Sexuality, Reproduction, and Women’s Health in the Second Wave, Chicago 2010; Kathy Davis, The Making of Our Bodies, Ourselves. How Feminism Travels Across Borders, Durham 2008; Sandra Morgen, Into Our Own Hands. The Women’s Health Movement in the United States, 1969–1990, New Brunswick, N. J. 2002. 38 Vgl. den Nachlass der Organisation in der Sophia B. Smith Library in Northampton, MA : MS 487, Black Women’s Health Imperative records, 1983–2006; Jael Silliman u. a. (Hg.), Undivided Rights. Women of Color Organizing for Reproductive Justice, New York 2004, Kap. 4. 39 So die Überlegungen bei der Gründung der Vorläuferorganisation, des Black Women’s Health Projects (BWHP), auf der ersten nationalen Konferenz zur Gesundheit afroamerikanischer Frauen in Atlanta ein Jahr zuvor, ebenfalls organisiert von Avery. Zitiert nach Black Women’s Health Imperative Records, Sophia Smith Collection, Smith College, Northampton, MA , MS 487, Description of the collection. 40 Rickie Solinger / Loretta Ross, Reproductive Justice. An Introduction, Santa Barbara 2017.

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oben herab verliehen oder zuteil wurde, sondern er zielte auf die Steigerung von Entscheidungsmöglichkeiten und Handlungsfähigkeit, also agency der marginalisierten Frauen ab. Reproduktive Entscheidungsfreiheit stellte für die Aktivistinnen dabei die Grundbedingung für die Verwirklichung von reproductive justice dar. Diese sollte wiederum durch den Aufbau von Netzwerken und eine gezielte Beeinflussung von öffentlichen Sozialprogrammen gestärkt werden. So erklärte das Sister Song Collective auf seiner Homepage: »Our purpose is to build an effective network of individuals and organizations to improve institutional policies and systems that impact the reproductive lives of marginalized communities.«41 Damit hatte sich sowohl die Semantik als auch die Zielsetzung im Vergleich zu derjenigen des National Black Women’s Health Project deutlich verschoben: vom consciousness-raising über die Verwirklichung reproduktiver Rechter schwarzer Frauen innerhalb der African American Community zur Vernetzung von Frauen aus marginalized communities insgesamt. Der Begriff reproductive justice selbst taucht in der Berichterstattung der New York Times erstmals 2004 auf, bis 2015 fällt er insgesamt neun Mal. Die erste Erwähnung 2004 erfolgt im Kontext der Thematisierung von reproduktiven Rechten von Immigrantinnen und armen Frauen: »The word ›abortion‹ is spoken sparingly by the younger advocates, who say it can restrict outreach and allow anti-abortion groups to wage  a single-issue debate. Many of these organizers, using terms like ›reproductive rights‹ and ›reproductive justice‹, say their agenda must include issues like comprehensive sex education, emergency contraception, affordable prenatal care for low-income women and, for immigrants, improved access to reproductive health care by providers who speak their patients’ native languages.«42 Die hier beschriebene Abkehr vom Begriff der Abtreibung – Verkörperung der Idee reproduktiver Entscheidungsfreiheit in den 1970er Jahren und vertreten von weißen Feministinnen  – zugunsten eines inklusiveren Vorgehens, das die Bandbreite reproduktiver Bedürfnisse von marginalisierten Frauen in den Blick nimmt, ist ein wichtiges Indiz für einen zentralen Paradigmenwechsel.43 Weitere Erwähnungen von reproductive justice finden sich in Diskussionen über die Frage der fetal personhood und darüber, inwiefern Einnahme von Drogen in der Schwangerschaft ein Grund für Strafverfolgung der Mutter sein kann.44 Auch der in einigen Staaten hoch umstrittene Zugang zur ›Pille danach‹ und die generelle Einschränkung der Verfügbarkeit von legaler Abtreibung in einzelnen Staaten werden unter dem Verweis auf reproductive justice dis41 Sister Song. Women of Color Reproductive Justice Collective, https://www.sistersong.net/ mission/ (Stand: 01. März 2019). 42 Lynette Clemetson, For Abortion Rights Cause,  a New Diversity, New York Times, 24.04.2004, S. A14. 43 Für eine erste wissenschaftliche Präsentation des Konzeptes vgl. Solinger / Ross, Reproductive Justice (wie Anm. 40). 44 Ada Calhoun, Mommy Had to Go Away for a While, New York Times, 29.04.2012, S. SM31

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kutiert.45 Interessant dabei ist, dass stets der Blick auf die ethnischen Unterschiede in den Möglichkeiten reproduktiven Entscheidens bzw. die »skewed racial demographics of abortion« gerichtet wird, wenn der Begriff der reproductive justice fällt. Der Begriff wird also immer dann gebraucht, wenn es um eklatante Missstände im Bereich reproduktiven Entscheidens geht, die zumeist eine ethnische Komponente haben. Abschließend soll gefragt werden, wie sich die für die USA beobachtete semantische Entwicklung von birth control über reproductive choice zu reproductive rights und schließlich reproductive justice zum Menschenrechtsdiskurs der UN verhält.

3. Reproductive Rights als Human Rights: Positionierung der UNO Für die UN war spätestens seit den späten 1960er Jahren die Frage reproduktiven Entscheidens ein Kernthema, was angesichts der Programme zur Drosselung des globalen Bevölkerungswachstums finanziert und durchgeführt von Unterorganisationen wie dem UN Population Fund und der UN Commission on Population and Development kaum überrascht.46 Bereits die erste Menschenrechtskonferenz der UN in Teheran hatte sich mit reproduktivem Entscheiden als Menschenrecht befasst, allerdings festgemacht an der Einheit der Familie und nicht semantisch auf das Individuum bzw. die Frau und ihre Entscheidungsrechte bezogen. Sie hielt in ihrer Abschlussnote von Mai 1968 fest, dass Eltern ein Recht hätten, die Anzahl ihrer Kinder und damit die Größe ihrer Familie intentional zu planen – ein bedeutsamer Schritt, da dieser den Zugang zu Verhütungsinformationen und -mitteln voraussetzte: »Parents have a basic human right to determine freely and responsibly the number and the spacing of their children«.47 Abermals ein Jahr später erklärten die UN die Familie offiziell zur »basic unit of society«, die zu unterstützen und zu schützen sei, »so that it may fully assume its responsibilities within the community«.48 Zwar galt die reproduktive Entscheidungsfreiheit der Eltern damit als Menschenrecht, aber die Familie wurde deutlich als Akteur und zugleich Teil der Entscheidung angesprochen. Knapp dreißig Jahre später hatte sich der UN-Menschenrechts45 Erik Eckholm, Supreme Court Takes Step towards Hearing Abortion Case. Oklahoma Court is Asked to Clarify Disputed Law, New York Times, 28.06.2013, S. A12; Timothy Willims, Oklahoma Supreme Court Blocks 2 Abortion Law, New York Times, 05.11.2014, S. A13; Razib Khan, The Abortion Stereoptype, New York Times, 03.01.2015, S. A17. 46 Birth Curb Knowledge Urged as a Women’s Right, New York Times, 04.10.1967, S. 22. 47 Final Act of the International Conference on Human Rights, Teheran, 22 April to 13 May 1968, New York 1968, Proclamation of Teheran, Artikel 16, 13.05.1968, http://legal. un.org/avl/pdf/ha/fatchr/Final_Act_of_TehranConf.pdf (Stand 01. März 2019). 48 Declaration on Social Progress and Development Proclaimed by General Assembly Resolution 2542 (XXIV) of 11 December 1969, Artikel 4, http://www.ohchr.org/Documents/ ProfessionalInterest/progress.pdf (Stand 01. März 2019).

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diskurs im Feld der reproduktiven Rechte eindrucksvoll geändert: Zum einen wurden reproduktive Rechte von nun an sehr breit aufgefasst  – Familienplanung, Verhütung, und »Regulierung der Fruchtbarkeit«, was auch Sterilisation oder Abtreibung beinhalten konnte, – zum anderen an ein starkes Bekenntnis zur umfassenden Verwirklichung von Frauenrechten gekoppelt. So erklärte im Jahr 1994 die Abschlusscharta der International Conference on Population and Development in Kairo »the right of men and women to be informed [about] and to have access to safe, effective, affordable and acceptable methods of family planning of their choice, as well as other methods for regulation of fertility which are not against the law« zum integralen Bestandteil schützenswerter Menschenrechte.49 Nur ein Jahr später identifizierte die Fourth World Conference on Women der UN in Beijing »sexual and reproductive health« als zentrales Frauenrecht, als Kernstück der »human rights of women«.50 Darin drückte sich zu Teilen auch das Engagement nicht-weißer Gesundheitsfeministinnen aus den USA und den Ländern des globalen Südens aus, in welchem Ausmaß, wäre jedoch näher zu untersuchen.51 Diese beiden Statements stehen für eine Schwerpunktverlagerung der internationalen Diskussion reproduktiven Entscheidens vom familiären Handeln zum individuellen Recht, die in ihrer Tragweite nicht überschätzt werden kann. Reproductive health von Frauen (und Männern) firmiert seither als Bestandteil universeller Menschenrechte.

4. Fazit Die Analyse der Semantiken reproduktiven Entscheidens anhand der Berichterstattung der New York Times erweist, dass sich im Laufe des 20. und frühen 21. Jahrhunderts vier unterschiedliche Semantiken der Reproduktion unterscheiden lassen – die nur partiell deckungsgleich zu den vorgestellten Phasen reproduktiven Entscheidens verlaufen. Während zunächst reproduktives Entscheiden ab 1915 unter dem Schlagwort birth control verhandelt wurde, meinte dies bis in die 1950er Jahre primär den Kampf um die Legalisierung und damit Zugänglichkeit von Geburtenkontrollinformationen und Verhütungsmitteln. Ab den 1950er Jahren kam dann das Ziel einer Begrenzung des nationalen wie internationalen Bevölkerungswachstums dazu, wobei wirtschaftliche Aspekte und ab den 1960er Jahren auch Fragen der Handlungsmacht der Beplanten (wie in den Berichten über Verhütungsprogramme als Element des War on Poverty) 49 Program of Action, Adopted at the International Conference on Population and Development, Cairo, 5–13 September 1994, S. 45, Artikel 7.2, www.unfpa.org (Stand: 01. März 2019). 50 Report on the Fourth World Conference on Women, Bejing, 4–15. September 1995, http:// www.un.org/womenwatch/daw/beijing/pdf/Beijing%20full%20report%20E.pdf (Stand: 01. März 2019), s. Artikel 92 u. 94. 51 Erste Hinweise dazu in den Papers der Black Women’s Health Imperative Records, MS 487, Sophia Smith Collection, Smith College, Northampton, MA .

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Teil des Diskurses waren. Die doppelte Bedeutung des Begriffs birth control im Sinne von ›Verhütung‹ und ›Einhegung des nationalen wie internationalen Bevölkerungswachstums‹ verkörperte niemand besser als die Person und der Aktivismus Margaret Sangers. Obgleich birth control ein zentraler Bestandteil des Diskurses um Reproduktion blieb, trat in der 1960er Jahren der Begriff choice hinzu – aber keinesfalls exklusiv gemünzt auf die Forderungen der zweiten Welle der Frauenbewegung nach freier Entscheidung der Frauen über ihre Körper. In den 1960er Jahren verwandte die Berichterstattung über ›choice‹ in der New York Times diesen Begriff zumeist in Verbindung mit reproduction – häufig bezogen auf die von Präsident Johnson angestrebten Reduktion von Armut durch Familienplanung für nicht-weiße Familien. Bis reproductive choice als feministisches Anliegen prominent und titelgebend als Semantik reproduktiven Entscheidens in der New York Times diskutiert wurde, sollte es noch bis 1979 dauern. Zu diesem Zeitpunkt wurde diese Bedeutung reproduktiven Entscheidens vor allem im Kontext der Abtreibungsdebatten verwandt und den weißen Feministinnen zugeschrieben. Im Laufe der 1970er Jahren begann sich der Begriff choice zugleich stärker zum semantischen Feld der human rights zu verschieben. Die Begriffe reproductive choice und reproductive rights fanden teilweise parallel Verwendung, gingen aber nicht völlig in einander auf. Die Forderung nach reproductive rights erschien dabei durch das Brennglas der New York Times ab 1977 zunächst als Anliegen weißer Feministinnen, die zugleich für das Equal Rights Amendment eintraten und somit eine Verknüpfung zwischen der Forderung nach Gleichberechtigung von Frauen und nach reproduktiver Kontrolle herstellten: Reproduktives Entscheiden wurde somit als Ausdruck von Frauenrechten im Besonderen und Menschenrechten im Allgemeinen gefasst. Der Begriff der Rechte ergänzte somit die Entscheidens-Semantik, löste sie aber nicht ab. Er hatte zunächst zudem einen deutlichen ethnischen ›Bias‹ als ziemlich exklusives Anliegen von Frauen, die der Mittelschicht und der weißen Bevölkerungsmehrheit angehörten. Erst allmählich benutzen auch women of color den Ausdruck reproductive rights und meldeten sich Vertreterinnen des National Black Women’s Health Movement mit diesem Begriff zu Wort. Auf die Titelseite des Blattes schafften sie es damit jedoch nicht. Beim Begriff reproductive justice hingegen, welcher ab 2004 Erwähnung fand, waren auch in der New York Times ausschließlich nicht-weiße Frauen Trägerinnen der Diskussion und Gegenstand der Berichte. Schaut man auf die Akteursebene, so sind folgende Akteurinnen und Akteure der Debatten um reproduktives Entscheiden zu identifizieren: erstens Akteure und Akteurinnen des frühen Birth Control Movement und ihre Organisationen, zweitens frühe Sozialexpertinnen und -experten und Bevölkerungsplaner, drittens die weiße Frauenbewegung, viertens das African American Women’s Health Movement und fünftens integrative Bewegungen von marginalized women wie das Sister Song Collective sowie schließlich die UN sowie international agierende Organisationen der Bevölkerungspolitik.

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Daraus ergibt sich die Abfolge folgender Konjunkturen der Semantik reproduktiven Entscheidens: erstens ›birth control‹ (1915 bis 1999, mit deutlichen Schwerpunkten in den 1930er und 1960er Jahren), zweitens ›reproductive choice‹ (in den 1960er bis 1980er Jahren, doch keinesfalls limitiert auf die zweite Welle der Frauenbewegung, sondern auch zur Bezeichnung von Johnsons Sozialpolitik), drittens ›reproductive rights‹ (ab den 1960er Jahren, mit einer Schwerpunktverlagerung auf die Rechte nicht-weißer Frauen in den 1980er Jahren) und viertens ›reproductive justice‹ (ab der Jahrtausendwende, zugleich der einzige Begriff, der ausschließlich auf die Forderungen und reproduktiven Rechte nicht-weißer Frauen gemünzt ist). Dieses Verlaufsmodell der Semantiken reproduktiven Entscheidens, die sich zwar teilweise zeitlich überlagerten (wie am Beispiel des ›birth control‹-Diskurses ablesbar), kann dabei helfen, die komplexe Verhandlung reproduktiver Rechte zwischen Staat und Individuum, Frauenbewegungen und internationaler Bevölkerungspolitik besser zu verstehen. Insbesondere legt es offen, dass die spezifischen Bedürfnisse und Problemlagen nicht-weißer Frauen erst ab den 1980er Jahren Eingang in die Diskussionen eines nationalen Leitmediums wie der New York Times fanden.

Claudia Roesch

»Silent No More!«    Narrative des Entscheidens in Kampagnen der Befürworter und Gegner legaler Abtreibungen in den USA der 1980er Jahre1

»We are your mothers, your daughters, your sisters, your friends, and abortion is a choice we have made«, lautete der Slogan der Kampagne ›Silent No More!‹ der amerikanischen National Abortion Rights Action League (NARAL) im Mai 1985.2 Die National Abortion Rights Action League war eine Bürgerrechtsorganisation, die sich seit 1968 für das Recht auf legale Abtreibungen in den USA einsetzte. Die Organisation hatte in Anzeigen in Frauenzeitschriften (Ms. Magazine, Cosmopolitan) Frauen dazu aufgerufen, Briefe an Präsident Ronald Reagan zu schreiben und ihre persönlichen Entscheidungen für eine Abtreibung zu schildern. Laut eigenen Angaben erhielt die National Abortion Rights Action League insgesamt 40.000 Briefe und Landesgruppen organisierten Demonstrationen in dreiunddreißig Städten, bei denen Frauen ihre Briefe öffentlich vorlasen. Am 21. Mai 1985 fand eine Großdemonstration in Washington, D. C. statt, bei der zwanzig dieser Briefe öffentlich vorgetragen wurden. Als Anlass für diese Kampagne nannte die National Abortion Rights Action League verbale Angriffe auf die demokratische Kandidatin für das Amt des Vizepräsidenten Geraldine Ferraro aufgrund ihrer Einstellung zur legalen Abtreibung und die Einmischung katholischer Bischöfe in den Präsidentschaftswahlkampf 1984.3 Auch war die Gewalt gegen Abtrei­bungskliniken gestiegen; Präsident Ronald Reagan selbst unterstützte Anti-Abtreibungs-Demonstrationen, und Fernsehsender hatten den mit faktischen Fehlern gespickten Dokumentarfilm »The Silent Scream« des Gynäkologen und Abtreibungsgegners Bernard Nathanson 1 Dieser Beitrag basiert auf Recherchen zum Teilprojekt A05 des DFG -geförderten Sonderforschungsbereichs 1150 »Kulturen des Entscheidens«; die Archivrecherche wurde dankenswerterweise durch ein Post-Doc-Stipendium der Gerda Henkel Stiftung ermöglicht. 2 N. N., Abortion Rights: Silent No More (Broschüre, ca. Mai 1985), in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; Press Packet »Silent No More« Campaign, 1985. MC 714, folder 219.11. Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge, Mass. (im Folgenden zitiert als »National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004«). 3 Vgl. N. N., The Focus on Women Campaign (Press Release, ca. April 1985), in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; Press Packet »Silent No More« Campaign, 1985. MC 714, folder 219.11.

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gezeigt. Diesen Ereignissen wollte die National Abortion Rights Action League öffentliche Speak-Outs entgegensetzen, »where women will relay personal stories about their abortion decision.«4 Die Briefe, die Frauen im Rahmen der Kampagne an die National Abortion Rights Action League schrieben, beinhalten detaillierte Schilderungen über Entscheidungen für eine Abtreibung, da die Frage des Entscheidens im Zentrum der Kontroversen um den legalen Schwangerschaftsabbruch in den USA der sogenannten ›culture wars‹ der 1980er Jahre stand.5 Dieser Beitrag untersucht anhand der Briefe an die National Abortion Rights Action League, wie sich diese Narrative des Entscheidens gestaltet haben. Dazu werden zunächst einige theoretisch-methodische Überlegungen zur Analyse von Entscheidensnarrativen angestellt. Im zweiten Teil werden die Vorgeschichte der Kampagne und insbesondere der Film »The Silent Scream« in den Blick genommen, bevor im dritten Teil die Narrative des Entscheidens in Bezug auf rationale Entscheidungsformen, religiös-moralische Hilfen und Zukunftsprognosen analysiert werden. Im Fazit folgt dann eine Darstellung idealtypischer Vorstellungen des reproduktiven Entscheidens in den USA der 1980er Jahre. Dieser Beitrag umfasst eine Mikrostudie von vierzig veröffentlichten und unveröffentlichten Briefen, die im Rahmen der ›Silent No More!‹-Kampagne von Frauen verfasst wurden, die selbst eine Abtreibung haben durchführen lassen.6 Die Briefe wurden entweder direkt an das Büro der National Abortion Rights Action League in Washington, D. C. geschickt oder von Landesgruppen für den landesweiten Speak-Out ausgewählt. Auswahlkriterien waren, dass die Schreiberinnen »eloquent every-women« sein sollten, die überzeugt waren von dem Selbstentscheidungsrecht der Frau.7 Sie sollten aber über ihre Entscheidung noch nicht öffentlich berichtet haben und keine professionellen Rednerinnen sein. Auch wollte die National Abortion Rights Action League, dass die ethnische und regionale Herkunft der Schreiberinnen ausgeglichen war. Der Verband fragte zusätzlich das Alter, die sexuelle Orientierung, den Familienstand, den legalen Status der Abtreibung und die Gründe für den Schwangerschaftsabbruch ab.8 4 Ebd., S. 2. 5 Siehe hierzu James D. Hunter, Culture Wars. The Struggle to Define America, New York 1991, S. VII . 6 Aus forschungspragmatischen Gründen können nur Briefe betrachtet werden, die in den Beständen des NARAL -Bundesverbandes archiviert wurden. Die meisten Briefe sind in Nachlässen der jeweiligen NARAL -Ortsgruppen archiviert und befinden sich daher in diversen Universitätsarchiven, welche nicht alle aufgesucht werden konnten. 7 Vgl. N. N., »Preparing our ›Eloquent Everywoman Speakers‹«, in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; Binder »Silent No More« Campaign, 1985. MC 714, folder 229.9. 8 Vgl. N. N., Nomination of Eloquent Everywomen from 50 States, in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; Binder »Silent No More« Campaign, 1985. MC 714, folder 229.9.

