Die Farben imaginierter Welten: Zur Kulturgeschichte ihrer Codierung in Literatur und Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart 9783050060682, 9783050050812

Für die Kulturgeschichte des westlichen Abendlandes seit der Antike sind Imaginationen von Farben in Literatur und Kunst

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German Pages 359 [360] Year 2012

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Die Farben imaginierter Welten: Zur Kulturgeschichte ihrer Codierung in Literatur und Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart
 9783050060682, 9783050050812

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Die Farben imaginierter Welten

Literatur | Theorie | Geschichte Beiträge zu einer kulturwissenschaftlichen Mediävistik Band 1 Herausgegeben von Udo Friedrich, Bruno Quast und Monika Schausten

Monika Schausten (Hg.)

Die Farben imaginierter Welten Zur Kulturgeschichte ihrer Codierung in Literatur und Kunst vom Mittelalter bis zur Gegenwart

Akademie Verlag

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© Akademie Verlag GmbH, Berlin 2012 Ein Wissenschaftsverlag der Oldenbourg Gruppe www.akademie-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Umschlagentwurf: hauser lacour, unter Verwendung von Mark Rothko: Orange and Yellow, 1956 (© Kate Rothko-Prizel & Christopher Rothko / VG Bild-Kunst, Bonn 2012) Druck & Bindung: Beltz Bad Langensalza GmbH, Bad Langensalza Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706 ISBN eISBN

978-3-05-005081-2 978-3-05-006068-2

Inhaltsverzeichnis

Vorwort ......................................................................................................................

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Einleitung ...............................................................................................................

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Monika Schausten Die Farben imaginierter Welten in Literatur und Kunst der Vormoderne und der Neuzeit. Zur Einführung ...............................................................................

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Poetologie und Ästhetik .................................................................................... 31 Ulrich Ernst Polychromie als literarästhetisches Programm. Von der Buntschriftstellerei der Antike zur Farbtektonik des modernen Romans ..................................................

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Udo Friedrich Bunte Pferde. Zur kulturellen Semantik der Farben in der höfischen Literatur .........

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Helga W. Kraft Goethes Farbenlehre und Das Märchen. Farbmagie oder -wissenschaft? .................

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Saskia Haag Bunte Antike in Schwarzweiß. Zur Darstellung antiker Kunst um 1830................... 111

Gesellschaftliche Ordnungen – Identitätskonzepte ................................. 123 Heike Sahm Gold im Nibelungenlied ............................................................................................. 125 Haiko Wandhoff Schwarz auf Weiß – Rot auf Weiß. Heraldische Tinkturen und die Farben der Schrift im Parzival Wolframs von Eschenbach ................................................... 147 Bruno Quast Monochrome Ritter. Über Farbe und Ordnung in höfischen Erzähltexten des Mittelalters........................................................................................................... 169

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Inhaltsverzeichnis

Dagmar C. G. Lorenz Imaginierte Körperfarben. Zur Konstruktion und Kritik rassistisch besetzter Farbsemantiken das Jüdische betreffend..................................................... 183

Historische Anthropologie ............................................................................... 199 Elke Brüggen Die Farben der Frauen. Semantiken der Colorierung des Weiblichen im Parzival Wolframs von Eschenbach ..................................................................... 201 Andreas Kraß Die Farben der Trauer. Freundschaft als Passion im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg .............................................................................................. 227 Barbara Kosta Blau: Sehnsucht, Geschlecht und Judith Schalanskys Roman Blau steht dir nicht. Matrosenroman .......................................................................................................... 241 Inge Stephan Weiß in polaren Diskursen der Moderne. Überlegungen zu Caspar David Friedrichs Eismeer (1823/24), Alfred Anderschs Hohe Breitengrade (1969) und Gerhard Richters Eis (1981) .................................................................... 255 Jörg Döring Die Farben der Landkarten......................................................................................... 271

Medialität ............................................................................................................... 301 Silke Tammen Rot sehen – Blut berühren. Blutige Seiten und Passionsmemoria in einem spätmittelalterlichen Andachtsbüchlein (Brit. Libr., Ms. Egerton 1821) ................... 303 Irma Trattner Die Farbe in der Mittelalter-Rezeption der Bildenden Kunst und deren Transformationsprozesse. Zur Rezeption Jacopo Pontormos in den Medien des 20. Jahrhunderts ........................................................................... 323 Verzeichnis der Autorinnen und Autoren .................................................................. 343 Bildteil........................................................................................................................ 345

Vorwort

Der vorliegende Band versammelt Beiträge, die zuerst im Rahmen einer internationalen Tagung zu den Farben imaginierter Welten vorgestellt worden sind. Sie fand im Kontext eines altgermanistischen DFG-Forschungsprojekts zu Polychromen Entwürfen höfischer Welten im Oktober 2010 an der Universität Siegen statt. Ziel der Veranstaltung war es, die für das Projekt zentrale Frage nach den Farbsemantiken der höfischen Erzählliteratur des 12. und 13. Jahrhunderts und ihren ästhetisch-poetologischen Implikationen sowie ihren diskursgeschichtlichen Zusammenhängen in einem übergeordneten, diachron ausgerichteten und im Kern literaturwissenschaftlichen Kontext zu diskutieren. Die Absicht, die spezifische Historizität mittelalterlichen Farbdenkens und seiner schriftliterarischen Verhandlungen durch einen Blick auf die Geschichte von Farbdiskursen und -imaginationen in der neueren Literatur genauer zu bestimmen, setzte vor allem die großzügige Bereitschaft von Kollegen und Kolleginnen der Älteren und Neueren Literaturwissenschaft voraus, sich der Frage nach denjenigen Zusammenhängen zuzuwenden, wie sie die Literatur im Verlauf ihrer Geschichte zwischen Farbästhetik und Konzepten politischer und personaler Ordnungen verhandelt. Dieses literaturwissenschaftliche Unternehmen wurde zudem tatkräftig durch Kolleginnen der Kunstgeschichte flankiert, deren Beiträge den medienhistorischen Aspekt der Fragestellung akzentuierten. Dafür, dass die Ergebnisse dieser Bemühungen Eingang in dieses Buch finden konnten, schulde ich allen beteiligten Kollegen und Kolleginnen meinen herzlichsten Dank. Darüber hinaus möchte ich meinen beiden Projektmitarbeiterinnen, Mareike Klein und Carolin Oster, sehr herzlich für die sachlich-fachliche sowie organisatorische Unterstützung bei der Vorbereitung der Tagung danken. Die gemeinsame Arbeit in Siegen war für mich stets eine große Bereicherung. Schließlich wäre dieses Buch ohne die tatkräftige Hilfe bei der Einrichtung des Manuskripts nicht zustande gekommen. Bei der Durchsicht der Manuskripte haben mich Anna Lena Jung, Thomas Tigges, Julia Stiebritz und Tobias Hasenberg unterstützt. Die abschließende Arbeit am Buch lag in den Händen von Monika Traut. Ihnen allen gilt mein aufrichtiger Dank. Köln, im Mai 2012

Monika Schausten

Einleitung

Monika Schausten

Die Farben imaginierter Welten in Literatur und Kunst der Vormoderne und der Neuzeit Die Farben imaginierter Welten in Literatur und Kunst

Zur Einführung

What is pink? a rose is pink By the fountain’s brink. What is red? a poppy’s red In its barley bed. What is blue? the sky is blue Where the clouds float thro’. What is white? a swan is white Sailing in the light. What is yellow? pears are yellow, Rich and ripe and mellow. What is green? the grass is green, With small flowers between. What is violet? clouds are violet In the summer twilight. What is orange? why, an orange, Just an orange! (Christina Rossetti)

Die Sprache als eines der zentralen Medien menschlicher Kommunikation – darauf verweisen zahlreiche Forschungsarbeiten – vermag es nur sehr eingeschränkt, der für die menschliche Existenz basalen Erfahrung von Farbe Ausdruck zu verleihen. Linguistischen Untersuchungen zufolge kennen in dieser Hinsicht selbst begrifflich sehr ausdifferenzierte Sprachen in der Regel nicht mehr als elf Farbbezeichnungen für sogenannte Grundfarben,1 die indes das unserer sinnlichen Wahrnehmung zugrunde liegende natür1

Diese grundlegende Hypothese bei: Brent Berlin und Paul Kay: Basic Color Terms. Their Universality and Evolution. Berkeley / Los Angeles 1969, S. 2: „It appears […] that, although different languages encode in their vocabularies different numbers of basic color categories, a total universal inventory of exactly eleven basic color categories exists from which the eleven or fewer basic color terms of any given language are always drawn. The eleven basic color categories are white, black, red, green, yellow, blue, brown, purple, pink, orange and grey.“ (Kursivierungen im Original). Zur Re-Evaluierung der Basic Color Terms vgl. bes. Barbara Ann Christine Saunders: The Invention of Basic Colour Terms. De Uitvinding van Basiskleurtermen. Utrecht 1992. Zum Wortbestand für Grundfarben vgl. außerdem Christel Meier: Von der Schwierigkeit, über Farben zu reden. In: Ästhetische Transgressionen. Hrsg. von Michael Scheffel, Silke Grothues, Ruth Sassenhausen. Trier

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liche kontinuierliche Farbenspektrum nur sehr unzureichend erfassen können.2 Die Ursache für die Kluft, die sich zwischen dem wahrnehmbaren Phänomen und den unzureichenden Möglichkeiten seiner sprachlichen Bezeichnung ergibt, sehen sprachphilosophische und kulturtheoretische Untersuchungen vor allem in der spezifischen Verfasstheit der Farbe selbst.3 Letztere zu bestimmen, stellt bekanntlich auch die Naturwissenschaften vor besondere Herausforderungen, denen „the meaning of the term color“, so etwa der Wahrnehmungspsychologe James Gibson, „one of the worst muddles in the history of science“4 ist. Denn der Begriff müsse beides bezeichnen: die Pigmente als Stoffe, die eine chromatische Realität produzieren, und die menschliche Wahrnehmung der Farbe, mithin also den chromatischen Effekt.5 Farben selbst sind keine greifbaren Gegenstände, sondern sind vor allem als Attribute von Gegenständen im weitesten Sinne (also auch von Tieren, Menschen, Pflanzen und dergleichen) wahrnehmbar.6 Und sie sind Phänomene, die erst im Modus ihrer Perzeption durch den Men-

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2006 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft. 69), S. 81–100, hier S. 81, die von ca. zehn Grundwörtern für Farben in jeder Sprache spricht. Zum Problem der großen Varianz sprachlicher Bezeichnungen für die sog. Grundfarben im Mittelalter vgl. John Gage: Colour Words in the High Middle Ages. In: Looking through paintings: the study of painting techniques and materials in support of art historical research. Hrsg. von Erma Hermens. Baarn [u. a.] 1998, S. 35–48. Umberto Eco: How Culture Conditions the Colours We See. In: On Signs. Hrsg. von Marshall Blonsky. Baltimore 1985, S. 157–175, hier S. 158. Dabei sollte allerdings bedacht werden, dies merkt Eco zu Recht im Rekurs auf die Noctes Atticae des Aulus Gellius (2. Jh. n. Chr.) an, dass in der Sprache durchaus differenziertes Vokabular zur Bezeichnung von subtilen Farbeindrücken entwickelt werden kann. Dies geschehe indes nicht allein, so Eco weiter, um dem empirischen Phänomen des Farbensehens durch ein dieses abbildendes Zeichensystem gerecht zu werden, sondern auch aus kulturspezifischen Erfordernissen. Ebd., S. 159. Zur sprachphilosophischen Debatte um die Spezifik der Farbbegriffe vgl. z. B.: Sven Bernecker: Wider den Empirismus bezüglich Farbbegriffen. In: Farben. Betrachtungen aus Philosophie und Naturwissenschaften. Hrsg. von Jakob Steinbrenner, Stefan Glasauer. Frankfurt / M. 2007 (stw. 1825), S. 248–273, hier S. 251f. Bernecker diskutiert die Valenz eines empiristischen Farbbegriffs kritisch. Dieser setze voraus, dass „eine Farbqualität nicht anders als durch das direkte visuelle Erleben der Farbe vermittelt werden [könne].“ Dagegen müsse eingewandt werden, „daß wir dank unserer Phantasie Farbeindrücke vorstellen können, mit denen wir noch keine visuelle Bekanntschaft gemacht haben.“ James Gibson: The Senses Considered as Perceptual Systems. London 1968, S. 183 (Kursivierung im Original). Vgl. dazu auch Rolf G. Kuehni: Color. An Introduction to Practice and Principles. Hoboken 22005, S. 17: „[…] as yet there is no scientific explanation of the color vision process […]. There are ideas of how this might work, but non that is all-encompassing and generally found to be valid. Much has been learned since the early 1980s about the neurophysiological process involved in color vision. But there continues to be a black box in our brain into which biologically produced signals disappear and out of which color experiences appear.“ Ebd. Vgl. dazu bes. Wolfgang Spohn: Reden über Farben. In: Farben (Anm. 3), S. 226–247, hier S. 227, der die kontrovers geführte philosophische Debatte referiert, die von der These Galileis, Descartes’ und Lockes ihren Ausgang genommen hat, Farben seien „sekundäre Qualitäten“.

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schen produziert werden.7 Farben kommen ohne ihre spezifischen Substantiierungen kaum je vor die Augen ihres Betrachters, in denen allein sie entstehen, und ihre Wahrnehmung ist überdies abhängig von vielen weiteren Faktoren: Besonders wichtig sind in diesem Zusammenhang die Beschaffenheit der Oberflächen des betrachteten Gegenstandes sowie die Qualität und der Einfallswinkel des Lichts, das auf diesen fällt bzw. diesen umgibt.8 Dass die menschliche Fähigkeit und Möglichkeit des Farbensehens zwar eine einzigartige Weise des Weltzugriffs ist, diese indes gleichwohl durch aufwendige Prozesse ihrer kulturellen Codierung in der Geschichte des Abendlandes theoretisch-reflexiv rationalen Weisen der Weltbewältigung überwiegend nachgeordnet wird, darauf deuten Kunst- und Kulturtheorien unterschiedlicher Provenienz: Ihnen ist die in Malereitheorien seit der Antike vertretene Ansicht, Form, Linie und Umriss gebühre der Vorrang vor der Farbe, nur ein Indiz dafür, dass die im Menschen angelegte Fähigkeit zum Farbensehen sich im Grunde jeder Form von Symbolisierung, und damit eben auch der durch Sprache, merkwürdig entzieht. Konstitutiv für das Farberleben sei vielmehr, dass sich der Mensch in der Farbwahrnehmung verlieren könne, dass diese der rationalen Weltbewältigung durch sprachliche Chiffren geradezu diametral entgegenzusetzen sei. So bemüht zum Beispiel der Mitbegründer des Nouveau Réalisme, der französische Künstler Yves Klein, ein Narrativ fortschreitender menschlicher Kulturation, das die Entwicklung des Menschen hin zu seiner sozialen Existenz als einen Weg beschreibt, der aus einem Paradies reiner und unverfälschter Farbe führe und in einen zunehmenden Verlust dieser Farbigkeit münde. Je mehr bewusster Weltzugriff, desto weniger Farbe: Aus der Farbe herausgefallen sei der Mensch bei Linie, Schrift und Sprache gelandet.9 Und auch für Julia Kristeva verbindet sich mit Farbe eine Subjekt/ObjektUnbestimmtheit, ein Zustand, bevor sich das menschliche Selbst in der Sprache formiert, ein Zustand, bevor Subjekt und Welt vollständig voneinander unterschieden sind.10 In ihren Augen ist Farberleben immer mit einer Unterbrechung der symbolischen Ordnung verbunden. Nicht nur werde der Prozess der Selbst-Werdung des Subjekts 17 18

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Zum Farbensehen vgl. z. B. Hans Gekeler: Taschenbuch der Farbe. Köln 1991, S. 91–96. Vgl. dazu bes. Margarete Bruns: Das Rätsel Farbe. Materie und Mythos. Stuttgart 42006, S. 9: „[…] Farbe existiert nicht für sich, nicht ‚draußen‘ in der Welt, […] sondern ausschließlich in uns, und schon die Farbenwahrnehmung der meisten höheren Tiere unterscheidet sich von der des Menschen so sehr, daß uns ihr Welt-‚Bild‘ unzugänglich bleiben muß.“ Vgl. dazu: Sidra Stich: Yves Klein. Buch zur Ausstellung Yves Klein. Museum Ludwig, Köln [u. a.] 1994 / 1995. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Birgit Herbst. Stuttgart 1994, S. 49. Die Assoziation des uneingeschränkten Farberlebens mit einem paradiesischen Zustand des Menschen vertritt Klein prägnant in einem Filmentwurf mit dem programmatischen Titel: La guerre, de la ligne et de la coleur ou vers la proposition monochrome. Hier heißt es in einem kryptischen Text, der die Abfolge des im Film Gezeigten erläutert: „[…] reine Farbe – die farbige Seele des Universums, in der die menschliche Seele badete, als sie sich im Zustand des ‚Paradieses auf Erden‘ befand.“ Die Linie sei „in das bis dahin unberührte Reich der Farbe“ eingedrungen. Julia Kristeva: L’espace Giotto. In: Peinture: cahiers théoriques 2 / 3 (1971), S. 35–51, hier S. 41f.

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während des Farberlebens unterbrochen, sondern die Konfrontation des Subjekts mit der Farbe kehre diesen nachgerade um. Farbe diene dazu, das Selbst zu entdifferenzieren: Sie ermögliche eine Entgrenzung, wohingegen die Sprache Formen der Eingrenzung, Differenzierung und Klassifikation von Welt bereitstelle. Diese hier skizzierten, kulturell wirksamen Erzählungen vom Farbverlust und seinen Wirkungen auf den Menschen weisen der Farbe implizit auch ein Bedrohungspotential zu, insofern sie ihre im wahrsten Sinne des Wortes überwältigende Wirkung als potentielle Gefährdung menschlicher Selbstwerdung und -bezeichnung zumindest nahelegen. Solche offenbar zu regelrechten Kulturmustern geronnenen Narrative der Postmoderne und deren theoretische und künstlerische Ausbeutung deuten jene eklatanten Schwierigkeiten nur an, denen jeder Versuch ausgesetzt sein wird, über Farben wissenschaftlich zu handeln, tun wir dies doch stets mit sprachlichen Mitteln, die indes – so lernen wir – dem anthropologisch begründeten Phänomen der Farbwahrnehmung nicht nur sehr eingeschränkt überhaupt beikommen können, sondern diesem im menschlichen Erleben womöglich gar diametral entgegengesetzt sind. Und so sind die vielfach diagnostizierten Schwierigkeiten, „von Farbe zu sprechen“,11 vielleicht ein Hauptgrund dafür, dass sich besonders die Literatur- und Kulturwissenschaften nach wie vor eher zurückhalten, wenn es um die Entwicklung einer interdisziplinären Perspektivierung für die Beschreibung und Erforschung desjenigen Zusammenhangs geht, der ganz offensichtlich zwischen jeder Gesellschafts- bzw. Kulturgeschichte und ihrer medial je spezifischen Diskursivierung von Farben besteht. Ein Zusammenhang, der sich – trotz der oben dargelegten Schwierigkeiten – bekanntlich nicht allein in den Bildmedien vormoderner und neuzeitlicher Kulturen dokumentieren ließe, sondern vor allem auch in Texten vielfältig, und dies seit der Antike, in den Medien von gesprochener Sprache und Schrift reflektiert und produziert worden ist. Denn den großen Problemen, die es aufwirft, sich der Farbe als einem natürlichen Phänomen im Medium der Sprache adäquat zu nähern, steht die Beobachtung gegenüber, dass alle Kulturen, seien es historische oder gegenwärtige, seien es topographisch nahe oder ferne, dennoch zu allen Zeiten neben den visuellen nicht zuletzt spezifisch begriffliche Codes ausgebildet haben, die es erlaubten und erlauben, einen Beitrag zu je spezifischen Diskursen kollektiver und personaler Identitätskonstitution über je eigene Konzeptionen und Semantisierungen von Farben zu leisten.12 Als Gegenstand einer historischen Anthropologie ist die Farbe einerseits konstanter Bestandteil menschlichen Weltzugriffs, und andererseits unterliegt

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Vgl. dazu nochmals Meier (Anm. 1). Vgl. dazu besonders John Gage: Colour and Culture. In: Colour: Art & Science. Hrsg. von Trevor Lamb, Janine Bourriau. Cambridge 1995 (The Darwin College Lectures), S. 175–193, hier S. 175: Gage geht von der Beobachtung aus, dass selbst farbenblinde Menschen Farbwörter wie selbstverständlich benutzen. Farbe, so schließt er daraus, sei damit eng mit Sprache verbunden, und von daher sei sie stets eine „Funktion der Kultur“ mit einer eigenen Geschichte.

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ihre kulturelle Codierung großen Veränderungen, die, so die Vermutung, im literarischen und bildkünstlerischen Imaginären stets verhandelt und reflektiert werden.13 Erst allmählich, wohl im Fahrwasser einer kulturwissenschaftlichen Neuorientierung geisteswissenschaftlicher Einzeldisziplinen seit den 1970er Jahren, ist damit begonnen worden, die unterschiedlichen Farbencodes der westlichen Welt seit der Antike – jenseits ihrer linguistischen und psychologischen Implikationen – systematisch aufzuarbeiten und zu analysieren. Dies geschah zunächst aus der Perspektive der Kunstgeschichte im Hinblick auf den ästhetischen Farbdiskurs, wie er seit der Antike in Bild- und Schriftmedien etabliert, tradiert und transformiert worden ist. Zu erwähnen sind in diesem Zusammenhang besonders die Überblicksdarstellungen von John Gage, der in den 1990er Jahren programmatisch damit begonnen hat, eine Kulturgeschichte der Farben zu schreiben.14 Gages Engagement resultiert aus einem diagnostischen Blick auf die Kunstgeschichte, die wegen der oben bereits erwähnten, an der Klassik orientierten, „perzeptuelle[n] Voreingenommenheit“15 allzu lange der Form, den Umrissen und der Zeichnung den Vorrang vor einer wissenschaftlichen Analyse der Farben gegeben habe. Lediglich die Materialienkunde und die Techniken des Farbauftrags hätten aus kunstwissenschaftlicher Perspektive Interesse gefunden, während Farben sowohl für ästhetische Analysen als auch im Hinblick auf eine historische Stilkunde im Allgemeinen keine Berücksichtigung erfahren hätten.16 Auch der neoformalistischen Koloritgeschichte fehle letztlich jeder Blick für den sozialen Kontext ästhetischer Farbdiskurse. Gages Vorhaben ist es demgegenüber, eine Aufarbeitung theoretischer Farbdiskurse seit der Antike zu leisten und zugleich ihren historisch differenten kulturellen und sozialen Implikationen nachzugehen. Die „soziale Dimension der Farbe“17 zu erschließen, haben wohl in der Folge dieser kunsthistorischen Überlegungen auch soziologische Arbeiten erst seit einiger Zeit unternommen. Ihnen ist die Erkenntnis leitend, dass Farben Gesellschaften „imprägnieren“, dass keine Gesellschaft „ohne Farben existieren [kann]“, ein Umstand, den, so Hans Peter Thurn, die Soziologie bis heute wenig beachtet habe, liege doch kein einziger „genuin soziologischer Erklärungsversuch“ dessen vor, was als „Sozialität der Farben“ näher hin wissenschaftlich zu beschreiben wäre.18

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Vgl. dazu grundlegend: Michel Pastoureau: Blue. The History of a Color. Princeton 2001; ders.: Black: The History of a Color. Princeton 2009. John Gage: Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart. Übersetzt von Magda Moses und Bram Opstelten. Berlin 2001 und ders.: Die Sprache der Farben. Bedeutungswandel der Farbe in der Wissenschafts- und Kunstgeschichte. Leipzig 2010; Herman Pleij: Colors Demonic and Divine. Shades of Meaning in the Middle Ages and After. Translated by Diane Webb. New York 2004 sowie Manlio Brusatin: Geschichte der Farben. Mit einem Vorwort von Louis Marin. Aus dem Italienischen von Sabine Schulz. Berlin 2003. Gage 2001 (Anm. 14), S. 7. Ebd. So Andreas Hebestreit: Die soziale Farbe. Wie Gesellschaft sichtbar wird. Berlin / Zürich 2007, S. 1. Hans Peter Thurn: Farbwirkungen. Soziologie der Farbe. Köln 2007, S. 9.

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Eines der ersten vorläufigen und interdisziplinär durchaus beachteten Ergebnisse dieser neuen kunst- und kulturgeschichtlich ausgerichteten Aufmerksamkeit für die gesellschaftskonstitutive Interferenz von Farbauslegungen und kulturellen Selbstbeschreibungspraktiken ist ein Essay, den der Künstler und Kunsttheoretiker David Batchelor 2002 vorgelegt hat.19 Seine Ausführungen gelten der Geschichte und Gegenwart der westlichen Kultur, als deren Konstituens – so die kollektivpsychologisch begründete These – er eine grundlegende Chromophobie diagnostiziert. Es sei eine basale Angst vor der Farbe, die nicht allein ursächlich Malereitheorien seit der Antike bestimmt habe, sondern die sich bis heute noch in moderner Architektur und persönlichem Geschmack niederschlage. Wenn ich recht sehe, hat Batchelors Diagnose einer die westliche Kulturtradition beherrschenden Chromophobie besonders auf einige Einzelstudien der Neueren Literaturwissenschaft inspirierend gewirkt, die sich in Auseinandersetzung mit seinen Thesen den literarischen Farbimaginationen vom 18. Jahrhundert bis in die Gegenwart zuwenden.20 Seit etwa zehn Jahren nun werden die diachron ausgerichteten, kunsttheoretischen, kulturgeschichtlichen und soziologischen Perspektivierungen der colores21 ergänzt und flankiert von solchen Arbeiten, die sich weiter aus kunsthistorischer, sodann aber auch aus mentalitätengeschichtlicher und literaturwissenschaftlicher Perspektive einer Aufarbeitung historischer Farbcodierungen genähert haben.22 Kennzeichnend für diese Publikationen sind die folgenden thematischen Schwerpunkte: In einigen Studien stehen diejenigen Implikationen, die der Farbe im Rahmen einer Geschichte der Schönheit

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David Batchelor: Chromophobie. Angst vor der Farbe. Aus dem Englischen von Michael Huter. Wien 2002. Als Künstler hatte sich zuvor auch Derek Jarman zur kulturgeschichtlichen Semantisierung der Farben geäußert. Vgl. Derek Jarman: Chroma. Ein Buch der Farben. Aus dem Englischen von Almuth Carstens. Berlin 1995. Wolfgang Ullrich und Juliane Vogel (Hgg.): Weiß. Frankfurt / M. 2003; Monika Shafi: Farbe bekennen. Zur Bedeutung von Farben in Uwe Timms Roman Rot. In: „(Un-)Erfüllte Wirklichkeit“. Neue Studien zu Uwe Timms Werk. Würzburg 2006, S. 45–54. Neben den grundlegenden Arbeiten von Gage wären hier auch solche neueren Beiträge zu erwähnen, die eine Materialkunde der Farben mit kulturhistorischen Perspektivierungen verbinden, z. B.: Victoria Finlay: Das Geheimnis der Farben. Eine Kulturgeschichte. Berlin 2005 sowie Anne Varichon: Colors. What They Mean And How To Make Them. Tanslated from the French by Toula Ballas. New York 2006. Diese Arbeiten sind: Pastoureau: Blue (Anm. 13) sowie ders.: Black (Anm. 13); Die Geschichte der Schönheit. Aus dem Italienischen von Friederike Hausmann und Martin Pfeiffer. Hrsg. von Umberto Eco. München / Wien 2004; Franz Siepe: Die Farben des Eros. Das Schönheitsideal im Wandel der Zeit. Berlin 2007 sowie Christel Meier, Rudolf Suntrup: Zum Lexikon der Farbenbedeutungen im Mittelalter. Einführung zu Gegenstand und Methoden sowie Probeartikel aus dem Farbenbereich ‚Rot‘. In: Frühmittelalterliche Studien 21 (1987), S. 390–478; Ulrich Ernst: Farbe und Schrift im Mittelalter – Unter Berücksichtigung antiker Grundlagen und neuzeitlicher Rezeptionsformen. In: Testo e immagine nell’ alto medioevo. Hrsg. von Ovidio Capitani. Spoleto 1994 (Settimane di studio della fondazione Centro italiano di studi sull’alto medioevo. XLI), T. 1, S. 343–415.

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zukommt, im Vordergrund.23 Andere sind getragen von dem Bemühen, die Geschichte einer einzelnen Farbe zu erarbeiten,24 wieder anderen geht es um die Ausarbeitung einer spezifischen Art und Weise der Farbauslegung, wie sie etwa im Mittelalter im Rekurs auf allegorische Deutungsverfahren entwickelt und angewendet worden ist.25 Allen unterschiedlichen Ansätzen ist gemeinsam, dass sie auf der Notwendigkeit insistieren, Farben nicht als natürliche Phänomene zu betrachten, sondern als je eigene diskursiv erzeugte Konstrukte. Und alle gemeinsam dokumentieren sie komplexe Verfahren der Farbsemantisierungen als konstitutiv für die Geschichte der westlichen Kultur und falsifizieren so unausgesprochen auf je eigene Weise die oben referierte These Batchelors von deren grundständiger Chromophobie.26 Besonders die spezifische Polychromie der europäischen Kultur des Mittelalters hat in diesem Zusammenhang wohl nicht zufällig schon seit längerer Zeit zunehmende Beachtung gefunden.27 Dabei hat es fast den Anschein, als würde ein Forschungsschwerpunkt, der dem Zusammenhang von Farbsemantisierung und kulturellen Identitätskonzepten gilt, gerade jenseits der bekanntlich nur vermeintlich weißen (farblosen) Antike der Klassik und ihrer sozialen und kulturellen Implikationen regelrecht generiert durch die medialen Hinterlassenschaften des europäischen Mittelalters. Und hier sind es nicht allein die leuchtenden Farben der gotischen Kathedralfenster, ist es nicht allein das Nebeneinander monochromer, farbiger Flächen auf Fresken, Tafelbildern und Miniaturen,28 sondern sind es schließlich auch die vielen schriftlich überlieferten Texte, die

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Die Geschichte der Schönheit (Anm. 22) sowie Renate Lohse-Jasper: Die Farben der Schönheit. Eine Kulturgeschichte der Schminkkunst. Hildesheim 2000, die indes das gesamte Mittelalter nicht behandelt. Pastoureau: Blue (Anm. 13) sowie ders.: Black (Anm. 13). Vgl. dazu außerdem Dietmar Schuth: Die Farbe Blau. Versuch einer Charakteristik. Münster 1995 (Theorie der Gegenwartskunst. 5); Harald Haarmann: Schwarz. Eine kleine Kulturgeschichte. Frankfurt / M. [u. a.] 2005; Rudolf Gross: Warum die Liebe rot ist. Farbsymbolik im Wandel der Jahrtausende. Düsseldorf / Wien 1981 sowie speziell zum Spätmittelalter Stephan Selzer: Blau: Ökonomie einer Farbe im spätmittelalterlichen Reich. Stuttgart 2010 (Monographien zur Geschichte des Mittelalters. 57). Meier, Suntrup (Anm. 22); Ernst (Anm. 22). So zuletzt auch: Thomas Macho: Politik der Farben. In: Bildwelten des Wissens. Kunsthistorisches Jahrbuch für Bildkritik. Bd. 4,1: Farbstrategien. Berlin 2006, S. 43–52, hier S. 43. Batchelors „Polemik gegen die Farblosigkeit“, so Macho, ignoriere „die Realgeschichte der Farben“. Vgl. dazu besonders Christel Meier: The colorful Middle Ages. Anthropological, social, and literary dimensions of colour symbolism and colour hermeneutics. In: Tradition and Innovation in an Era of Change. Hrsg. von Rudolf Suntrup u. a. Frankfurt / M. [u. a.] 2001 (Medieval to early modern culture. 1), S. 227–255. Vgl. dazu z. B. David Bomford: The History of Colour in Art. In: Colour: Art & Science (Anm. 12), S. 7–30, hier S. 7, der seine Ausführungen ebenfalls im Hinweis auf die Polychromie des Mittelalters beginnt: „We can hardly begin to imagine how extraordinarily sumptuous medieval […] churches and palaces appeared – with their wall paintings, tapestries, painted architectural ornament, precious metals, enamels, and every kind of brilliant artifact.“

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ihren Rezipienten sprachgewaltig eine farbgesättigte Welt vor das innere Auge führen.29 „If any one era“, so Herman Pleij, „could be singled out as being the most obsessed with color, it would be the Middle Ages“.30 Dass die hier konstatierte Farbobsession des Mittelalters indes keinesfalls bloßer Ausdruck einer rein ästhetischen Vorliebe, einer interessenlosen Lust an der Farbe ist, wie Pleijs Untersuchung an einigen Stellen nahelegt,31 sondern dass sie wohl vor allem als Konsequenz jener theologisch grundierten Debatten gelten muss, wie sie bereits seit dem 9. Jahrhundert um die Farben geführt werden, das belegen mediävistische Studien unterschiedlicher fachlicher Provenienz bereits seit längerem. Im Rahmen literaturwissenschaftlicher Untersuchungen hat in diesem Zusammenhang die Lichtphilosophie des Johannes Scotus Eruigena aus dem 9. Jahrhundert besondere Aufmerksamkeit gefunden, der – auf Plotins Enneaden rekurrierend – das als göttlich definierte Licht allein als Ursache für die Schönheit der Farben ausmacht. Aus seiner Sicht sind Farben folglich Widerschein des Göttlichen, sie partizipieren aufgrund ihres Theophaniecharakters am göttlichen Licht.32 Es sind solche Semantisierungen der Farben im Kontext einer christlichen Heilsgeschichte, die ihre besondere Dignität gerade im Mittelalter festschreiben. Und es sind vor allem diese theologischen Farbdiskurse, die auch die Werke der bilden29

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Letzteres beobachtet schon Wilhelm Wackernagel: Die Farben- und Blumensprache des Mittelalters. In: Ders.: Kleinere Schriften 1. Leipzig 1872, S. 143–240. Vgl. dazu auch bereits Johan Huizinga: Herbst des Mittelalters. Studien über Lebens- und Geistesformen des 14. und 15. Jahrhunderts in Frankreich und in den Niederlanden. Hrsg. von Kurt Köster. Stuttgart 101969 (Kröners Taschenausgabe. 204), bes. S. 396–400. Pleij (Anm. 14), S. 4. Ähnlich schon Fritz Haeberlein: Grundzüge einer nachantiken Farbenikonographie. In: Römisches Jahrbuch für Kunstgeschichte 3 (1939), S. 77–126, hier S. 113, der von der Genese eines neuen „mittelalterlichen Kolorismus“ spricht. Zu den materialen Voraussetzungen mittelalterlicher Polychromie vgl. außerdem besonders: François Delamare, Bernard Guineau: Colour. Making and Using Dyes and Pigments. New York 2000, S. 39: „The palette of colors broadened considerably in the Middle Ages. In addition to the materials inherited from antiquity, many new pigments and dyes were created, better adapted to the new supports used in painting and other art forms. The great international textile industry of medieval Europe was largely responsible for stimulating the quest for new colors.“ Vgl. dazu schon H. Grunfelder: Die Färberei in Deutschland bis zum Jahre 1300. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 16 (1922), S. 307– 324. Zum Ausbau von „Farbordnungen zu komplexen Systemen“ im Mittelalter vgl. außerdem Macho (Anm. 26), S. 47. Vgl. dazu Pleij (Anm. 14), S. 44. Zur aus der Spätantike adaptierten Lichtphilosophie des Mittelalters vgl. bes. Wilhelm Perpeet: Ästhetik im Mittelalter. Freiburg / München 1997 und David C. Lindberg: Auge und Licht im Mittelalter. Die Entwicklung der Optik von Alkindi bis Kepler. Frankfurt / M. 1987, bes. S. 176ff. sowie Umberto Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. München 72007, bes. S. 67–78. Aus kunsthistorischer Perspektive haben sich z. B. folgende Arbeiten mit der mittelalterlichen Lichtphilosophie und ihren ästhetischen Implikationen auseinandergesetzt: Günther Binding: Die Bedeutung von Licht und Farbe für den mittelalterlichen Kirchenbau. In: Sitzungsberichte der Wissenschaftlichen Gesellschaft an der J. W. Goethe-Universität. Bd. XLI. Frankfurt / M. / Stuttgart 2003; Das leuchtende Mittelalter. Hrsg. von Jacques Dalarun. Darmstadt 2005.

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den Kunst und der Literatur des Mittelalters dokumentieren, reflektieren und kritisch perspektivieren, ja mehr noch, die schließlich auch die Ausbildung heraldischer und höfischer Farbencodes grundieren.33 Das intensive Studium einer mittelalterlichen Polychromie und der sie generierenden und tragenden Diskurse vermag es schließlich generell, so mein Eindruck, den Blick der Literaturwissenschaften für sprachlich-textuelle Verfahren der Farbdiskursivierungen und ihrer Geschichte zu schärfen. Ein Meilenstein ihrer Erforschung, so will es scheinen, ist sicherlich die intensive, synchron ausgerichtete Arbeit an der Erstellung des jüngst publizierten Lexikons der Farbenbedeutungen im Mittelalter.34 Eine solche Lexikalisierung von Farbbezeichnungen und deren Semantiken zieht fast zwangsläufig die Frage nach der Historizität solcher Zuschreibungen nach sich. Wie also eine Geschichte der sprachlich und bildkünstlerisch evozierten Farbsemantisierungen im Rahmen einer europäischen Kulturgeschichte vom Mittelalter bis in die Neuzeit zu schreiben wäre, diese Frage deutet auf ein kaum übersehbares Forschungsdesiderat. In dessen Kontext wären visuelle und sprachliche Verfahren der Farbsemantisierung als Teil sozialer und personaler Selbstbeschreibungspraktiken in ihren unterschiedlichen historischen Ausprägungen zu ermitteln. Will man sich diesem Unterfangen annähern, dann wäre wohl zunächst mit Christel Meier, Rudolf Suntrup und anderen davon auszugehen, dass – diachron betrachtet – die Modi kultureller Farbcodierungen von jenem grundlegenden Paradigmenwechsel beeinflusst sind, der sich mit den Namen Newtons und Goethes verbindet, einem Paradigmenwechsel, der besonders für die Arbeit an einer Geschichte literarischer Farbimaginationen und ihrer kulturellen und gesellschaftlichen Implikationen allererst erfasst und näher hin an Beispielen erläutert werden müsste. In einem programmatischen Artikel zum Lexikon der Farbenbedeutungen im Mittelalter beschreiben Meier und Suntrup diesen Paradigmenwechsel als einen Wandel der Farbendeutung, der sich von der oben erwähnten neuplatonischen Lichtmetaphorik Plotins hin zu einer Theorie erstreckt, die den Gefühlswert der Farbe, das Farberleben und die psychische 33

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Im Hinblick auf die volkssprachliche Literatur des Mittelalters ist der Einfluss der Lichtphilosophie auf Wolframs von Eschenbach Parzivalroman schon früh Gegenstand wissenschaftlicher Arbeiten gewesen. Vgl. dazu Peter Wapnewski: Wolframs Parzival. Studien zur Religiosität und Form. Heidelberg 21982 sowie zuletzt Michela Fabrizia Cessari: Der Erwählte, das Licht und der Teufel. Eine literarhistorisch-philosophische Studie zur Lichtmetaphorik in Wolframs ‚Parzival‘. Heidelberg 2000 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik. 32). Zu den Implikationen der Lichtphilosophie für die volkssprachliche Literatur des Mittelalters vgl. außerdem: Licht, Glanz, Blendung. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Leuchtenden. Hrsg. von Christina Lechtermann, Haiko Wandhoff. Bern [u. a.] 2008 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. N.F. 18). Vgl. dazu auch: Monika Schausten: Vom Fall in die Farbe. Chromophilie in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 130 (2008), S. 1–24 sowie dies.: Ein Held sieht Rot: Bildanthropologische Überlegungen zu Wolframs Parzival. In: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des Mittelalters. XXI. Anglo-German Colloquium, London 2009. Hrsg. von Ricarda Bauschke, Sebastian Coxen, Martin H. Jones. Berlin 2011, S. 177–191. Christel Meier, Rudolf Suntrup: Lexikon der Farbenbedeutungen im Mittelalter. CD-ROM. Köln / Weimar / Wien 2011.

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Wirkung der Farbe in den Vordergrund stellt.35 Goethes Farbenlehre markiere im Prozess dieses Wandels einen Umbruch zwischen zwei grundlegenden Theorien der Farbendeutung. Sei die Farbendeutung des Mittelalters vor allem „überindividuelle[r], gesellschaftsbezogene[r] und auch deiktische[r] Natur“36, so basiere der Interpretationsansatz seit Goethe vor allem auf dem „Gefühlswert der Farbe“.37 Damit sei für Goethe die sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe gemeint, mithin eine psychische Reaktion, die jeder Mensch theoretisch an sich selbst nachvollziehen könne. Doch auch diese neue Farbenlehre sei noch – wenigstens zum Teil – durch das tradierte Kulturwissen, durch die mittelalterliche Licht- und Farbtheorie geprägt. Denn im Gegensatz zu Newtons neuen Erkenntnissen zur Zusammensetzung des Lichts in seiner Dispersionslehre sehe Goethe das Licht als unteilbare, homogene Einheit höheren Ursprungs, welches sich dann getrübt im Medium der Farbe den Menschen darstelle.38 Die Farben seien demzufolge noch bei Goethe ein Abglanz des göttlichen, absoluten Lichts, Farbe sei Urphänomen und Symbol. Zeige sich hierin die Traditionsgebundenheit von Goethes Farbenverständnis einerseits, so markiere seine Farbenlehre dennoch andererseits einen Umbruch, eine Wende zur moderneren Farbendeutung,39 bringe er doch in sein platonisch beeinflusstes Konzept die Idee einer sinnlich-sittlichen Wirkung der Farbe ein. Auf diese Weise erzeuge Goethe eine labile Konstellation, in die neuere symbolische und ältere allegorische Farbendeutung eingingen. Seine Farbenlehre – d. h. die Theorie von der Farbe als Urphänomen und Symbol – sei mithin der Wendepunkt, an dem sich neue und alte Interpretationsmodelle überschnitten, bevor die alte Allegorie vollständig abgelöst worden sei.40 Es sind diese und ähnliche Überlegungen, die den Blick für eine noch zu schreibende Geschichte von bildkünstlerischen und sprachlichen Verfahren der Farbimagination und -semantisierung einfordern, die den thematischen, aber auch methodischen Rahmen der in diesem Band versammelten Beiträge aus der Älteren und Neueren Germanistik sowie der Kunstgeschichte abstecken. Anders als die erste große, synchron angelegte Bestandsaufnahme, die kürzlich von Ingrid Bennewitz und Andrea Schindler unter dem Titel Farbe im Mittelalter vorgelegt worden ist und die den vielfältigen Erscheinungsweisen der Farbe in Sprache, Literatur, Kunst und Architektur der Zeit gilt,41 richtet sich der hier vorgelegte Band besonders auf die Farben der in Literatur imaginierten Welten, auf ihre semantischen und diskursiven Implikationen sowie auf die bildkünstlerischen 35 36 37 38 39 40 41

Meier, Suntrup (Anm. 22), S. 390f. Ebd., S. 399. Zu Goethes Farbenlehre vgl. besonders Albrecht Schöne: Goethes Farbentheologie. München 1987. Meier, Suntrup (Anm. 22), S. 400. Ebd., S. 392. Ebd., S. 393. Ebd., S. 399. Farbe im Mittelalter. Materialität – Medialität – Semantik. Hrsg. von Ingrid Bennewitz, Andrea Schindler. 2 Bde. Berlin 2011 (Akten des 13. Symposiums des Mediävistenverbandes vom 1. bis 5. März in Bamberg).

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und literarischen Medien je eigenen Modi ihrer (kritischen) Reflexion und Verhandlung. Und schließlich sollen diachron die Verfahren ihrer Umcodierung vom Mittelalter bis in die neueste Zeit an ausgewählten Beispielen zumindest angedeutet werden. Im Anschluss an Bennewitz und Schindler, die einmal mehr programmatisch die „Relevanz der Farben“ für die mittelalterliche Gesellschaft betonen,42 gilt die Aufmerksamkeit der hier versammelten Beiträge somit ebenfalls der Medialität und der Semantik der colores, jedoch suchen die Autorinnen und Autoren insbesondere jenen sprachlichen und bildgebenden Verfahren auf die Spur zu kommen, die als Selbstbeschreibungstechniken mittelalterlicher und moderner Kulturen soziale, aber auch Konzepte personaler Identitäten über Farbcodierungen festlegen. Darüber hinaus gilt ihr Blick poetologischen und ästhetischen Verfahren der Reflexion solcher kulturell generierter Techniken. Alle gemeinsam gewähren die hier versammelten Beiträge zudem einen ersten, notwendig exemplarischen und lückenhaften Blick auf eine diachrone Entwicklung, die in Bezug auf die vielfältigen Verfahren der Farbcodierung, auf ihre Konstanz und Varianz, in Literatur und Kunst vom Mittelalter bis in die Gegenwart hinein erkennbar ist. Die hier vorgelegten Untersuchungen sind im Wesentlichen vier Aspekten verpflichtet, die freilich im Hinblick auf die einzelnen Beiträge und ihre thematischen Schwerpunkte stets miteinander in Beziehung stehen. Den Anfang des Bandes bilden jene Arbeiten, die sich vor allem poetologischen und ästhetischen Fragestellungen widmen. Diese werden an literarischen Texten und Bildern der Antike, des Mittelalters sowie des 18. und 19. Jahrhundert erprobt. Eingeleitet wird dieser Teil durch den Beitrag von Ulrich Ernst, der die Geschichte einer polychromen Poetik und Ästhetik von der Antike bis in die Gegenwart verfolgt. Er beginnt seine die lange Dauer der polychromen Poetik aufzeigende Darlegung mit einer Kennzeichnung antiker Buntschriftstellerei als literarische Gattung, die sich durch ein breites Themenspektrum und die Verschiedenartigkeit von Textsorten auszeichnet, um anschließend denjenigen Funktionen nachzugehen, die topischen Rekurrenzen auf eine polychrome Metaphorik, wie sie sich z. B. in der Rede von den colores rhetorici in antiken Rhetoriken niederschlägt, eignet. Während diese im antiken Kontext die differentiellen Modi ambitionierter Rede bezeichne, werde sie in den mittelalterlichen Poetiken zudem auf die Figurenlehre übertragen. Ernst verweist im Blick auf zahlreiche volkssprachliche und lateinische Beispiele auf die große Bedeutung, die eine „polychromiezentrierte […] Literaturästhetik“ im hohen Mittelalter erlangt. Er deutet weiter auf eine nahezu enzyklopädische Ausweitung des antiken Konzepts der Buntschriftstellerei in der manieristischen Poetik Tabourots und bei Montaigne. Im 18. Jahrhundert dann träten Poetologie und Polychromie in ein gänzliches neues, einen Gattungswechsel indizierendes Verhältnis. Paradigmatisches Beispiel hierfür ist Ernst der Tristram Shandy des Laurence Sterne, der – dem Subgenre des visuellen Romans zugehörig – mit einer ganzen Reihe neuer optischer Konzepte aufwartet. Und im 19. Jahrhundert manifestiere sich die poetologische Relevanz von Farbkonstel42

Ebd.: Vorwort, S. 11.

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lationen nicht mehr allein in epischen, sondern auch in lyrischen Gattungen. Im Roman des 20. Jahrhunderts schließlich grundiere die Polychromie dessen Makrostruktur. In der Überschau erweist sich Polychromie als eine poetologische Chiffre in vielfältigen literarischen Verwendungszusammenhängen. Während indes in der antiken Literatur Farbkonstellationen vorwiegend das Spektrum des Wissens illustrierten, fungierten sie in der Moderne und Postmoderne primär als „literarische Organisationsformen des experimentellen Romans“.43 Wenn Udo Friedrich sich den bunten Pferden des höfischen Romans im 12. und 13. Jahrhunderts zuwendet, dann lotet er erstmals die Funktion von Farballusionen im Rahmen mittelalterlicher Poetologie exemplarisch aus. Im Kontext strukturalistischer und semiotischer Theoreme weist Friedrich den erzählten colores zunächst den Status von polyvalent einsetzbaren Zeichen zu, insofern sie sowohl symbolisch als auch syntagmatisch und paradigmatisch Korrelationen zu unterschiedlichen Referenzsystemen stifteten. Dabei könnten die erwähnten Farben und Farbkonstellationen je eigene und unterschiedliche Semantiken nach sich ziehen. Gerade der höfische Roman entwickle komplexe Farbordnungen, die weit über die natürlichen Zeichenordnungen hinaus zu einer komplexen Farbpoetik ausgebaut würden. Wichtiger Bestandteil dieser Farbpoetik seien solche visuellen Zeichen, die im Rahmen der descriptio die Gestalt eines BildIkons, eines Diagramms oder einer Metapher erhielten und so unmittelbare oder mittelbare Bilder erzeugten. Im Roman, so zeigt Friedrich an einzelnen Beispielen, erhielten die erzählten Pferde nicht allein eine rein sprachlich symbolische Funktion, sondern darüber hinaus könne ihr in der descriptio erzeugtes Erscheinungsbild zugleich die Gestalt eines Diagramms annehmen (Enites Pferd). Die konstruierte Anordnung von Flächen, Linien und Punkten und die ihnen zugewiesenen Farben auf der imaginierten Haut der Tiere machten Kontraste, Symmetrien und Korrespondenzen beschreibbar. Bild-Ikon, Diagramm und Metapher bildeten mithin nicht nur unterschiedliche Ausprägungen ikonischer Zeichen, sie könnten in der descriptio auch zusammenfallen. Farben seien in diesem Zusammenhang „Einschreibeflächen für die Aktivierung kultureller Semantiken, die aus einem Archiv konkurrierender Codes ausgewählt [würden], aus Oppositionen, Korrespondenzen und Graduierungen ihre Geltung [bezögen] und über die descriptio visuell umgesetzt [würden].“44 Helga W. Kraft unternimmt in ihrem Beitrag zur komplexen Farbimagination und -symbolik in Goethes Märchen den Versuch, den Interferenzen zwischen den literarischen Farbimaginationen und -symboliken und der naturkundlich orientierten Farbenlehre des Autors nachzugehen. Gegenüber jener strikten Trennung von Natur- und Geisteswissenschaften, wie sie sich seit dem 19. Jahrhundert ausbildete, so ihre These, vertrete Goethe gerade im Hinblick auf die Gestalt seiner Farbenlehre eine seiner Zeit durchaus vertraute Verknüpfung unterschiedlicher Aspekte, gehe es ihm doch um eine naturwissenschaftliche, psychologische und kulturgeschichtliche Perspektivierung der 43 44

Vgl. den Beitrag von Ernst im vorliegenden Band, S. 63. Vgl. den Beitrag von Friedrich im vorliegenden Band, S. 71.

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Farben. Und eben diese basale, prinzipielle Integration von verschiedenen Hinsichten auf die Farben grundiere, so Kraft weiter, auch die Gestaltung des allegorisch und symbolisch komplex gestalteten Märchens. Dessen gesellschaftsutopischer Aspekt erschließe sich indes keinesfalls in Gänze durch die bloße Applikation der farbentheoretischen Einsichten auf seine Farbgebung. Denn Das Märchen verweise eben nicht allein auf naturwissenschaftliche und psychologische Aspekte der Farbauslegung. Vielmehr eigne den Farballusionen und -semantiken der Erzählung eine magisch-mythische Dimension, die die Möglichkeit einer kulturgeschichtlichen Evolution insofern andeute, als der Weg des Menschen in eine ideale Gesellschaftsordnung nicht zuletzt als abhängig von seinen Fähigkeiten geschildert werde, die nicht immer deutlich markierte Botschaft der Farben lesen und verstehen zu können. In ihrem Beitrag zur kunsttheoretischen Polychromiedebatte des 19. Jahrhunderts verweist Saskia Haag auf die kaum zu unterschätzende kulturgeschichtliche Brisanz, die mit der Entdeckung einer farbigen Antike in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einherging. Die prinzipielle und auch empirisch begründete Skepsis gegenüber dem klassizistischen Dogma einer weißen Antike, wie sie programmatisch in Gottfried Sempers Abhandlung über bemalte Architectur und Plastik bei den Alten (1834) zum Ausdruck gebracht wird, lässt die mit dem Weiß verbundenen Implikationen von Einmaligkeit und Vorbildhaftigkeit einer kulturelle Orientierung verheißenden Epoche brüchig werden. Der zum Politikum avancierende ästhetikgeschichtliche Umbruch korreliere, so Haag, mit einem Medienwechsel in der Altertumskunde, in dessen Verlauf die den Klassizismus tragenden Medien von Zeichnung und Druckgraphik erst allmählich durch neuere Formen der Chromolithographie abgelöst worden seien. Die Buchkonzeption von Sempers Abhandlung lege von diesen Darstellungsschwierigkeiten einer bunten Antike beredtes Zeugnis ab: Dessen Einband suche die bunte Antike in Schwarzweiß ins Bild zu setzen, ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen, auf dessen Paradoxie Semper selbst in seinem Text aufmerksam gemacht habe. Wie Literatur und Kunst gesellschaftliche Ordnungen und Identitätsentwürfe sowie Konzepte ihrer Interdependenz über komplexe, aber auch stereotype Systeme farblicher Codierung generieren, reflektieren und kritisieren, diese Frage steht im Mittelpunkt der sich anschließenden Arbeiten, deren Schwerpunkt vor allem die höfische Literatur des Mittelalters bildet. Heike Sahm widmet sich zunächst einer Grundkonstellation des heroic age, nämlich dem Zusammenhang von Goldbesitz und Herrschaft. Die in der historischen Forschung etablierte These, der zufolge Schatzbesitz als einer der wesentlichen Garanten von König- und Fürstenherrschaft im Mittelalter gelten kann, ist Sahm Anlass danach zu fragen, wie und im Hinblick auf welche Funktionen der Epiker des Nibelungenlieds um 1200 auf diesen Zusammenhang rekurriert. Dabei kann sie zeigen, dass das höfisierende Epos der Verbindung von goldenen Dingen bzw. goldenen Figuren und Herrschaft nicht unreflektiert das Wort redet, wenn auch der Zusammenhang von Gold und Herrschaft das erzählte Geschehen durchgehend grundiert. Der Epiker nutzt seine Kenntnis beim

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Publikum zu einer sehr differenzierten Verhandlung der herrschaftspolitischen Implikationen einer Gold-Herrschaft-Relation. Sahm zeigt, dass der Autor goldene Dinge mit einer handlungsindizierenden Funktion auch in solchen Fällen versieht, wo ihr soziale Superiorität zum Ausdruck bringender Besitz als Folge eines Betrugs erzählt ist. Sie zeigt weiter, wie der Autor den höfischen Topos der schönen Frau im Hinblick auf ihre goldene Erscheinung da erweitert, wo weibliche Figuren als Besitz eines männlichen Herrschers inszeniert sind. Die unzähligen Repliken auf einen tradierten Zusammenhang des heroic age dienen im Nibelungenlied der Zeit um 1200 aber letztlich einmal mehr der Akzentuierung eines doppelbödigen Geschehens um Herrschaft und Intrige. Dass das häufig in der Heldenepik mit dem Hinweis auf goldene Dinge verbundene Motiv einer Korrumpierbarkeit durch Goldbesitz im Nibelungenlied auffallend in den Hintergrund gedrängt ist, indiziert für Sahm letztlich die Komplexität einer schriftliterarischen Gesellschaftsdarstellung, eben weil sich die Motivation ihrer Träger zum politischen Handeln keinesfalls in einer plumpen Gier nach Gold erschöpft. Am Beispiel von Wolframs von Eschenbach Parzival geht Haiko Wandhoff jenem Zusammenhang nach, der im Text zwischen heraldischen und allegorischen Farbdiskursen erkennbar ist. Diese würden weiter bezogen, so seine These, auf eine dritte, häufig nicht beachtete chromatische Ebene, nämlich die der Schrift. So ist das selbst gestaltete Wappen des von Wolfram als Figur in den Stoff allererst eingeführten Gahmuret in Wandhoffs Lesart nicht allein Zeichen für den sozialen Status der Figur, die einen festen Ort, eine Verankerung, allererst finden muss; nein, der Autor selbst stellt im Zeichen des Ankers, das dem W seines Namens im Bild ähnlich ist, sein eigenes Verfahren des Fingierens aus. Auch in der Konstruktion des schwarz-weiß-gescheckten Feierfiz – einer Figur, deren Äußeres explizit mit der Schrift verglichen werde und auf deren Existenz im Brief des Gahmuret an Belakane zunächst schriftlich Bezug genommen werde – zeige sich wie später auch in der Blutstropfenepisode das Verfahren des Autors, Figuren im Kontext von heraldischem und farballegorischem Diskurs als Orte poetologischer Selbstreflektion zu inszenieren. Wolfram kombiniere die verschiedenen Aspekte der Farben so, dass immer wieder die Grenze zwischen Erzählinhalt und Erzählakt durchlässig werde. Der besonderen Signifikanz, die der höfische Roman in der Figur des monochromen Ritters der Differenz von Polychromie und Einfarbigkeit im Hinblick auf die Konstruktion höfischer Idealität zuschreibt, widmet sich Bruno Quast an zwei heterogenen Beispieltexten. So kann er am Beispiel der Joie de la Court-Episode in Hartmanns Erec durch einen Vergleich mit der Chrétienschen Vorlage zunächst nachweisen, dass Hartmann die Polychromie als Signum höfischer Idealität allererst einführt. Denn die Vielfarbigkeit des Palas, die bei Chrétien nicht beschrieben ist, wird hier mit der durchgehend schwarzen Kleidung der darin trauernden Witwen kalkuliert kontrastiert, um in der Spannung von Vielfarbigkeit und Monochromie ideale Ordnung und Ordnungsstörung sinnfällig zu machen. Dass primär nicht die Farben selbst mit einer bestimmten Semantik versehen werden, sondern dass es die Einfarbigkeit selbst ist, die eine Ordnungsstö-

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rung indiziert, weist Quast in Bezug auf den roten Ritter Mabonagrin nach. Am Beispiel der mittelenglischen romance ‚Sir Gavain and the Green Knight‘ sucht er sodann die semantischen Implikationen des grünen Ritters zu ermitteln. In der um 1400 entstandenen Ritterromanze gerinne die Einfarbigkeit, so die These, schließlich zum Signum einer moralischen Einfarbigkeit Gaweins, deren Hypertrophie dem Verlachen des Artushofes preisgegeben werde. Am Beispiel ausgewählter Texte besonders des 19. und 20. Jahrhunderts macht schließlich Dagmar C. G. Lorenz auf die Persistenz jener literarischer Konstruktionen des Jüdischen aufmerksam, die in einer nahezu topischen Rekurrenz vieler Autoren auf spezifische Farballusionen als Teil ihrer Figurenbeschreibungen erkennbar ist. Im Anschluss an die einschlägigen Arbeiten Ruth Klügers zeigt Lorenz zum einen, wie etwa Texte Veza Canettis die Vielgestaltigkeit ihrer jüdischen Figuren insistierend betonen, indem sie in einer expliziten Auseinandersetzung mit stereotypisierten Haar- und Körperfarben der literarischen Tradition gegen eine fast schon kanonisierte Abwertung jüdischer Charaktere im Rückgriff auf eine dieser gegenüber komplexere Farbpalette anschreiben. Lorenz entfaltet zum anderen an Texten Wilhelm Raabes und Gustav Freytags, wie sehr eine pejorative Darstellung jüdischer Figuren durch kalkulierte Verweise auf eine schwarze oder rote Haarfarbe sowie eine nicht ganz weiße Körperfarbe setzen kann. Solche Darstellungspraktiken sind, so Lorenz weiter, keineswegs mit dem Holocaust obsolet geworden. So greife nicht allein Günther Grass in der Blechtrommel für die verächtliche Beschreibung des Juden Fejngold die implizite Semantik der roten Haare auf; noch Autoren wie Martin Walser bedienten sich der etablierten diskriminierenden Farbsemantiken. Es seien besonders Werke von Edgar Hilsenrath und Irene Dische, die nach dem Zweiten Weltkrieg die literarisch tradierte Diskriminierungspraxis des Jüdischen durch Farballusionen dekonstruierten, indem sie ihre Narrative subversiv im Kontext gängiger Farbstereotypen entfalteten. Insgesamt zeigt Lorenz’ exemplarische Geschichte pejorativer Judendarstellungen im Kontext diskriminierender Farbsemantiken einmal mehr, wie sehr poetisch-ästhetische Verfahren zur Vorbereitung politischer Gewaltakte dienstbar gemacht werden können. Den Farben schreibt sie als Teil dieser literarischen Diskriminierungspraxis eine nicht geringe Rolle zu, sprächen diese doch die Sinne und nicht den Intellekt an, so dass die mit ihnen assoziierten Abwertungen des Jüdischen gerade in ihrer Suggestionskraft auf die Textrezipienten ein probates Mittel zur Gewaltvorbereitung durch Indoktrinierung darstellten. Weitere Arbeiten widmen sich sodann Themen, die dem Gegenstandsbereich einer Historischen Anthropologie entnommen sind. In ihnen werden Körperkonstrukte, Geschlechtsidentitäten und affektive Dispositionen verhandelt, wie Literatur und Kunst sie in Mittelalter und Neuzeit im Rekurs auf Farbsemantisierungen generieren. Zunächst entfaltet Elke Brüggen, wie sehr die Figurendarstellung in Wolframs Parzival in kalkuliertem Rekurs auf das Farbschema der topischen Schönheitsdescriptio erfolgt. Brüggen argumentiert an der Schnittstelle zwischen Poetologie und historischer Anthropologie, wenn sie das spezifische Verfahren der Colorierung des Weiblichen

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durch Wolfram näher hin unter die Lupe nimmt. Sie legt dar, dass der Autor die etablierten Verfahren der Figurendescriptio subvertiert, besonders, wenn es um die narrative Kennzeichnung weiblicher Figuren im Kontext des für deren Beschreibung konstitutiven weiß-roten Farbschemas geht. Am Beispiel der Jeschute-Episode zeige sich, dass Wolfram die Figur – anders als Chrétien – gerade im Hinweis auf deren besonders hervorstechende Körperfarben einem voyeuristischen Blick des Rezipienten preisgebe, indem er seinen Erzähler etwa die roten Lippen ihres Mundes zum Anlass nehmen lasse, über deren erotisierende Wirkung zu sinnieren. Mittels seiner Erzählerfigur sexualisiere Wolfram gerade über die Farballusionen den imaginierten Frauenkörper auch da, wo er aufgrund seiner Bestrafung durch den Ehemann als malträtierter Körper beschrieben werde. Wo Chrétien die Versehrung des weiblichen Körpers betone, überblende der deutsche Autor die Imagination des versehrten Leibes durch obszön anmutende Anspielungen. In diesem Verfahren einer eindeutig-zweideutigen Beschreibung der Jeschute erkennt Brüggen schließlich die Bindung eines Gewaltdiskurses an das rot-weiße Farbschema der Schönheitsdescriptio. Andreas Kraß wendet sich in seinem Beitrag dem Trojanerkrieg Konrads von Würzburg zu, einem Roman, in dem die narrative Vergegenwärtigung von Liebe, Trauer und Freundschaft, so die These, konzeptionell im Rekurs auf die ästhetischen Farbregister des Polychrom-Höfischen erfolge. Diesen Registern, so Kraß, komme bei Konrad eine geradezu epiphanische Funktion zu. So stehe der kalkulierte Hinweis auf das Naturschauspiel des vielfarbigen Regenbogens für Helenas Schönheit ebenso wie für den Moment der Liebesentzündung beim Protagonisten. Gegenüber den stofflichen Vorlagen indes erfolge besonders die Darlegung der Freundschaft zwischen Achill und Patroklos im Rekurs auf die Vielfarbigkeit des Höfischen. Besonders im Kontext seiner Darstellung des Todes setze Konrad den höfischen Farbencode als Zeichen einer besonderen Präsenz unverbrüchlicher Freundschaft über das Ende hinaus ein. Denn der Autor rekurriere bei der Darstellung von Achills Trauer gerade nicht auf das durchaus übliche Verfahren, den Zustand der Trauer des Helden im Hinweis auf eine Entfärbung seiner Körperfarben zu markieren. Vielmehr kennzeichne Konrad den Körper des Achill auch beim Trauern dezidiert im Hinweis auf seine strahlende Farbigkeit, die der des toten Freundes korrespondiere: „Der tote und der trauernde Freund“, so Kraß, „verschränken sich in der imaginären Vorstellung einer bunten Blumenwiese.“45 Am Beispiel von Judith Schalanskys Roman Blau steht dir nicht aus dem Jahr 2009 geht Barbara Kosta jenen Codierungen nach, die mit der Farbe Blau im Verlauf ihrer Kulturgeschichte, besonders aber seit dem 19. Jahrhundert, verbunden sind. Schalanskys autobiographisch geprägten Roman über eine Jugend in der ehemaligen DDR liest sie als konsequente Reflexion auf eine implizit geschlechterdifferent organisierte Kulturgeschichte der Farbe Blau. So deute bereits der Titel auf jene Zuschreibung der Farbe Blau zur Konzeption männlicher Identität, wie sie sich bereits seit dem 18. Jahrhundert 45

Vgl. den Beitrag von Kraß im vorliegenden Band, S. 235.

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durchgesetzt habe. Bei Schalansky ermöglichten die Rekurrenzen auf Blaues (auf das Meer, auf Matrosenanzüge etc.) bezogen auf ihre Protagonistin die poetische Analyse einer weiblichen Jugend in der DDR. Denn so sehr diese auch grundiert sei von jenen Konnotationen des Blau, die auf die romantische Sehnsucht der jungen Frau nach fremden Welten und fernen Orten deuteten, so sehr bleibe die jugendliche Protagonistin doch gefangen in ihren Möglichkeiten. Denn die geschilderten Ausflüge in die Ferne vollzögen sich doch stets allein im Kopf einer Protagonistin, die erkennen müsse, dass die mit einer spezifisch männlichen Farbe einhergehenden Verheißungen eines selbstbestimmten Lebensentwurfs ihr letztlich nicht zustünden. Dem Imaginären, den in Literatur und Kunst sowie in der Geschichte der Kartographie generierten Weltbildern, gehen im Zusammenhang dieses Teils zwei weitere Autoren nach. Der Besonderheit der Farbe Weiß, die ihr gemeinsam mit Schwarz seit der Antike als Ausgangs- oder Grenzfarbe zugesprochen wird, gilt das Interesse von Inge Stephan. Am Beispiel von Caspar David Friedrichs Eismeer, Alfred Anderschs Hohe Breitengrade und Gerhard Richters Eis geht sie der Geschichte einer dichten Metaphorisierung und polyvalenten Semantisierung der Farbe Weiß im Kontext des arktischen Diskurses im 19. und 20. Jahrhundert nach. Gegenüber dem sachlich-nüchternen Duktus jener Berichte, die Polarforscher wie Parry anfertigten und die in ihrer Zeit auf breites Interesse stießen, leisteten bildkünstlerische und literarische Arbeiten einen ganz eigenen Beitrag zum Diskurs des Arktischen in ihrer Zeit, insofern sie sich auf je eigene Weise in die dominanten kulturellen Codierungen der weißen Farbe als Ausdruck des aufklärerischen Erhabenen, aber auch als Synonym für Katastrophe und Schrecken einschrieben. So ließe sich an Caspar David Friedrichs Eismeer eine Konfliktstruktur aufzeigen, insofern das Bild mitnichten allein auf den bereits bei Kant mit Eispyramiden illustrierten aufklärerischen Erhabenheitsdiskurs rekurriere, sondern auch und zugleich auf eine Metaphorisierung des Weiß als Zeichen politischer Restauration und Erstarrung. Auch Alfred Andersch rekurriere in seinem Reisebericht auf den Diskurs des Erhabenen; anders jedoch als Friedrich zitiere er diesen, um Raum zu schaffen für poetologische Diskurse: Die Reinheit des Eises ist Chiffre für eine Entleerung, die auch die Möglichkeiten seiner sprachlichen Beschreibung betrifft, wie das der Natur adäquate Schreiben überhaupt. Und Gerhard Richter schließlich, der wohl in Auseinandersetzung mit Friedrich sein unscharfes Gemälde des Eises von allen klaren Konturen und blauen Fluchtpunkten wie auch von jedem Hinweis auf menschliche Zivilisation befreit, kommentiere mit seinem Bild die Überdetermination des arktischen Diskurses in der westlichen Kulturgeschichte und markiere somit einen Abschied vom aufklärerischen Erhabenheitsdiskurs. Jörg Döring erläutert an ausgewählten Beispielen aus der Geschichte der Kartographie den Anteil, den die Farbgebung der Karten für die Ausbildung von historisch je spezifischen Weltbildern selbst in diesem im Gegensatz zu Literatur und Kunst deutlich referentielleren Medium hat. Dabei führt er im kritischen Rekurs auf die kartographiewissenschaftliche Kernthese, der zufolge die Geschichte der Landkarten in eine vorwis-

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senschaftliche Phase vor 1800 und eine wissenschaftliche Phase nach 1800 einzuteilen sei, aus, dass die Farbgebung der Karten auch in der vermeintlich wissenschaftlichen Phase keinesfalls ausschließlich einer gegenstandsadäquaten Darstellung unterworfen sei. Die in der Forschung behauptete Entwicklung im Hinblick auf die Farbgebung der Landkarten von dekorativ zu szientistisch, von referentiell zu differentiell sei einem optimistischen Fortschrittsgedanken geschuldet, den ein näherer Blick auf das Material selbst zu relativieren gezwungen sei. Dass es keine „unschuldige Objektivität der Landkarte“46 gebe, zeige sich bis ins digitale Zeitalter hinein nicht zuletzt in der langen Dauer ihrer Farbgebungsverfahren. So reproduzierten noch die digitalen Karten des GoogleEarth-Zeitalters auf verblüffende Weise alte geographische Ungleichheiten der traditionellen Kartographie, wenn sie Länder der Dritten Welt gegenüber denen der Ersten Welt in nur grob aufgelösten Bilddaten darstellten. Aus dem „einstmals dunkle[n]“ sei im digitalen Zeitalter der „unscharfe Kontinent“ geworden.47 Im letzten Teil des Buches sind zwei kunsthistorische Beitäge der Medialität der Farben in Vormoderne und Gegenwart gewidmet. Für den Bereich der devotionalen Literatur des 15. Jahrhunderts geht zunächst Silke Tammen am Beispiel eines wohl im kartäusischen Kontext entstandenen Andachtsbuches aus dem 15. Jahrhundert dezidiert dem medialen Aspekt der Farbe nach, wenn sie nach den produktionsästhetischen Implikationen des unter Egerton 1821 rubrizierten Manuskripts fragt. In diesem ganz außergewöhnlichen Buch nämlich würden, so Tammen, „alle medialen Register der Andacht gezogen“.48 Tammen interessieren besonders die nicht bebilderten, „ikonisch aufgeladene[n]“49 schwarzen und rot blutenden Seiten, von denen einige mit Holzschnitten beklebt sind. In den christologisch codierten und deiktisch fungierenden Farbfolios erkennt Tammen das Bemühen, etwa die rote Farbe als Blut be-greiflich zu machen. Anschauung und Betasten jener Seiten ermöglichten im Kontext spätmittelalterlicher Andachtspraxis eine Introspektion des Betrachtenden, dessen Erinnerungsfähigkeit und Christusliebe durch die Anschauung und das Berühren der Farbe gesteigert würden. Und insofern seien die Farben der in Rede stehenden Folios Träger von Gefühlswerten. Irma Trattner schließlich wendet sich den besonderen medialen Formen einer Rekurrenz auf die Heimsuchung Jacopo Pontormos (1528) in der Videokunst der Gegenwart zu. Trattner legt zunächst die Besonderheiten der Farbgestaltung Pontormos im Kontext zeitgenössischer Praktiken dar und zeigt auf, dass dieser die Farben seines biblischen Motivs mit einer besonderen Lichtqualität versehe. Diese sei unabhängig von äußerer Beleuchtung und ermögliche die bildkünstlerische Darstellung eines Urbild-AbbildVerhältnisses, so dass die von Pontormo inszenierte Heimsuchung in ihrer Bezogenheit auf einen göttlichen Ursprung gestaltet sei. Die Video-Klang-Installation The Greeting (1995) des amerikanischen Künstlers Bill Viola adaptiere Pontormos Heimsuchung auf 46 47 48 49

Vgl. den Beitrag von Döring in diesem Band, S. 273. Vgl. ebd., S. 300. Vgl. den Beitrag von Tammen in diesem Band, S. 313. Vg. ebd.

Die Farben imaginierter Welten in Literatur und Kunst

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eine spezifische Art und Weise. Er stelle mit modernen technischen Mitteln das Bild des Renaissancekünstlers nach. Dabei entfalte er das alte Gemälde im Modus einer zeitlichen Abfolge. Viola inszeniere – Pontormos Darstellung leicht modifizierend – die Begrüßung von nur drei Frauen. Vor allem durch die Darstellung dieser Begrüßung in Zeitlupe rekurriere Viola insofern auf das Gemälde des Renaissancemalers, als seine Installation den spirituellen Aspekt der Begegnung durch die Verlangsamung des Gezeigten in den Mittelpunkt stelle. In ihrer Gesamtheit machen alle hier versammelten, notwendig exemplarischen Beiträge zu den imaginierten Farben in Literatur und bildender Kunst in Vormoderne und Neuzeit auf die Dimensionen eines bislang wenig beachteten Forschungsgegenstands aufmerksam, der einen besonderen Zusammenhang zwischen ästhetisch-poetologischen und diskurshistorischen Aspekten erkennbar werden lässt.

Poetologie und Ästhetik

Ulrich Ernst

Polychromie als literarästhetisches Programm Von der Buntschriftstellerei der Antike zur Farbtektonik des modernen Romans

Das Thema Farben hat im Jahr 2010 in der öffentlichen Wahrnehmung Deutschlands außerhalb der üblichen, immer wiederkehrenden Farbexplosion in der Karnevalszeit eine besondere Aktualität erlangt: Denkt man nur außenpolitisch an den Aufstand der Rothemden in Thailand und die grüne Revolution im Iran oder innenpolitisch an den Machtwechsel von Schwarz-Gelb zu Rot-Grün in Nordrhein-Westfalen und die ständigen Debatten um Koalitionen à la Ampel oder Jamaika – immer war die Farbe als Zeichenträger in den Medien omnipräsent. Einen regelrechten Farbenrausch, eine Farborgie par excellence bot in diesem Jahr die Fußballweltmeisterschaft im Regenbogenland Südafrika, deren Fernwirkung auch in Deutschland unübersehbar war: erkenntlich an bunten Trikots, Maskottchen, Vuvuzelas, Fahnen in Landesfarben, Gesichtstattoos und Autobeflaggungen. Multikoloristisch wurde zum Synonym für multikulturell, und Deutschland mutierte in jener Zeit, wie in der heimischen Presse1 zu lesen war, von der ‚Bundesrepublik‘ zur ‚Buntenrepublik‘. Die folgenden Überlegungen zu einem Themenkomplex, der bislang vor allem die Kunstgeschichte interessiert hat,2 schließen einerseits an eine ältere Studie zu Farbe und Schrift an, die sich der koloristischen Semantik von Skripturalität im Wandel der Epochen widmet,3 extrapolieren aber andererseits den auf Farbschrift fokussierten Ansatz auf das Feld der Literarästhetik, die sich, wie wichtige Quellen aus Antike, Mittelalter und Neuzeit zeigen, bei zentralen Fragen häufig und gezielt der Farbmetaphorik bedient. Nicht die poetologische Funktionalisierung einzelner Farben, sondern die Bedeutung des Gedankens der Vielfarbigkeit für die europäische Literaturtheorie, also letzt1 2

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Kölner Stadt-Anzeiger, 12. / 13. Juni 2010. Vgl. Lorenz Dittmann: Farbgestaltung und Farbtheorie in der abendländischen Malerei. Darmstadt 1987; John Gage: Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart. Übers. von Magda Moses, Bram Opstelten. Ravensburg 1994; für den Literaturwissenschaftler instruktiv: Jacques Le Rider: Farben und Wörter. Geschichte der Farbe von Lessing bis Wittgenstein. Übers. von Dirk Weissmann. Köln 2000. Ulrich Ernst: Farbe und Schrift im Mittelalter unter Berücksichtigung antiker Grundlagen und neuzeitlicher Rezeptionsformen (1994). In: Ders.: Facetten mittelalterlicher Schriftkultur. Fiktion und Illustration. Wissen und Wahrnehmung. Heidelberg 2006 (Beiheft zum Euphorion. 51), S. 253–322.

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lich eine Poetik der Polychromie, soll nach diesem gleichfalls diachronischen und dem Gedanken der longue durée verpflichteten, von der antiken Buntschriftstellerei bis zum experimentellen tektonischen Roman der Gegenwart4 reichenden Konzept im Fokus stehen und das Telos der Untersuchung bilden.

I.

Buntschriftstellerei und multikoloristische Rhetorik im Altertum

Das wohl bekannteste Paradigma der antiken Poikilographie5 sind die Noctes Atticae (Attische Nächte) des Aulus Gellius (125–170 n. Chr.)6, ein kompilatorisches Opus, in dem orale und skripturale Prätexte ohne rigide thematische Ordnung gespeichert sind. Das eklektische Werk lässt sich generistisch einerseits der Enzyklopädie subsumieren, andererseits als Präformation des Essays bzw. der Essaysammlung begreifen. Aus der Heterogenität der Quellen resultiert eine in sich disparate Darstellung, die unter den Leitbegriff der Polychromie gestellt wird, artikuliert doch der Römer im Prolog seines Werks: „Da ich nun die ursprünglichen Bemerkungen, welche den verschiedenartigen Bildungs- und Unterrichtsmitteln ihr Entstehen verdanken, kurz und ohne ordentlichen Zusammenhang verfasst hatte, so musste natürlich auch bei vorliegenden Aufsätzen eine Buntscheckigkeit der Notizen entstehen.“ [3, S. (12)] Der antike Autor stellt sich mit seinem miszellaneistischen Werk, auf memoriale Gattungsreferenz rekurrierend, in eine Tradition von Autoren, die schon im Titel programmatisch auf den buntschriftstellerischen Charakter ihrer Schriften verweisen: „Denn weil sie sich allerhand bunten und mannigfaltig untermischten Unterrichtsstoff zusammengesucht hatten, glaubten sie ebenso den Lesern ausgesuchte Ueberschriften vorsetzen zu müssen.“ [5, S. (2)] Als solche metaphorischen, die Gattungszugehörigkeit pointierenden, zur Sorte der Paratexte zählenden Titel nennt Gellius u. a.: Wälder, Gewand, Füllhorn, Blüten, Teppiche, Wiese und Fruchtallerlei [6–8, S. (2)], denen allen eine implizite bzw. konnotative, auf Polychromie abhebende Farbsymbolik gemeinsam ist. Gellius, wiewohl de facto selbst auch dem Genus der Buntschriftstellerei folgend, distanziert sich frappanterweise aber von den ‚hochtrabenden‘, sprechenden Titeln seiner Vorgänger und insistiert auf der Originalität seiner Titelwahl, mit der er auf die eigene, ganz individuelle Schreibsitu4

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Vgl. Ulrich Ernst: Typen des experimentellen Romans in der europäischen und amerikanischen Gegenwartsliteratur (1992). In: Ders.: Manier als Experiment in der europäischen Literatur. Aleatorik und Sprachmagie, Tektonismus und Ikonizität. Zugriffe auf innovatorische Potentiale in Lyrik und Roman. Heidelberg 2009 (Neues Forum für Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft. 39), S. 319–417, hier S. 320–338. Gernot Walter Krapinger: Poikilographie. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 6 (2003), Sp. 1393–1398. Aulus Gellius: Die attischen Nächte. Übers. von Fritz Weiss. Bd. 1 (I.–VIII. Buch). Darmstadt 1975 (Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1875).

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ation Bezug nimmt: „Weil ich diese Abhandlungen bereits während der langen Winternächte auf dem attischen Landgute […] zu meinem Zeitvertreib zu schreiben begonnen hatte, gab ich ihnen den Namen ‚attische Nächte‘.“ [4, S. (1)] Aber auch das Wort ‚Nächte‘ alludiert trotz evozierter Monochromie, gleichsam invers, noch auf die multikoloristische Titelgebung der speziellen Gattungstradition. Anders als Gellius, dessen poikilographisches Werk auch einen Diskurs über Farbbezeichnungen (II, 26) enthält,7 signalisiert der Grieche Claudius Aelianus (170/80–230/40 n. Chr.) schon durch die Titelwahl die Teilhabe seines Werkes an der Buntschriftstellerei, was sich auch in der betont lockeren Makrostruktur spiegelt: Seine Ποικίλη ἱστορία (Varia historia),8 welche die stattliche Zahl von 14 Büchern umfasst, verknüpft naturgeschichtliche Gegenstände mit diversen Anekdoten moralisierender Art zu einem gleichsam polychromen, vom Prinzip her schon narrativen Werkganzen. Bei den Römern erfolgt eine Bedeutungsverschiebung von der literarischen Generik und ihrer Buchform auf die Rhetorik, wurde doch schon in der Rhetorica ad Herennium (um 85 v. Chr.) der Grundstein für das spezielle Bild der Colores rhetorici zur Kennzeichnung des figürlichen Redeschmuckes im Kontext des hohen, mittleren und niedrigen Stils gelegt: „Omne genus orationis, et grave et mediocre et adtenuatum, dignitate adficiunt exornationes, de quibus post loquemur; quae si rarae disponentur, distinctam, sicuti coloribus […].“9 Später verbindet auch Cicero in seinem Dialog De Oratore (55 v. Chr.) die antike Lehre von den drei Stilen mit differenzierten Farbvorstellungen: Sed si habitum etiam orationis et quasi colorem aliquem requiritis, est et plena quaedam, sed tamen teres, et tenuis, non sine nervis ac viribus, et ea, quae particeps utriusque generis quadam mediocritate laudatur. His tribus figuris insidere quidam venustatis non fuco inlitus, sed sanguine diffusus debet color.10

Im Anschluss an diese diskursive Tradition hat schließlich der kaiserzeitliche Rhetoriker Quintilian unabhängig von der Trias der Stile die Polychromie als Metapher für die

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Vgl. Christel Meier: Von der Schwierigkeit, über Farben zu reden. In: Ästhetische Transgressionen. Hrsg. von Michael Scheffel, Silke Grothues, Ruth Sassenhausen. Trier 2006 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft. 69), S. 81–100, hier S. 86f. Claudius Aelianus: Bunte Geschichten. Übers. von Hedwig Helms. Leipzig 1990. Rhetorica ad Herennium. Hrsg. und übers. von Theodor Nüßlein. Darmstadt 1994, IV, 11, 16: „Jeder Redegattung, der erhabenen, gemäßigten und schlichten, verleihen die Ausschmückungen, über die ich später sprechen werde, Würde; wenn diese selten verteilt werden, machen sie die Rede deutlich und bestimmt wie durch Farben […]“. Cicero: De oratore – Über den Redner. Hrsg. und übers. von Theodor Nüßlein. 3. Auflage. Düsseldorf 2007, III, 52, 199, S. 406f.: „Aber wenn ihr nach der äußeren Form einer Rede und gewissermaßen nach irgendeinem Kolorit forscht: Es gibt den volltönenden und trotzdem fein geglätteten Stil, den schlichten, der aber nicht ohne Stärke und Kraft ist, und einen, der an beiden Arten teilhat und dessen Vorzug seine Mittelstellung ist. An diesen drei Stilformen muss eine gewisse Farbe anmutiger Schönheit haften, die nicht mit der Schminke aufgetragen wurde, sondern in Fleisch und Blut übergegangen ist.“

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vielfältigen Varianten des sprachlichen Ausdrucks in der ambitionierten Rede eingesetzt, wie man folgenden Ausführungen entnehmen kann: Non unus color prooemii, narrationis, argumentorum, egressionis, perorationis servabitur, dicet idem graviter, severe, acriter vehementer, concitate, copiose, amare, idem comiter, remisse, subtiliter, blande, leniter, dulciter, breviter, urbane, non ubique similis, sed ubique par sibi.11

Damit erfordert nach Quintilian die optimale und ideale Rede des Rhetors eine reiche und stark ausdifferenzierte sprachliche Instrumentierung bzw. Orchestrierung, für die bildlich statt der Monochromie eben die sich durch ein breites Farbenspektrum auszeichnende Polychromie steht.

II. Polychrome Poetik im Hoch- und Spätmittelalter Bezog sich die poetologisch orientierte Farbmetaphorik der antiken Schriftsteller entweder auf eine literarische Gattung, die sich durch bunte Vielfalt der Themen und Textsorten auszeichnet, oder auf die differentiellen Modi der ambitionierten Rede, so tritt sie im hohen Mittelalter verstärkt auf dem speziellen Sektor der Figurenlehre in Erscheinung. Schon im 12. Jahrhundert annonciert der Poetiker Matthäus von Vendôme als Gegenstände des dritten Teils seiner Ars versificatoria:12 „scemata vel tropi vel colores rhetorici“ (III, 2; S. 168) und bereitet damit der multikoloristischen Poetik des höfischen Romans den Boden. Der Dichtungstheoretiker Galfredus de Vinosalvo (gest. um 1200) entwirft in seiner Poetria nova13 sogar eine eigene Farbrhetorik mit der Disjunktion zwischen exteriorer und interiorer Redefärbung, wenn er zum Ornatus folgendes expliziert: „Sit brevis aut longus, se semper sermo coloret / Intus et exterius, sed discernendo colorem / Ordine discreto. Verbi prius inspice mentem / et demum faciem, cujus ne crede colori: / Se nisi conformet color intimus exteriori / Sordet ibi ratio […]“ (737–742; S. 220).14 Eine

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Marcus Fabius Quintilianus: Institutionis oratoriae libri XII. Hrsg. und übers. von Helmut Rahn. Darmstadt 1975, 2. Teil, XII, 10, 71, S. 784f.: „Nicht nur eine Färbung wird beim Prooemium, der Erzählung des Falles, der Beweisführung, dem Exkurs und der Steigerung am Redeschluß gewahrt werden. Der gleiche Redner wird bald gewichtig, streng, energisch, heftig, erregt, aus der Fülle oder bitter sprechen, bald freundlich, gelassen, genau, schmeichelnd, sanft, lieblich, knapp, oder witzig, nicht überall der Gleiche, aber überall sich selbst gleichwertig.“ Matthäus von Vendôme: Ars versificatoria. In: Les Arts poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Hrsg. von Edmond Faral. Paris 1971, S. 109–193. Ebd., S. 197–262. Vgl. die Übersetzung von Lambertus Okken: Kommentar zum Tristan-Roman Gottfrieds von Straßburg. Bde. 1–3. Amsterdam 1984–1988, Bd. 1, S. 228: „Gleich ob sie kurz oder lang ist, immer möge die Rede sich färben, innen und außen; aber mit verständiger Ordnung, wo es gilt, die Farbe zu bestimmen. Prüfe vorher den Geist des Wortes und danach das Gesicht des Wortes –

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ganze Farbreihe reklamiert er für den manieristischen Ornatus gravius bzw. Ornatus difficilis, unterscheidet er hier doch bei der Behandlung der Transsumptio zehn Redeblüten: „Sunt hinc inde decem, sex hinc et quatuor inde, flores verborum. Denarius iste colorum verba colorat ea gravitate, quod est alieno, non proprio, vox sumpta modo […].“15 Die von den lateinischen Präzeptoren für die erudite Dichtung verwendeten poetologischen Metaphern – u. a. flos, color, colorare, pingere, texere, textus – diffundieren nicht nur in der mittellateinischen Literatur, sondern finden früh auch Eingang in die volkssprachigen epischen Dichtungen des 12. und 13. Jahrhunderts. Für die auffällige Expansion von Vielfarbigkeit im Hochmittelalter sind neben literarischen Quellen und poetischen Fiktionen verschiedene kulturelle Ursachen verantwortlich: Die Neubewertung des Lichts im Kontext mit der Rezeption der pseudodionysischen Licht-Metaphysik, die Multikolorität und Transluzidität der mit biblischen Figuren und Szenen geschmückten Fenster in den gotischen Kathedralen,16 die sich auch im Abendland verbreitende farbenfrohe Heraldik, ein Import aus dem Orient, auf den die höfische Epik mit koloristischen Blasonierungen reagiert, und schließlich die extrovertierte Freude an polychromer höfischer Kleidung durch die tonangebende, auch in fiktionalen Personenbeschreibungen reflektierte französische Mode17 spielen hier interdiskursiv zusammen. Der neue Farbenthusiasmus manifestiert sich literarisch besonders in der Ekphrastik, die als Digression im höfischen Roman auch tektonisches Gewicht erhält, so früh schon bei Hartmann von Aue, der in seinem Erec (um 1180)18 bei der Beschreibung der Satteldecke der Enite prononciert, dass die darauf abgebildeten vier Elemente mitsamt ihren Bewohnern optisch nach Farben differenziert sind: „diu vier elementâ / stuonden schînbærlîchen dâ / in ir sundervarwe / und in iegelîchen garwe, / swaz dem undertænic ist“ (7594–7598).19 Die komplexe Tetradensymbolik aus Elementen und Farben in einem textilen Kontext ist allerdings keine Invention Hartmanns, sondern geht schon

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mißtraue dem Schein des Wortes! Wenn die innere Farbe nicht der äußeren Farbe entspricht, ist das Verhältnis zwischen beiden verfehlt.“ Ebd.: „Es gibt hier zehn – vier hier oben und sechs hier unten – Blüten der Worte. Diese Zehnergruppe der Farben färbt die Worte mit jener gravitas, welche daraus besteht, daß ein Ausdruck auf eine ihm fremde, ihm nicht eigene Weise aufgefaßt wird.“ Ulrich Ernst: Illumination und Transluzidität. Vom mythischen Palast zur christlichen Kathedrale. Zu Lichtinszenierungen in poetischen Architekturekphrasen. In: Interartifizialität. Die Diskussion der Künste in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Susanne Bürkle, Ursula Peters. Berlin 2009 (Sonderheft der Zeitschrift für deutsche Philologie. 128), S. 221–245. – An die Polychromie der mittelalterlichen Kathedralfenster knüpft noch Gerhard Richter mit seinem als abstraktes Farbenmosaik gestalteten Fenster im Kölner Dom an. Vgl. Gabriele Raudszus: Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik des Gewandes in der deutschen Epik des Mittelalters. Hildesheim 1985 (Ordo. 1), S. 220–225. Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von Manfred Günter Scholz. Übers. von Susanne Held. Frankfurt a. M. 2004. Vgl. Haiko Wandhoff: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin 2003 (Trends in Medieval Philology. 3), S. 157–180.

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auf Philo von Alexandrien (gest. nach 40 n. Chr.) zurück, der bereits die vier Farben von den vier Vorhängen in der alttestamentlichen Stiftshütte allegorisch mit den vier Elementen assoziiert und mit seinem quaternarischen Modell (Weiß: Erde; Rot: Wasser; Blau: Luft; Gelb: Feuer) die mittelalterlichen Exegeten stark beeinflusst hat.20 Vor dem Horizont der hochmittelalterlichen Poetik und Rhetorik wird plausibel, warum z. B. Gottfried von Straßburg21 an seinem Dichterkollegen Hartmann vor allem rühmt, „[…] wie der diu mære / beide ûzen und innen / mit worten und mit sinnen / durchverwet und durchzieret“ (4622–4625), womit er offenbar Galfreds Dichotomie von color intimus und color exterior appropriiert. Auch erklärt sich auf diese Weise, warum er seinem Zeitgenossen Bligger von Steinach als „verwære“ (4691) charakterisiert, dessen Werke gleichsam von vornehmen Damen auf ihren Stickrahmen aus Gold und Seide gefertigt wurden (4694f.): Gottfried kombiniert in diesem Dichterporträt die Farbmetaphorik mit der Gewebemetaphorik22 und stiftet somit einen Bund zwischen koloristischer und textualistischer Poetik. Ähnlich verfährt auch Wolfram von Eschenbach, wenn der Erzähler im Parzival23 im Kontext der Blutstropfenszene den im Mai überraschenden Schneefall unter dem Aspekt einer Verwebung von Disparatem wie folgt kommentiert: „diz mære ist hie vast undersniten / ez parriert sich mit snêwes siten“ (281, 21f.). Parrieren meint hier so viel, wie aus heterogenen Elementen zusammensetzen, und knüpft, da der Modeterminologie entstammend, an die Vorstellung von einem aus verschiedenfarbigen Stoffen gefertigten Kleid an.24 Mag auch in der Blutstropfenszene die Symbolik der Farbkombination von Weiß und Rot dominieren,25 so greift das poetologische Konzept des parrierten maere doch weiter, erfasst auch grundsätzlich die Figurenkonstellation, wenn Wolfram in seinem Prolog in programmatischer Metaphorik und mit moralischen Konnotationen schwarze, weiße und gemischte Menschentypen unterscheidet. In Wolframs höfischem Roman spielt auch ein visueller, stark heraldisierter Farbcode des Protagonisten eine große Rolle, der über weite Strecken der Erzählung von Wolfram als Roter Ritter in Szene gesetzt wird, aber auch die exotische Hautfarbe, wie z. B. im Fall von Belakane und Feirefiz, fungiert als wichtiges Kennzeichen und Attribut der Figuren.26 Wegen der 20 21 22 23 24 25 26

Redaktion: Farbensymbolik. In: Lexikon der christlichen Ikonographie 2 (1970), Sp. 7–14, hier Sp. 8. Gottfried von Straßburg: Tristan. Hrsg. von Rüdiger Krohn. Bd. 1. Stuttgart 1986. Vgl. Erika Greber: Textile Texte. Poetologische Metaphorik und Literaturtheorie. Studien zur Tradition des Wortflechtens und der Kombinatorik. Köln 2002 (Pictura et Poesis. 9). Wolfram von Eschenbach: Parzival. Bd. I–II. Hrsg. und komm. von Eberhard Nellmann. Übers. von Dieter Kühn. Frankfurt a. M. 1994. Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach. 8., völlig neu bearb. Auflage. Stuttgart 2004, S. 210. Vgl. Ulrich Ernst: Wolframs Blutstropfenszene. Versuch einer magiologischen Deutung. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 128 (2006), S. 431–466, hier S. 441–446. Vgl. Ulrich Ernst: Haut-Diskurse. Semiotik der Körperoberfläche in der Erzählliteratur des hohen Mittelalters. In: Körperkonzepte im arthurischen Roman. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Tübingen 2007, S. 149–200, hier S. 165–168.

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Verflechtung vielfältiger Wissensdiskurse aus heterogenen Gebieten steht der Parzival in seiner Multi- und Interdiskursivität darüber hinaus auch flagrant in der generistischen Tradition der enzyklopädischen Buntschriftstellerei. Kehren wir nochmals zur lateinischen Literatur des Mittelalters zurück, so lässt sich konstatieren, dass die drei klassischen Genera dicendi, genus sublime, genus medium und genus humile, weiter traditionsbewusst als colores metaphorisiert werden. Nachdem Vergils drei paradigmatisch stildifferente Dichtungen, Aeneis, Georgica und Bucolica, im Mittelalter auch als ein einziges dreigeteiltes Werk (Opus tripartitum) begriffen wurden, ist es im 10. Jahrhundert Walter von Speyer, bei dem die Formulierung: „triplicis succincta veste coloris […] Musa Maronis“ (Ausgestattet mit einem Gewand von dreierlei Farbe ist die vergilianische Muse)27 begegnet: Die koloristische Trias, wieder kontaminiert mit Textilmetaphorik, mutiert bei ihm zum Bild für eine auch im Mittelalter noch kanonische stilistische Trias. Die Darstellung der polychromiezentrierten Literaturästhetik des Hochmittelalters wäre unvollständig, wenn die in der theologischen Hermeneutik verwurzelte Theorie der Allegorese unerwähnt blieb, bei der mit Fokus auf Regenbogen (Ez 1,28), Vorhänge des Bundeszeltes (Ex 27,16) und Hohepriestergewand (Ex 28) im AT auch Vielfarbigkeit eine große Rolle spielt.28 Wie u. a. bei Garnerius von Rochefort im 12. Jahrhundert entwickelt, verwendet man in dieser Zeit eine auch für die allegoristische Dichtungstheorie relevante Gebäudemetaphorik, nach welcher das Fundament den literalen Sinn, die Wände die Allegorie und das Dach die Anagogie signifizieren, während der opulente Farbschmuck der Wände mit der Tropologie, dem moralischen Sinn, gleichgesetzt wird: Dum autem mysticum in ‚tropologia‘, intellectum per contemplationum investigat exercitium, […] spirituale aedificium diversis virtutibus, tam iis quae intus ad Dominum quam quae extra pertinent ad proximum, per moralitatis venustatem quasi distinctis pulchrorum colorum varietatibus ornat.29

Neben dem etablierten Modell des tetradischen Schriftsinns, das auch in der volkssprachigen Literatur des hohen Mittelalters noch präsent ist, tritt im 12. Jahrhundert u. a. bei Bernardus Silvestris die sog. Integumentum-Theorie30 hervor, nach der sich bei antik27 28

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Peter Vossen: Der Libellus Scolasticus des Walther von Speyer. Berlin 1962, S. 39, V. 103f.; Udo Kühne: Colores rhetorici. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 283–288. Zur Farballegorie vgl. Christel Meier, Rudolf Suntrup: Zum Lexikon der Farbenbedeutungen im Mittelalter. In: Frühmittelalterliche Studien 21 (1987), S. 390–478; Christel Meier: The Colourful Middle Ages. Anthropological Social and Literary Dimensions of Colour Symbolism and Colour Hermeneutics. In: Tradition and Innovation in an Era of Change. Hrsg. von Rudolf Suntrup, J. R. Veenstra. Frankfurt a. M. 2001, S. 227–255. Garnerius von Rochefort: Allegoriae in universam sacram scripturam, PL 112, 849C–850A; vgl. Hans-Jörg Spitz: Die Metaphorik des geistigen Schrifttums. Ein Beitrag zur allegorischen Bibelauslegung des ersten christlichen Jahrtausends. München 1972 (Münstersche Mittelalter-Schriften. 12), S. 215. Vgl. Ulrich Ernst: Lüge, Integumentum und Fiktion in der antiken und mittelalterlichen Dichtungstheorie: Umrisse einer Poetik des Mendakischen. In: Das Mittelalter 9, 2 (2004), S. 73–100, hier S. 94–96.

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paganen Dichtungen unter einer bunt schillernden Oberfläche lügenhafter Mythen und Fiktionen ein rationaler und doktrinaler Wahrheitskern, z. B. in Vergils Aeneis die anthropologische Lehre von den Lebensaltern des Menschen, verbirgt. Dass Fiktionen einem Text, mag dieser auch formal noch so perfekt sein, erst die nötige Farbe und ästhetische Wirkung verleihen, hat schon Plutarch auf der Basis der Affinität von Dichtung und Malerei pointiert: Wie bei den Bildern die Farbe stimulierender ist als das Zeichnen von Linien, weil es naturgetreu ist und eine Illusion erzeugt, so ist in der Dichtung Unwahrheit verbunden mit Wahrscheinlichkeit eindrucksvoller und befriedigender als ein Werk, das bezüglich Metrum und Diktion ausgearbeitet ist, dem aber Mythos und Fiktion fehlen.31

Die Integumentum-Poetik, die tektonisch von einem Schichtenmodell mit Oberflächenund Tiefenstruktur ausgeht, bot im Hochmittelalter nicht nur die Möglichkeit, die Rezeption antiker heidnischer Dichtung zu legitimieren, sondern auch den Weg für die ebenfalls auf nichtchristlichen, mythischen Grundlagen fußende Artusepik frei zu machen, die sich gern einer integumentalen Ekphrastik bedient. Ein bikoloristisches Konzept der Mischung von thematischen Diskursen verfolgt im späten Mittelalter Heinrich Wittenwiler in seiner epischen Dichtung Der Ring,32 weist doch die einzige erhaltene Handschrift (Bayerische Staatsbibliothek, Cgm 9300) alternierend vertikale rote und grüne Seitenlinien auf, die jeweils die intermittierenden, inhaltlich differenten, teils doktrinalen und teils schwankhaften Partien des Werkes anzeigen, wie es der Autor selbst in seinem Prolog artikuliert: „Die rot die ist dem ernst gemain, / Die grüen ertzaigt uns törpelleben“ (40f.).33 Konzepte der Buntschriftstellerei verbinden sich bei dieser montagehaften, polyphonen, auf Code-Switching basierenden Dichtung, die sowohl von einer karnevalistischen Schwank- wie auch von einer kognitiven Wissenspoetik bestimmt ist und verschiedenste Textsorten vom oralistischen Stumpfsinnsvers (6267–6278) bis zur skripturalistischen Epistel kombiniert, mit der von Horaz initiierten Literaturästhetik des Prodesse (rot) und Delectare (grün)34 sowie mit dessen satirischer Poetik des Ridentem dicere verum.35 Wittenwilers bifokale Dichtung, die einen holistischen Anspruch erhebt, spiegelt die Entwicklung der mittelalterlichen Epik hin zum enzyklopädischen Erzählen der frühen Neuzeit und antizipiert darüber hinaus Strukturen des modernen und postmodernen Romans: eine sich in triadischer 31

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Plutarch: Moralia. Hrsg. und übers. von Frank Cole Babitt. London 1969 (Reprint der Ausgabe von 1927–1936), Quomodo adolescens poetas audire debeat, Bd. I, S. 82f.; Wesley Trimpi: The Quality of Fiction. The Rhetorical Transmission of Literary Theory. In: Traditio 30 (1974), S. 1–118, hier S. 71; deutsche Übersetzung nach Arthur Quinn: Color. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik 2 (1994), Sp. 273–279, hier Sp. 275. Heinrich Wittenwiler: Der Ring. Hrsg. und übers. von Berhard Sowinski. Stuttgart 1988. Vgl. Ortrun Riha: Die Forschung zu Heinrich Wittenwilers „Ring“ 1851–1988. Würzburg 1990, S. 207–221. Wittenwiler verwendet die Begriffe „nutz“ und „tagalt“ (V. 50); vgl. Horaz: De arte poetica. Hrsg. und übers. von Eckart Schäfer. Stuttgart 1972, V. 333f. Horaz: Satiren. Hrsg. von Gerhard Fink. Übers. von Gerd Herrmann. Düsseldorf 2000, I, I, 24.

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Gliederung und zyklischer Form ausprägende prägnante Tektonik, ein bis an die Grenzen der Unsinnspoesie dringendes Experimentieren mit Sprache, Visualisierungsstrategien durch Portal-Miniaturen und Farbmarkierungen und schließlich das Verfahren der Permutation durch nichtlineare Textdarbietung und Angebote multioptionalen Lesens.

III. Estienne Tabourots Bigarrures und die manieristische Poetik der Renaissance Bei der Verfolgung der multikoloristischen Poetologie bildet die Renaissance eine weitere epochale Station, die durch den französischen Gelehrten Estienne Tabourot repräsentiert wird, der vermutlich 1549 in Dijon geboren wurde und nach Studien in Paris und Toulouse verschiedene öffentliche Ämter in seiner Heimatstadt bekleidet hat. Außer seiner juristischen Tätigkeit war er Zeit seines Lebens literarisch produktiv, verfasste sogar bereits mit fünfzehn Jahren artistische Carmina figurata nach dem Vorbild des Simias von Rhodos und Optatianus Porfyrius. Mit dem Titel seines 1588 in Paris erschienenen Werks Bigarrures (Buntscheckiges),36 der in der Préface auf die traktierten „diverses matieres“ (p. 25) bezogen wird, annonciert Tabourot eine bunte Vielfalt manieristischer Sprachspiele, die im Text mit zahlreichen Zitaten exemplifiziert werden. Seiner Ansicht nach ähneln die Bigarrures türkischen Teppichen, was sich u. a. als Allusion auf die ebenfalls zur Buntschriftstellerei zählenden Stromata des Kirchenvaters Clemens von Alexandrien (150–215 n. Chr.) verstehen lässt, und konstitutiv für sie ist paradoxal eine Ordnung ohne Ordnung: „[…] les Bigarrures ressemblent aux tapis Turquois […] avec vn ordre, sans ordre“ (AvantPropos, p. 10). Durch die Titelmetapher schließt sich Tabourot somit an die antike Tradition der Poikilographie an, für die der von ihm mehrfach als Kronzeuge angerufene und intertextuell herbeizitierte antike Autor Aulus Gellius steht. Auch Michel Montaignes Essais (1580/1595) fügen sich aufgrund ihrer Themenvielfalt und lockeren Fügung in das generistische Umfeld seines buntscheckigen, deviante Dichtungsformen thesaurierenden Werkes ein. Um den fast enzyklopädischen Anspruch von Tabourots manieristischer Poetik transparent zu machen, deren Struktur in Analogie zu einem Kuriositätenkabinett zu begreifen ist,37 sei ein Überblick über den inhaltlichen Aufbau anhand der Kapitelfolge gegeben:

36 37

Estienne Tabourot: Les Bigarrures. Faksimile der Ausgabe von 1588. Hrsg. von Francis Goyet. 2 Bde. Genf 1986. Zum kulturgeschichtlichen Kontext vgl. Christel Meier: Virtuelle Wunderkammern. Zur Genese eines frühneuzeitlichen Sammlungskonzepts. In: Frühneuzeitliche Sammlungspraxis und Literatur. Hrsg. von Robert Felfe, Angelika Lozar. Berlin 2006, S. 29–74.

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Ulrich Ernst I. De l’invention et vtilité des Lettres (Von der Erfindung und dem Nutzen der Buchstaben). II. Des Rebvs de Picardie (Von Rebussen der Picardie). III. Avtre Facon de Rebvs par Lettres, chiffres, notes de Musique, et noms surentendus (Eine andere Art von Rebussen mittels Buchstaben, Bildzeichen, Musiknoten und unausgesprochenen Namen). IV. Des Eqvivoqves François (Von französischen Homonymen). V. Des Eqvivoqves Latins-François (Von lateinisch-französischen Homonymen). VI. Des Avtres Eqvivoqves par Amphibologies, vulgairement appellez Des Entend-trois (Von anderen Homonymen mit Hilfe von Doppeldeutigkeiten, volkstümlich ‚Des Entends-trois‘ genannt). VII. Eqvivoqves de la voix et prononciation, Francois et Latins (Homonyme der Stimme und der Aussprache, Französisch und Latein). VIII. Des Antistrophes ou Contrepeteries (Von Gegenstrophen oder Silbenvertauschungen bzw. Schüttelreimen). IX. Des Anagrammatismes ou Anagrammes (Von Anagrammatismen oder Anagrammen). X. Des Vers retrogrades par lettres et par mots (Von rückwärts, buchstabenweise wie wortweise, zu lesenden Versen). XI. Des Allvsions (Von Anspielungen). XII. Des Lettres Nvmerales, et vers nvmeravx (Von Zahlbuchstaben und Chronosticha). XIII. Des Vers Rapportez (Von Versus rapportati). XIV. Des Vers Lettrisez ov Paronoemes (Von metrischen Tautogrammen). XV. Des Acrostiches (Von Akrosticha). XVI. De l’Echo (Von Echo-Versen). XVII. Des Vers Leonins (Von leoninischen, d.i. binnengereimten Versen). XVIII. Des Vers Covppez (Von Spaltversen). XIX. Des Descriptions Pathetique (Von pathetischen Beschreibungen). XX. Des Avtres Sortes de Vers folastrement et ingeniusement practiquez (Von andern Versarten, scherzhaft und erfinderisch gehandhabt). XXI. Des Notes (Von Chiffren). XXII. Des Epithaphes (Von Grabschriften).

Die Propagierung exzentrischer Formideale im Kielwasser des Manierismus unter der Flagge der Vielfarbigkeit, die auf rhetorischer Ebene als Merkmal des Ornatus gravis schon bei Galfredus de Vinosalvo begegnet ist, provozierte im 17. Jahrhundert in Italien Kritik, wandte man sich doch von der Position des Attizismus und Klassizismus aus gegen die Chamäleons bzw. die Camaleonti38 und benutzte damit polemische Begriffe, die am Beispiel des seine Farbe ständig wechselnden Chamäleons auf die bei Tabourot fixierte extravagante Stilpalette der Manieristen zielen.

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Gustav René Hocke: Manierismus in der Literatur. Sprach-Alchimie und esoterische Kombinationskunst. Reinbek 1959, S. 143; vgl. Armin Schäfer: Chamäleon. In: Metzler-Lexikon literarischer Symbole. Hrsg. von Günter Butzer, Joachim Jacob. Stuttgart 2008, S. 64.

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IV. Laurence Sternes Tristram Shandy oder die marmorierte Seite als Sinnbild des buntscheckigen Werkes Polychromie und Poetologie erscheinen im 18. Jahrhundert in einem neuen Verhältnis, das einen Gattungswechsel indiziert, dessen Bedeutung nicht hoch genug eingeschätzt werden kann: Vorreiter ist der moderne Prosaroman und auf diesem Feld speziell Laurence Sterne mit seiner fiktionalen Autobiographie The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman, erschienen in neun Bänden zwischen 1759–1767.39 Das exorbitante Werk ordnet sich dem Subgenre des visuellen Romans zu, lässt es doch verschiedenste optische Strategien erkennen, die sich allerdings von etablierten Formen der Visuellen Poesie wie dem Umrissgedicht, Gittergedicht und Kreuzwortlabyrinth strukturell unterscheiden.40 Erwähnenswert sind eine Reihe von typographischen Innovationen, die mit herkömmlichen mimetischen Verfahren brechen: Asterisci (Sternchen), die, Leerstellen bildend, meist zur Markierung eines erotischen Tabus eingesetzt werden, Zeigehände, die deiktische Aufgaben erfüllen, und schließlich Diagramme, welche z. B. die verzweigte, von einer extremen Digressionstechnik beherrschte Linienführung der Handlung in den einzelnen Büchern ad oculos demonstrieren (IV, 40). Sind solche typographischen Experimente jeweils punktuell in den Fließtext integriert, so gewinnen Visualisierungen einen neuen Status, wenn sie eine ganze Seite einnehmen: So hat der englische Maler, Kupferstecher und Kunsttheoretiker William Hogarth (1697–1764) in Absprache mit dem Autor zwei ganzseitige Illustrationen zu Sternes Roman beigesteuert, die zusammen mit anderen optischen Konzepten den Tristram Shandy als eine frühe Form des modernen Künstlerbuchs erscheinen lassen.41 Das Prinzip der Mise en page als Bestandteil der elaborierten Bucharchitektur wird von Sterne aber auch noch in anderer Weise gehandhabt, hat er doch seinem Roman drei besondere Seiten eingefügt, die drei Typen von Kolorismus: Farblosigkeit, Einfarbigkeit und Vielfarbigkeit repräsentieren und, da ungegenständlich, häufig als Präformationen der modernen abstrakten Malerei gelten: Neben einer Vacat-Seite, auf die, wiewohl als epische Leerstelle semantisiert, hier nicht weiter eingegangen werden kann, eine monochrome schwarze Seite und eine polychrome marmorierte Seite.42 39 40

41 42

Laurence Sterne: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman. Hrsg. von Melvyn New, Joan New. Bd. I–II. Gainesville 1978. Vgl. Jeremy Adler, Ulrich Ernst: Text als Figur. Visuelle Poesie von der Antike bis zur Moderne. 3. Aufl. Weinheim 1990 (Ausstellungskataloge der Herzog August Bibliothek. 56), S. 222–225; Ulrich Ernst: Narrativik und Experiment. Laurence Sterns Tristram Shandy als visueller Roman. In: Die Poesie und die Künste als inszenierte Kommunikation. Festschrift für Reinhard Krüger. Hrsg. von Beatrice Nickel. Tübingen 2011, S. 101–130. Vgl. Katja Deinert: Künstlerbücher. Historische, systematische und didaktische Aspekte. Hamburg 1995, S. 82f. Vor allem zu technischen Fragen vgl. Diana Patterson: Tristrams Marbling and Marblers. In: The Shandean 3 (1991), S. 70–97.

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Die schwarze Seite ist in duplizierter Ausführung als Vor- und Rückseite in Kapitel I, 13 eingefügt, das vom Tod des Pfarrers Yorick berichtet, dem sein Freund Eugenius eine schlichte Marmorplatte auf sein Grab legen lässt. Unter semiologischem Aspekt dominieren in der Koloristik Formen der Enigmatik und Verschlüsselung, da die Farbe Schwarz als Zeichen des Todes und der Trauer, die Textaussparung als Symbol jener Lücke, die der Verstorbene gerissen hat, und schließlich die Druckerschwärze im Seitenformat als Signum für ein Ineffabile, ein letztlich dunkles, kaum lösbares und höchst komplexes Geheimnis gedeutet werden können. Vor allem interessiert hier die aus verschiedenen Farben, verwischten Mustern und verschlungenen Adern zusammengesetzte marmorierte Seite (vgl. Abb. 1, Bildteil), die im narrativen Kontinuum durch einen ironischen Appell an die Leserschaft, der zugleich eine Provokation und eine Schelte darstellt, introduziert wird: Read, read, read, read, my unlearned reader! read, – or by the knowledge of the great saint Paraleipomenon – I tell you before-hand, you had better throw down the book at once; for without much reading, by which your reverence knows, I mean much knowledge, you will no more be able to penetrate the moral of the next marbled page (motly emblem of my work!) than the world with all its sagacity has been able to unravel the many opinions, transactions and truths which still lie mystically hid under the dark veil of the black one. (III, 36)43

Wenn die marmorierte Seite als buntscheckiges Simulacrum des Werkes erscheint und damit eine Mise en abyme-Funktion übernimmt, verweist das auf die Vielfarbigkeit des Romans im übertragenen Sinn, die sich formal in der Pluralisierung und Fusionierung typographischer, ikonischer und literarischer Zeichenrepertoires spiegelt. Collagierte Intertextualität, Gattungsmixturen, Kombination verschiedener Sprachen und kurvenreiche Erzählverläufe zeigen die breite, vielfarbige Formpalette des Autors, der sich selbst als Poeta pictor versteht. Zugleich wird von Sterne ein interpikturaler Bezug zu der schwarzen Seite angedeutet, unter deren dunklem Schleier, gleichsam einem Velum veritatis, Mysterien verborgen sind, in die wie bei der marmorierten Seite allenfalls ein eruditer Leser mit Hilfe vertiefter Betrachtung eindringen kann. Beide Bildseiten stehen im Dienst der Ver- und Entschlüsselung und sind Zeichen einer reflektierten Kryptopoetik,44 der auch noch die 43

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Tristram Shandy (Anm. 39), Bd. 1, S. 268. Übersetzung in: Laurence Sterne: Leben und Meinungen von Tristram Shandy, Gentleman. Übers. von Otto Weith. Nachwort von Erwin Wolff. Stuttgart 1972, S. 261f. „Lies, lies, lies, lies, mein ungebildeter Leser! lies – oder, bei der Gelehrsamkeit des heiligen Paraleipomenon – ich sage dir im Vorhinein, du tätest besser daran, das Buch auf der Stelle wegzulegen, denn ohne viel Lesen, worunter, wie Euer Ehren wissen, ich viel Gelehrsamkeit verstehe, werden Sie nicht imstande sein, mehr in die Moral der nächsten marmorierten Seite (buntscheckiges Sinnbild meines Werkes!) einzudringen, als die Leute mit all ihrem Scharfsinn fähig waren, die vielen Meinungen, Abwicklungen und Wahrheiten zu enthüllen, die noch geheimnisvoll verborgen hinter dem dunklen Schleier des schwarzen Blattes liegen.“ Vgl. Ulrich Ernst: Der Roman als Kryptotext. Geheimschrift in der europäischen Erzählliteratur der Neuzeit. In: Der europäische Roman zwischen Aufklärung und Postmoderne. Festschrift für Jürgen C. Jacobs. Hrsg. von Friedhelm Marx, Andreas Meier. Weimar 2001, S. 1–33.

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mittelalterliche Integumentum-Theorie bekannt zu sein scheint. Wenn von der Moral der marmorierten Seite gesprochen wird, ist das vielleicht auch ein Reflex auf das Gebäudemodell des mehrfachen Schriftsinns, bei dem der Farbschmuck der Wände die Ebene des Moraliter anzeigt. Die verschlungenen Figurationen des Marmorbildes lassen sich speziell als Chiffre für die gewundenen Erzählverläufe und die fast chaotische Inordinatio der Kapitel interpretieren, während die schon bei der schwarzen Seite anklingende Marmorvorstellung die zeitüberdauernde Qualität des sprachlichen Kunstwerks versinnbildlicht. Sofern Sterne die polychrome marmorierte Seite explizit als „motly emblem of my work“ bezeichnet, ist schließlich nicht zu vergessen, dass der von vielen Wissensdiskursen durchzogene Roman auch einen enzyklopädischen Charakter besitzt. Die ‚närrische‘ Buntscheckigkeit, die einem karnevalesken Erzähler konveniert, der sich nach eigenem Bekunden gelegentlich die Narrenkappe aufsetzt (I, 6), avanciert somit nicht nur zum Sinnbild poetischer Polymorphie und Polysemie, sondern deutet darüber hinaus auch auf Poikilographie, also den buntschriftstellerischen, disparate Wissensbestände in aufgelockerter Form darbietenden Grundzug des Werkes. Die Polychromie kongruiert zudem mit der von William Hogarth in seiner Schrift The Analysis of Beauty (1753) favorisierten kunstästhetischen Idee der Variety, zumal jede marmorierte Seite in der ersten Auflage bei jedem Buchexemplar zeichnerisch und farblich jeweils anders gestaltet wurde.45 Ihre verschlungenen Flächen und Lineamente, die nicht zuletzt die labyrinthische Syntax, den mäandrierenden Erzählduktus und die irreguläre Kapitelreihung von Sternes Roman widerspiegeln, verweisen über das Prinzip der Varietas hinaus auf einen forciert verschachtelten literarischen Strukturplan, der von Hogarths dem Manierismus nahestehenden kunstästhetischen Prinzip der Intricacy inspiriert ist.46

V. Vielfarbigkeit als dichterisches Konzept im 19. Jahrhundert Die poetologische Relevanz von Farbkonstellationen manifestiert sich im 19. Jahrhundert in einem nicht nur Epik, sondern auch Lyrik umfassenden Gattungsspektrum, wie im Folgenden tentativ im Überblick demonstriert werden soll. Ein programmatisches und repräsentatives Exemplum für farbliche Kontrastierung als Ausdruck literarischer Polarisierung im Rahmen der Epik liefert Stendhals 1830 erschienener Roman Le

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Vgl. den Kommentar von Edgar Pankow. In: Schrifträume. Dimensionen von Schrift zwischen Mittelalter und Moderne. Hrsg. von Christian Kiening, Martina Stercken. Zürich 2008, S. 378–381, hier S. 378. Zum Komplex Hogarth-Sterne vgl. Ernst (Anm. 40), S. 107f., 116f., Abb. 11–14.