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Die öffentlich verlesenen Briefe wurden nur geringfügig bearbeitet (zum Beispiel gekürzt oder Klarnamen von erwähnten Personen gestrichen), es wurden auch die Namen, Fotos und Kurzbiographien der Autorinnen veröffentlicht.9 Die Autorinnen erhielten eine Schulung, wie sie sich in Presse- oder Radiointerviews verhalten sollten, jedoch wurden die Briefe nicht eingeübt, um authentisch zu klingen.10 Die Briefe, die nicht veröffentlicht wurden, sind teilweise mit dem Pseudonym ›Jane Roe‹ unterschrieben oder wurden anonymisiert.11 Briefe von Frauen, die sich für legale Abtreibung aussprachen, ohne selbst über eigene Erfahrungen zu berichten, oder Schilderungen über die Abtreibung einer Verwandten wurden nicht mit in die Analyse einbezogen. Da die National Abortion Rights Action League mit klarer politischer Intention agierte, finden sich unter den veröffentlichten Briefen keine Schilderungen von Frauen, die eine Abtreibung bereuten oder zum Eingriff gedrängt worden waren. Um diese Lücke auszugleichen, habe ich zusätzlich Berichte betrachtet, die die Unterhaltungszeitschrift People Magazine in seiner Ausgabe vom 5. August 1985 veröffentlichte.12 Anders als die Kampagne der National Abortion Rights Action League bemühte sich die Zeitschrift um eine ausgeglichene Berichterstattung zwischen Gegnern und Befürwortern der legalen Abtreibung und veröffentlichte auch Berichte von Frauen, die ihre Abtreibung nachträglich bereuten oder angaben, aus egoistischen Motiven gehandelt zu haben. Die Abtreibungsfrage kann als idealtypische Entscheidungssituation in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gefasst werden, da Reproduktion als Resultat von Planung und Entscheidungen, nicht mehr als Wink des Schicksals oder Geschenk Gottes begriffen wurde.13 Das Recht der Frau, über ihre Repro­duktion selbst entscheiden zu dürfen, war zentral für die zweite Welle der Frauenbewegung seit den späten 1960er Jahren.14 Der Umgang mit ungeplanter Schwanger9 Die Originale der Briefe befinden sich neben den Abdrucken der verlesenen Briefe in den Akten von NARAL , s. zum Beispiel Romanita J., Brief an Ronald Reagan, in: National Abortion Rights Action League Additional Records, 1967–2004; »Silent No More« Corres­ pondence and Memos, May 21, 1985. MC 714, folder 230.1; dies., Brief an Ronald Reagan (15.5.1985), in: ebd., Folder 230.2. 10 Vgl. N. N., »Preparing our ›Eloquent Everywoman Speakers‹«, in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; Binder »Silent No More« Campaign, 1985. MC 714, folder 229.9. 11 Die nicht veröffentlichten Briefe wurden von Mitarbeiterinnen der Schlesinger Library anonymisiert. Jane Roe war das Pseudonym für die Frau, in deren Namen die Legalisierung der Abtreibung vor dem Obersten Gerichtshof 1973 verhandelt wurde, einige Schreiberinnen haben deshalb dieses Pseudonym für sich gewählt. 12 Vgl. N. N., Eight Other Women’s Stories, in: People Magazine 5.8.1985, S. 82–88. 13 Amerikanische Soziologen nahmen schon in den 1930er Jahren an, dass amerikanische Familien idealtypisch geplant werden würden, während mexikanische Familien weiterhin eine hohe Kinderzahl als Gottes Segen betrachten würden; s. hierzu Emory S. Bogardus, The Mexican in the United States, Los Angeles 1934, S. 24 f. 14 Vgl. Jennifer Nelson, Women of Color and the Reproductive Rights Movement, New York 2003, S. 13.

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schaft stellte Frauen vor zwei bzw. drei klar definierte Alternativen (Abtreiben, das Kind behalten oder es zur Adoption freigeben), die Entscheidung musste unter Zeitdruck getroffen werden, und Ressourcen (etwa Zugang zu Wissen über Abtreibungsmethoden) waren begrenzt. Über ihre Entscheidungen und darüber, wie diese zustande gekommen sind, berichten die Frauen in narrativer Form. Es handelt sich hierbei um Akte des Erzählens, die Ereignisse in einen temporalen Zusammenhang bringen.15 Diese Erzählungen transportieren Wissen über Methoden des Entscheidens, anhand derer sich Aussagen über normative Vorstellungen einer historisch und lokal verorteten Kultur des Entscheidens herausarbeiten lassen. Laut dem HarvardPsychologen Jerome Bruner dienen Narrative allgemein zur Herstellung und Vermittlung von Wissen.16 Sie helfen Erzählern und Adressaten, Sinn zu stiften und ihre Umwelt zu verstehen. Bruner zufolge haben Narrative folgende Charakteristika: Temporalität, Partikuliarität, Intentionalität, hermeneutische Interpretierbarkeit, ›canonicity‹ und deren Brüche, Referenzen zur Welt außerhalb der Erzählung, Normativität, Kontextbewusstsein (das heißt, ein Erzähler passt seine Geschichte an die Zuhörerschaft an) und ›narrative accrual‹, womit der Psychologe meint, dass mehrere Narrative zusammen individuelle und kollektive Identitäten schaffen.17 Für den hier untersuchten Zusammenhang sind besonders die ›canonicity‹, die Bezüge zu kanonischen Erzählungen, sowie die normativen Fähigkeiten von Narrativen bedeutsam. Bruner versteht unter ›canonicity‹, dass Narrative sich auf bekannte ›Meistererzählungen‹ beziehen, diese aber in Teilen brechen, um so die Partikularität der eigenen Ereignisse aufzuzeigen. Als Beispiel lässt sich der Brief einer texanischen Krankenschwester heranziehen, die ihre Träume von einem großen Eigenheim für ihre Kinder als »a piece of the American dream« bezeichnete und sich so auf die kanonische Erzählung des Aufstiegs in die Mittelschicht durch harte Arbeit bezog.18 Das Narrativ bricht in dem Moment, als sie von einer Schwangerschaft im dritten Ausbildungsjahr berichtet. Sie wusste, dass sie mit Kind ihre Ausbildung nicht beenden und sich ohne Ausbildung kein Eigenheim leisten konnte. Die Möglichkeit, diesen American Dream zu erreichen, wurde erst in dem Moment wiederhergestellt, als sie und ihr Ehemann sich für eine Abtreibung entschieden. 15 Siehe hierzu die Definition eines Narrativs von H. Porter Abbott: ders., The Cambridge Introduction to Narrative, Cambridge ²2008, S. 13; vielen herzlichen Dank an meine Kollegin Mrinal Pande für die Literaturhinweise zu theoretisch-methodischen Ansätzen der Narrativforschung. 16 Laut Bruner sind Narrative die älteste Form der Wissensvermittlung an Kinder, vgl. ­Jerome Bruner, The Narrative Construction of Reality, in: Critical Inquiry 18 (1991), S. 1–21, hier S. 2. 17 Vgl. ebd., S. 6–18. 18 N. N., Brief an NARAL , die Senatoren Lloyd Bensen, Phil Gram und den Abgeordneten John Bryant (undatiert), in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Correspondence and Memos, May 21, 1985. MC 714, folder 230.1.

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Das American Dream-Narrativ ist den Lesern des Briefes bekannt. Indem es ständig wiederholt wird, manifestiert es sich als allgemeingültiges Wissen und wird normativ. Bezogen auf Narrative des Entscheidens heißt das, dass Methoden des Entscheidens normative Kraft dadurch erhalten, dass sie in Erzählungen immer wieder aufgegriffen und gegebenenfalls gebrochen werden. Indem Frauen öffentlich erzählen, wie sie eine Reproduktionsentscheidung getroffen haben, sind sie an der Produktion eines Weltwissens über das Entscheiden beteiligt. Sie kommunizieren so neben ihren politischen Intentionen ihre Fähigkeiten, Entscheidungen zu treffen, und zeigen idealtypische Entscheidungsprozesse auf.

1. Die Anti-Abtreibungsbewegung und Wissen als Ressource des Entscheidens Entscheiden war ein zentrales Anliegen der ›Silent No More!‹-Kampagne, da sie Vorwürfe der Anti-Abtreibungsbewegung zu widerlegen versuchte, Frauen seien nicht in der Lage, selbstständig informierte Entscheidungen zu treffen. Abtreibung war in den USA 1973 mit dem Urteil Roe v. Wade des Obersten Gerichtshofs legalisiert worden, welches den Entschluss für eine Abtreibung vor der Lebensfähigkeit des Fötus als eine private Entscheidung zwischen der betroffenen Frau und ihrem Arzt definierte, aus der sich der Staat herauszuhalten habe.19 In dem Jahrzehnt nach der Legalisierung wurde die Abtreibung semantisch aus der Perspektive der Frau als reproductive choice bzw. als right to choose bezeichnet, während Gegner der legalen Abtreibung die Selbstbezeichnung pro life annahmen, um so aus der Perspektive des ungeborenen Fötus zu argumentieren.20 Vor der Legalisierung bestand die Anti-Abtreibungsbewegung hauptsächlich aus Katholiken, die in der legalen Abtreibung ein Zeichen des moralischen Verfalls des Landes sahen.21 Erst nach Roe v. Wade begannen auch evangelikale Christen sich politisch zu engagieren.22 Das zentrale Argument der Abtreibungsgegner war, dass Abtreibung Mord sei, weshalb sie die Personenrechte des ungeborenen Fötus in der Verfassung festschreiben wollten. Wenn sich Frauen bewusst wären, dass sie bei einer Abtreibung ihr eigenes Kind töteten, würden 19 Erst im zweiten Drittel einer Schwangerschaft durfte der Staat Abtreibungen gesetzlich zum Schutze der schwangeren Frau regulieren, vgl. Marc Stein, Sexual Injustice, Supreme Court Decisions from Griswold to Roe, Chapel Hill 2010, S. 51, s. auch Rickie Solinger, Pregnancy and Power, A Short History of Reproductive Politics in America, New York 2005, S. 185–186. 20 Siehe dazu Isabel Heinemanns Beitrag in diesem Band. 21 Vgl. Daniel K. Williams, Defenders of the Unborn. The Pro-Life Movement before Roe v. Wade, Oxford 2016, S. 61–62. 22 Unter evangelikalen Christen werden solche verstanden, die die Bibel wörtlich auslegen, vgl. ebd. S. 67 u. 144.

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sie sich nicht für den Eingriff entscheiden, so ein vielfach wiederholtes Argument der Abtreibungsgegner. In Rahmen dieser Debatte entstand der oben schon erwähnte Film »The ­Silent Scream« (1984) des Gynäkologen Bernard Nathanson.23 Dessen zentrales Argument war es, dass der ungeborene Fötus ein »fully formed, identifiable human being« sei. Die National Abortion Rights Action League und die »Abtreibungsindus­trie« (womit Nathanson Klinken meinte, die Abtreibungen durchführen) seien Teil einer »conspiracy of silence, of keeping women in the dark with respect to the true nature of abortion.«24 So seien Frauen genauso Opfer wie die Föten und litten zu Tausenden an angeblichen Nebenwirkungen wie Sterilität, »all as a result of an operation of which they had no true knowledge.« Nathanson forderte, sein Film solle jeder ungewollt schwangeren Frau gezeigt werden: »[it] must be made part of the informed consent for any woman before she submits herself to the procedure.«25 Indem Nathanson den Begriff »informed consent« gebrauchte, eignete er sich die Forderung der Frauengesundheitsbewegung um die Journalistin Barbara Seaman an, welche 1969 mehr Informationen über die Risiken und Nebenwirkungen der Anti-Baby-Pille gefordert hatte.26 Jedoch vermittelte Nathanson keine neutralen Informationen, da er die Semantiken der Anti-Abtreibungsbewegung benutzte. Zwar inszenierte er sich durch seinen Doktortitel, seine Kleidung und Illustration durch Ultraschallbilder als Experte.27 Jedoch wies ihm die bei Planned Parenthood angestellte Gynäkologin Louise Tyrer nach, dass viele bildliche Darstellungen in dem Film irreführend waren.28 So zeigte 23 Nathanson war selbst 1968 Gründungsmitglied von NARAL gewesen, hatte die Organisation 1974 aber verlassen, nachdem er öffentlich zugegeben hatte, dass er Abtreibung für Mord hielt. 1979 war er dann der moderaten Anti-Abtreibungsbewegung beigetreten. Siehe Anne Gaylor, Brief an NARAL -Aufsichtsrat (19.12.1974), in: National Abortion Rights Action League Records, 1968–1976; Board of Director Mailings 1974–1975, MC  313, carton 1. Siehe auch das Portrait über Nathanson im Kontext der Silent Scream Debatte: Joe Klein, Born Again, in: New York Magazine (7.1.1985), S. 40–45, Zeitungsausschnitt in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Campaign Letters, May 21, 1985. MC 714, folder 230.1; Johanna Schoen, Abortion after Roe, Chapel Hill 2015, S. 131–133. 24 Die National Organization for Women hat den Film von einem professionellen Schreibbüro transkribieren lassen, s. National Organization for Women Records, 1959–2002; Transcript »The Silent Scream with Dr. Bernard Nathanson«, 1985. MC 496, folder 80.69, Schlesinger Library, Radcliffe Institute, Harvard University, Cambridge, Mass. (im Folgenden zitiert als »National Organization for Women Records«), S. 13. 25 Ebd. 26 Siehe Barbara Seaman, The Doctors’ Case against the Pill, Alameda ²1995 [1969], S. 13. 27 Siehe Bernard Nathanson, »The Silent Scream«, https://www.youtube.com/watch?v=gON 8PP6zgQ&t=711s (Stand: 03. November 2017). 28 Louise B. Tyrer, Expert Panel Critique of the Film »The Silent Scream« (Feb. 1985), in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Campaign Letters, May 21, 1985. MC 714, folder 230.1.

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Nathanson etwa das Modell eines Fötus in der 18. Schwangerschaftswoche, als er von einer Abtreibung im ersten Trimester sprach.29 Obwohl er selbst missverständliche Informationen vermittelte, betonte Nathanson, dass Frauen nicht in der Lage seien, selbstständig eine informierte Entscheidung über eine Abtreibung zu treffen, da ihnen Wissen über die Prozedur fehle. Daher definierte er Wissen als notwendige Ressource legitimer Entscheidungen und stellte den Akt des Entscheidens in das Zentrum der Kontroversen um legale Abtreibungen. Während er sich als Beschützer der unmündigen Frauen inszenierte, kam in dem Film jedoch keine einzige Frau selbst zu Wort.30 Die National Abortion Rights Action League organisierte daher die ›Silent No More!‹-Kampagne als direkte Antwort auf den Film. In der Kampagne sollten Frauen eine Stimme bekommen, um zu zeigen, dass sie sehr wohl in der Lage waren eine informierte Entscheidung zu treffen. Dies zeigt, dass sich die Kontroversen um die Legitimität der legalen Abtreibung hauptsächlich um die Fähigkeiten schwangerer Frauen drehten, eigene Entscheidungen zu treffen. Wissen über Embryonalentwicklung und ökonomische Implikationen einer Abtreibung wurden als die wichtigsten Ressourcen dieses Entscheidens postuliert.

2. Erzählen über Entscheiden Die unterschiedlichen Briefe über den Umgang mit einer Abtreibung zeigen die Varianz in der Reaktion von Frauen, die mit einer ungeplanten Schwangerschaft konfrontiert waren. Einige Frauen berichteten, dass sie sehr schnell wussten, was zu tun war. So schrieb die vierfache Mutter Ginny S. aus Hawaii, die schwanger geworden war, nachdem sie aus Sorgen um die Nebenwirkungen der Spirale mit einem Diaphragma verhütet hatte: »I knew immediately that I was pregnant and I also knew that at 44 years old, with four children to support, I would not have another child«.31 Sie berichtet hier nicht von einem Deliberationsprozess oder Ressourcen, die sie zur Entscheidungsfindung bemüht hatte. Ihre Wahl der Abtreibung scheint keine Entscheidung im Sinne einer bewussten Betrachtung verschiedener Optionen zu sein. In ähnlicher Weise erklärte die Hochschulabsolventin Karla C., dass sie den Entschluss zu einer Abtreibung schnell traf und umsetzte, sobald sie wusste, dass sie schwanger war: »It was on this day that I had discovered that I was pregnant and also the day I decided that an abortion was the only choice for me. […] The decision came easily and

29 Ebd. 30 Siehe National Organization for Women Records, 1959–2002; Presseerklärung »The Silent Scream«. MC 496, folder 92.14. 31 Ginny S., Brief an NARAL , in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Press Conferences LA Airport. MC 714, folder 231.6.

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without reservation.«32 Sie ließ den Eingriff nach zwei Tagen durchführen. Dass die Schreiberinnen die Begriffe choice (Wahl) und decision (Entscheidung) synonym gebrauchen, ist ein häufiger Befund. Manchmal wird der Begriff choice eher für die allgemeine rechtliche Wahlmöglichkeit einer Abtreibung verwendet und decision für die persönliche Geschichte, in anderen Briefen funktionieren beide Terminologien als Synonyme.33 Etwa die Hälfte der betrachteten Briefe beinhaltet Narrative, die eine Abtreibung nicht als Resultat einer eigenen bewussten Entscheidung rahmten, entweder, weil für Schreiberinnen schon von Anfang an feststand, dass sie das Kind nicht behalten wollten, oder weil andere Personen zu einer Option gedrängt hatten. So berichtete etwa eine Frau aus Tennessee, dass ihre Eltern, als sie 1969 von ihrer ungeplanten Schwangerschaft erfuhren, eine Hochzeit mit dem Kindsvater arrangierten. Die Braut, welche zuvor versucht hatte eine illegale Abtreibung durchführen zu lassen, fühlte sich dabei »as though my life & body were completely out of my control.«34 Dieser Brief, welcher von der National Abortion Rights Action League nicht veröffentlicht wurde, zeigt, wie besonders vor der Legalisierung 1973 Frauen die Möglichkeit verwehrt wurde, über ihre Zukunft selbst zu entscheiden. Hingegen erzählen andere Frauen sehr detailliert über ihren Entscheidungsprozess. So schrieb eine Lehrerin aus Cleveland, die sich Jane Roe nannte: »It took me many days and nights to reach the decision to terminate my pregnancy.«35 Letztendlich hatte jedoch auch sie das Gefühl, keine Wahl zu haben, da sie schon zwei Kinder aus einer vorherigen Beziehung hatte, arbeiten musste und ihr Partner drohte, sie zu verlassen, wenn sie das Kind bekomme. Die meisten Briefe, die einen langwierigen Entscheidungsprozess nacherzählten, betrachteten als Alternativen entweder die Option abzutreiben oder das Kind zu behalten. Die Möglichkeit der Adoption wurde in neun der vierzig Briefe diskutiert. In der Mehrheit der Fälle lehnten Frauen diese Option schnell ab.36 32 Karla C., Brief an NARAL , in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Correspondence and Memos, May 21, 1985. MC 714, folder 230.1. 33 So beschreibt etwa die Doktorandin Vonceil S. sehr detailliert ihren Entscheidungsprozess, den sie zu Beginn ihres Briefes auch als »decision-making-process« bezeichnet, am Ende aber mit den Worten »I chose myself and growth, and I am glad« zusammenfasst, s. Brief Vonceil S., in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Campaign Letters, May 21, 1985. MC 714, folder 230.1. 34 Diane S., Brief an NARAL , in: Brief an NARAL , in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Press Conferences LA Airport. MC 714, folder 231.6. 35 Jane Roe (Cleveland, Ohio), Brief an NARAL , in National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Correspondence and Memos, May 21, 1985. MC 714, folder 230.1. 36 Drei unveröffentlichte Briefe berichten davon, dass entweder die Eltern, ein Sozialarbeiter oder ein Priester sie dazu drängten, die Schwangerschaft auszutragen und das Kind zur Adoption freizugeben.

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Sie konnten sich entweder nicht vorstellen, das Kind nach der Schwangerschaft abgeben zu können, befürchteten, dass sich schon die Schwangerschaft nachteilig auf ihren Beruf oder ihr Studium auswirken würde, oder nahmen an, dass adoptierte Kindern später im Leben an psychischen Problemen leiden würden.37 Nur eine anonymisierte Frau aus Oregon schrieb, dass sie Adoption als realistische Möglichkeit in Betracht gezogen habe, als sie mit 16 ungewollt schwanger wurde: »I considered the option of adoption but decided against it. I was on my own for the first time and could not afford a full term pregnancy. I saw no reason to bring another child into an already overpopulated world.«38 Dieser unveröffentlichte Brief geht als einziger auf das Thema Überbevölkerung ein.39 Er stellt die persönlichen Motive der Schreiberin (Unabhängigkeit) neben kollektive bzw. altruistische Motive (Weltbevölkerung), um so dem Vorwurf entgegen zu wirken, dass Frauen sich aus egoistischen Motiven für eine Abtreibung entscheiden würden.40 Eine Vielzahl der Briefe beschrieb, wie Frauen ihre Partner und schon geborenen Kinder in ihrer Entscheidung mit bedachten. Der einzige Bericht, in dem eine Frau sich klar zu egoistischen Motiven bekannte, erschien auch nicht in der National Abortion Rights Action League-Sammlung, sondern im People Magazine.41 Daher lässt sich sagen, dass das soziale Umfeld in die Reflexion über eine Reproduktionsentscheidung einbezogen wurde und die Wahlmöglichkeiten in der großen Mehrheit der Fälle zwischen den Optionen Abtreibung und Austragung der Schwangerschaft verhandelt wurde.

37 N. N., Beispielbrief (13.3.1985), in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; Press Packet »Silent No More« Campaign, 1985. MC 714, folder 219.​ 12; N. N. (Kansas), Brief an NARAL (3.4.1985), in: »Silent No More« Press Kit + Publicity, 1985. MC 714, folder 232.1; N. N, Brief an NARAL (undatiert), in: »Silent No More« Correspondence and Memos, 1985. MC 714, folder 230.2. 38 N. N. (Oregon), Brief an NARAL , in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Correspondence and Memos, 1985. MC 714, folder 230.1. 39 Zum Zusammenhang der Debatten um Überbevölkerung und Reproduktion in den USA , s. Solinger, Pregnancy and Power (wie Anm. 19), S. 163 u. 181. 40 Dies behaupteten Mediziner und Berater zu Beginn der Abtreibungsdebatte in den 1960er und 1970er Jahren, vgl. Laura Kaplan, The Story of Jane. The Legendary Underground Feminist Abortion Service, Chicago 1997, S. 37. 41 In diesem Bericht bezeichnet eine 25-Jährige anonyme Graphikdesignerin die ungeplante Schwangerschaft als »horrible inconvenience« und die Entscheidung für eine Abtreibung als »practical decision«, da sie zwar in einer festen Beziehung und finanzieller Sicherheit lebte, sich aber nicht sicher war, ob sie jemals Kinder bekommen wollte; vgl. N. N., Eight Other Women’s Stories, in: People Magazine 5.8.1985, S. 88.