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Rouge et le Noir,47 in dem der Protagonist Julien Sorel, Sohn eines Sägemühlenbesitzers in der Provinz, mit aller Gewalt sozial aszendieren will. Ohne dass Statements des Autors vorliegen, erklärt die Forschung die bikoloristische Titelgebung zumeist aus den zwei Karriereversuchen des als Parvenü gezeichneten Helden. Nachdem ihm klar geworden ist, dass eine Karriere beim Militär mit dem Ziel General in der nachnapoleonischen Restaurationszeit dem Adel reserviert ist, bleibt als Ausweg nur ein gesellschaftlicher Aufstieg über die kirchliche Hierarchie auf der Trittleiter der Bigotterie mit dem Ziel Bischof: Die Farbe Rot könnte unter diesen Konditionen das Militär, die Farbe Schwarz die Klerisei symbolisieren. Der Farbdyade, die in der Forschung auch auf weitere Oppositionen im Roman wie „Revolution und Restauration, Energie und Stagnation, passion und ennui“48 ausgelegt wird, korrespondieren in der Organisation des Werkes zudem die Zweizahl der Bücher und auf der inhaltlichen Ebene das Generalthema der Hypokrisie, die eine Dichotomie zwischen äußerem Verhalten und innerer Einstellung voraussetzt. Im Konnex mit dem koloristischen Romantitel ist unter dem Aspekt der Autorpoetik zu vergegenwärtigen, dass Stendhal an Malerei vehement interessiert war, sich auch als Kunstkritiker und Kunsthistoriker profiliert hat, wie u. a. seine Histoire de la Peinture en Italie (Paris 1817)49 dokumentiert, in der er sich auch intensiv mit der Farbgebung von Gemälden befasst, und schließlich Kunstwerke, z. B. aus der Gemäldegalerie Dresden, in seinen Schriften eine beachtliche Rolle spielen.50 Wie stark sich der französische Romancier als Kolorist verstanden hat, zeigen auch erzählerische Werke, die aus seinem Nachlass ans Licht gekommen sind: Nach seinem Tod erschien der unvollendete Roman Lucien Leuwen im Jahre 1929 in Paris unter dem Titel Le Rouge et le Blanc, den Stendhal schon zu Lebzeiten für das Werk in Betracht gezogen hatte, und 1937 wurde sein ähnlich betitelter Roman Le Rose et le Vert publiziert, der von der Forschung bislang stiefmütterlich behandelt wurde, so dass sich letztlich ein Ternar von Farbromanen mit dem Rot-Ton als Konstante herauskristallisiert. Auch der Titel von Adalbert Stifters narrativer Kollektion Bunte Steine. Ein Festgeschenk,51 die 1853 in zwei Bänden herauskam, verweist auf eine poetologisch reflektierte Farbenpoetik, wie sie für den Dichter in anderem Kontext von der Forschung schon konstatiert und exploriert wurde.52 Der Untertitel resultiert aus der Intention des Autors, 47 48 49 50

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Stendhal: Rot und Schwarz. Übers. von Elisabeth Edl. 2. Aufl. München 2008. Nachwort von E. Edl, ebd., S. 695. Édition complète. Paris 1868; Geschichte der Malerei in Italien. Übers. von Friedrich von OppelnBronikowski. Berlin 1924. Vgl. Wolfgang Drost: Kriterien der Kunstkritik des Romanciers Stendhal. In: Stendhal. Image et texte / Text und Bild. Hrsg. von Sybil Dümchen, Michael Nerlich. Tübingen 1994, S. 94–116; Manfred Naumann: Dresden und seine Gemäldegalerie in Texten Stendhals. In: Ebd., S. 129–144. Adalbert Stifter: Bunte Steine. Erzählungen. Hrsg. von Helmut Bachmaier. Stuttgart 1994. Vgl. Walter Muschg: Das Farbenspiel von Stifters Melancholie. In: Ders.: Studien zur tragischen Literaturgeschichte. Bern 1965, S. 180–204; Heidrun Ehrke: Die Funktion der Farben in Adalbert Stifters „Studien“. Bern 1979, bes. S. 370–378.

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die Sammlung wegen der besseren Verkaufschancen noch rechtzeitig vor Weihnachten 1852 zu publizieren, was aber de facto nicht gelungen ist. Gleichwohl konstituiert sich mit dem Weihnachtsfest, wie gerade die Weihnachtsgeschichte Bergkristall zeigt, ein semantischer Rahmen, welcher in dem liturgischen Hintergrund, dem Geschenkcharakter und der Adressierung des Werkes an Kinder und Jugendliche zum Ausdruck kommt und der auch im Zusammenhang mit der fast sakralen Lichtsymbolik steht, die mit der Stein- und Farbenthematik poetisch amalgamiert ist. Vor diesem Horizont erschließt sich, differenzierter als bisher gesehen, die von Stifter in seiner berühmten „Vorrede“ programmatisch entwickelte Ästhetik der Exiguität mit der Betonung des „Kleinen“, des angeblich Marginalen und des dezidiert Unspektakulären, hinter der sich ein Habitus religiös fundierter Humilitas verbirgt, mag auch dieser Paratext angesichts der bekannten Kritik Friedrich Hebbels an Stifters Kleinmalerei vor allem apologetische Ziele verfolgen. Nachdem fünf der sechs Erzählungen zuvor bereits in verschiedenen Journalen erschienen waren, arbeitete Stifter sie um, versah sie mit neuen Titeln und stellte sie unter den Obertitel Bunte Steine, der eine inhaltliche Klammer für alle Erzählungen bildet, in puncto literarischer Deskriptivität gewisse Erwartungen des Lesers weckt und zugleich eine bestimmte koloristische Konzeption verrät.53 So hat Stifter z. B. seiner ursprünglichen Erzählung Der Pförtner im Herrenhaus nicht nur den neuen lithologischen Titel Turmalin verliehen, sondern mit letzterem auch eng den programmatischen Eingangssatz verknüpft, der das Portal und den Schlüssel der Erzählung bildet: „Der Turmalin ist dunkel, und was da erzählt wird, ist sehr dunkel.“ (S. 126). Die hexadische Bucharchitektur der Erzählsammlung gliedert sich in zwei axialsymmetrische Triaden: Der 1. Band umfasst die Erzählungen: I. Granit, II. Kalkstein und III. Turmalin, während der 2. Band aus folgenden narrativen Texten besteht: I. Bergkristall, II. Katzensilber und III. Bergmilch.54 In der Einleitung, die sich narratologisch als Rahmen interpretieren lässt, präsentiert sich der Ich-Erzähler in der Retrospektive auf seine Kindheit als begeisterter Sammler von Steinen mit einer besonderen

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Vgl. Eugen Thurnher: Stifters ‚Sanftes Gesetz‘. In: Unterscheidung und Bewahrung. Festschrift Hermann Kunisch. Hrsg. von Klaus Lazarowicz, Wolfgang Kron. Berlin 1961, S. 381–397; Paul Requadt: Stifters „Bunte Steine“ als Zeugnis der Revolution und als zyklisches Kunstwerk. In: Adalbert Stifter. Studien und Interpretationen. Hrsg. von Lothar Stiehm. Heidelberg 1968, S. 139– 168; Helga Bleckwenn: Adalbert Stifters ‚Bunte Steine‘. Versuche zur Bestimmung der Stellung im Gesamtwerk. In: Vasilo 21 (1972), S. 105–118; Eva Mason: Stifters ‚Bunte Steine‘. Versuch einer Bestandsaufnahme. In: Adalbert Stifter heute. Hrsg. von Johann Lachinger u. a. Linz 1985, S. 75–85; Hans R. Klieneberger: The Image of Childhood in ‚Bunte Steine‘. London 1986; Hendrik Achenbach: „Komme! Der Stiftende führet dich ein“. Das mineralogische Titelprinzip in Adalbert Stifters ‚Bunte Steine‘ und ein Privatscherz Goethes. In: Sprachkunst 29, 2 (1998), S. 241–248. In einer modernen Adaptation mit unterschiedlichen Verfassern wird die Zahl der Erzählungen auf die klassische Dodekas aufgestockt: Stifter reloaded. Ein Dutzend bunter Steine. Hrsg. von Netzwerk Memoria. Wien 2005.

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Freude an deren Farbigkeit und materieller Haltbarkeit: „Als Knabe trug ich außer Ruten, Gesträuchen und Blüten, die mich ergötzten, auch noch andere Dinge nach Hause, die mich fast noch mehr freuten, weil sie nicht so schnell Farbe und Bestand verloren wie die Pflanzen, nämlich allerlei Steine und Erddinge“ (S. 15). Vom Naturellen zum Artifiziellen übergehend, bemerkt der handwerklich begabte Erzähler speziell über den Tuffstein und sein verborgenes polychromes und hieroglyphisches Potential: Ich machte Täfelchen, Würfel, Ringe und Petschafte aus dem Steine, bis mir ein Mann, der Uhren Barometer und Stammbäume verfertigte, und Bilder lackierte, zeigte, daß man den Stein mit einem zarten Firnisse anstreichen müsse, und daß dann die schönsten blauen, grünen und rötlichen Linien zum Vorscheine kämen. (S. 15)

Eine große Rolle spielt für den Sammler der geheimnisvolle Glanz der Steine als Teil der Landschaft, fast ein Widerschein göttlichen Lichts, der auch auf eine endogene Leuchtkraft deutet, heißt es doch, mit Blick auf Wahrnehmungsart und seelische Reaktion des Erzählers, über diese Art von Epiphanie an anderer Stelle: Wenn ich Zeit hatte, legte ich meine Schätze in eine Reihe, betrachtete sie, und hatte mein Vergnügen an ihnen. Besonders hatte die Verwunderung kein Ende, wenn es auf einem Steine so geheimnisvoll glänzte und leuchtete und äugelte, daß man es gar nicht ergründen konnte, woher denn das käme. (S. 16)

Bei der Anlage der Steinsammlung erscheint der Aspekt der Farbe und insbesondere der regenbogenartigen Vielfarbigkeit wichtiger als der materielle Wert: Freilich war manchmal auch ein Stück Glas darunter, das ich auf den Feldern gefunden hatte, und das in allerlei Regenbogenfarben schimmerte. Wenn sie dann sagten, das sei ja nur ein Glas, und noch dazu ein verwitterndes, wodurch es eben diese schimmernden Farben erhalten habe, so dachte ich: Ei, wenn es auch nur ein Glas ist, so hat es doch die schönen Farben, und es ist zum Staunen, wie es in der kühlen feuchten Erde diese Farben empfangen konnte, und ich ließ es unter den Steinen liegen. (S. 16)

An den Worten des Erzählers wird eine Stifter als Dichtermaler auszeichnende Poetik des Ut pictura poesis sichtbar,55 zumal wenn der Hinweis erfolgt, man sammle die Steine nicht zuletzt, „um sie zu zeichnen oder zu malen“ (S. 16). Trotz der fiktionalautobiographischen und metaphorisch-verschlüsselten Redeweise wird deutlich, dass sich hinter dem Steinesammler der Dichter, hinter der materiellen Kollektion der poetische Kranz von Erzählungen und hinter dem vorgeblichen einzigen Adressaten, der Jugend, das vom Autor anvisierte breitere literarische Publikum verbirgt. Sofern den genannten Steinen jeweils ein symbolischer Sinn inhäriert, gehört Stifters Werk schon durch den Obertitel und die Titel der sechs Erzählungen noch diskursiv in die Tradition der antiken Steinkunde und der mittelalterlichen Steinbücher, die den 55

Vgl. die Untersuchung von Fritz Novotny: Adalbert Stifter als Maler. 4. Aufl. Wien 1979: hier auch Hinweise auf Steinstudien Stifters als Ölbilder, Aquarelle und Zeichnungen (Abb. 72, 97, 98).

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Farben und Glanzeffekten der Edelsteine große Bedeutung beimessen und ihren Sinnbildcharakter betonen.56 Trotz der ansatzweise lexikalischen Makrostruktur unterscheidet sich der Zyklus durch seine narrative Form von den mittelalterlichen allegorischen Lapidarien: Tektonisch betrachtet, bietet das Modell der bunten Steine zwar einen Bauplan für gegliedertes Erzählen im Rahmen und auf der Basis einer kleinen lithologischen Spezialenzyklopädie, doch verzichtet Stifter aus einer entschiedenen, mit seiner Poetik der Parvität zusammenhängenden Oppositionshaltung heraus auf den klassischen Kanon der kostbaren Preziosen und präferiert statt dessen als Naturwissenschaftler, der er außer Dichter und Maler in Personalunion auch war, gewöhnliche Mineralien bzw. einfache Gesteinsarten. Vorbild ist demgegenüber als Ordnungsmuster des narrativen Lapidariums Jean Pauls enzyklopädischer Roman Flegeljahre (1804), der von der infrastrukturellen Titelgebung her nach dem im 19. Jahrhundert etablierten Modell eines Naturalienkabinetts aufgebaut ist, wobei etwa die Hälfte der Kapitelüberschriften auf Mineralien verweist.57 Dabei korrespondiert Stifters Überschrift „Katzensilber“ in der zweiten Geschichte des zweiten Teils der Bunten Steine mit Jean Pauls Betitelung „Katzensilber aus Thüringen“ in der Nr. 2 des ersten Bändchens der Flegeljahre (S. 737). Stifters reduktiv epische Naturaliensammlung enthält allerdings wesentlich weniger symbolische Kapitelüberschriften als die in hohem Maße ausdifferenzierten Flegeljahre, beschränkt sich zudem ausschließlich auf Mineralien, setzt aber mit dem Gedanken der Polychromie zugleich ostentativ einen eigenen Akzent, der auch für stärkere ästhetische Kohärenz sorgt. Wollte man aus komparatistischer Sicht weitere Einflüsse ins Kalkül ziehen, so böte sich trotz der konzeptionellen und generischen Differenzen – hier Ästhetizismus, dort Naturfrömmigkeit, hier ein lyrischer Zyklus, dort eine Erzählsammlung – als anregendes, aber auch zum Widerspruch aufrufendes Muster Théophile Gautiers Émaux et Camées an, „deren Titel leuchtende Emailfarben und kostbare geschnittene Steine evoziert“,58 da dieses Werk 1852 publiziert wurde, exakt ein Jahr, bevor Stifter seine sechs Erzählungen in ein mineralogisches Werkkonzept integriert hat. Stifters entschiedene Distanzierung von teuren Schmuckstücken korreliert mit seiner Poetik des Unprätentiösen, die sich auch in Bescheidenheitsbekundungen verdichtet (Vorrede, S. 7) und mit der er vielleicht auch eine gegen das Luxusbedürfnis der höheren Stände gerichtete, moderat sozialkritische, in keiner Weise aber forciert revolutionäre Haltung zum Ausdruck bringen will.

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Vgl. Christel Meier: Gemma spiritalis. Methode und Gebrauch der Edelsteinallegorese vom frühen Christentum bis ins 18. Jahrhundert. Teil 1. München 1977 (Münstersche Mittelalter-Schriften. 34); Ulrich Engelen: Edelsteine in der deutschen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts. München 1978 (Münstersche Mittelalter-Schriften. 27). Jean Paul: Flegeljahre. Hrsg. von Thomas Koebner. Stuttgart 1994, S. 748–752. Kurt Reichenberger: Émaux et Camées. In: Kindlers Neues Literaturlexikon 6 (1989), S. 164f., hier S. 164.

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Waren an Werken, die sich einer polychromen Poetik zuordnen lassen, bislang immer nur zwei Künste, Literatur und Malerei, beteiligt, so ändert sich dieses Bild im 19. Jahrhundert, tritt hier doch als drittes Medium noch die Musik hinzu. Grundlegend für die neue Verknüpfung der Künste sind hier innovative Vorstellungen der Romantik von Kolorismus59 und interartistischer Ästhetik, insbesondere Konzepte von einer Audition colorée, die u. a. auf der Erfindung des Farben- bzw. Augenklaviers fußt, die dem Jesuiten und Mathematiker Louis-Bertrand Castel (1688–1757) zugeschrieben wird. In diesen Prozess ist der schon erwähnte französische Dichter Théophile Gautier maßgeblich involviert, der wohl der erste war, der im Drogenrausch den Klang der Farben zu hören vermeinte, wie man seinem Dictum in der phantastischen Erzählung Le club des hachichins (Der Club der Haschisch-Esser) aus dem Jahr 1846 entnehmen kann: „Die Färbung der Gesichter nahm unmenschliche Töne an.“60 Im Kontext dieser Entwicklung hin zur Synästhesie als zentralem künstlerischen Prinzip des Symbolismus61 entstand ein neues lyrisches Subgenre mit intermedialem Charakter: die Color symphony.62 Ein wichtiges Paradigma findet sich unter dem Titel Symphonie en blanc majeur (Symphonie in Weiß-Dur) nicht zufällig in Gautiers Gedichtsammlung Émaux et Camées:63 Das stark objektivistisch und ekphrastisch angelegte Gedicht, inhaltlich ein Preis weiblicher Schönheit, ist Ausdruck einer für den Autor charakteristischen Poetik des L’Art pour l’art, die zugleich eine Präferenz für die Transposition d’art,64 den transartistischen Transfer von einer Kunst auf die andere, erkennen lässt. Die lyrischen, als Gedichte strophisch gegliederten Symphonien des 19. und 20. Jahrhunderts ahmen zumeist in lockerer Form ein Musikstück in vier oder drei Sätzen nach, ohne dass neben der Monochromie dabei auch die Polychromie eine Rolle spielt. Für die Poetik der Multikolorität ist statt dessen das poetische Werk des Engländers John Gould Fletcher von eminenter Bedeutung, da dieser eine Serie von lyrischen Farbsinfonien mit einschlägigen Titeln in seinen Band Goblins and Pagodas aufgenommen hat: 1. Blue Symphony, 2. Symphony in Black and Gold, 3. Green Symphony, 4. Golden 59

60 61 62 63

64

Zu erwähnen ist hier vor allem Philipp Otto Runges (1777–1810) berühmte Farbenkugel; vgl. Heinz Matile: Die Farbenlehre Philipp Otto Runges. Ein Beitrag zur Geschichte der Künstlerfarbenlehre. 2. Aufl. München 1979 (Kunstwissenschaftliche Studientexte. V). Théophile Gautier: Romane und Erzählungen. Hrsg. von Rolf Dehler. Wiesbaden 2003, S. 477– 487, hier S. 479. Petra Wanner-Meyer: Quintett der Sinne. Synästhesie in der Lyrik des 19. Jahrhunderts. Bielefeld 1998; vgl. Richard Cronin: Color and Experience in Nineteenth-Century Poetry. London 1988. Zum Folgenden vgl. Calvin S. Brown: The Color Symphony before and after Gautier. In: Comparative Literature V, 4 (1953), S. 289–309. Théophile Gautier: Émaux et Camées. In: Œuvres poétiques complètes. Hrsg. von Michel Brix. Paris 2004, S. 461–463; Emaillen und Kameen. Übers. von Otto Hausner. Weimar 1919, S. 14–16: Symphonie in Weiß-Dur; zum Gedicht vgl. Oskar Sahlberg: Thematik und Symbolik von Théophile Gautiers Émaux et Camées, Diss. München 1968, S. 34–68. Reichenberger (Anm. 58), S. 164.

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Symphony, 5. White Symphony, 6. Symphony in White and Blue, 7. Orange Symphony, 8. Red Symphony, 9. Violet Symphony, 10. Grey Symphony und 11. Symphony in Scarlet,65 deren Text jeweils semantisch auf die auch gelegentlich zwei Farbangaben kombinierende Titelmetaphorik abgestimmt ist.66 Während das koloristische Konzept Fletchers von der Stilrichtung des Farbe und Licht inthronisierenden Impressionismus beeinflusst ist, verknüpft der Autor die Farbenspiele seiner Symphonies symbolischpsychologisch mit den Lebensphasen des Künstlers und interpretiert sie vor dem Hintergrund des wagneristisch als Gesamtkunstwerk verstandenen griechischen Theaters als „dramas of the soul“.67 Unter den Lyrikern des 20. Jahrhunderts trifft man vor allem bei Vertretern der konkreten bzw. visuellen Dichtung auf Paradigmata für eine Poetik der Polychromie, die auch durch einschlägige Schriften von Josef Albers68 und Ludwig Wittgenstein69 ästhetisch und philosophisch inspiriert werden konnte: So publiziert der schottische Dichter Edwin Morgan im Jahr 1978 eine Sammlung Color Poems, dem der österreichische Konzeptkünstler und visuelle Poet Josef Linschinger mit seinem Band Farbtexte von 1995 folgt, während dessen Landsmann, der Konkretist Heinz Gappmayr, 1998 sogar ein farbthematisches Künstlerbuch unter dem Titel Couleurs70 herausbringt. Wohl kaum ein moderner ‚Lyriker‘ hat sich so intensiv mit der Ästhetik der Polychromie befasst wie der als Archeget der Konkreten Poesie geltende und von der Farbtheorie und -praxis der Konkreten Malerei beeinflusste Schweizer Eugen Gomringer, denkt man nur an sein frühes Gedicht „du blau / du rot / du gelb / du schwarz / du weiß / du“,71 seine Monographie über Albers,72 seine Beiträge über Farbengebrauch in der modernen Kunst73 oder seine eigenen optischen Farbentexte.74 Last but not least sei noch ein Blick auf die brasilianische Noigandres-Gruppe geworfen, zu der Augusto de Campos gehört, der bereits 1955 im Theatro de Arena von Sao Paulo unter dem Titel

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John Gould Fletcher: Goblins and Pagodas. Boston 1916, S. 25–99. Vgl. Gisela Hergt: Das lyrische Werk John Gould Fletchers. Frankfurt a. M. 1978, S. 135–180. Vgl. Fletcher (Anm. 65), Preface, S. XX. Vgl. Josef Albers: Interaction of Color. Unabridged Text and Selected Plates. 2. Aufl. London 1975. Ludwig Wittgenstein: Bemerkungen über die Farben. Frankfurt a. M. 1989 (Werkausgabe. Bd. 8), S. 7–112. Couleurs / Heinz Gappmayr. Heinz Gappmayr: Couleurs. Saint-Julien-Molin-Molette: Jean Pierre Huguet. 1998. 32 Bl., Illustrationen, 3 Farbdrucke und Ergänzungen (7 S.). Vgl. Werner Arnold: Das Malerbuch des 20. Jahrhunderts. Die Künstlerbuchsammlung der Herzog August Bibliothek. Wiesbaden 2004, S. 179; HAB: 49.4° 334 Ars libr. 8: Gappmayr. Eugen Gomringer: konstellationen, ideogramme, stundenbuch. Stuttgart 1977, S. 20. Eugen Gomringer: Josef Albers. Sein Werk als Beitrag zur visuellen Gestaltung im 20. Jahrhundert. 2. Auflage. Starnberg 1971. Vgl. Eugen Gomringer: Vom Tachismus zur „komplexen Farbe“. In: Werk 50 (1963). S. 289–294 sowie verschiedene Beiträge in ders.: Zur Sache der Konkreten. Bd. III. Wien 2000. Vgl. z. B. Eugen Gomringer: quadrate aller länder. In: Bd. IV der Gesamtausgabe. Wien 2006, S. 8–26.

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Poematos eine vierstimmige Serie von polychromen Gedichten auf eine Leinwand projiziert hat, die von Anton Weberns Klangfarbenmelodie inspiriert wurden.75

VI. Multikoloristische Makroästhetik im experimentellen Roman der Moderne Was bei Sternes Tristram Shandy noch nicht der Fall war, nämlich dass einzelnen Werkteilen zur Unterstreichung ihrer numerischen Makrostruktur visuell bestimmte Farben zugeordnet werden, setzt sich erst im experimentellen Roman des 20. Jahrhunderts durch. Einen Vorklang bildet Marcel Prousts permanent um fiktionale und faktuale Gemälde kreisender Gedächtnisroman À la recherche du temps perdu (1913–1927), in dem die für das Erzählen strukturbildende Memoria als ein Livre d’aquarelle bezeichnet wird, dessen Farben die verschiedenen Phasen und Schichten der erinnerten Vergangenheit abbilden.76 Der Franzose, gleichermaßen fasziniert von den multikoloristischen Fenstern mittelalterlicher Kathedralen wie von den Licht- und Farbenspielen der Impressionisten, legt in seinem Roman dem Schriftsteller Bergotte im Angesicht des Todes bei der Betrachtung eines kleinen gelben Mauerstücks in Jan Vermeers Gemälde Ansicht von Delft (1660/61) die Worte in den Mund: „So hätte ich schreiben sollen. Meine letzten Bücher sind zu dürr, ich hätte die Farbe in mehreren Schichten auftragen, hätte meine Sprache so kostbar machen sollen, wie dieses kleine gelbe Mauerstück es ist.“77 An den alten Konnex von Stil und Farbe anknüpfend, wie er schon in der Antike vorgegeben ist, statuiert auch Proust, allerdings mit besonderer Betonung einer tieferen Wahrnehmung in Form der Vision: „Der Stil ist für den Schriftsteller wie die Farbe für den Maler nicht eine Frage der Technik, sondern der Anschauung.“78 Den Theorieaspekt literarischer Farbkomposition verstärkt später die britische Romanautorin Virginia Woolf, die in ihrem Essay über den englischen, dem Spätimpressionismus zuzuordnenden Maler Walter Sickert (1860–1942)79 auf die generelle Relevanz des Kolorits für den Romancier wie auch für den Dramatiker hinweist: 75 76

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Vgl. Ulrich Ernst: Intermedialität im europäischen Kulturzusammenhang. Beiträge zur Theorie und Geschichte der visuellen Lyrik. Berlin 2002, S. 262. Marcel Proust: À la recherche du temps perdu. Hrsg. von Pierre Clarac, André Ferré. Paris 1954, Bd. III, S. 873; Elisabeth Gülich: Die Metaphorik der Erinnerung in Prousts À la recherche du temps perdu. In: Zeitschrift für französische Sprache und Literatur 75 (1965), S. 51–74, hier S. 60f. Marcel Proust: Die Gefangene (La Prisonnierè). Übers. von Eva Rechel-Mertens, rev. von Luzius Keller, Sibylla Laemmel. Frankfurt a. M. 2000, S. 263. Marcel Proust: Die wiedergefundene Zeit (Le Temps retrouvé). Übers. von Eva Rechel-Mertens, rev. von Luzius Keller. Frankfurt a. M. 2003, S. 301; vgl. Juliette Hassine, Luzius Keller: Farbe. In: Marcel Proust Enzyklopädie. Handbuch zu Leben, Werk, Wirkung und Deutung. Hrsg. von Luzius Keller. Hamburg 2009, S. 264. Virginia Woolf: Walter Sickert. A Conversation. London 1934.

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For though they must part in the end, painting and writing have much to tell each other; they have much in common. The novelist after all wants to make us see. Gardens, rivers, skies, clouds changing, the colour of a woman’s dress, landscapes that bask beneath lovers, twisted woods that people walk in when they quarrel – novels are full of pictures like these. The novelist is always saying to himself how can I bring the sun on my page? How can I show the night and the moon rising? […] All great writers are great colourists, just as they are musicians into the bargain; they always contrive to make their scenes glow and darken and change to the eye. Each of Shakespeare’s plays has its dominant colour. And each writer differs of course as a colourist. (S. 22f.)80

Wie man konstatieren kann, besteht für die Schriftstellerin eine enge Affinität zwischen dem Malen und dem Schreiben, was Konsequenzen sowohl für die Wirkungsästhetik wie auch für die Produktionsästhetik zeitigt: Ihrer Ansicht nach spricht der Romancier, wenn er z. B. mit literarischen Mitteln Naturbilder auf die Buchseite zaubert, das interiore Sehvermögen, also die Phantasie des Lesers an. Große Schriftsteller sind für Virginia Woolf auch große Koloristen, zumal wenn sie in ihren szenischen Darstellungen die Farbgebung durch wechselnde Lichtverhältnisse dynamisieren. Jeder Schriftsteller hebt sich von seinen Kollegen durch sein besonderes Profil als Farbenmaler ab, was z. B. soweit geht, dass bei Shakespeare sogar jedes Theaterstück eine eigene dominierende Farbe aufweist. Ein nicht zu unterschätzender Pionier auf dem Feld der Farbtektonik ist der Malerdichter Max Ernst mit seinem 1934 in Paris erschienenen Collageroman Une Semaine de bonté ou les Sept Éléments Capitaux (Eine Woche der Güte oder die sieben Hauptelemente),81 der in mancher Hinsicht auch Züge des Künstlerbuchs aufweist. Erwies sich Fletcher mit seinen Color symphonies noch als Anhänger des Impressionismus, so bewegt sich Ernst mit seinem farbtektonischen Roman Une Semaine de Bonté im Strahlungskreis des Surrealismus, dem das Werk seine surreale Bildlichkeit verdankt (vgl. Abb. a).82 Sofern der Roman ursprünglich aus fünf Heften mit unterschiedlichen Einbandfarben bestand, lässt sich dieses Verfahren mit Kautelen als Echo auf Arthur Rimbauds be-

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„Denn obwohl sie sich schließlich trennen müssen, haben sich Malerei und Schriftstellerei sehr viel zu sagen; sie haben viel gemeinsam. Im Grunde möchte der Romanautor uns dazu bringen zu sehen: Gärten, Flüsse, Himmel, wechselnde Wolken, die Farbe eines Frauenkleides, Landschaften, die zwischen Liebenden in der Sonne baden, verschlungene Wälder, in die Menschen gehen, wenn sie Streit hatten – Romane sind voll von Bildern wie diesen. Der Romanautor sagt immer zu sich selbst: Wie kann ich die Sonne auf meine Seite bringen? Wie kann ich die Nacht und den aufgehenden Mond zeigen? […] Alle großen Schriftsteller sind großartige Koloristen, genauso wie sie obendrein auch Musiker sind; sie schaffen es immer ihre Szenen zum Glühen, zum Verdunkeln zu bringen und dass sie sich vor dem Auge verändern. Jedes der Stücke Shakespeares hat seine dominante Farbe. Und jeder Schriftsteller unterscheidet sich natürlich wie ein Kolorist vom anderen.“ (Übersetzung von Stephanie Kaldik, Wuppertal). Max Ernst: Une semaine de bonté. A Surrealistic Novel in Collage. New York 1976. Vgl. zum Folgenden Gerd Bauer: Max Ernsts Collageroman „Une Semaine de Bonté“. In: WallrafRichartz-Jahrbuch 39 (1977), S. 237–257.

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Abb. a: Bauplan des Collageromans von Max Ernst: Une Semaine de Bonté ou Les Sept Eléments Capitaux. Paris 1934. Zusätze in Klammern von Max Ernst selbst nach der Übersetzung: Une Semaine de Bonté. Die weiße Woche. Ein Bilderbuch von Güte, Liebe und Menschlichkeit, Berlin 1963. Schema nach Gerd Bauer: Max Ernsts Collageroman „Une Semaine de Bonté“. In: Wallraf-RichartzJahrbuch 39 (1977), S. 257.

kanntes Poem Voyelles deuten, in dem den fünf Vokalen bestimmte Farben korrespondieren.83 Für Rimbaud selbst ist nicht nur die Verknüpfung der Vokale mit den Farben Schwarz (A), Weiß (E), Rot (I), Grün (U) und Blau (O) charakteristisch, die er seinem poetologischen Prinzip der Alchemie du Verbe subsumiert, vielmehr hat er neben zahlreichen Einzelgedichten mit kühnen Farbeffekten auch einen Zyklus von Prosagedichten geschaffen, dessen programmatischer Titel Les Illuminations (1872–1873) sich im Sinne einer Poetik der Polychromie als Farbstiche bzw. Farbdrucke übersetzen lässt.84 Bei Max Ernst korreliert im 1. Heft der Farbe Violett als Wochentag der Sonntag, als Element der Schlamm und als Exempel der Löwe von Belfort; im 2. Heft der Farbe Grün der Montag und das Wasser, sowohl als Element wie auch als Exempel; im 3. Heft der Farbe Rot der Dienstag, das Feuer und der Hof des Drachen; im 4. Heft der Farbe Blau der Mittwoch, das Blut und als Beispiel der Ödipus; im 5. Heft der Farbe

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Ebd., S. 238f.; vgl. Wanner-Meyer (Anm. 59), S. 134–140. Arthur Rimbaud: Sämtliche Dichtungen. Hrsg. und übers. von Walther Küchler. 3. Aufl. Heidelberg 1960, S. 106f.,148ff., 298f.

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Gelb der Donnerstag, das Schwarze und als Paradigmen das Lachen des Hahns und die Osterinsel. Farbzuordnungen fehlen zwar beim Freitag und Samstag, gleichwohl dominiert neben der heptadischen Zeitstruktur eklatant eine Farben, Wochentage, Elemente und Exempla vernetzende Tetradensymbolik. An das Ende des Romans hat Max Ernst, was in der Forschung gelegentlich nicht beachtet wird, drei imaginäre Poèmes visibles eingefügt, mit denen er vom Titel her deutlich an die Terminologie und Tradition der Visuellen Poesie anknüpft. Neuere Explorationen zum experimentellen, insbesondere tektonischen Roman wecken das Interesse für Strukturpläne der Dichter, in denen sie während der literarischen Produktion, also lange vor dem Druck, Chronologien, Topographien oder Handlungsstrukturen ihrer Romane mit chromatischen Mitteln fixieren und für sich auf diese Weise jeweils einen Fahrplan für die Ausarbeitung im Detail erstellen. So bedient sich z. B. Claude Simon, der zum Nouveau Roman gezählt wird, bei den Planskizzen zu seinem Roman La route des Flandres (1959) zur Markierung von Themen, Motiven und Strukturen verschiedener wechselnder Farben (vgl. Abb. 2, Bildteil), die den Roman als Baukasten erscheinen lassen,85 und später fertigt Heinrich Böll ein multikoloristisches Schema (vgl. Abb. 3, Bildteil) zu seiner Erzählung Ende einer Dienstfahrt (1967)86 an, auf das er im Nachwort, den Gedanken der Simultaneität und Synopse hervorkehrend, folgendermaßen Bezug nimmt: „[…] und jetzt fing ich an zu planen, was ich gewöhnlich in Form einer abstrakten Aquarellskizze tue, weil eine solche Skizze es ermöglicht, die Sache auf einen Blick zu sehen“ (S. 210). Als ausgearbeitete Werkstruktur realisiert das Konzept poetischer Polychromie später die englische Autorin Doris Lessing, deren im Kontext mit der Emanzipationsbewegung entstandener Roman The Golden Notebook (London 1962) einen Erzählrahmen besitzt, der unter dem Titel Free Woman in fünf gezählte Kapitel zerfällt, denen, abgesehen von dem letzten, auf der Ebene der Binnenerzählung jeweils vier in sich nicht gezählte Abschnitte zugeordnet sind. Die Infrastruktur der vier Kapitel umfasst episch und symbolisch jeweils vier Notizbücher, erstens ein schwarzes, das die Erfahrungen der Autorin in Zentralafrika reflektiert, zweitens ein rotes, das auf ihre Mitgliedschaft in der kommunistischen Partei abhebt, drittens ein gelbes mit ihrer persönlichen Geschichte bis zu dem für sie traumatischen Zerbrechen ihrer Liebesbeziehung und viertens ein blaues als privates Diarium, welches ihre innersten Empfindungen offenbart. Zwar hat der Roman auf den ersten Blick eine durchgehend quaternarische Makrostruktur mit vier Rahmenteilen und 4 × 4 = 16 Binnenabschnitten, doch münden die vier Notizbücher schließlich in einem fünften Kapitel, dem goldenen Notizbuch, in dem die zuvor narrativ explizierten, autobiographisch fundierten und mit Gender-Problemen

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Claude Simon: Œuvres. Hrsg. von Alastair B. Duncan. Paris 2006, S. 1205–1224; vgl. Hilde Strobl: Die Planung des Raumes in der Zeichnung des Dichters. In: Architektur wie sie im Buche steht. Hrsg. von Winfried Nerdinger. München 2006, S. 146–160, hier S. 156f. Heinrich Böll: Ende einer Dienstfahrt: Erzählung. 26. Aufl. München 2004.

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konnotierten Konflikte einer harmonischen Lösung zugeführt werden. Mit dem Konzept der Tektonik des Überschüssigen auf der Basis einer Endgipfelkomposition ist kompatibel, dass der abschließende Teil Free Woman 5 letztlich eine zyklische Bauform konstituiert und auf diese Weise der Charakter der Rahmenerzählung gewahrt wird. Wie die Autorin in ihrem Vorwort artikuliert, werden die Notizbücher von Anna Wulf, der Hauptfigur, geführt: She keeps four, and not one because, as she recognizes, she has to separate things off from each other, out of fear of chaos, of formlessness – of breakdown. Pressures, inner and outer, end the Notebooks; a heavy black line is drawn across the page of one after another. But now that they are finished, from their fragments can come something new, The Golden Notebook.87

Das geordnete Farbenspektrum der Notizbücher indiziert zusammen mit der strengen Numerik den Versuch, die Gefahr von innerem Chaos und Formverlust abzuwenden, erschöpft sich aber nicht nur in der Funktion von Gliederungsindikatoren im Dienst einer ausgeklügelten Werkorganisation, sondern aktiviert auch symbolische Valenzen der Farbqualitäten, allerdings weniger in traditionell allegorischen als in politischen und autobiographischen und am Schluss in utopischen, eine Aetas aurea evozierenden Kontexten. Mit einem magiologischen Diskurs assoziiert der Brite Robert Nye die multikoloristische Poetik, wenn er wohl auch unter dem Einfluss von Doris Lessing seinen arthurischen Roman Merlin (London 1978), dessen Held, ein Zauberer, vom Teufel mit einer Jungfrau gezeugt wird, nach den vier alchemistischen Farben in vier Bücher (The Black Book, The White Book, The Red Book, The Gold Book) disponiert, die auf die vier walisischen Komplexe der Merlinsage referieren.88 Nicht nur der von einem Incubus abstammende Magier soll das Opus magnum zur Herstellung von Gold mittels des Lapis philosophorum vollbringen, bei dem die alchemistischen Grundfarben traditionell eine wichtige Rolle spielen,89 sondern der Leser selbst wird in diesen Prozess einbezogen, der letztlich die Frage beantworten soll: „Whom does this Grail serve?“.90 Der Roman von Nye, der Farbmagie und Zeichenmagie (S. 10), Alphabetzauber (S. 71f.) und onomastische Beschwörungsrhetorik (S. 22) miteinander vernetzt, partizipiert an 87

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Vgl. Doris Lessing: The Golden Notebook. London 2007. Preface (1971), S. 7; Das goldene Notizbuch. Übers. von Iris Wagner. 19. Aufl. Frankfurt a. M. 2007‚ S. 7: „Sie führt vier und nicht eines, weil sie, wie sie erkennt, die Dinge voneinander getrennt halten muß, aus Furcht vor dem Chaos, vor Formlosigkeit – vor dem Zusammenbruch. Zwänge, innere und äußere, setzen den Notizbüchern ein Ende; ein dicker schwarzer Strich ist quer über die Seite von allen vieren gezogen. Aber nun, da ihnen ein Ende gesetzt ist, kann aus ihren Fragmenten etwas Neues entstehen, Das goldene Notizbuch.“ Vgl. Ernst (vgl. Anm. 3), S. 332. Vgl. Claus Priesner: Farben. In: Alchemie. Lexikon einer hermetischen Wissenschaft. Hrsg. von dems., Karin Figala. München 1998, S. 131–133. Vgl. Annegret Maack: Der experimentelle englische Roman der Gegenwart. Darmstadt 1984, S. 85 und 99f.

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neo-avantgardistischen Spielarten des tektonischen, visuellen und sprachexperimentellen Romans. Mit formalisierten und dabei höchst artifiziellen Gliederungssystemen operiert schließlich der äußerst vielseitige deutsche Schriftsteller Herbert Rosendorfer, der, wie seine Deutsche Suite (1972) dokumentiert, seinen Romanen z. T. auch musikalische Kompositionsformen als Strukturmodelle unterlegt hat, was den modernen tektonischen Roman generell kennzeichnet.91 Im Jahr 1980 hat Rosendorfer, der sich auch als Komponist und Maler betätigt hat, eine Reihe seiner Erzählungen unter dem Titel Ball bei Thod (1980) nach koloristischen Aspekten zusammengestellt und in durchsichtige, weiße, blaue, rote, grüne und schwarze Geschichten eingeteilt, nicht ohne in einem erweiterten Inhaltsverzeichnis vor den einzelnen Blöcken jeweils Proprietät und Symbolik der jeweiligen Farbe zu erläutern (vgl. Abb. b).

Abb. b: Herbert Rosendorfer: Ball bei Thod. München 1982.

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Vgl. Ulrich Ernst: Musikalische Komposition als narrative Makrostruktur: Analysen zur medialen Kontextualisierung des modernen Romans. In: Comparatio 2,2 (2010), S. 295–317.

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Polychromie erweist sich hier nicht als Organisation des Wissens, sondern als Ordnung des Erzählens. Eine einfarbige Struktur hat Rosendorfer, möglicherweise nach dem Vorbild der modernen monochromen Malerei, für die etwa der französische Maler Yves Klein steht, seinem Band Monolog in Schwarz und andere dunkle Erzählungen (2007) zugrunde gelegt, in welchem bezeichnenderweise ein Neger als Protagonist auftritt und in dem bewusst mit den Mitteln des schwarzen Humors gearbeitet wird. Das für die Poetik der Polychromie seit der Antike konstitutive Prinzip der Varietas92 transferiert der serbokroatische Schriftsteller Milorad Pavić auf seinen lexikographischen Roman Das chasarische Wörterbuch, der erstmals in Belgrad 1984 unter dem Titel Hazorski recnik erschien.93 Die Chasaren, ein nomadisches Turkvolk in Zentralasien, gründeten im 7. Jahrhundert ein Khaganat im nördlichen Kaukasus und konvertierten vom 8. Jahrhundert an, zumindest die Oberschicht, zum jüdischen Glauben, während im Volk selbst auch viele unangefeindet als Christen und Muslime lebten. Der Lexikonroman, der, unter dem Aspekt der numerischen Makroästhetik betrachtet, laut Titelblatt aus 100.000 Wörtern besteht, umfasst in toto drei Wörterbücher: ein rotes für die christlichen, ein grünes für die islamischen und ein gelbes für die hebräischen Quellen zur chasarischen Frage (vgl. Abb. c), die durch drei Symbole – das Kreuz, den Halbmond und den Davidstern (Hexagramm) – als Orientierungspunkte für den Leser repräsentiert werden. In der deutschen Übersetzung sind in allen Teilen dieses Opus tripartitum Lesebändchen, Linien der Kopfzeilen, Initialen der Lemmata und Tierembleme (Fische, Löwe und Widder) entsprechend den Grundfarben optisch koloriert. Pavićs lexikographischer Roman, der in sich vernetzt ist und in quasi infiniten Varianten permutativ gelesen werden kann, setzt farbliche Codes nicht nur als Gliederungssignale ein, sondern aktiviert auch ihre kulturelle Symbolik als Religionsfarben mit Hilfe eines berühmten Streitgesprächs, der sog. chasarischen Polemik, im Rahmen einer Konzeption von religiöser Toleranz, die an Lessings Ringparabel in seinem „dramatischen Gedicht“ Nathan der Weise (1779) erinnert.94 Da es sich bei Pavićs Werk thematologisch wie strukturtypisch um einen bibliozentrischen Roman handelt, spielt nach dem basalen Modell Buch im Buch die fiktionale Genealogie des Lexikons eine große Rolle. Bei der postmodernistisch kontaminierten

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Zur antiken und mittelalterlichen Tradition vgl. Mary J. Carruthers: Varietas. A Word of many Colours. In: Poetica 41 (2009), S. 11–33. Milorad Pavić: Das Chasarische Wörterbuch – Lexikonroman in 100.000 Wörtern. Männliches Exemplar. Übers. von Bärbel Schulte. München 1988. Vgl. Andreas Leitner: Milorad Pavićs Roman „Das Chasarische Wörterbuch“. Eine poetische Signatur gegenwärtiger Bewußtseinsformen. Klagenfurt 1991; Edeltraude Ehrlich: Das Historische und das Fiktive im „Chasarischen Wörterbuch“ von Milorad Pavić. Diss. Klagenfurt 1994. Vgl. Monika Schmitz-Emans: Von der Ringparabel zur Buchparabel. Milorad Pavićs Chasarisches Wörterbuch (Hazarski recnik) als poetologische Reflexion über geteilte Wahrheiten. In: Transkulturelle Rezeption und Konstruktion. Festschrift für Adrian Hsia. Hrsg. von ders. Heidelberg 2004, S. 187–204.

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Abb. c: Milorad Pavić: Das chasarische Wörterbuch. Weibliches Exemplar. München 1988, S. 365f.

Quellenfiktion wird das Opus auf die Urfassung eines Johannes Daubmannus zurückgeführt, die 1691 erschienen ist und buchtechnisch noch in drei einzelne Lexika zerfiel. Eines der ursprünglich 500 Exemplare war mit toxischer Druckerfarbe versehen, dabei mit einem goldenen Schloss verriegelt, während das entsprechende Kontrollexemplar durch ein silbernes Schloss geschützt war. Das ursprüngliche Exemplar war offenbar auch mit Bildern geschmückt, die nicht überliefert wurden, da von dem ganzen Werk angeblich nur Fragmente erhalten sind. Worauf schon die Versiegelungen hinweisen, galt das trichotome Werk als ketzerisch und wurde angeblich auch von der Inquisition verfolgt. Dass dem Roman mit seiner Pluralität von Leserichtungen eine besondere Art

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von Arkanpoetik zugrunde liegt, beweisen z. B. der Vergleich mit einem Zauberwürfel (S. 23) und der Abdruck eines magischen Quadrats (S. 278), das quasi als Mise en abyme der aleatorischen Makrotextur fungiert.95 Die permutative Text-Lesestruktur erinnert an die Temurah der kabbalistischen Tradition, und die alphabetische Lemmatisierung verweist analog auf die exzeptionelle Bedeutung der Schriftzeichen in der jüdischen Mystik, heißt es doch z. B. an einer Stelle des gelben Buchs: „Das irdische Alphabet ist der Spiegel des himmlischen“ (S. 278). Setzt man die Inspektion des visuellen Roman der Gegenwart fort, kristallisieren sich weitere prominente Werke heraus, in denen Farbschrift nicht nur metaphorischsemantisch, sondern auch buchkünstlerisch-optisch eingesetzt wird: So hat schon der zum Poststrukturalismus zählende und der Tel-Quel-Gruppe angehörende französische Romancier Maurice Roche seinen Roman Compact in beschränkter Auflage mit einem Druckbild aus neun Farben publiziert,96 und der rezente amerikanische Kultautor Mark Z. Danielewski, ebenfalls Vertreter des visuell-konkreten Romans, arbeitet sowohl in seinem Bestseller House of Leaves wie auch in seinem folgenden, als Road Novel angelegten und vice versa zu lesenden Roman Only Revolutions konzeptuell mit sichtbaren polychromen Strukturen, auf die er den Leser jeweils expressis verbis im Präkorpus des Werks hinweist.97 Ein besonderes Sensorium für die ästhetische Relevanz der Farben besitzt in der Gegenwart der amerikanische Romancier Paul Auster (geb. 1947), der konzeptionell sowohl von amerikanischen Transzendentalisten (Nathaniel Hawthorne, Henry David Thoreau) wie auch von französischen Poststrukturalisten (Jacques Derrida, Jacques Lacan) beeinflusst worden ist. In seinem Roman City of Glass (1985), dem ersten Band der New York Trilogy, der durch die Einfügung von Kartogrammen auch in die Tradition des visuellen Romans gehört, wird an einer Stelle detailliert das Farberleben des den Himmel beobachtenden Protagonisten Daniel Quinn beschrieben. Das permutative Changieren der Farben geht dabei von den sich stetig verändernden Wolkenformationen aus, die immer neue chromatische Konstellationen und Nuancierungen generieren, z. B. unendlich viele Grautöne zwischen den Polen Schwarz und Weiß. Wenn es in diesem Zusammenhang heißt: „these all had to be investigated, measured, and deciphered“,98 wird die Vorstellung vom Himmel als Buch evoziert, das vom Menschen nur schwer oder gar nicht zu entziffern ist. Dabei kann der himmlische Farbcode auch polychromer Natur sein, also ein breites und differenziertes Farbspektrum präsentieren, das aber wieder einer stetigen Veränderung bis zum Einbruch der Nacht unterliegt: 95

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Vgl. Ulrich Ernst: Textwürfel – Würfeltexte. Zu Kreuzwortlabyrinthen in der lateinischen und deutschen Gelegenheitsdichtung des Barock. In: Comparatio 1,2 (2009), S. 243–275. Der Vergleich mit einem Kartenspiel begegnet schon in Marc Saportas Composition No. 1 (1962); vgl. U. E.: Manier (Anm. 4), S. 367. Maurice Roche: Compact, Paris 1966; in Farbe reediert 1997. Mark Z. Danielewski: House of Leaves. New York 2000; ders.: Only Revolutions. New York 2006. Paul Auster: The New York Trilogy. London 1987, S. 117.

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From all this came the reds and pinks that Quinn liked so much, the purples and vermilions, the oranges and lavenders, the golds and feathery persimmons. Nothing lasted for long. The colours would soon disperse, merging with others and moving on or fading as the night appeared.99

Bei Auster ist die polychromistische Poetik keineswegs auf Naturbeschreibungen restringiert, vielmehr schlägt das Prinzip der Multikolorität auch auf die literarische Onomastik der Personenkonstellation durch. In seinem dem Genre Mystery Crime Novel nahestehenden Roman Ghosts (Schlagschatten) von 1986, der im Jahr 1987 als zweiter Teil der New York Trilogy veröffentlicht wurde, fungiert als Protagonist ein Privatdetektiv namens Blue, der für einen Auftraggeber namens White einen Mann namens Black observiert. Da auch andere Figuren der Story Farbnamen, z. B. Brown, Gray, Green und Gold, tragen, wirkt der Roman wie eine Palette, auf welcher der Autor verschiedene Farben zu einer planvollen Komposition, genauer Konfiguration mischt. Wie stark der Kolorismus den Roman strukturell prägt, dokumentiert z. B. ein dichterischer Katalog, der mit der programmatischen Aussage eingeleitet wird: „Everything we see, everything we touch – everything in the world has its own colour“ (S. 185). In dem Bestreben, nicht einzuschlafen, imaginiert und akkumuliert der Erzähler für die drei prädominierenden Farben des Romans, die durch die entscheidenden Personen Blue, White und Black repräsentiert werden, jeweils assoziativ zahlreiche Paradigmata.100 Bedient sich Auster bei seiner literarischen Auseinandersetzung mit Farben des Mittels der Deskription von Naturerscheinungen, setzt er Farbbegriffe kunstvoll im Rahmen literarischer Onomastik ein und rekurriert er bei Farbexempla auf das Modell der „unendliche[n] Liste“,101 so deuten sich in anderen seiner Werke wie dem Roman Man in the Dark (2008) oder der eher autobiographischen Schrift The Red Notebook (1995) Farbbezüge schon programmatisch im Titel an. Hatte sich Auster in seinem Roman Leviathan102 für die fiktionale Figur der Maria Turner die französische Konzeptkünstlerin Sophie Calle (geb. 1953)103 zum Vorbild genommen, so publizierte letztere nach einer Anleitung des Amerikaners, dem sog. Gotham-Handbook, als Gemeinschaftsarbeit im Jahr 2002 ein Künstlerbuch quasi als Bilingue in einer französischen und einer englischen Fassung unter den Titeln: DoubleJeux und Double-Game, das u. a. in einer Fotoserie die täglichen Mahlzeiten einer Woche in jeweils unterschiedlicher Farbe festhält, wobei in dem Schlusstableau mit der

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Ebd., S. 118f. Vgl. beispielsweise zur Farbe Blau, ebd., S. 185: „There are bluebirds and blue jays and blue herons. There are cornflowers and periwinkles. There is noon over New York. There are blueberries, huckleberries, and the Pacific Ocean. There are blue devils and blue ribbons and blue bloods. There is a voice singing the blues. There is my father’s police uniform. There are blue laws and blue movies. There are my eyes and my name“. 101 Umberto Eco: Die unendliche Liste. Übers. von Barbara Kleiner. München 2009. 102 Paul Auster: Leviathan. New York 1992. Übers. von Werner Schmitz. Reinbek 1994. 103 Vgl. die Studie von Stefanie Rentsch: Hybrides Erzählen. Text-Bild-Kombinationen bei Jean Le Gac und Sophie Calle. München 2010. 100

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Sonntagsmahlzeit alle Farben der Wochentage wiederkehren (vgl. Abb. 4, Bildteil). Ihr Zyklus The Chromatic Diet wird in dem Künstlerbuch durch Bemerkungen eingeleitet, in denen auf die entsprechende Schilderung in Austers Leviathan nach der Ausgabe London 1993 Bezug genommen wird,104 mit deren Hauptfigur Maria Turner sich Sophie Calle konzeptuell identifiziert, weil diese sich wie sie bestimmten rigiden Lebensregeln bedingungslos unterwirft: To be like Maria, during the week of December 8 to 14, 1997, I ate Orange on Monday, Red on Tuesday, White on Wednesday, and Green on Thursday. Since Paul Auster had given his character the other days off, I made Friday Yellow and Saturday Pink. As for Sunday, I decided to devote it to the full spectrum of colors, setting out for six guests the six menus tested over the week. (S. 12f.)

Wie ebenfalls andere performative Aktionen und Selbstinszenierungen Sophie Calles vor Augen führen, nutzt sie wie z. B. auch ihr fiktionales Vorbild Maria Turner psychische, insbesondere sexuelle Devianzen (u. a. Voyeurismus, Stalking, Kontrollwahn, Exhibitionismus, Fetischismus, Masochismus) als Generatoren für plurimediale ästhetische Prozesse, die strukturell zwischen Spiel und Ritual oszillieren. Die bei Paul Auster beschriebene Farbdiät als strikt einzuhaltender Speiseplan nach ausschließlich farblichen Kriterien reflektiert einerseits die totale Unterordnung unter einen oktroyierten Plan, der arbiträr, fremdbestimmt und pedantisch wirkt, dokumentiert aber andererseits die für Calle charakteristische, sich in vielen ihrer künstlerischen Projekte ausprägende und mit strenger Methodik und Systematik einhergehende ästhetische Konzeptualisierung: Wie die koloristische Diät illustriert, wird die Sinnlosigkeit scheinbar zwangsneurotischen Handelns bei ihr in sinnvolle Bahnen künstlerischer Produktion gelenkt. Insgesamt ist die Farbdiät, die Paul Auster literarisch im Leviathan fixiert und die die Französin auch in einer Fotostrecke transkribiert hat, zudem eine Art von Gegenentwurf zu der Konzeption der Eat Art, die Daniel Spoerri in den sechziger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt hat. In der Buchkunst von Sophie Calle konvergieren die Romanillustration, wie sie das Malerbuch auszeichnet, die Concept Art, wie sie für das Künstlerbuch typisch ist, und, z. B. durch Buchschleife und eingeklebte Romanseiten, die Objektkunst, wie sie auch ihr vom Buchobjekt zu unterscheidendes Objektbuch charakterisiert. Aus interdisziplinärer Perspektive kann man konstatieren, dass, wie die transartistische Kooperation von Paul Auster und Sophie Calle zeigt, die polychrome Poetik des experimentellen Romans durch Vermittlung der Concept Art sogar auf die bildende Kunst, hier in den avancierten Bereich des Livre d’artiste, ausstrahlt.

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Ebd., S. 60f.: „Some weeks, she would indulge in what she called ‚the chromatic diet‘, restricting herself to foods of a single color on any given day. Monday orange: carrots, cantaloupe, boiled shrimp. Tuesday red: tomatoes, persimmons, steak tartare. Wednesday white: flounder, potatoes, cottage cheese. Thursday green: cucumbers, broccoli, spinach – and so on, all the way through the last meal on Sunday.“

Polychromie als literarästhetisches Programm

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VII. Fazit: Grundlinien einer Poetik der Polychromie Wie retrospektiv festzuhalten, suggeriert Polychromie literarisch eine bunte Fülle und breitgefächerte Mannigfaltigkeit des ästhetischen Gebildes im Spannungsfeld von Chaos und Nomos, von enzyklopädischer Ordnung des Wissens und plurivialer Ordnung des Erzählens. Wer als Poeta pictor Befürworter des Multikolorismus ist, vertritt in kunsttheoretischer und literaturästhetischer Hinsicht die Maxime: Vive la différence! Polychromie ist eine poetologische Chiffre für die Varietät von Stillagen, Erzählformen, Bauteilen, Formschichten und ästhetischen Ebenen, dabei trotz der Tendenzen zur Diffusion und Dispersion immer bezogen auf eine integrative Werkeinheit: Farbkonstellationen illustrieren in der antiken Literatur vorwiegend das Spektrum des Wissens und dienen in der Moderne und Postmoderne primär als literarische Organisationsformen des experimentellen Romans. Die Poetik der Vielfarbigkeit entfaltet ihre Wirkung früh in literaturbezogenen Subdisziplinen wie Rhetorik, Stilistik, Narratologie und vor allem Tektonik, was nicht ausschließt, dass sie sich diskursiv und imaginativ z. B. auch mit Kontexten aus Bibelallegorese, Alchemie und Textilkunst verbindet. Speziell im hohen Mittelalter tritt sie in neue Farbkontexte kirchlicher und höfischer Kultur und orientiert sich schließlich mit Beginn der Renaissance auch an kulturellen Institutionen wie Kuriositätenkabinett und Naturaliensammlung. Wie stark die Vorstellung von Polychromie mit der Textilkunst verknüpft ist, manifestiert etwa die literarische Gattung des Centos (= Flickenteppich), die in der Postmoderne mit ihrer Verherrlichung der Intertextualität wieder hohes Ansehen erlangt, wie das Beispiel des argentinischen Autors Jorge Luis Borges belegt, in dessen fiktionaler Erzählung El Immortal (Der Unsterbliche) von einem geheimnisvollen Manuskript die Rede ist, das in toto aus Zitaten der Weltliteratur zusammengesetzt ist, später kommentiert in einer Schrift mit dem Titel A Coat of Many Colours (Ein buntscheckiger Rock).105 Wenngleich ein gewisser Trend vom szientifischen Ordo zum narrativen Ordo herrscht, wobei es sich aber nur um Graduierungen handelt, sollte nicht vergessen werden, dass beide Aspekte außerhalb des fiktionalen Erzählens nicht zuletzt in der Form des modernen Künstlerbuchs zusammentreten, z. B. in der imaginären Zweiten Enzyklopädie von Tlön von Peter Malutzki und Ines von Ketelhodt, in der in einer Inhaltsübersicht der Thesaurus der Lemmata als visuelle Farbordnung präsentiert wird.106 105

In: Das Aleph (El Aleph). Erzählungen 1944–1952. Übers. von Karl August Horst, Gisbert Haefs. Frankfurt a. M. 1992 (Werke in 20 Bänden. 6), S. 27f.: „Unter den Kommentaren, zu denen die vorstehende Publikation angeregt hat, erschien der beachtlichste, wenn nicht gerade der freundlichste, unter dem biblischen Titel: A Coat of Many Colours [Ein buntscheckiger Rock] (Manchester 1948), und zwar aus der äußerst hartnäckigen Feder des Doktors Nahum Cordovero. […] Der Verfasser spricht von den griechischen Centones, von den Centonen der mittellateinischen Zeit […].“ 106 Ines von Ketelhodt, Peter Malutzki: Zweite Enzyklopädie von Tlön. Ein Buchkunstprojekt. München 1997–2006, hier S. 132f.; vgl. Ulrich Ernst: Konstituenten postmoderner Ästhetik in der

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Ulrich Ernst

Mag sich die Poetik der Polychromie häufig mit Farbmetaphorik begnügen, die im Kontext von koloristischer Hermeneutik und ihren diversifizierten Methoden der Sinnstiftung steht, so finden sich doch immer wieder Versuche, solche Farbprogramme auch buchkünstlerisch und damit materiell wie visuell umzusetzen: Ein exzellentes karnevalistisches Paradigma ist die auf das buntscheckige Narrengewand anspielende marmorierte Seite in Sternes Tristram Shandy, die zugleich als Mise en page und Mise en abyme fungiert. Diese Tendenz zur Visualisierung spiegelt sich, wie z. B. der Roman von Milorad Pavić vor Augen führt, auch in der metareflexiven Thematisierung des Buches als eines planvoll organisierten Mediums, die dem lexikographischen Werk einen selbstreferentiellen Charakter verleiht. Gegen Monotonie gerichtet, vertritt die dem Manierismus affine Poetik der Polychromie rezeptionsästhetisch den schon in der antiken Gnomik (Euripides, Cicero) fixierten Grundsatz Variatio delectat, wendet sich gegen Langeweile, gegen das Angeödet-werden durch die Stereotypie des immer Gleichen und mehr noch gegen jenes Fastidium, vor dem schon die mittelalterlichen Dichter den Leser bewahren wollen. Die multikoloristische Poetik geht mit ihrer dynamischen Tendenz zur Auffächerung permanent Junkturen zu anderen Künsten ein, wie u. a. Ansätze im 19. Jahrhundert unter dem Label Audition colorée und Synästhesie demonstrieren, erweist sich aber immer als eine Signatur für literarische Makroästhetik mit den Qualitäten von Metaphorik und Visualität, Ausdifferenzierung und Binnenkohärenz, Skalierung und Alternanz in einer ausbalancierten Interdependenz von polymorpher Ordnung, stringenter Systematik und kühner Regelüberschreitung.