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2.1. Rationale Entscheidungshilfen

»When the doctor said there was a possibility I could miscarry with the IUD ; our decision was made,« schreibt eine Frau aus New Jersey unter dem Pseudonym Jane Roe.42 Sie habe aufgrund einer Epilepsie-Diagnose die Pille absetzen müssen und sei dann trotz Spirale schwanger geworden. Während sie mit Angst und Schock auf die Schwangerschaft reagierte, fiel ihre Entscheidung für die Abtreibung erst, nachdem ihr Arzt ihr seine Expertenmeinung zu den Gefahren einer Fehlgeburt dargelegt hatte. Experten, hier definiert als Akademiker, wie Mediziner, Sozialarbeiter oder auch Kleriker, die an Hand von rationalen und wissenschaftlichen Methoden interventionistisch tätig wurden,43 dienten als Ressourcen der Entscheidungsfindung, wenn Eltern schwangerer Teenager Rat suchten oder es medizinische Gründe für eine Abtreibung gab.44 In beiden Situationen waren es meist Mediziner, deren Expertise angefragt wurde. Bei gesundheitlichen Problemen bedurfte es zunächst eines Arztes, der die Notwendigkeit für eine Abtreibung diagnostizierte und die Option in den Raum stellte. So berichtet etwa das Rabbinerehepaar Don W. und Sheila S., dass sie im fünften Monat einer geplanten Schwangerschaft die Diagnose erhielten, dass der Fötus nicht lebensfähig sei: »We went for second, third, and fourth opinions. For advice we sought out our families, our clergy, our consciences. We were desperate to hear of even a glimmer of hope from the doctors, but it was not to be. Finally, after many days of deliberation, we decided to abort the pregnancy.«45

Das Ehepaar erlaubte hier einen Einblick in seinen Entscheidungsprozess, indem die Eheleute erzählten, wie sie zunächst den Rat medizinischer Experten suchten, dann ihrer Familie und ihrer Seelsorger, bevor sie gemeinsam die Entscheidung trafen, die Schwangerschaft abzubrechen. Die Berater wurden nach ihrer fachlichen und moralischen Kompetenz, aber auch nach der persönlichen Beziehung zu dem Ehepaar ausgewählt.

42 Jane Roe (New Jersey), Brief an NARAL (10.4.1985), in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Correspondence and Memos, May 21, 1985. MC 714, folder 230.1. 43 Für eine Definition des Sozialexperten als gut ausgebildete Humanwissenschaftler mit Entscheidungsbefugnis s. Lutz Raphael, Die Verwissenschaftlichung des Sozialen als methodische und konzeptionelle Herausforderung für eine Sozialgeschichte des 20. Jahrhunderts, in: Geschichte und Gesellschaft 22 (1996), S. 165–193, hier S. 167. 44 Vgl. Helen N., Brief an NARAL , in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Correspondence and Memos, May 21, 1985. MC 714, folder 230.1. 45 Sheila S. / Don W., Brief an Ronald Reagan, in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Correspondence and Memos, May 21, 1985. MC 714, folder 230.1.

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In den Briefen finden sich einige Schilderungen, wie Frauen sich mit ihren Partnern oder Müttern berieten, bevor sie eine Entscheidung trafen. Professionelle Hilfe in Form von Konfliktberatung nahmen bei Abtreibungen ohne medizinische Indikation jedoch nur wenige Frauen in Anspruch. Dies zeigt, dass anders als es der Supreme Court in dem Urteil zu Roe v. Wade 1973 gefasst hatte, die Entscheidung für eine Abtreibung nicht als Entscheidung zwischen der schwangeren Frau und ihrem Arzt getroffen wurde. Die Suche nach Expertenrat wird genauso wie rationale Methoden zur Entscheidungsfindung, zum Beispiel Pro-und-Kontra-Listen, besonders in Briefen von gebildeten Frauen angesprochen. So schreibt eine Geschäftsfrau, die ihren Namen nicht nannte und sich für eine Abtreibung entschied, weil sie keine langfristige Beziehung zu dem Kindsvater eingehen wollte: »I am a fairly intelligent business professional who loves children. When I discovered I was pregnant, I weighed the pros & cons of having a child as a single parent.«46 Indem sie in ihrem Brief ihren Beruf und ihre Intelligenz betonte, unterstrich sie, dass sie in der Lage war, eine überlegte Entscheidung zu treffen, auch hier stand wieder das Wohl des ungeborenen Kindes im Zentrum der Reflexion. Der Brief mit der ausführlichsten Erzählung über den Entscheidungs­ findungsprozess wurde von der afro-amerikanischen Psychologiedoktorandin Von­ceil S. auf dem Speak-Out in Washington, D. C. verlesen. Sie war mit 17 ungeplant schwanger geworden, hatte dann zunächst ihre Mutter um Rat gefragt, die ihr empfahl mit der Mutterschaft zu warten, bis sie emotional und finanziell dazu bereit war. Weiterhin verfolgte Vonceil S. folgende Strategien: »To help facilitate the decision making process, I consulted  a local minister who was known to systematically conduct abortion counseling. The cost benefit analysis engaged in took two general forms. One was an attempt to assess the degree of life represented in my womb. […] I acquired data about embryonic development, particularly central nervous system development. My criteria being that if it, the fetus, had thought and emotion, then it had a soul. Secondly, I tried to predict how my life would be 7 months, 2 years, 10 years from that point with and without a child. With a child I would simply be either an unhappy wife with an unhappy husband and child or a poor, intellectually frustrated single mother. Without this burden I at least had the opportunity to test my skills and fulfill some of my aspirations.«47

Vonceils Äußerungen folgten einem klaren politischen Ziel. Die Doktorandin antwortet auf die Behauptung des Gynäkologen Bernard Nathanson, Frauen fehle das Wissen über Embryonalentwicklung, mit ihrer Schilderung, wie sie 46 N. N., Brief an NARAL (undatiert), in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Correspondence and Memos, 1985. MC 714, folder 230.2. 47 Vonceil S., »Dear Fellow Citizens«, in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Correspondence and Memos, May 21, 1985. MC  714, folder 230.1.

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sich selbst über das Thema informiert habe. Auch bezog sie sich auf religiöse Debatten, ab wann ein Embryo beseelt sei. Neben ihrer Mutter und ihrer Lektüre schloss sie auch eine religiöse Autorität in den Entscheidungsprozess mit ein. Das Narrativ der Kosten-Nutzen-Analyse unterstrich, dass sie die Entscheidung für eine Abtreibung reflektiert getroffen hatte. Auch zeigt es, dass sie sowohl ihr eigenes Leben in der Zukunft als auch mögliche Gefühle des Embryos mit einkalkuliert hatte. Im Rahmen dieser Narration hat sie folglich rational, aber nicht egoistisch gehandelt. Stattdessen war ihre Entscheidung in einen gesellschaftlichen und politischen Diskurs eingebettet, der religiöser wie biologischer Expertise gerecht werden wollte. 2.2. Religiös-moralische Entscheidensformen

Sowohl das Rabbinerehepaar Sheila S. und Don W., wie auch Vonceil S., berieten sich mit einem Seelsorger. Über die Rolle von Religion im Entscheidungsprozess berichtet auch die katholische Puerto-Ricanerin Romanita J. im Washingtoner Speak-out. Sie hatte schon zwei Söhne und eine mit Behinderungen geborene Tochter. Ihr Ehemann war drogenabhängig und sie vermutete, dass sein Drogenmissbrauch die Ursache für die Behinderungen der Tochter war. Über die Entscheidung für eine Abtreibung erzählte sie folgendermaßen: »I did a lot of praying. Even though I knew it was supposed to be a wrong thing – a taking of life, and all – at no time did I have feelings of guilt.«48 Das Gebet als Modus der Entscheidungsfindung ist ein Narrativ, welches in einigen Briefen auftaucht, in denen sich Frauen zum Christentum bekannten. Damit positionierten sich die Schreiberinnen in einem religiös-moralischen Umfeld. Da die aus dem Milieu der christlichen Rechten stammenden Abtreibungsgegner einen Schwangerschaftsabbruch als unchristlich verstanden, griffen die Frauen das Motiv des Gebets auf, um zu zeigen, dass sie selbst innerhalb eines religiös-moralischen Wertekanons standen. Dies wird deutlich in dem Brief der texanischen Krankenschwester Linda K., welchen sie in Washington vorlas. Die ersten Sätze, die sie an Präsident ­Ronald Reagan richtete, lauten: »I am  a Christian. I have  a college degree and am a registered nurse. I am responsible. I am not careless or uncaring and I once chose abortion.«49 Mit dieser Einleitung präsentierte sich Linda K. als moralisch handelnde, nicht-egoistische Person. Ihr Beruf als Krankenschwester suggerierte medizinische Kenntnisse, und ihr Bekenntnis zum Christentum stellte 48 Romanita J., Brief an Ronald Reagan, in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Correspondence and Memos, May 21, 1985. MC 714, folder 230.1. 49 Linda K., Brief an Ronald Reagan, in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Correspondence and Memos, May 21, 1985. MC 714, folder 230.1.

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klar, dass sie nicht in Unkenntnis der religiösen Debatten war. Im Verlauf ihres Briefes beschrieb sie ihre Lebensumstände zum Zeitpunkt ihrer ungeplanten Schwangerschaft: Sie hatte vor kurzem eine Tochter bekommen, ihr Ehemann studierte noch und sie lebten bei ihren Eltern. Außerdem war ihre Ehe in einer Krise, die bald in Scheidung enden sollte. Sie schrieb: »I consulted my husband, my parents and my God. After much prayer and many tears, we agreed to seek an abortion.«50 Neben dem Gebet betont sie, dass sie und ihre Familie die Entscheidung gemeinsam trafen, sie also gemeinschaftlich und familiär eingebunden war. Religiöse Entscheidungshilfen standen hier wieder gleichberechtigt neben wissenschaftlicher Expertise. 2.3. Imagined Futures: Zukunftsprognosen als Entscheidungsressourcen

Im weiteren Verlauf ihres Briefes sprach Linda K. Präsident Ronald Reagan explizit an und schildert ihm, wie sie sich ihre Zukunft mit einem zweiten Kind ausmalte: »Another baby would have erased law school for my husband. Because our marriage was likely to (and eventually did) end in divorce, another baby would have meant my going on welfare (employers are not anxious to hire a pregnant divorcee with an infant), and then after a time, leaving two babies in the care of someone else. I couldn’t do that. You see, Mr. President, I promised my daughter the first time I held her that I would give her more than material things.«51

Diese Schilderung griff explizit altruistische Motive auf, indem sie auf das Wohlergehen der schon geborenen Tochter einging. Außerdem sprach sie die aktuelle Tagespolitik an, indem sie erwähnte, dass sie mit einem weiteren Kind gezwungen wäre Sozialhilfe zu beziehen. Dies ist eine Anspielung auf Reagans Kritik an Sozialhilfeempfängerinnen im Wahlkampf 1984.52 Während das von Reagan entworfene Bild der typischen Sozialhilfeempfängerin auf schwarze Frauen anspielte, die angeblich immer mehr Kinder bekamen, um weiterhin von staatlicher Wohlfahrt leben zu können, war Linda K. jedoch weiß. Indem sie das Motiv aufgriff, wies sie so Widersprüchlichkeiten in Reagans Familienpolitik nach, da er einerseits die Anzahl (schwarzer) Wohlfahrtsempfängerinnen begrenzen wollte, andererseits aber (weißen) Frauen den Zugang zu legalen Abtreibungen erschweren wollte und sie so in die sozialstaatliche Abhängigkeit trieb. 50 Ebd. 51 Ebd. 52 In den USA gab es bis 1996 Sozialhilfe (Aid for Families with Dependent Children) nur für Familien mit Kindern, denen der Haupterwerbstätige fehlte. Zum Bild der Welfare Queen im Wahlkampf 1984 s. Norbert Finzsch, Gouvernementalität, der Moynihan-Report und die Welfare Queen im Cadillac, in: Jürgen Martschukat (Hg.), Geschichte schreiben mit Foucault, Frankfurt a. M. 2002, S. 252–277, hier S. 281; s. auch Solinger, Pregnancy and Power (wie Anm. 19), S. 204 f.

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Neben der expliziten Kritik an Reagans sozialpolitischen Plänen enthält das Zitat eine genaue Schilderung, wie Linda K. sich ihre Zukunft mit einem zweiten Kind ausmalte. Laut dem Soziologen Jens Beckert dienen solche »imagined futures« als handlungsleitend für wirtschaftliches Entscheiden in Unternehmen.53 Die Zukunftserwartungen sind insofern fiktional bzw. imaginiert, als die Betroffenen sich ein Zukunftsszenario vorstellten, welches noch nicht real ist. Die Briefe an die National Abortion Rights Action League zeigen, dass nicht nur Unternehmen ihre wirtschaftlichen Entscheidungen basierend auf imaginierten Zukunftsprognosen trafen, auch für Frauen, die von einer ungewollten Schwangerschaft betroffen waren, war die imaginierte Zukunft eine wichtige Entscheidungshilfe. So beschrieb die oben schon zitierte Doktorandin Vonceil S., dass sie sich neben der Beratung und Kosten-Nutzen-Analyse auch gefragt hatte, wie ihr Leben mit und ohne Kind in sieben Monaten, zwei oder zehn Jahren aussehen würde.54 Auch die eingangs zitierte anonyme Krankenschwester, welche die ungeplante Schwangerschaft als Hindernis des American Dreams bezeichnet, hatte genau kalkuliert, wie Schwangerschaft und Geburt sich auf ihre Ausbildung auswirken würden.55 Narrative über Zukunftsprognosen finden sich in der Mehrheit der Briefe. Ihre Funktion war es, die Entscheidung für eine Abtreibung bildhaft zu legitimieren. So berichtete eine anonymisierte Frau, die 1977 als Studentin ungeplant schwanger geworden war, dass sie zwar zunächst keine Abtreibung wollte, der Kindsvater aber keine Verantwortung für sie übernahm. Sie beschrieb im Detail, dass sie sich seit ihrer eigenen Kindheit ein Baby gewünscht hatte, jedoch: »Only, my fantasy involved a loving husband who like myself wanted a family life. The reality was far from that. […] Envisioning what my life would be, an unskilled, unwed mother, my child would not have two parents but one working parent. That’s not the life I wanted to give my child and not what I wanted for myself. Also, I thought about being emotionally tied to this man, though [sic] our child, and what a sad father he would be. It started to become clear I didn’t want to have this child.«56

In diesen sehr detailreichen Beschreibungen ihrer Zukunftsprognosen stellte sich die Autorin nicht nur ihre eigene Zukunft vor, sondern auch die des un53 Vgl. Jens Beckert, Imagined Futures, Fictional Expectations in the Economy, in: Theory and Society 42 (2013), S. 219–242, hier S. 221, s. auch Jens Beckert, Imagined Futures, Fictional Expectations and Capitalist Dynamics, Cambridge 2016, S. 61. 54 Vonceil S., »Dear Fellow Citizens«, in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Correspondence and Memos, May 21, 1985. MC  714, folder 230.1. 55 Vgl. N. N., Brief an NARAL , die Senatoren Lloyd Bensen, Phil Gram und den Abgeordneten John Bryant (undatiert), in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Correspondence and Memos, 1985. MC 714, folder 230.1. 56 N. N., »One Abortion«, in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; »Silent No More« Correspondence and Memos, 1985. MC 714, folder 230.2.

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Claudia Roesch

geborenen Kindes und des Kindsvaters. Indem sie diese Vorstellungen mit ihrer normativen Idealvorstellung einer glücklichen Familie verglich, stellte sie klar, dass die Entscheidung über eine Abtreibung nicht nur sie allein betraf.57 Viele der Briefe bezogen die Karriereaussichten ihrer Partner und ihrer schon geborenen Kinder in ihre Zukunftsprognosen mit ein, so hieß es etwa in dem von der National Abortion Rights Action League in die Kampagnenmappe eingefügten Beispielbrief der dreifachen berufstätigen Mutter Margaret L.: »I was faced with having to raise a baby and still provide the attention, nurturing and guidance my three children need and deserve.«58 Da sie aufgrund ihrer Abtreibung weiter arbeiten gehen konnte, konnten sie und ihr Ehemann sowohl die finanziellen als auch die emotionalen Bedürfnisse ihrer schon geborenen Kinder erfüllen. Deshalb begriff sie die Entscheidung für die Abtreibung als »both moral and compassionate.«59 Der Brief sollte anderen Schreiberinnen als Beispiel dienen, wie sie ihre Reproduktionsentscheidungen öffentlich erzählen sollten. Da diese Schilderung sich in einem Brief befand, der als Modell einer eloquent everywoman an die Landesverbände verteilt wurde, wurde diese Methode der Entscheidungsfindung als normative Methode präsentiert. Durch die Einbeziehung von Pro-/Kontra-Listen und Zukunftsvisionen entstanden so neue Narrative der Entscheidungsfindung, die durch die Kampagnen der National Abortion Rights Action Leagues Einzug in den politischen Diskurs der Zeit fanden. Diese Narrative über Zukunftsprognosen für das Leben mit oder ohne Kind berichteten so von einem rationalen Vergleich zweier Optionen und zeigten damit die Fähigkeit der Frauen auf, reflektierte Entscheidungen zu treffen.

3. Fazit Die Briefe der ›Silent No More!‹-Kampagne präsentieren vielfältige Narrative über das Entscheiden für eine Abtreibung. Während einige Briefe die Wahl der Abtreibung als Ad-hoc-Entschluss beschrieben, stellten andere Erzählungen Ressourcen und Methoden der Entscheidungsfindung vor. Dabei wurden rationale Methoden, wie das Erstellen von Pro-/Kontra-Listen, die Beratung durch Experten oder das selbstständige Einholen von Informationen, mit religiösmoralisch sanktionierten Methoden, wie dem Gebet oder dem Gespräch mit einem Seelsorger, kombiniert. Einen besonderen Stellenwert nahmen Zukunfts57 Zur normativen Funktion der zweigenerationellen Kernfamilie s. die Ergebnisse der Emmy Noether-Gruppe »Familienwerte und gesellschaftlicher Wandel: Die US -amerikanische Familie im 20. Jahrhundert«, zunächst veröffentlicht in dem Sammelband: Isabel Heinemann (Hg.), Inventing the Modern American Family. Family Values and Social Change in the 20th Century United States, Frankfurt a. M. 2012. 58 Margaret L., Sample Eloquent Everywoman Letter to the Editor (undatiert), in: National Abortion Rights Action League Additional records, 1967–2004; Binder »Silent No More« Campaign, 1985. MC 714, folder 229.9. 59 Ebd.

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prognosen als Ressourcen des Entscheidens ein. Diese betrachteten nicht nur die imaginierte Zukunft der betroffenen Frau, sondern auch die ihres Partners, ihrer schon geborenen Kinder und des ungeborenen Fötus. Durch die Kampagnen wurden neue Narrative des Entscheidens erschaffen, die über die Debatten über die Legitimität der Abtreibung Einzug in den allgemeinen politischen Diskurs hielten. Diese zeigt zum einen, dass die Entscheidung für eine Abtreibung selten als individuelle Angelegenheit der schwangeren Frau verhandelt wurde, ihr Umfeld war in den Entscheidungsprozess involviert. Neben materiellen Überlegungen (Finanzen, Schulbildung) spielten auch emotionale Faktoren eine entscheidende Rolle. Auch transportieren die Zukunftsprognosen subjektives Wissen und normative Vorstellungen darüber, wie ein Kind aufwachsen sollte. Diese normativen Vorstellungen von Familie wurden in den öffentlich vorgetragenen Briefen weitervermittelt, genauso wie normative Modelle der Entscheidungsfindung. Die Narrative sollten anderen betroffenen Frauen eine Handreichung bieten, um die schon getroffenen Entscheidungen nachträglich legitimieren und im politischen Diskurs Behauptungen der Anti-Abtreibungsbewegung widerlegen zu können. Entscheiderinnen waren keine rein zweckrational handelnden Individualistinnen, sondern soziale Wesen, die ihre Entscheidung in ein sowohl rational-wissenschaftliches wie auch religiös-moralisch geprägtes Umfeld einbetteten. Eine ›gute‹ Entscheidung war folglich nicht eine Entscheidung, die nur auf rationalen Methoden basierte, sondern eine, die rationale und religiös-moralische Ressourcen miteinander kombinierte, die Situation aller Betroffenen betrachtete und besonderen Wert auf Zukunftsperspektiven legte. Reproduktives Entscheiden in den von den ›culture wars‹ der 1980er Jahre geprägten USA waren damit komplexe Entscheidungsvorgänge, bei denen die betroffenen Frauen sich mit unterschiedlichen religiösen und rational-wissenschaftlichen Strömungen konfrontiert sahen und versuchten, Lösungen zu finden, um mit den damit verbundenen Widersprüchen umzugehen und sie, soweit möglich, zu vereinen. Das öffentliche Erzählen über Entscheiden war in einer zunehmend gespaltenen Gesellschaft sozial, kulturell und politisch geprägt. Nicht nur wurde durch solche Erzählungen unterstrichen, dass Frauen selbst in der Lage waren, reflektierte Reproduktionsentscheidungen zu treffen, sondern sie boten ungewollt schwangeren Frauen und Paaren auch eine Handreichung zum reflektierten Entscheiden an. Das Repertoire an Entscheidungsressourcen beinhaltete eine Vielzahl von Methoden von Expertenrat und Konfliktberatung bis hin zu Gebeten, Kosten-Nutzen-Analysen, Pro- und Contra-Listen und imaginierten Zukunftsvorstellungen. All dies verweist darauf, dass das Entscheiden über eine Abtreibung kein spontaner Entschluss war, sondern ein komplexer Prozess, dessen Voraussetzungen in der Kultur der modernen amerikanischen Konsumgesellschaft begründet waren.