Nachfolge von Jorge Luis Borges. Die fünfzigbändige Zweite Enzyklopädie von Tlön und die Tradition des ‚Livre d’artiste‘. In: Enzyklopädien des Imaginären. Jorge Luis Borges im literarischen und künstlerischen Kontext. Hrsg. von Monika Schmitz-Emans, Kai Lars Fischer, Christoph Benjamin Schulz. Hildesheim 2011 (Literatur–Wissen–Poetik. 1), S. 75–107, hier S. 100f. und Abb. 4.

Udo Friedrich

Bunte Pferde Zur kulturellen Semantik der Farben in der höfischen Literatur

I.

Farbsemantik und kultureller Kontext

Der Zusammenhang von Pferd und Farbe erhält seine besondere Signifikanz erst in historischer Perspektive. Einer industrialisierten Kultur, die das Tier nur noch als ökonomische Ressource und Spielzeug kennt, fällt es schwer, sich jener Semantiken zu vergewissern, die frühe Agrar- oder Jagdkulturen mit dem Pferd verbunden haben, Kulturen, die in enger Koexistenz mit Tieren lebten.1 Noch im Mittelalter ist das Pferd weit mehr als ein Instrument, es ist Zeichenträger für ganz unterschiedliche kulturelle Semantiken. Für die weltliche und geistliche Sphäre ist das Pferd auch ein komplexes Medium, um Sinnpotentiale zu verhandeln. Im Ensemble adliger Statusattribute ist es sowohl Ausdruck politischer Herrschaft als auch Zeichen der Domestizierung, zugleich wird an ihm die komplexe Spannung von Mensch und Tier reflektiert.2 In der geistlichen Sphäre nimmt das Pferd vor allem allegorischen Wert an.3 Im Spektrum allegorischer Sinnbildung finden dabei auch die Farben ihren Ort. Im 35. Kapitel seiner Schrift De universo, das über die Farben der Pferde handelt, illustriert Hrabanus Maurus die Differenz von christlichen und heidnischen Codierungen am Beispiel der apokalyptischen Pferde. Während die Heiden die Farben in Korrespondenz zu den Elementen, Planeten und Jahreszeiten setzen, bilden sie für die christliche Allegorese heilsgeschichtliche Größen in bonam und in malam partem. Das weiße Pferd bezeichnet die Kirche, das rote das unheilige Volk zur linken Christi, das schwarze die Schar der

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Thomas Macho: Art. Tier. In: Vom Menschen. Handbuch Historische Anthropologie. Hrsg. von Christoph Wulf. Weinheim / Basel 1997, S. 62–85. Das Gefüge von Ritter und Pferd besitzt kulturellen Symptomwert und wird in verschiedenen zeremoniellen Kontexten instrumentalisiert: z. B. im Krönungszeremoniell, im Turnier, im Stratordienst und im Begräbnisritual. Wilhelm Peraldus etwa unterwirft in seiner Summa de vitiis den Ritter einer tropologischen Deutung, in der das Pferd im Ensemble der Waffen den guten Willen repräsentiert. Michael Evans: An illustrated Fragment of Peraldus’s Summa of Vice: Harleian Ms 3244. In: Journal of the Warburg and Courtauld Institutes 45 (1982), S. 14–68.

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falschen Brüder, das blasse die Häretiker.4 Die christliche Farbmetaphysik ist zum einen zwischen die Pole Licht und Finsternis gespannt, aus denen der Kontrast von Weiß und Schwarz resultiert, zum anderen durch den Gegensatz von Reinheit und Tod bestimmt, der in der Relation von Weiß und Rot zum Ausdruck kommt: Weiß als Zeichen der Unschuld, Schwarz als Zeichen der Sünde und Strafe; Rot als Zeichen des Martyriums, aber auch des Pfingstfeuers.5 Die Farbsemantik unterliegt im polaren Weltbild der Kirche offenbar keinem festen Code, sondern verändert sich je nach Perspektive. Alanus ab Insulis analogisiert im Anticlaudianus die Sinne mit fünf Pferden, die vor den Wagen der Künste gespannt werden.6 Die Priorität des Gesichtssinnes kommt nicht nur in Gestalt, Rasse und Geschwindigkeit des ersten Pferdes zum Ausdruck, sondern auch darin, „daß es, mit Weiße besprüht, durchschimmernde Röte vergoldet.“7 Das zweite Pferd korrespondiert dem Gehörsinn, „da es stets sich verwandelt, ist ihm keine Farbe eigen, / Oft nur täuscht es uns vor das Bild einer eigenen Farbe“, das dritte Pferd, der Geruchsinn, ist „von einer hauchfeinen Mischung von Farbe […] übersprüht: Flüchtig aber entzieht sich diese Farbe den Blicken.“8 „Mattgrün lacht“ dagegen die Farbe des vierten Pferdes, des Geschmacksinns, während das fünfte Pferd den tellurischen Tastsinn verkörpert, den „dunkle Farbe umkleidet, die Schwärze hält ihn umfangen, die da keinerlei andere Farbe neben sich duldet.“9 Wie über Gestalt, Bewegungsart und Herkunft wird die Leistung der einzelnen Sinne über Farben visualisiert, ihre Hierarchie ordnet sich zwischen den Polen Weiß und Schwarz, die auch eine vertikale Relation der Räume und Werte implizieren. Farbsemantiken sind abhängig von ihrem kulturellen Kontext. Die Theologie entwickelt einen anderen Zeichencode als die Heraldik, in der Farben der genealogischen 4

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Hrabanus Maurus: De universo. In: B. Rabani Mauri Fuldensis abbatis et Moguntini archiepiscopi opera omnia. Hrsg. von Jacques-Paul Migne. Turnhout 1996 (PL 111), T. 5: Sp. 9–614, hier Sp. 553. Beate Ackermann-Arlt: Das Pferd und seine epische Funktion im mittelhochdeutschen ‚Prosa-Lancelot‘. Berlin / New York 1990, S. 152. John Gage: Die Sprache der Farben. Bedeutungswandel der Farbe in der bildenden Kunst. Ravensburg 1999, S. 70. Michel Pastoureau: Black. The History of a Color. Princeton / Oxford 2009, S. 39–63. In der christlichen Farbökonomie der Kleidung spielen Schwarz, Weiß und Rot eine zentrale Rolle. Ebd., S. 63–66. Alain de Lille: Anticlaudianus. Texte critique avec une introduction et des tables. Publ. par R. Bossuat. Paris 1955. Alanus ab Insulis: Der Anticlaudian oder die Bücher von der himmlischen Erschaffung des Neuen Menschen. Ein Epos des lateinischen Mittelalters. Übersetzt und eingeleitet von Wilhelm Rath. Stuttgart 1966. Alanus ab Insulis 1966 (Anm. 6), V. 98f.: „[…] quod illum / Respersus candore color subrufus inaurat“; Alain de Lille 1955 (Anm. 6), V. 98f. Alanus ab Insulis 1966 (Anm. 6), V. 127, 148f. Alain de Lille 1955 (Anm. 6), V. 127f.: „Se uarians nullo prescribitur ille colore, Sed uultum proprii mentitur sepe coloris.“; „Subtilis respergit eum mixtura coloris, / sed fugiens oculos“ (V. 148f.). Alanus ab Insulis 1966 (Anm. 6), V. 180, 205–207. Alain de Lille 1955 (Anm. 6): „Glaucus ei color arridet […]“ (V. 180); „Vestit eum color obscurus quem possidet ipsa / Nigredo, nullum passura colorem / Nec plebeia uiget […]“ (V. 205–207).

Bunte Pferde

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Markierung und der sozialen Differenzierung dienen.10 Die literarischen Farbmarkierungen von Heldenepik und höfischem Roman unterscheiden sich noch einmal davon, indem sie die unterschiedlichen kulturellen Register kombinieren. Fasst man die höfische Epik als Selbstdarstellung einer adligen Führungsschicht auf, so transportiert sie nicht nur ein politisches und ethisches, sondern auch ein ästhetisches Programm. Sein Ort ist die descriptio, eine rhetorische Technik, durch die der Adel seinem kulturellen Selbstverständnis Ausdruck verleiht: Beschreibungen von Personen, Kleidung, Burgen, Grabmälern, Waffen und auch Pferden unterbrechen immer wieder die Handlung, wodurch zentrale Attribute der adeligen Lebenswelt hyperbolisch ästhetisiert und zum Ausdruck höfischer Kultur geformt werden. Die Heldenepik hebt vor allem auf die physische Rivalität von Reiter und Pferd ab – z. B. Hector, Alexander, Reinolt von Montalban, und Farbmarkierungen scheinen hier noch selten zu sein.11 Reinolts von Montalban Pferd Beyart ist zwar schon deutlich als schwarz-weißes Wesen gezeichnet, die Farbsignatur wird aber nicht eigens semantisiert. Christlich übercodiert wird die Farbsignatur dann aber, wenn König Orendel im grauen Mönchsrock das kohlschwarze und ungezogene Ross des Heiden Marian domestiziert.12 Der zum Christen mutierte Herrscher unterwirft sich das wildeste Pferd durch seine heilige Aura. Die höfische Literatur zeichnet demgegenüber die Verbindung von Ritter und Pferd nicht nur als ein harmonisches Gefüge kultureller Werte, sie ist auch der eigentliche Ort extensiver Farbentfaltung.13

II. Farbfunktionen und Farbrelationen Die Synthese von Ritter und Pferd lässt sich über physische Qualitäten oder allgemein über den Repräsentationswert höfischer Ausschmückung herstellen. Farben können in diesem Zusammenhang Korrespondenzen und Synthesen markieren, etwa im rekurren10

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Hans Jürgen Scheuer: Wahrnehmen – Blasonieren – Dichten. Das Heraldisch-Imaginäre als poetische Denkform in der Literatur des Mittelalters. In: Wappen als Zeichen. Mittelalterliche Heraldik aus kommunikations- und zeichentheoretischer Perspektive. Hrsg. von Wolfgang Achnitz. Berlin 2006 (Das Mittelalter. 11. 2006, 2), S. 53–70. Herbort’s von Fritslâr liet von Troye. Hrsg. von G. Karl Frommann. Quedlinburg / Leipzig 1837 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit. 5), V. 4796f. Vgl. Sara Stebbins: Studien zur Tradition und Rezeption der Bildlichkeit in der ‚Eneide‘ Heinrichs von Veldeke. Frankfurt a. M. / Bern 1977 (Mikrokosmos. Beiträge zur Literaturwissenschaft und Bedeutungsforschung. 3), S. 133–146, bes. 137. Lamprechts Alexander. Nach den drei Texten mit dem Fragment des Alberic von Besançon und den lateinischen Quellen. Hrsg. u. erklärt von Karl Kinzel. Halle 1884, V. 270–293 (Straßburger Version). Reinolt von Montelban oder Die Haimonskinder. Hrsg. von Friedrich Pfaff. Tübingen 1885, V. 786–899. Orendel. Hrsg. von Hans Steinger. Halle / Saale 1935 (Altdeutsche Textbibliothek. 36), V. 967–983. Zur höfischen Synthese von Reiter und Pferd vgl. die Beschreibung Tristans in: Gottfried von Straßburg: Tristan. Hrsg. von Karl Marold. Überarbeitet von Werner Schröder. Berlin 1969, V. 6707ff.

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ten Auftreten roter oder schwarzer Ritter, ihre semantische Funktion bleibt aber weitgehend unbestimmt.14 Einen besonderen Fall bildet die mittelalterliche Erzählung von Tristan als Mönch, in der eine Königin Tristan „durch minne“ ein Pferd übersendet, das sich durch besondere Farbsignaturen auszeichnet: ein fuos was yme grüene also ein graß, ein fuoß yme wiß was, und ein ore sere rot. do by sy yme enbot, das die farwen mißlich waeren bezeichenlich. an des oren roete clagete siu dire noete, das siu enbran von mynne, an der grüenen farwen inne, das ir das was nuwe. die wisse rote truwe, wenne die wisse farwe ist one folter garwe.15

Gegenüber einer Reihe von mittelalterlichen Erzählungen, in denen farbig markierte Pferde auftreten, gibt der Erzähler hier explizit eine Deutung, und der Befund demonstriert, dass den Farben durchaus eine spezifische Semantik zugewiesen werden konnte. Der Ausnahmestatus der Stelle aber verweist zugleich auf die grundsätzliche Schwierigkeit, den Zeichenwert von Farben zu ermitteln. Der Rekurs auf ein struktural und semiotisch ausgerichtetes Analyseinstrumentarium kann hier vielleicht weiterführen. Roland Barthes hat im Rahmen seiner Erzähltheorie ein ganzes Set an Funktionen definiert, die den Sinn einer Erzählung generieren. Als Sinn definiert er in strukturalistischer Perspektive jedes Element, das eine Korrelation stiftet.16 Neben der horizontalen Ebene der syntagmatischen Distribution der Zeichen etabliert er eine vertikale Ebene der paradigmatischen Integration, in der die Zeichen an übergeordnete Kontexte anschließbar sind. Der Logik des Tuns, so Barthes, korrespondiere eine Logik des Seins, die z. B. auf Werte, Institutionen oder kulturelle Kontexte verweise.17 In diesem Verständnis konstituiert das zitierte Beispiel über die konkrete Semantisierung der syntag-

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Friedrich Ohly: Die Pferde im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. In: Ausgewählte und neue Schriften zur Literaturgeschichte und zur Bedeutungsforschung. Hrsg. von Uwe Ruberg, Dietmar Peil. Stuttgart / Leipzig 1995, S. 323–364. Ackermann-Arlt 1990 (Anm. 4), S. 152–168. Zur poetischen Technik der Farbmarkierung (Rot) vgl. Monika Schausten: Vom Fall in die Farbe. Chromophilie in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘. In: PBB 130 (2008), S. 459–482. Tristan als Mönch. Mittelhochdeutsch-Neuhochdeutsch. Hrsg. von Albrecht Classen. Greifswald 1994, V. 357ff. Stebbins (Anm. 11), S. 133–146, hier S. 141. Roland Barthes: Einführung in die strukturale Analyse von Erzählungen. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M. 1988, S. 102–143, hier S. 109. Ebd., S. 111f.

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matisch aufeinander folgenden Farbsignaturen auch eine paradigmatische Zeichenrelation. Barthes differenziert seinen Zeichenbegriff weiter, indem er ihm eine dreigliedrige Relation zuschreibt. Neben seinem konkreten symbolischen Bezug auf den Referenten und seinem paradigmatischen auf den lexikalischen und kulturellen Kontext steht jedes Zeichen auch in einer syntagmatischen Beziehung zu seinem textuellen, diskursiven Umfeld.18 Unter diesem Blickwinkel kann die Farbe Rot (symbolisch) erstens Lippen, Rose und Blut denotieren, die Farbe Weiß Haut, Lilie und Schnee, Schwarz hingegen Nacht, Haut, Asche, Pech und Kohle.19 Die Paradigmatik des Farbcodes besteht nun zweitens darin, dass er einerseits aus anderen möglichen Farbrelationen ausgewählt wird und andererseits unterschiedliche Besetzungen erlaubt. Rot und Weiß evozieren entsprechend eine Reihe unterschiedlicher Semantiken: Rot kann Leben, Liebe, Schönheit, aber auch Leiden konnotieren; Weiß dagegen Reinheit, Licht, aber auch Tod. Schwarz hingegen steht paradigmatisch für die Mächte der Finsternis (Hölle), aber auch für Fremdheit, Bosheit und Tod. Die gleiche Farbe kann unterschiedliche Semantiken, verschiedene Farben können die gleiche Semantik auf sich ziehen. Über die Relationierung der drei Farbwerte im Syntagma lassen sich nun drittens komplexe konkurrierende oder komplementäre Konstellationen visualisieren: z. B. die Spannung von Begehren und Scham, Leben und Tod, Opfer und Reinheit, Himmel und Hölle, schließlich Schönheit und Hässlichkeit, so dass sich im Textzusammenhang je eigene Farbdiskurse konstituieren können. Gerade innerhalb der Literatur, die jenseits der natürlichen eine künstliche Zeichenordnung stiftet, werden Farbrelationen wiederholt zu einer komplexen Farbpoetik ausgebaut. Christel Meier, Rudolf Suntrup und Hans Jürgen Scheuer haben das Themenfeld für die Mediävistik erschlossen.20 Erweitert man das Barthesche um das Piercesche Zeichenmodell, ergeben sich noch weitere Möglichkeiten der Farbrelationierung. Von den drei Pierceschen Zeichentypen – Symbol, Ikon, und Index – sollen hier nur das Symbol und das Ikon aufgegriffen werden, letzteres bezieht sich nur auf visuelle Zeichen und ist seinerseits noch ein-

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Roland Barthes: Die Imagination des Zeichens. In: Literatur oder Geschichte. Hrsg. von Dems. Frankfurt a. M. 1969, S. 36–43. Pastoureau (Anm. 5), S. 47–56 sowie S. 79–87. Christel Meier, Rudolf Suntrup: Zum Lexikon der Farbenbedeutungen im Mittelalter. Einführung zu Gegenstand und Methode sowie Probeartikel aus dem Farbenbereich ‚Rot‘. In: Frühmittelalterliche Studien 21 (1987), S. 390–478. Christel Meier: Von der Schwierigkeit, über Farben zu reden. In: Ästhetische Transgressionen. Festschrift für Ulrich Ernst zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Michael Scheffel, Silke Grothues, Ruth Sassenhausen. Trier 2006 (Schriftenreihe Literaturwissenschaft. 69), S. 81–100. Hans Jürgen Scheuer: Farbige Verhältnisse. Zur Topik kultureller und literarischer Farbkonzeption in Texten des 12.–14. Jahrhunderts und bei Heinrich von Kleist. Habilitationsschrift Göttingen 2000 (masch.). Ich danke Hans Jürgen Scheuer für die Einsichtnahme in sein Typoskript.

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mal in Bild-Ikon, Diagramm und Metapher unterteilt.21 Während das Bild-Ikon auf Abbildrelationen und reale Ähnlichkeiten zwischen Zeichen (Farben) und Objekt (Pferd) verweist, bieten Diagramme abstrakte analoge „Relationen und Proportionen des Bezugsobjektes“ (z. B. Karten, Kurven, Schemata, geometrische Zeichnungen), Metaphern übertragen demgegenüber Ähnlichkeitsverhältnisse auf andere Objekte oder Konstellationen.22 Gegenüber dem Symbol als rein sprachlicher Repräsentation liefern Bild-Ikon, Diagramm und Metapher unmittel- oder mittelbar wahrnehmbare Bilder. Das Bild-Ikon ließe sich so innerhalb eines Textes als Illustration realisieren, reale Diagramme böten Schematisierungen des Objekts, Metaphern Sprachbilder, deren jeweilige Übertragungen von der konnotativen Fähigkeit des Autors oder Lesers abhängen. Nun kann bereits die rein sprachliche, symbolische Repräsentation von Pferden Farbassoziationen – Schimmel, Rappe, Fuchs – implizieren. Innerhalb von Texten kann darüber hinaus über die Technik der Beschreibung der visuelle Effekt des sprachlichen Symbols noch gesteigert werden, indem Farbmarkierungen mehr oder minder extensiv entfaltet und vor Augen gestellt werden.23 Die konkrete Anschaulichkeit von Bild-Ikon und Diagramm fände mithin über die Evidenzleistung der descriptio ihr Äquivalent auf der rein sprachlichen Ebene der Darstellung. Berühmt ist Wolframs Elsterngleichnis und sein Transfer noch auf die Hautfarbe von Parzivals orientalischem Bruder Feirefiz. Hier artikuliert sich die Farbsignatur des Zeichens nicht nur als sprachlich repräsentiertes Symbol (Elster), sondern über seine entfaltete descriptio auch als Diagramm (SchwarzWeiß), das Wertrelationen (Gut-Böse, Himmel-Hölle, Eigen-Fremd) modellierbar macht, schließlich als Metapher, die Übertragung noch auf andere Konstellationen des Textes aktiviert. Diagramme bieten mithin nicht nur abstrakte Repräsentationen des Objekts, sondern auch virtuelle Regeln für das Arrangement von Elementen und ihren Relationen innerhalb von Textstrukturen.24 Sie eröffnen einen Spielraum an Gestaltungsmöglichkeiten, der in den unterschiedlichen Farbcodes der Objekte (Pferde) zum Ausdruck kommt. Über die Anzahl, Verteilung und Variation der Farben, ihr Arrangement in geordneten Flächen, Linien und Punkten erhält das zu beschreibende Objekt eine abstrakte Struktur mit Elementen und Relationen, die Kontraste, Symmetrien und Korrespondenzen beschreibbar machen und in das bedrohlich Undifferenzierte geordnete Differenzen einziehen. Die Farben der über die descriptio entfalteten Objekte bieten dabei nicht nur die Option, reale Ähnlichkeiten zu markieren. Über ihr Arrangement, das von natürlichen 21 22 23

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Matthias Bauer, Christoph Ernst: Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld. Bielefeld 2010 (Kultur- und Medientheorie), S. 43. Ebd. Zur rhetorischen Technik der Evidentia vgl. Rüdiger Campe: Vor Augen stellen. Über den Rahmen rhetorischer Bildgebung. In: Poststrukturalismus. Herausforderung an die Literaturwissenschaft. DFG-Symposion 1995. Hrsg. von Gerhard Neumann. Stuttgart / Weimar 1997 (GermanistischeSymposien-Berichtsbände. 18), S. 208–225. Bauer, Ernst (Anm. 21), S. 44–49.

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(Wolframs Elster) über künstliche (Camillas Pferd) bis hin zu geometrischen Zeichnungen (Enites Pferd) sich erstreckt, liefern sie zugleich Anweisungen und Regeln für die Deutung von Relationen, die dann in einem weiteren Schritt auf Basiskonstellationen des Textes übertragen, d. h. metaphorisiert werden können. Bild-Ikon, Diagramm und Metapher bilden mithin nicht nur unterschiedliche Ausprägungen ikonischer Zeichen, sie können in der descriptio auch zusammenfallen. Farben wären in diesem Verständnis Zeichen, die einfache Denotationen, zugleich aber auch paradigmatische Relationen mit ihren spezifischen Werten indizieren können. Sie bilden Einschreibeflächen für die Aktivierung kultureller Semantiken, die aus einem Archiv konkurrierender Codes ausgewählt werden, aus Oppositionen, Korrespondenzen und Graduierungen ihre Geltung beziehen und über die descriptio visuell umgesetzt werden. Sie markieren z. B. metaphysische (Finsternis-Licht), natürliche (Dunkel-Hell) und soziale (Königspurpur) Ordnungen; Sommer (Blütenfarben) und Winter (Schnee), Natur (Farbpalette) und Kultur (geformte Farben), Affektdispositionen (Zorn, Scham), moralische Werte wie Gut und Böse, ästhetische wie Schön und Hässlich, aber auch Körper- und Genderkonzepte.25 Die paradigmatisch ausgerichteten Farbwerte können aufgrund ihrer syntagmatisch entfalteten Oppositionen und Relationen je eigene Axiologien implizieren, die über die Evokation visueller Eindrücke die Organisation komplexer Syntagmen unterstützen. Die semantische Leere, die Farben genuin auszeichnet, macht sie anwendbar für die verschiedensten Arten von Besetzungen. Wie die christliche Metaphysik rekurriert auch die höfische Literatur immer wieder auf die Opposition von Schwarz und Weiß sowie auf die von Weiß und Rot, sie nimmt aber jeweils andere Semantisierungen vor. Rot und Weiß sind geradezu topischer Bestandteil der höfischen Schönheitsbeschreibung: Florîe im Wigalois etwa besitzt eine Haut, „von rôsen varwe wîze / getempert mit vlîze“; die Wangen [wârn ir] rôsenvar, daz antlütze lûter gar von roete und von wîze, als si got mit vlîze gemischet hêt begarwe. mit alsô liehter varwe was ir lîp über al linde und eben hin zetal. […] ir zene wîz, eben und kleine, ûz vil lûterm beine zesamene gestecket;

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Hans Jürgen Scheuer hat dies auf der Basis topischer Verfahren an vielen Beispielen überzeugend demonstriert. Scheuer 2000 (Anm. 20).

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Udo Friedrich der munt hêt si bedecket mit rôsenvarwer roete.26

Die Schönheitstopik rekurriert in der mittelalterlichen Literatur immer wieder auf diese Farbrelation und bestätigt so ihren Status als historisches Stereotyp, als Topos. Ihr korrespondiert in der Regel eine moralische Semantik, die die höfische Balance von Affekt und Reinheit zum Ausdruck bringt. Die Farbsemantik von Rot und Weiß kann aber noch weiter über die reine Schönheitstopik und die ihr immanente Kontrast- und Ausgleichslogik hinaus weisen. In einer seltsamen höfischen Szene wachsen im Straßburger Alexander höfische Mädchen aus Blumen, deren „rôte unde […] wîze / vil verre von in schein.“27 Die auf der Haut gewachsenen Farben korrespondieren denen der Blumen: „in was getan di varwe / nâh den blumen garwe / rôt und ouh wîz sô der snê.“28 Mit dem Vergleichswort Schnee aber wird die Schönheitstopik zugleich durch eine Naturtopik übercodiert. Die Synthese von Natur und Kultur in den Blumenmädchen unterwirft sie zugleich dem Rhythmus der Jahreszeiten und präludiert ihr notwendiges Vergehen. Die Farbsemantik von Rot und Weiß ist mehrfach codiert und nimmt unterschiedliche kulturelle Register auf: die Ästhetik der höfischen Schönheitstopik, die natürliche Sommer-Winter-Topik und zuletzt noch die kulturelle Liebe-Leid-Topik. Wie sehr man mit den topischen Besetzungen von Farbsemantiken spielen und ihre Konnotationen erweitern kann, wird dann besonders eindringlich in Wolframs Blutstropfen im Schnee sichtbar, die die Rot-Weiß-Relation sowohl auf die Minne als auch auf den Tod beziehen.29 Die descriptiones beziehen ihre Faktur aus dem Register der Topik, die die Verfahren vorgibt.30 Der Topos vertritt die Mimesis, nie geht es um Personen, sondern immer um

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Wirnt von Grafenberg: Wigalois. Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn. Übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach. Berlin / New York 2005, Vv. 873f., 895–902, 917–21. Vgl. Herman Pleij: Colors Demonic and Divine. Shades of Meaning in the Middle Ages and After. Translated by Diane Webb. New York 2004, S. 51–61. Straßburger Alexander (Anm. 11), Vv. 5254f. Ebd., Vv. 5303ff. Udo Friedrich: Überwindung der Natur. Zum Verhältnis von Natur und Kultur im Strassburger Alexander. In: Fremdes wahrnehmen – fremdes Wahrnehmen. Studien zur Geschichte der Wahrnehmung und zur Begegnung von Kulturen in Mittelalter und früher Neuzeit. Hrsg. von Wolfgang Harms, C. Stephen Jaeger in Verbindung mit Alexandra Stein. Stuttgart / Leipzig 1997, S. 119–136, hier: S. 129–131. Joachim Bumke: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im „Parzival“ Wolframs von Eschenbach. Tübingen 2001. Bruno Quast: Diu bluotes mâl. Ambiguisierung der Zeichen und literarische Programmatik in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: DVjs 77 (2003), S. 45–60. Vgl. Ulrich Ernst: Wolframs Blutstropfenszene. Versuch einer magiologischen Deutung. In: PBB 128 (2006), S. 431–466, hier S. 441–448. Zum systematischen Stellenwert der Topik vgl. Roland Barthes: Die alte Rhetorik. In: Ders.: Das semiologische Abenteuer. Frankfurt a. M. 1988, S. 15–101, hier S. 67–70. Lothar Bornscheuer: Topik. Zur Struktur der gesellschaftlichen Einbildungskraft. Frankfurt a. M. 1976.

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künstliche Figuren.31 Das rhetorische Arsenal der Beschreibungstechniken liefert aber nicht nur stereotype Schemata, sondern diese können über die Erweiterung zu komplexen Farbrelationen artifizielle Gestalt annehmen und in einer textspezifischen Farbpoetik münden. Die Topik als Technik der inventio liefert das paradigmatische Archiv der Farben, das vielfache Substitutionen ermöglicht, als Technik der dispositio Schemata ihrer Ordnung und als Technik der Argumentation die Funktionalisierung der Farben im Diskurszusammenhang des Textes.32 Die Farbe ist eine Farbe, in syntagmatischer Relation zu anderen Farben etabliert sie eine Ordnung, über ihre horizontalen und vertikalen Korrelationen erhält sie Bedeutung und wird zum Argument. Die Farben können dabei sowohl in das Syntagma integriert und funktional ausgerichtet sein, als auch isoliert rein paradigmatischen Wert annehmen. Die in der Folge vorgestellte Farbgebung der Pferde reicht von der Farbpalette bis zu geometrischen Farbsignaturen, die je spezifische Farbrelationen – z. B. schwarz/weiß, rot/weiß, rot/schwarz – ins Bild setzen. Erst über den Vergleich unterschiedlicher Farbverteilungen am gleichen Objekt und im gleichen Raster wird sichtbar, dass die Farbsignatur der Pferde einen diagrammatischen Status annimmt und mit jeweils eigenen Semantiken korrelierbar ist.

III. Farbkorrespondenzen und -differenzen höfischer Kultur: Camillas Pferd Im altfranzösischen Roman d’Eneas gibt das Parisurteil mit der einleitenden Wahl zwischen Reichtum, Tapferkeit und Schönheit zentrale Koordinaten höfischer Werte vor, deren Relation im Text nicht nur am Beispiel von Figuren, sondern auch von Architekturen, Kleidungen und Dingen verhandelt und zu spannungsvollen Konfigurationen gebracht wird:33 Schönheit der Figuren und Kunstwerke, die Kostbarkeit der Materialien und die Macht von Personen und Objekten. So lässt Eneas im Roman d’Eneas nach der zweiten Schlacht sein Zelt inmitten von 1500 Pavillons errichten.34 Es besteht aus kostbaren Materialien und ist verziert mit gewebten Tieren und Blumen, die in hundert Farben leuchten.35 Die Verarbeitung der natürlichen und künstlichen Stoffe vollzieht sich betont in geometrischen Formen – Quadrate, und Mühlespielmuster werden genannt –, die die Herrschaft der Kunst über die Natur signalisieren. Zwar erweckt das 31

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David E. Wellbery: Semiotische Anmerkungen zu Kleists ‚Das Erdbeben in Chili‘. In: Positionen der Literaturwissenschaft. Acht Modellanalysen am Beispiel von Kleists ‚Das Erdbeben in Chili‘. Hrsg. von Dems. München 1987, S. 69–87, hier S. 70f. Zur dreifachen Funktion der Topik vgl. Barthes (Anm. 30), S. 60–70. Le Roman d’Eneas. Übersetzt und eingeleitet von Monica Schöler-Beinhauer. München 1972 (Klassische Texte des romanischen Mittelalters. 9). Ebd., Vv. 7281–7330. Ebd., V. 7315: „Li tres esteit de cent colors“.

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Zelt im Syntagma die Illusion eines mächtigen Schlosses und beeindruckt entsprechend die Einheimischen, doch rückt es auch als ästhetisches Gebilde in den Fokus der Betrachtung: „es war ganz außerordentlich schön“, ja es ist überhaupt „um seiner Schönheit und Pracht Willen erst hergestellt worden.“36 Dass Eneas das Zelt vor Troja von einem Griechen erbeutet hat, bindet es an die Vorgeschichte an und macht es zugleich zum Zeichen seiner Tapferkeit. Ausstattung und Geschichte des Zeltes stilisieren es zum Paradigma von Schönheit, Reichtum, Tapferkeit und Klugheit und schreiben ihm die Werteproblematik des Textes ein. Die ideale Synthese der höfischen Werte findet im Roman d’Eneas ihren Widerhall auch in einzelnen Figuren. Während Vergil etwa keine dezidierte Beschreibung der Camilla kennt, zeichnet der mittelalterliche Autor eine Frauenfigur, die zentrale höfische Werte in sich vereint und zugleich in Spannung bringt. Camilla wird in der Heerschau des Turnus schon eingangs als schöne, reiche, kluge und tapfere Frau eingeführt.37 Sie präsentiert sich zugleich als äußerst farbige Erscheinung. Wenn in der topischen Zeichnung ihres Gesichts zum einen der Schwarz-Weiß-Kontrast von Haut und Augenbrauen, zum andern die Rot-Weiß-Mischung ihres Teints dominieren und die drei Farben im schwarzen Gewand und im braun-weißen Schachbrettmuster ihres Mantels mit seiner roten Purpurverbrämung wieder aufgenommen werden, scheinen sowohl in ihrer Gestalt als auch in ihrer Kleidung die Farbwerte aufeinander abgestimmt zu sein.38 Der fein gestickten goldenen Fauna auf ihrem schwarzen Gewand korrespondiert das Material ihrer Kleidung, die sich aus Tier- und Vogelfellen ebenso zusammensetzt wie aus Fischhäuten, „die in hundert Farben schillern.“39 Camillas Natur und Ausstattung repräsentieren den Inbegriff höfischer Tugenden: Schönheit der Farben, Reichtum der Materialien und Klugheit der Verarbeitungstechniken verbinden sich in der machtvollen Inszenierung der Heerschau, deren Kulminationspunkt Camillas Aufzug darstellt. Die höfischen Werte werden als Attribute der Figur zur Schau gestellt.

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Ebd. V. 7302: „a grant merveille par ert bels:“ sowie Vv. 7303f.: „n’ert mie fait por forterece, / mais por belté et por richece.“ (vgl. V. 7330). Ebd. Vv. 3964–3966: „ne fu femme de son saveir. / Molt ert sage, proz et corteise / et molt demenot grant richeise;“. Zur Camilla-Figur vgl. Erich Auerbach: Camilla. In: Literatursprache und Publikum in der lateinischen Spätantike und im Mittelalter. Hrsg. von Dems. Berlin 1958; Claudia Brinker-von der Heyde: ez ist ein rehtez wîphere. Amazonen in mittelalterlicher Dichtung. In: PBB 119 (1997), S. 399–424. Marie-Sophie Masse: Verhüllungen und Enthüllungen. Zu Rede und descriptio im Eneasroman. In: Euphorion 100 (2006), S. 267–289. Dies.: Von Camillas zu Enites Pferd. Die Anfänge der deutschsprachigen descriptio im Spannungsfeld der Kulturen. In: Jahrbuch für Internationale Germanistik 83. Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses Paris 2005 „Germanistik im Konflikt der Kulturen“. Bd. 7: Bild, Rede, Schrift. Hrsg. von Jean-Marie Valentin unter Mitarbeit von Jean-François Candoni. Bern u. a. 2008, S. 14–20. Le Roman d’Eneas (Anm. 33), Vv. 3987–4000. Die Ordnung der Natur wird nicht nur auf der Kleidung repräsentiert, sondern auch material integriert. Vgl. ebd. Vv. 4011–4046, bes. V. 4027: „de cent colors menu vairié“.

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Vor allem aber das Pferd, auf dem die Königin der Volsker reitet, bildet eine Artund Farbhybride.40 Es trägt zum einen die Zeichen des Wolfs, des Hasen und des Löwen, zum andern setzt es sich aus einer Vielzahl von Farben zusammen und präsentiert sich als Farbkompositum mit weißem Haupt, schwarzen Stirnhaaren, roten Ohren, braunrotem Hals, blaugrüner Mähne, blaugrauen und grauen Hälften der Schultern, braunen Flanken, schwarzem Bauch, fahlroten Vorder- und blutroten Hinterbeinen, weißen Füßen und schwarz-weißem Schweif. Wie in Gestalt und Kleidung realisiert sich die Farbgebung des Zelters über Kontraste, Symmetrien und Synthesen. Der schönsten Frau korrespondiert das schönste Pferd, das sichtbar als höfischer Repräsentationswert vor Augen gestellt wird. Die einzelnen Farben besitzen selbst keinen paradigmatischen Wert, erst in ihrer Kombination zur Farbpalette erhalten sie ihre Signifikanz. So wie Camilla die zentralen höfische Werte in sich vereint, so der Zelter die zentralen Farben. Seiner Farbsignatur korrespondieren denn auch die extensive Farbigkeit der Mauern Karthagos, der Grabmale von Pallas und Camilla, von Hekubas Mantel und Eneas Zelt.41 Farbenpracht wird über das Syntagma des Textes verteilt und zum Index höfischer Schönheit, die neben die anderen Werte – Macht, Reichtum, Klugheit – tritt. Der Roman d’Eneas akzentuiert vor allem Wert und Seltenheit der Stoffe, Felle und Farben und hebt die Kunstfertigkeit der Verarbeitungstechniken hervor. Was in der Kleidung aber Ausdruck artistischer, d. h. kultureller Fertigkeiten ist, bietet offenbar im Zelter die Natur selbst ohne den Zugriff menschlicher Kunstfertigkeit. Die Descriptiotechnik Heinrichs von Veldeke variiert bewusst diejenige des Roman d’Eneas. In der Darstellung von Eneas’ Zelt etwa verzichtet er auf das Artifizielle und die Farbenpracht der Vorlage, wie er auch die Herkunft des nur noch zweifarbigen Zeltes nun als Geschenk der Dido ausweist. Mithin stellt er eine andere syntagmatische Verbindung her.42 Auch für die Darstellung der Camilla, ihres Gesichts, ihrer Kleidung und ihres Pferdes, nimmt Veldeke den Farbcode des Roman d’Eneas auf, reduziert aber die Anzahl der Farben, verteilt und relationiert sie anders:43 blondes Haar, braune Augenbrauen, ein Teint wie Milch und Blut: „von natûre wîz und rôt“.44 Auch Camillas höfische Kleidung reproduziert die Farbsemantik der Vorlage nur zum Teil, korreliert sie aber noch deutlicher mit der des Gesichts: ein weißes Kleid wie Schwanenfedern, ein

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Ebd., Vv. 4047–4068. Ebd., Vv. 422–432 (Karthago), 6425–6428 (Pallas Grabmal); 7531–7724 (Camillas Grabmal), 742–760 (Hekubas Mantel), 7291–7320 (Eneas Zelt); vgl. auch den Helm des Chloreus Vv. 7169– 7176. Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch-Neuhochdeutsch. Hrsg. von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986, V. 9210f. Seinen besonderen Wert leitet Heinrich überdies aus der räumlich herausgehobenen Lage ab, bezieht sie aber ebenso auf die zentralen höfischen Werte Macht, Reichtum und Schönheit: „daz wart dorch hêrschaft getân, / dorch rîchtûm und dorch wolstân.“ Vv. 9231f. Stebbins (Anm. 11), S. 133f. Heinrich von Veldeke (Anm. 42), V. 5173.

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roter Gürtel.45 Während Veldeke gegenüber dem Roman d’Eneas fast ganz auf eine Beschreibung der Artifizialität der Kleidung verzichtet, akzentuiert er mit der Darlegung von Camillas Attraktivität und lebenslanger Keuschheit die Spannungen der Minnethematik und visualisiert sie durch die Rot-Weiß-Korrespondenz in Gesicht und Kleidung. Durch ihre Reduktion und klarere Korrelation aber nehmen die Farben hier einen paradigmatischen Wert an. Durch den Hermelinmantel, mit grünem Seidenüberhang überlegt und mit braunem Zobel besetzt, setzt Veldeke darüber hinaus aber noch einen anderen Akzent. Auch die Beschreibung von Camillas Pferd vollzieht sich vor dem Hintergrund anderer Farbrelationen: Sie beginnt mit dem Kontrast von weißem linken Ohr und Mähne einerseits, schwarzem rechten Ohr und Hals andererseits. Rot sind der Kopf, ein Bein und ein Bug, während Bein und Bug auf der anderen Seite falb sind. Die Flanken funkeln wie ein „wilder phâwe“, die Hinterbacken sind apfelgrau wie ein Leopard gefleckt, der Schweif schließlich ist einfarbig schwarz.46 Veldeke markiert auch hier ökonomischer Flächen, Oppositionen und Korrespondenzen der Farben, so dass die Farbhyperbolik der Vorlage auf den für Veldeke zentralen Wert der mâze zurückgeführt wird.47 Folgt die Beschreibung von Körper und Kleidung mit ihrer Rot-Weiß-Dominante noch der konventionellen Schönheitstopik, fällt die Zeichnung des Pferdes sichtbar aus dem Rahmen. Indem sich gegenüber dem Roman d’Eneas die Farbökonomie je nach Körperteil verändert, scheinen Farbe und Farbträger in keiner festen Relation zu stehen. Die Farbsignatur Camillas und ihrer Ausstattung, auch die des Pferdes, stehen zwar noch für „scône hovescheit“, Veledeke entfaltet aber nicht systematisch das ganze Spektrum der höfischen Werte, sondern fokussiert die Darstellung stärker auf die Farben des Minnediskurses.48 Der Zeichenwert der Farben im Roman d’Eneas und im Eneasroman ist ganz unterschiedlich gedeutet worden. Bezzola hat die Farben im Roman d’Eneas auf die zeitliche Achse der Erzählung projiziert und den einzelnen Erzählphasen spezifische Farbwerte zugeordnet. Sara Stebbins hat demgegenüber Veldekes Farben in der Tradition der Bedeutungsforschung auf die Figur der Camilla bezogen, verweist aber ausdrücklich auf die Unsicherheit eines solchen Verfahrens.49 Die Bezüge einzelner Farben auf spezifische Tiere fungierten dann auch hier als Indizes, die auf Camillas Wesen und Schicksal verwiesen: schillernde Pfauenfarben, Schwärze des Raben, Grau des gefleckten Panthers.50 Scheint die Projektion der Farbwerte auf die Achse der Erzählung zu weit zu greifen, so die allegorische Identifizierung von Farbsemantiken zu kurz. 45 46 47

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Ebd., Vv. 5186–5189. Ebd., V. 5259. Zur Rationalisierung von Veldekes Beschreibungstechnik vgl. Marie-Sophie Masse: La description dans les récits d’antiquité allemandes fin du XIIe-début du XIIIe siècle. Aux origines de l’adaptation et du roman. Paris 2004, S. 379–398, hier S. 386f. Heinrich von Veldeke (Anm. 42), V. 5241. Stebbins (Anm. 11), S. 136f. sowie S. 141–144. Ebd., S. 141–144.

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Es liegt nahe, die hybride Farbgebung des Pferdes auf das hybride Wesen Camillas zu beziehen. Sie selbst erscheint zwar als Inbegriff höfischer Tugenden, doch stehen ihre Eigenschaften in Kontrast zu den sozialen Werten einer patriarchalen Gesellschaft. Sie invertiert die Geschlechterhierarchie und die Ordnung von Tag und Nacht, indem sie sowohl als höfische Dame wie auch als tapfere Kriegerin auftritt, als Inbegriff an Schönheit lebt sie keusch und versagt sich den Männern.51 Die Synthese von Schönheit, Tapferkeit, Keuschheit, Klugheit, Macht und Reichtum macht sie zu einer bewunderten, aus patriarchaler Perspektive aber auch ambivalenten Figur. Zwar würde der schillernde Pfau mit Camillas Hybris korrespondieren, doch tilgt Veldeke gerade hier den expliziten Hinweis seiner Vorlage. Der Text selbst gibt keinen Anhalt, um dem Farbenspektrum des Pferdes jenseits seines allgemeinen höfischen Repräsentationswerts eine übergeordnete Semantik zuzuweisen. Die Farben des Zelters markieren keine natürliche Referenz, sondern vor allem einen paradigmatischen Index, der im Roman d’Eneas primär auf höfische Repräsentation, bei Veldeke zusätzlich auf den Minnediskurs zielt. Gesicht, Kleidung und Pferd Camillas tragen dennoch auffällig signifikante Farbsignaturen. Über die dominante Rot-Weiß-Relation in Veldekes Camillabeschreibung lässt sich die Farbgebung referentiell mit Lippen und Haut, paradigmatisch mit der höfischen Schönheits- und Minnetopik verbinden: Rot und Weiß als spannungsvolle Zeichen des Begehrens und der Keuschheit, die noch bis in die Kleidung ihr Komplement finden. Die Farbgebung transportiert aber neben einer referentiellen und paradigmatischen noch eine relationale Semantik. Indem Veldeke Camilla über den Mantel noch Grün als Farbakzent zuweist, stiftet er eine zusätzliche Zeichenrelation, die Beziehungen zu einer vorausliegenden descriptio aufweist. Camilla tritt über den veränderten Farbcode in Beziehung zu Dido, deren Farbwerte in der Jagdszene ebenfalls dominant Weiß, Rot und Grün markiert sind.52 Wenn Veldeke über seine Vorlage hinaus Dido auch noch einen schönen weißen Jagdhund mit je einem roten und schwarzen Ohr beifügt, werden beide Figuren gleichermaßen über wundersame Tiere relationiert wie auch in beiden Szenen die Minnethematik verhandelt wird.53 Die beiden tragischen Frauenfiguren werden im Kontext der descriptio über analoge Situationen (Jagd, Krieg), über die analoge Attribution von Tieren (Hund, Pferd) und über analoge Farbkorrespondenzen in Beziehung gebracht, um an ihnen alternative Konstellationen der Spannung von Minne und Herrschaft zu verhandeln: die zu stark liebende Herrscherin und die keusche Kriegerin. Die Farbwerte (Rot-Weiß) können also auf Objekte (Lippen, Haut) referieren und höfische Kontexte (Minne, Schönheit) konnotieren, sie können paradigmatisch an die Stelle 51

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Wenn Camilla dann in der Schlacht vor allem als weiße Erscheinung auf einem grauen Pferd auftritt, die bei den Gegnern den Eindruck des Göttlichen hervorruft, scheint sie noch die metaphysische Ordnung zu unterlaufen. Le Roman d’Eneas (Anm. 33), Vv. 6913–6934. Heinrich von Veldeke (Anm. 42), Vv. 1687–1735. Wiederum abweichend gegenüber seiner Vorlage schenkt Eneas Dido einen schwanenweißen Mantel, der mit strahlend rotem Samt gefüttert ist. Heinrich von Veldeke (Anm. 42), Vv. 772–779. Eneas’ Bett in Karthago ist mit einem weißen Laken und einer Bettdecke versehen, die „purper unde marderîn“ gefärbt ist. Ebd., V. 1271.

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anderer Farbwerte treten (Schwarz/Weiß-Rot/Weiß) treten, sie können aber auch Relationen (rot, weiß, grün) innerhalb des Syntagmas (Dido-Camilla) aktivieren. Wollte man der Farbverteilung eine diagrammatische Struktur abgewinnen, so wäre grundsätzlicher auf das Verhältnis von Oppositionen, Symmetrien und Synthesen, das die Farben zur Anschauung bringen, zu reflektieren und dieses mit spezifischen Inhalten des Textes zu korrelieren. Camilla erscheint zum einen als Summe höfischer, zum andern als Synthese oppositioneller Werte: Die Relation von Minne und Gewalt, ein zentrales Thema des Textes, wird mithin nicht nur am Protagonisten (z. B. Eneas-Dido) oder allegorisch in der Rüstung des Vulcanus verhandelt, sondern auch an der Relation von Mann und Frau: Das weibliche Schönheitsideal wird mit dem Ideal der Ritterschaft korreliert und in Spannung gebracht. Hinzu tritt im Roman d’Eneas und Eneasroman die unterschiedliche Akzentuierung der Opposition von Natur und Kultur in der Zelterbeschreibung. Die künstliche Farbverteilung im Aufzug der Camilla ließe sich dann weniger – wie bei Veldeke partiell – semantisch festlegen als vielmehr relational bestimmen, als Anweisung, den Text als Gefüge von kontrastiven und korrespondierenden Elementen zu lesen. Die poetische Technik der Spiegelung, die einzelne Szenen in Analogie und Kontrafaktur zugleich setzt – z. B. Dido-Laviniaepisode, Pallas- und Camillagrabmal –, und auf die wiederholt verwiesen wurde, lässt sich auch über die Farbsignaturen bestätigen, die indes andere Figurenrelationen akzentuieren.54

IV. Farbabstraktion und Kontrastharmonie: Enites Pferd Roman d’Eneas und Eneasroman entwerfen zwar das Pferd als Einschreibefläche für Farben, sie formulieren damit aber noch kein explizites poetologisches Programm. Für eine solche reflexive Handhabung der Farbgebung ist Hartmanns Zelterbeschreibung aus dem Erec wohl das berühmteste Beispiel.55 Über die Technik der dilatatio materiae wird die descriptio selbst zum eigenständigen Artefakt, das mit Erzählerreflexionen, Dialogen, Bildern und Erzählungen angereichert wird.56 Die descriptio besitzt ihre Faktur im rhetorischen Register, weist aber weit darüber hinaus und nimmt poetologische, 54

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Joachim Hamm: Camillas Grabmal. Zur Poetik der dilatatio materiae im deutschen Eneasroman. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch 45 (2004), S. 28–56, hier S. 44f. und S. 55. Ursula Schulze verweist auf die Relation von Dido, Camilla und Lavinia für die Verhandlung von Weiblichkeitskonzepten. Ursula Schulze: Sie ne tet niht alse ein wîb. Intertextuelle Variationen der amzonenhaften Camilla. In: Deutsche Literatur und Sprache von 1050–1200. Festschrift für Ursula Hennig zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Annegret Fiebig, Hans-Jochen Schiewer. Berlin 1995, S. 234–260, hier S. 245f. Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von Albert Leitzmann, fortgeführt von Ludwig Wolf. 6. Auflage besorgt von Christoph Cormeau und Kurt Gärtner. Tübingen 1985, Vv. 7264–7766. Franz Josef Worstbrock: Dilatatio materiae. Zur Poetik des ‚Erec‘ Hartmanns von Aue. In: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1–30.

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sogar kulturelle Qualität an, wenn Pferd und Ausrüstung zu Einschreibeflächen für nicht nur mediale, sondern auch literaturgeschichtliche, kosmologische und artifizielle Gehalte werden.57 In dieses poetologische Programm fügt sich auch die besondere Farbsignatur des Pferdes ein. Die jeweils hälftig schwarzen und weißen Seiten des Pferdes werden bekanntlich durch eine grüne Linie getrennt, die vom Kopf bis zum Schweif reicht, Augen und Ohren sind darüber hinaus durch komplementäre Farbkreise gezeichnet.58 Auch diese künstlich abstrahierte Farbgebung lässt sich kaum noch semantisch spezifizieren, wie es in der zitierten Tristanerzählung oder der Blumenmädchenepisode erfolgte. Gegenüber dem Eneasromanen reduziert Hartmann Anzahl und Arrangement der Farben und bringt sie in geometrische Relationen. Sie besitzen eine formale Funktion, indem sie auf das Verhältnis von Oppositionen und ihre Modellierungen verweisen. Das Pferd wird nicht nur als multimediales Sprachbild präsentiert, sondern über das künstliche, d. h. geordnete Arrangement von Farbflächen, -linie und -punkten auch als Farbdiagramm: Mimesis geht in Geometrie über. Die harte Fügung der Kontrastfarben, die zugleich die Pole des klassischen Farbspektrums markieren, wird durch ein drittes (mittleres) Element abgemildert, so dass kein Dualismus sondern eine dreigliedrige Relation entsteht. In der Farbgebung von Enites Pferd werden weniger die natürlichen Farben eines Pferdes geboten, als über ihre Überführung in ein künstliches Farbdiagramm zentrale Themenfelder des höfischen Romans relationier- und modellierbar.59 Die geometrische Farbsignatur des Zelters verweist zunächst auf Spannung und Ausgleich höfischer Werte, die nicht zufällig auf das Pferd als Synthese von Natur und Kultur projiziert werden. Erst über den Akt der Übertragung der Farbsignatur auf zentrale Relationen des Textzusammenhangs wird auch ihr metaphorisches Potential sichtbar. Dass Hartmanns Erzählung eine symmetrische Struktur besitzt, ist über die Rekonstruktion von Zweiteilung und Doppelweg wiederholt konstatiert worden.60 Liest man 57

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Worstbrock (Anm. 56), S. 1–30. Barbara Haupt: Literaturgeschichtsschreibung im höfischen Roman. Die Beschreibung von Enites Pferd und Sattelzeug im ‚Erec‘ Hartmanns von Aue. In: Festschrift für Herbert Kolb zu seinem 65. Geburtstag. Hrsg. von Klaus Matzel, Hans-Gert Roloff. Bern u. a. 1989, S. 202–219. Johannes Singer: ‚nû swîc, lieber Hartman: ob ich ez errâte?‘ Beobachtungen zum fingierten Dialog und zum Gebrauch der Fiktion in Hartmanns ‚Erec‘-Roman (7493–7766). In: Dialog. Festschrift für Siegfried Grosse. Hrsg. von Gert Rickheit, Sigurd Wichter. Tübingen 1990, S. 59–74. Haiko Wandhoff: Das geordnete Welt-Bild im Text. Enites Pferd und die Funktionen der Ekphrasis im Erec Hartmanns von Aue. In: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Wolfgang Harms, C. Stephen Jaeger, Horst Wenzel. Stuttgart 2003, S. 45–60. Susanne Bürkle: ‚Kunst‘-Reflexion aus dem Geiste der descriptio. Enites Pferd und der Diskurs artistischer Meisterschaft. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun, Christopher Young. Berlin / New York 2007 (Trends in Medieval Philology. 12), S. 143–170. Hartmann von Aue (Anm. 55), Vv. 7290–7363. Scheuer (Anm. 20), Kap. II. B. 2.2. Hugo Kuhn: Erec [1948]. In: Hartmann von Aue. Hrsg. von Dems., Christoph Cormeau. Darmstadt 1973, S. 17–48. Walter Haug: Die Symbolstruktur des höfischen Epos und ihre Auflösung bei Wolfram von Eschenbach. In: DVjs 45 (1971), S. 668–705. Ralf Simon: Einführung in die struktu-

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das Farbdiagramm im Kontext seiner komplexen poetologischen Situierung als Anweisung, Elemente der Erzählung zu relationieren, ergibt sich eine Fülle von Beispielen, an denen Hartmann das Spiel mit Kontrasten unterschiedlichster Art betreibt.61 Hans Jürgen Scheuer hat zuerst die Bedeutung der Farbrelationen für das Handlungsprogramm und für das zur Diskussion stehende Problem der Schönheitskonkurrenz und ihre die höfische Ordnung unterminierende Wirkung herausgearbeitet:62 Ein SchwarzWeiß-Kontrast präge durchgängig die Farbpoetik des Textes, wie das Grün rekurrentes Kennzeichen von Erec und Enite sei: Enites wiederholt akzentuierte Schwarz-WeißGrün-Zeichnung, die fünf alten Könige auf weißen und die fünf jungen auf schwarzen Pferden, die gemeinsam im Festaufzug am Artushof auftreten, schließlich – nur bei Hartmann – der Farbwechsel der trauernden und schwarz gekleideten Witwen zu höfischen weißen Damen am Ende des Aventiurewegs, sie alle werden über Oppositionen und Farbrelationen markiert.63 Franz Josef Worstbrocks Beobachtungen folgend, dass Hartmann an signifikanter Stelle – ohne es indes selbst auszuführen – über den durch Grün vermittelten Schwarz-Weiß-Kontrast dem Leser anheimstellt, Relationen und Oppositionen zu bedenken, arbeitet Scheuer auf der Basis mittelalterlicher Topik zentrale Konstellationen heraus, die über Farbsignaturen markiert sind.64 Das farblich indizierte Erzählprogramm des Textes, das darin bestehe, „widerstrebende Extreme“ zu relationieren und in ihrer Spannung zu inszenieren, analysiert Scheuer an vier Paarbeziehungen, deren Relationierung er als das zugrunde liegende Figuren- und Handlungsdiagramm des Textes entziffert.65 Scheuer selbst verweist schon darauf, dass das Spiel mit spannungsreichen Oppositionen von grundsätzlicher Art ist, wie er am Beispiel der Brüder Bilei und Brians belegt, die als Zwerg und Riese am Artushof auftreten.66 Solche Vermittlung von Oppositionen ließe sich um eine Fülle weiterer Konstellationen ergänzen. Von der Erzählstruktur, über die Figurenzeichnung bis in einzelne Handlungszüge und Topoi hinein prägen spannungsgeladene Oppositionsverhältnisse den Text: Erecs Mangel am Artushof etwa besteht darin, dass er nicht seiner Herkunft gemäß auftreten kann, doch lässt er sich von Artus nicht überproportional ausstatten, sondern seiner derzeitigen Lage ent-

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ralistische Poetik des mittelalterlichen Romans. Würzburg 1990. Friedrich Wolfzettel: Doppelweg und Biographie. In: Erzählstrukturen der Artusliteratur. Forschungsgeschichte und neue Ansätze. Hrsg von Dems. Tübingen 1999, S. 119–141. Das Grün ist von Franz Josef Worstbrock unter Rekurs auf die mittelalterliche Farbenlehre des Wilhelm Peraldus als Vermittlungsinstanz zwischen den Extremen Weiß und Schwarz gedeutet worden. Bezzola und Worstbrock haben sie auf das gestörte Minneverhältnis zwischen Erec und Enite bezogen. Worstbock (Anm. 56), S. 25. Scheuer (Anm. 20), Kap. II. B. 2.2. Ebd. Ebd. Vgl. Worstbrock (Anm. 56), S. 25. Erec und Enite; Artus und Ginover, Cadoc und seine Frau; Mabonagrin und seine amîe; Scheuer (Anm. 20), Kap. II. B. 2.2. Ebd.

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sprechend;67 die Spielleute gehen nach dem Artusfest weder leer aus noch erhalten einzelne zu viel, sondern jeder genug;68 die Fee (Göttin) Feimurgan, deren Pflaster Erec heilt, steht als Kundige natürlicher Geheimnisse zwischen Himmel und Hölle, zwar dem Teufel näher, doch kann der Artushof offenbar an ihren Segnungen ohne Skrupel partizipieren.69 Die zentralen Zweikämpfe, die auf Leben und Tod geführt werden, münden in Unterwerfung (Iders, Mabonagrin) und Freundschaft (Guivreiz), d. h. in Vermittlungsformen.70 Noch am klassischen Schema des biviums, der Entscheidung an der Weggabelung (Artushof/Brandigan), spielt Hartmann eine Alternative zur Dichotomie durch, indem vor dem Hintergrund der Toposgeschichte der falsche Weg zum richtigen wird, Erec nicht notwendig den „saelden wec“ (Konjektur), sondern seinen eigenen („selben wec“) geht.71 Geradezu beispielhaft arrangiert Hartmann die komplexen Möglichkeiten der Modellierung von Oppositionen am Beispiel des Liebe-Leid-Topos: Erec und Enite werden nach der Hochzeit lange Jahre Glück und Segen zuteil, „unz ez der tôt undervie / der allez liep leidet“;72 angesichts von Erecs Ruhm empfindet Enite „beide liep unde leit“, doch wertet sie seine Ehre schließlich höher als die Gefahr, ihn im Kampf zu verlieren;73 im Kampf gegen Guivreiz empfindet Enite „liep bî leide“, als sie sich zwar über Erecs Sieg freut, doch über seine Verwundung weint;74 die Ehefrau Cadocs wird beim Anblick ihres verletzten, doch immerhin geretteten Mannes von Freude und Leid zugleich ergriffen: „als si in ane sach, / beide liebe und ungemach / wâren in ir herzen schîn, / doch si niht wol ensament sîn.“75 Hartmann greift hier explizit auf den SchwarzWeiß-Kontrast zurück, auf das Bild einer Glasfläche, die nach dem Abwischen der schwarzen Farbe wieder strahlend hell leuchtet. In dieser variierenden Handhabung des klassischen Minnetopos werden Oppositionen, Spannungen und Dynamiken einer Konstellation herausgearbeitet.

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Hartmann von Aue (Anm. 55), Vv. 2248–2284. Ebd., Vv. 2169–2175. Ebd., Vv. 5153–5246. Unter Genderperspektive ist die Rolle Enites nicht als domina oder ancilla, sondern als socia Erecs herausgearbeitet worden. Bruno Quast: Getriuwe wandelunge. Ehe und Minne in Hartmanns Erec. In: ZfdA 122 (1993), S. 162–180. Ebenso ließe sich die Opposition von äußerer Erscheinung und inneren Werten im Körperkonzept des Zwergen Guivereiz anführen, und auch die moralische Inferiorität der Enite bedrängenden Grafen, deren Minneverfallenheit ihr höfisches Verhalten unterminiert, fällt unter dieses Register. Zur Diskussion um die Konjektur vgl. Manfred Günter Scholz: Der hövesche got und der saelden wec. Zwei ‚Erec‘-Konjekturen und ihre Folgen. In: Geistliches in weltlicher und Weltliches in geistlicher Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Christoph Huber, Burghart Wachinger, HansJoachim Ziegeler. Tübingen 2000, S. 135–151, hier S. 145–151. Hartmann von Aue (Anm. 55), Vv. 2209f. Ebd., V. 2831. Ebd., Vv. 4502–4505. Ebd., Vv. 5600–5603.