Helene Basu, Mrinal Pande

Enacting Meanings of Matrimonial Decision-Making in Situations of Talk in Contemporary India1 1. Introduction Marriage constitutes  a significant decision in life in most societies. In India, although marriage forms vary according to systems of classifications of kin (Dravidian and Indo-Aryan),2 it is commonly held that such a union is not a matter of individual preference or choice but of forging alliances between families and lineages, thus making arranged marriages the norm. Despite centuries of lovers’ feelings playing a subordinate role to societal laws (reflected in vernacular poetry, folk stories and Bollywood movies), in contemporary India the legitimacy or illegitimacy of a love marriage is being debated with a new vigor. Accordingly, the form of marriage, whether socially arranged or individually chosen, is emerging as  a serious matter of decidability. However, it would be too hasty to interpret this as an indication of social change from tradition to modernity, with  a linear transition from socially-based arranged marriage to individualistic love marriage. In contemporary India, both modalities of marriage coexist, sometimes contrasting, sometimes discursively combining features.3 But even if the form of marriage has become decidable in terms of available alternatives, this should not be confused with the assumption that arranged marriages preclude decision-making whereas love marriages involve making choices. The opposition between routinised and reflexive (decisionbased)  social actions derived from  a sociology of modern Western societies obstructs our understanding of the meanings attributed to decision-making by people in distinct social and cultural settings such as India, with its specific his1 We wish to express our gratitude to Mrinal Pande’s interlocutors having shared their intimate experiences of matchmaking with her. Special thanks to Rebecca Walsh for her thoughtful and careful editing work. 2 Louis Dumont, Marriage in India. The Present State of the Question. III . North India in Relation to South India, in: Contributions to Indian Sociology (1966), pp. 90–114; Thomas R. Trautmann, Marriage Rules and Patterns of Marriage in the Dravidian Kinship Region, in: Patricia Uberoi (ed.), Family, Kinship and Marriage in India, Delhi 1994, pp. 273–286. 3 Henrike Donner, Domestic Goddesses. Maternity, Globalization and Middle-Class Iden­ tity in Contemporary India, Aldershot 2008; Chris J. Fuller / Haripriya Narasimhan, Companionate Marriage in India. The Changing Marriage System in a Middle-Class Brahman Subcaste, in: Journal of the Royal Anthropological Institute 14 (2008), pp. 736–754.

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tory of postcolonial modernity. In agreement with Adam Kuper’s statement that “marriage choices are regarded in very many societies as the most important decisions in life, almost certainly too important to be left to any individuals to make for themselves”,4 it is suggested here that in India, too, any type of marriage  – whether arranged by  a network of kin or not  – involves choices and decision-making. While anthropologists have produced  a large body of literature describing cultures of marriage in India, comparatively little attention has been paid to the actions leading up to the marriage proposal; they seem to be more concerned with analyzing the way a marriage decision is performed and displayed as an event than with the process of arriving at the decision to marry. Here, it is argued that arranging  a marriage cannot be reduced to applying traditional rules of marriage but unfolds as an interactive social process of decision-making. This will become apparent when exploring the more specific question guiding this chapter: What is the relationship between the deciders – those who make the decision (in this case the arrangers of a marriage) – and the sustainers – those who are affected by the decision (in this case the bride and bridegroom). This relationship is conceived in terms of the actors’ agency and patiency.5 As this volume aims at comparatively investigating how meanings of decision-making are constructed in discourse and represented narratively as a process of social action (not an individualized cognitive operation), a few words regarding methodology are in order. An examination of decision-making as social action can obviously be approached using various methodologies, e. g., historical and philological disciplines will work mostly with textual sources and the social sciences rely heavily on empirical evidence. To examine the semantics of decision-making using a fieldwork methodology requires a shift from textual to conversation analyses. According to John Gumperz: “Conversational exchanges do have certain dialogical properties, which differentiate them from […] written texts […]. Two such properties […] are: (a) that interpretations are jointly negotiated by speaker and hearer and judgements either confirmed or changed by reactions they evoke – they need not be inferred from a single utterance; and (b)  that conversations in themselves often contain internal evidence of what the outcome is, i. e. of whether or not participants share interpretive conventions or succeed in achieving their communicative ends.”6

Gumperz’s conceptualization of speaking and hearing as productive of meaningmaking is taken as a point of departure to approach a narrative of matrimonial 4 Ibid. 5 William Sax, God of Justice. Ritual Healing and Social Justice in the Central Himalayas, New York 2009; Burkhard Schnepel, Zur Dialektik von agency und patiency, in: Paragrana 18 (2010), pp. 15–22; Helene Basu, Dava and Dua. Negotiating Psychiatry and Ritual Healing of Madness, in: Harish Naraindas et al. (ed.), Asymmetrical Conversations, New York 2014, pp. 162–199. 6 John J. Gumperz, Discourse Strategies, Cambridge 1982, p. 5.

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decision-making which was collected in  a society shaped by the history of caste and hierarchy as the fundamental form of sociality.7 Although local caste hierarchies vary considerably across the subcontinent, they do share  a set of principles. Most significantly, these principles define the circle of kin amongst whom marriage is prohibited (exogamy) on the one hand, and the circle of caste affiliates to whom marriages should be confined (endogamy) on the other. This chapter explores the process of matchmaking, an important stage in arranging a marriage, as narrated by members of a lower caste family in Mumbai to the anthropologist Mrinal Pande during her fieldwork.8 The conversation was held mostly in the regional language of Marathi and interspersed occasionally with Hindi and English terms. While talking about matchmaking, speakers referred to various terms that can be loosely translated into English as decision and decision-making. Significantly, though, all these terms are principally polysemous, such as the word tharavne, which may refer to such diverse meanings as to fix, settle, make definite, choose, decide, determine, betroth.9 The respective referents must be inferred from the referential context evoked in a sequence of speech. An anthropological approach to understanding the relationship between deciders and sustainers – or between agency and patiency – privileges the emic or actor’s point of view.10 Various methods of fieldwork can uncover emic points of view. This chapter follows a pragmatic course by including an analysis of the social encounter between the fieldworker and her interlocutors that engendered the narrative under consideration. For this approach, the notions of framing and footing proposed by Erving Goffman are useful analytical tools.11 Framing, in summary, refers to  a combination of verbal and non-verbal messages and specific doings whereby people simultaneously make sense of  a specific social activity and perform its construction and enactment. Frames are not stable like a picture frame but are malleable in social interactions by different manifestations of behavioral strategies, which Goffman calls keying (transposing one frame onto another situation), deceit (manipulation, introducing a break between perception, expectation and behavior), bracketing (signaling specific forms of actions, e. g. ritual, theatre play), among others. A frame provides an 7 Louis Dumont, Homo Hierarchicus. The Caste System and its Implications, Chicago 1980; Chris J. Fuller (ed.), Caste Today, Delhi 1996; id., Caste, in: Veena Das (ed.), The Oxford India Guide to Sociology and Social Anthropology, Oxford 2003, pp. 477–501. 8 Fieldwork was carried out by Mrinal Pande between February and April 2017 and supported by the Collaborative Research Centre, SFB 1150 “Cultures of Decision-Making”. 9 See Online Marathi-English dictionary http://www.shabdkosh.com (consulted on 29 May 2018). 10 Clifford Geertz, “From the Native’s Point of View”: On the Nature of Anthropological Understanding, in: id. (ed.), Local Knowledge. Further Essays in Interpretive Anthropology, New York 1983, pp. 55–72. 11 Erving Goffman, Rahmen-Analyse. Ein Versuch über die Organisation von Alltagserfahrungen, Frankfurt a. M. 1974; id., Forms of Talk, Philadelphia 1981.

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explicit or implicit understanding of what is going on here, it channels participants’ expectations of what should be said and done in that situation. While Goffman prefers to use examples of theatre and board games to delineate framings of specific and situated social actions, he also applies frames to conversation or talk.12 Goffman takes a linguistic turn in his late work “Forms of Talk”,13 where he introduces the key concept footing. Footing builds upon the metaphor of leaving one’s footprints and thereby offers a lens through which the formal features of social interactions between listeners and speakers can be observed. Goffman delineated three dimensions constituting forms of talk:14 1. Ritualization, i. e. bodily signs (tone of voice, gestures etc.); 2. participation framework, i. e. the participants present in a situation where utterances are made; and 3. embedding, i. e. layered forms of speech such as when a speaker utters words in his or her own name or in someone else’s. These dimensions are further differentiated into several roles: the speaker as animator, i. e. one who embodies an utterance, as author, i. e. one who refers to the origin of the form and content of an utterance (direct / indirect speech) and as principal, one who carries the responsibility for the embedded action in a statement.15 Each of these roles implies an alignment to the speaker on the one hand and the utterance on the other. Footing refers to changes in alignments indicated by verbal and non-verbal signs and sheds light on the production format of an utterance.16 The production format encompasses the self-representation of the speaker in relation to his utterance: he becomes a figure in a statement, a protagonist and determines the co-participants in the encounter correspondingly.17 For the present purpose, the second feature, the participation framework, is particularly relevant. Goffman used this notion to deconstruct the conventional dyadic model of speaking in terms of transactions engaging just two individuals; rather, listening and speaking often happen in social situations in which more than two actors are present. A social situation of talk is thus defined by Goffman as “the set of people in a physical area bounded by the sight and sound of each other”.18 Participants may take on different participation statuses, becoming ratified and / or non-ratified listeners or speakers (e. g. bystanders).19 Footing pertains to how an actor can shift alignment (stance, posture or projected self)20 to the speaker or hearer by using words, code-switching, non-verbal utterances 12 13 14 15 16 17 18

Goffman, Rahmen-Analyse (see note 11), pp. 531 et seq. Id., Forms of Talk (see note 11). Ibid., pp. 2 et seq. Ibid., p. 144. Ibid., p. 145. Ibid., p. 151. Robert R. Agne, art. ‘Footing’, in: The International Encyclopedia of Language and Social Interaction, ed. by Karen Tracy, Hoboken 2015, p. 619. 19 Goffman, Forms of Talk (see note 11), pp. 132–137. 20 Ibid., p. 128.

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and bodily signs. Footing, then, provides  a lens through which the speaker’s shifting alignments to his utterances as well as to himself and to listeners or the audience can be explored. As the term participation framework suggests, Goffman’s notion of footing is closely related to and partly overlaps with his notion of framing.21 A frame defines the expected nature of an activity, whereas footing brings the interaction within the frame of talking to the fore. In Agne’s words: “The frame is the name of the game, and footing is how the game is played”.22 By drawing on the analytical notions of framing and footing the chapter does not intend to venture deep into socio-linguistics but rather to make use of the terms to explore the semantic dimensions of decision-making enacted in conversational storytelling. Ethnographic research on narratives of matchmaking reveals how a social situation is established through talk in which shifting alignments between speakers and listeners unfold in an enactment of a matrimonial decision-making process.

2. Talking about matchmaking – doing decision-making The method of fieldwork entails a researcher spending a good amount of time listening to her interlocutors. The anthropologist often frames such situations as ‘interviews’. Excerpt from Mrinal Pande’s fieldwork diary:23 “Today I went to meet Mrs. X. Her son, Sharad, recently got married. She had agreed to an interview and tell me about how they had found him a wife. A few days ago, she had called and invited me for lunch on Sunday. Sensing a good occasion for the interview, I accepted her invitation. I was looking forward to this, thinking that I could also ask Sharad some questions. When I arrived at the X.’s house, a mediumsized building in a middle-class colony in Mumbai’s outskirts, Mrs. X. opened the door and led me straight into the living room. I was surprised to meet with, besides Sharad und his wife, Mr. X. and an elderly woman who turned out to be the sister of Mr. X. and visiting her brother. I had neither expected Mr. X to be present (I should have, though, after all it was a Sunday!), nor his sister. Anyway, they were watching a Marathi tele-serial on a local channel, albeit with the sound muted. So, I thought they might not be interested in my questions to Mrs. X. and Sharad. However, when I said that they need not bother about me and suggested to once again increase the sound, Mr. X. replied that it made no difference to him because all serials had essentially the

21 Goffman, Rahmen-Analyse (see note 11). 22 Agne, Footing (see note 18), p. 619. 23 An important part of doing anthropological fieldwork consists in describing meetings with interlocutors and the researchers’ expectations, puzzlements and observations in a field diary. In this case, Mrinal Pande wrote about the meeting with the X.s on the evening of 26th February 2017.

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same plot and he could surely predict what would happen in the next episode. Then I had to wait even longer before beginning with the interviews because lunch was served. After lunch we all settled in the living room. ‘Alright’, I thought, ‘let me start asking Sharad’.”

The people referred to in this fieldwork note, whom we call the X.’s, live together in a household comprising the son Sharad, his wife Deepa and his parents, Mr. and Mrs. X. Their house is situated in one of the sprouting housing colonies on the outskirts of Mumbai which reflect the burgeoning growth of the Indian middle class. Family X. is related to a wide circle of kin and caste settled across towns and villages in the state of Maharashtra as well as in Mumbai. The X.’s caste status as weavers was traditionally relatively low, but over the past few decades a wave of upward social mobility has set in. Like the X.’s, many fellow caste members had migrated from a village to the city of Mumbai. No longer engaging in weaving, people now perform white collar jobs, are becoming wealthy and place great emphasis on the educational performance of both girls and boys. Pande was introduced to Mrs. X. by an acquaintance of her parents, a doctor, who was aware of her research interests; Mrs. X. was his patient. Pande contacted her for the initial interview. Many anthropologists working in India plan to interview a particular individual only to find themselves in situations in which numerous others are also present and soon begin to negotiate their participation status as ratified or non-ratified speakers. Thus, the person who actually answers the anthropologist’s question might differ from the one originally targeted. The ethnographer in this case experienced a similar situation. Ultimately, she interviewed neither Mrs. X. nor Sharad:24 Mr. X. told the story of how his son’s wife, Deepa, was chosen. To understand how this came about, the lenses of framing and footing can be applied. First of all, the ethnographer and the X.’s seemed to have framed the occasion differently. Pande perceived the invitation as  a chance to conduct interviews with interlocutors of her choice and considered lunch as a minor, though pleasant, point, whereas the X.’s saw themselves first and foremost as hosts to  a respected guest (an acquaintance of their doctor). Apparently, the minor point for the X.’s was her interest in the son’s marriage. Not only was lunch served first, but it followed the practices of Indian hospitality: The fieldworker was seated with the men and served before the women, who later ate what was left over. The framing-mismatch of the social situation, i. e. the game, consequently shaped the footing, i. e. how the game was played. During and after lunch the participants (Mr. X., Sharad, Mrs. X., Sharad’s wife Deepa and Mr. X.’s sister) and the fieldworker enacted a participation framework in their talk.

24 The names of research participants have been changed.

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When Pande asked Sharad why he had decided to marry Deepa, he replied: “I was determined [tharavne] to marry according to my parent’s preferences [pasanti]. When I returned from my studies in the US in 2014, I married Deepa in 2015 according to my father’s and mother’s choice [pasanti].”

Sharad used the word tharavne (to fix, settle, make definite, choose, decide, determine, betroth) in the sense of ‘determine’, which excludes choice. To affirm his own non-agency in the process of selecting  a wife, he relegates preference and choice (both are meanings of pasanti), words which allude to optionality and selection, to the agency of his parents. With these particular semantic choices, he shifted the footing of the verbal exchange away from the process of decision-making (matchmaking) and towards the event of his own marriage. He then asked his mother to bring the wedding album. He showed it to the researcher and explained what kind of rites the pictures depicted and who the relatives were. As this was not the kind of information the fieldworker was interested in, she tried to shift attention away from the event of marriage and back to matchmaking by asking again how his engagement had come about. Sharad answered, “I made a late entry on the scene of my marriage; my father knows more about my own marriage. He can tell you better”, and shifted from the position of a ratified speaker, which the fieldworker had tried to make him assume by applying performative language (question, asking), to the position of a ratified listener. From this moment onwards, Mr. X. emerged as the principal speaker; the others mostly listened (with one exception) as he responded to the ethnographer’s questions and aligned them as characters in the narrative, embedding their sayings and doings. Mr. X: “We already had much experience [anubhav] in searching for a match [lagna julavtana] – for my elder son, for my daughter. We were ‘thinning the soles of our footwear’ – so many eligible girls’ houses we visited for Sharad!”

Here one encounters another framing-mismatch between the ethnographer and the other participants in the participation framework: The fieldworker assumed that Sharad as the one who got married should be the principal speaker; but Mr. X.’s utterance evokes another frame. By indexically using the firstperson plural pronoun (we), he situates the actions of selecting a spouse squarely within the realm of family elders. In Mr. X.’s story, matchmaking unfolds by embedding decision-making. The following remark aligns unknown authors to Mr. X., who is in the role of principal speaker, and the object of the utterance, i. e., nearly endless options of girls willing to get married to Sharad. Mr. X.: “Many girls were suggested to us for marrying our son.” The utterance evokes the status of the family in the marriage market. The prospective groom has  a degree from an American university, which greatly enhances his chances of finding a good match. How would Mr. X. choose the

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right woman from amongst so many? Which one would be most suitable for the son and compatible with the status, codes and practices of the family / caste? The first round of selection was guided by a preliminary decision: Mr. X.: “After seeing so many girls, we decided [tharavne] that we would look for girls from outside Mumbai city. These metropolitan city girls have too many airs regarding themselves.” Mr. X. uses the word tharavne in the sense of having to decide or choose from many options and marks a further step in the decision-making process: The number of potential brides must be limited to small town women from their caste, which means the “metropolitan girls with airs” must be excluded. Mr. X. then draws attention to the burden of decision-making: “To make four hands out of two’ is not easy. It is very difficult! In today’s world, we do not find girls easily who would fit into our family. Some girls are not well educated, or the family reputation is not good enough [for us].” By aligning himself to the role of representing the collective voice of his caste (we), the speaker shifts footing to discuss the selection criteria for a daughter-inlaw: education and the symbolic capital of her natal family (reputation). In the following utterance, the principal speaker again switches footing from first-person-pronoun plural to first-person-pronoun singular: “I made weekend trips [to several smaller towns]. I would first make a phone call and tell people that I thought of visiting them since I was passing through their city. Pretending to have come just for a cup of tea and enjoyment of flattened rice seasoned with onions [kande pohe], I would be on the lookout for eligible girls.” This shift aligns the role of the protagonist to the principal speaker: It is now Mr. X who takes action. The utterance also illustrates Goffman’s idea of keying. Mr. X. uses the frame ‘polite socializing’ deceptively and ambiguously. One motive is to scan the marriage market and to judge the character, demeanour and cooking skills of women by tasting their food; another consists of concealing his own intentions, which, if publicly known, would put Sharad at risk of being rejected as a desirable husband and result in a loss of honour, reputation and status for the X.’s. Mr. X.: “I had already learnt on a basic level how to make horoscopes [patrika]25 and see if they match. Only if we were interested in a particular match, we would give a gift of money [dakshina] to an astrologer to look into details of the horoscope.” 25 Astrology, Sanskrit (jotishsastra), is the “science of [celestial] lights” and encompasses astronomy, astrology and mathematics; cf. Martin Gansten, art. ‘Astrology and Astronomy (Deepasa)’, in: Brill’s Encyclopedia of Hinduism. Sacred Texts, Ritual Traditions, Arts, Concepts, ed. by Knut Jacobson et al., Leiden 2010, pp. 281–294; id., art. ‘Astrologers’, in: ibid., pp. 217–221. Astrologers form  a class of religious specialists who prepare the horoscope of  a Hindu child at birth based on the Hindu science of astrology. The horoscope shows a person’s gunas (personal qualities according to the Indian Samkhya philosophy); cf. Knut Jacobson, art. ‘Samkhya’, in: ibid., pp. 685–698. It constitutes an important resource at the time of marriage for deciding if marrying partner’s svabhav (nature, personality) would match.

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By talking about horoscopes, the speaker switches alignment, going back and forth between author (i. e. he considers the cost of getting a horoscope from a specialist) and principal (i. e. he embeds the social requirement of assigning the task to a professional astrologer). Mr. X.: “The search for a wife for Sharad took me one and a half years. We can make good decisions [changla nirnay] since we are experienced [anubhav], but our experiences grow out of bad decisions [chukiche nirnay].”

Here, the speaker uses the word nirnay, which has multiple meanings such as conclusion, deciding, decision, finding, judgement, reference, verdict. Nirnay thus connotes a conclusion of the process of matchmaking, an irreversible decision and final judgement. A good or bad decision refers concretely to the selected woman and bride-to-be, as she embodies the risk of a bad decision. While his father was telling the story of how he searched for a wife for his son, Sharad listened quietly as he sat next to him on the sofa, sometimes smiling, sometimes playing with his mobile phone. In this sequence, Sharad is aligned with the personified incentive of the actions of his father, but not yet with  a character. The importance of the principal speaker’s actions is emphasized by his reference to the long time span of the decision-making process and the risks it involved. Mr. X: “During my trips, I visited different families and carefully inspected their homes. How were things arranged in someone’s house? Especially the living room and the kitchen – these speak volumes about the nature of the women in that house. When I met  a potentially eligible girl, I would directly look into her eyes. Did she have a steady gaze or did she appear to be distracted? That speaks a lot about the girl’s character and upbringing, which is very important for our son’s future.”

The speaker again aligns himself to the role of the protagonist. He reveals how he relied on his own past experiences to assess the eligibility of a woman and evokes further decision-making criteria: cleanliness, honesty, diligence. Picking up on the speaker’s alignment as the protagonist, the ethnographer asked: “How did you come to know about the families who would seek a groom for their daughter?” Mr. X: “You know…” At this point his wife switched footing from listener to speaker: Mrs. X: “Someone from our village and caste had organized what we call  a ‘bride and groom fair’ [vadhu-var melava]. All of us, that is Sharad’s father, myself and my brother, went there. There, we registered on a whatsapp group run by members of our caste to exchange photos of eligible boys and girls with all relevant information such as gotra, mamekul, rashi, naadi [exogamous kinship units], then reputation of the family, education of boys and girls. I scrolled these pictures and noted down the phone numbers of the girls whom I liked particularly. I told Sharad’s father about it and he would then contact one of the administrators for more information about the girl.”