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Die Überführung von Spaltungen – Scheidung – in Entscheidung ist immer wieder Gegenstand der Erzählung und der Reden. Das Spiel mit Kontrasten und ihren Relationen, ihren Spannungen und ihrem Ausgleich, erstreckt sich auf unterschiedliche Ebenen der Erzählung, die in einer weiteren metaphorischen Übertragung auf Erzählflächen (Zweiteilung, Doppelweg), Erzähllinien (Figurenkonzeptionen) und Erzählpunkte (isolierte Szenen, Motivrekurrenzen, Topoi) beziehen lassen. Nicht zufällig also trägt das Pferd im Rahmen einer poetologisch ausgerichteten descriptio die künstlichen Markierungen, da das domestizierte Tier selbst den privilegierten Ort der Versöhnung von Gegensätzen darstellt. Bildet im höfischen Wertekanon mâze den Ausgleich zwischen den Extremen, so wird im Erec die klassische Relationierung höfischer Werte einerseits bestätigt, andererseits aber auch unterwandert, so dass die dreigliedrige Farbrelation des Zelters auf eine grundsätzliche Perspektive verweist, Positionen zwischen Oppositionen zu verhandeln. Schwarz und Weiß ist dann für ganz unterschiedliche Besetzungen offen, eine paradigmatische Vereindeutigung der Semantik wäre nicht nötig.76 Weder die natürliche Referenz der Farben noch die Eindeutigkeit ihrer paradigmatischen Semantik wäre entscheidend, sondern ihre diagrammatische Funktion und ihr metaphorischer Transfer auf Textkonstellationen. Hartmann organisiert die Farbökonomie, wie schon Scheuer betont hat, auf Positionen der Spannung und der Vermittlung hin. Farben dienen im Erec offenbar weniger der unmittelbaren Semantisierung von Figureneigenschaften als der Indizierung thematischer Ambivalenzen des Werks. Dass Hartmann für sein diagrammatisches Programm die extremen Pole des klassischen Farbspektrums und seine Mitte wählt, bestätigt den Befund.

V. Korrespondenz und Spaltungstopik: das Pferd als Schönheitspreis im Wigalois Im Wigalois des Wirnt von Grafenberg wird ein buntes Pferd als Schönheitspreis eingeführt: Wigalois trifft auf eine maget, der das Pferd öffentlich zuerkannt, aber von einem roten Ritter gewaltsam entwendet wurde.77 Der Schönheitspreis setzt sich zusammen aus einem Ensemble von wundersamem Pferd, einem Papageien in einem goldenen Käfig, der auf dem Sattelbogen angebracht ist, und einem Zwerg: zunächst ein offensichtliches Exotismussignal. Der schönsten Frau korrespondiert ein nach Qualität, Form und Farbe besonderer Preis aus dem fernen Irland: „daz schoenest pfärt deich ie ge-

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Manfred Günter Scholz gibt in seiner Erecausgabe einen Forschungsüberblick über die verschiedenen paradigmatischen Deutungsversuche. Hartmann von Aue. Erec. Hrsg. von Manfred Günter Scholz. Übersetzt von Susanne Held. Frankfurt a.M. 2004 (Bibliothek des Mittelalters. 5), S. 902– 905. Wirnt von Grafenberg (Anm. 26), Vv. 2576–2581.

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sach.“78 Das Pferd trägt eine sonderbare Farbsignatur: Es ist weiß wie ein Schwan; ein schwarzer Streifen verläuft über seinem Rücken bis zum Schweif; ein Ohr ist kohlschwarz, das andere und die Mähne sind zinnoberrot. Geschmückt ist es mit einem elfenbeinfarbenen Sattelbogen und rotgoldenem Zaum.79 Gegenüber Hartmanns Entwurf liegt der Fokus nicht nur auf der Opposition von Farben, sondern mehr noch auf der Symmetrie, doch sind beide anders modelliert und besetzt: Symmetrie von weißen Flächen, Spaltung von Weiß durch eine schwarze Linie auf dem Rücken und eine rote Mähne auf dem Kopf; Opposition von Schwarz und Rot. Der ästhetische Effekt entsteht nicht wie bei Veldeke über eine Farbpalette, sondern wie im Erec über ein geometrisches Arrangement der Farben. Ins Bild gesetzt wird ein Diagramm von drei Farbrelationen: Schwarz-Weiß, Rot-Weiß und Rot-Schwarz. Um den Schönheitspreis herum gruppiert sich ein weiteres Farbensemble. In ästhetischer Hinsicht korrespondieren das Weiß und Rot des Pferdes mit den Farben der maget, der der Preis zuerkannt worden war. Wie diese, die auf einem roten Pferd reitet und einen weiß gefütterten roten Kapuzenmantel trägt, den Inbegriff der Schönheit repräsentiert, so auch der fremdartige Zelter, dessen Farben die Rot-Weiß-Signatur aufnehmen.80 In Verbindung mit dem goldenen Käfig und dem sprechenden Papageien erweist sich das Pferd als vollendetes Artefakt. Zu dem Pferd gesellt sich im Verlauf der Handlung der schönste Hund, der je gesehen wurde und den Wigalois im Kampf gegen einen schwarzen Ritter errungen hat. Der vollständig weiße Hund mit einem gelben und einem roten Ohr wird wiederholt als Inbegriff der Schönheit bezeichnet: […] „ein bräkelîn / daz niht schoeners mohte sîn.“81 Die beiden Tiere werden als Indices von Schönheit im Diskurszusammenhang des Textes miteinander relationiert und später als Trophäen auch syntagmatisch verbunden. Wenn beide Tiere schließlich zusammen mit Wigalois am Hof von Roimunt erscheinen und dort als bewundernswürdige „kleinot“ zum Gesprächsthema werden, repräsentieren sie nicht nur – wie bei Hartmann – Artifizialität, sondern werden als natürliche Artefakte schon rezipiert, kommuniziert und nunmehr der schönsten Frau attribuiert.82 Auf dem wundersamen Zelter reitet später Larîe zu Wigalois nach Joraphas, in einen roten seidenen und mit weißem Hermelin gefütterten Reisemantel gehüllt, begleitet von ihrer schwarz gekleideten Mutter auf einem schwarzen Pferd. Deren „pfärt was swarz und ir gewant; / dâ bî der jâmer was bekant / den si nâch ir gesellen truoc, / den Rôaz der heiden sluoc“.83 Verbinden sich in der Rot-Weiß-Signatur von Larîes Pferd und Kleidung paradigmatisch höfische Ästhe78 79 80 81 82

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Ebd., V. 2516. Ebd, Vv. 2529–2552. Ebd, Vv. 2400–2418. Ebd., Vv. 2207–2217, 2208f. Ebd., Vv. 4028–4038. Rot und Weiß gezeichnet aber ist auch das Gefäß des Priesters, mit dessen Inhalt er Wigalois vor dem Kampf segnet (Vv. 4393–4398); auf einem roten Pferd in hell leuchtender Rüstung setzt Wigalois nach dem Drachenkampf seine Aventiure fort (Vv. 6245–6247). Ebd., Vv. 8915–8918.

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tik und Minnetopik, so verweist die Ausstattung der Mutter explizit auf den Index der Trauer.84 Gegenüber dem Erec nehmen die Farben des Zelters im Wigalois deutlich paradigmatischen Wert an. Die Relation von Rot und Weiß steht dominant für die höfische Minnetopik, die Farbe Weiß allgemein für die höfische Ästhetik. Ein weißer Leib wird wiederholt als ideale höfische Schönheitssignatur beschrieben: Florîes weiße Haut, die über rote Kontraste und rot-weiße Synthesen markiert wird, das Licht ihres Karfunkels, das keine Finsternis um sie herum zulässt; der weiße Hund und das weiße Pferd.85 Der Kontrast von Schwarz und Weiß steht aber auch für die konkurrierenden Mächte des Lichts und der Finsternis: Der leuchtend helle Körper des Landesherrn von Korntin und Wigalois’ weißer Leib, der sich von der schwarzen Nacht abhebt, scheinen schon die höfische mit der heilsgeschichtlichen Dimension zu verbinden. Kontrastiv dazu wird Schwarz als rekurrentes Merkmal auf Seiten der Gegner verortet.86 Im verzauberten Reich Korntin trifft Wigalois auf einen bunten Drachen mit schwarzem Haupt, auf das schwarze „wilde wip“ Ruel, sodann auf den Zwergen Karrioz, der einen Rappen reitet.87 Das Geschehen der Korntinepisode spielt weitgehend bei Nacht. Wigalois Gegner sind nicht nur durch Tierattribute und damit als wilde Kreaturen gekennzeichnet, sie tragen auch farblich die Signatur der Finsternis. In diesem Zusammenhang bildet auch die Relation von Rot und Schwarz eine rekurrente Signatur der dämonischen Gegenwelt. Von der Burg in Roimunt aus sieht Wigalois nachts im fernen Korntin Feuer brennen. Während seiner Aventiure trifft er dort wiederum nachts auf verdammte Ritter, deren Schilde gänzlich kohlschwarz und mit zinoberroten Flammen bemalt sind. Im nächtlichen Dunkel schleudert der Kentaur Marrien Feuer auf Wigalois.88 Die Schwarz-Rot-Relation wird zur Signatur des Höllenfeuers. Vor dem Drachenkampf begegnet Wigalois einer klagenden Frau, deren schneeweißer Leib zwar noch durchscheint, doch ist ihre Brust kohlschwarz versengt und mit Blut überströmt.89 Im dämonisch usurpierten Korntin wird der weiße Glanz des Höfi84

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Ebd., Vv. 9275–9279: „Âvoy, wie stolzlîch si reit! / mit rôtem samit gekleit / dâ engegen ir munt von roete bran / als ein vil edel rubîn.“ Ebd., Vv. 9290–9294: „zwô liehte varwe an ir striten: / rôt und wîz alsam ein snê; doch behabte diu roete ir strîtes mê, / wand ez was in der sumerzît / sô diu hitze roete gît.“ Ebd., Vv. 868–933 (Florîe); V. 2210 (weißer Hund); V. 2543 (weißes Pferd). Ebd., Vv. 4629–4634 (Landesherr); V. 5441 (Wigalois Leib). Ebd., Vv. 5028f. (Drache); Vv. 6287f. (Ruel); V. 6552 (Karrioz); Ingeborg Henderson: Dark Figures and Eschatological Imagery in Wirnt von Gravenberg’s Wigalois. In: The Dark Figure in Medieval German and Germanic Literature. Hrsg. von Edward R. Haymes, Stephanie Cain Van D’Elden. Göppingen 1986 (GAG. 448), S. 99–113. Pastoureau (Anm. 5), S. 72–74. Wirnt von Grafenberg (Anm. 26), Vv. 6931–6933. Ebd., Vv. 4297–4310 (nächtliches Feuer); Vv. 4549–4562 (Wappen); Vv. 4862–4901 (verletzte Frau). Rot wird im Zusammenhang des Aventiuregeschehens wiederholt auch als Farbe des Todes markiert: Der rote Ritter führt in seinem Schild das Bild des Todes (Vv. 2997ff.). Wigalois erhält nach seinem Drachenkampf einen roten Brokatstoff an seine Lanze geheftet, der die tödliche Ge-

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schen durch die schwarz-rote Farbsignatur der Hölle bedroht. Gegenüber dieser negativ konnotierten Verbindung von Rot und Schwarz wird Wigalois’ Schild geradezu zum Heilszeichen: Er trägt einen schwarzen Schild mit einem rotgoldenen Glücksrad verziert.90 Will man die drei Farben des Zelters nicht nur als Schönheitsattribute, sondern auch als Signaturen von Grundoppositionen der Erzählung verstehen, die in syntagmatischer und paradigmatischer Relation zueinander stehen, dann verbinden sich in ihnen höfische und heilsgeschichtliche Farbcodes: Die schwarze Linie markiert eine Spaltung der weißen Fläche, wie die höfische Welt durch den Teufelsbündler Roaz gespalten ist. Was ästhetisch als symmetrische Ordnung erscheint, lässt sich heilsgeschichtlich als Störung lesen, die wieder zur Einheit integriert werden muss. Analog weist die ästhetische Opposition von Schwarz und Rot am Zelter auf ihre heilsgeschichtliche Korrespondenz voraus, die im Syntagma rekurrent markiert wird. Das Pferd selbst ist bereits Gegenstand eines Streits, den der Glücksritter schlichtet. Die heilsgeschichtliche Übercodierung des Artusromans, wie sie im Wigalois vorliegt, wird als Kampf des Lichts gegen die Mächte der Finsternis auch farblich gekennzeichnet.

VI. Farbkorrespondenzen: Das Minnepferd Flores Variationen der Farbökonomie kennzeichnen mithin die Rezeptionsgeschichte der Pferdebeschreibungen, und sie sind deutlich geometrisch ausgerichtet. In Konrad Flecks Minneroman Flore und Blancheflur erhält der Held der Geschichte vor dem Aufbruch zur Suche nach seiner Geliebten vom König einen wundersamen Zelter.91 Wenn dieser in eine weiße und eine rote Hälfte geteilt ist, vollzieht sich die Farbgebung vor dem Hintergrund der Minnetopik, die den Text primär prägt. Die Grundfarben des Pferdes visualisieren die kulturelle Basissemantik des Textes. Rot und Weiß werden zur Beschreibung der Figuren eingesetzt, und als die Eltern Flores die potentielle und ungeliebte Schwiegertochter aus dem Weg schaffen und an Händler verkaufen, errichten sie zur Täuschung ihres Sohnes ein pompöses Grabmal, das mit zwei lebensechten Automatenfiguren versehen ist, die sich wechselseitig Blumen überreichen und küssen: „Flôre höveschlîche / sîner friundîn eine rôse bôt / gemachet ûzer golde rôt. / dâ wider

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fahr der Aventiure signalisieren soll (Vv. 6151ff.), inständig fleht Wigalois zu Gott, dass sich die grüne Wiese nicht noch weiter mit Blut färben möge (Vv. 7122ff.). Ebd., Vv. 1825–1829. In diesem Zusammenhang erhält nicht nur die Kombination von Rot und Schwarz eine negative Semantik, sondern auch die von Rot, Schwarz und Grün: Karrioz reitet einen Rappen, auf dem eine zweigeteilte Satteldecke in Grün und Rot liegt (Vv. 6552–6558). Die Burg in Korntin besitzt schwarze Tore, und ihre Mauern sind mit roten und grünen Quadern zusammengefügt (Vv. 7060–7070). Konrad Fleck: Flore und Blancheflur. Hrsg. von Emil Sommer. Quedlinburg / Leipzig 1846 (Bibliothek der gesammten Deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit. 12).

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bôt im sîn friundîn / ein gilje, diu was guldîn.“92 Die Minnefarben werden auf die Attribute zweier Figuren verteilt, in ihrem wechselseitigen Austausch aber streben sie nach Vermittlung, die ihrerseits auch farblich markiert wird: Das in beiden Blumen zum Vergleich herangezogene Gold gilt im Mittelalter als Verbindungsfarbe von Rot und Weiß. Synthetisieren die Farben einerseits die Opposition von Reinheit und Minne, so werden sie in der Grabmalkonstruktion über die Farbträger Lilie und Rose durch die Opposition Tod und Leben übercodiert. Tatsächlich veranlasst die Betrachtung des Grabmals Flore zu dem Entschluss, seiner Geliebten in den Tod zu folgen, der nur durch Aufdeckung der Wahrheit verhindert werden kann. Der im scheinbaren Tod suggerierten Vermittlung steht indes die reale Trennung gegenüber. Sie wird am Zelter dadurch bezeichnet, dass ein breiter schwarzer Strich, der über seinen Rücken verläuft, die beiden Farbhälften trennt. Konrad Fleck verändert hier die Farbsignatur seiner Vorlage, die an Stelle des schwarzen Strichs jeweils komplementär einen roten Punkt im weißen und einen weißen im roten Feld platziert. Michael Waltenberger, der auf diese Differenz aufmerksam gemacht hat, sieht in Flecks Variation nicht nur eine Reminiszenz an Hartmanns Zelterbeschreibung, er deutet sie auch als bewusste Abweichung vom poetologischen Programm der Vorlage: Hatte diese die verschiedenen Oppositionen auf ein hybrides Konzept hin geöffnet, restituiert Fleck wieder eine klare Ordnung von Natur und Kultur, Eigenem und Fremden, Christentum und Heidentum.93 Jenseits der poetologischen Funktion visualisieren die drei Farben des Zelters aber auch die Ambivalenz der Liebe-Leid-Topik. Dem Streben nach Synthese von Rot und Weiß als Zeichen der idealen Minne steht die notwendige Spaltung gegenüber, die Liebe nicht ohne Leid definiert: Schon die ideale Verbindung der Liebenden im Baumgarten hebt diesen Riss in der höfischen Minnekonzeption hervor. Die Markierungen, die der Zelter trägt, transportieren neben einer erotischen aber auch eine politische und ästhetische Semantik. Die politische wird nicht wie in der Heldenepik durch Unterwerfung bzw. Disziplinierung des wilden Pferdes, d. h. nicht durch Handlung, vorgeführt, sondern über Schrift: Das natürliche Pferd trägt eine Inschrift: 92

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Ebd., Vv. 2002ff. Johanna Belkin: Das mechanische Menschenbild in der Floredichtung Konrad Flecks. In: ZfdA 100 (1971), S. 325–346. Ingrid Kasten: Der Pokal in ‚Flore und Blancheflur‘. In: Erzählungen in Erzählungen. Phänomene der Narration in Mittelalter und Früher Neuzeit. Hrsg. von Harald Haferland, Michael Mecklenburg. München 1996, S. 189–198. Haiko Wandhoff: Flore vor dem Scheingrab Blanscheflurs: Zu den medialen Funktionen von Schrift und Bild in der epischen Totenmemoria. In: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Dems. Berlin / New York 2003, S. 301–323. Klaus Ridder: Ästhetisierte Erinnerung – erzählte Kunstwerke. Tristans Lieder, Blanscheflurs Scheingrab, Lancelots Wandgemälde. In: LiLi 105 (1997), S. 62–85. Margreth Egidi: Die höfischen Künste in ‚Flore und Blancheflur‘ und ‚Apollonius von Tyrland‘. In: ZfdPh 128 (2009), S. 37–47. Michael Waltenberger: Diversität und Konversion. Kulturkonstruktion im französischen und im deutschen Florisroman. In: Ordnung und Unordnung in der Literatur des Mittelalters (Anm. 57), S. 25–43, hier 42f.

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„Mich sol niemen rîten / wan der wert sî der krône.“94 Nicht dem starken oder dem disziplinierten Ritter, sondern dem schönen Königssohn wird ein ihm adäquates Pferd zugeordnet. Dass die Zeichnung des Pferdes auch nach ästhetischen Kriterien erfolgt, darauf verweist eine Sequenz aus der Grabmalbeschreibung: Der Erzähler fügt in seine descriptio eine Reflexion über die Voraussetzungen darzustellender Schönheit ein: Der Glanz, den das Grabmal ausstrahlt, wird in seiner Ursache begründet: „daz kam von vier sachen, / ân die niemen kan gemachen / schoeniu bilde cleine: / golt, silber, guot gesteine, / schoeniu varwe dez vierde.“95 Wie das Grabmal setzen sich auch der Zelter und sein Geschirr aus diesen Elementen zusammen. Neben Gold, Silber und Edelsteinen wird auch die Farbgebung zum ästhetischen Index. Die Farben sind also mehrfach codiert: Gegenläufig zur Synthesefigur des Goldes in der Grabmalbeschreibung indizieren sie in der Zelterbeschreibung grundsätzlich die Ambivalenz der Liebe-LeidThematik, handlungslogisch die Trennung der Geliebten und ästhetisch die Farbfunktion für die Schönheitsdarstellung.

VII. Fazit Die höfische Literatur ist durch eine Vielzahl von Einheits- und Spaltungsphantasmen gekennzeichnet, die sie über topische Muster organisiert: Einheit und Differenz von Körper und Seele/Herz, von Liebe und Leid, Natur und Kultur, Transzendenz und Immanenz, Subjekt und Gesellschaft, Gut und Böse etc. Sie liefern der Narration historisch spezifische Axiologien von Werten, über die sich die Erzählungen strukturieren und finalisieren lassen. Es handelt sich um kulturelle Parameter, die in vertikaler Richtung die Aktanten semantisieren und den Syntagmen eine je unterschiedliche Prägung verleihen. Die Farbsignaturen, die die höfische Epik im Rahmen ihrer descriptiones entwickelt, lassen sich auf diese Axiologien abbilden, indem die Farbrelationen als Oppositionen, Symmetrien, Korrespondenzen und Graduierungen auf die entsprechenden Wertrelationen appliziert werden. Farben bilden in diesem Zusammenhang einen Zeichentyp, der über die einfache Referenz symbolische (Schimmel), über die entfaltete descriptio ikonische (Camillas Pferd) und über die topische (geometrische) Struktur diagrammatische (Enites Pferd) Formen der Anschauung stiften kann. Die Pferdebeschreibungen der höfischen Epik demonstrieren, welcher Spielraum von Farbcodierungen und -relationierungen mittelalterlichen Autoren zur Verfügung stand. Farbsymmetrien und Farbmischungen können als ästhetischer Effekt eingesetzt werden, Oppositionen auf Kontraste, aber auch auf Vermittlung angelegt sein. Hatte Heinrich von Veldeke die bunte Farbpalette des Roman d’Eneas bereits anders akzentuiert, indem er sie ökonomischer schon in Richtung auf geometrische Relationen hin arrangierte 94 95

Konrad Fleck (Anm. 91), Vv. 2774f. Ebd., Vv. 1983ff.

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und stärker auf die höfische Ästhetik (mâze) und Minnetopik (Rot/Weiß) fokussierte, formt Hartmann im Anschluss an Chrétien die Farbpalette in ein dreigliedriges Diagramm um, um im Rahmen einer poetologisch ausgerichteten descriptio Hinweise auf die grundsätzliche Relevanz von Oppositionen, ihre Spannungen und Vermittlungsformen im Textgefüge insgesamt zu bieten. Wirnt von Grafenberg und Konrad Fleck greifen Hartmanns Diagrammstruktur auf, besetzen sie aber neu und beziehen sie auf andere thematische Konstellationen ihrer Werke. Gegenüber Hartmann nehmen sie deutlicher semantischen Wert an, wenn sie bei Wirnt auf höfische und heilsgeschichtliche Axiologien und bei Konrad auf die Minnethematik bezogen werden. Unabhängig davon, ob die Erzählungen eine kohärente Farbpoetik entwerfen und umsetzen, bilden die Pferdebeschreibungen kleine Artefakte, in denen die Farben Basisoppositionen der Erzählung visualisieren und mit kulturellen Codes aufladen.

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Goethes Farbenlehre und Das Märchen Farbmagie oder -wissenschaft?

Farbe ist zugleich Intuitionsakt, Gefühlsakt, Denkart, Empfindungsart, Sprachakt und Kulturakt. Jaques le Rider1

In letzter Zeit hat sich die schon seit langem geführte interdisziplinäre Debatte über das Zusammenwirken von Kunst, Kultur und Wissenschaft intensiviert.2 Besonders in den Akademien versuchen Geistes- und Naturwissenschaftler immer wieder, gemeinsam die Zusammenhänge ihrer Bereiche nutzbar zu machen. Das ist bisher jedoch meist nur mit bescheidenem Erfolg gelungen, denn die Naturwissenschaften genießen gegenüber den Geisteswissenschaften gegenwärtig weit größere gesellschaftliche Wertschätzung sowie dementsprechend eine stärkere politische und finanzielle Unterstützung. Das war anders zur Goethes Zeiten. Bis Ende des 18. Jahrhunderts wurden die Naturwissenschaften noch vorwiegend von Laien vorangetrieben. Die Geisteswissenschaften dominierten, und aus ihrem Studium gingen Experten für viele Berufe im staatlichen wie im privaten Sektor hervor. Auch die Rechtswissenschaften und damit Goethe als ausgebildeter Jurist gehörten dazu. Goethe widmete sich jedoch sein Leben lang leidenschaftlich und akribisch auch naturwissenschaftlichen Studien. Über einen der Gründe hierfür schreibt er in der Farbenlehre: Man kann von dem Physiker nicht fordern, daß er Philosoph sei; aber man kann von ihm erwarten, daß er so viel philosophische Bildung habe, um sich gründlich von der Welt zu unterscheiden und mit ihr wieder im höhern Sinne zusammenzutreten. […] Man kann von dem Philosophen nicht verlangen, daß er Physiker sei; und dennoch ist seine Einwirkung auf den physischen Kreis so notwendig und so wünschenswert.3 1

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Jaques le Rider schreibt hierzu: „Goethes Farbenlehre [behält] in ihrer interdisziplinären Anlage paradigmatischen Charakter: Farbe ist zugleich Intuitionsakt, Gefühlsakt, Denkart, Empfindungsart, Sprachakt und Kulturakt.“ Jaques le Rider: War die Klassik farbenfeindlich und die Romantik farbengläubig? Von Lessings Laokoon zu Goethes Farbenlehre und deren Nachwirkung. In: Goethe und das Zeitalter der Romantik. Hrsg. von Walter Hinderer. Würzburg 2002, S. 31–50, hier S. 42. Vgl. dazu z. B.: Die zwei Kulturen. Literarische und naturwissenschaftliche Intelligenz. C. P. Snows These in der Diskussion. Hrsg. von Helmut Kreuzer. München 1987. Wenn nicht anders vermerkt, zitiere ich die Farbenlehre im Folgenden nach der Hamburger Ausgabe von Goethes Werken: Johann Wolfgang von Goethe: Zur Farbenlehre. In: Goethes Werke.

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Die Ergebnisse von Goethes naturwissenschaftlichen Forschungen gingen bekanntlich häufig in seine literarischen Texte ein, so z. B. besonders in seinen Roman Die Wahlverwandtschaften. Hier verfolgt Goethe exakt die inhärenten Anziehungskräfte bestimmter chemischer Verbindungen und zieht Parallelen zu denjenigen Kräften, die zwischen den Menschen wirken. Seine naturwissenschaftlichen Forschungsbemühungen sind dennoch nur schwach im Bewusstsein der Nachwelt verankert. Schon zu Lebzeiten war seine wichtige Studie Zur Farbenlehre nicht anerkannt. Deshalb ist es erstaunlich, dass im Jahre 2010 Goethes fast 2000seitige naturwissenschaftlich-philosophische Abhandlung über Farben die Gemüter besonders im gesamtdeutschen Sprachraum so auffällig erregte. Sie ist ein Werk, dem die Öffentlichkeit bislang kaum Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Nun aber feierten alle Medien, auch die populären, das 200jährige Jubiläum der ersten Gesamtveröffentlichung, die im August 1810 erfolgte. Kein Feuilleton der Presse ließ sich lumpen. Man veröffentlichte seitenlange Artikel und Abhandlungen zum Thema; auch im Internet waren erstaunliche 7880 Eintragungen allein unter dem Stichwort Goethes Farbenkreis bei Google verzeichnet. Gedenkstätten und Museen, die sich vorher nur marginal mit Goethe befasst hatten, organisierten Ausstellungen, Vorträge, Konferenzen und Symposien.4 Hands-on Angebote aus Weimar luden die breite Öffentlichkeit dazu ein, Goethes Farbexperimente nachzuvollziehen. Auch die Tourismusindustrie sah eine Chance, und so konnten z. B. Besucher in Wetzlar einer Life-Performance, d. h. einem kleinen Theaterstück mit dem Titel Farbenwesen, beiwohnen. Hier schlüpften Schauspieler in die Rollen bekannter Figuren aus dem Umkreis Goethes und tummelten sich um einen weiß gekleideten Greis, der den bekränzten Dichterfürst darstellte. In farbig abgestimmten Kleidern imitierten sie Goethes berühmten Farbenkreis und stellten zudem die Hauptpunkte seiner Farbenlehre im Gespräch nach (vgl. Abb. 5, Bildteil). Goethe selbst nannte die Farbenlehre sein wichtigstes Werk, an dem er im Grunde sein ganzes Leben gearbeitet habe. Auf alles, was er als Poet geleistet habe, bilde er sich gar nichts ein, lässt er Eckermann noch im Jahre 1829 wissen. Doch in der schwierigen Wissenschaft der Farbenlehre – behauptet er nicht unbescheiden – sei er der einzige, „der das Rechte weiß“, und er habe diesbezüglich „ein Bewußtsein der Superiorität über viele“.5

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Hamburger Ausgabe in 14 Bänden. Hrsg. von Erich Trunz. Bd. 13: Didaktischer Teil. 7. Aufl. München 1975, S. 314–536 sowie Bd. 14: Materialien zur Geschichte der Farbenlehre. 4. Aufl. Hamburg 1971, S. 7–327. Das Zitat oben Bd. 13, S. 482. Beispiele: Augengespenst und Urphänomen. 200 Jahre Goethes Farbenlehre. Ausstellung im Goethe-Nationalmuseum, Weimar. 19. Juni 2010–19. Juni 2011. Oder: FARBE Experiment und Erlebnis – 200 Jahre Goethes Farbenlehre. Ausstellung im Steiner Goetheanum in der Schweiz. 12. Juni–31. August 2010. Farbenleben – Lebensfarben. 200 Jahre Goethes Farbenlehre. Tagung im Goetheanum. 5.–9. Juli 2010. Goethe im Gespräch mit Eckermann am 19. Februar 1829. In: Johann Wolfgang von Goethe: Gedenkausgabe der Werke. Briefe und Gespräche. Hrsg. von Ernst Beutler. 24 Bände. Bd. 24: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. Zürich 1948, S. 328.

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Warum aber interessiert sich gerade die heutige Generation wieder für Goethes Erbe und feiert dessen in mancher Beziehung wissenschaftlich so oft in Zweifel gezogene Errungenschaft so intensiv? Es mag an Goethes Bevorzugung der Anschauung gegenüber der Abstraktion liegen, die in der Farbenlehre zum Ausdruck kommt. In der Frankfurter Rundschau heißt es: [I]ndem Goethe geduldig prüft, nicht nur w a s , sondern w i e wir sehen, ist er modernen, aktuellen Fragestellungen zumal der Bildenden Kunst sehr nahe. […] Das wahrnehmende Subjekt als Teilhaber, ja: gleichsam als unentbehrlicher Co-Produzent des Wahrgenommenen – das ist eine Funktion des Betrachters, die heute aus der Kunst nicht wegzudenken ist. Die Weitsicht von Goethes Weltordnung triumphiert da auf das Beeindruckendste.6

Die Einschätzung des Philosophen Gernot Böhme geht noch weiter: „Goethes Farbenlehre muss heute als ein gelungenes Stück Phänomenologie der Natur betrachtet werden. Charakteristisch für Goethes Darstellung seiner Lehre ist, daß er das zentrale Stück seiner Mitteilung nicht Theorie nennt, sondern Didaktik.“7 Auf die interdisziplinäre Ausrichtung der Farbenlehre hat die Forschung bereits hingewiesen.8 Das Gesamtwerk der Farbenlehre enthält erstens den didaktischen Teil mit der Beschreibung der physiologischen, physikalischen und chemischen Charakteristika von Farben sowie ihrer psychologischen und ästhetischen Aspekte. Zweitens enthält sie – nach Goethes Worten – die Enthüllung der Theorie Newtons mit ihrer Widerlegung. Drittens bietet Goethe eine umfassende Geschichte der Farbenlehre, angefangen in der Antike. Zunächst zur bekannten Kontroverse, die dem naturwissenschaftlichen Aspekt gilt. Sehr halsstarrig bekämpft Goethe sein Leben lang Isaak Newtons schon fast hundert Jahre zuvor aufgestellte Theorie zur Brechung des Lichts aus dem Jahre 1705, und zwar ungeachtet dessen, dass andere Physiker und Naturwissenschaftler der Zeit mit Newton übereinstimmten. Goethe beharrt bis an sein Lebensende auf seinem Recht und schreckt nicht davor zurück, den englischen Mathematiker des Irrtums zu bezichtigen und besonders seine Nachfolger, mit denen er es zu tun hatte, Narren zu nennen. Öffentlich bezichtigt er in seinem Buch Newton dessen, was nach der herrschenden Meinung vielleicht eher auf ihn selbst zutraf: „Newtons Charakter würden wir unter die starren rechnen, so wie auch seine Farbentheorie als ein erstarrtes Aperçu anzuschauen ist.“9 6 7

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Goethes Farbenlehre. Der Sehende als Teil des Gesehenen. In: Frankfurter Rundschau Online, 31.8.2010. Sperrungen im Original. Gernot Böhme: Phänomenologie oder Ästhetik der Natur? In: Grenzen und Grenzüberschreitungen. XIX. Kongress für Philosophie. Bonn, 23.–27. September 2002. Vorträge und Kolloquien. Hrsg. von Wolfram Hogrebe in Verbindung mit Joachim Bromand. Berlin 2004, S. 445–450, hier S. 449. Vgl. dazu bes.: Colours in Culture and Science. In: 200 Years Goethe’s Colour Theory. Proceedings of the Interdisciplinary Symposium in Hamburg, October 12–15, 2010. Hrsg. von Gudrun Wolfschmidt. Hamburg 2011 (Hamburgensis. Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften. 22), S. 159–237. Johann Wolfgang von Goethe: Farbenlehre (Anm. 3), Bd. 14, S. 173.

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Goethe vertrat die Meinung, dass das Licht im Gegensatz zu Newtons Auffassung eine unteilbare Einheit und nach seinen Worten ein Urphänomen sei. Die Möglichkeit, dass sowohl Newton wie auch Goethe teilweise Recht und teilweise Unrecht hatten, wird bis heute experimentell erprobt. So ist es 2009 erstmals in der Geschichte der Farbenforschung gelungen, das Experimentum Crucis Newtons, mit dem dieser die Zerlegbarkeit des Lichts beweist, im Sinne Goethes zu invertieren und simultan zu realisieren.10 Der Historiker Friedrich Steinle (TU Berlin) wies schon 2001 darauf hin, dass es nicht ‚Goethe contra Newton‘ heißen dürfe, sondern dass beide Forscher nur Beispiele für unterschiedliche Typen experimentellen Arbeitens innerhalb des Systems der modernen Naturwissenschaft seien. Goethe, der sich nicht so sehr für abstrakte Resultate der Mathematik interessierte, versuchte besonders, den Grund des Effekts der einzelnen Farben auf den Sehsinn und die sinnlich-sittliche Wirkung durch dessen Vermittlung auf das Gemüt zu ermitteln.11 In seiner Kritik an der Forschung Sir Isaac Newtons bemängelt Goethe, dass gebündelte Spektralfarben niemals weißes Licht ergeben könnten, wie der Engländer behauptete, sie erschienen lediglich als weiß. Licht, auch das Sonnenlicht, sei unteilbar. Er schreibt: So „nannten wir das Schwarze den Repräsentanten der Finsternis, das Weiße den Stellvertreter des Lichts.“12 Goethes ganzheitliches Denken wird in einer Maxime deutlich, in der er das Naturphänomen Licht auf ein kulturelles Phänomen bezieht: „Licht und Geist, jenes im Physischen, dieser im Sittlichen herrschend, sind die höchsten denkbaren unteilbaren Energien.“13 Farben entstünden – so Goethe – erst aus dem Zusammenwirken von Licht und Finsternis durch die Vermittlung eines trüben Mediums.14 Deshalb wirke die Sonne am Abend rötlich, weil Sie dann durch eine größere Dunstschicht der Erdatmosphäre dringen müsse. Die Farben, die sich durch den Einsatz von Glasprismen ergäben, kämen nur durch die Art von Rändern und Flächen zustande, auf die das Licht projiziert werde und seien keine Anteile des Lichts selbst, wie Newton es annahm. Goethe bekämpft den Kontrahenten, indem er darlegt: Er habe mit Sicherheit durch seine Experimente erkannt, dass die Farben aus einer Mischung von Helligkeit und Finsternis entstünden, d. h. im Halbschatten. So liege Gelb an der Grenze der Helligkeit (zunächst am Licht) 10

11 12 13 14

Vgl. dazu Matthias Rang: Mehrfachanwendung von Spiegelspaltblenden und Prismen – eine moderne Form von Newtons experimentum crucis. In: Didaktik der Physik. Frühjahrstagung der DPG in Bochum 09. CD Berlin 2009. Hrsg. von Volkhard Nordmeier, Helmuth Grötzebrauch. (vgl. auch: http://www.experimentum-lucis.de/Paper/DPG09-Tagung_Rang.pdf.). Eine Ausstellung und ein Workshop hierzu: experimentum lucis. Ausstellung & Experimentallabor 200 Jahre Goethes Farbenlehre im Lichthof der Humboldt-Universität zu Berlin lief vom 04.09.2010 bis zum 25.09.2010. Vgl. dazu Neil Ribe und Friedrich Steinle: Exploratory Experimentation: Goethe, Land, and Color Theory. In: Physics Today 55 (7), July 2002, S. 43–49, hier S. 43. Johann Wolfgang von Goethe: Farbenlehre (Anm. 3), Bd. 13, S. 384. Johann Wolfgang von Goethe: Maximen und Reflektionen. In: Goethes Werke (Anm. 3), Bd. 12, S. 365–547, hier S. 528. Vgl. dazu Karl Otto Conrady: Goethe – Leben und Werk. 2 Bde. Mannheim 1994, Bd. 2, S. 263.

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und Blau an der Grenze des Dunkeln (zunächst an der Finsternis).15 Das Himmelsblau entstehe z. B. durch das durchsichtige Medium Luft vor dem Dunkel des Weltalls. Goethe lehnte kategorisch andere Forschungsergebnisse ab, die schon zu seinen Lebzeiten zu belegen suchten, dass die farbigen Effekte der Prismen auch durch Newtons Theorie erklärt würden und somit den Engländer nicht widerlegten. Goethe gab niemals nach, denn seine wissenschaftliche Forschung zum Licht bestätigte ihm zweifellos seine ganzheitliche, gewissermaßen existentielle Weltsicht, die ihm äußerst wichtig war. Er schrieb alle Kapazitäten der Wissenschaft an, spannte alle Freunde und Mäzene ein und führte mit großem Aufwand und teuren Apparaten aufwendige Experimente durch. Er war sich seiner Forschungsergebnisse absolut sicher und wähnte sich zu Unrecht allein gelassen. In einem Brief an Schiller vom 24. Januar 1798 erklärt er: „Erst seit ich mir fest vorgenommen habe außer Ihnen und Meyern mit Niemanden mehr über die Sache zu conferiren, seit der Zeit habe ich erst Freude und Muth.“16 Künftig wolle er ganz für sich allein immer sachte fortarbeiten. Später bemüht er sich umsonst um die Anerkennung des jungen Schopenhauer, der sich ebenfalls mit Farbwirkungen auseinandersetzt, und dem er sogar einige seiner Apparate zu Experimenten zur Verfügung stellt. Während Schopenhauer die Farben nur in der menschlichen Vorstellung verortet, bleibt Goethe farbentheoretischer Realist.17 Rudolf Steiner erklärt den Unterschied: Die Farbe darf [bei Goethe, H. K.] nicht in Schopenhauerscher Manier von dem Auge ihrem Wesen nach abgeleitet werden, wohl aber muß in dem Auge die Möglichkeit nachgewiesen werden, daß die Farbe erscheine. Das Auge bedingt nicht die Farbe, aber es ist die Ursache ihrer Erscheinung.18

Schopenhauer hingegen begründet die Farben allein durch eine Tätigkeit der Retina. Bei ihm existieren sie nur in der Wahrnehmung, und seine Erkenntnistheorie folgt einer Subjekt-Objekt-Trennung, der zufolge das Objekt die Vorstellung eines Subjekts ist und nur als Vorstellung existiert.19 Goethe in seinem ganzheitlichen Denken hingegen stellt 15 16 17

18

19

Johann Wolfgang von Goethe: Farbenlehre (Anm. 3), Bd. 13, S. 498: „So wie Gelb immer ein Licht mit sich führt, so kann man sagen, daß Blau immer etwas Dunkles mit sich führe.“ Brief an Schiller vom 24. Januar 1798. In: Projekt Gutenberg: http://gutenberg.spiegel.de/ buch/3683/2: Brief Nummer 409. Vgl. dazu z. B. Arthur Schopenhauer: Der Briefwechsel mit Goethe und andere Dokumente zur Farbenlehre. Hrsg. und mit einem Essay von Ludger Lütkehaus. Zürich 1992. Karl Wagner: Goethes Farbenlehre und Schopenhauers Farbentheorie. In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 22 (1935), S. 92–176. Salomo Friedländer: Warum verwarf der Farbenlehrer Goethe die Farbenlehre des Goetheaners Schopenhauer? In: Jahrbuch der Schopenhauer-Gesellschaft 18 (1931), S. 287– 290. Rudolf Steiner: Goethe als Denker und Forscher. In: Johann Wolfgang von Goethe: Farbenlehre. Mit Einleitungen und Kommentaren von Rudolf Steiner. Hrsg. von Gerhard Ott und Heinrich O. Proskauer. 3 Bände. 3. Auflage. Stuttgart 1984, Bd. 1, S. 18–40, hier S. 32. Dieser Vergleich stammt von Tobias Hölterhof: Die Farbfreundschaft zwischen Schopenhauer und Goethe. In: http://www.hoelterhof.net/node/793, eingesehen am 08.07.2010.

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das menschliche Auge mit dem von ihm Gesehenen in eine Wechselbeziehung. Beides existiert für ihn als Realität. Goethe definiert Farben in der Einführung zur Farbenlehre als „Taten und Leiden des Lichts“. Daran knüpft er in nuce anschließend sein gesamtes Forschungsprogramm: In diesem Sinne können wir von denselben [von den Farben, H. K.] Aufschlüsse über das Licht erwarten. Farben und Licht stehen zwar untereinander in dem genausten Verhältnis, aber wir müssen uns beide als der ganzen Natur angehörig denken: denn sie ist es ganz, die sich dadurch dem Sinne des Auges besonders offenbaren will.20

Da es für ihn nur zwei reine Farben, nämlich Blau und Gelb, gibt, sieht er die übrigen als Abstufungen dieser beiden Farben oder als unreine Mischungen. Mittels eines trüben Mediums könnten diese Farben gesteigert werden, und so könne z. B. „durch dessen Einwirkung aus den beiden Grundfarben – Gelb als Verkörperung des Lichts und Blau als Verkörperung der Dunkelheit – die höchste, erhabenste Farbe Rot (Purpur) hervorgehe[n].“21 Wenn Goethe auch die Wissenschaftler nicht überzeugen konnte, so hatte seine Farbenlehre doch einen großen Einfluss auf die Kunsttheorie der zeitgenössischen und nachfolgenden Maler der Romantik, wie z. B. auf Philipp Otto Runge, Caspar David Friedrich und William Turner. So verdankt ihm beispielsweise Runge, mit dem Goethe auch korrespondierte, viel bei der Entwicklung seiner dreidimensionalen Farbenkugel. Während für Runge die tiefste Mystik der Religion nur in einer neuen, farbigen Kunst der Landschafterey erscheinen konnte, lehnte Goethe als Realist die romantische Tendenz ab, Kunst zur Religion zu erheben. Wohl ein Grund dafür, dass er heute noch als Pionier der naturwissenschaftlichen Farbpsychologie gefeiert wird. Indem er weitläufig auf die unterschiedliche Wirkung von Farben auf den Menschen in seiner Abhandlung einging, wagte er sich auf das besonders prekäre Gebiet der Verhaltensforschung.22 In der Abteilung „Sinnlich-sittliche Wirkung der Farbe“23 befasst sich Goethe in der Farbenlehre sodann mit deren verschiedenen psychologischen Effekten. Es erstaunt, wie lakonisch, ja selbstverständlich er diese Wirkungen aufzählt und Zuordnungen vornimmt, ohne je voneinander abweichende kulturelle Entwicklungen gewisser Farbsemantiken zu diskutieren bzw. deren Bedeutsamkeit in Frage zu stellen, zu relativieren oder gar Zweifel an ihrer Geltung anzumelden. Die Interpretationen von Farbwirkungen, die er nennt, bleiben zwar ohne Erklärung, aber er weist an anderer Stelle durchaus auf kulturgeschichtliche Variationen derselben hin. Bei ihm jedenfalls haben die Farben der einen Seite seines Farbenkreises negative, die Farben der anderen Seite positive 20 21 22

23

Johann Wolfgang von Goethe: Farbenlehre (Anm. 3), Bd. 13, S. 315. John Gage: Die Sprache der Farben. Bedeutungswandel der Farbe in der Wissenschafts- und Kunstgeschichte. Leipzig 2010, S. 172. Vgl. dazu Rainer Mausfeld: „Wär’ nicht das Auge sonnenhaft …“, Goethes Farbenlehre: Nur eine Poesie des Chromatischen oder ein Beitrag zu einer naturwissenschaftlichen Psychologie? In: ZiF: Mitteilungen 4 (1996), S. 1–19. Johann Wolfgang von Goethe: Farbenlehre (Anm. 3), Bd. 13, S. 494–521.

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Auswirkungen auf die Menschen (vgl. Abb. 6, Bildteil). Zum Beispiel mache das Gelb als Farbe nächst dem Licht „der Erfahrung gemäß“, so schreibt er, „einen durchaus warmen und behaglichen Eindruck. […] Das Auge wird erfreut, das Herz ausgedehnt, das Gemüt erheitert; eine unmittelbare Wärme scheint uns anzuwehen.“24 Blau sei hingegen als Farbe „eine Energie; allein sie steht auf der negativen Seite und ist in ihrer höchsten Reinheit gleichsam ein reizendes Nichts. […] Das Blaue gibt uns ein Gefühl von Kälte, so wie es uns auch an Schatten erinnert. […] Zimmer, die rein blau austapeziert sind, erscheinen gewissermaßen weit …“.25 Zur Farbe Rot weiß Goethe: „Wir haben diese Farbe ihrer hohen Würde wegen manchmal Purpur genannt. […] Sie gibt einen Eindruck sowohl von Ernst und Würde als von Huld und Anmut.“26 Zu Grün bemerkt Goethe: „Unser Auge findet in derselben [Farbe, H. K.] eine reale Befriedigung. […] Man will nicht weiter, und man kann nicht weiter. Deswegen für Zimmer, in denen man sich immer befindet, die grüne Farbe zur Tapete meist gewählt wird.“27 Es bleibt offen, was die Quellen dieser großen Sicherheit seiner Farbauslegungen sind. Konsequent hat Goethe jedenfalls diese Farbpsychologie auch im Privatleben angewandt. So richtete er wirkungsbewusst in seinem Haus ein gelbes Esszimmer, einen blauen Salon und ein grünes Arbeitszimmer ein! Was sein literarisches Werk anlangt, so kann angenommen werden, dass er durch die zahlreichen Farballusionen, die seine Texte anreichern, eine prekäre interdisziplinäre Verbindung zu seiner Psychologie herzustellen suchte. An anderer Stelle der Farbenlehre glaubt Goethe in den Farben anhand ihrer unterschiedlichen Wirkungen eine noch umfassendere kulturgeschichtliche, wenn nicht gar mythische Dimension durch die Betrachtung und Anschauung der Farb-Phänomene zu erkennen: Wenn man erst das Auseinandergehen des Gelben und Blauen recht […] gefaßt, besonders aber die Steigerung ins Rote genugsam betrachtet haben [wird], wodurch das Entgegengesetzte sich gegeneinander neigt und sich in einem Dritten vereinigt, dann wird gewiß eine besondere geheimnisvolle Anschauung eintreten, daß man diesen beiden getrennten, einander entgegengesetzten Wesen eine geistige Bedeutung unterlegen könne, und man wird sich kaum enthalten, wenn man sie unterwärts das Grün und oberwärts das Rot hervorbringen sieht, dort an die irdischen, hier an die himmlischen Ausgeburten der Elohim zu gedenken.28

Rot charakterisiert hier für Goethe die höhere, abstrakte, Grün hingegen die niedere, irdische Sphäre der menschlichen Erfahrung. In materiellen Phänomenen – so kann das Zitat verstanden werden – sei das Geistige enthalten und bilde durch das sehende, erkennende Auge eine Verbindung mit dem Materiellen. Die sprachlich grundierten menschlichen Vorstellungen, durch die sich eine Gemeinschaftskultur, ein geistiges 24 25 26 27 28

Ebd., S. 496. Ebd., S. 498. Ebd., S. 499f. Ebd., S. 501. Ebd., S. 521.

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Reich, entwickeln kann, erhalten so eine Basis in der Natur. Farben sind dabei gewissermaßen Chiffren, die sowohl biologisch wie auch kulturell besetzt sind. Es ist ein „offenbare[s] Geheimnis“,29 wie es im Märchen heißt, das durch das Erkennen farblicher Kodierungen verständlich werden kann. Der Begriff Elohim (deutsch ‚Götter‘) im Zitat stellt eine Beziehung der Farben zu den Metaphern der Religionsgeschichte her und bezeichnet so die tiefsten Beweggründe der menschlichen Gesellschaft. Der Dichter greift hier ins Unbewusste, Vorsprachliche aus, das zwar durch Farbcodierungen eine Realität erkennen lässt, aber nicht direkt durch die Sprache zum Ausdruck gebracht werden kann. Doch kann er die sprachliche Kommunikation nicht hoch genug einschätzen, weil allein sie in ihrer menschlich fassbaren Dimension die unbekannten Wahrheiten, wie sie sich z. B. in den Farben erahnen lassen, stückweise ins Bewusstsein heben kann. So heißt es im Märchen:„‚Was ist herrlicher als Gold?‘ fragte der König. ‚Das Licht,‘ antwortete die Schlange. ‚Was ist erquicklicher als Licht?‘ fragte jener. ‚Das Gespräch,‘ antwortete diese.“30 Goethes ganz eigene Verknüpfung von naturwissenschaftlichen und psychologischkulturgeschichtlichen Auffassungen von Farbe wird so zur Grundlage seiner literarischen Texte. Die essentielle Bedeutung seiner Farbenlehre für sein literarisches Schaffen lässt sich in jenem bekannten Zitat erkennen, das Faust in der ersten Szene im zweiten Teil des Dramas in den Mund gelegt ist, als dieser am frühen Morgen erwacht und – seine jugendlichen Untaten vergessend – den Sonnenaufgang erlebt: „Am farbigen Abglanz haben wir das Leben,“31 heißt es da in einem ganz konkreten naturwissenschaftlichen Sinn. Es ist dabei wichtig darauf hinzuweisen, dass Abglanz auch Reflexion bedeutet. Für Goethe ist der Abglanz indes nicht eine einfache Reflexion, für ihn ist es allein die Farbigkeit, die den Abglanz bedeutsam macht, da nur sie ihm, wie es im Faust-Zitat heißt, das Leben gibt. In Platons Höhlengleichnis aus dem Jahr 250 v. Chr. hingegen werden die Reflexionen des Wirklichen hingegen noch als ‚dunkle Schatten‘ beschrieben.32 Zwar stellt auch Goethe fest, dass die Menschen die Zusammenhänge des Lebens und der Welt nicht in ihrer gesamten Gestalt und Bedeutung erkennen können, aber er behauptet doch, dass die farbigen Schatten es dem menschlichen Auge erlauben, eine innere Korrespondenz mit ihnen herzustellen und im interaktiven Austausch Stück um Stück mehr von sich und der Welt erkennen und verstehen zu können.

29

30 31 32

Ich zitiere Das Märchen im weiteren Verlauf nach folgender Ausgabe: Johann Wolfgang von Goethe: Das Märchen. In: Goethes Werke (Anm. 3), Bd. 6. 5. Aufl. Hamburg 1963, S. 209–241. Das Zitat auf S. 216. Ebd., S. 215. Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie zweiter Teil. In: Goethes Werke (Anm. 3), Bd. 3, S. 146–364, hier S. 149. Platon: Politeia. Übersetzt von Friedrich Schleiermacher, ergänzt von Franz Susemihl. Hrsg. von Karlheinz Hülser. Frankfurt / M. 2006. Zuletzt hat Hyun-Kyu Jung auf diese Parallele hingewiesen, ohne jedoch auf die Bedeutung der Farbigkeit einzugehen. Hyun-Kyu Jung: Das Motiv des Schleiers in den dichterischen Werken Goethes. Diss. Berlin 2006, S. 13.

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Als Farbforscher fühlte sich Goethe also gewissermaßen in der Rolle des befreiten Gefangenen von Platons Gleichnis, der, aus der Schatten-Höhle entlassen, das Licht erlebt, dessen Bericht darüber aber bei seiner Rückkehr niemand glaubt. In der Farbenlehre heißt es: „Die Farbe selbst ist ein Schattiges (skieron).“33 Daraus folgt, dass farbige Schatten diejenige Erkenntnis ermöglichen, welche die Menschen in Platons dunkler Höhle entbehren. Reflexion ist im erweiterten Sinne aber auch Sache der menschlichen Kommunikation und der sprachlichen Mittel, d. h. solcher Schattenprodukte, die sich dem Bewusstsein, dem Licht nähern. Goethes naturphilosophische Feststellungen zum Farberlebnis des Menschen haben zudem auch eine direkte Beziehung zur Religionsdebatte, wie sie seinerzeit so intensiv geführt wurde. Im heutigen Verständnis könnte Goethe Agnostiker genannt werden. Aufgrund seiner vagen, sich widersprechenden Erklärungen jedoch sind sich die Goetheforscher bis jetzt uneinig darüber, wie sein Glaube zu klassifizieren sei.34 Der Religionsforscher Helmut Thielicke kommt zu dem Schluss, dass Goethe in „seiner Stellung zur christlichen Religion und ihren Vertretern die Position eines wohlwollenden und einfühlsamen Beobachters mit der Distanz eines Außenseiters einnahm.“35 Goethes aufklärungsnahe Einstellung forderte aber eher einen direkten analytischen Blick auf Mensch, Umwelt und Natur, auf den auch eine der Xenien verweist: „Wer Wissenschaft und Kunst besitzt / Hat auch Religion; / Wer jene beiden nicht besitzt / Der habe Religion.“36 Newtons Lichttheorie musste aus dieser Sicht auf einer falschen Konzeption von Wissenschaftlichkeit beruhen. Es ist ein fundamentalismusfeindlicher, evolutionärer Gedanke, der Goethe antreibt und der ihn in die Nachbarschaft Darwins rückt, jenem Naturforscher, der erst ein halbes Jahrhundert später überzeugende Grundlagen zum evolutionären Denken schaffen sollte. Aber schon Goethe ging davon aus, dass sich das Auge des Menschen zu seiner gegenwärtigen Sehfähigkeit entwickelt hatte, um die Umwelt, die sich im Abglanz der Farben zu erkennen gibt, in steigendem Maße in sich aufnehmen und besser verstehen zu lernen. In einem Gespräch mit Eckermann erklärte er: „Es ist nichts außer uns, was nicht zugleich in uns wäre, und wie die äußere Welt 33 34

35 36

Johann Wolfgang von Goethe: Farbenlehre (Anm. 3), Bd. 13, S. 346. Goethe schreibt z. B. am 6. Januar 1813 an Jacobi: „Ich für mich kann, bei den mannigfaltigen Richtungen meines Wesens, nicht an einer Denkweise genug haben; als Dichter und Künstler bin ich Polytheist, Pantheist hingegen als Naturforscher, und eins so entschieden als das andre. Bedarf ich eines Gottes für meine Persönlichkeit als sittlicher Mensch, so ist dafür auch schon gesorgt. Die himmlischen und irdischen Dinge sind ein so weites Reich, daß die Organe aller Wesen zusammen es nur erfassen mögen.“ In: Goethes Briefe. Hamburger Ausgabe in 4 Bänden. Bd. 3: Briefe der Jahre 1805–1821. Textkritisch durchgesehen und mit Anmerkungen versehen von Bodo Morawe. Hamburg 1965, S. 220. Siehe hierzu auch Hans-Joachim Simm: Goethe und die Religion. Frankfurt / M. 2000. Helmut Thielecke: Glauben und Denken der Neuzeit. Die großen Systeme der Theologie und Religionsphilosophie. Tübingen 1986, S. 208. Johann Wolfgang Goethe: Zahme Xenien IX. In: Goethes Werke. Hrsg. im Auftrage der Großherzogin Sophie von Sachsen. Abteilung 1: Bd. 5.1. Weimar 1893, S. 130–155, hier S. 134.

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ihre Farben hat, so hat sie auch das Auge.“37 Auch in den Zahmen Xenien III findet sich diese Sicht: Wär nicht das Auge sonnenhaft, die Sonne könnt es nie erblicken. Läg nicht in uns des Gottes eigne Kraft, wie könnt uns Göttliches entzücken?38

Die besondere Fähigkeit des Auges beschreibt Goethe in der Farbenlehre wie folgt: „Wenn das Auge die Farbe erblickt, so wird es gleich in Tätigkeit gesetzt, […] eine andre, so unbewußt als notwendig hervorzubringen, welche […] die Totalität des […] Farbenkreises enthält. Eine einzelne Farbe erregt in dem Auge durch eine spezifische Empfindung das Streben nach Allgemeinheit.“39 Dieses prä-evolutionäre Denken wird auch von der Forschung, die sich mit Goethes geistiger Verwandtschaft zu Darwin befasst, bestätigt, wie zum Beispiel schon 1904 von Walther May. Er formuliert seine Einsicht in Bezug auf die Farbenlehre mit großer Bewunderung: „Die Namen Goethe und Darwin werden in der Geschichte des biologischen Denkens und Forschens untrennbar verbunden bleiben, sie werden stets vereint genannt werden als der des Propheten und der des Erfüllers.“40 Von jungen Jahren an war Goethe an der farblichen Wiedergabe der Natur interessiert; er hatte Malunterricht genommen und sich in dieser Kunst erstaunlich intensiv versucht. Es ist nicht allgemein bekannt, dass noch heute 2.700 Blätter seiner Zeichnungen und Aquarelle erhalten sind (vgl. Abb. 7, Bildteil).41 Die italienische Reise in den 1780er Jahren bedeutete für Goethe ein Eintauchen in eine farblich bewusste Umgebung, und er diskutierte Farbeigenschaften und Farbmischungen ausführlich mit dort aktiven MalerInnen wie Wilhelm Tischbein und Angelika Kauffmann. Der britische Maler William Turner mit seinen quasi abstrakten, impressionistisch anmutenden Farbgemälden war sein Hauptfavorit. Noch fast vierzig Jahre später hat Turner eigens als Reaktion auf Goethes Farbenlehre einige Gemälde als Hommage an den Dichter kreiert. Das abgebildete Gemälde (vgl. Abb. 8, Bildteil) war seine direkte Antwort auf Goethes Farbenlehre.42 Goethes Experimente mit dem farblichen Abglanz der Welt in seinen dichterischen Werken können als Forschungsexperimente auf sprachlich kommunikativer Ebene ge37 38 39 40

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Goethe im Gespräch mit Eckermann am 1. Februar 1827. In: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens (Anm. 5), S. 233. Zahme Xenien III. In: Johann Wolfgang von Goethe: Berliner Ausgabe. Poetische Werke. Gedichte und Singspiele. I.: Gedichte. Berlin / Weimar 1976, S. 661–670, hier S. 667. Johann Wolfgang von Goethe: Farbenlehre (Anm. 3), Bd. 13, S. 501. Walther May: Goethe, Humboldt, Darwin, Haeckel: Vier Vorträge. Berlin 1904. Original der University of California. Digitalisiert 13. Sept. 2007: http://www.archive.org/stream/goethehumboldtd00maygoog#page/n7/mode/2up, S. 52. Vgl. dazu Gerhard Femmel: Corpus der Goethezeichnungen. Leipzig 1977. Siehe Gerald Finley: Angel in the Sun: Turner’s Vision of History. Montreal / Kingston 1999.