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In this sequence, Mrs. X. aligns herself as the speaker, thus expanding the circle of characters involved in the matchmaking / decision-making process. Besides the protagonist Mr. X., she aligns other characters: herself, her brother and an unnamed mass of fellow caste members. Further, the speaker Mrs. X. aligns specific actions to them to specify how the ‘sieving of girls’ is carried out. Mr. X. assumed the principal speaker position once again: “I selected three girls whose pictures I showed to my son. Did he like them too? But he said that we should make the decision [nirnay].” Though the speaker talked about the son in his presence, Sharad did not assume  a speaker’s position. He continued to check his mobile  – and thus continued to remain in a state of patiency. Aligning himself with his son once again, he embeds Sharad, who said that the decision should be made by his parents, thereby invoking a frame of marriage shared by all participants of the encounter, namely, that marriage should be decided by the elders rather than the person to whom the decision will apply. Mr. X: “I arranged  a formal visit of  a ‘girl viewing program’ [mulgi pahnyacha karyakram] to the house of the one I liked most to make a proposal. We, myself, my wife and Sharad, went to this girl’s home in […]. We exchanged greetings and made some small-talk. It was going well. But then the girl walked in with tea and flattened rice [kande pohe] and while placing the tray on the table, she turned and swung her dupatta [scarf] in the air. A few metallic beads attached on its ends hit Sharad in the face. Even being accidentally smacked in the face made Sharad very angry. After all, it was a ‘girl viewing program’! He said he wanted to leave immediately. The girl was embarrassed, too. But the damage was done. What could we do in the face of destiny [niyati]? We did understand that this match was not meant to be. So, we returned home. After three days the girl’s family called, but we told them that their daughter’s and our son’s horoscopes do not match [patrika jullya nahi].”

Several shifts in footing occur in this sequence of speech. Firstly, Mr. X. widens the circle of authors to include his wife and son, who would both now also have  a say in the selection process. Secondly, the girl is aligned with  a nonverbal author who disqualifies herself in the eyes of the bride-viewers by acting clumsily. Thirdly, Sharad is aligned with an author showing emotions (anger) and embedded through indirect speech. A shift in framing occurs, moreover, whereby Sharad’s display of anger does not express dislike of the girl, but her mistake is construed as a sign of fate indicating that a union between her and Sharad would be a mismatch.26 Fourthly, Mr. X., the protagonist who had made the first selection and arranged the visit, accepts that his choice was discarded due to derailed social interactions and explained the careless accident as  a sign of fate. Fifthly, the family of the girl is indirectly aligned with another author (inquiring into the 26 The notion of ‘fate’ is here employed according to the logic of astrology and the matching of horoscopes (see note 24) and should not be confused with European notions of fate.

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outcome of the visit  – would their daughter be accepted?) who the principal speaker, switching again to we, puts off with a lie (horoscopes did not match) for the sake of saving face for both parties. Mr. X: “I resumed my travels. On Sundays, I purchased a train ticket [to towns and cities beyond Mumbai] and met a marriage mediator [madhyasti from our whatsapp group] at one of these stations. He gave me addresses of interested parties. Finally, we settled [tharavne] to visit a family nearby […] to see another girl. She had been recommended to us by the mediator. She seemed an ideal match to us; the girl was fair [gori], delicate physical frame [nazuk bandha] and her hair [laam kes] came down below her knees. Moreover, both our families had common acquaintances from our own caste [jati]. Upon discreet enquiries [chaukshi], we learned that the girl had a very good reputation. This is Deepa who I am talking about!”

In this sequence, the principal speaker shifts between I and we in confirming that the family had come close to a decision by finding the ideal match. This is affirmed by aligning some more criteria authored by the caste / society as a whole pertaining to what are considered markers of physical beauty of a woman. Just as Mr. X. discussed Sharad in his presence, he now embeds the young woman, who was also present, into his story. Listening to what was said about her body and character, she modestly bowed her head without uttering a word. Although the decision was eventually made in her favor, the passage of decision-making had not been without uncertainties and risks. Mr. X: “During my first visit to her house, I had hardly entered their living room and sat down, I received a phone call. My brother-in-law had suddenly passed away! I thought this was a bad omen and wanted to leave immediately. But my train would leave only two hours later, and I did not want to go out into the scorching heat. I thus stayed in their house longer than I had intended. I was served flattened rice [kande pohe] that she had prepared. I enjoyed it, it tasted special. I liked her, but still I was not sure because of the upsetting news received in her home.”

In this sequence, the principal speaker aligns another unnamed author who informed him about a death in the family. This gives the story a dramatic turn and introduces ambiguity, which the speaker aligns to his own doubts (bad omen?) and ambivalent feelings (wanting to leave but enjoying the dish prepared by the girl). Here, the speaker shifts frames by referencing Hindu notions of inauspiciousness related to death, which are perceived in India as a contradiction to marriage as an auspicious event.27 A cultural logic of contamination is at work here, as hearing bad news from elsewhere contaminates the place where it is received, while the place itself becomes identified with the person (girl). Mr. X: “I returned home and told my wife everything. Deepa was in the last year of completing her Master’s degree in Commerce. I recognized she was talented and 27 John B. Carman / Frederique A. Marglin, Purity and Auspiciousness in Indian Society, Leiden 1985.

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patient by nature [guni and shant chit]. But what kind of luck would the girl bring [in whose house I learned about the death of my brother-in-law] if she stepped into our home? No one could tell. My wife said I was the best person [uttam vyakti] to judge [nirnay]. So, I thought and pondered about it, and finally called the girl’s father by phone. I invited the entire family. All of them visited us after about two weeks, the girl, her mother, father, brother, two father’s brothers and their wives and also my wife’s brother, Sharad’s mama [mother’s brother]. They were very happy to visit our duplex house. We wanted to know if they liked and matched with our family. We had all gathered, myself, my wife, my wife’s brother, my own brother, and my daughter with her husband. We then had a resolution meeting [tharaav baithak]. Male elders from both our families agreed about the union and negotiated [bolni] the gifts to be given and received to and fro both sides. Thereafter, we formalized the agreement [waang nischay] verbally and by gifting the girl a dress material and a token amount of one thousand and one rupees.”

This last sequence is again composed of numerous shifts in footing and embeds actions and speech. In the role of the protagonist, the principal speaker authors his own words said to his wife (implied is his ambivalent reaction to having learned about the death in the girl’s house, uttered are her positive qualities). Talking to his wife, moreover, Mr. X. relives his own feelings of ambivalence. The speaker aligns his wife with the statement that he, Mr. X., is the ultimate decider, which implies that she trusts his judgement. Further, bride-givers and bride-takers are aligned to mutually agree on the match. Finally, the assembly of male elders becomes aligned to author the formal act of concluding the decision-making process by expressing consent through gift-giving. When Mr. X. turned from his son’s marriage to recall his own marriage, his sister, who had been silent up to this point, suddenly took over the speaker’s role. Mr. X.’s sister: “My sister-in-law is definitely not a good match for my brother! One look in the mirror, and she should be grateful for her good luck for getting such a handsome man as my brother!”

Everybody was stunned and the researcher left soon after. She later noted in her fieldwork diary:28 “At first I failed to make sense of what she had said. I looked at Sharad’s mother. She seemed stunned from embarrassment. I felt sorry for her and a little guilty. Had my questions provoked the sister’s outbreak? I hurriedly wrapped up the ‘interview’ and thanked them all for their support. On my way home, I thought about the sudden turn of events and realized that what I had expected, an ‘interview’, was in complete contrast to the situation I had found myself in. I realized that as a fieldworker one has no control over the situation in which one tries to gather information about other people’s lives. This should be a good lesson, I thought, for meetings with other interlocutors.”

28 See note 23.

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3. Enacted meanings of decision-making – agency and patiency Drawing on Gumperz’s observation that “[…] interpretations are jointly negotiated by speaker and hearer and judgements either confirmed or changed by reactions they evoke”, meanings of decision-making emerge from the conversational storytelling described in the previous section by being enacted through framing and footing. This is to say that decision and decision-making become manifest in forms of behavior and thus are not abstracted from the practical context in which these phenomena occur and to which they give rise in turn. In our case, decision-making was narrated as intertwined with matchmaking. On one level, this was made apparent by the polysemic vernacular vocabulary of decisionmaking used by Mr. X. and his son. Not all actions performed in the social process of matchmaking involve decisions or deciding, but many do. However, the intertwined process is not framed as decision-making but as matchmaking. The latter frame is signified by a symbol: the dish kande pohe (flattened rice with tea). Each sequence in which Mr. X. narrates that he had visited a house in search of  a daughter-in-law mentions that he was served  a dish of kande pohe. This is a popular Maharashtrian snack made from flattened rice and is ordinarily consumed whenever one feels like it – during a college recess, before going to the cinema or when one is visiting friends. In the framework of matchmaking, however, the rice dish kande pohe becomes charged with symbolic references to making an affinal alliance. The girl through whom the transaction will be realized is first assessed by potential bride-takers according to the taste of her kande pohe. To say “we liked her kande pohe” is to say that the decision to form a marriage alliance between two parties will soon be publicly announced. The dish thus simultaneously signifies a step in a process of negotiations, the outcome of which is unknown until certainty has been achieved. From the emic or actor’s point of view, decision-making is therefore given practical and situational meaning in the social process of matchmaking. The culturally specific way of embedding decision-making in purposeful social interactions  – choosing the right spouse for  a son  – is not, moreover, devoid of reasoning. When decision-making is theoretically distinguished from routinized action, rationality is evoked to mark the difference between such forms of social action.29 While the status, function and definition of rationality is crucial in social science debates about the paradigms suggested by decision sciences, entering this debate is beyond the scope of this chapter. Here, it should suffice to draw attention to the anthropological concept of divergent rationalities and how it makes sense of the meanings actors attribute to decision-making in the framework of matchmaking. As suggested by Richard Shweder, the concept of divergent rationalities builds upon the blurred boundaries separating the classification of subjective and objective phenomena and the distinction between 29 Uwe Schimank, Die Entscheidungsgesellschaft, Wiesbaden 2005.

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universal (e. g. negation, the law of the excluded middle)  and non-universal rational processes.30 Non-universal rational processes include “the presuppositions and premises from which  a person reasons; the metaphors, analogies, and models used for generating explanations; the categories or classifications used for partitioning objects and events into kinds; and the types of evidence that are viewed as authoritative  – intuition, introspection, external observation, meditation, scriptural evidence, evidence from seers, monks, prophets, or elders.”31

Further, the concept of divergent rationalities is not confined to cognitive and mental dimensions. Rather, divergent rationalities are actualized in practices such as narrative reasoning, moral reasoning or care-seeking reasoning, which has been demonstrated by ethnographic studies of decision-making in the con­text of health and illness.32 In line with the paradigm of divergent rationalities, decision-making per­ taining to the lifelong decision to marry which was produced in the enacted narrative of matchmaking emerges as shaped by gendered reasoning. Starting from the widely shared cultural presupposition that marriage is not a matter of individual will and emotion but a social affair renewing or creating new ties of alliance between kin and status groups, the X.’s drew upon reasoning that foregrounds the being of the woman when making a decision. Tacitly implied in this is the common understanding that women mark symbolic boundaries between and within castes; through their behavior, they safeguard or endanger the moral status of a group. Who gives or takes a girl as a daughter-in-law in marriage is thus a matter of great concern especially for maintaining or competing for social status. Status concerns are expressed by the rule of hypergamy, which says that a woman should marry upwards into a family of higher social status and never downwards into a family of lower social status. How higher and lower is defined may be specific to a caste, as for some castes wealth may introduce status distinctions and thus figure as  a criterion for  a hypergamous union, whereas in others traditional rules of purity and pollution may be considered more important. Hence, the narrative begins with a decision to narrow down the circle of potential wives. The exclusion of “Mumbai girls with airs” from the pool of options and choice is rational in terms of status. Metropolitan girls may be daughters of families who consider their status superior to the X.’s and thus might refuse an offer made on behalf of Sharad. By limiting the search to 30 Richard A. Shweder, Divergent Rationalities, in: Donald W. Fiske / R ichard A. Shweder (ed.), Metatheory in Social Science, Chicago 1986, pp. 163–196. 31 Ibid., p. 181. 32 Linda C. Garro, On the Rationality of Decision-Making Studies. Part 1: Decision Models of Treatment Choice, in: Medical Anthropology Quarterly 12 (1998), pp. 319–340; Cheryl Mattingly, Healing Dramas and Clinical Plots. The Narrative Structure of Experience, Cambridge 1998; ead., In Search of the Good. Narrative Reasoning in Clinical Practice, in: Medical Anthropology Quarterly 12 (1998), pp. 273–297; Annemarie Mol, The Logic of Care. Health and the Problem of Patient Choice, London 2008.

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the countryside, the X.’s reduced the risk involved in matchmaking of a rejected marriage proposal, which would have led to a loss of prestige. Gendered reasoning also informs the relationship between the ‘agents’ of deciding and the ‘patients’ sustaining the decision, deciders and sustainers. The telling of the story within the participatory framework enacts the distinction between agency and patiency in decision-making – between those who actively work towards  a decision and those who are subjected to the decision and its consequences. In the social situation of talk, the son-to-be-married assumes patiency by transferring agency to his father (“[…] my father knows more about my own marriage. He can tell you better”). The father enacts the agency of a decider by assuming the role of principal speaker. The telling of the story begins with the distribution of agency and patiency to males according to age. While the son enacts patiency in the same way as his young wife  – both are present but remain silent throughout the conversational storytelling –, gender classifications still introduce a hierarchical distinction between both patients and agents of decision-making. This is evident in the son’s mother assuming the role of principal speaker only once during the storytelling. Although the decision-making process requires activities of both men and women, the mother’s part in this process was merely to mobilize options and the father had the more meaningful task of assessing the women and exploring their validity in order to arrive at a reasonable decision. The bride-to-be’s patiency is represented in her letting others evaluate and comment on her person and body in girlviewing programs in which the potential husband-to-be actively directs his gaze upon her. The meanings attached to good and bad decisions are similarly defined by gendered reasoning. Not individual advantage but shared collective norms and practices are the concern. The hope is for a harmonious domestic life, for which women are made responsible. A bad decision is embodied by a woman who fails to meet the expectations of bride-takers regarding educational achievements, diligence and cooking skills, as well as physical beauty. Even  a small slip in formal conduct during a girl-viewing meeting, as told by Mr. X., can be an indication of a bad decision. Apart from having a horoscope cast by a professional, men draw upon their past experience and the presence or absence of fateful signs (such as receiving bad / inauspicious news in the house of a potential bride) to inform their reasoning. A final meaning of decision-making emerging from the enacted narrative is encapsulated in the metaphor of sieving. Sieving grain is an everyday activity performed by women when preparing food for the household. Rice is cleaned by fanning it in a tray-like basket to separate eatable grains from particles of dirt. Choosing between options is likened to an act of sieving eligible women. For the X.’s, at least, optionality does not exist in regard to the form of marriage (arranged / love), but only in regard to which woman would fit best into the local world of family, kinship and caste.

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4. Conclusion This chapter investigated the process of making major life decisions (such as marriage)  and their cultural meanings with anthropological concepts and methods. Instead of textual sources, ethnographic data provided the focus of interpretation. Ethnographic research was conducted in  a contemporary middle-class milieu in Mumbai, India. Although forms of marriage (collectively arranged / individually chosen) have become a matter of decidability, arranged marriage continues to be practiced on a large scale in India, even among the middle-classes. The chapter explored how  a marriage arranged by  a family and caste depends on making a series of decisions in the early stages of matchmaking. Decision-making is necessary for selecting  a suitable spouse. The analysis of  a social situation of talk revealed how such decisions might be made. Employing Goffman’s notions of framing and footing as analytical tools brought to the fore how the meanings of matchmaking and decision-making become narratively intertwined in the participation frameworks of speakers and listeners. While the ethnographic case dealt with here provides a culturally specific instance of socially constructed processes of decision-making, the analysis opens up a broader perspective by drawing on the notion of divergent rationalities. Divergent rationalities are generated by and generative of cultural meanings of decision-making. The narrative that emerged from the conversational storytelling demonstrates how decision-making is framed according to divergent rationalities, how choosing a wife for a son in a process of matchmaking in contemporary middle-class India is rationalized in terms of gendered reasoning. Gendered reasoning is enacted in and shapes the relationship between deciders and sustainers  –  a relationship which was addressed in this chapter with the categories of agency and patiency derived from the actors’ point of view. Decision-making, then, emerges as a form of social interaction whereby asymmetrical relationships of power between the sexes are simultaneously generated, sustained and reproduced. Thus, the discussion of the enactment of a narrative of matrimonial decision-making in India reveals how deeply entangled decision-making is with the respective framing of the practices in which it is embedded. To conclude, rather than defining decision-making as  a form of action based on a single form of instrumental rationality, it seems more promising to compare how narratives of decision-making involve diverse rationalities corresponding to historical, social and cultural conditions across time and geographical space. By understanding better how narratives of decision-making are constructed from actor’s points of view and how these perform their work by generating social constellations of difference and power, we may also understand better on a more general level how and why some theoretical narratives of decision-making are more performatively effective in giving shape to social realities than others.

Dagmar Borchers

Entscheiden-Müssen, Entscheiden-Können, Entscheiden-Wollen Die Existenzphilosophie als philosophische Theorie des Entscheidens1

1. Einleitung In der Philosophie der Gegenwart trifft man bei Philosophinnen und Philosophen, die eigentlich ganz unterschiedlichen philosophischen Schulen und Strömungen nahestehen, wieder auf ein intensiveres Interesse an der Existenzphilosophie – vornehmlich, aber keineswegs ausschließlich an den Positionen von Jean-Paul Sartre und Martin Heidegger, aber auch an Sören Kierkegaard und Albert Camus. Zur Neubewertung der Existenzphilosophie sind zudem diverse Publikationen erschienen, die unter anderem Antworten zu geben suchen, was uns die Argumentationen jener Philosophinnen und Philosophen heute an relevanten Erkenntnissen vermitteln können.2 Hier findet man auch interessante Einschätzungen dazu, was diese Art des Philosophierens heute wieder in den Fokus des Interesses rückt: Neben zentralen inhaltlichen Aspekten, wie die Thematisierung von Angst, Identitätssuche und Selbstfindung, die Bewertung durch Andere oder die Gewissheit des eigenen Todes, sind es auch strukturelle Eigenheiten wie der für sie wesentliche radikale Subjektivismus oder Phänomenalismus, bei dem vertraute Phänomene alltäglichen Erlebens zum Ausgangspunkt und Thema philosophischer Reflexion werden. Ich möchte eine weitere Antwort vorschlagen und begründen. Meiner Einschätzung nach kann man die Existenzphilosophie als philosophische Theorie des Entscheidens interpretieren, die im Kontext des interdisziplinären Kanons der zeitgenössischen Entscheidungsforschung einen bedeutenden Beitrag leisten kann. Entscheidungsprozesse und komplexe Entscheidungsprobleme sind in vielen wissenschaftlichen Disziplinen Gegenstand intensiver Forschung, die sich auch zunehmend trans- und interdisziplinär vernetzt. Der philosophische 1 Für wichtige Ergänzungen und Hinweise sowie eine äußerst fruchtbare Zusammenarbeit in Bezug auf unser gemeinsames Forschungsinteresse an der Existenzphilosophie danke ich Svantje Guinebert. 2 Vgl. u. a. Odo Marquard, Der Einzelne. Vorlesungen zur Existenzphilosophie, Stuttgart 2013; Holm Tetens, Existenzphilosophie als Metatheorie. Versuch, die kontroverse Pluralität der Philosophie zu erklären, in: Allgemeine Zeitschrift für Philosophie 35 (2010), S. 221–241; Hans Feger / Manuela Hackel (Hg.), Existenzphilosophie und Ethik, Berlin 2014 sowie Roland Galle, Der Existentialismus. Eine Einführung, Paderborn 2009.

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Beitrag zur Entscheidungsforschung liegt  – je nach philosophischer Ausrichtung und philosophischem Verständnis – wesentlich in der Klärung und Präzisierung einschlägiger Konzepte wie zum Beispiel Autonomie, Rationalität oder Verantwortung. Er liegt vor allem aber in den Forschungen zu Rational Choice, Spiel- und Entscheidungstheorie, die ebenfalls häufig im interdisziplinären Verbund, vornehmlich mit der Ökonomik erfolgen. Entscheidungsprozesse und Entscheidungsprobleme sind Gegenstand vieler philosophischer Teilbereiche: der Erkenntnistheorie, der Handlungstheorie, der Philosophie des Geistes und so weiter. Aber natürlich spielen sie auch innerhalb der Politischen Philosophie sowie im Kontext der Ethik und der Angewandten Ethik eine herausragende Rolle. Viele gesellschaftliche und individuelle Entscheidungsprobleme werden dort systematisch analysiert.3 Ich möchte im Folgenden darlegen, wie ich den Beitrag der Existenzphilosophie verstehe, die selbstredend keine philosophische Teildisziplin, sondern eine philosophische Strömung ist. Mein Eindruck ist, dass sie unter anderem deshalb heute wieder so viele Menschen fasziniert, weil sie die Problematik des Entscheiden-Müssens, des Entscheiden-Könnens und des Entscheiden-Wollens, die viele Menschen beschäftigt, zu ihrem zentralen Thema gemacht hat. Ein Beitrag könnte in jenen sicherlich kontrovers zu diskutierenden, aber relevanten und spezifischen Erkenntnissen bestehen, die in dieser Weise nur die Existenzphilosophie mit der ihr eigenen Perspektive auf das Leben hervorbringen kann. Im Folgenden möchte ich in verschiedenen Schritten zeigen, auf welchen Ebenen die Existenzphilosophie die Entscheidungsproblematik in den Blick nimmt. Unter dem Terminus ›Entscheidungsproblematik‹ verstehe ich die basale Tatsache, dass der Mensch Entscheidungen treffen kann und treffen muss und dass er diesem Faktum nicht entkommen kann. Er kann  – und das hat die Existenzphilosophie ebenfalls thematisiert  – das Entscheiden-Müssen als Bürde empfinden und versuchen, Ausweichstrategien zu entwickeln. Aber, wie wir wissen, scheint ein Ausweichen eine problematische und insgesamt wenig erfolgreiche Option zu sein. Und er kann, eventuell mit Rückgriff auf existenzphilosophische Überlegungen, das Entscheiden-Müssen, -Können und -Wollen als Herausforderung und Chance begreifen. In einem ersten Schritt möchte ich meine These möglichst genau explizieren. Anschließend werde ich in einem zweiten Schritt das Entscheiden-Müssen skizzieren. Dies ist eine Ebene, die meiner Kenntnis nach von keiner anderen Disziplin, die sich mit Entscheidungen beschäftigt, angesprochen wird – außer vielleicht in der Psychologie. Hier geht es darum, dass der Mensch nicht umhin kommt zu entscheiden – selbst wenn er das de facto nicht möchte. Diese Erkenntnis lenkt unseren Blick darauf, dass das Entscheiden-Müssen nicht nur 3 Beispiele für komplexe Entscheidungsprobleme sind u. a. in der Angewandten Ethik die Allokation von Organen, Regelungen der künstlichen Befruchtung oder des Umgangs mit Nanotechnologien; in der Politischen Philosophie u. a. Fragen globaler Gerechtigkeit, der Migration und Probleme der Digitalisierung und des Klimawandels.