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sehen werden. Die erschauten und erforschten wissenschaftlichen Erkenntnisse zur Wirkung des Lichts gingen besonders in Goethes Das Märchen ein. Als er 1794 diesen Text als separaten Beitrag am Ende seiner Erzählungen deutscher Ausgewanderten veröffentlichte, hatte er sich schon lange intensiv mit seiner Farbtheorie beschäftigt. Bereits im Jahre 1791 und 1792 waren Vorstufen seiner Farbenlehre, die Beiträge zur Chromatik zuerst unter dem Namen Beyträge zur Optik erschienen.43 Es verwundert also nicht, dass das Märchen in heftig symbolisch kodierten Farben schillert, sowie mit sprachlich evozierten Eindrücken von Licht und Dunkel spielt. Es scheint, als ob Goethe hier versucht, auf dichterischer Ebene das im Text erwähnte ‚offenbare Geheimnis‘ farblich einzubringen, d. h. jenen Abglanz zu reproduzieren, an dem wir das Leben haben, und der auch in diesem Text die gesamte menschliche Erfahrung in der Welt der Natur, in der Gesellschaft sowie in den personalen Empfindungen widerspiegelt. Goethe hat auf die häufigen Fragen seiner Freunde nach der Bedeutung dieses Textes meistens geschwiegen. Er hat zugegeben, dass alles symbolisch sei. In der Farbenlehre erinnert uns Goethe daran, dass das Wort Symbolik weite Bedeutungsfelder anrührt, die schon an die Lacansche Auffassung des Symbols erinnern. Er schreibt, „daß eine Sprache eigentlich nur symbolisch, nur bildlich sei und [man] die Gegenstände niemals unmittelbar, sondern nur im Widerscheine ausdrücke[n] [kann].“44 Er spricht nicht über Symbole in der Sprache, sondern über die Sprache als Symbolik. Im Märchen bringt er gewissermaßen Vorsprachliches, unterstützt durch wissenschaftliche Erkenntnis, literarisch zum Ausdruck. Es gibt jedoch kaum Forschungsbeiträge, die diesen farbgesättigten Text direkt mit der Farbenlehre in Verbindung bringen. Stattdessen finden sich nicht wenige Versuche, ihn politisch oder gesellschaftsorientiert auszulegen.45 Rudolf Steiner, der Das Märchen anthroposophisch interpretiert hat, geht zwar auf seine bildliche Symbolik ein, jedoch nicht auf die Farben. In seinen Augen kreist der Text thematisch um die Frage nach der menschlichen Freiheit: Der menschenwürdige Zustand, den der Mensch erreicht, wenn er in den vollen Besitz der Freiheit gelangt ist, erscheint in diesem Märchen symbolisiert durch die Vermählung eines Jünglings mit der schönen Lilie, der Repräsentantin des Freiheitsreiches, des idealischen Menschen, den der Mensch des Alltags als sein Ziel in sich trägt.46

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Johann Wolfgang von Goethe: Beiträge zur Chromatik (Optik). In: Farbenlehre (Anm. 18), Bd. 2, S. 15–74. Johann Wolfgang von Goethe: Farbenlehre (Anm. 3), Bd. 13, S. 491. Auf die vielen Deutungen weist Erich Trunz hin in: Goethes Werke (Anm. 3), Bd. 6, S. 612f. Rudolf Steiner: Goethes geheime Offenbarung. Aufsatz zu seinem hundertfünfzigsten Geburtstage: 28. August 1899. In: Ders.: Goethes geheime Offenbarung in seinem Märchen von der grünen Schlange und der schönen Lilie. Zwei Aufsätze aus den Jahren 1899 und 1918 und elf Vorträge aus den Jahren 1891, 1904, 1905, 1908 und 1909. Das ‚Märchen‘ von J. W. Goethe und eine Chronik ‚Goethes Rätselmärchen im Lichte von Rudolf Steiners Geistesforschung‘. 2. erweiterte Auflage. Dornach 1999, S. 51–64, hier S. 55.

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In der Tat bringt Goethe hier die Erkenntnisse der Geisteswissenschaften und der Naturwissenschaften in einem ihm eigenen sprachlichen Ausdruck zusammen. So wie heutzutage von einer mangelnden Ethik in den Wissenschaften gesprochen wird – besonders in der Genomdebatte47 – sorgt sich Goethe um die Ethik seiner Zeit, die er um die Erkenntnisse seiner Farbenforschung anreichern will. Das Märchen wird in der Rezeption einerseits meist als Reflexion über einen verbesserungswürdigen Gesellschaftszustand im Allgemeinen gesehen sowie andererseits als spezifische Reaktion auf die Französische Revolution, der Goethe eine Absage erteilt.48 Das leuchtet ein, denn das Märchen ist Teil einer Sammlung von Texten, die im Kontext des französischen Aufstandes entstehen. Es ist sicher müßig, auf die in der Forschung strittige Frage einzugehen, inwieweit die Erzählung zur Romantik gehört. Eine Analyse ihres Farben-Codes lässt eher einen Aspekt der zukunftsbewegten Moderne aufleuchten, der Goethe motiviert.49 Auf der Suche nach einer Beziehung des Märchens zur Farbenlehre, bemerkte ich, dass das Märchen die Frage der Subjekt-ObjektBeziehung auf komplexe Art und Weise verhandelt und so den existentiellen Grundtenor von Goethes Denken zu erkennen gibt, der seine wissenschaftlichen Bemühungen leitet. Zum Verständnis meiner Annäherung an den Text seien im Folgenden einige Handlungsstränge herausgehoben. Sie lassen Parallelen und Unterschiede zur Farbenlehre erkennen und erlauben Rückschlüsse auf Goethes Farbsymbolik. Die romantisch anmutende Geschichte spielt in zwei märchenhaften, irrealen Regionen, die durch einen magischen Fluss mit tödlichen Wasserfluten getrennt sind, der nur unter gewissen Bedingungen überquert werden kann. Da der Landstrich auf der einen Seite fruchtbar, der auf der anderen Seite aber unfruchtbar ist, wird schnell klar, dass es sich einerseits um eine Region der organisch-natürlichen Erde und andererseits um die Region einer abstrakt-geistigen oder künstlichen Vorstellungswelt handelt, getrennt durch den tödlichen Fluss. Anwesenheit oder Abwesenheit von Dunkelheit und Licht dominieren und erinnern an die große Bedeutung, die diese Phänomene in der Farbenlehre haben. Dabei liegt der Bezug zur Aufklärung nahe, deren Komplexität hier poetisch verdichtet erscheint (das Wort Licht erscheint 55 Mal, Sonne 18 Mal). Das Märchen beginnt im Dunkel der Nacht in dem Land am Fluss, in dem es zwar eine nahrhafte Vegetation gibt, wo sich aber ein zerstörtes Reich und dunkle unterirdische Höhlen befinden, in denen ungesehene Schätze und verschüttete historische Reliquien auf Entdeckung bzw. Wiederweckung warten. Durch diese Gegend bewegen sich ziellos anthropomorphisier47

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Vgl. dazu z. B. Roman Brinzanik und Tobias Hülswitt: Werden wir ewig leben? Gespräche über die Zukunft von Mensch und Technologie. Frankfurt / M. 2010. Brinzanik ist Genetiker, Hülswitt ist Schriftsteller. So z. B. Paul Pochhammer: Goethes Märchen. In: Goethe-Jahrbuch 25 (1904), S. 116–127 sowie Astrid Eisbrenner: Das Erscheinen des Schönen. Goethes Ästhetik des Lebendigen. Diss. Marburg 2002. Zu Goethes Verhältnis zur Romantik vgl. Hartmut Fröschle: Goethes Verhältnis zur Romantik. Würzburg 2002. Zur Moderne: Goethe: Das Individuum der Moderne schreiben. Hrsg. von Bernd Witte, Claas Morgenroth, Karl Solibakke. Würzburg 2007.

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te Irrlichter und verschleudern unbedacht Licht, auch in Form von Münzen. Gold und die zugeordnete positive Farbe Gelb sind hier eingebracht, werden aber pervertiert, indem sie ein käufliches Mittel kennzeichnen. Goethe spielt offensichtlich auf die Gefahren des Geldes an, im Besonderen wohl auch auf die sinnlose Verschwendung und die Korrumpierbarkeit alter Regierungssysteme, wie das des französischen Ancien Régime. Das Licht der Irrlichter entbehrt jeder Kontrolle und kann die Entwicklung der Menschen – auf materieller Ebene durch Geld – nur sporadisch vorantreiben. Erleuchtung ist abwesend. Die Verschwendung der Irrlichter geht quasi als Kapital-, fast könnte man sagen als frühe Kapitalismuskritik in den Text ein, die auch in Faust II durch die teuflische Erfindung des Papiergeldes markiert ist und die ebenfalls in der Farbenlehre eine Rolle spielt. Dort heißt es: „Gold ist so unbedingt mächtig auf der Erde, wie wir uns Gott im Weltall denken.“50 Durch dieses Dunkel bewegt sich eine ebenfalls anthropomorphisierte grüne Schlange, auf deren Farbe immer wieder hingewiesen wird. Sie ernährt sich zunächst von grünen Kräutern und Naturalien, dann aber verzehrt sie die leuchtenden Münzen der Irrlichter, und mithilfe dieser Lichtquelle geht sie auf unterirdische Entdeckungsreisen. Das Grün ihrer Haut bezeugt nach Goethes Farbenkreis ihre Zugehörigkeit zur sinnlichen Welt. Im Inneren der Erde sieht sie sich „mit Neugier um, […] obgleich ihr Schein alle Gegenstände der Rotonde nicht erleuchten konnte.“51 Die Neugier des Menschen wird schon in der Bibel mit der Schlange am Baum der Erkenntnis in Verbindung gebracht, und die grüne Schlange stellt gewissermaßen den naturgegebenen Erkenntnisdrang dar. Im dunklen Untergrund der Erde nun, oder in der Doppelbedeutung im Unbewussten oder in der Vergangenheit, findet die Schlange Abbilder von vier Königen, die darauf warten, ans Licht zu kommen. Es sind glänzende Vor-Bilder aus Gold, Silber und Erz, die aufgrund ihrer besonderen materiellen Beschaffenheit das Licht reflektieren, aber unterirdisch nur schwach zu schimmern vermögen. Obgleich Mineralien im Märchen und auch bei Goethe sonst von ausschlaggebender Bedeutung sind, soll hier nur auf deren Farbkomponente eingegangen werden. Im Erdinneren können die Könige nicht wirken, da ihr edles Metall, wie es im Märchen heißt, Tageslicht zum reflektierenden Leuchten benötigt. Hier fokussiert Goethe auf das Zusammenwirken von Licht und Dunkel, das sich auf die Farben und zugleich auf das Erkennen der Differenzen auswirkt. An der Oberfläche irrt folgerichtig ein Prinz umher, der sein Reich verloren hat. Rettung ist auf der anderen Seite des Flusses zu finden, wohin ein alter Fährmann zunächst die Irrlichter übersetzt. Er darf jedoch ihr Gold nicht als Zahlung annehmen, es müssen Naturalien sein, die in den Fluss versenkt werden sollen. Das Grün der eingeforderten Gemüsearten – hier ganz banal in Form von Kohl, Zwiebeln und exotischen Artischocken – deutet auf die Notwendigkeit hin, biologisches Leben einzusetzen, um die andere Region, die höhere Stufe der kulturellen Evolution zu erreichen. Dieses Op50 51

Johann Wolfgang von Goethe: Farbenlehre (Anm. 3), Bd. 14, S. 478. Das Märchen (Anm. 29), S. 214.

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fer von Produkten, der grünen, realen Welt – man könnte auch sagen, die Ausbeutung der Ressourcen – stellt eine reale Gefahr dar, die Goethe auch am Ende von Faust II als Konsequenz der Überflutung und des daraus resultierenden Todes von Philemon und Baucis als Opfer für neues Land einer zukünftigen freien Gesellschaft erahnt zu haben scheint. Die Frau des Fährmanns verspricht, diese grünen Produkte in den Fluss zu versenken, verliert aber einen Teil davon. Die Nicht-Farbe Schwarz – das Dunkle, das Nichts – dominiert noch. So schnappt z. B. der Hund des Fährmanns, ein Mops, nach einigen Goldstücken der Irrlichter, wodurch die Kreatur sofort das Leben verliert und sich in ein Kunstwerk, in einen dunklen Onyx-Edelstein, verwandelt: „Die Abwechslung der braunen und schwarzen Farbe des kostbaren Gesteins machte ihn zum seltensten Kunstwerke.“52 Die Bedeutung der Goetheschen Symbolik ist immer vielschichtig und kann auch im Märchen nicht einsinnig interpretiert werden. Durch die Betonung der Schwärze des Steins akzentuiert Goethe hier die Verwandlung des Natürlichen, Lebendigen in ein Künstliches, ein Lebloses. Auch die Frau des Fährmanns, die den verwandelten Mops zur Wiederbelebung über den Fluss bringen soll, ist in Gefahr, in Nichts aufgelöst zu werden. Sie muss als Garantie für die noch fehlenden Naturalien, die sie für die Überfahrt über den Letheartigen Fluss schuldet, ihre Hand ins Wasser stecken, aus dem sie „kohlschwarz“ wieder herauskommt.53 Dadurch beginnt die Hand Stück um Stück weniger zu werden, und ihr Körper beginnt langsam zu verschwinden. Er wird zusehends unsichtbar, und die Frau fürchtet, in Nichts zu zerfallen. Goethes wissenschaftliche Auffassung, dass Schwarz ein Nichts sei, wird hier sprachlich und literarisch besonders deutlich realisiert. Es gibt außer der Fähre nur zwei weitere, ebenfalls farblich kodierte Möglichkeiten auf die andere Seite des Flusses zu gelangen, und zwar über die als Brücke dienende grüne Schlange zur Mittagszeit, oder durch den schwarzen Schatten eines Riesen am Abend. Dieser dunkle Riese ist in der Forschung plausibel mit der Französischen Revolution in Verbindung gebracht worden. Goethe verurteilte zwar die Gewalt der Revolution, erkannte aber zur Zeit der Niederschrift des Märchens positive Aspekte für die unter dem Regime leidenden citoyens an. So meinte er, „daß das Volk wohl zu drücken aber nicht zu unterdrücken ist, und daß die revolutionären Aufstände der unteren Klassen eine Folge der Ungerechtigkeiten der Großen sind.“54 Der Schatten des Riesen, d. h. die Revolution, ist einerseits negativ konnotiert, weil er dem Schwarz, dem Nichts nahe steht. Er ist auch dem Bösen verwandt, wenn man Mephisto wörtlich nimmt, der in Faust von sich behauptet: „Ich bin der Geist, der stets verneint! / Und das mit Recht; denn alles, was entsteht, / Ist wert, daß es zugrunde geht; / Drum besser wär’s, daß

52 53 54

Ebd., S. 218. Ebd., S. 220. Goethe im Gespräch mit Eckermann am 4. Januar 1824. In: Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe in den letzten Jahren seines Lebens. 1823–1832. 3. verbesserte Auflage. Anmerkungen und Register: Karl Ritschel und Gerhard Seidel. Berlin 1962, S. 99.

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nichts entstünde. /“55 Jedoch ist er auch ambivalent „Teil jener Kraft, / Die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“56 Zwar ist der Schatten des Riesen zu undiszipliniert und richtet im Märchen Schaden an, aber er bewirkt im übertragenen Sinne durch die Agitation im Lande, dass die unteren Klassen eine Welt jenseits der unterdrückten Lebensweise kennenlernen können, die sie im Ancien Régime erdulden mussten. Am Ende wird der Schatten domestiziert, indem er als Sonnenuhr die Zeit anzeigt: „[S]ein Schatten zeigte die Stunden, die in einem Kreis auf den Boden um ihn her, nicht in Zahlen, sondern in edlen und bedeutenden Bildern, eingelegt waren“.57 So bringt die Brückenfunktion des Schattens doch ein wenig: die Hoffnung, der kreatürlichen Unfreiheit zu entkommen. Der Schatten ruft aber auch Assoziationen zum antiken Totenreich auf, bzw. zu Jungschen Archetypen und zum Freudschen kollektiven Unterbewusstsein.58 Die dunklen menschlichen Regionen, die im Märchen angesprochen werden, werden erst im 21. Jahrhundert disziplinübergreifend wissenschaftlich aufgewertet: „Mit wissenschaftlichen Tests, Experimenten und Hirndurchleuchtungsverfahren dringen die Forscher in das Schattenreich des unbewussten Wissens vor. […] Für die Hirnforscher indes galt lange uneingeschränkt das Primat der Ratio. Sigmund Freuds Gerede vom ‚Unterbewussten‘ war ihnen suspekt.“59 Die abstrakte Seite des Flusses im Märchen reicht für die menschliche Gemeinschaft nicht aus. Sie ist das Reich der Freiheit, aber auch das der Vogelfreiheit. In ihrer Abgetrenntheit ist sie kein Hort der Geborgenheit. Hier herrscht eine Frau namens Lilie, die das Epitheton ‚schön‘ trägt und vom Namen her mit der weißen Blume Lilie identisch ist, die traditionell Gräber schmückt. Durch ihr „weißes Gewand“60 und ihren „weißen Busen“61 ist sie mit dem Phänomen Weiß identifiziert, das Goethe in der Farbenlehre als Stellvertreter des Lichtes, der höchsten Energie beschreibt. Die Zweischneidigkeit des Lichts, das Vernichtende in hoher Konzentration, wie auch das Lebens- und Wachstumsfördernde spielen eine zentrale Rolle. Die Berührung der schönen Lilie im Märchen kann einerseits Totes lebendig machen, aber andererseits tötet sie ohne zu wollen alles Lebendige, das ihr zu nahe kommt. Goethe, hier Proto-Psychologe, greift in den Fundus antiker Mythologie, aus dem sich auch Siegmund Freud bedient. Der Wiener Psychoanalytiker – der Goethe öfter zitierte als jeden anderen Schriftsteller – interpretiert die weißen Frauen aus uralten Geschichten und antiken Sagen als Repräsentantin55 56 57 58

59 60 61

Johann Wolfgang von Goethe: Faust. Der Tragödie erster Teil. In: Goethes Werke (Anm. 3), Bd. 3. Hamburg o. J., S. 20–145, hier S. 47. Hervorhebung von mir. Ebd. Das Märchen (Anm. 29), S. 240. Nach Jung muss eine Integration des Schattens erfolgen, damit Mensch und Gesellschaft reif werden. Siehe Carl G. Jung: Die Archetypen und das kollektive Unbewußte. In: Ders.: Gesammelte Werke. Sonderausgabe. 20 Bde. in 24 Teilbänden. Hrsg. von Lilly Jung-Merker, Elisabeth Rüff. Ostfildern 1995. Bd. 9 / 1. Gerald Traufetter: Stimme aus dem Nichts. In: Spiegel Online vom 10.04.2006. Das Märchen (Anm. 29), S. 231. Ebd., S. 227.

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nen des Totenreichs, wo z. B. die Göttin Kore die weiße, jungfräuliche Phase der Frau darstellt. Auch Freud bezieht sich auf die Lilie und weist z. B. auf das Märchen von den zwölf Raben hin, in dem die Schwester weiße Lilien pflückt und damit den Tod ihrer Brüder verursacht. Durch ihre Beziehung zur Erotik werden weiße Frauen oft auch als bedrohliche femmes fatales definiert. Freud schreibt deshalb: „Sie [die Frau im Märchen, H. K.] kann aber auch etwas anderes sein, nämlich der Tod selbst, die Todesgöttin.“62 Auch bei Goethe steht die schöne Lilie im Kontext antiker Darstellungskonventionen, z. B. lässt sich eine Parallele zur antiken Göttin Kybele erkennen, die eine tödliche Wirkung auf ihren Geliebten hat. Im Kybele-Mythos war das Zusammenfinden der beiden Geschlechter für die Vereinigung der Menschen zum Volk eine zentrale Voraussetzung, wie es auch in Goethes Märchen der Fall ist. So repräsentiert die schöne weiße Lilie bei Goethe auch die femme fatale, die den Prinzen verlockt.63 Sie lebt in einem künstlichen Reich, das anreizend aber unfruchtbar ist. Es gibt zwar grüne Pflanzen in Hülle und Fülle, aber sie sind künstliche, infertile Gebilde ohne Blüten und Früchte. Trotzdem fährt der Prinz über den Fluss, denn er begehrt die weiße Frau. Er berichtet über seine traurige Lage: Krone, Zepter und Schwert sind hinweg: ich bin übrigens so nackt und bedürftig, als jeder andere Erdensohn, denn so unselig wirken ihre schönen blauen Augen, daß sie allen lebendigen Wesen ihre Kraft nehmen, und daß diejenigen, die ihre berührende Hand nicht tötet, sich in den Zustand lebendig wandelnder Schatten versetzt fühlen.64

Der Prinz ist ohne Reich, ein jämmerliches Bild geschwächter Männlichkeit, das vor der Frau zittert, da die Berührung mit ihr den Tod verspricht. Krone, Zepter und Schwert, die Symbole der Macht, d. h. der Weisheit, des Ansehens und der Gewalt, wie sie Goethe bezeichnet, hat er verloren. Nun kann er sein Reich nur zurückerhalten, wenn er sich mit der Lilie vereinigt. Schwarz als das Nichts und Weiß als die absolute Energie kann aber der Mensch weder aushalten noch erkennen. Die weiße Energie ist die Kraft, die „die Welt im Innersten zusammenhält“, aber unreflektiert in direkter Sicht kann schon der Held im Urfaust sie nicht ertragen.65 Diese Kraft, hier durch die weiße Lilie verkörpert, bedroht zwar um sich herum alles Lebendige, aber ihre Berührung macht auch Totes wieder lebendig, wie z. B. den zuvor in einen Onyx verwandelten Mops. 62 63

64 65

Siehe, Sigmund Freud: Das Motiv der Kästchenwahl. (Original 1913). Dezember 24, Ebook 2007 (EBook 24017): http://www.gutenberg.org/files/24017/24017-h/24017-h.htm. Das Todbringende der Lilie hat auch noch eine andere Konnotation bei Goethe. In ihm ist ein Bezug zur Syphilis erkennbar, wie Lothar Baus vermutet. Vgl. dazu Lothar Baus: Johann Wolfgang Goethe – Ein „genialer“ Syphilitiker: Das Ende einer langen Kontroverse. Berlin 2003. Er zitiert u. a. aus dem Faust „Da ward ein roter Leu, ein kühner Freier, / Im lauen Bad der Lilie vermählt, / Und beide dann mit offnem Flammenfeuer / Aus einem Brautgemach ins andere gequält.“ Faust. Der Tragödie erster Teil (Anm. 55), S. 39. Das Märchen (Anm. 29), S. 221. Hervorhebung von mir. Johann Wolfgang von Goethe: Faust in ursprünglicher Gestalt (Urfaust). In: Goethes Werke (Anm. 3), Bd. 3, S. 367–420, hier S. 367.

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Goethe deutet durch den paradoxen Kampf zwischen Weiß und Schwarz, zwischen Zerstörung und Nichts, zwischen Lebendigem und Totem an, wie die Menschheit den gefährlichen Evolutionsprozess mithilfe der in die Tat umgesetzten kreativen Imagination nach dem Muster der Natur unbeirrt weiterführt. Dass das menschlich Greifbare dabei farbig sein muss, spricht Goethe auch im Gedicht Der Osterspaziergang (Faust I) aus: „Aber die Sonne duldet kein Weißes / Überall regt sich Bildung und Streben / Alles will sie mit Farben beleben.“66 Der im Anhang abgebildete Goethesche Farbenkreis (vgl. Abb. 6) illustriert die Zuordnung der Farben im Märchen, die ich im Folgenden analysiere. Sie sind verschiedenen menschlichen, sinnlichen bzw. sittlichen Qualitäten zugeordnet: Rot (Purpur)/Orange (gelb-rot) – Vernunft (schön/edel); Gelb – Verstand (gut); Grün/Blau – Sinnlichkeit (nützlich, gemein); Phantasie – Blau/Purpur (unnötig, schön). Die blaue Augenfarbe der Lilie als Verkörperung der Dunkelheit und Kälte knüpft durch die Nähe zum Nichts an den zerstörerischen Blick der Medusa in der Antike an. Da Goethe die Problematik der patriarchalischen Geschlechterverhältnisse als Basis der Gesellschaft erkannt hatte und sie häufig in seinen literarischen Texten subtil dargestellt hat (siehe besonders das Drama Stella), verwundert es nicht, dass er auch im Märchen eine Polarität des männlichen und des weiblichen Prinzips postuliert. Es ist ja auch heute noch Basis unserer Gesellschaft. Die weiße Frau ist im Text zwar höchst gefährlich und reflektiert durch ihren blauen Blick nach dem Farbenkreis die Sinnlichkeit und das Gemeine, doch hängt von ihr auch die Rettung der nach Erlösung strebenden Menschheit ab, hier des Jünglings, der wie Faust am Ende nur durch das Ewig-Weibliche zu retten ist. Im Märchen versucht Goethe jedoch, die Polarisierung zu überwinden, denn Prinz und weiße Lilie werden lebend in einem Happy-End vereinigt. Dazu ist jedoch das Opfer eines weiblichen Aspektes durch die grüne Schlange erforderlich. Die positive Farbe Rot ist dem Prinzen zugeordnet. Im Farbenkreis wird Rot mit Huld und Anmut in Zusammenhang gebracht. Rot und Gelbrot beziehen sich in diesem System aber auch auf Vernunft, eine aus heutiger Sicht ungewöhnliche Referenz. Goethe benutzt für das reinste Rot den Ausdruck Purpur, wodurch auch der Jüngling, der Retter seines Reiches, gekennzeichnet ist: Seine Brust war mit einem glänzenden Harnisch bedeckt, durch den alle Teile seines schönen Leibes sich durchbewegten. Um seine Schultern hing ein Purpurmantel, um sein unbedecktes Haupt wallten braune Haare in schönen Locken; sein holdes Gesicht war den Strahlen der Sonne ausgesetzt […].67

Das Braun seiner Haare kommt bei Goethe nicht von ungefähr, sondern deutet auch bei ihm auf das Ganzheitliche. Die Farbe Braun ist seiner Theorie nach nur ein stark mit Schwarz abgedunkeltes Gelb, Orange oder Rot. Der Prinz tappt einerseits im Dunkeln, doch der Glanz des Harnischs deutet auf die Reflexion des Sonnenlichts und ist somit 66 67

Faust. Der Tragödie erster Teil (Anm. 55), S. 35. Das Märchen (Anm. 29), S. 220. Hervorhebung von mir.

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dem Gelb nahe, dem Verstand, dem Guten. Rot ist im Farbenkreis auch zum Teil der Phantasie zugeordnet. Welch hohes Lob der Männlichkeit erfolgt doch in der Schilderung des Jünglings, dem sogar die traditionell weiblichen Charakteristika Schönheit und Anmut zugeordnet werden! Rot schließt aber im Märchen auch Aggressivität nicht aus. Diese Konnotation hat eine lange Tradition, sie ist aber nicht in der Farbenlehre belegt. So gebärdet sich der dem Jüngling zugehörende Habicht mit seinen purpurroten Federn äußerst aggressiv. Er verursacht den Tod des gelben Kanarienvogels, dem Liebsten, was die Lilie hat. Das Tier war aus Angst vor dem Raubvogel an die tödliche Brust der Frau geflüchtet und gestorben. Goethe kreiert mit dem Singvogel eine positive Synästhesie von Gehörtem und Gesehenem. Er steht durch seine gelbe Farbe dem Licht am nächsten, und sein Gesang spendet der schönen Lilie, die selbst Harfe spielt, Trost durch Musik.68 Von Farbe und Ton heißt es in der Farbenlehre, dass beide „elementare Wirkungen [sind]. Vergleichen lassen sich Farbe und Ton untereinander auf keine Weise; aber beide lassen sich auf eine höhere Formel beziehen […] jedoch jedes für sich […].“69 Gelb ist im Farbenkreis klar als das Gute bezeichnet und Teil des Verstehens. Nach dem Tod des Vogels ist diese Sublimation des Guten in dieser künstlichen Welt beendet. Stattdessen zieht die Lilie den wiederbelebten schwarzen Mops vor, der aufgrund seiner Farbe ein Negativum, ein Nichts in ihre Welt bringt. Der Prinz wird auf den Hund extrem eifersüchtig, weil die geliebte Frau sich mehr um das Tier, dieses Nichts kümmert als um ihn. Er sucht deshalb den Tod und findet ihn, indem er die tödliche Lilie berührt.70 68

69 70

Siehe hierzu Norbert Miller: Die ungeheure Gewalt der Musik. Goethe und seine Komponisten. München 2009. Detaillierte Betrachtungen zu Goethes Auffassung von Farbe und Ton bei Angelika Abel: Die Zwölftontechnik Weberns und Goethes Methodik der Farbenlehre. – Zur Kompositionstheorie und Ästhetik der neuen Wiener Schule. Wiesbaden 1982. Vgl. besonders den Abschnitt zum „Phänomencharakter von Farbe und Ton“, S. 19–22. Abel zitiert aus Goethes Schriften zur Natur und Wissenschaftslehre: „Wäre die Sprache nicht unstreitig das Höchste, was wir haben, so würde ich die Musik noch höher als die Sprache und ganz zuoberst setzten. Wenigstens scheint mir daß der Ton noch viel größerer Mannigfaltigkeit als die Farbe fähig sei, und obgleich auch in ihm das einfachste physische Gesetz der Dualität stattfindet, so wie er auch in seinen ersten Ursprüngen betrachtet durch viel gemeinere Anlässe als die Farbe erregt wird, so hat er doch eine unglaubliche Biegsamkeit und Verhältnismöglichkeit, die mir über alle Begriffe geht, und vielleicht zeitlebens gehen wird; ob ich gleich die Hoffnung nicht aufgebe, aus der konventionellen eingeführten Musik das physisch Einfache noch herauszufinden.“ Zit. n. Abel, S. 19. Johann Wolfgang von Goethe: Farbenlehre (Anm. 3), Bd. 13, S. 491. Siehe hierzu Parallelen zu einer Episode in Goethes Leben und seinem Verhältnis zu Hunden, die im Märchen verarbeitet zu sein scheinen. Christoph Lorey schreibt: Charlotte von Stein „hatte ihn [Goethe, H. K.] nach seiner Rückkehr nach Weimar im Juni 1788 eiskalt empfangen und ihre ganze Aufmerksamkeit vornehmlich ihrem Hund ‚Lulluchen‘ gewidmet, während Goethe ihr von Italien erzählte. Da Frau v. Stein wußte, daß Goethe Hunde nicht ausstehen konnte, kann man ihr Verhalten als bewußten Affront auffassen, mit dem sie den ehemaligen Freund kränken wollte. Seiner Abneigung gegen Hunde hat Goethe öfters in Versen Ausdruck gegeben, so in den Römischen Elegien („Manche Töne sind mir Verdruß, doch bleibet am meisten / Hundegebell mir verhaßt; kläffend zerreißt es mein Ohr“, GA I: 177), so in den Venezianischen Epigrammen („Wundern kann es

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Seine Rettung und die des Vogels sind jedoch möglich. Die grüne Schlange spielt dabei neben der weißen Lilie eine Hauptrolle. Grün ist bei Goethe als Mischfarbe von gelb und blau die Farbe der Natur und die Farbe des Nützlichen, des Gemeinen, das hier mit dem Allgemeinen oder Einfachen assoziiert werden soll, so wie das Wort zur Zeit Goethes gebraucht wurde. Im Farbenkreis ist Grün teils dem Verstand, teils der Sinnlichkeit zugeordnet. Die Farbe bewegt sich demnach ambivalent zwischen Schatten und Licht, zwischen Verstehen und Fühlen. Wie die grünen Früchte der Erde (Kohl, Artischocke, und Zwiebel) im Märchen geopfert werden müssen, um die beiden Reiche der Natur und der Künstlichkeit von Zeit zu Zeit zu verbinden, muss die Schlange ihr biologisches Leben für die Allgemeinheit opfern – muss sie sich von einem Naturwesen in ein Kunstwerk/Bauwerk verwandeln, um die Reiche des Prinzen und der Lilie zu vereinigen, d. h. sie muss permanente Brücke zwischen den beiden Reichen werden. Während die Schlange in der westlichen Kultur mit der neugierigen Ursünderin Eva und dem Baum der Erkenntnis in Verbindung steht, verkörpert sie in Goethes Text ein weiblich kodiertes Prinzip, von dem Opfer für die Gesellschaft verlangt werden. Ihre grüne, lebendige Naturgestalt verwandelt sich aus eigenem Entschluss in ein totes Kunstwerk. Goethe weiß wohl, was ihr trauriges Schicksal ist, denn sie antwortet bedeutungsvoll auf die Frage, was sie tun will: „Mich auf[…]opfern, ehe ich aufgeopfert werde.“71 Sie wird zur Brücke, auf der alle Wesen beiderseits des Ufers nun frei und ohne Einschränkungen den Fluss überqueren und so die Trennung zwischen biologisch-natürlicher und geistig-künstlicher Existenz überwinden können. Die biologisch gewachsene grüne Schlange war zu „tausend und tausend leuchtende[n] Edelsteine[n] zerfallen“, und beleuchtet den gefährlichen Weg über den Fluss.72 Ich lasse es offen zu spekulieren, inwieweit Goethe hier den praktischen Nutzen der Kunst propagiert. An sich selbst als Fährmann und sein eigenes Werk als Brücke mag er vielleicht gedacht haben. Diese anfängliche Utopie endet jedenfalls mit einer neuen Realität, in der eine immer weiter anwachsende chaotische Menschenmenge mühelos die Grenzen beider Reiche wechselseitig überschreitet. Ein emanzipatorischer Gedanke im Hinblick auf die Geschlechterthematik wird ebenfalls durch Farbkodierung eingebracht, denn nun werden auch die anderen Frauen im Märchen von ihrem negativem Schicksal erlöst. Die alte Frau des Fährmanns – deren Hand schwarz wurde, weil der dunkle Schatten-Riese ihr das Gemüse genommen hatte, das sie dem Fluss schuldig war – hatte die falsche, die Schattenbrücke unterstützt, und war in Gefahr gewesen, sich in Nichts aufzulösen, selbst Schatten zu werden. Nicht nur verschwindet nunmehr das Schwarz von ihrem Körper wieder ganz, sondern auch die Altersspuren an ihrem Körper werden ausgelöscht.

71 72

mich nicht, daß Menschen die Hunde so lieben: / Denn ein erbärmlicher Schuft ist, wie der Mensch so der Hund,“ GA I; 237). Christoph Lorey: Die Ehe im klassischen Werk Goethes. Amsterdam / Atlanta 1995, S. 167. Das Märchen (Anm. 29), S. 233. Ebd.

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Da das direkte Licht in der realen Welt nicht zu ertragen ist, weil der volle Blick in die Sonne die Sehkraft zerstört, bedient sich Goethe des Spiegels im Märchen, der wie auch sonst in seinen verschiedenen Texten eine prominente Rolle einnimmt.73 Der mit Hilfe von Glas und glänzenden Metallen menschlich erzeugte Spiegel, wie auch die Erze Gold, Silber und Eisen taugen als konkretes Material zur Reflexion des Lichtes. So heißt es symbolträchtig im Text: „‚Fasse‘, sagte der Alte zum Habicht, ‚den Spiegel, und mit dem ersten Sonnenstrahl beleuchte die Schläferinnen und wecke sie mit zurückgeworfenem Lichte aus der Höhe!‘“74 Gegen Ende des Märchens spielt die dem Licht am nächsten stehende Farbe Rot eine wachsende Rolle. Sie indiziert den Harmonisierungsprozess zwischen dem natürlichem Leben der Menschen und einem Ideal, in dem das weibliche Prinzip mit dem männlichen vereinigt wird. Zunächst wird erwähnt, dass der schönen weißen Lilie ein roter Schleier gebracht wird. Aber dieser rote Schleier ist zunächst Zeichen einer oberflächlichen Täuschung, eines Scheins, eines Medienschwindels gewissermaßen, der das gefährliche Potential der Lilie überdeckt. Ein Spiegel verstärkt in seiner Reflexion diesen Schein noch. Das positive Rot, das im Farbenkreis Vernunft, Fantasie, das Schöne und Edle konnotiert, muss nach der Darstellung des Märchens aber vollständig auf den biologischen Körper übergehen, d. h. internalisiert werden, ehe sich die weiße Todesgestalt der Lilie verwandeln kann. Das kann nicht rein äußerlich geschehen, sondern ist auch ein innerer Prozess und geht stückweise vor sich: Die Sonne war indessen untergegangen, und wie die Finsternis zunahm, fing nicht allein die Schlange und die Lampe des Mannes nach ihrer Weise zu leuchten an, sondern der Schleier Liliens gab auch ein sanftes Licht von sich, das wie eine zarte Morgenröte ihre blassen Wangen und ihr weißes Gewand mit einer unendlichen Anmut färbte.75

Indem das Rot ihren Körper anrührt, ist der erst Schritt getan. Zunächst aber erhält der Prinz die von den Königsbildern im Innern der Erde verwahrten Symbole: den grünen Eichenkranz des goldenen Königs als Symbol der Weisheit, das glänzende Zepter des silbernen Königs als Symbol des Scheins und das strahlende Schwert des ehernen Königs als Symbol der Gewalt. Bei Goethe könnte Weisheit im heutigen Sinne als die Summe einsichtsvoller Erfahrungen; Schein als Reputation; und Gewalt als Regierungsbefugnis übersetzt werden. Es erscheint ein weiser alter Mann, der diese Symbole übergibt. Trotz der magisch anmutenden Geschehnisse identifiziert Goethe klar Weisheit mit Magie, wie auch im Faust II: „Denn wer den Schatz, das Schöne heben will, / Bedarf der höchsten Kunst, Magie der Weisen.“76 Zunehmend verlieren im Märchen auch die Klassensysteme an Bedeutung. Der alte weise Mann, der Mann mit der Lampe, der zwölf Mal erwähnt wird, ist kein anderer als der einfache Fährmann. Zu 73 74 75 76

Siehe hierzu Walter Brednow: Spiegel, Doppelspiegel und Spiegelungen, eine „wunderliche Symbolik“ Goethes. Berlin 1976. Das Märchen (Anm. 29), S. 232. Ebd., S. 230f. Hervorhebung von mir. Faust. Der Tragödie zweiter Teil (Anm. 31), S. 194.

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Anfang war er in dunkle Bauernkleider gekleidet, am Ende erscheint er ganz in Weiß, gewissermaßen als Herr aller Regionen, der das Licht bringt. Seine kleine Kate verwandelt sich in einen Palast, einen Tempel, der sich am Rande des Flusses erhebt. Zu den drei Kräften der neuen Gesellschaft gehört jedoch noch eine vierte Kraft, die der Jüngling benennt: die Liebe, die durch die Vereinigung von Mann und Frau entsteht und nicht durch Weisheit. Im Farbenkreis assoziiert Goethe zwar keine der Farben mit der Liebe, im Märchen tut er dies hingegen umso ausdrücklicher durch die Farbe Rot. Der Prinz sagt zu dem weisen Mann: ‚… du hast die vierte Kraft vergessen, die noch früher, allgemeiner, gewisser die Welt beherrscht, die Kraft der Liebe.‘ Mit diesen Worten fiel er dem schönen Mädchen um den Hals; sie hatte den Schleier weggeworfen und ihre Wangen färbten sich mit der schönsten unvergänglichsten Röte. Hierauf sagte der Alte lächelnd: ‚Die Liebe herrscht nicht, aber sie bildet, und das ist mehr.‘77

Bilden heißt auch formen und ist etymologisch mit Bildern verwandt; und Bilder wiederum benötigen Farben. Mit diesen farbigen Bildern imaginiert Goethe im Märchen eine utopische, ideale Gemeinschaft, in der sowohl die monarchistische Staatsform als auch das patriarchische Geschlechterverhältnis ins Bröckeln geraten. Die erkennbaren universellen Werte, die Goethe im Farbenkreis als psychische Befindlichkeiten des Menschen beschreibt, lassen dennoch Fragen offen. Darüber hinaus hat er in Das Märchen aber auch seine naturwissenschaftliche Erkenntnisse über die Farben eingelassen, insofern er zeigt, dass reines Licht, d. h. die ungefilterte Sonne (das Phänomen Weiß) – die Leben ermöglicht –, sowie Abwesenheit von Licht, d. h. das Dunkel (das Phänomen Schwarz) – das Leben zerstört – nicht direkt wahrgenommen werden können. Mühsam kann die Menschheit nur einzelne Aspekte des Lebens durch Analyse und Intuition der farblichen Reflexion zusammenstückeln. Im Märchen existiert eine erfundene Welt, in der Farben als Chiffren über deren Konstituenten Aufschluss bieten, wobei der Spiegel ihre Reflexion verstärkt. Farben bleiben indes ungenaue Chiffren, deren Semantiken nicht einsinnig erschlossen werden können. Denn wenn Goethe auch in der Farbenlehre die Natur der Farben eindeutig definiert, so findet sich in seinem Werk nirgends eine wissenschaftliche, durch Experimente belegte Beweisführung für ihre besondere psychologische Wirkung. Eine diesbezügliche Forschung gab es zu seiner Zeit noch nicht, und auch heute noch fehlen definitive Antworten. So weist Heinrich Zollinger noch 2005 darauf hin, dass nach wie vor nicht alle Aspekte des Phänomens Farbe durch die exakte Wissenschaft erklärbar sind.78 Goethe bietet vielmehr eine intuitive, in seine Kultur sich fügende Interpretation, und es scheint mir wichtiger zu fragen, wie aussagekräftig Goethes Interrelation der Farbcodierung ist, als ihren wissenschaftlichen Erkenntniswert in Frage zu stellen. So fußt die Gesellschafts- und Geschlechterordnung des Märchens auf einem optimistischen Farbenmodell, das nicht nur Erkenntnisse der Naturwissenschaften mit denen der Geisteswissenschaften verbindet, sondern auch 77 78

Das Märchen (Anm. 29) S. 238. Hervorhebung von mir. Heinrich Zollinger: Farbe. Eine multidisziplinäre Betrachtung. Zürich 2005.

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einige Aspekte des unerforschten menschlichen Potentials in sich aufnimmt, das zu einer jetzt nurmehr imaginierbaren Welt führen mag. Noch heute heißt es in der Farbforschung: ‚Farbe‘ muss […] zwingend als eine kognitive Konstruktion aufgefasst werden, in die sowohl unsere biologische Ausstattung, unsere individuelle Lerngeschichte sowie die sozialen Traditionen, Normen und Werthaltungen unserer Kultur eingegangen sind.79

Obgleich Goethe in seiner Farbenlehre auch auf die Alchemie und deren magische Aspekte zurückblickt, findet er dort keine weiterführenden naturwissenschaftlichen Erkenntnisse zur Farbe. Mag Magie auch als bloßer Zauber im Volksmärchen stecken, in Goethes Märchen aber weist sie durchaus auf ein dem Menschen eigenes Potential von Selbst- und Welterkenntnis hin, dessen weitere Erkundung die Möglichkeit einer kulturellen Evolution birgt.

79

Hans Dieter Huber: Oberfläche, Materialität und Medium der Farbe. In: Who is afraid of: Zum Stand der Farbforschung. Hrsg. von Anne Hoormann, Karl Schawelka.Weimar 1998, S. 65–79. Online unter: http://www.hgb-leipzig.de/ARTNINE/huber/aufsaetze/farbe.html.

Saskia Haag

Bunte Antike in Schwarzweiß Zur Darstellung antiker Kunst um 1830

Im Jahr 1811 untersucht der Archäologe und Griechenlandreisende Carl Haller von Hallerstein den Aphaia-Tempel von Ägina und berichtet unter anderem Folgendes: An mehrern Säulen findet man Spuren eines dünnen Überzugs aus einer sehr feinen Masse […]. Die verschiedenen Theile der Architektur waren mit mehreren Farben bemahlt: z. B. scheint der Triglyphen hellblau; das durchlaufende Plättchen über dem Architrav roth; der Architrav selbst weis, und die Tropfen daran mit ihrem Plättchen blau gewesen zu seyn. Auf dem Fries der innern Wände des Pronaos war ein fortlaufendes Ornament in blau, roth und grün gemahlt.1

In seinen Skizzenbüchern hält Haller von Hallerstein die Bemalung des Tempels ebenfalls fest, indem er in die Zeichnungen der Architekturdetails die Wörter „roth“, „hell roth“, „weiß“, „schwärzl. grau“, „bläulich od. grün“ sowie „apfelgrün“ einträgt (vgl. Abb. a). So wenig anschaulich diese archäologischen Farbzuschreibungen hier zunächst wirken mögen, so spektakulär erweisen sich in der Folge Entdeckungen wie diese, die nicht nur Stück für Stück antike Tempel zutage befördern, sondern eine bislang unbekannte Farbenpracht des Altertums erahnen lassen. Architektur und Malerei, Konstruktion und Farbe gehen in den neuen Funden zur antiken Polychromie eine geradezu unerhörte Verbindung ein. Waren bereits in den letzten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts gelegentlich Spuren von Bemalung an ausgegrabenen Baufragmenten beobachtet worden, so dauert es doch erstaunlich lange, bis systematische Rekonstruktionen bemalter griechischer Architektur und Plastik in Angriff genommen werden.2 Als Quatremère de Quincy, Direktor der französischen Ecole des Beaux-Arts, 1815 sein Werk Le Jupiter Olym-

1

2

Carl Haller von Hallerstein, zit. nach Hansgeorg Bankel: Farbmodelle des spätarchaischen AphaiaTempels von Ägina. In: Bunte Götter. Die Farbigkeit antiker Skulptur. Eine Ausstellung der Staatlichen Antikensammlung und Glyptothek München. Hrsg. von Vinzenz Brinkmann. 2. Aufl. München 2004, S. 70–83, hier S. 71. Vgl. dazu allgemein Andreas Prater: Streit um Farbe. Die Wiederentdeckung der Polychromie in der griechischen Architektur und Plastik im 18. und 19. Jahrhundert. In: Brinkmann (Anm. 1), S. 256–267.

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Saskia Haag

Abb. a: Carl Haller von Hallerstein: Dorische Kymata des Tempels von Ägina mit Farbangaben, 1811, in: Hansgeorg Bankel: Farbmodelle des spätarchaischen Aphaia-Tempels von Ägina. In: Bunte Götter. Die Farbigkeit antiker Skulptur. Eine Ausstellung der Staatlichen Antikensammlung und Glyptothek München. Hg. v. Vinzenz Brinkmann. 2. Aufl. München 2004, S. 70–83, hier S. 70.

pien veröffentlicht, in dem er u. a. die titelgebende Jupiter-Statue des Phidias als eine farbige rekonstruiert (vgl. Abb. 9, Bildteil), bricht ein lebhafter Streit über die Polychromie aus, der sich in der Folge deutlich verschärft. Jakob Ignaz Hittorf, französischer Hofdekorateur, stellt 1830 in Paris ein farbiges Dekorationssystem antiker Tempel vor (vgl. Abb. 10, Bildteil), angehende Architekten wie der junge Gottfried Semper kämpfen mit Enthusiasmus für die Durchsetzung der Polychromie-These – und werden ebenso hartnäckig gekontert; etwa von dem Berliner Kunsthistoriker Franz Kugler, der Sempers Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architectur und Plastik bei den Alten, die 1834 nach dessen Rückkehr aus dem Süden entstanden waren, zu widerlegen sucht.3 Im Rahmen eines institutionalisierten Klassizismus, der die Disziplinen der Archäologie bzw. Kunstgeschichte hervorgebracht hatte und die Ausbildung der Architekten – wie an der Ecole des Beaux-Arts – bestimmte, musste eine neuerdings „bunte Antike“ ein Skandalon ohnegleichen darstellen. Wird das klassizistische Dogma einer „weißen Antike“ angezweifelt, so steht mit dem Kriterium der Farbigkeit mehr auf dem Spiel als es zunächst den Anschein hat – die Prinzipien der Geschichtsphilosophie, Kunstgeschichtsschreibung und Ästhetik überhaupt, wie sie im Gefolge der Aufklärung entwi-

3

Franz Kugler: Über die Polychromie der antiken Architektur und Sculptur und ihre Grenzen. In: Ders.: Kleine Schriften und Studien zur Kunstgeschichte. Bd. 1. Stuttgart 1853, S. 265–327. Zum Verlauf der Debatte vgl. Karl Hammer: Jakob Ignaz Hittorff. Ein Pariser Baumeister 1792–1867. Stuttgart 1968, S. 101–127.

Bunte Antike in Schwarzweiß

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ckelt worden waren.4 – Wenn antike Architektur und Plastik farbig bemalt gewesen sein sollte, dann ist mit dem Weiß auch ihr entscheidendes Differenzmerkmal dahin, und dann lässt sich griechische Kunst genauso wenig mehr von der barbarischen Buntheit anderer benachbarter Kulturen absetzen wie sie dann noch als singuläres Vorbild für spätere Epochen dienen kann. Die herausragende Stellung Griechenlands, an der sich das 18. Jahrhundert so entscheidend orientiert hatte, kommt mit den polychromen Entdeckungen zu Fall. Auch dem System der Künste, das der Klassizismus durch eine Trennung der Künste – Architektur, Plastik, Malerei – etabliert hatte, wird angesichts bunt bemalter Tempelgiebel und -statuen buchstäblich der archäologische Boden entzogen, schienen doch bei den Alten alle Künste vereint am Werk gewesen zu sein. Betroffen ist auch der überaus wirkmächtige kunsttheoretische Antagonismus zwischen disegno und colore; wurde dieser Antagonismus seit der Renaissance immer wieder zugunsten des ersteren, der Zeichnung, entschieden, ist nun eine Neubewertung fällig.5 Denn nachdem Farbreste auf der marmorweißen Oberfläche griechischer Plastik gefunden worden waren, ein „dünner Überzug“, wie Haller von Hallerstein schreibt, auf den klaren Linien der Tempelbauten, kann fortan kaum mehr unter Berufung auf die griechische Kunst die Form gegen die Farbe ausgespielt werden; zugunsten der Plastik bzw. der ihr verwandten klaren, abstrahierenden Zeichnung die sinnesverwirrende farbenreiche Malerei hintanzustellen, entbehrt angesichts der griechischen Farbspuren erstmals jeglicher Legitimität. Im Zuge der Polychromiedebatte wird zum einen immer wahrscheinlicher, dass die griechische Kunst gerade diejenigen Eigenschaften, die für den Klassizismus maßgeblich waren, eigentlich nicht aufweist. Zum anderen wird deutlich, inwieweit der Zugriff des Klassizismus auf die Antike ein vermittelter und auf spezifische Weise beschränkter war. Hier ist nicht nur an Johann Joachim Winckelmann zu denken, Verfasser der Geschichte der Kunst des Altertums (1764), der griechischen Boden selbst nie betreten hatte. Insbesondere vermitteln die verwendeten künstlerischen Medien seit Beginn der Grabungen in Herculaneum und Pompeji einem zunehmend breiten Publikum das Bild einer weißen Antike.6 Die Zeichnung und die Druckgraphik, die bei der Erschließung der Antike zum Zug kommen, präparieren den Blick auf die Tempel, Statuen und Vasen und weisen ihnen bestimmte Stilqualitäten zu. Winckelmann etwa illustriert seine Geschichte mit kleinen Kupferstichvignetten; es hat programmatischen Wert, dass das 4

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Vgl. Günter Oesterle: Gottfried Semper. Destruktion und Reaktualisierung des Klassizismus. In: Nachmärz. Der Ursprung der ästhetischen Moderne in einer nachrevolutionären Konstellation. Hrsg. von Thomas Koebner, Sigrid Weigel. Opladen 1996, S. 88–99. Zur Nobilitierung des Disegno-Prinzips vgl. Wolfgang Kemp: Disegno. Beiträge zur Geschichte des Begriffs zwischen 1547 und 1607. In: Marburger Zeitschrift für Kunstgeschichte 19 (1974), S. 219–240. Die „zunehmende Positivierung der Farbe als eines selbstreferentiellen, ursprünglichen und durch nichts anderes zu substituierenden Sichtbarkeitswertes“ verfolgt Max Imdahl: Farbe. Kunsttheoretische Reflexionen in Frankreich. 3. Aufl. München 2003, hier S. 15. Vgl. Christiane Zintzen: Von Pompeji nach Troja. Archäologie, Literatur und Öffentlichkeit im 19. Jahrhundert. Wien 1998, S. 89–135.

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Abb. b: Kupferstichvignette in Johann Joachim Winckelmann: Geschichte der Kunst des Altertums. Dresden 1764, S. 30.

erste Kapitel, in dem Winckelmann den Anfang der Kunst in der Bildhauerei, nicht in der Malerei verortet, von einer Vignette mit dem menschenformenden Prometheus beschlossen wird7 (vgl. Abb. b). Antike Kunst wird als eine weiße, linien- und formbezogene Kunst visualisiert. Konstitutiv für diese Vorstellung einer wesentlich weißen Antike sind die medialen Bedingungen der graphischen Künste, welche die Umrisszeichnung bevorzugen und mit dem Kontrast von Schwarz und Weiß arbeiten. Große Verbreitung findet diese Ästhetik des Umrisses etwa in den bekannten Homer-Illustrationen von John Flaxman (vgl. Abb. c).8 Es ist vor diesem Hintergrund nur folgerichtig, wenn im Streit um die Polychromie auch die Medien verhandelt werden, die zur visuellen Repräsentation einer – nunmehr bunten – Antike zur Verfügung stehen: Denn die farblose Linienkunst der Kupferstiche wird der Vorstellung eines polychromen Griechenland weder gerecht noch stellt sie überhaupt die medialen Voraussetzungen für eine solche Vorstellung bereit. Die frühen Schriften zur Polychromie dokumentieren freilich – so meine These – einen Medien7

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Ernst Osterkamp: Zierde und Beweis. Über die Illustrationsprinzipien von J. J. Winckelmanns „Geschichte der Kunst des Altertums“. In: Germanisch-Romanische Monatsschrift 39 (1989), S. 301–325, hier S. 304ff. Vgl. dazu Zintzen (Anm. 6), S. 101–110.

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Abb. c: John Flaxman: Homer ruft die Muse der Dichtkunst an (um 1790), in: John Flaxmann: Darstellungen aus Homers Iliade und Odyssee. Bd. 1: Umrisse zur Iliade. Carlsruhe 1829, o. S.

wechsel, der mit dem skizzierten ästhetikgeschichtlichen Umbruch korreliert. Dieser Medienwechsel der Altertumskunde führt um 1830 zu einer Reihe von praktischen und theoretischen Inkongruenzen und bringt so paradoxe Projekte hervor wie die Darstellung einer bunten Antike in Schwarzweiß. Dies legt zumindest der erwähnte Beitrag Gottfried Sempers nahe, die Vorläufigen Bemerkungen, mit denen er sich in die Fachdiskussion involviert.9 Diese Schrift gilt es im Folgenden etwas genauer in den Blick zu nehmen. Dabei wirft erstens der mediale Auftritt von Sempers Publikation einige Fragen auf; zweitens sind die verschiedenen und zum Teil konfligierenden wissenschaftlichen Modelle zu beleuchten, mit denen die antike Kunst erschlossen wird, um drittens Sempers Plädoyer für die Farbe im weiteren Kontext kulturgeschichtlicher Ambitionen des 19. Jahrhunderts zu situieren.

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Gottfried Semper: Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architectur und Plastik bei den Alten [1834]. In: Ders.: Kleine Schriften. Hrsg. von Hans Semper, Manfred Semper. Mittenwald 1979, S. 215–258.

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Die Vorläufigen Bemerkungen über bemalte Architectur und Plastik bei den Alten, 1834 als selbstständige Publikationen erschienen, sind ein Text ohne Abbildungen.10 Umso bemerkenswerter ist jedoch die Gestaltung des Bucheinbandes (vgl. Abb. d). Vorder- und Rückseite zeigen ein den pompejianischen Wandmalereien verwandtes zartes Gerüst, in dessen Rahmenfeldern Bauwerke der griechischen und römischen Antike sowie der Renaissance zu sehen sind. In der Tradition des durch Architektur-

Abb. d: Buchvorder- und -rückseite Gottfried Semper: Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architectur und Plastik bei den Alten (1834), in: Harry Francis Mallgrave: Gottfried Semper. Ein Architekt des 19. Jahrhunderts. Aus d. Amerik. v. Joseph Imorde u. Michael Gnehm. Zürich 2001, S. 64.

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Mit diesem frühen Text haben sich zuletzt eingehender beschäftigt Barbara Neubauer: Gottfried Semper – Polychromie und Denkmalpflege. In: Gottfried Semper und Wien. Die Wirkung des Architekten auf „Wissenschaft, Industrie und Kunst“. Hrsg. von Franz Rainald. Wien / Köln / Weimar 2007, S. 211–223; Salvatore Pisani: „Die Monumente sind durch Barbarei monochrom geworden“. Zu den theoretischen Leitmaximen in Sempers „Vorläufige Bemerkungen über bemalte Architectur und Plastik bei den Alten“. In: Gottfried Semper 1803–1879. Architektur und Wissenschaft. Hrsg. von Winfried Nerdinger, Werner Oechslin. München u. a. 2003, S. 109–115.

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elemente organisierten Frontispizes stellt der Stich eine filigrane Konstruktion dar, durch die Ausblicke auf einzelne Beispiele einer Geschichte der Baukunst eröffnet werden. Während sich auf der Rückseite ein einheitlicher landschaftlicher Raum mit einem Tempel öffnet, dessen Lebendigkeit durch die flankierenden Pflanzen wie durch das im Sockel angebrachte Faust-Zitat unterstrichen wird: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie, und grün des Lebens goldner Baum“, bietet die Vorderseite eine Vielfalt an Ansichten: die römische Trajanssäule links und den Campanile aus Florenz rechts, die Akropolis ganz oben und den Dogenpalast unten. Geht man nach dieser Umschlagabbildung, so folgt Sempers Veröffentlichung den Prinzipien klassizistischer Zeichnung. Ein zeichnerisches Liniengerüst strukturiert die Geschichte der Baukunst und ordnet die einzelnen künstlerischen Phänomene in einen abstrahierenden Rahmen ein, desgleichen zeigt der untere Bildteil die drei Künste Architektur, Malerei und Plastik getrennt, jeweils in einem eigenen Bildfeld. Dieses visuelle Statement steht in auffälligem Gegensatz zu Sempers Ausführungen in den Vorläufigen Bemerkungen; denn sein Beitrag zur Polychromiedebatte hebt nicht nur mit der Forderung einer Wiedervereinigung der gewaltsam getrennten Künste an, sondern übt vehemente Kritik an dem herkömmlichen Antikebild, das er als lebloses „Knochengebäude“ bezeichnet.11 Die Umschlaggestaltung, bei der Semper im Übrigen auf die bewährten Darstellungsmittel des Kupferstechers angewiesen ist, kann sich von diesem klassizistischen Antikebild nicht in dem Maße lösen wie die polemischen Ausführungen des angehenden Architekten selbst. Eines fällt gleichwohl auch hier auf: Unter den Künsten ist es die Malerei, die das Mittelfeld besetzt, und nicht nur dadurch hervorgehoben wird. Im Unterschied zu Architektur und Plastik wird sie nicht in herkömmlicher Weise durch eine Personifikation repräsentiert. Vielmehr rückt direkt ein Gemälde ein, nämlich eine Art kleine Vedute Venedigs, jener Stadt, die in der Malereitradition Italiens für den Kolorismus, die Bevorzugung der Farbe gegenüber der Form, einsteht.12 Muss im Falle der Umschlaggestaltung und ihres programmatischen Wertes im Einzelnen manches offen bleiben, so reflektiert der Text immerhin an einer zentralen Stelle die Medialität der Publikation und lässt auf ein Bewusstsein dieser Diskrepanz zwischen sachlichem Anspruch (farbige Antike) und Beschränkung durch das Medium (schwarzweißer Stich) schließen. „Der Verfasser erlaubt sich“, heißt es da, „an diese Mitteilungen die Ankündigung eines Werkes zu knüpfen, das seine gesammelten Studien, zur Erläuterung des Gesagten, in ein System gebracht, enthalten soll. Es wird in farbigen Lithographieen und in Kupferplatten mit erklärendem Texte bestehen, die in drei Abteilungen aufeinander folgen sollen.“13 Die Vorläufigen Bemerkungen erweisen 11 12

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Semper (Anm. 9), S. 229. Wichtige Erkenntnisse zur Programmatik des Buchumschlags verdanke ich einer anregenden Diskussion im Kunstwissenschaftlichen Kolloquium von Steffen Bogen und Felix Thürlemann an der Universität Konstanz. Semper (Anm. 9), S. 246.