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ein gesellschaftliches, sich historisch ergebendes Phänomen der Menschheitsgeschichte ist, sondern vielmehr ein existenzieller Grundzug unserer Existenz. Der dritte Schritt fokussiert das Entscheiden-Wollen: Die Grundfrage, ob wir unser Leben auf uns nehmen wollen und wie wir uns angesichts der Spannung zwischen der vermeintlichen Relevanz vieler individueller und kollektiver Alltagsentscheidungen und der eigentlichen Irrelevanz menschlichen Strebens ›aus der Perspektive des Universums‹ zu unserem eigenen Leben stellen wollen. Und schließlich geht es in einem vierten Schritt um das Entscheiden-Können: Viele Entscheidungskonflikte des Alltags präsentieren sich auf eine Weise, dass wir denken, nicht entscheiden zu können – als moralischer Konflikt oder gar als moralisches Dilemma. Wir suchen Rat oder möchten die Entscheidung manchmal gerne delegieren. Die Existenzphilosophie zeigt uns die Grenzen der Ausweichstrategien, unsere unausweichliche Freiheit und Verantwortung auf. Das ist einerseits eine enorme Ermutigung; andererseits sicherlich auch eine Perspektive, die mindestens ›existenzielle Schwindelgefühle‹ erzeugen kann.

2. Leben in der Entscheidungsgesellschaft »Wir leben in einer Entscheidungsgesellschaft«, konstatiert der Soziologe Uwe Schimank und spricht von einer »doppelten Zumutung […], mit der jede Handelnde in der modernen Gesellschaft konfrontiert ist. Sie soll erstens immer mehr ihrer Handlungen, und vor allem die wichtigen, in Form von Entscheidungen konzipieren und ausführen; und obwohl immer mehr Situationen, in denen sie so zu entscheiden hat, immer komplexer geworden sind, soll sie möglichst rational entscheiden. Dieser Zumutung rationalen Entscheidens unter Bedingungen hoher Komplexität ist ein Akteur zunächst einmal durch andere ausgesetzt, die ihn beobachten und ggf. auch sanktionieren können. Darüber hinaus handelt es sich aber auch um eine Selbstzumutung. Der Akteur selbst hat durch Erziehung und andere Formen der Sozialisation in starkem Maße verinnerlicht, dass rationales Entscheiden angesagt ist.«4

Dabei legt Schimank Wert auf die Feststellung, dass es tatsächlich nur ein relativ kleiner Anteil unseres Alltagslebens ist, in dem wir bewusst Entscheidungen fällen. Die meisten Dinge erledigen wir im Kontext von Routinen und Traditionen, ohne dass wir uns bewusst mit den Abläufen und den in ihnen implizit getroffenen ›Entscheidungen‹ befassen würden. Insbesondere Routinen, also eingeübte, ohne Nachdenken und Überlegen stattfindende Handlungsabläufe wie beispielsweise Auto- oder Rad fahren, sich waschen und anziehen etc.5

4 Uwe Schimank, Die Entscheidungsgesellschaft. Komplexität und Rationalität der Moderne, Wiesbaden 2005, S. 11 (Kursivsetzung im Original). 5 Also alles, was wir gewissermaßen ›im Schlaf beherrschen‹.

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haben eine erhebliche Entlastungsfunktion. »Entscheiden« definiert Schimank als »Alternativen bedenkend handeln«.6 Mit Blick auf die aktuelle Entscheidungsforschung vornehmlich in der Soziologie, der Psychologie und der Politikwissenschaften sieht Schimank die moderne Entscheidungsgesellschaft durch drei interne Spannungen charakterisiert: Da wäre zunächst die Spannung zwischen »den logisch formulierbaren idealen Anforderungen an eine rationale Entscheidung und den real vorfindbaren Mustern des Entscheidungshandelns«.7 Wie insbesondere die mo­derne deskriptive Entscheidungsforschung gezeigt hat, weicht das reale Entscheidungsverhalten der Menschen massiv vom Ideal eines Homo oeconomicus ab, der vollständig informiert mit maximaler Rationalität seine Entscheidung trifft. In der empirisch arbeitenden Entscheidungsforschung der Ökonomik und Psychologie hat man aber diverse biases, unbewusste Heuristiken und vermeintlich irrationale Entscheidungsmuster aufzeigen können. Gefühle und Vorurteile, nicht bewusste epistemische und emotive Verzerrungen verschiedener Art beeinflussen unsere Wahl massiv und nachhaltig. Die zweite Spannung betrifft die Kluft zwischen »der permanenten Überforderung der Akteure durch die Komplexität der zu treffenden Entscheidungen und dem Tatbestand, dass dennoch tagtäglich Entscheidungen getroffen werden.«8 Auf dieses Überforderungsgefühl werden wir im Folgenden noch zu sprechen kommen. Meiner Ansicht nach ist es zum einen ein wichtiger Aspekt, der in der Existenzphilosophie selbst thematisiert wird; zum anderen liegt genau darin vielleicht auch einer der Gründe für das gegenwärtige Interesse an existenzphilosophischen Überlegungen. Die dritte Spannung schließlich ist Schimank zufolge zwischen der Idee des Entscheidens »als intentionaler Entscheidung und den notorischen transintentionalen Resultaten des Entscheidungshandelns« zu verorten.9 Damit spricht Schimank die bisweilen frustrierende Tatsache an, dass wir insbesondere bei dem, was er »Gestaltungsentscheidungen« nennt, den Anspruch haben, unsere Umwelt durch die von uns aufgrund bestimmter Überlegungen und vor dem Hintergrund klarer Intentionen vorgenommenen Entscheidungen zu gestalten und zu formen. Das ist uns wichtig, nicht nur mit Blick auf bestimmte Ergebnisse, die wir befördern wollen, sondern durchaus auch, um uns auf diese Weise einzubringen, der Welt unseren Stempel aufzudrücken, den Dingen eine gewisse Richtung zu geben. Wir müssen aber in vielen Fällen erleben, dass wir unsere Intentionen nicht umsetzen und realisieren können, dass unerwünschte Nebeneffekte auftreten und dass wir nicht das erreichen, was wir uns vorgestellt haben. Das mag dazu führen, dass unsere ›Entscheidungsmüdigkeit‹ steigt und wir zunehmend am Sinn bzw. der Durchschlagskraft unserer Gestaltungs- und damit auch Einflussmöglichkeiten zweifeln. 6 Schimank, Entscheidungsgesellschaft (wie Anm. 4), S. 49. 7 Ebd., S. 28. 8 Ebd. 9 Ebd.

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Was genau charakterisiert die moderne Entscheidungsgesellschaft? Welche Entwicklungen haben dazu beigetragen, dass sie so ist, wie sie uns heute alltäglich umgibt? Schimank nennt verschiedene Aspekte, die moderne Entscheidungs­ gesellschaften charakterisieren: Ausgangspunkt seiner Charakterisierung ist die funktionale Differenzierung der Gesellschaft in unterschiedliche Teilsysteme wie Recht, Politik, Wissenschaft, Gesundheitswesen, Kultur etc., die jeweils ihre eigenen Maßstäbe, Funktionsweisen und Rationalitäten ausbilden. Daraus ergibt sich für die Individuen die Notwendigkeit, parallel bzw. gleichzeitig in vielen verschiedenen Kontexten zu agieren, was für die Individuen zu internen und externen Konflikten führen kann. Die Politik wird zu einem zentralen Teilsystem, der man eine gewisse Gestaltungshoheit zuspricht. Sie nimmt ihre Gestaltungsaufgabe vor allem dort wahr, wo die Teilsysteme selbst nicht konstruktiv wirksam werden können. Drei weitere von Schimank ausgeführte Eigenschaften der Entscheidungsgesellschaft sind für unseren Kontext besonders relevant: – Die kulturelle Säkularisierung: Die Teilsysteme emanzipieren sich von der Religion, die selbst zu einem Teilsystem wird. An die Stelle der Religion trete, so Schimank unter Verweis auf verschiedene Autoren, die moderne Fortschrittsidee. Sie wiederum inkorporiere mindestens drei relevante Aspekte. Zum einen würden alle menschlichen Verhältnisse als Menschenwerk angesehen.10 Das bedeutet: Sie sind selbst Ergebnis von menschlichen Entscheidungen, die auch anders hätten aussehen können. Der Fortschrittsgedanke impliziert zum anderen die Idee der Verbesserung. Zwischen Wirklichkeit und Realität klafft eine ständige Lücke, die es zu schließen gelte. Und schließlich bedarf die Idee des Fortschritts der Vorstellung einer prinzipiell offenen Zukunft. Schicksal und Vorbestimmung treten hinter die Idee der Machbarkeit und der Offenheit, bei der die zukünftigen Verhältnisse maßgeblich von heute getroffenen Entscheidungen abhängen, zurück. – Die Individualisierung: »Jeder Einzelne versteht sich als selbstbestimmte einzigartige Person.«11 Dies führt Schimank zufolge unter anderem dazu, dass die Lebensführung – und man möchte im Zeitalter der sozialen Medien hinzufügen: auch die Selbstdarstellung – sich zunehmend als eine Frage unzähliger zu treffender Entscheidungen darstellt. Wer man ist, wo man ökonomisch und sozial steht und was man erreicht hat – all das präsentiert sich als Ergebnis getroffener Entscheidungen, die rückblickend entweder richtig oder falsch gewesen zu sein scheinen. – Die Optionssteigerung: Moderne Gesellschaften werden auch als »Multi­ optionsgesellschaften« bezeichnet.12 »Ob es um die Berufs-, die Partner- oder die Kinderwahl geht, um die Wahl des eigenen Geschlechts oder der Form

10 Ebd., S. 91. 11 Ebd., S. 107. 12 Ebd., S. 103. Schimank zitiert hier Peter Gross, Die Multioptionsgesellschaft, Frankfurt a. M. 1994.

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des Zusammenlebens, um Freizeitaktivitäten oder um die Nutzung des Konsumangebots, um Reisen oder um Massenmedien, um Weltanschauungen oder um Cybersex: Für immer mehr Mitglieder der modernen Gesellschaft existieren immer mehr Optionen, und das schafft einen immer größeren Entscheidungsbedarf.«13 Die so verstandene Entscheidungsgesellschaft bildet gewissermaßen den Hinter­ grund unserer Überlegungen zum neu erwachten Interesse an der Existenzphilosophie. Sie ist in ihren vielfältigen Facetten und Erscheinungsformen zugleich auch Gegenstand der aktuellen Entscheidungsforschung, zu der wiederum – so meine These – die Existenzphilosophie einen Beitrag leisten kann, der in dieser Form nur von ihr geleistet werden kann. »Die Existenzphilosophie ist gegenwärtig aktuell«, stellt auch der Philosoph Odo Marquard fest. Seine Antwort darauf, warum das so ist, halte ich für einschlägig und überzeugend – den von Marquard entwickelten Gedanken würde ich gerne im Folgenden meinen Überlegungen zugrunde legen und etwas weiterführen. Marquard bezeichnet die Existenzphilosophie als eine »Philosophie des Einzelnen«,14 als eine »Philosophie der radikalen Verunsicherung«: »Es gibt die Unvermeidlichkeit, ein Einzelner zu sein. Der einzelne ist die Ernststätte: der, der die Dinge lebensweltlich auszubaden hat.«15

Marquard geht davon aus, dass man die Existenzphilosophie nicht aus der Gegenwart allein heraus verstehen könne.16 Philosophiehistorisch ist seiner Ansicht nach in Hinblick auf die zentralen Annahmen der Existenzphilosophie entscheidend, dass sich im Verlauf der Geistesgeschichte das Ende der Wesensbegriffe und schließlich auch »das Ende Gottes«, sowohl als Zweck- und Wesensgott des antiken Denkens als auch als allmächtiger Gott der christlichen Tradition ergeben habe. Die (theologische) Auslagerung des allmächtigen Gottes aus jenem Bereich, den der Mensch steuern und beeinflussen könne, in eine ihm eigene Sphäre des Wirkens habe einen (säkularen) Raum geschaffen, den das vernünftige Denken und damit die Emanzipation der Vernunft und die modernen Wissenschaften ausgefüllt habe. Nach der Abdankung der Wesensbegriffe und der Idee eines Telos bleibt das »Primat der Existenz«: »In der Abdankung der Wesensbegriffe kommt es nicht nur dazu, dass fortan die essentia nicht mehr die Definitionsmacht über den Menschen hat, sondern die Existenz: dass der Mensch (vorherbestimmt nur in der puren Tatsache, dass er ist) seine Essenz selber zu suchen hat. […] Primat der Existenz heißt insofern zugleich: Vereinzelung. Es bedeutet nicht nur, es steigert sogar die Unvermeidlichkeit, ein Einzelner zu sein.

13 Schimank, Entscheidungsgesellschaft (wie Anm. 4). 14 Marquard, Der Einzelne (wie Anm. 2), S. 15. 15 Ebd. 16 Ebd., S. 17.

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Das muss auf die Dauer […] philosophisch geltend gemacht werden als Problem: und zwar in seinem Lastcharakter, seinem Schwierigkeitscharakter, als jene Vereinzelungsverfassung, der man nicht ausweichen kann, obwohl man es doch vielleicht möchte.«17

Die Entstehung der Lebensphilosophie als Opposition zur Verabsolutierung der Vernunft und der Wissenschaft habe, ebenso wie die Existenzphilosophie, dann den Blick auf die Existenz des Menschen gerichtet: »Lebensphilosophie – was ist das? Ich hatte sie, kurz eingehend auf Schelling, Schopenhauer und Nietzsche, charakterisiert durch das, was ich die lebensphilosophische Opposition nannte: Lebendigkeit contra Objektivierung, Irrationalität contra Rationalität, Lebendigkeit gegen Tod durch Verdinglichung, Wille gegen Verstand, Leben gegen Berechnung usf.«18

Entscheidend ist nun aber der Unterschied zwischen der Lebensphilosophie und der Existenzphilosophie bezogen auf den inhaltlichen Fokus: Die Lebensphilosophie fragt nach den Möglichkeiten, die Existenz zu erhalten; danach, wie man das Umkommen verhindern könne. Marquard bezeichnet dies Interesse auch als »Aspekt der Not« oder den »Notaspekt der Existenz«.19 Die Existenzphilosophie hingegen, so Marquard, fragt: Was mache ich, wenn ich nicht umgekommen bin, wenn ich davongekommen bin?20 Während die Lebensphilosophie frage »Existenz wodurch?«, würde die Existenzphilosophie fragen: »Existenz – wozu?«21 Die Existenzphilosophie richte ihren Blick auf die ungesättigte Sinnfrage. Sie nimmt die Sinnlosigkeit und Beliebigkeit der menschlichen Existenz in den Blick und fragt, so Marquard, nach angemessenen Haltungen angesichts fundamentaler Verunsicherung. Es ist nun nicht mehr sehr schwierig, die Ausführungen zum Leben in modernen Entscheidungsgesellschaften und die kluge und erhellende Analyse Marquards zu den Kernfragen der Existenzphilosophie im Sinne meiner Aktualitätsthese zusammenzubringen. Meiner Ansicht nach werden heute zwei Dinge zunehmend als belastend empfunden: Dass wir so viel entscheiden können (und müssen) und dass die Maßstäbe des Entscheidens zunehmend uneindeutiger werden. Die Existenzphilosophie ist unter anderem deswegen (wieder) aktuell, weil man sie als eine der profundesten Theorien des Entscheidens innerhalb der Philosophie interpretieren kann. Sie stellt uns vor Augen, dass Menschen qua Seinsverfassung entscheiden müssen. Und sie gibt uns Hinweise, wie wir mit diesem Faktum umgehen können. Sie stellt die Notwendigkeit des Entscheidens und die Schwierigkeit und Einsamkeit des Allein-entscheiden-Müssens ins 17 18 19 20 21

Ebd., S. 94 ff. Ebd., S. 28. Ebd., S. 39. Ebd., S. 43. Ebd., S. 44.

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Zentrum. Ihr geht es nicht um das technische ›Wie‹ des Entscheidens, sondern um die Frage, wie es sich anfühlt, entscheiden zu müssen, zu wollen und zu können. Sie beleuchtet das Drama der Vereinzelung. Mit ihrer grundlegenden Annahme, dass die Existenz der Essenz vorausgeht und dass der Mensch vor der Notwendigkeit steht, sich zu seiner eigenen Existenz zu verhalten, greift sie das Gefühl der Sinnlosigkeit und der radikalen Vereinzelung, von dem Marquard spricht und das sich heute wieder stark und neu Bahn bricht, auf und kann etwas Konstruktives dazu sagen. Die Essenz zu finden bzw. erst zu gestalten, wird zu einer Aufgabe, und das wiederum impliziert die Kategorie der Wahl und damit der Entscheidung. Die grundlegende Annahme der Existenzphilosophie, dass der Mensch das ist, was er aus sich macht, wird heute vielfach als bedrückende Last empfunden. Die Entscheidung als eine Grundkategorie der menschlichen Existenz innerhalb der Existenzphilosophie greift einen wesentlichen Teil des heutigen Lebensgefühls in der komplexen Entscheidungsgesellschaft auf, indem man niemand anderen für seine falschen Entscheidungen verantwortlich machen kann als nur sich selbst. Freiheit und Verantwortung lassen sich als die beiden grundlegenden Charakteristika dieser Entscheidungsnotwendigkeit ausweisen. Das betrifft unser gesamtes Sein in Gegenwart, Zukunft und Vergangenheit. Freiheit und Verantwortung sind zugleich Selbstverständnis, Anspruch und Bedrückung. Eine Entlastung durch Routinen und Tradition ist möglich, bedeutet aber keine prinzipielle Aufhebung der Entscheidungsnotwendigkeit. Meiner Ansicht nach lassen sich die Inhalte der existenzphilosophischen Argumentationen bezüglich der Entscheidungsfindung grob auf drei Ebenen verorten: Da ist zunächst die fundamentale Ebene der Seinsverfassung  – das Entscheiden-Müssen. Die Seinsverfassung des Menschen macht ihm das Entscheiden zur absoluten Notwendigkeit. Die pure Existenz ist zugleich Faktizität und Option; pure Existenz ist damit immer schon das Resultat einer Entscheidung. Die Essenz kann nur das Ergebnis einer Entscheidung sein. Da ist dann die Ebene der Entscheidung über das Leben in Konfrontation mit der Erfahrung des Absurden  – das Entscheiden-Wollen: Hier geht es um die Notwendigkeit, eine Haltung gegenüber dem Absurden zu entwickeln. Eine Haltung ist das Ergebnis einer Entscheidungsfindung. Diese ist nicht etwa nur einmal zu treffen, sondern kann in jedem Moment des Lebens gefordert sein. Und da sind schließlich die einzelnen, konkreten Entscheidungen im Leben (unter anderem moralische Entscheidungen)  – das Entscheiden-Können. Diesen drei Ebenen wollen wir uns nun zuwenden.

3. Entscheiden-Müssen Das Entscheiden-Müssen bezieht sich auf die Grundstruktur unserer menschlichen Existenz. Wenn die Existenz der Essenz vorausgeht, dann ist unsere Existenz etwas, zu dem wir uns verhalten müssen – so formuliert es unter anderem Martin Heidegger:

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»Das Sein selbst, zu dem das Dasein sich so oder so verhalten kann und immer irgendwie verhält, nennen wir Existenz. Und weil die Wesensbestimmung dieses Seienden nicht durch die Angabe eines sachhaltigen Was vollzogen werden kann, sein Wesen vielmehr darin liegt, dass es je sein Sein als Seiniges zu sein hat, ist der Titel Dasein als reiner Seinsausdruck zur Bezeichnung dieses Seienden gewählt. Das Dasein versteht sich immer aus seiner Existenz, einer Möglichkeit seiner selbst, es selbst oder nicht es selbst zu sein.«22

Dass ich mein Sein als Meiniges zu sein habe, wirft die elementare Frage auf, worin mein Sein besteht, was das Meinige eigentlich sein soll – also die Frage nach der Essenz. Diese Frage kann nicht rational, durch Reflexion aufgelöst werden. Sie kann auch nicht ›ein für alle Mal‹ durch eine Entscheidung beantwortet werden. Tatsächlich stellt sie sich wohl den wenigsten Menschen konkret in einem Moment als zu beantwortende Frage. Sie ist vielmehr eine permanente, ständige Herausforderung in unserem Leben, die wir oftmals gar nicht bewusst und explizit wahrnehmen, sondern eher unterschwellig. Im Unterschied zu anderen Wesen – das beschreibt Heidegger klar und überzeugend – wird dem Menschen seine eigene Existenz zur Frage, zur Aufgabe, zur ständigen Herausforderung. Er muss sich zu seiner Existenz verhalten. Sartre formuliert diesen Gedanken in einer anderen Terminologie und denkt ihn einen Schritt weiter. Er unterscheidet zwischen dem ›Für-sich(-Sein)‹, dem Bewusstsein des Menschen und dem ›An-sich(-Sein)‹, den Dingen und Fakti­ zitäten in der Welt. Sartre erläutert den Vorrang der Existenz vor der Essenz beim Menschen an seinem berühmten Beispiel des Papiermessers. Jemand, der ein solches Objekt herstellen möchte, muss bereits eine klare Vorstellung von dessen Verwendungszweck haben, also von seiner Funktion – wozu es da sein soll. Er wird dann in der Konstruktion und Herstellung anstreben, dass das Objekt seine Funktion möglichst gut erfüllen kann. Wenn es das Papiermesser dann gibt, dann geht die Essenz seiner Existenz voraus – es ist zu dem da, wofür es gemacht wurde. Die Menschen, so Sartre, haben sich nun lange vorgestellt, dass ihre menschliche Natur von Gott so gewollt und ›gemacht‹ sei – dass also auch in Hinblick auf ihre eigene Existenz die von Gott gewollte Essenz der Existenz vorausging. Diese Vorstellung lehnt die (atheistisch ausgeprägte Version der) Existenzphilosophie ab, und das bedeutet eben: »Wenn der Mensch, so wie ihn der Existentialist begreift, nicht definierbar ist, so darum, weil er anfangs überhaupt nichts ist. Er wird erst in der weiteren Folge sein, und er wird so sein, wie er sich geschaffen haben wird. Also gibt es keine menschliche Natur, da es keinen Gott gibt, um sie zu entwerfen. Der Mensch ist lediglich so, wie er sich konzipiert […]; der Mensch ist nichts anderes als wozu er sich macht.«23

22 Martin Heidegger, Sein und Zeit, Tübingen 1979 (zuerst 1927), S. 12 (Kursivsetzung D. B.). 23 Jean-Paul Sartre, Ist der Existentialismus ein Humanismus?, in: Drei Essays; Frankfurt a. M. 1989 (zuerst 1946), S. 7–36, hier S. 11.