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sich auch hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, die Polychromie der Antike ihrem Publikum anschaulich zu machen, als provisorisch. Farbabbildungen beinhaltet diese Schrift bezeichnenderweise nicht; und auch die in Aussicht gestellten polychromen Tafeln erscheinen – einige Probeabzüge ausgenommen (1836) – nicht mehr.14 Zugleich aber taucht die gerade entwickelte Technik der Chromolithographie, die 1837 in Paris patentiert wird,15 als künftige Möglichkeit einer farbigen Visualisierung in Sempers Polychromie-Schrift bereits auf. Angesichts der bemalten Tempel Italiens und Griechenlands hatte er an den Bruder geschrieben: „Du kannst Dir keinen Begriff von der Pracht u. dem Reichthum der Alten machen“;16 eine neue Drucktechnik, die erstmals Farbe in den technischen Reproduktionsprozess zu integrieren erlaubte, verspricht der These von der antiken Polychromie Evidenz zu verschaffen bei einem breiten Publikum, das bislang nur über farblose Bilder der Antike verfügte.17 Ein Aquarell Sempers deutet diese farbige Evidenz an (vgl. Abb. 11, Bildteil): „[…] um den Effekt zu zeigen [habe ich] jetzt eine kolorierte Restauration der auf der Akropolis befindlichen Gebäude angefertigt“.18 Es ist bezeichnend für diese in die Polychromiedebatte eingeschriebene reproduktionstechnische Umbruchphase, dass einerseits die Phantasie einer farbigen Drucktechnik bereits in den Text und wohl auch seine theoretischen Positionen Eingang gefunden hat, während andererseits die tatsächliche Illustration der Thesen sich auf den Einband und eine klassizistische Ästhetik des Schwarzweiß beschränkt. Ganz ähnliche Inkongruenzen sind in Sempers Metaphorisierung der Antike und der archäologischen Rekonstruktionstätigkeit zu beobachten. Die Vorläufigen Bemerkungen gehen mit dem zeitgenössischen Klassizismus hart ins Gericht, dessen Antikebild auf einem fundamentalen Irrtum beruhe. Semper: „Wir haben das übrig gebliebene, entseelte Knochengebäude alter Kunst für etwas Ganzes und Lebendes angesehen und es so, wie wir es fanden, nachzuahmen für gut befunden.“19 Semper bezieht damit Stellung gegen die sog. „monochromen Neuerer“, allen voran Johann Joachim Winckelmann. Auch dieser sei in den „Fehler“ verfallen, „das Lückenhafte der antiken Ueberreste für 14 15

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Harry Francis Mallgrave: Gottfried Semper. Ein Architekt des 19. Jahrhunderts. Aus d. Amerik. v. Joseph Imorde, Michael Gnehm. Zürich 2001, S. 66. Das Patent erhielt Godefroy Engelmann, nachdem der Erfinder der Lithographie, Alois Senefelder, bereits 1817 Mehrfarbendrucke hergestellt hatte. Art. Farbenlithographie. In: Lexikon der Kunst. Begr. v. Gerhard Strauß, hrsg. von Harald Olbrich. 7 Bde. Neubearb. Leipzig 1987–1994. Bd. 2 (1989), S. 432. Vgl. außerdem Eva-Maria Hanebutt-Benz, Kristin Wiedau: Technik des Abbilds. Die drucktechnische Revolution im 19. Jahrhundert. In: Bilderlust und Lesefrüchte. Das illustrierte Kunstbuch von 1720 bis 1920. Hrsg. von Katharina Krause, Klaus Niehr, Eva-Maria HanebuttBenz. Leipzig 2005, S. 43–58. Gottfried Semper 1832 an den Bruder Wilhelm, zit. nach Mallgrave (Anm. 14), S. 58. Die Rolle der Reproduktionstechnik für die Polychromiedebatte betont auch Manolis Korres: Bauforschung in Athen 1831–41. In: Das neue Hellas. Griechen und Bayern zur Zeit Ludwigs I., Katalog zur Ausstellung des Bayerischen Nationalmuseums München. Hrsg. von Reinhold Baumstark. München 1999, S. 171–186, hier S. 174. Gottfried Semper 1833 an den Bruder Wilhelm, zit. nach Mallgrave (Anm. 14), S. 59. Semper (Anm. 9), S. 229.

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den vollständigen Text zu halten und ihn höchst genial nach seiner Weise zu deuten.“20 Diese Passage ist aufschlussreich. Dem herkömmlichen Verständnis der Philologie als Leitdisziplin der Archäologie entsprechend wird die Antike als Text metaphorisiert, dessen ursprüngliche Gestalt in einem philologischen Prozess zu rekonstruieren sei. Winckelmann allerdings habe dessen Lückenhaftigkeit durch die Kunst der Auslegung in unzulässiger Weise geschlossen. Noch in seiner Kritik der „weißen Antike“ operiert Semper also mit dem klassizistischen Text-Modell, in dem Schrift und Beschreibung als Vermittlungsmedium und die Linienkunst als Illustrationsinstrument hochgeschätzt werden. Es wird deutlich, in welchem Ausmaß sich die Altertumskunde selbst dann noch als Textwissenschaft versteht, wenn die Implikationen dieser Metaphorik nicht mehr dem vertretenen Forschungsstand entsprechen. Darüber hinaus aber finden sich in Sempers Abhandlung einige Hinweise auf ein mögliches anderes wissenschaftliches Modell zur Repräsentation der antiken Kunst, wie ja bereits auch die reproduktionstechnische Möglichkeit farbiger Drucke angekündigt worden war. Die Unzulänglichkeit des „Textes“ bzw. der „Zeichnung“ zur Darstellung einer bunten Antike tritt besonders dann zutage, wenn die Bemalung auf eine künstlerische Praxis zurückgeführt wird, die noch keine Trennung von Linie und Farbe, Plastik und Malerei – also keine Spezialisierung der Künste – kannte. Semper stellt zu Beginn der Vorläufigen Bemerkungen fest, „daß einst alle bildenden Künste in inniger Verbindung zusammenwirkten und an Monumenten aller Art in ein ebenmäßiges Ganzes verwebt, harmonisch und kräftig ineinander griffen.“21 Ganz im Gegensatz zu Winckelmanns Herleitung der Kunst aus einer Kunstgattung, der Plastik, die in der Geschichte der Kunst des Altertums die Prometheus-Vignette verkörpert hatte, stellt Semper fest: „Gemeinschaftlich wurden die Künste geboren“,22 ein ‚Chor‘ aus Malerei, Skulptur, Architektur habe die antike Kunst hervorgebracht. Demzufolge könne eine isolierte Kunstgattung – wie etwa die Zeichnung – diesem multimedialen Phänomen auch nicht gerecht werden. Wird der griechische Architekt als Chorführer bezeichnet, der „wegen der besonderen Gabe des Ueberblicks“ die Künste leitete,23 dann deutet sich eine neuartige Vision der Antike an, die sich von dem klassizistischen Antikebild deutlicher nicht unterscheiden könnte. Was Semper im Zuge seiner Polychromieforschungen anvisiert, ist ein theatrales Bild der Antike: Bei der „alten Tempelverzierung“, so Semper, darf neben der Malerei der metallene Zierrat, die Vergoldung, die Draperie von Teppichen, Baldachinen und Vorhängen und das bewegliche Geräte nicht außer Augen gelassen werden. Auf alles dieses und mehr noch auf die mitwirkende Umgebung und Staffage von Volk, Priestern und Festzügen waren die Monumente beim Entstehen berechnet. Sie waren das Gerüste, bestimmt, allen diesen Kräften einen gemeinsamen Mittelpunkt zu gewähren. Der Glanz, der die Einbildungskraft

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Ebd., S. 233. Ebd., S. 223. Ebd. Ebd., S. 225.

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ausfüllt, denkt man sich lebhaft in jene Zeiten zurück, macht die Nachahmungen aus denselben, wie man sich seither gefallen hat, sie den unsrigen aufzudringen, erbleichen und erstarren.24

Der griechische Tempelbau wird hier als reich ausgestattete Bühne für priesterliche Handlungen vorgestellt, die auch die umgebende festliche Menschenmenge involviert, ja auf ihre Mitwirkung „berechnet“ ist. An ebendieser Stelle, an der die „Einbildungskraft“ eine auf visuelle Effekte abzielende Theaterbühne entwirft, werden im Übrigen auch die erwähnten „farbigen Lithographieen“ angekündigt. Zweifach ist hier also das Bemühen erkennbar, antike Kunst in ihrem kultischen Zusammenhang in einer neuen Weise zu vergegenwärtigen und unmittelbar anschaulich zu machen. Nicht mehr als Textzusammenhang wird sie hier konzipiert, den es mit philologischem Geschick zu rekonstruieren gilt, weshalb auch nicht mehr die Exegese antiker Autoren im Zentrum der archäologischen Tätigkeit steht; vielmehr soll die Antike als ein kultischer Lebensund Handlungszusammenhang im Modell des Theaters reaktualisiert werden. Nun werden nicht Texte, sondern vermehrt archäologische Realien für die Argumentation herangezogen und nach ihrer Funktion innerhalb des „Kultus“25 befragt. Wenn Semper die Tempelarchitektur aus dem griechischen Opferschmuck und einer damit verbundenen Bemalung des Heiligtums herleitet, dann wird eine bestimmte religiöse Praxis konstitutiv für die Gestalt der Tempel, die dem „Künstler […] keineswegs erlaubt, […] seiner Laune […] frei zu folgen“.26 Die Tempelarchitektur lasse sich nur aus ihrem Gebrauch für eine Art theatraler Inszenierung erklären, für die sie dem Kultus gewissermaßen die Bühne bereitstelle. Von diesen in ihren weiteren Implikationen äußerst komplexen und hier nur kurz anzudeutenden Thesen Sempers wird nicht nur die Distanz zu klassizistischen Positionen deutlich. Sie erhellen ein Stück weit auch das spätere Engagement des Architekten für den monumentalen Theaterbau in Dresden und Wien sowie die in Sempers 1860–1863 erschienenem Hauptwerk Der Stil in den technischen und tektonischen Künsten vertretene Auffassung, dass die Anfänge der Kunst in bemalten bzw. mit Textil verkleideten Wänden lägen. Hervorzuheben ist an Sempers früher Schrift im Besonderen aber derjenige Aspekt, der auf einen mit der Entdeckung der antiken Polychromie einhergehenden Orientierungswechsel in den historischen Wissenschaften hindeutet. Es ist das auf mehreren Ebenen zu beobachtende Interesse Sempers an einer Kontextualisierung der antiken Kunst: Sie müsse einmal in ihrer gesellschaftlichen Funktion und aus ihrem kultischen Zusammenhang heraus verstanden werden, in dem alle Künste zusammenwirkten, wie das Modell des Theaters es augenscheinlich macht. Des Weiteren seien die antiken Tempel in ihre geographisch-klimatische Umgebung einzubetten – gerade hinsichtlich ihrer farbigen Bemalung dürfe das „helle[ ], zehrende[ ] Südlichte“ und die „starkgefärbte[ ] Umgebung“ nicht außer Acht gelassen werden.27 „Wer sich indes überzeugen 24 25 26 27

Ebd., S. 246. Ebd., S. 241. Vgl. dazu auch Mallgrave 2001 (Anm. 14), S. 70ff. Semper (Anm. 9), S. 242. Ebd., S. 236.

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will“, so Semper, „wie unschön und beleidigend ein marmornes Monument nackt in südlicher Umgebung dasteht, der betrachte den Mailänder Dom, dessen Weiße die Sonne zum Erblinden zurückwirft und dagegen im Schatten eiskalt erscheint.“28 Eine „richtige Vorstellung der Antike“ könne sich nur aus dem Verständnis ihres „Zusammenhangs“ „mit dem Zustande der menschlichen Gesellschaft jener Zeiten und mit südlicher Natur“ bilden.29 Darüber hinaus müsse die griechische Antike auch erstmals in den Zusammenhang einer allgemeinen Kunstgeschichte gestellt werden. Semper: „Denken wir uns die Antike vielfarbig, so tritt sie in die Verwandtschaft der orientalischen Kunst und der des Mittelalters. Sonst erscheint sie uns ganz aus dem Zusammenhange gerissen und unerklärlich. Die monochrome Antike würde ein Phänomen sein, das aller geschichtlichen Herleitung entbehrte.“30 Wiederholte Male zielt Sempers Argumentation auf eine solche Einbettung ab, wo der Klassizismus im Gegenteil Trennungen vorgenommen hatte, die Künste geschieden, die weiße Antike als singuläres historisches Phänomen isoliert und antike Kunstobjekte als autonom aus ihren funktionalen Kontexten gelöst hatte.31 Sempers Projekt einer Rekontextualisierung antiker Kunst, die er immer wieder als Verlebendigung des entseelten Winckelmannschen „Knochengebäudes“ beschreibt, scheint von Friedrich Nietzsches Wiederentdeckung des Dionysischen oder Richard Wagners Vision eines Gesamtkunstwerks allzu weit nicht entfernt zu sein. Dass diese andere Konzeption der Antike bei Semper von dem Skandalon antiker Farbigkeit ihren Ausgang nimmt, ist bemerkenswert. Die Farbe scheint bei Semper Kohärenzen zu stiften und Phänomene zu integrieren erlauben, die vormals isoliert betrachtet wurden. In den Vorläufigen Bemerkungen erweist sich die Farbe als gewissermaßen universelle integrierende Größe. Sobald die Farbe am archäologischen Horizont auftaucht, kann sich nicht nur wieder ein „Chor“ der Künste formieren, sondern wird auch eine umfassendere Kulturgeschichte möglich als sie Winckelmanns Geschichte der Kunst hatte entwerfen können.

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Ebd., S. 238. Ebd., S. 222. Ebd., S. 251. Ähnliche Beobachtungen macht auch Pisani (Anm. 10), S. 114.

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Gesellschaftliche Ordnungen – Identitätskonzepte

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Gold im Nibelungenlied

I.

Goldene Sachkultur

In der mittelhochdeutschen Epik sind zahlreiche Gegenstände aus Gold: Im Rother und in der Kudrun dient ein Goldring als Erkennungszeichen. Prünhilt und Jeschute werden Goldringe entwendet, Diebstähle mit jeweils fatalen Folgen. Wigalois trägt einen Goldgürtel, der seinen Träger weise macht, und der Gral ist zumindest bei Chréstien de Troyes, Robert de Boron und Heinrich von dem Türlin ein Gegenstand aus Gold. Besonders aber das Nibelungenlied bietet eine Vielzahl goldener Dinge auf: Der Hort versammelt unermesslich viele Gegenstände aus Gold und Silber, darunter ein Schwert mit Goldgriff, eine goldene Geißel und eine Goldrute, mit der man die Weltherrschaft erringen kann. Daneben gibt es Armreife, Ringe, Brustschmuck, Kronen und Pokale aus Gold, goldenes Sattelzeug, goldene Schemel zum Aufsitzen, ein Ruhebett mit goldgestickten Bildern, goldenes Handwaschgeschirr und einen Sarg aus Gold und Silber. Diese adlige Sachkultur ist bislang wenig untersucht, weil sie gegenüber der in den Romanen um 1200 präsentierten höfischen Kultur als bloß materiell verstanden, wenn nicht sogar als gattungstypische Hyperbolik abgewertet wird. Solche Prämissen stehen in Frage, wenn im Folgenden versucht wird, die Gattungshybride von heroischer und höfischer Dichtung vom Goldglanz her zu beschreiben.1 In welchem Spannungsverhältnis steht die Inszenierung und Funktionalisierung der goldenen Dinge zur adaptation courtoise? Der Fokus der folgenden Studie liegt nicht auf dem einzelnen Gegenstand und seiner Hermeneutik.2 Sie setzt vielmehr bei der Beobachtung an, dass sich die goldene Dingkultur im Nibelungenlied vom Aquamanile über den Sattel bis hin zum sagenhaften 1 2

Der Begriff der Gattungshybride nach Jan-Dirk Müller: Das Nibelungenlied. Berlin 2002 (Klassiker-Lektüren. 5), S. 71 u. 73. So bei Anna Mühlherr: Nicht mit rechten Dingen, nicht mit dem rechten Ding, nicht am rechten Ort. Zur tarnkappe und zum hort im Nibelungenlied. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 131 (2009), S. 461–492; dies.: Eigen-Sinn von Dingen in älterer Erzählliteratur [erscheint 2012 in den Akten des Warschauer Kongresses der Internationalen Vereinigung für Germanistik, Sektion 38: Vielheit und Einheit des Erzählens? Möglichkeiten einer historischen Narratologie (im Druck)].

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Hort auf eine thematische Grundkonfiguration zurückführen lässt, die in der folgenden Regel zugespitzt ist: In der Symbolwelt des heroic age gründet Herrschaft auf Goldbesitz. Einen Zusammenhang von Gold und Herrschaft hat Matthias Hardt für die frühmittelalterlichen Könige und Fürsten in seiner gleichnamigen Studie postuliert. Auf der Basis historischer, archäologischer und literarischer Quellen stellt er die grundlegende Bedeutung des Schatzbesitzes im frühen Mittelalter heraus, nämlich dass „eine gut gefüllte Schatzkammer eine der wichtigsten Voraussetzungen für eine erfolgreiche Königs- und Fürstenherrschaft in allen sich ausbildenden und konsolidierenden regna auf vormals römischem Reichsgebiet, aber auch für die Könige und gentilen Fürsten an der Peripherie, außerhalb der früheren Reichsgrenzen, darstellte.“3 Zum Schatz eines frühmittelalterlichen Herrschers rechnet Hardt neben Gegenständen aus Gold – also neben Münzen, Ringen, Armreifen, Halsschmuck, Kronen, Tafelgeschirr und weiteren Kostbarkeiten – Kleidung und Stoffe, Waffen, Bücher und Dokumente sowie Reliquien.4 Während Hardt seine überzeugende These auf unterschiedlichen Quellengattungen der Disziplinen Archäologie, Geschichte und Literatur aufbaut, sollen hier literarästhetische und mit ihnen verbundene thematische Akzentuierungen des genannten Zusammenhangs in der Heldenepik im Vordergrund stehen.5 In welchen Spielregeln und Topoi der Gattung wird das Grundprinzip der Historiographie des frühen Mittelalters konserviert, wonach Gold Herrschaft begründet? Oder auf das Nibelungenlied gewendet: Wird der Goldglanz als gattungstypische Zutat mitgeführt, oder findet im Heldenepos um 1200 eine Auseinandersetzung mit den Regeln des heroic age statt? Bei dieser Frage geht es nicht um die Rekonstruktion einer älteren oder authentischeren Textschicht.6 Vielmehr 3

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Matthias Hardt: Gold und Herrschaft. Die Schätze europäischer Könige und Fürsten im ersten Jahrtausend. Berlin 2004 (Europa im Mittelalter. 6), hier S. 300. Hardt bezieht auch das Nibelungenlied in seine Untersuchung ein, allerdings konzentriert auf den Hort und die Geschichte dieses Motivs. Vgl. ebd., S. 11f., 17, 44, 219, 262. Auch Brigitte Haas-Gebhard: noch mê des rôten goldes… Vom Schatz der Nibelungen. In: Gold: Magie, Mythos, Macht. Gold der alten und neuen Welt. Hrsg. von Ludwig Wamser, Rupert Gebhard. Stuttgart 2004, S. 144–153, diskutiert vor allem den Hort. Hardt (Anm. 4), S. 54–135, Kapitel II: Der Inhalt des Schatzes. Mit der hier angesetzten Differenzierung der Quellengattungen beziehe ich mich auf die in Literatur- und Geschichtswissenschaft durch Helmut Beumann: Widukind von Korvei. Untersuchungen zur Geschichtsschreibung und Ideengeschichte des 10. Jahrhunderts. Weimar 1950, initiierte Diskussion über den Realitätsgehalt von historiographischen bzw. den Quellenwert von literarischen Texten. Diese Diskussion wird nachgezeichnet von Gerd Althoff: Das Nibelungenlied und die Spielregeln der Gesellschaft im 12. Jahrhundert. In: Der Mord und die Klage. Das Nibelungenlied und die Kulturen der Gewalt. Dokumentation des 4. Symposiums der Nibelungenliedgesellschaft Worms vom 11. bis 13. Oktober 2002. Worms 2003, S. 83–121, hier S. 83–86. Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998, S. 55–102. Michael Curschmann: Nibelungenlied und Klage. In: Verfasserlexikon, Bd. 6, 1987, Sp. 926–969, hier Sp. 944–949. Joachim Heinzle: Das Nibelungenlied. München / Zürich 1987 (Artemis Einführungen. 35), S. 64–76; ders.: Zum literarischen Status des Nibelungenliedes. In: Nibelungenlied und Klage. Ursprung – Funktion – Bedeutung. Hrsg. von Dietz-Rüdiger Moser, Marianne Sammer. München 1998 (Literatur in Bayern), S. 49–65. Wieder in: Nibelungenlied und

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soll am Themenkomplex Gold in der Fassung B des Nibelungenliedes und im Vergleich mit anderen heldenepischen Texten wie dem Beowulf die Frage nach den spezifischen Formen des Traditionsbezugs durch den Epiker diskutiert werden.7 Die heroischen Topoi der goldgeschmückten Frau und des goldgerüsteten Kriegers sowie die heroischen Verhaltensmuster des Tragens, Raubens, Zeigens und Schenkens von Gold werden im Nibelungenlied – so meine These – aufgegriffen, aber umgestaltet, kritisiert, bagatellisiert oder neu semantisiert. All dies lässt den Rückschluss zu, dass die goldenen Dinge im Nibelungenlied in erster Linie als Substrat der archaischen Welt, als bewusster Hinweis auf die alten m#ren verstanden werden können. Die folgende Skizze bietet keine systematische Aufbereitung aller goldenen Dinge im Nibelungenlied. Insbesondere bleiben milte-Handeln und Zeremoniell ausgeblendet, weil hier die Funktion der Dinge als Gaben oder Repräsentationsgegenstände längst herausgearbeitet worden ist.8 Zudem ist einschränkend anzumerken, dass der Begriff der goldenen Dinge im Folgenden alle jene Gegenstände umfasst, die im Nibelungenlied in kisten (568, 3), in schrîn (521, 1) oder in der kamer (1152, 1) aufbewahrt werden, also neben Gegenständen aus schierem Gold auch goldbestickte Stoffe und Kleider. Mit dem Versuch, das Figurenhandeln im Nibelungenlied über seine Referenz zu den kostbaren Dingen zu erhellen, greift die vorliegende Studie die in Ethnologie und Kulturanthropologie in den letzten Jahren vermehrt gestellte Frage nach der Bedeutung von Dingwelten auf 9 und möchte zur Ordnung der Dinge im Rahmen einer historischen Narratologie beitragen.

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Klage. Neue Wege der Forschung. Hrsg. von Christoph Fasbender. Darmstadt 2005, S. 107–121. Vgl. auch Ursula Schulze: Das Nibelungenlied, Eine Einführung. Stuttgart 1997, S. 132–136. Der Begriff der Spielregel nach Gerd Althoff: Spielregeln der Politik im Mittelalter. Kommunikation in Frieden und Fehde. Darmstadt 1997, sowie ders. (Anm. 5). Beowulf und die kleineren Denkmäler der altenglischen Heldensage Waldere und Finnsburg. Mit Text, Übersetzung, Einleitung und Kommentar sowie einem Konkordanz-Glossar, in drei Teilen. Hrsg. von Gerhard Nickel. Heidelberg 1976 (Germanische Bibliothek, vierte Reihe: Texte); auch die Übersetzung folgt im Wesentlichen dieser Ausgabe; ferner wurde die Ausgabe: Beowulf. Revised Edition. Ed. with an Introduction, Notes and a Prose Translation by Michael Swanton. Manchester / New York 1997, sowie die Übersetzung von Martin Lehnert herangezogen: Beowulf. Ein altenglisches Heldenepos. Übers. und hrsg. von Martin Lehnert. Stuttgart 1986. Vgl. auch Johannes Hoops: Kommentar zum Beowulf. Heidelberg 21965. Vgl. Müller (Anm. 6), S. 348–356 (milte und Herrschaft), S. 389–392 (höfisches Zeremoniell). Karl-Heinz Kohl: Die Macht der Dinge. Geschichte und Theorie sakraler Objekte. München 2003; Hartmut Böhme: Fetischismus und Kultur. Eine andere Theorie der Moderne. Hamburg 2006; Bruno Latour: Wir sind nie modern gewesen. Versuch einer symmetrischen Anthropologie. Frankfurt a. M. 1998. Ulrich Müller: Zwischen Gebrauch und Bedeutung. Studien zur Funktion von Sachkultur am Beispiel mittelalterlichen Handwaschgeschirrs (5. / 6.–15. / 16. Jh.). Bonn 2006 (Zeitschrift für Archäologie. Beiheft. 20); Ulla Johansen: Materielle oder materialisierte Kultur? In: Zeitschrift für Ethnologie 117 (1992), S. 1–15.

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II. Der Hort und andere Schätze Der Nibelungenhort ist von diesem Ansatz her kein mitgeschleppter oder erratischer Gegenstand und noch viel weniger eine „Sporttrophäe“,10 sondern seine Semantik erschließt sich in Relation zu anderen Faktoren wie Kraft oder Tradition und in seiner Verbindung zu anderen Schätzen wie denen Gunthers oder Etzels. Dies schließt ein aus der nordischen Tradition auf den Nibelungenhort übertragenes Verständnis als fluchbeladen ebenso aus wie eine Reduktion der Thematisierung von Gold im Nibelungenlied auf das Motiv der Goldgier.11 Die Motivation, Gold zu besitzen, ist in der heldenepischen Überlieferung vielmehr eingelassen in die übergeordnete thematische Konfiguration, dass der Status einer Herrscherfigur am mit Gold betriebenen Gaben- und Schmuckaufwand abzulesen sei. Diese grundsätzlich wertfreie oder sogar positive Bewertung von Goldbesitz wird auch dadurch nicht aufgehoben, dass die Texte durchaus Hinweise auf die korrumpierende Wirkung von Gold beinhalten. Etwa wird im Nibelungenlied das Bestreben des Fährmanns, sich den von Hagen durch die Luft geschwenkten Goldreif zu verdienen, entsprechend kommentiert: „diu gir nâch grôzem guote vil bAsez ende gît“ (1554, 2 ).12 Doch dieser durch die folgende Vorausdeutung („dô wold’ er verdienen daz Hagenen golt sô rôt; / des leit er von dem degene den swertgrimmigen tôt“ 1554, 3f.) konkretisierte Mechanismus, dass Goldgier in die Katastrophe führe, schließt nicht einmal diese Textstelle umfassend auf. Denn um den 10

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Vgl. Mühlherr 2009 (Anm. 2), S. 484; die Bezeichnung als Sporttrophäe bei Werner Wunderlich: Drachenhort – Königsgut – Rheingold. Der Nibelungenschatz als Mythos, Motiv und Metapher. In: Vom Umgang mit Schätzen. Internationaler Kongress Krems an der Donau 2004. Hrsg. von Elisabeth Vavra. Wien 2007 (Veröffentlichungen des Instituts für Realienkunde des Mittelalters und der frühen Neuzeit. 20), S. 167–195, hier S. 177. Zur Übertragung des Fluchmotivs Elisabeth Frenzel: Motive der Weltliteratur. Stuttgart 1988, Art. ‚Goldgier, Geldgier‘, S. 266–283, hier S. 269: „fluchartige Wirkung“; Claude Lecouteux: Der Nibelungenhort. Überlegungen zum mythischen Hintergrund. In: Euphorion 87 (1993), S. 172–186. Vgl. dagegen: Katalin Horn: ‚Gold, Geld‘. In: Enzyklopädie des Märchens, Bd. 5, 1987, Sp. 1357– 1371, hier Sp. 1357; zur didaktischen Funktion des Goldmotivs vgl. Karin Lichtblau: Schatzvorstellungen in der deutschen Literatur des Mittelalters. In: Vom Umgang mit Schätzen (Anm. 10), S. 35–54, hier S. 53; vgl. auch: Helmut Hundsbichler: Religiös orientierte ‚Schatz‘-Auffassungen im Spätmittelalter. In: ebd., S. 55–79. Die Macht des Goldes in der Kulturgeschichte seit der Antike beschreibt Peter L. Bernstein: The Power of Gold. The History of an Obsession. New York [usw.] 2000. Das Nibelungenlied wird zitiert nach: Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch hrsg. von Helmut de Boor. 21. Auflage revidiert und ergänzt von Roswitha Wisniewski. Wiesbaden 1979. Vergleichend herangezogen werden: Das Nibelungenlied. Mittelhochdeutscher Text und Übertragung. Hrsg., übers. und mit Anmerkungen versehen von Helmut Brackert, 2 Bde. Frankfurt a. M. 22009; sowie: Das Nibelungenlied. Nach der Handschrift C der Badischen Landesbibliothek Karlsruhe. Mittelhochdeutsch und Neuhochdeutsch. Hrsg. und übersetzt von Ursula Schulze. Düsseldorf / Zürich 2005; Hermann Reichert: Nibelungenlied-Lehrwerk. Sprachlicher Kommentar, mhd. Grammatik, Wörterbuch. Passend zum Text der St. Galler Fassung („B“). Wien 2007.

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Fährmann für die Überfahrt zu gewinnen, setzt Hagen nicht nur das Gold ein, sondern er verstellt sich zusätzlich. Noch viel weniger kann – wie die Forschung längst gesehen hat – der Hinweis auf das durch Goldbesitz hervorgerufene Verderben Kriemhilts abschließende Hortforderung erklären.13 Von daher erscheint es legitim, für das Nibelungenlied die Geltung jener Maxime zu erproben, die Michael Cherniss aus dem Beowulf abgeleitet hat, „that treasure and individual merit in the heroic society are interdependent and that the better man is the richer man.“14 Im Nibelungenlied wird die Rolle des Reichsten mit Nachdruck für Sîfrit reklamiert, allerdings nicht ohne Umschweife. Nachdem Hagen im Rahmen der Jungsîfrit-Abenteuer vom Horterwerb berichtet und auch deshalb einen angemessenen Empfang Sîfrits am Wormser Hof empfohlen hat, wird seine gesellschaftliche Stellung über eine Reihe von Aventiuren heruntergespielt. Zwar sollte er eine Krone tragen, vorläufig trägt er aber keine;15 anders als das restliche königliche Personal wird Sîfrit nach seinem Aufbruch aus Xanten bis zu seiner Hochzeit nicht mehr als König bezeichnet;16 und in den Sachsenkriegen wird er an der Krone auf seinem Schild als Sohn eines Königs erkannt.17 Dieses understatement im Blick auf den Rang des Helden soll vermutlich helfen, die Standeslüge weniger unvermittelt erscheinen zu lassen.18 Nachdem deren 13

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Vgl. Müller (Anm. 6), S. 147–151; Joachim Heinzle: Gnade für Hagen? Die epische Struktur des Nibelungenliedes und das Dilemma der Interpreten. In: Nibelungenlied und Klage. Sage und Geschichte, Struktur und Gattung. Passauer Nibelungengespräche 1985. Hrsg. von Fritz-Peter Knapp. Heidelberg 1987, S. 257–276. Michael D. Cherniss: The Progress of the Hoard in Beowulf. In: Philological Quarterly 47 (1968), S. 473–486; vgl. auch Patricia Silver: Gold and its Significance in Beowulf. In: Annuale mediaevale 18 (1977), S. 5–19; sowie Ernst Leisi: Gold und Manneswert. In: Anglia 71 (1952), S. 259– 273. Sîfrit verzichtet nach der Schwertleite darauf, die Krone zu tragen: „Sît daz noch beide lebten, Sigmunt und Siglint, / niht wolde tragen krône ir beider liebez kint“ (43, 1f.). Dieser Verzicht auf den Titel eines Königs hat – zumindest in der öffentlichen Wahrnehmung – bei der Ankunft in Worms ein Ungleichgewicht zur Folge. Sîfrit weist in seiner ersten Redesequenz beim Empfang durch Gunther darauf hin, dass er „ouch“, also wohl wie Gunther und seine Brüder, ein Krieger („recke“) sei und eine Krone tragen sollte (vgl. 109,1), dass er den burgundischen Königen also eigentlich gleichgestellt sei. Doch trotz dieser Erklärung zu seinem Status will Ortwin von Metz gegen ihn kämpfen, nachdem er die Burgunden provoziert hat. Auf diese Herausforderung hin muss Sîfrit noch einmal klar stellen, dass er ein mächtiger Herrscher, Ortwin aber nur der Lehnsträger eines Königs sei (118). Während Kriemhilt, Sigelint und Prünhilt wiederholt als Königinnen, Sigemunt, Liudeger, Liudegast, Gunther, Gernot und Giselher wiederholt als Könige bezeichnet werden, variiert der Erzähler in seinen Bezeichnungen für Sîfrit zwischen „helt“ (131, 1), „recke“ (290, 2), „herr“ (291, 1) und „degen“ (302, 2). Der Sachsenkönig Liudegêr erkennt ihn an dem Bild auf seinem Schild (215), der Krone, als Sohn eines Königs („sun den Sigmundes ich hie gesehen hân“ 216, 2). Zur Diskussion um die Unmotiviertheit der Standeslüge vgl. Ursula Schulze: Gunther sî mîn herre, und ich sî sîn man. Bedeutung und Deutung der Standeslüge und die Interpretierbarkeit des Nibelungenliedes. In: Zeitschrift für deutsches Altertum 126 (1997), S. 32–52. Wieder in: Nibelungen-

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Zweck, die Verbindung von Gunther und Prünhilt, vorbereitet ist, soll mit der Rückkehr nach Worms jedes Ungleichgewicht aufgehoben sein, weil Sîfrit und Kriemhilt heiraten. In diesem Zusammenhang nun, bei der Hochzeit Kriemhilts mit Sîfrit, erklärt der Erzähler Sîfrit zum König: „ouch lobte si ze wîbe der edel künic von Niderlant“ (615, 4). Seine Gleichrangigkeit wird in der Folge von Gunther explizit bestätigt, wenn er Prünhilts Bedenken zerstreuen will („er hât als wol bürge als ich unt wîtiu lant: / daz wizzet sicherlîche. er ist ein künic rîch“ 623, 2f.), und dafür erhält sie am nächsten Morgen Evidenz. Beim Festakt in der Kirche „sach man si alle viere under krône vrAlîchen stân“ (645, 4). Sîfrit trägt wie die beiden Königinnen und König Gunther eine Krone. Welche Krone dies genau sein soll, bleibt offen, jedenfalls nicht die seines Vaters. Denn der Erzähler widmet der auf die Abreise aus Worms folgenden Krönung Sîfrits in den Niederlanden große Aufmerksamkeit. In einem Festakt, dessen Prachtentfaltung das Wormser Fest überbietet,19 werden goldfarbene, mit Edelsteinen und Perlen geschmückte Speere vor dem Sitz des Paares vorbei getragen, und Sigemunt übergibt „vor sînen vriunden“ (713, 1) seinem Sohn Krone und Herrschaft: „Er bevalch im sîne krône, gerihte und ouch daz lant“ (714, 1). Mit dem Krönungsakt in Xanten ist ein Gleichgewicht der Dynastien erreicht, das auch darin seinen Ausdruck findet, dass im Laufe der folgenden zehn Jahre in Worms und Xanten Thronfolger geboren werden. Doch die Gleichrangigkeit der Höfe in Worms und Xanten bleibt eine Momentaufnahme,20 die zum Abschluss der 11. Aventiure ausdrücklich aufgehoben wird, wenn der Erzähler Sîfrit die größte Herrschergewalt zuspricht. Keiner aus Sîfrits Familie war jemals mächtiger als er, weil er neben den Niederlanden über weitere Länder herrscht und den größten Schatz hat, „den ie helt gewan“ (722, 1). Zwar relativiert der Erzähler diese Einschätzung noch einmal, wenn er in der abschließenden Strophe erklärt, dass Sîfrit auch ohne Hort einer der Besten gewesen wäre, weil er so stark war. Aber die eingangs zitierte heroische Grundregel: der Beste ist derjenige, der am meisten Gold hat, wird neben weiteren Begründungen (ererbter Landbesitz und Körperkraft) im Nibelungenlied noch mitgeführt. Auch wenn sich am Status Sîfrits abgesehen von der Krönung im Zuge der erzählten Handlung nichts ändert (der Horterwerb gehört ja bereits in die Vorgeschichte), ist seine Verortung in der Hierarchie durch den Erzähler als Aufstieg in Stufen gestaltet: vom Nicht-König über den gleichberechtigten König bis hin zum mächtigsten Herrscher mit dem größten Schatz. Diese Rolle wird Sîfrit von der narrativen Stimme im zweiten Teil des Nibelungenliedes wieder abgesprochen, denn Etzel tritt als Bewerber um Kriemhilts Hand an seine Stelle. Dessen Möglichkeiten, aus seinem Schatz zu verteilen, werden zunächst mit

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lied und Nibelungenklage (Anm. 6), S. 83–105; Norbert Voorwinden: Die Markgrafen im Nibelungenlied: Gestalten des 10. Jahrhunderts? In: Nibelungenlied und Klage 1987 (Anm. 13), S. 21–42. „Swie grôz ir hôhzît bî Rîne was bekant, / noch gap man hie den helden vil bezzer gewant, / danne si ie getrüegen noch bî allen ir tagen. / man möhte michel wunder von ir rîcheite sagen“ (711). „M#re z’ allen zîten der wart vil geseit, / wie rehte lobelîchen die recken vil gemeit / lebten z’ allen stunden in Sigemundes lant. / alsam tet ouch Gunther mit sînen mâgen ûz erkant“ (720).

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einem vergleichbaren Superlativ versehen wie zuvor der Schatz Sîfrits, nämlich dass er so viel Gold zu geben hat, dass man es zeitlebens nicht aufbrauchen könne.21 Und nach Kriemhilts Ankunft präzisiert der Erzähler: Auch wenn Sîfrit „rîch des guotes“ (1368, 3) gewesen wäre, so hätte er nicht so viele Gefolgsleute wie Etzel gehabt.22 Strukturell gesehen tritt Etzel nun in die Rolle des Besten ein, wenn er Kriemhilt heiraten soll, aber der Beste ist er, weil er über zwölf Kronen herrscht und viel zu verteilen hat. Der Beste ist auch im Nibelungenlied zugleich der mit dem größten Schatz.

III. Macht und Verzicht Für Sîfrits Macht ist der Schatzbesitz konstitutiv, obwohl er den Hort wieder in den Berg zurückbringen lässt und man nicht erfährt, dass er ihn jemals nutzt. Sicherlich ist die Zuweisung des Hortes an die Anderwelt als mythisches Signal deutbar,23 aber zugleich demonstriert dieser Vorgang mit dem Verzicht auf die Nutzung des Schatzes Macht. Indem ein Herrscher auf den Erwerb oder den Gebrauch von Schätzen verzichtet, zeigt er seinen Status an, nämlich dass er noch mehr Gold hat. Nach diesem Prinzip zu handeln, empfiehlt Sîfrit nach dem Sachsenkrieg. Gunther solle auf das angebotene Gold (die Menge, die fünfhundert Pferde tragen können) verzichten und die Unterlegenen ohne Auflage nach Hause ziehen lassen, und Gunther handelt entsprechend: „den sînen vîanden wart daz kunt getân, / ir goldes gerte niemen, daz si dâ buten ê“ (316, 2f.). Und in gleicher Weise kündigt Rüdiger Verzicht an: Dass weder er noch Kriemhilt auf ihrer Reise zu Etzel den Nibelungenhort „rüeren“ würden, selbst wenn Kriemhilt der Hort zur Gänze zurückerstattet würde, einfach weil er für den Werbungsauftrag von Etzel sehr viel Gold bekommen hatte (vgl. 1279,1). Das Vermögen, sich den Verzicht auf Goldgaben anderer leisten zu können, demonstrieren Herrscher auf Kosten der Herrscherinnen. Nach der Niederlage im Wettkampf bittet Prünhilt darum, unter ihren und Gunthers (vermeintlichen) Gefolgsleuten von ihrem Schatz auszuteilen (513). Dankwart nimmt daraufhin die Schlüssel zur Schatzkammer an sich und verteilt Kleidung und Geld so großzügig, dass Prünhilt argwöhnt, es werde von ihrem ererbten Schatz für sie nichts übrig bleiben: „er swendet gar 21

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Hagen über Sîfrits Schatz: „ ,Er mac‘, sprach dô Hagene, ‚von im sampfte geben. / er’n kundez niht verswenden, unt sold. er immer leben. / hort der Nibelunge beslozzen hât sîn hant.‘ “ (774, 1–3). Über Etzels milte sagt Rüdiger: „er gît iu alsô vil, / daz irz verswendet nimmer, des ich iu, vrouwe, sweren wil.“ (1275, 3f.). Vgl. zur Einschätzung von Etzels Macht auch weitere Textstellen: 1365, 3f.; 1367, 2f.; 1369. Hier werden mehrere Unüberbietbarkeitstopoi im Blick auf Etzels Macht aufgeboten: dass Kriemhilt nach Einschätzung des Erzählers bei ihrem ersten Mann nicht so viele Gefolgsleute gehabt hätte, dass man nie von einer größeren Hochzeit habe erzählen hören und dass auf keinem Fest so viel verschenkt worden wäre wie auf der Hochzeit von Etzel und Kriemhilt. Dazu Mühlherr 2009 (Anm. 2), S. 484f.

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mîn golt“ (517,3). Hagen beantwortet diese Sorge mit dem Hinweis, dass sie ihren Schatz nicht mehr brauchen werde, da Gunther seinerseits einen großen Schatz zu verteilen habe: „ez hât der künec von Rîne golt unde kleit / alsô vil ze gebene“ (519, 2f.). Gunther zeigt seinen Goldbesitz an, indem er Prünhilts Gold nicht braucht. Ein restloser Verzicht auf ihr Gold kommt für Prünhilt gleichwohl nicht in Frage. Sie lässt durch ihren Kämmerer zwanzig Truhen mit Gold und Seide füllen, damit sie, wenn sie in den Herrschaftsbereich Gunthers kommen, noch etwas zu verteilen hat (520). Die Machtinteressen von Herrscher und Herrscherin sind hier gegeneinander geführt: Gunther demonstriert seine Macht, indem er Dankwart den Schatz seiner künftigen Frau verausgaben lässt; Prünhilt aber beansprucht (zur Belustigung von Gunther und Hagen) immerhin Teile dieses großen Schatzes („mîn silber unt mîn golt…, des ich sô vil hân“ 513, 2f.), um ihren eigenen Machtanspruch als Herrscherin in Worms durch das Verteilen von Gold und Seide (vgl. 520) noch sichtbar machen zu können. Der Erzähler bestätigt ihren Rang noch einmal, als er im Zusammenhang mit der Ankunft Prünhilts in Worms erklärt: „dô sach man bî im stân / die schAnen Prünhilde. krône si dô truoc / in des küneges lande. jâ was si rîche genuoc“ (604, 2–4).24 Das Tragen eines goldenen Herrschaftszeichens zeigt vor der Hochzeit noch einmal an, dass sie Gunther im königlichen Rang gleich ist.25 Der Verzicht auf einen eigenen Schatz wird auch von Kriemhilt gefordert: Zunächst muss sie bei der Abreise nach Xanten auf ihr Erbe verzichten, dann bagatellisiert Rüdiger Hagens neuerlichen Versuch, sich Kriemhilts noch verbliebenen Besitzes zu bemächtigen, indem er dieses Gold als nutzlos herunterspielt: „Rîchiu küneginne, zwiu klaget ir daz golt?“ (1275, 1). Ihr künftiger Mann Etzel werde ihr mehr Gold geben, als sie in ihrem Leben aufbrauchen könne: „gesehent iuch sîniu ougen, er gît iu alsô vil, / daz irz verswendet nimmer“ (1275, 3f.). Doch da es auch bei dieser Hochzeit nicht nur um die Macht des Herrschers, sondern auch um den Anspruch der Frau als Herrscherin geht, lässt Kriemhilt sich wie Prünhilt Truhen (hier sind es zwölf) mit dem allerbesten Gold füllen, das man nur finden kann (1280, 1f.). Zudem wird sie von 500 Gefolgsleuten und Eckehart begleitet, und die hundert Jungfrauen, die mit Kriemhilt reisen, werden mit „gezierde vil“ (1280, 4) ausgestattet und so gekleidet, „als in daz wol gezam“ (1286, 2). Was sich bislang zeigen ließ, ist ein bewusster Umgang mit der Regel, dass Goldbesitz Herrschaft ausweist. Zwar baut der Epiker nicht allein auf diese Motivierung der Abläufe, aber er verzichtet auch nicht darauf, so dass Herrschaft im Nibelungenlied auf drei Elementen aufbaut: Tradition, Kraft und Schatzbesitz. Der Verzicht auf Schätze lässt sich – so Ursula Schulze im Blick auf Gunthers Ablehnung der Entschädigungsangebote von Liudegêr und Luidegast – auch als Ausdruck von ritterlicher Ethik und 24 25

Anders bezieht de Boor (Anm. 12) si im letzten Halbvers auf die Krone, nicht auf Prünhilt. Zur Bedeutung von Herrschaftszeichen vgl. Percy Ernst Schramm: Herrschaftszeichen und Staatssymbolik. Beiträge zu ihrer Geschichte vom 3. bis zum 16. Jahrhundert. Mit Beiträgen verschiedener Verfasser und Nachtragsband. Stuttgart 1954–56 und 1978 (Schriften der MGH. 13 / I–III).

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Vernunfthandeln deuten.26 Wenn man aber alle Handlungsmomente, in denen auf den Zugewinn von Gold verzichtet wird, zusammen sieht, dann ist ein heroisches Handlungsmuster erkennbar, dem nicht das Prinzip einer höfischen Disziplinierung, sondern einer heroischen Verschwendungs- und Überbietungsmaxime zugrunde liegt. Mit dem Verzicht auf den Erwerb weiterer Schätze kann man zeigen, dass man noch viel mehr hat.

IV. Geraubte Dinge 1 Für das Publikum sind die Machtfragen geklärt: Sîfrit ist der Mächtigste, und Kriemhilt ist die Mächtigste.27 Mit diesen eindeutigen Stellungnahmen bereitet der Erzähler die Fallhöhe Prünhilts vor. Je stärker und deutlicher das Übergewicht bei Sîfrit liegt, umso größer ist Prünhilts Irrtum, wenn sie Kriemhilt herausfordert. Wie sorgfältig der Frauenstreit im Einzelnen vorbereitet und komponiert ist, hat die Forschung detailliert herausgearbeitet.28 Diese Ergebnisse sollen im Folgenden ergänzt werden durch eine Lektüre der Eskalation als Streit um Dinge der Macht. Prünhilt beobachtet ihre Verwandten nach deren Eintreffen in Worms sehr genau. Nachdem der königliche Empfang abgeschlossen und man zum verschwenderischen Fest übergegangen ist, können alle sehen, dass Prünhilt Kriemhilt taxiert. Was sie bei dieser Musterung wahrnimmt, beschreibt der Erzähler so: „ir varwe gegen dem golde den glanz vil hêrlîchen truoc“ (799, 4). Die Schönheit von Kriemhilts Gesichtshaut ist Resultat des Goldschmucks, den sie trägt. An Sîfrit wiederum irritiert Prünhilt die stattliche Anzahl an Gefolgsleuten, die sie als Anzeichen für seinen Status bewertet, und sie kommt zu dem Schluss, „daz eigenholde niht rîcher kunde wesen“ (803, 3). Doch diese Bedenken werden nicht ausgesprochen. Man sieht die Frauen für die Dauer von elf Tagen gemeinsam „under krône“ (812, 3), also beide gleichermaßen im HerrscherinnenOrnat, zur Kirche gehen. Es folgt der Dialog während des Turniers, der in einen Rangstreit eskaliert, dessen Entscheidung Kriemhilt beim folgenden Gang zur Kirche zu ihren Gunsten entschieden wissen will. Sie kündigt an: „ich wil selbe wesen tiwerr, danne iemen habe bekant / deheine küneginne, diu krône ie her getruoc“ (829, 2f.). Die Krone kann die Statusdifferenz zwischen Kriemhilt und Prünhilt, auf der nun auch Kriemhilt besteht, nicht markieren. Für Kriemhilt geht es um die Frage, wer beim Kirchgang mehr an materieller Pracht vorzeigen kann, und sie fordert ihre Mädchen auf: 26 27

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Schulze (Anm. 6), S. 135. Mit dem Tod Sigelints ist ein weiterer Machtzuwachs von Kriemhilt verbunden, so dass sich zu bestätigen scheint, was Sîfrit angekündigt hatte: „dâ si sol tragen krône, unt sol ich daz geleben, / si muoz werden rîcher, danne iemen lebender sî“ (695, 2f.). Petra Frank: Weiblichkeit im Kontext von potestas und violentia. Untersuchungen zum Nibelungenlied. Würzburg 2004; Nine R. Miedema: Einführung in das Nibelungenlied. Darmstadt 2011, S. 78–87 zum Frauenstreit mit Diskussion der einschlägigen Forschungsliteratur.

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„ir sult wol lâzen schouwen, und habt ir rîche wât“ (831, 3). Sie und ihre 43 Mädchen werden „wol gezieret“ (832, 2), also kostbar gekleidet und geschmückt. Der Erzähler lässt keinen Zweifel daran, dass Kriemhilts Demonstration des größeren Reichtums gelingt: Swaz kleider ie getruogen edeler ritter kint, wider ir gesinde daz was gar ein wint. si was sô rîch des guotes, daz drîzec künige wîp ez möhten niht erziugen, daz tete Kriemhilde lîp. (836)

Der gestuften verbalen Eskalation folgt die gestufte Eskalation auf der Ebene der Gebärden. Zunächst einmal versucht Kriemhilt, die Ranghöhe über den getragenen Goldprunk zu entscheiden. Doch Prünhilt suspendiert die Regel, dass der höhere Rang an der Menge getragenen Goldes abzulesen sei. Mit keinem Wort geht sie auf Kriemhilts aggressive Machtdemonstration ein. So bleibt Kriemhilts materielle Überbietung Prünhilts eigentümlich folgenlos, und gerade diese Wirkungslosigkeit des Auftritts mündet in die Eskalation. Prünhilt bestreitet Kriemhilts mit all dem getragenen Schmuck implizit eingefordertes Recht auf Vorrang, indem sie nochmals auf unfreundliche Weise („vil übellîche“ 838, 3) an die ihr auf Isenstein erklärten Rechtsverhältnisse hinweist: „jâ sol vor küniges wîbe nimmer eigen diu gegân“ (838, 4). Will Kriemhilt die Demütigung Prünhilts (837, 4) durch die zur Schau gestellte materielle Pracht noch nicht gelingen, so erfüllt die nachfolgende Beleidigung als „kebse“ (839, 4) ihren Zweck. Hiermit, nicht mit dem vorgewiesenen Reichtum, erreicht Kriemhilt die Herabsetzung Prünhilts und verschafft sich so den Vorteil, als erste die Kirche zu betreten. Nach der Messe fordert Prünhilt eine Erklärung, die Kriemhilt ihr mit den Beweisgegenständen liefert. Glaubt Prünhilt beim Ring noch an einen Zufall, so weint sie, als Kriemhilt dann auch noch den Gürtel vorweist und sie diesen als ihren ehemaligen Besitz erkennen muss. Die Aneignung der Gegenstände Prünhilts durch Sîfrit und die später berichtete Übergabe der Gegenstände an Kriemhilt haben in der Forschung zu einer Reihe unterschiedlicher Lösungsvorschläge geführt. Sîfrit handele aus Eigeninteresse oder gar aus Narzissmus.29 Doch ist die Handlungssequenz besser verständlich, wenn man sie nicht allein von der Anlage der Figuren her betrachtet. Ich schließe mit der folgenden Deutung an Jan-Dirk Müller an, der die Aneignung und weitere Verwendung von Prünhilts Dingen ebenfalls mit der „Ausübung von Herrschaft“ verknüpft hat.30 Das Figurenhandeln möchte ich über die gattungstypische Referenz auf goldene (Ring), kostbare (Gürtel) Dinge erklären. Ring und Gürtel sind dann nicht irgendwelche Schmuckgegenstände Prünhilts, sondern mit dem Sieg über Prünhilt erwirbt Sîfrit nach 29

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Überblick bei Miedema (Anm. 28), S. 80f. Die Deutung als Eigeninteresse bei Christiane Witthöft: Selbst-loses Vertrauen? Probleme der Stellvertretung im Engelhard Konrads von Würzburg und im Nibelungenlied. In: Frühmittelalterliche Studien 39 (2005), S. 387–409; die Deutung als Narzissmus bei Irmgard Gephart: Der Zorn der Nibelungen. Rivalität und Rache im Nibelungenlied. Köln 2005, S. 75. Müller (Anm. 6), S. 274.

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der heroischen Handlungslogik ein Anrecht auf diese Dinge aus ihrem Schatz. Der Raub ist in der Heldenepik ein erwarteter Aneignungsmodus von Dingen.31 Den Erzähler des Nibelungenliedes jedoch irritiert dies. Er sieht offensichtlich eine Diskrepanz zwischen seiner Figurendarstellung und der archaischen Handlungslogik, wenn er Sîfrits Handeln kommentiert: „ine weiz ob er das t#te durch sînen hôhen muot“ (680, 2). Aber er belässt es bei diesem Handeln seines Protagonisten. Wichtig für das Verständnis dieser Szene ist, dass mit dem Rauben – wie mit dem Schenken – die Setzung einer Hierarchie einhergeht: So wie der Beschenkte dem Schenkenden hierarchisch unterlegen ist,32 so ist der Beraubte dem Räuber unterlegen. Gold und andere kostbare Dinge gehen in den Besitz, in den Schatz eines neuen Besitzers über und erinnern fortan an eine Geschichte: die des Sieges über den Vorbesitzer.33 Solange Prünhilts Preziosen als Bestandteile des Schatzes von Kriemhilt (und Sîfrit) in Truhen mitgeführt werden, mag es unwesentlich sein, dass diese Dinge ihre spezifische Geschichte haben. Doch in dem Moment, in dem Kriemhilt die geraubten Dinge anzieht und öffentlich trägt, so dass sie von der Vorbesitzerin als geraubte Dinge erkannt werden können, bleibt der besiegten Prünhilt nur mehr die Einsicht in Sîfrits größere Macht. Die „Gegebenheit“ von Ring und Gürtel – so mag man hier im Anschluss an Hartmut Böhme formulieren – wandelt sich im Moment der öffentlichen Präsentation in eine geradezu „renitente Präsenz“.34 Erst der Ring, dessen Übergang in Kriemhilts Besitz Prünhilt zunächst noch anders zu begründen versucht, und dann der Gürtel erzählen eine andere Geschichte als die bislang von Prünhilt für wahr gehaltene. Indem sie weint, erkennt sie an, was Kriemhilt mit den Dingen beweist („erziuget“ vgl. 849, 3). Die von ihr geglaubte Hierarchie wird auf den Kopf gestellt. Nach dieser heroischen Handlungslogik sind Fragen wie: Glaubt Prünhilt, dass Kriemhilts Vorwurf wahr ist? Hat Kriemhilt die Gegenstände mitgebracht, weil sie den Konflikt antizipiert? Warum gibt Sîfrit Kriemhilt die Gegenstände? sekundär.35 Was zählt, ist allein das mit den geraubten Dingen öffentlich bewiesene Faktum eines Herrschaftsanspruchs Sîfrits über Prünhilt. So gesehen sind die Dinge nicht allein als metaphorische oder betrügerische Zeichen zu verstehen.36 Die Schmuckgegenstände haben 31 32

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Silver (Anm. 14), S. 18: Beowulf agiere nach Regeln eines Systems, „and it is a system that measures virtue in gold and acquires gold by plunder.“ Marcel Mauss: Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften, übersetzt von Eva Moldenhauer. Frankfurt a. M. 1969, 1990, S. 31–49; Müller (Anm. 6), S. 348; Jürgen Hannig: Ars donandi. Zur Ökonomie des Schenkens im früheren Mittelalter. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 37 (1986), S. 149–162. Geschichten von Gaben und Raub werden im Beowulf mehrfach berichtet; zur Memorialfunktion von erobertem Tafelgeschirr vgl. Hardt (Anm. 3), S. 286–291. Böhme (Anm. 9), S. 42. Zur Forschungsdiskussion wiederum Miedema (Anm. 28), S. 87. Eine metaphorische Deutung schlägt Claudia Schopphoff: Der Gürtel. Funktion und Symbolik eines Kleidungsstücks in Antike und Mittelalter. Köln [u. a.] 2009 (Pictura et Poesis. 27), S. 198– 200, vor; die Deutung als betrügerische Zeichen bei Horst Wenzel: Augenzeugenschaft und episches Erzählen. Visualisierungsstrategien im Nibelungenlied. In: 800 Jahre Nibelungenlied. Rück-

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zudem und zuvorderst eine „Karriere[.] durchlaufen.“37 Mit dem Sieg Sîfrits werden die Dinge polyvalent: Ring und Gürtel sind zugleich Herrschaftszeichen. Dieses Faktum muss mit der Ermordung Sîfrits umgekehrt werden, und dies gelingt Prünhilt mit Hagens Hilfe. Während sie nach dem Königinnen-Streit in der Öffentlichkeit nicht mehr gesehen wird, nimmt sie nach Sîfrits Ermordung ihren Thronsitz wieder ein:38 „Prünhilt diu schAne mit übermüete saz“ (1100, 1). Nicht sang- und klanglos, sondern in ihrer Rolle als Herrscherin wird Prünhilt aus der weiteren Handlung verabschiedet.39

V. Geraubte Dinge 2 Genau dies, der sich ins Gegenteil verkehrende Versuch, eine prioritäre Statusanerkennung zu erzwingen, wiederholt sich im zweiten Teil des Nibelungenlieds, und wieder spielt der Raub eines Gegenstandes eine entscheidende Rolle bei dessen Scheitern. Nun ist Kriemhilt diejenige, die eine Unterordnung verlangt, und Hagen ist derjenige, der einen geraubten Gegenstand vorweist.40 Als Hagen und Kriemhilt an Etzels Hof ein erstes Mal aufeinander treffen, fordert Kriemhilt Gastgeschenke ein (28. Av.). Hagen weist dies höhnisch zurück (1740), und Kriemhilt konkretisiert ihre Forderung, man hätte ihr den Hort mitbringen sollen (1741). Hagen lehnt auch diese Forderung ab. Nachdem Kriemhilt mit einer Klage über das Fehlen eines aus dem Hort entnommenen Gastgeschenkes noch einmal angesetzt hat, provoziert Hagen sie ein drittes Mal: Er hätte an seiner Rüstung und an seinem Schild genug zu tragen, und das Schwert, das er in seinen Händen halte, genau das werde sie nicht bekommen (1744).41

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blick – Einblick – Ausblick. 6. Pöchlarner Heldengespräch. Hrsg. von Klaus Zatloukal. Wien 2001, S. 216–234. Kohl (Anm. 9), S. 148: „Da sich die hier erläuterten Objektkategorien verschiedentlich überschneiden und die Übergänge fließend sind, muß ein bestimmter Gegenstand in der hierarchischen Ordnung der Dinge nicht ein und für allemal derselben Klasse angehören. Ähnlich wie Menschen können auch Gegenstände regelrechte Karrieren durchlaufen.“ In der Übersetzung folge ich Brackert, der vorschlägt: „In stolzer Genugtuung saß die schöne Brunhild jetzt auf ihrem Thron.“ Zur Bedeutung von sitzen vgl. DWb, Bd. 16, 1905, Sp. 1280–1302, hier Sp. 1290: sitzen in der Bedeutung von thronen, herrschen. Damit nimmt Prünhilt nicht etwa eine passive Rolle ein; vgl. die Diskussion um die Rolle der Frau in der Heldenepik bei Michael J. Enright: Lady with a Mead-Cup: Ritual, Group Cohesion and Hierarchy in the Germanic Warband. In: Frühmittelalterliche Studien 22 (1988), S. 170–203. Die folgende Skizze zur Bedeutung Balmuncs stützt sich auf meine Vorüberlegungen, die in den Akten des Warschauer Kongresses der Internationalen Vereinigung der Germanistik aus dem Jahr 2010 erscheinen werden. Vgl. Mühlherr 2012 (Anm. 2). „ ‚Ja bringe ich iu den tiuvel,‘ sprach aber Hagene. / ,ich hân an mînem schilde sô vil ze tragene / und an der mînen brünne; mîn helm der ist lieht. / daz swert an mîner hende des enbringe ich iu nieht.‘ “ (1744).