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Das bedeutet: Auf der ersten ursprünglichen Ebene, der Ebene der puren Existenz, steht bereits fest, dass der Mensch sich wird entscheiden müssen. Sein Wesen ist nicht festgelegt – die Essenz ergibt sich als Konsequenz einer Reihe von Einzelentscheidungen, in denen sich der Mensch schafft bzw. konzipiert. Das Für-sich-Sein bedeutet die Notwendigkeit des Entwurfs: »Der Mensch ist zunächst ein Entwurf, der sich subjektiv lebt; […] nichts existiert diesem Entwurf vorweg […], und der Mensch wird zuerst das sein, was er zu wollen geplant hat, nicht was er sein wollen wird. Denn was wir gewöhnlich unter Wollen verstehen, ist eine bewusste Entscheidung, die für die meisten dem nachfolgt, wozu er sich selbst gemacht hat. Ich kann mich einer Partei anschließen wollen, ein Buch schreiben, mich verheiraten, alles das ist nur Kundmachung einer ursprünglicheren, spontaneren Wahl als was man Willen nennt.«24

Im Entwurf als einer ›ursprünglichen, spontanen Wahl‹ liegt die Freiheit des Menschen, und Freiheit bedeutet: entscheiden zu müssen. Dies macht die erste, fundamentale Ebene aus. An dieser Stelle ergibt sich allerdings ein erstes interpretatorisches Problem: Wir sehen bei Heidegger und Sartre auf der fundamentalsten Ebene eine grundsätzliche Offenheit in der Art und Weise, wie wir mit dem puren Faktum unserer Existenz umgehen und wie der Entwurf gestaltet wird. Offensichtlich haben wir hier bereits einen Freiheits- und damit eigentlich auch einen Ent­ scheidungsspielraum. Unklar ist aber zunächst, wie die Wahl auf der elementaren Ebenen unserer Seinsverfassung gedacht wird: Kann man hier überhaupt von einer ›Entscheidung‹ sprechen? Und wenn ja, in welchem Sinne? Sartre spricht von einem »Sichschwingen auf die Existenz hin«. Der Mensch sei zuerst, »was sich in eine Zukunft hineinwirft und was sich bewusst ist, sich in der Zukunft zu planen«.25 ›Entscheidung‹ kann auf dieser Ebene nur bedeuten, dass wir eine nicht-reflektierte, quasi ›vorbewusste‹ (in Sartre’scher Terminologie: auf der Ebene des »präreflexiven« Bewusstseins26) Entscheidung treffen. Wir schwingen uns auf bzw. in unsere Existenz hinein, wohl wissend, dass wir ständig werden entscheiden müssen – und dass wir dies nur im Horizont der Zukunft tun können. Diese fundamentale Ebene des Entscheiden-Müssens ist – so wir sie philosophisch als gegeben akzeptieren – ein unhintergehbares Faktum, und diese erste Haltung gegenüber der eigenen Existenz ist Grundlage aller weiteren Entscheidungen, Möglichkeiten und Handlungen. Die Vielfalt der modernen Entscheidungsgesellschaft erscheint nun nicht mehr wie ein historisch kontingentes, buntes Bild der Gegenwart und jüngeren Vergangenheit, das im Prinzip auch anders aussehen könnte. Sie wird vielmehr als moderne

24 Ebd., S. 12. 25 Ebd., S. 11. 26 Jean-Paul Sartre, Das Sein und das Nichts. Versuch einer phänomenologischen Ontologie, Reinbek bei Hamburg 2016 (zuerst 1943), insbes. S. 17 ff.

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Ausprägung eines Grundzugs der menschlichen Existenz wahrgenommen, in der das Entscheiden gewissermaßen zum Exzess getrieben worden ist  – als bunte Außenseite des existentiellen Entscheiden-Müssens. Dieses Entscheiden selbst ist nicht eliminierbar, es ist kein Zufall, dass es nicht vollständig in Routinen und Traditionen aufgeht. Im Gegenteil: Routinen und Traditionen erscheinen hier bereits als Teil des »Initialentwurfs«27 und damit einer tieferliegenden Entscheidung der ersten Ebene. Dieses Entscheiden-Müssen kann so nur die Philosophie formulieren und reflektieren. Die Thematik des Entscheidens bekommt damit eine tiefere Dimension, jenseits technisch-mathematischer Schwierigkeiten des maximal rationalen Entscheidens oder der Realitäten des Entscheidens im Lichte der empirischen Forschung. Das Entscheiden-Müssen eröffnet den Raum der Zukunft als notwendige Dimension des Entwurfs, den wir von uns werden haben müssen. Dieser zeigt bzw. realisiert sich allerdings erst durch die konkreteren Entscheidungen auf der zweiten und dritten Ebene.

4. Entscheiden-Wollen Auch der Romanist und Philosoph Roland Galle stellt in seiner Darstellung des Existentialismus als dessen zentralen Aspekt die Emphase der Vereinzelung heraus, die man insbesondere bei Sartre findet sowie ein »heroisches Pathos der Selbstsetzung und Authentizitätssuche«.28 Dieses heroisches Pathos wird meiner Ansicht nach besonders deutlich auf der nun zu thematisierenden Ebene des Entscheiden-Wollens – in der Konfrontation mit dem Absurden. Aufgabe des Subjekts sei es, so Galen, die ihm gegebene Existenz zu realisieren als Akt der Selbstsetzung, als Erfindung des eigenen Weges.29 Allerdings ist dieser Weg nicht ohne erhebliche Schwierigkeiten. Er ist nicht triumphal, sondern mühsam, ein ständiger Kampf. Eine Quelle der Mühsal ist dabei die Einsicht, dass all unser Streben letztlich doch unerheblich, ja sinnlos ist und dass unsere Existenz im Prinzip in ihrer Bedeutung vollkommen irrelevant ist. Es ist die Spannung zwischen der Notwendigkeit, einen Sinn in der individuellen Existenz sehen zu wollen und vielleicht auch sehen zu müssen, um motiviert zu sein, und der Einsicht, dass jede Konstruktion von Sinnhaftigkeit eben ein Konstrukt ohne Bestand ist, eine ungerechtfertigte und nicht rechtfertigbare Wahl. Mit diesem Erleben der Sinnlosigkeit hat sich in besonders eindrücklicher Weise der Schriftsteller Albert Camus in seinem Mythos des Sisyphos befasst. Camus beschreibt

27 Ebd., S. 804 f. 28 Galle, Existenzialismus (wie Anm. 2), S. 16. 29 Ebd., S. 18.

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»das Lächerliche der Gewohnheit, zu tun, was das Leben verlangt, das Fehlen jedes tieferen Grundes zum Leben, die Sinnlosigkeit dieser täglichen Betätigung, die Nutzlosigkeit des Leidens.«30

Das Absurde scheint auf, wenn das Leben fragwürdig geworden ist und seinen Sinn verloren hat. Die Erfahrung des Absurden überfällt den Menschen oftmals mitten im Alltagsgeschehen: Ein Auslöser genügt, und das Vertraute, sicher geglaubte, sinnvoll Erscheinende fällt plötzlich in sich zusammen wie ein Schleier. Der Mensch sieht sich plötzlich »der Illusionen und des Lichts beraubt« und fühlt sich fremd und verstoßen.31 Er sieht sich konfrontiert mit der absoluten Sinnlosigkeit und Unerheblichkeit seiner Existenz. Es sind Camus zufolge Gefühle des Ekels und des Überdrusses, die sich in diesem Moment einstellen. Die von Marquard formulierte Kernfrage »Existenz – wozu?« stellt sich mit nicht zu überbietender Radikalität und es ist in diesem Moment nicht zu sehen, wie sie beantwortet werden könnte. Es gibt aber Alternativen: die Flucht in die Alltäglichkeit, den Selbstmord oder die Revolte. Auf die Flucht in die Alltäglichkeit werden wir im nächsten Abschnitt zu sprechen kommen – diese Variante des Umgangs mit dem Absurden, der Angst und des Gefühls der Überforderung angesichts der Notwendigkeit ein Einzelner zu sein und die Verantwortung für seine Entscheidungen nicht delegieren zu können, haben Sartre und Heidegger sehr genau beschrieben. Camus fokussiert den Selbstmord und die Revolte als mögliche Reaktionen auf die Erfahrung des Absurden. Camus hält die Option des Selbstmords für naheliegend und geht der Frage nach, ob es eine »Logik zum Tode« gebe, das heißt, ob der Freitod eine rationale Lösung sei. Es ist die Möglichkeit, sich der Katastrophe der absoluten Sinnlosigkeitserfahrung quasi ›physisch‹ zu entziehen und ihr durch eine physische Auslöschung des Bewusstseins zu begegnen. Für Camus gibt es keine rationale Begründung dafür, doch es gibt auch keine moralischen Erwägungen, die gegen diese Wahl sprechen würden. Allerdings scheint es so zu sein, dass der Körper die Vernichtung scheut.32 Das Physische hängt am Leben, es folgt dem unmittelbaren Impuls nicht ohne weiteres. Selbstmord bedeutet die Überwindung einer massiven Sperre: »In der Bindung des Menschen an sein Leben gibt es etwas, das stärker ist als alles Elend dieser Welt«.33 Dieser Stärke gilt es auf den Grund zu gehen. Es gibt diese Stärke auch im Bereich des Mentalen, auch wenn Camus es nicht so bezeichnet. Camus spricht von der ›Revolte‹. Die Revolte, das ist das stolze, eigensinnige Aufbegehren gegen die Erfahrung des Absurden, ein Akt der Selbstbehauptung im Angesicht der völligen Sinnlosigkeit der eigenen Existenz. Camus versteht die Revolte als 30 Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos. Ein Versuch über das Absurde, Hamburg 1959, S. 11. 31 Ebd. 32 Ebd., S. 13. 33 Ebd.

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»ständige Konfrontation des Menschen mit seiner Dunkelheit«, ständige Auflehnung gegen die eigene Unbestimmtheit und ein permanentes Infragestellen der Welt. Der Mythos des Sisyphos wird von ihm als Sinnbild der Situation des Menschen aufgegriffen und in seinen relevanten Aspekten vorgestellt. Vor welcher Entscheidung steht Sisyphos? Es ist die Entscheidung zwischen Resignation und Revolte, aber auch zwischen Schmerz und Freude: »Glück und Absurdität entstammen ein und derselben Erde. Sie sind untrennbar miteinander verbunden. Irrtum wäre es, wollte man behaupten, dass das Glück zwangsläufig der Entdeckung des Absurden entspringt. ›Ich finde, dass alles gut ist‹, sagt Ödipus, und dieses Wort ist heilig. […] Es lehrt, dass noch nicht alles erschöpft ist, dass noch nicht alles ausgeschöpft wurde. […] darin besteht die ganze verschwiegene Freude des Sisyphos. Sein Schicksal gehört ihm. Sein Fels ist seine Sache.«34

Angesichts des Absurden, des Abgrunds der Sinnlosigkeit und Vergeblichkeit bleibt die Entscheidung möglich, ›ja‹ zu sagen und das Schicksal auf sich zu nehmen. Damit macht der Mensch es zu seinem Schicksal und gewinnt seine Stärke und Würde zurück. Etwas weniger Pathos angesichts des Absurden empfiehlt hingegen der Philo­ soph Thomas Nagel: Seiner Ansicht nach lässt uns das Absurde die Wahl zwischen Agonie und heiterer Gelassenheit: »If a sense of the absurd is a way of perceiving our true situation […], then what reason can we have to resent or escape it? […] It need not be a matter for agony unless we make it so. […] If sub specie aeternitatis there is no reason to believe that anything matters, then that doesn’t matter either, and we can approach our absurd lives with irony instead of heroism or despair. »35

Ironie – das ist ein wichtiger Aspekt der Existenzphilosophie, insbesondere bei Kierkegaard. Was meint Ironie bei Nagel? Man kann sie als eine innere Distanz zu sich selbst interpretieren, die souveräne Haltung, sich zugleich so ernst zu nehmen, dass man seine Existenz fortführt, aber auch so wenig ernst, dass man nicht meint, diese Entscheidung und alles was daraus folgt habe einen Sinn jenseits der eigenen Existenz. Es ist eine abgeklärte und aufgeklärte Haltung. Sie ist weniger trotzig als die Revolte bei Camus. Sie bewahrt uns davor, uns wirklich ernst zu nehmen und zu vergessen, in welchem Lichte wir unsere Existenz zu interpretieren haben. Aus der Perspektive des Universums sind all unsere Bestrebungen nichtig, aber wir dürfen uns sagen, dass sie für uns wichtig sind und diesen Akt der Selbstbehauptung als Hinwendung zum Leben verstehen. Diese ›Wahl‹ wird zu einer Entscheidung, wenn wir uns unsere Optionen bewusstmachen. Wir können qua Reflexion Gründe formulieren, so oder so zu reagieren. Das Bewusstsein, das uns in den Konflikt mit dem Absurden stürzt, kann uns

34 Ebd., S. 100. 35 Thomas Nagel, The Absurd, in: Journal of Philosophy 68 (1971), S. 716–727, hier S. 727.

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zugleich wieder heraushelfen, indem es uns eine Entscheidung ermöglicht, und diese Entscheidung macht uns wieder zu aktiven Akteuren. Die Konfrontation mit dem Absurden nötigt uns also eine grundlegende Entscheidung auf: die Entscheidung existieren zu wollen, um entscheiden zu können. So schreibt Sartre: »In Wirklichkeit genügt es nicht zu wollen: Man muss wollen wollen.«36 Es ist die Entscheidung zum Entscheiden-Können. Auch diese Ebene ist eine genuin philosophische Ebene des Entscheidens. Die hier beschriebene Erfahrung ist keine exotische, die nur wenigen Exzentrikern vorbehalten wäre. Es ist eine existenzielle Grunderfahrung – das Herausfallen aus den alltäglichen Bezügen in das Nichts der absoluten Sinnlosigkeit –, die in vielen Variationen erlebt werden kann. Sie zu thematisieren und zugleich aufzuzeigen, wie man ihr begegnen kann, ist ein weiterer wichtiger Beitrag zum tieferen Verständnis der Entscheidungsproblematik und zugleich eine wichtige Zwischenstation vor der Hinwendung zur Ebene der konkreten Alltagsentscheidungen.

5. Entscheiden-Können Die Ebene, die uns am vertrautesten ist, ist die der alltäglichen Entscheidungen. Sie ist auch diejenige, die von den meisten Disziplinen, die sich mit Entscheidungsforschung beschäftigen, in den Blick genommen wird. Hier haben wir es neben jenen Entscheidungen, die blitzschnell und ohne Nachdenken getroffen werden, vor allem auch mit jenen zu tun, die der Definition Schimanks entsprechen: Alternativen bedenkend handeln. Als überfordernd und belastend werden dabei im Wesentlichen jene Gestaltungsentscheidungen erfahren, die bewusst und reflektiert getroffen werden müssen und die uns dabei vor ein Problem stellen. Entweder wir wissen einfach nicht, welche der vorliegenden Alternativen nun wirklich die beste ist. Oder wir befinden uns in einem Konflikt oder einem Dilemma. Ein Konflikt kann zum Beispiel zwischen Pflicht und Neigung bestehen – das wäre jene Konstellation, die die Philosophin Susanne Boshammer als »Konflikt mit der Moral« bezeichnet hat.37 Ein Dilemma begegnet uns im moralischen Kontext dort, wo Pflichten zu kollidieren scheinen: Zwei Pflichten sind gleichermaßen einschlägig, können aber nicht beide wahrgenommen werden. Diese Konstellation bezeichnet Boshammer als »moralischen Konflikt«.38 Auch Sartre hat einen solchen moralischen Konflikt vorgestellt und aus existenzphilosophischer Perspektive analysiert. Es geht in seinem inzwischen sehr bekannt gewordenen, viel zitierten Beispiel um einen jungen Mann, der eine für ihn quälende Wahl zu treffen hat: 36 Sartre, Das Sein und das Nichts (wie Anm. 26), S. 772. 37 Susanne Boshammer, Von schmutzigen Händen und reinen Gewissen – Konflikte und Dilemmata als Problem der Ethik, in: Johann S. Ach u. a. (Hg.), Grundkurs Ethik, Paderborn 2008, S. 143–161, hier S. 145 f. 38 Ebd.

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»Dieser junge Mann hatte in dem gegebenen Augenblick die Wahl entweder nach England zu gehen und sich in die freien französischen Streitkräfte einzureihen – das heißt, seine Mutter zu verlassen – oder bei seiner Mutter zu bleiben und ihr leben zu helfen.«39

Sartres Analyse zufolge handelt es sich dabei um eine Wahl zwischen zwei Typen von Handlungen: einer konkreten und einer Handlung, »die sich an ein unendlich weiteres Ganzes, eine nationale Gemeinschaft wendete«.40 Seiner Ansicht nach ist es zugleich eine Wahl zwischen zwei Typen von Moralen: einer Moral der Sympathie sowie einer »umfassenderen Moral«. Die unmittelbare Sympathie gilt der Mutter und ihrer Notlage, und zugleich ist da die moralische Verpflichtung, der eigenen Nation in einer Bedrohungslage beizustehen und sich für Frieden und Freiheit einzusetzen. Darf man die Mutter allein lassen? Darf man die Teilnahme am Kampf für die Zukunft des eigenen Landes verweigern und sich gewissermaßen ins Private zurückziehen? Was wiegt schwerer – die Verpflichtung, ein guter Sohn zu sein oder ein loyaler Bürger? Natürlich könnte man sich in dieser Situation an unterschiedliche Instanzen wenden und verschiedene in Frage kommende Moraltheorien zurate ziehen, um zu einer systematisch hergeleiteten, gut begründeten Lösung zu finden. Sartres kühle Einschätzung aber lautet: Keiner kann einem die Entscheidung abnehmen  – keine Religion, keine Moraltheorie, keine Freunde, keine Autoritäten. Diese Antwort klingt zunächst befremdlich. Warum nicht? Es erscheint schließlich naheliegend, in einer solch schwierigen Situation um Rat zu ersuchen oder die Frage in moralischer Hinsicht möglichst systematisch zu durchdenken. Sartre geht es allerdings darum, deutlich zu machen, dass man sich auf diese Weise eigentlich nicht wirklich einen Rat holt, denn die Wahl des Ratgebers geht jedem Rat voraus. Sie ist ihrerseits eine Entscheidung, die ich treffe. Diese Wahl ist bereits eine Entscheidung, die wiederum mit dem Entwurf zu tun hat, den ich von mir habe. Seine Diagnose lautet: Ich treffe moralische Entscheidungen allein – aber nicht nur für mich, sondern für die gesamte Menschheit. Wenn man einen Ratgeber wählt, hat man damit schon eine wichtige Entscheidung getroffen. Zu meinen, eine Entscheidung sei delegierbar, ist eine oberflächliche Täuschung, denn auch der Akt der Delegation ist eine Entscheidung, in der wir den Entwurf, den wir von uns haben, realisieren. Und auch die Interpretation des Rates sowie die Bereitschaft, ihn anzunehmen, ist eine eigene Entscheidung. Es gibt Zeichen und »auf jeden Fall bin ich es, der den Sinn, den diese Zeichen haben, wählt.«41 Der Einzelne trägt die volle Verantwortung für die Entzifferung. Was nach einer Delegation der Entscheidung aussieht, ist in Wahrheit immer wieder eigene Entscheidung.

39 Sartre, Existenzialismus (wie Anm. 23), S. 17. 40 Ebd., S. 18. 41 Ebd., S. 20.

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Dabei reicht die moralische Entscheidung selbst weit über den Einzelfall hinaus. Indem der junge Mann entscheidet, wählt er das Gute. Das Gute ist prinzipiell für alle Menschen gut (in dieser Situation). Das wiederum bedeutet: Jede Lebensentscheidung ist zugleich eine Entscheidung darüber, was der Mensch sein kann und sein sollte. Für Sartre ist wichtig, dass diese Entscheidungen immer wieder frei sind und im Namen der Freiheit, die Freiheit also würdigend, getroffen werden. Auch wenn es so scheint, als ob Gott oder eine andere Instanz vorgeben würde, wie zu entscheiden sei, ist es doch im Grunde der moralische Akteur selbst, der entscheidet, dass hier die Lösung des Konflikts liegt. Immer wieder – so zeigt es Sartre geradezu unerbittlich auf – ist es letztlich der Einzelne selbst, der den Weg zu verantworten hat, den er schließlich geht. Diese unabweisbare Freiheit bedeutet aber zugleich auch eine prinzipielle Offenheit: »die Voraussetzung besteht, dass diese Menschen frei sind und dass sie freiwillig morgen entscheiden werden, was der Mensch sein wird; morgen nach meinem Tode können Menschen beschließen, den Faschismus einzuführen, und die anderen können feige und ratlos genug sein, um sie machen zu lassen; in diesem Moment wird der Faschismus die menschliche Wahrheit sein, und desto schlimmer für uns; in Wirklichkeit werden die Dinge so sein, wie der Mensch beschlossen haben wird, dass sie sein sollen.«42

Hier liegt die eigentliche Radikalität des existenzphilosophischen Ansatzes: Es gibt keine vorgegebenen Werte, Normen und Prinzipien, die feststehen und garantieren, dass die Dinge einen bestimmten Weg nehmen werden oder auch nur nehmen sollten; es gibt keine Sicherheit. Die Dinge sind zur Gänze so, wie wir sie entscheiden. Und wie wir sie entscheiden werden, steht nicht fest. Es ist offen. Denn der Mensch ist »das Sein […], durch das die Werte existieren«43. Diese Erkenntnis führt zur Angst. Und genau darin liegt meines Erachtens auch der Grund für die Aktualität der Existenzphilosophie als Theorie des Entscheidens: die Erkenntnis, dass unsere Freiheit unaufhebbar ist und dass von unseren Entscheidungen tatsächlich so viel abhängt. Diese unabweisbare Freiheit, die eine nicht negierbare Verantwortung mit sich bringt, löst Angst aus. Und diese wiederum verleitet zur Flucht vor der Verantwortung. Man kann gegenüber der eigenen Angst verschiedene Verhaltensweisen annehmen, vor allem Fluchtverhaltensweisen bzw. Entschuldigungsverhaltensweisen. Die Flucht vor der Verantwortung, das Ausweichen vor der Angst (als Hinausgehaltensein in das Nichts) haben Heidegger und Sartre auf unterschiedliche Weise dargestellt: als das ›Man‹ bzw. als die Unaufrich­ tigkeit. Heidegger versteht die Flucht in die Alltäglichkeit, in das Man, als Ausweichstrategie vor der Angst, die uns befällt, wenn wir uns die Unausweichlichkeit

42 Ebd., S. 22. 43 Sartre, Das Sein und das Nichts (wie Anm. 26), S. 1071.

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des Todes vor Augen führen. Um sich dieser Erkenntnis nicht stellen zu müssen, flüchtet der Mensch in die vermeintliche Sicherheit des Alltäglichen, in die unendliche Ablenkung durch alltägliche Verrichtungen und Beschäftigungen und in die Verabsolutierung der Alltagskonventionen und vorgegebenen Sitten, Gebräuche und Normen: »Das Man ist überall dabei, doch so, dass es sich auch schon immer davon geschlichen hat, wo das Dasein auf Entscheidung drängt: Weil das Man jedoch alles Urteilen und Entscheiden vorgibt, nimmt es dem jeweiligen Dasein die Verantwortlichkeit ab. […] das Man entlastet so das jeweilige Dasein in seiner Alltäglichkeit.«44

Das Man gibt uns vor, was wir zu tun und zu lassen haben, und es wiegt uns in der vermeintlichen Sicherheit, dass wir alles richtig machen: »Wir genießen und vergnügen uns, wie man genießt; wir lesen, sehen und urteilen über Literatur und Kunst, wie man sieht und urteilt; wir ziehen uns aber auch ›vom großen Haufen‹ zurück, wie man sich zurückzieht; wir finden empörend, was man empörend findet.«45

Bei Sartre stellt sich die Ausweichbewegung aus Freiheit und Verantwortung als Unaufrichtigkeit da, als mauvaise foi. Sie besteht im Kern darin, dass wir uns selbst glauben zu machen versuchen, wir hätten keine Wahl; wir könnten nicht anders – wohl wissend, dass dies ein Selbstbetrug ist. Sartre illustriert die Idee der Unaufrichtigkeit am Beispiel eines beflissenen Kellners, der nicht spielt, ein Kellner zu sein, sondern der glaubt, er sei Kellner (und in diesem Sinne in seinem Sein durch das Kellner-Sein bestimmt). Die Unaufrichtigkeit besteht Sartre zufolge darin, nicht sehen zu wollen, dass man niemals wirklich etwas ist im Sinne einer absoluten Faktizität, sondern dass man trotz allem, was man ist, immer auch das ist, was man nicht ist – der Entwurf. »Was ich zu realisieren versuche, ist ein An-sich-sein des Kellners, als ob es nicht gerade in meiner Macht stände, meinen beruflichen Pflichten und Rechten ihren Wert und ihre Dringlichkeit zu verleihen, als ob es nicht meine freie Wahl wäre, jeden Morgen um fünf Uhr aufzustehen oder im Bett zu bleiben, auf die Gefahr hin, entlassen zu werden. Als ob ich gerade dadurch, dass ich diese Rolle in der Existenz halte, sie nicht gänzlich transzendierte, mich nicht als ein ›Jenseits‹ meiner Stellung konstituierte.«46

Das bedeutet aber, dass man niemals vollständig Kellner ist, sondern dass in jeder Sekunde offen ist, ob ich Kellner sein werde oder nicht. Wer unaufrichtig ist, weigert sich zu sehen, dass man nie etwas ist, sondern immer die Rollen in ihrer Existenz hält als Resultat einer Wahl. Der Kellner kann intensiv versuchen, seiner Funktion gerecht zu werden, aber es ist immer ein ›Spiel‹. Er kann »von 44 Heidegger, Sein und Zeit (wie Anm. 22), S. 127. 45 Ebd., S. 126 f. 46 Ebd., S. 141.

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innen her nicht unmittelbar Kellner sein, so wie dieses Tintenfaß Tintenfaß ist oder das Glas Glas ist.«47 Dass die Existenz der Essenz vorausgeht, ist bis zu unserem Tod in jedem Moment wahr. Wir sind immer zugleich die Faktizität des schon Entschiedenen und die Freiheit und Offenheit des noch nicht Entschiedenen, der Möglichkeit und unhintergehbaren Notwendigkeit, uns in jedem Moment zu entwerfen. Die Existenzphilosophie schneidet uns den Rückweg in das NichtentscheidenKönnen bzw. das Nichtentscheiden-Müssen ab, indem sie ihn als nicht funktionierende Option demaskiert: Wir glauben, einer Entscheidung enthoben zu sein, sind es aber nicht. Die vermeintliche Entlastung liegt nicht in den Routinen selbst, sondern in unserem Irrglauben über sie. Tatsächlich realisieren wir auch in und durch die Ausweichstrategien den Entwurf, den wir von uns haben. In diesem Punkt unterscheiden sich die Variationen des vermeintlichen NichtEntscheidens nicht von denen des Entscheidens. Das Entscheiden-Können ist immer und zu jedem Zeitpunkt gegeben – unausweichlich.

6. Resümee Die Existenzphilosophie kann der gegenwärtigen Entscheidungsforschung eine genuin philosophische Perspektive hinzufügen. Sie kann zeigen, wie es sich als ›radikal Einzelner‹ anfühlt, entscheiden zu müssen, zu wollen und zu können. Sie kann den Lastcharakter der Vereinzelung, der Notwendigkeit und Unhintergehbarkeit des Entscheidens in der ihr eigenen Radikalität aufzeigen. Damit trifft sie heute offensichtlich einen Nerv, denn sie beschreibt (wieder) ziemlich exakt das Lebensgefühl der Individuen in einer pluralistischen, multioptionalen Entscheidungsgesellschaft. Orientierung ist nötiger denn je, aber alle Orientierung ist bereits wieder Wahl und damit Entscheidung. Wir entkommen nicht der Notwendigkeit, unseren Entwurf zu realisieren und immer wieder die Offenheit des Entwurfs anzunehmen. Wir müssen entscheiden, weil die Existenz der Essenz vorausgeht, wir wollen entscheiden, wenn wir die Kraft in uns finden, dem Absurden eine Haltung entgegenzusetzen, und wir können entscheiden, denn wir haben die Freiheit dazu, die wir nicht aufheben können, und wir sind es, die erst Werte in die Welt bringen. Die Existenzphilosophie sagt uns nicht, wie wir richtig entscheiden können, wie wir klug entscheiden oder welche Entscheidung wir wann zu treffen haben. Sie sagt uns, dass uns das niemand sagen kann. Sie teilt uns unerbittlich mit, dass wir in der Vereinzelung stehen, und dass es nichts Vorgegebenes gibt, das uns die Entscheidung abnehmen könnte. Was vorgegeben erscheint, ist bereits eine Täuschung. Wir können auch niemals etwas vollständig sein, wodurch unser Weg unabänderlich vorgezeichnet würde. Dies zu glauben, bedeutet, unaufrichtig zu sein. Wir haben keine Identität, die uns wie ein starres Gehäuse umgibt, keinen Wesens- oder Identitätskern, 47 Ebd., S. 140.

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der uns unwiderruflich ausmachen würde. Identität ist eine Illusion, eine spezifische Form der Unaufrichtigkeit. Das ist eine – auch politisch – interessante und aufregende Erkenntnis. Was bleibt? Der Mythos des Sisyphos als grundlegendes Narrativ des Entscheidens: Der Mensch als Für-sich ist zur Wahl gezwungen. Der Stein der Entscheidung bzw. der Wahl muss immer wieder neu bewegt werden. Aber die Existenzphilosophie zeigt zugleich auch Folgendes: Man muss sich den Entscheider als glücklichen Menschen vorstellen!

Abbildungsnachweise Beitrag Philip Hoffmann-Rehnitz Abb. 1: https://de.wikisource.org/wiki/Der_Jüdische_Kipper_und_Auffwechßler#/ media/Datei:Der_Jüdische_Kipper_und_Auffwechsler_1622.png (Stand: 3. Juni 2021). Abb. 2: Germanisches Nationalmuseum Nürnberg HB 9386 (Foto: Georg Janßen).

Beitrag Martina Wagner-Egelhaaf Abb. 1: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Annibale_Carracci,_Hercules_at_ the_Crossroads,_brighter.jpg (Stand: 3. Juni 2021). Abb. 2: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:H%C3%A9rcules_lucha_con_el_ le%C3%B3n_de_Nemea,_por_Zurbar%C3%A1n.jpg (Stand: 3. Juni 2021). Abb. 3: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?​curid=630490 (Stand: 3. Juni 2021). Abb. 4: Wolfgang Harms, Homo viator in bivio. Studien zur Bildlichkeit des Weges, München 1970, Bildteil (Abb. 1 und 2). Abb. 5: https://it.wikipedia.org/wiki/File:Beccafumi,_ercole_al_bivio.jpg#/media/File:​ Beccafumi,_ercole_al_bivio.jpg (Stand: 3. Juni 2021). Abb. 6: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Pompeo_batoni_-_Hercules_at_the_​ crossroads.jpeg#/media/File:Pompeo_batoni_-_Hercules_at_the_crossroads.jpeg (Stand: 3. Juni 2021).

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Abbildungsnachweise

Abb. 7: https://upload.wikimedia.org/wikipedia/commons/c/ca/1779_Tischbein_ Herkules_am_Scheideweg_anagoria.JPG (Stand: 3. Juni 2021). Abb. 8: Kunstmuseum Basel (Depositum der Freunde des Kunstmuseums Basel, Ref. Krafft 1982, Nr. 44, Inv. 1946.115). Abb. 9: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Hercules_at_the_cross-roads,_he_ is_seated_at_the_right,_to_the_left_are_female_personifications_of_Virtue_ and_Vice_MET_DP832651.jpg#/media/File:Hercules_at_the_cross-roads,_he_ is_seated_at_the_right,_to_the_left_are_female_personifications_of_Virtue_ and_Vice_MET_DP832651.jpg (Stand: 3. Juni 2021). Abb. 10 und 11: https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=3820888 (Stand: 3. Juni 2021).

Beitrag Isabel Heinemann Abb. 1: Eigene Grafik. Abb. 2: Eigene Grafik.

Autorinnen und Autoren Helene Basu ist Professorin für Ethnologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und war zwischen 2015 und 2019 Projektleiterin im SFB  1150 »Kulturen des Entscheidens«. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen u. a. auf den Gebieten Verwandtschaft & Gender, Religionsethnologie und Anthropologie der Psychiatrie. Dagmar Borchers ist Professorin mit dem Arbeitsgebiet Angewandte Philosophie am Institut für Philosophie der Universität Bremen. Sie ist Sprecherin des interdisziplinären Zentrums für Entscheidungsforschung (Decisium) der Universität Bremen und Studiengangsleiterin der interdisziplinären M. A.-Studiengänge »Komplexes Entscheiden« und des berufsbegleitenden M. A. »Entscheidungsmanagement«. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen u. a. ethische Aspekte komplexer Entscheidungsprobleme und -prozesse, philosophische Grundlagen des Entscheidens sowie die Philosophie der Digitalisierung. Alberto Cadili ist ein in Italien habilitierter Historiker und dort Assoziierter Professor für Mittelalterliche Geschichte und für Kirchengeschichte. Er war von 2016 bis 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter im SFB  1150 »Kulturen des Entscheidens« / Teilprojekt B02 »Problematische Prozesse. Kritik und Reflexion der Entscheidungspraxis der mittelalterlichen Ketzerinquisition (ca. 1230–1330)«. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte des Konziliarismus und der Bettelorden im Mittelalter. Andreas Fahrmeir ist Professor für Neuere Geschichte mit dem Schwerpunkt 19. Jahrhundert an der Goethe Universität Frankfurt und von 2014 bis 2021 Sprecher der Forschungsgruppe 1664 »Personalentscheidungen bei gesellschaftlichen Schlüsselpositionen«. Regina Grundmann ist Professorin für Judaistik an der Westfälischen WilhelmsUniversität Münster. Zwischen 2015 und 2019 war sie Leiterin des Teilprojekts »Mittelalterliche rabbinische Responsa als Praxis religiösen Entscheides« im SFB 1150 »Kulturen des Entscheidens«. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die jüdische Religions- und Kulturgeschichte, insbesondere Parodien jüdischer Traditionsliteratur und Responsa aus entscheidens- und literaturtheoretischer Sicht. Isabel Heinemann ist Professorin für Neueste Geschichte an der Westfäli­ schen Wilhelms-Universität Münster. Von 2009 bis 2019 war sie ebendort Juniorprofessorin für Neuere und Neueste Geschichte und leitete die Emmy

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Noether-Nachwuchsgruppe der DFG »Familienwerte im gesellschaftlichen Wandel: Die US -amerikanische Familie im 20. Jahrhundert«. Zu ihren Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte von Nationalsozialismus und Holocaust, die Geschichte der USA im 20. Jahrhundert sowie Wissens- und Geschlechtergeschichte. Philip Hoffmann-Rehnitz ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Historischen Seminar der Westfälischen Wilhelms Universität Münster. Zwischen 2015 und 2019 war er wissenschaftlicher Geschäftsführer und Koordinator des SFB  1150 »Kulturen des Entscheidens«. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die vormoderne Stadtgeschichte und die Geschichte neuzeitlicher Wirtschafts- und Finanzkrisen. Georg Jostkleigrewe ist Professor für Geschichte des Mittelalters an der Universität Halle und war von 2015 bis 2019 wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt A02 »Contingentia und Disputatio. Entscheiden in der wissenschaftlichen Theorie des westeuropäischen Mittelalters« des SFB  1150 »Kulturen des Entscheidens«. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Geschichte des spätmittelalterlichen Frankreich und seiner grenzüberschreitenden Verflechtung u. a. im Mittelmeerraum, die mittelalterliche Historiographiegeschichte sowie die Schnittstellen zwischen Politik- und Wissenschaftsgeschichte des Spätmittelalters. Nicola Kramp-Seidel ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB  1385 »Recht und Literatur«/Teilprojekt B04 »Rhetorische Strategien in jüdischen und is­ lamischen Rechtstexten« an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Von 2015 bis 2019 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB  1150 »Kulturen des Entscheidens«. Ihre Forschungsschwerpunkte umfassen die jüdische Rechtsliteratur verschiedener Epochen, insbesondere die Untersuchung von Responsa aus dem Mittelalter und der Neuzeit sowie von Kodifikationswerken. Stefan Lehr ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesinstitut für Kultur und Geschichte der Deutschen im östlichen Europa (BKGE) in Oldenburg. Er war von 2016 bis 2018 wissenschaftlicher Mitarbeiter des SFB  1150 »Kulturen des Entscheidens« im Teilprojekt C07 »Politisches Entscheiden in der sozialistischen Tschechoslowakei«. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die Geschichte Osteuropas in der Neuzeit, insbesondere der Adel in Russland und Böhmen, deutsch-tschechische Beziehungen sowie NS -Besatzungspolitik und Staatssozialismus. Hannah Murphy ist UKRI Future Leader’s Fellow and Lecturer für früh­ neuzeitliche Geschichte am King’s College London. Sie ist Projektleiterin des UKRI-finanzierten Forschungsprojekts »Medicine and the Making of Race,

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1440–1720«. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören frühneuzeitliche Medizin, Buchgeschichte, Wissensgeschichte und Geschichte der Schreibpraktiken. Michael Niehaus ist Professor für Neuere deutsche Literaturwissenschaft und Medienästhetik an der Fernuniversität in Hagen. Er habilitierte mit der 2003 erschienen Untersuchung »Das Verhör. Geschichte  – Theorie  – Fiktion«. Zu seinen Arbeitsschwerpunkten zählen u. a. Literatur und Institution, Erzählliteratur des 19. bis 21. Jahrhunderts, intermediale Narratologie sowie Genre- und Formattheorie. Mrinal Pande ist Ethnologin und selbstständige Forscherin. Zwischen 2015 und 2019 war sie als wissenschaftliche Mitarbeiterin des SFB 1150 »Kulturen des Entscheidens« im Teilprojekt A06 »Soziale Praktiken und mediale Narrative matrimonialen Entscheidens in Indien« tätig. Ihre Forschungsschwerpunkte sind anthropologische Erforschungen der sozial konstruierten Entscheidungspraxis, Medienrepräsentationen und narrative Analysen. Matthias Pohlig ist Professor für Europäische Geschichte der Frühen Neuzeit an der Humboldt-Universität zu Berlin. Von 2015 bis 2019 war er Projektleiter im SFB 1150 »Kulturen des Entscheidens« an der Westfälischen Wilhelms-Universität in Münster mit einem Forschungsprojekt zur frühen Reformation. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen Reformation und frühneuzeitlicher Protestantismus sowie die Geschichte der frühneuzeitlichen Diplomatie und Spionage. Franziska Rehlinghaus ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Seminar für Mittlere und Neuere Geschichte der Georg-August-Universität Göttingen. In ihrer Dissertation hat sie die wechselvolle historische Semantik des Begriffs »Schicksal« in der Neuzeit rekonstruiert. Derzeit forscht sie im Rahmen ihres Habilitationsprojekts zur Geschichte von Weiterbildung und Persönlichkeitsoptimierung in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Carolin Rocks ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Germanistik der Universität Hamburg. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die deutsche Literatur und Ästhetik des 18. Jahrhunderts, literarische Gattungsgeschichte und -theorie, das Verhältnis von Literatur und Politik sowie das Verhältnis von Literatur und Philosophie. Derzeit arbeitet sie an einem Projekt zur ethischen Kontur der Literatur. Claudia Roesch ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Historischen Institut Washington. Sie war von 2015 bis 2017 wissenschaftliche Mitarbeiterin im SFB 1150 »Kulturen des Entscheidens«/Teilprojekt A05 »Zwischen Privatheit und öffentlicher Debatte: Reproduktionsentscheidungen in Deutschland und den USA in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts«. Zu ihren Forschungs-

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schwerpunkten gehören die Geschichte der Familie im 20. Jahrhundert sowie die Migrationsgeschichte und die Wissensgeschichte in transatlantischer Perspektive. Tim Rojek ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Philosophischen Seminar der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster und war von 2015 bis 2019 als wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt A03 »Grammatiken des Entscheidens« des SFB  1150 »Kulturen des Entscheidens« tätig. Zu seinen Forschungsschwerpunkten gehören die klassische deutsche Philosophie, Sozialphilosophie, Handlungstheorie sowie die Philosophie der Geistes- und Sozialwissenschaften. Stephan Ruderer ist Professor für Chilenische und Lateinamerikanische Geschichte an der Pontificia Universidad Católica de Chile in Santiago. Von 2015 bis 2019 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter im Teilprojekt B07 »Die Rahmung politischen Entscheidens im postkolonialen Staatsbildungsprozess: Argentinien und Mexiko in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts« des SFB  1150 »Kulturen des Entscheidens«. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Rolle der katholischen Kirche in den Militärdiktaturen in Chile und Argentinien, politische Korruptionsdiskurse, Vergangenheits- und Erinnerungspolitik im Cono Sur und Entscheidensprozesse in der Nachunabhängigkeit. Michael Seewald ist Professor für Dogmatik und Dogmengeschichte an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster sowie Principal Investigator am Exzellenzcluster 2060 »Religion und Politik«. Zu seinen Forschungsschwerpunkten zählen die Theologie der Aufklärung (spätes 17. bis frühes 19. Jahrhundert) und Theorien dogmatischer Entwicklung. Constanze Sieger ist Archivrätin am Hessischen Landesarchiv, Staatsarchiv Marburg. Zwischen 2015 und 2019 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin des SFB  1150 »Kulturen des Entscheidens« im Teilprojekt C06 »Preußische Amtmannbürokratie und lokale Selbstverwaltung: Dörfliches Entscheiden in der preußischen Provinz Westfalen im 19. und frühen 20. Jahrhundert«. Zu ihren Arbeitsschwerpunkten gehören neben dem dörflichen Entscheiden Forschungen zu Katholizismus, Medien und Kleinstädten im 19. Jahrhundert. Susanne Spreckelmeier ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Germanistischen Institut der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sie war von 2015 bis 2019 wissenschaftliche Mitarbeiterin des SFB 1150 »Kulturen des Entscheidens« im Teilprojekt A01 »Poetiken des Entscheidens in der Erzählliteratur des deutschen Mittelalters«. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören neben Semantiken und Narrativen des Entscheidens in der klassischen höfischen Dichtung auch bibelepische Texte, Mariendichtungen und der Prosaroman der Frühen Neuzeit.

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Martina Wagner-Egelhaaf ist Professorin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Im SFB  1150 »Kulturen des Entscheidens« leitete sie von 2015 bis 2019 das Teilprojekt A04 »Herkules am Scheideweg. Szenarien des Entscheidens in der autobiographischen Lebenslaufkonstruktion«. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören die Autobiographie- und Autofiktionsforschung, die Literatur der Moderne und der Gegenwart, Rhetorik und Literaturtheorie, das Verhältnis von Literatur, Religion und Politik sowie das Verhältnis von Literatur und Recht.