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Dass der Hinweis auf das Schwert eine weitere Provokation beinhaltet, bei der nun ein anderer Gegenstand als der Hort ins Spiel gebracht wird, erweist sich erst vierzig Strophen später, bei der erneuten Konfrontation von Hagen und Kriemhilt. Als sie Hagen und Volker vor der Halle auf der Bank sitzen sieht, beschließt Kriemhilt, Hagen ein weiteres Mal herauszufordern. Nach intensivem Werben unter den Hunnen wollen ihr erst 60 (1766), dann 400 (1769) Leute zu Hagen folgen. Bevor sie aber zum Visavis mit ihrem Widersacher aufbricht, setzt sie sich erst noch ihre Krone auf den Kopf: „nu bîtet eine wîle; jâ sult ir stille stân! ich wil under krône zuo mînen vîanden gân.“ (1770, 4). Als sie nun mit Krone und Gefolgsleuten auf die beiden Burgunden zuschreitet, nimmt Volker diesen Auftritt wie gewünscht als fulminante Machtdemonstration wahr (1773). Doch seiner Aufforderung, aufzustehen und damit Kriemhilts zur Schau getragene Vormacht anzuerkennen („si ist ein küneginne“ 1780, 2), will Hagen nicht folgen. Auch bei dieser Weigerung kommt – wie bei Kriemhilts Weigerung, Prünhilts Status anzuerkennen – einem geraubten Gegenstand zentrale Bedeutung zu. In dieser Szene wird deutlich, dass es sich bei dem Schwert, auf dessen exklusiven Besitz Hagen zuvor hingewiesen hatte, um Balmunc handelt. Das Schwert wird in dieser Szene zum ersten Mal überhaupt beschrieben, und zwar nur, damit Kriemhilt es sicher als das ehemalige Schwert Sîfrits identifizieren kann: Balmunc hat einen grünen Edelstein im Knauf (1783, 2f.), der Griff ist aus Gold (1784, 2), und die Schwertscheide ist rot (ebd.). Kriemhilt erkennt das Schwert, das Sîfrit im Zuge der Ermordung geraubt wurde, und weint. Auch hier erzählt der geraubte Gegenstand von Sieg und Niederlage. Wie der Erzähler in der 15. Aventiure klarstellt, dass es Kriemhilt um eine Demütigung der Gegnerin geht, so bewertet der Erzähler das Geschehen jetzt als Spekulation Hagens auf das Weinen Kriemhilts: „ich w#ne, ez hete dar umbe der küene Hagene getân“ (1784, 4). So wie Prünhilt ihren Herrschaftsanspruch gegen die Renitenz der Dinge nicht durchsetzen kann, scheitert nun Kriemhilt mit ihrer Machtdemonstration. Das Schwert erinnert nicht nur an ihren vriedel, sondern zugleich an den Sieg Hagens über Sîfrit, der mit dem Verlust von Kriemhilts herrschaftlicher Stellung einherging.42 Das Schwert ist damit zum Herrschaftszeichen Hagens geworden. In beiden Fällen werden die aufgrund des Status erwarteten und öffentlich eingeforderten Hierarchien durch den gezielt offenbarten Übergang eines geraubten Gegenstandes in den Besitz, in den Schatz eines anderen unterlaufen. Das bekannt gemachte Faktum der Unterlegenheit des Vorbesitzers überlagert auch hier die Frage nach der Rekonstruktion der Vorgänge um den Besitzerwechsel. Das Schwert tritt damit als neues Streitobjekt in die Handlung (Aventiure 28, 29, 39) ein. Es ist Bestandteil jenes Schatzes, der Kriemhilt geraubt wurde. Als Kriemhilt in ihrer vorletzten Ansprache an Hagen das ihr Genommene zurückfordert, bezieht der Angesprochene diese Forderung allein auf den im Rhein versenkten Hort. Dessen Ver42

Kriemhilt lehnt die ihr von Sigemunt angebotene Herrschaft in den Niederlanden ab und herrscht fortan im Witwenhof, wo sie um ihren Mann trauert. „Ze Wormez bî dem münster ein gezimber man ir slôz, / wît und vil michel, rîch unde grôz, / dâ si mit ir gesinde sît âne vreude saz“ (1102, 1–3).

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lust wird Kriemhilt zwar nicht vergolten, wie sie kommentiert. Doch es bleibt ein anderer Gegenstand übrig: „sô wil ich doch behalten daz Sîfrides swert“ (2372, 2). Sie will Sîfrits Schwert behalten. Das Schwert ist dann gerade nicht metonymisch zu verstehen,43 sondern sehr konkret, als das einzige geraubte Ding aus ihrem vormaligen Schatz, dessen Kriemhilt noch habhaft werden kann und mit dessen Rück-Raub sie die Verhältnisse jedenfalls noch einmal zurechtrücken kann.

VI. Die Goldschmuck tragende Herrscherin Als Kriemhilt zu Etzel aufbricht, ist plötzlich doch noch Gold aus dem Hort vorhanden. „[E]in kleiner Rest vom Rest des unendlichen Reichtums sichert ihr auf der Reise in Bechelarn ihre statusgemäße Verhaltensweise.“44 Doch bei dem Rest an Schatz, den Kriemhilt auf ihre Reise zu Etzel mitnimmt, geht es nicht nur um die Befähigung zum milte-Handeln, sondern auch um die repräsentative Ausstattung von Herrscherin und Gefolge. Ihr Anspruch, eine Herrscherin zu sein, muss im neuen Land daran sichtbar sein, dass sie und ihre Mädchen „vil gezierde“ (1280, 4) tragen. Welche Bedeutung der Erzähler Kriemhilts Ausstattung bei der Ankunft im Land Etzels zumisst, kann ein Vergleich mit dem ersten Zusammentreffen von Sîfrit und Kriemhilt zeigen. Zwar ist Kriemhilt auch hier in prachtvolle Kleider gehüllt, ihre Schönheit aber ist an ihrer Hautfarbe erkennbar, die einen rosenroten Schimmer (vgl. 241, 1) bzw. eine „rôsenrôtiu“ (282, 2), lieblich leuchtende Farbe zeigt. Diese Beschreibung der Braut ist der Minnethematik geschuldet. Anders sieht Kriemhilt bei der ersten Begegnung mit Etzel aus. Zwar besticht sie wieder durch ihre Hautfarbe, als sie ihren Schleier vor ihm anhebt und ihr Antlitz sichtbar macht: „Ûf ruhte si ir gebende: ir varwe wol getân / diu lûht’ ir ûz dem golde“ (1351, 1f. Sie hob den Kopfschmuck an. Ihre schöne Gesichtsfarbe leuchtete aus dem Gold heraus). Aber nun schimmert Kriemhilts Gesichtshaut, weil sich ihr Goldschmuck darin spiegelt. Damit greift der Epiker offensichtlich einen Topos der heroischen Dichtersprache auf: goldgeschmückt („goldhroden“ oder „goldhladen“ u. ä.) sind im Beowulf oder den Heldenliedern der Edda im Wesentlichen Waffen oder Frauen.45

43

44 45

Müller (Anm. 6), S. 150f.: „Sie nimmt sich, was sie sich nehmen kann von dem, was ihr verweigert wurde. Das Zeichen hat vielerlei Bedeutungen: Das Schwert ist Teil aus dem nibelungischen Besitz Sivrits, auf den Kriemhilt Anspruch erhebt; es ist das, was vom Heros übriggeblieben ist; es vertritt metonymisch Sivrit und seine heroische Potenz; aber es ist auch metaphorisch Zeichen der Rache.“ Schulze (Anm. 6), S. 228. Beowulf v. 614, 640 (Wealhtheow), 1948 (Modthritho), 2025 (Freawaru) „goldhroden“; vgl. daneben die Komposita „goldfag“ (goldverziert), „goldhladen“ (goldgeschmückt), „goldwlanc“ (goldstolz). Weitere Nachweise dieser Attribute in: A Concordance to the Anglo-Saxon Poetic Records. Ed. by J. B. Bessinger. Ithaca / London 1978. Vgl. zum Topos der goldgeschmückten Frau Helen Damico: Wealhtheow and the Gold-adorned Femals in Old Norse Heroic Poetry. In: Old

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Wealhtheow tritt im Rahmen des Festes als goldgeschmückt auf, Modthritho und Freawaru werden im Ausblick auf ihre Hochzeiten als goldgeschmückt bezeichnet. Im Nibelungenlied wird dieser Zusammenhang von Goldschmuck der Frau und Fest zweimal für Kriemhilt hergestellt, bei der Hochzeit mit Etzel und – wie bereits zitiert – bei dem Fest in Worms. Vielleicht ist in dem Hinweis darauf, dass Prünhilt nach der Ankunft in Worms eine Krone trägt, ebenfalls eine Reminiszenz an den Topos enthalten, dass eine Braut goldgeschmückt zu sein habe.46 Der Erzähler des Nibelungenlieds hat auf diesen Aspekt der heroischen Tradition, dass sich der Rang der Frau gegenüber dem Mann an dem sie schmückenden Gold bemessen lässt, nicht verzichten wollen, ihn jedoch insofern abgewandelt, dass er nicht das von Kriemhilt zur Schau getragene Gold, sondern – darin stilistisch das Register wechselnd und an die höfischen Schönheitstopoi des ersten Teils anknüpfend – nur dessen Reflexion auf ihrer Haut beschreibt.47 Die Anerkennung als neue Herrscherin durch Etzel erfolgt durch den Kuss, aber eben auch dadurch, dass Kriemhilt noch im Zelt, also lange, bevor sie den Herrschaftssitz Etzelburg erreicht, ein provisorischer Thron errichtet wird.48 Man kann sich fragen, ob in ihrer gattungstypischen Ausstattung mit Gold nicht geradezu eine Verdinglichung der Braut angedeutet wird. Sie tritt sozusagen als goldenes Objekt, als Gabe in die Herrschaftsgemeinschaft mit dem Mann ein. Und der goldene Glanz indiziert den immensen Wert der erworbenen Braut für den Herrschaftsanspruch des erfolgreichen Werbers. Aus der Sicht Etzels ist dann der goldene Glanz seiner Braut eine Verheißung, insofern er sich von ihrem Erwerb eine noch glanzvollere eigene Herrscherposition versprechen darf. Ohne die Erwartungen an die Tragfähigkeit des Topos überziehen zu wollen, ist in diesem Zusammenhang zudem die Belohnung Kriemhilts für die Bereitschaft zur Hochzeit von Interesse. Kriemhilts Rang als Herrscherin ist dann nicht zuletzt an den massenhaften Schätzen ablesbar, die sie von ihren Männern als Morgengabe erhält.49 Von Etzel erhält sie Schätze, die sie im Leben nicht aufbrauchen kann, von Sîfrit den Hort, für den das gleiche Prinzip der Unerschöpflichkeit gilt.

English Newletter 14 (1981), S. 35; sowie Dies.: Beowulf’s Wealhtheow and the Valkyrie Tradition. Madison 1984, sowie Silver (Anm. 14), S. 8f. 46 Dagegen fehlt ein Hinweis auf das Material des Kopfschmucks, als die beiden Bräute Kriemhilt und Prünhilt sich ein erstes Mal begegnen und für den Begrüßungskuss ihre „schapel rucken“ (587, 3). 47 Zum Topos der schönen Frau vgl. Monika Schausten: Vom Fall in die Farbe. Chromophilie in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Beiträge zur deutschen Sprache und Literatur 130 (2008), S. 459–482, hier S. 462 und 471; Elke Brüggen: Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts. Heidelberg 1989 (Beihefte zum Euphorion. 23); Andreas Kraß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen 2006 (Bibliotheca Germanica. 50). 48 „Mit der küneginne, dâ si sît gesaz / ûf rîche stuolgew#te. der marcgrâve daz / hete wol geschaffen, daz man ez vant vil guot, / daz gesidele Kriemhilde. des vreut’ sich Etzelen muot“ (1357). 49 Zur Reziprozität von Gaben im frühen Mittelalter vgl. Hannig (Anm. 32), S. 156f.

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VII. Der fatale Glanz Freilich wäre es verkürzt, wollte man zum Thema Gold im ‚Nibelungenlied‘ allein auf die Präsenz der Dinge abheben. Bei Figurenbeschreibungen geht es auch darum, dass Glanz und Schimmer der Ausrüstung betont und deren Wirkung auf die Zuschauer beschrieben werden. Auch Sîfrit ist im Visier des epischen Blicks,50 wenn die wertvolle Ausstattung beschrieben wird, die er und seine Gefolgsleute bei ihrem Aufbruch nach Worms tragen. Alle dreizehn Recken tragen schimmernde Rüstungen (66), das Sattelzeug ist rot von Gold, und die Pferde sind prachtvoll (68). Auch bei der Ankunft in Worms wird die reiche Ausstattung wahrgenommen. Man sieht, dass die Rüstungen der Ankömmlinge von Gold glänzen (71), dass ihr Sattelzeug von ausgesuchter Qualität (71) und ihre Zügel goldfarben sind (74). Der Auftritt macht den gewünschten Eindruck: „daz volc si allenthalben kapfen an began“ (74, 3). Hier wie in den Schneiderstrophen vor Sîfrits Schwertleite oder den Kleiderbeschreibungen vor dem Aufbruch nach Isenstein wird Gold für die repräsentative Ausstattung der Krieger verwendet, und man wird nicht in jeder Einzelheit überzeugend die höfischen von den hyperbolischen Elementen trennen können.51 Doch einige Passagen der 7. und der 16. Aventiure mit in Gold gekleideten Kriegern lassen sich nicht primär von den Anforderungen einer Poetik der Visualität erklären. Während wir über Gunthers Ausrüstung für den Wettkampf gegen Prünhilt nicht viel erfahren, wird Prünhilt detailliert beschrieben. Nachdem sie die Helden in angemessenem Kleid empfangen hat, zieht sie sich nun um: „si hiez ir gewinnen ze strîte guot gewant, / ein brünne rôtes goldes unt einen guoten schildes rant“ (428, 3f.) Prünhilt legt also einen goldenen Brustpanzer an. Darunter trägt sie ein seidenes Waffenhemd, das sich ebenfalls durch seinen Goldglanz auszeichnet: „ez was vil wolgetân. / von porten lieht gewürhte daz sach man schînen dar an“ (429, 3f.). Es folgt zunächst die Erklärung, dass Sîfrit sich entfernt, dann geht es mit Prünhilts Ausrüstung weiter: 434 Dô was komen Prünhilt. gewâfent man die vant, sam ob si solde strîten umbe elliu küniges lant. jâ truoc si ob den sîden vil manigen goldes zein. ir minneclîchiu varwe dar under hêrlîche schein. 435 Dô kom ir gesinde, die truogen dar ze hant von alrôtem golde einen schildes rant, mit stahelherten spangen, vil michel unde breit, dar under spilen wolde diu vil minneclîche meit.

50 51

Haiko Wandhoff: Der epische Blick. Eine mediengeschichtliche Studie zur höfischen Literatur. Berlin 1996 (Philologische Studien und Quellen. 141). Vgl. Joachim Bumke: Höfische Kultur. Literatur und Gesellschaft im hohen Mittelalter. 2 Bde. München 1986; Brüggen (Anm. 47).

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Prünhilt trägt demnach einen goldenen Brustpanzer, ein leuchtendes Waffenhemd, von dessen Seide eine goldene Borte und goldene Spangen leuchten. Obendrein führt sie einen goldenen Schild mit, dessen Tragriemen, wie weiter ausgeführt wird, so dicht mit Edelsteinen besetzt ist, dass er mit dem Gold des Schildes um die Wette leuchtet (436, 3). Doch obwohl die ganze Frau so leuchtet, als ob sie nach Auffassung des Erzählers in dieser Bewaffnung um aller Herren Länder kämpfen soll, erringt sie in diesem Kampf gerade nicht den Sieg. Die mit Gold markierte Kämpferin verliert. Ihre Parallele findet diese Konstellation kurz vor Sîfrits Tod. Nachdem der fingierte Sachsenkrieg abgesagt und stattdessen eine Jagd angesetzt ist, wird Sîfrits prachtvolles Jagdgewand beschrieben. Jan-Dirk Müller betont, dass die Sorgfalt, die dem Kleid gewidmet ist, die Fallhöhe exponieren soll. Der Tod des Helden erscheint umso schrecklicher, je glänzender dieser zuvor in Erscheinung getreten ist.52 Darüber hinaus aber ist auffallend, dass das Jagdgewand eben nicht nach dem Aufbruch beschrieben wird, sondern erst, als die Jagd im Grunde vorbei ist, nämlich beim Einreiten ins Jagdlager, also unmittelbar vor Sîfrits Ermordung. Damit ist die Fallhöhe noch in anderer Weise betont: Sîfrit trägt Gold. Zu seiner Ausstattung gehört ein Horn von „vil rôtem golde“ (951, 4). Seine Kleidung ist aus verschiedenen Fellen gearbeitet, und darüber gestreut findet man „vil manic goldes zein“, Spangen aus Gold (954). Neben Balmunc, seinem Schwert aus dem Nibelungenland, trägt er dann noch einen Köcher voller guter Pfeile, deren Spitzen mit Gold am Pfeilschaft befestigt sind („von guldînen tüllen“ 956, 3). Der Erzähler beschließt die Beschreibung mit einem Hinweis auf Sîfrits außerordentliche Qualitäten als Jäger: Was er auch traf, das musste sogleich sterben. – Doch dieser Hinweis erfüllt sich nicht. Obwohl der Erzähler im Zusammenhang mit ihrem strahlenden Auftritt die Erwartung für beide Protagonisten in eine andere Richtung lenkt, verlieren Prünhilt und Sîfrit. Dass Krieger goldene Rüstungsgegenstände und Waffen tragen, ist in der Heldenepik nicht ungewöhnlich. Seit Achill im schrecklich-goldenen Glanz vor Troja aufgetaucht ist, scheint eine Faszination im goldglänzenden Krieger zu liegen. Beowulf hat ebenso goldene Rüstungsgegenstände wie die Heiden und Christen im Rolandslied, und Ecke bekommt die ganz aus Gold gefertigte Rüstung Ortnits.53 Doch nicht nur das Gold markiert Sîfrit und Prünhilt in den skizzierten Textstellen als exorbitante Krieger. Die Alleinstellung der beiden Verlierer erfolgt erst durch die hinzutretenden Hinweise auf ihren Übermut. Als übermütig sind beide auch sonst wiederholt im Text charakterisiert, doch gerade im Zusammenhang der hier betrachteten Szene erhält diese Zuschreibung 52

53

Müller 1998 (Anm. 6), S. 248: „sein prächtiges Gewand bei der Jagd (951–957) ist Außenseite seiner wahren ständischen Existenz und führt für alle sichtbar ein letztes Mal seine Geltung bei Hof auf einen unerhörten Gipfel, von dem dann der Absturz umso jäher ist.“ Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Dietrich Kartschoke. Stuttgart 2007, Vv. 4220, 4258, 4377, 8408 u. ö.; goldene Rüstungsteile bei Roland: Vv. 3285, 3293, 3295, 3321, 3388, 3349, 3353. Das Eckenlied. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Text, Übersetzung und Kommentar von Francis B. Brévart. Stuttgart 1986, Str. 21–33.

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ihre besondere Funktion. Dankwart spekuliert vor dem Kampf, dass die „man“ Prünhilts „ir übermüete“ (444, 4) aufgeben würden, wenn die Burgunden nur ihre Waffen hätten; in die gleiche Richtung, nun auf Prünhilt selbst zielend, argumentiert Hagen: Wenn man nur die eigenen Waffen nicht abgegeben hätte, dann würde der Herrin ihr Übermut schon noch vergehen („sô wurde wol gesenpftet der starken vrouwen übermuot“ 446, 4). Und Sîfrit kommentiert die Niederlage Prünhilts entsprechend: „,Sô wol mich dirre m#re‘, sprach Sîfrit der degen, ,daz iuwer hôhverte ist alsô hie gelegen‘“ (474, 2f.). Sie habe nun also endlich, so resümiert Sîfrit weiter, ihren Meister gefunden. Ähnlich wird auch Sîfrit im Zusammenhang mit der Jagd das Attribut des Übermuts zugewiesen. Als er den Bären im Anschluss an die Jagd mit ins Lager der Jäger bringt, da kommentiert der Erzähler: „er brâht’ iz an die fiwerstat durch sînen hôhen muot“ (950, 3), und wenige Strophen später wird nochmals festgehalten, dass der Held „hôhe gemuot“ (955, 4) gewesen sei.54 Diese Kombination von Gold und Übermut eines Helden oder einer Heldin ist im Nibelungenlied sonst nicht zu finden. Allenfalls das Kriegerkollektiv beim Aufbruch nach Worms wird ebenfalls als goldgerüstet und übermütig beschrieben.55 Ich möchte daher so weit gehen, diese Kombination von Attributen im Nibelungenlied nicht nur als Topos der heroischen Diktion für den exorbitanten Krieger einzuordnen,56 sondern zu vermuten, dass mit dieser Prünhilt und Sîfrit fast ausschließlich vorbehaltenen Kombination von Merkmalen dem Publikum ein Signal gegeben werden soll, dass es sich nämlich in beiden Fällen um eine fatale Exorbitanz handelt, die in ihrer Siegesgewissheit für die Gefahren blind ist. So wie Ortnit in seiner goldenen Rüstung im Kampf nicht besiegbar ist, sondern von den Drachenkindern herausgesaugt wird, so wie man Ecke im Schwertkampf in der goldenen Rüstung nicht besiegen, sondern nur darunter erstechen kann, so sind Prünhilt und Sîfrit zwar nicht im Kampf, aber durch List zu besiegen. Während sie in ihrer Siegesgewissheit selber blind sind für diese Möglichkeit, ist diese Haltung auf der Ebene der dargestellten Welt für das Publikum als Anmaßung ausgewiesen. Der Sturz vom Glanz in die Katastrophe ist umso erschreckender, als er für das Publikum, nicht aber für die Figuren vorhersehbar ist. Die „niemals in Frage gestellte und niemals ganz erklärte Tatsächlichkeit des unheilvollen Geschehens“57 ist für den gewarnten Zuhörer umso erschreckender.58 54 55 56

57 58

Zur Ununterscheidbarkeit von hôhem muot und übermuot im Nibelungenlied vgl. Miedema (Anm. 28), S. 80. „Ir ross diu wâren scAne, ir gereite goldes rôt. / lebt’ iemen übermüeter, des enwas niht nôt, / denne w#re Sîvrit und die sîne man“ (68, 1–3). Der Begriff der Exorbitanz bei Klaus von See: Was ist Heldendichtung. In: Europäische Heldendichtung. Hrsg. von dems. Darmstadt 1978 (WdF. 500), S. 1–38; vgl. auch Victor Millet: Germanische Heldendichtung im Mittelalter. Eine Einführung. Berlin 2008. Burghart Wachinger: Studien zum Nibelungenlied. Vorausdeutungen, Aufbau, Motivierung. Tübingen 1960, S. 144. Zur Diskussion einer Anwendung des Begriffs des Tragischen auf das Nibelungenlied vgl. Wolfgang Dinkelacker: Spielregeln, Gattungsregeln. Zur literarischen Gestaltung des Nibelungenlieds.

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Für diese These spricht die Platzierung der Figurenbeschreibungen: Prünhilts Aussehen wird nicht bei ihrem ersten Auftreten beschrieben, sondern unmittelbar vor dem Kampf, den sie verlieren wird. Sîfrits Jagdausrüstung wird nicht vor der Jagd beschrieben, sondern nachdem die Jagd beendet ist, also unmittelbar vor seiner Ermordung. Diese auffällig verzögerte Figurenbeschreibung rückt die Markierung mit Gold näher an die Niederlage heran. Diese Möglichkeit ließ sich der Epiker nicht entgehen, obwohl er sich bei Sîfrit den bekannten Widerspruch einhandelte, dass Kriemhilt sein Kriegs-, nicht aber das Jagdgewand mit dem Kreuz markiert hat.59 Das hier angewandte präfigurierende Verständnis lässt sich mit der Poetik der Vorausdeutungen in Einklang bringen. Interessant ist das Geflecht, das hier entsteht: Der Tod Sîfrits wird von der ersten Aventiure an in einer Reihe von Vorausdeutungen angesprochen.60 Vor seinem Tod verdichtet sich das Geflecht noch einmal markant durch Kriemhilts Traum und den Hinweis des Erzählers, dass sich die beiden nie mehr sehen werden.61 Doch unmittelbar vor der Ermordung steuert der Erzähler in eine andere Richtung, wenn er betont, dass Sîfrit eigentlich alle anderen besiegen müsse. Ähnlich weist er bei Prünhilt auf den Eindruck hin, dass sie über alle herrschen müsse. Diese der jeweiligen Katastrophe vorausgehende Irreführung des Erzählers wird durch das jeweilige Gold-Signal auf der Handlungsebene konterkariert.

VIII. Schluss Mit der Beobachtung von Gold und Goldglanz im Nibelungenlied fassen wir eine Sinnschicht, die zum archaischen Substrat des Textes gehört, dessen Regeln und Normen sich in stereotypen Handlungsmustern und Topoi der europäischen Heldenepik niedergeschlagen haben.62 Ob die kritische Reflexion, die wir im Nibelungenlied im Umgang mit dem Regelsystem des heroic age beobachten können, sich erst auf der letzten Stufe der Textentstehung ausgebildet hat, lässt sich nicht sicher entscheiden. Doch da sich einige Beobachtungen zum Thema Gold mit Forschungsergebnissen zum Erzählverfahren des Dichters zur Deckung bringen lassen, liegt es nicht fern, wesentliche Aspekte im spezifischen Umgang mit dem Themenkomplex Gold dem sog. Epiker des Nibelungenliedes zuzuschreiben. Für verallgemeinerbare Schlüsse zur Bedeutung des Themas Gold für Gattung oder Stoffgeschichte ist es zu früh. Die Ergebnisse dieser Studie

59 60 61 62

In: Das Nibelungenlied und die Europäische Heldendichtung. 8. Pöchlarner Heldenliedgespräch. Hrsg. von Alfred Ebenbauer, Johannes Keller. Wien 2006 (Philologica Germanica. 26), S. 57–71. Vgl. Schulze (Anm. 6), S. 135. Wachinger (Anm. 57), S. 17; die präfigurierende Deutung der roten Rüstung Ithers im Parzival bei Schausten (Anm. 47). Schulze (Anm. 6), S. 125f. Zum Begriff des Archaischen ebd., S. 177.

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müssten an anderen Vergleichstexten, zum Beispiel der Klage, dem Waltharius, den Chansons de gestes und der Dietrichepik überprüft werden. Zusammenfassend lässt sich jedoch sagen, dass das Thema Gold auf verschiedenen Ebenen seinen Niederschlag im Text findet, in der Personendarstellung, im Regelsystem, im Erzählverfahren und im Stoff. Die im Zusammenhang mit dem Gold geltenden Regeln für die Konstitution und Demonstration von Herrschaft grundieren auch die Darlegung des epischen Geschehens im Nibelungenlied. Wenn sie auch keineswegs immer handlungskonstitutive Bedeutung haben, so werden sie doch stets mit anderen Regeln mehr oder weniger korreliert. Solche mehrsinnige Motivierung der Handlung kann als typisch für das Erzählverfahren des Nibelungenliedes gelten.63 Handlungskonstitutiv sind die Dinge aus dem Schatz da, wo sie die Eskalation des Konflikts anstoßen, weil sie den Sieg über den Vorbesitzer beweisen. Dinge, die durch ihre kostbare Ausstattung oder ihr kostbares Material der Prachtentfaltung dienen sollten, mutieren mit ihrem Raub zu Herrschaftszeichen der neuen Besitzer. Im Hinblick auf die Figurenbeschreibung zeigt sich, dass der heroische Topos der goldgeschmückten Frau in die höfische Typisierung der Personenbeschreibung integriert wird. Indem der Erzähler im Blick auf Kriemhilt nicht den getragenen Goldschmuck, sondern den durch das Gold bewirkten Glanz auf der Haut beschreibt, findet er einen Modus, die alten m#ren mit ihrer Gattungserwartung der Gold tragenden Frau an die literarischen Vorstellungen der Gegenwart heranzurücken. Mit diesem Verfahren wird aber nicht nur an die heroischen Implikationen der Verbindung von Frau und Gold erinnert, sondern Kriemhilds Beschreibung indiziert auch im Nibelungenlied eine herrschaftspolitische Verheißung, die sich freilich – im Falle Etzels – gerade nicht erfüllt. Auffallend für das Erzählverfahren des Epikers ist zudem, dass die Ambivalenz des Goldbesitzes, auf die in der Heldenepik stereotyp verwiesen wird,64 im Nibelungenlied kaum thematisch wird. Nur für die Nebenfigur des Fährmanns wird (wie oben zitiert) punktuell auf den Zusammenhang von Goldgier und Verhängnis hingewiesen. Misst man jedoch den Personenbeschreibungen des übermütigen und goldgrüsteten Sîfrit und der übermütigen und goldgerüsteten Prünhilt präfigurierende Bedeutung zu, dann ist die Kenntnis der kulturellen Erklärungsformel, dass Gold in den Untergang führt, die notwendige Bedingung für die Transparenz der Vorausdeutungen. Die ambivalente Bewertung des Goldes als Zeichen für Auserwähltheit und Verhängnis zugleich wäre dann als bekannte Deutungsstereotype vom Epiker zwar vorausgesetzt,65 doch taugen Hinweise 63 64

65

Vgl. ebd., S. 259. Z. B. Beowulf Vv. 2799f., 3012f., 2764f. zur Kritik am Streben nach Goldbesitz; Vv. 774 und 994 die Nennung von goldener Ausstattung der Halle mit der Vorausdeutung auf kommende Katastrophen; in V. 2764 die Koppelung von Übermut und Goldbesitz als Warnung vor der Gier nach Gold; im Rolandslied werden die goldglänzenden Rüstungen der Heiden abgewertet als nichtig und Ausdruck von „hoffart“ (vgl. V. 4886); im Eckenlied wird Ecke im Anschluss an die Beschreibung der goldenen Rüstung von einem Alten gewarnt, dass sein Übermut kein gutes Ende nehmen werde (Str. 28). Vgl. ‚Gold‘. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 4 (1999), Sp. 1535–1538, hier Sp. 1537f.

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auf die Präsenz des Goldes in seinem Text kaum mehr zur Begründung des katastrophalen Geschehens. Gerade deshalb sind die vielen Bezugnahmen auf goldene Gegenstände bzw. goldgerüstete oder -gekleidete Figuren mehr als eine gattungstypische Reminiszenz auf den Zusammenhang von Gold und Herrschaft. Die rekurrente Akzentuierung ihrer Verbindung ist im Nibelungenlied vielmehr eine jener narrativ ausgebeuteten Möglichkeiten, die Ambiguität des erzählten Geschehens zu untermauern: So sind etwa Ring und Gürtel Prünhilts in den Händen Kriemhilds nicht allein Hinweise auf ein Betrugsgeschehen, sondern die kostbaren Dinge signifizieren – wenn man so will – zugleich einen mit welchen Mitteln auch immer erworbenen Anspruch Sîfrits und Kriemhilts auf die soziale Vorrangstellung gegenüber der burgundischen Herrscherin.

Haiko Wandhoff

Schwarz auf Weiß – Rot auf Weiß Heraldische Tinkturen und die Farben der Schrift im Parzival Wolframs von Eschenbach

Im Lauf des 12. Jahrhunderts bildet sich mit den Tinkturen der Heraldik ein historisch wohl einzigartiger Farbendiskurs heraus. Rasch verbreitet sich die neue Mode, den Schild und dann auch die Kleidung des Ritters mit einem farblich signifikanten Wappen zu versehen, über ganz Europa. Die Ursachen für die merkwürdige Erscheinung des Wappenwesens sind umstritten. In der älteren Forschung sah man in den Kreuzzügen mit den weithin sichtbaren Kreuzzeichen der Ritter ein wichtiges Vorbild. Zudem führte man die Notwendigkeit, ein Wappen als äußeres Erkennungszeichen zu tragen, auf veränderte militärtechnische Gegebenheiten zurück, insbesondere auf die Einführung des voll geschlossenen Helms, der das Gesicht des Kämpfers unsichtbar machte.1 Neuere Forschungsansätze stellen den Siegeszug der Heraldik dagegen eher in einen Zusammenhang mit dem aufkommenden Turnierwesen und einer neuen Form aristokratischer Repräsentation.2 Die etwa zeitgleich aufkommende höfische Literatur scheint diesen Befund zu stützen: Einen der wohl frühesten Belege für die Verwendung von mhd. wâfen im Sinne von Wappen (und nicht Waffe) liefert Hartmanns Erec:3 Die Wappenbeschreibung findet sich inmitten einer umfangreichen Turnierschilderung am Hof von König Artus. Der junge Ritter Erec tritt hier dreimal mit dem gleichen Wappenzeichen an – einem Frauenärmel –, wechselt aber ohne ersichtlichen Grund jedes Mal seine Farben. Wie immer man sich die Genese des Wappenwesens denkt: Der Siegeszug der Heraldik ist ohne Zweifel eng mit dem Aufstieg der weltlichen Hofkultur verbunden, in der seit dem 12. Jahrhundert neben der volkssprachigen Literatur zugleich bildliche 1 2

3

So etwa Donald Lindsay Galbreath: Handbüchlein der Heraldik. Lausanne 21948, S. 14f. oder Ottfried Neubecker: Heraldik. Wappen – ihr Ursprung, Sinn und Wert. Frankfurt / M. 1977, S. 84–86. Siehe Lutz Fenske: Adel und Rittertum im Spiegel früher heraldischer Formen und deren Entwicklung. In: Das ritterliche Turnier im Mittelalter. Beiträge zu einer vergleichenden Formen- und Verhaltensgeschichte des Rittertums. Hrsg. von Josef Fleckenstein. Göttingen 1985 (Veröffentlichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte. 80), S. 74–160, hier S. 144f.; Václav Vok Filip: Einführung in die Heraldik. Stuttgart 2000, S. 32; Georg Scheibelreiter: Wappen und adeliges Selbstverständnis im Mittelalter. In: Das Mittelalter 11 / 2 (2006), S. 7–27. Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von Manfred Günther Scholz. Übers. von Susanne Held. Frankfurt / M. 2007 (Deutscher Klassiker-Verlag im Taschenbuch. 20), V. 2285–3214.

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Darstellungs- und Denkformen an Bedeutung gewinnen.4 Doch während das Mittelalter insgesamt dazu tendiert, Bilder, Farben und Formen allegorisch zu lesen, geht das Wappenwesen einen anderen Weg. Den klar definierten heraldischen Farben werden zunächst keine allegorischen Bedeutungen zugeordnet – was nicht heißt, dass diese sich nicht später bzw. in bestimmten Gebrauchszusammenhängen doch noch ausbilden können. Die für das Wappen in Frage kommenden Tinkturen sind für sich genommen bedeutungslos; sie erzeugen erst in der Kombination mit einer anderen Farbe (und ggfs. einer Figur) ein genealogisches Abzeichen. Entscheidend sind dabei stets die Farben, nicht die Figuren. So gibt es Wappen ohne Figur, aber ein Wappen ohne Farbe ist undenkbar.5 Die heraldischen Tinkturen müssen auf dem Schild zu einem kontrastreichen Zeichenensemble kombiniert werden, welches auch aus der Ferne und in Bewegung klar erkennbar ist. Das Grundprinzip ist einfach: Man wählt idealer Weise zwei kräftige Grundfarben, von denen eine Weiß oder Gelb sein sollte; diese Farben stehen für die Metalle Silber und Gold, die mit den Pelzen Schwarz (Zobel) und Rot (Kehle) sowie mit den Farben Grün oder Blau kombiniert werden können: Weiß, Gelb, Schwarz, Rot, Blau und Grün. Dies sind die sechs heraldischen Tinkturen, die in den nachfolgenden Jahrhunderten nur noch um Nuancen ergänzt werden. In der Kombination von Figur und Grund, Hell und Dunkel, Farbe und Figur ist das Wappen aber nicht nur einem Bild, sondern auch einer Schrift ähnlich. So haben Heraldiker versucht, das Wappen als ein Drittes zwischen Bild und Schrift zu fassen: „ein Schreiben“, wie Waltraud Gut formuliert hat, „das im Duktus des Malens ausgeführt sein will.“6 Die Gründe dafür sind vielfältig: Zum einen kann man ein Wappen wie einen Text lesen, von links oben (= heraldisch rechts oben) nach rechts unten (= heraldisch links unten). Zum andern werden Wappen nach einer bestimmten, regelhaften Kombinatorik erzeugt, wobei erst der Zusammenhang der arbiträren Einzelzeichen sinnhaft lesbar ist. Diese Tendenz des Wappens zur Schrift zeigt sich am deutlichsten im Genre der redenden Wappen (armes parlantes), wo etwa ein Bild des Hechts den Adligen gleichen Namens bezeichnen kann oder der über einer Burg abgebildete Wolf die Stadt Wolfsburg darstellt. Anders gesagt: Das redende Wappen bringt ein Wort zum Vorschein, indem es dieses unter einem Bild verbirgt.

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Siehe Michael Curschmann: Pictura laicorum litteratura? Überlegungen zum Verhältnis von Bild und volkssprachlicher Schriftlichkeit im Hoch- und Spätmittelalter bis zum Codex Manesse. In: Pragmatische Schriftlichkeit im Mittelalter. Erscheinungsformen und Entwicklungsstufen. Hrsg. von Hagen Keller u. a. München 1992 (Münstersche Mittelalter-Schriften. 65), S. 211–229; Zur Bildlichkeit mittelalterlicher Texte. Themenheft der Zeitschrift Das Mittelalter 13 / 1 (2008). Hrsg. von Haiko Wandhoff, hier bes. Ders.: Einleitung, S. 3–18. Aus diesem Grund ist die oben erwähnte Erec-Stelle so interessant, denn man kann bei einem Wappen eigentlich nicht die Farben wechseln, ohne damit zugleich das Wappen zu verändern. Waltraud Gut: „Schwarz auf Weiß“. Maske und Schrift des heraldischen Ornaments. Stuttgart und Weimar 2000, S. 110. Filip (Anm. 2), S. 22 sieht im Wappen eine „Bilderschrift“, aber auch „eine Art Schrift“.

Schwarz auf Weiß – Rot auf Weiß

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Die Heraldik treibt also ein ebenso bild- wie schriftaffines Spiel mit der Verhüllung und weist darin Berührungspunkte mit den Identitätsverhandlungen des höfischen Romans auf. Das prekäre Verhältnis von Außen und Innen, Öffentlichkeit und Heimlichkeit, Rolle und Identität ist ein zentrales Thema des literarischen Diskurses um 1200, das sich besonders in der Suche des ritterlichen Helden nach seiner eigenen Identität verdichtet. Dabei werden zwar anfangs, in der Frühzeit des höfischen Romans, nur wenige Wappen beschrieben, aber die narrativ ausgefaltete ritterliche Suche spiegelt sich nicht selten in heraldischen Konstellationen. Zwei Beispiele seien kurz in Erinnerung gerufen: Im Iwein Hartmanns von Aue muss der in Unehre gefallene Protagonist sich einen neuen Namen machen, indem er vor der höfischen Öffentlichkeit eine Art Tarnidentität annimmt. Als namenloser Ritter mit dem Löwen wird jener Kämpfer für Recht und Ordnung im Land bekannt, der doch eigentlich, unter seinem Schleier – wie wir Leser wissen – Iwein ist. Der Löwe wird zu seinem äußeren, quasi-heraldischen Erkennungszeichen, das seine wahre, innere Identität zugleich verhüllt und anzeigt, denn es ist die Kühnheit Iweins, wie später bekannt wird, die sich in den Taten des Löwenritters öffentlich sichtbar offenbart. Im wohl nur wenige Jahrzehnte später entstandenen Bilderzyklus auf der Burg Rodenegg in Südtirol hat sich Iweins narratives Erkennungszeichen dann zu einem konventionellen Löwen-Wappen verfestigt (vgl. Abb. 12, Bildteil).7 Mein zweites Beispiel entnehme ich dem Tristan Gottfrieds von Straßburg. Hier dient dem Protagonisten sein mit einem schwarzen Eber geschmückter, glänzend weißer Wappenschild nicht nur dazu, die Schwerthiebe seines Gegners Morolt abzuwehren. Nach dem Kampf setzt der siegreiche Ritter ihn auch dazu ein, seine vom Gegner geschlagene, tödliche Wunde vor der Öffentlichkeit zu verbergen.8 Die geschickte Verhüllung durch den Schild, die einen Unterschied zwischen Außen- und Innenperspektive, Öffentlichkeit und Heimlichkeit einführt, kann zugleich als eine Enthüllung gelesen werden: Tristans „heraldisches Gesicht“, wie Hans Belting das Wappen treffend genannt hat,9 das Eberwappen und die aus Liebespfeilen bestehende Helmzier, verdeckt das innere Zeichen der Todes durch ein äußeres Zeichen der Liebe. Die tödliche Wunde kann nur in Irland von der alten Isolde geheilt werden, und dort wird Tristan mit dem Gegengift in Gestalt der jungen Isolde zugleich die Minne finden, die am Ende wiederum den Tod in sich trägt. Das unlösbare Ineinander von Liebe und Tod, von dem Gottfrieds Roman handelt, wird auf diese Weise in einer heraldischen Konstellation vorweg genommen – einer mise en abyme im eigentlichen Wortsinn, denn André Gide hat den Terminus bekanntlich aus dem Wappenwesen entliehen –, lange bevor Tristan überhaupt als Liebender in Erscheinung tritt. 7 8 9

Siehe dazu Volker Schupp und Hans Szklenar: Ywain auf Schloß Rodenegg. Eine Bildergeschichte nach dem „Iwein“ Hartmanns von Aue. Sigmaringen 1996. Gottfried von Straßburg: Tristan. Nach dem Text von F. Ranke hrsg., übersetzt und kommentiert von Rüdiger Krohn. 3 Bde. Stuttgart 82008, V. 6587–6598 und 7131–7135. Hans Belting: Wappen und Porträt. Zwei Medien des Körpers. In: Das Porträt vor der Erfindung des Porträts. Hrsg. von Martin Büchsel, Peter Schmid. Mainz 2003, S. 90–100, passim.

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Im Folgenden möchte ich einen höfischen Roman in den Blick nehmen, der Farben und Wappen besonders auffällig verwendet, nämlich Wolframs von Eschenbach Parzival. Die Frage, wie sich in diesem Text allegorische und heraldische Farbendiskurse zueinander verhalten, wird uns auf eine weitere chromatische Dimension führen, die beim Lesen nur allzu oft übersehen wird, obwohl wir sie gerade dabei unmittelbar vor Augen haben: die Farbe der Schrift. Ulrich Ernst hat uns daran erinnert, dass auch die Schrift niemals farblos ist, sondern sich ebenfalls – wie das Wappen – mit einer kräftigen Farbe von einem andersfarbigen Hintergrund kontrastreich abheben muss. Dies ist nicht immer Schwarz auf Weiß, denn gerade im Mittelalter ist das Schriftbild, wenn man an Goldschriften, Rubrizierungen oder Marginalien denkt, mitunter eine ziemlich bunte Angelegenheit.10 Für die mittelalterlichen Dichter eröffnet sich dadurch die Möglichkeit, bei der Einrichtung ihrer Texte auch auf die Schriftfarben auszugreifen, um sie in ihre poetologische Selbstreflexion einzubeziehen.

I. Wolfram Parzival beginnt im Zeichen des größtmöglichen Gegensatzes, wie ihn die Farben Weiß und Schwarz wohl kulturübergreifend symbolisieren: als fundamentaler Gegensatz von Licht und Finsternis, Gut und Böse, Himmel und Hölle. Im Prolog werden wir mit einem Gleichnis konfrontiert, das für die nachfolgende Erzählung einen gemischten Heldentyp in Anschlag zu bringen scheint:11 gesmæhet unde gezieret ist, swâ sich parrieret unverzaget mannes muot, als agelstern varwe tuot. der mac dennoch wesen geil: wand an im sint beidiu teil, des himels und der helle. der unstæte geselle hât die swarzen varwe gar, und wirt och nâch der vinster var: sô habet sich an die blanken der mit stæten gedanken. (Parz. 1,3–14)

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Ulrich Ernst: Farbe und Schrift im Mittelalter unter Berücksichtigung antiker Grundlagen und neuzeitlicher Rezeptionsformen. In: Testo e immagine nell’ alto medioevo. Hrsg. von Ovidio Capitani. Spoleto 1994 (Settimane di studio della fondazione Centro italiano di studi sull’alto medioevo. XLI), S. 343–415. Zitate nach: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Mittelhochdeutscher Text nach der 6. Ausgabe von Karl Lachmann. Übersetzung von Peter Knecht. Berlin / New York 1998. Die Übersetzungen habe ich, wo es mir nötig erschien, verändert.

Schwarz auf Weiß – Rot auf Weiß

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[Schande und Schmuck sind beieinander, wo eines Mannes unverzagter Mut gemustert gehen will wie Elsternfarben. Der kann dennoch glücklich sein, denn an ihm ist etwas von beidem: vom Himmel und von der Hölle. Wer sich mit der Treulosigkeit zusammen tut, der hat die schwarze Farbe ganz und muss auch nach der Finsternis geraten. Und so hält der, der fest steht und treu, es mit dem Weißen.]

Der farbliche Gegensatz von Schwarz und Weiß wird hier allegorisch ausgelegt: in einem „dualistische[n] Aufriss“, so Kurt Ruh, werden „staete – weiß – Himmel“ und „unstaete – schwarz – Hölle“ gegenüber gestellt.12 Das Bild der zweifarbigen Elster, in deren Gefieder beide Farben vereint sind, taucht noch öfter im Text auf; es scheint demnach um die rechte Mischung aus Weiß und Schwarz, Gut und Böse zu gehen. Was damit genau gemeint ist, wird jedoch nicht klar und ist in der Forschung umstritten. Zumeist wird dieses Programm auf Parzival bezogen, den etwas anderen, nicht nur leuchtend-vorbildhaften Helden, der jedoch durchgängig als innerlich rein und treu beschrieben wird. Da seine Verfehlungen überdies durch mangelhafte Ausbildung begründet sind, wird man sich ihn kaum als den schwarz-weiß gescheckten Menschentyp vorstellen, der mit einem Bein in der Hölle steht.13 Nun realisiert sich der im Prolog angeschlagene Kontrast von Schwarz und Weiß im Roman zunächst auch auf einer ganz anderen Ebene. Im ersten Buch, also im unmittelbaren Anschluss an den Prolog, werden wir in eine epische Welt geführt, in der die Menschen nach schwarzer und weißer Hautfarbe unterschieden werden. Wolfram hat die beiden Bücher über Parzivals Vater Gahmuret und seine Mutter Herzeloyde bekanntlich neu gedichtet:14 Gahmuret zeugt in diesem Teil zwei Söhne: den ersten, Feirefiz, mit der schwarzhäutigen, orientalischen Königin Belakane; er wird später auf wunderbare Weise eine schwarz-weiß gescheckte Haut aufweisen. Den anderen Sohn, Parzival, den eigentlichen Romanhelden, zeugt er mit der weißen Königin Herzeloyde, nachdem er Belakane verlassen hat – angeblich wegen ihres heidnischen Glaubens, wie er ihr in einem eigenhändig geschriebenen Brief mitteilt. Von diesem Schriftstück wird noch zu reden sein. Aus dem Zusammentreffen von Weiß und Schwarz, Gahmuret und Belakane entsteht also buchstäblich ein neuer, schwarz-weißer Held, den es in Chrétiens de Troyes Perceval ou Le Conte du Graal, Wolframs Vorlage, noch nicht gab. Als die Brüder gegen Ende der Handlung aufeinander treffen und Parzival Feirefiz erkennt, spricht er aus, was ihm zuvor nur erzählt worden war, dass dieser nämlich eine Haut habe, die wie beschriebenes Pergament aussieht: „‚als ein geschrieben permint, / swarz unde blanc her unde dâ, / sus nante mirn Eckubâ‘“ (Parz. 747,26–28). 12

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Kurt Ruh: Höfische Epik des deutschen Mittelalters II. „Reinhart Fuchs“, „Lanzelet“, Wolfram von Eschenbach, Gottfried von Straßburg. Berlin 1980 (Grundlagen der Germanistik. 25), S. 80. Vgl. Monika Schausten: Suche nach Identität. Das „Eigene“ und das „Andere“ in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln 2006 (Kölner Germanistische Studien. N.F. 7), S. 76f. Zur Forschungsdiskussion siehe Joachim Bumke: Wolfram von Eschenbach. Stuttgart / Weimar 8 2004 (Sammlung Metzler. 36), S. 40–44 und 263–265. Zur Diskussion um mögliche Vorlagen der Gahmuret-Geschichte siehe Bumke (Anm. 13), S. 241f.

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Es könnte also auch Feirefiz sein, auf den das schwarz-weiße Programm des Prologs zutrifft, nur dass die moralischen Konnotationen hier ins Leere laufen. Feirefiz ist ein zwar ungetaufter, merkwürdig hybrider, halb westlicher und halb orientalischer, auf alle Fälle aber untadliger Held. Seine wunderbare, schwarz-weiße Haut wird neben dem Bild der Schrift auf Pergament auch mit dem Gefieder der Elster (Parz. 57,27) und dem heraldischen Feh-Muster verglichen (Parz. 810,10). Stellt man in Rechnung, dass der Schreibstoff Pergament im Mittelalter tatsächlich aus (Tier-)Haut hergestellt wurde, dann wird man diese von Wolfram neu eingeführte Figur vielleicht als eine wandelnde Schriftmetapher verstehen können, die unsere Aufmerksamkeit vom Erzählinhalt auf den Erzählakt lenken soll: als verhüllte Selbstanzeige eines Dichters, der später als Wolfram von Eschenbach mit seinem Eigennamen in Erscheinung treten wird. Mit Hilfe seiner anderen beiden Kreationen aus Schwarz und Weiß, Belakane und Gahmuret, hat dieser Dichter dem von Chrétien übernommenen Protagonisten einen Bruder an die Seite gestellt, eine wunderbar-kuriose Kunstfigur aus Tinte und Pergament, die letztlich seine eigene dichterische (Zu-)Tat, seine eigene (Hand-)Schrift anzeigt. Das Mittelalter konnte, was noch zu wenig beachtet wird, auf eine reiche, antike Epentradition zurückgreifen, in der die artistisch verhüllte Selbstanzeige des Autors im Text als Ausweis großer Dichtkunst galt und geradezu zwingend erwartet wurde. Dazu zählte insbesondere die Markierung des eigenen artificium in der Wiedererzählung fremder Stoffe und Kunstwerke.15 So gesehen wäre Feirefiz zunächst einmal Wolframs Figur, die nicht zufällig genau – und nur – in den Textpartien auftaucht, für die es in Chrétiens Fragment gebliebenem Perceval keine Vorlage gab: Gezeugt durch den initialen Zusammenprall von Schwarz und Weiß in der neu entworfenen Vorgeschichte, tritt Feirefiz gegen Ende des Romans erstmals leibhaftig in Erscheinung, kurz bevor Parzival endgültig zum Gral berufen wird. Bei der zweiten und erlösenden Gralseinkehr, die Chrétien nicht mehr erzählt, darf er seinen Bruder begleiten, den neuen Gralskönig, um die ehemals düstere Gralswelt durch seine Fixierung auf die Liebe in ein neues, heiterironisches Licht zu tauchen.

II. Der Gegensatz von Schwarz und Weiß bildet sich in Wolframs Gahmuret-Büchern aber nicht nur auf der Haut handelnder Figuren ab, sondern auch in heraldischen Zeichen. Nach dem Tod seines Vaters erbt Gahmurets älterer Bruder die Herrschaft über Anschouwe. Obwohl er den Jüngeren, der leer ausgeht, zum Bleiben veranlassen will, 15

Siehe Douglas Kelly: The Conspiracy of Illusion. Description, Rewriting, and Authorship from Macrobius to Medieval Romance. Leiden u. a. 1999. Vgl. Franz-Josef Worstbrock: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna vitrea. 16), S. 128–142.

Schwarz auf Weiß – Rot auf Weiß

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verlässt Gahmuret die Heimat und nimmt eine neue Identität an: Er lässt überall weiße Anker auf seine grüne Kleidung und Rüstung aufbringen. Dieses Wappen soll auf sein Leben als fahrender Ritter verweisen, so hören wir den Erzähler sagen, auf den umherziehenden Fremdling, der noch keinen festen Grund gefunden habe (Parz. 14,29–15,7). Das Ankerwappen ist also einem redenden Wappen verwandt, indem seine Figur auf eine bestimmte Wesensart des Wappenträgers verweist.16 An diesem äußeren Erkennungszeichen wird Gahmuret fortan immer wieder erkannt und identifiziert. Bemerkenswert scheint mir nun, dass Gahmuret dieses Wappen frei wählt, ja, wählen darf; dafür bittet der Erzähler sein Publikum ausdrücklich um Erlaubnis: „nu erloubt im daz er müeze hân / ander wâpen denne im Gandîn / dâ vor gap, der vater sîn“ (Parz. 14,12– 14). Wolfram stellt seinem – hier noch ungeborenen – Helden Parzival also nicht nur einen schriftartigen Bruder, sondern auch einen Vater an die Seite, der gewissermaßen zum Autor seiner eigenen Figur wird.17 Gegen die vorgegebene, genealogische Identität setzt er den eigenen, weithin sichtbaren Signifikanten, mit dem er alles beschriften lässt: kouvertiure, schilt und wât, wâpenroc und kursît werden mit dem Anker bemalt und bestickt, und auf dem Helm trägt er den Anker als plastisches Zimier (Parz. 14,15–28). Bis zum Tod des Bruders trägt er dieses Wappen, ehe die Herrschaft über Anschouwe schließlich doch noch an ihn fällt und er den Anker gegen das tradierte Familienwappen eintauscht; „dez pantel, daz sîn vater truoc, / von zoble ûf sînen schilt man sluoc.“ (Parz. 101,7f.). Erstaunliche Dinge geschehen nun, als Gahmuret nach Patelamunt gelangt, zur belagerten Burg der schwarzen Königin Belakane von Zazamanc. Bei seinem weithin beachteten Einzug scheint das Wappen plötzlich seine Farben geändert zu haben, denn von der Burg aus ist ein Anker aus schwarzen Zobelfellen auf weißem Grund zu sehen: dô truoc der helt milte ûf einem hermîn schilte ine weiz wie manegen zobelbalc: der küneginne marschalc hetez für einen anker grôz. ze sehen in wênic dar verdrôz. dô muosen sîniu ougen jehen daz er hêt ê gesehen disen ritter oder sînen schîn. (Parz. 18,5–13) [Auf dem hermelinweißen Schild trug der freigebige Held ich weiß nicht wie viele Zobelbälge: dem Marschall der Königin kam das wie ein großer Anker vor. Diesen hier zu erblicken war ihm

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Vgl. zu solchen symbolischen Wappen Gerard J. Brault: Early Blazon. Heraldic Terminology in the Twelfth and Thirteenth Centuries with Special Reference to Arthurian Heraldry. Woodbrigde / Rochester 21997, S. 23f. So Dietmar Peschel-Rentsch: Wolframs Autor. In: Ders.: Gott, Autor, Ich. Skizzen zur Genese von Autorbewusstsein und Erzählerfigur im Mittelalter. Erlangen 1991, S. 158–179, hier S. 176: „Der Anker ist Gahmurets eigene Erfindung.“

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nicht im geringsten ärgerlich, denn seine Augen sagten ihm sofort, dass er diesen Ritter – oder seine blitzende Erscheinung – schon einmal gesehen hatte.]

Es ist verwunderlich, dass der Anker, an dem Gahmuret in der Fremde wiedererkannt wird, plötzlich schwarz auf weiß vor uns auftaucht, und ein solcher Farbenwechsel ist, wie erwähnt, heraldisch eigentlich unzulässig. Gleichwohl wird die Farbe-Metall-Regel in beiden Fällen eingehalten: Grün auf Weiß und Schwarz auf Weiß sind gleichermaßen plausible Farbkombinationen. Aus der Handlung heraus ist dieser Farbenwechsel kaum zu motivieren, aber vielleicht hilft auch hier eine poetologische Lesart weiter: Mit schwarzer Figur in weißem Feld wird das Wappen einer Schrift noch ähnlicher, und diesen Eindruck verstärken die vielen kleinen Zobelbälge, aus denen sich der große Anker zusammenfügt: Man mag an einen großen Signifikanten denken, der aus diskreten Einzelbuchstaben gebildet ist. Der Farbenwechsel vollzieht sich außerdem zu einem Zeitpunkt, als Gahmuret, der Weiße, ins Land der Mohren kommt, wo sein Anker zum ersten Mal in festen Grund gehen wird – wenn auch nur vorübergehend. Der schwarze Anker gräbt sich in den weißen Sand von Patelamunt, wo er in Gestalt von Feirefiz wahrhaft bleibende Spuren hinterlassen wird: Spuren, von denen es später heißen wird, sie sähen aus wie beschriebenes Pergament. Es entsteht auf diese Weise eine Analogie zwischen der Figur Gahmuret und dem Autor Wolfram von Eschenbach, die beide gleichermaßen als Erfinder des Ankerwappens gelten können.18 Der erfindende Erfinder Wolfram versteckt sich hinter seinem erfundenen Erfinder Gahmuret, und doch kommt er in diesem auch zum Vorschein. Denn der Anker ähnelt nicht nur einem Pflug, wie er im Mittelalter häufig als Metapher des Schreibens verwendet wird, sondern er sieht auch dem Buchstaben W, der Initiale Wolframs, verblüffend ähnlich (vgl. Abb. 13 und 14, Bildteil). Das von Gahmuret frei und ohne Not gewählte Anker-Wappen hält in Patelamunt also öffentlich und in Schwarz auf Weiß zugleich die Initiale seines Autors hoch, der gerade hier etwa Neues und Wunderbares erschafft. Seinen vollen Namen hält der Dichter noch zurück. Er führt ihn erst ein, als mit Parzival der eigentliche Romanheld geboren worden ist: „ich bin Wolfram von Eschenbach“ (Parz. 114,12), heißt es später über den, der hier noch mit seiner Initiale W im heraldischen Gesicht des Anker-Wappens verborgen ist. So öffnet sich im Parzival ein Spielfeld des Erzählens zwischen den Feldern Schwarz und Weiß, auf dem der frei erfundene Anker als Zeichen des Fingierens zugleich die Autorinitiale W in Stellung bringt. Die Grenzen zwischen dem Erzählinhalt und dem Erzählakt werden dabei tendenziell durchlässig. Der Romanautor, der sich selbst als Ritter und sein Erzählen als Kampf mit Schwert und Lanze darstellt, wird zum Mitspieler seiner Figuren, und diese Figuren werden zu Autoren ihrer eigenen Identität. 18

Diese Komplizenschaft zwischen dem Autor und seiner Figur ähnelt der Situation im Iwein (bzw. Yvain), wo der Protagonist mit seiner neuen Identität als Löwenritter zum Urheber einer neuen Geschichte wird, die zugleich die neue Geschichte Hartmanns (bzw. Chrétiens) ist: Yvain ou Le Chevalier au Lion.

Schwarz auf Weiß – Rot auf Weiß

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Im Zeichen des schwarzen Ankers auf weißem Grund also begegnet Gahmuret der heidnischen Königin Belakane, deren dunkle Erscheinung hervorgehoben wird: „nâch swarzer varwe was ir schîn“ (Parz. 24,11). Die Geschichte ihrer Belagerung, die sie Gahmuret unter Tränen erzählt, ist wiederum in den heraldischen Bannern abgebildet, die die Kampfparteien führen. Vor jedem Burgtor flattert „ein liehter van“ im Wind, „ein durchstochen rîter dran, / als Isenhart den lîp verlôs: / sîn volc diu wâpen dâ nâch kôs.“ (Parz. 30,24–28). Die Männer Isenharts, der im Minnedienst Belakanes starb, haben ein redendes Wappen gewählt, das den Grund ihres Krieges ins Bild setzt: Rache zu nehmen für den toten König. Dagegen setzen die Belagerten ihr eigenes, ebenfalls redendes und also ebenfalls frei erfundenes Wappen: vor ieslîcher porte flouc ob küener schar ein liehter van; ein durchstochen rîter dran, als Isenhart den lîp verlôs: sîn volc diu wâpen dâ nach kôs. ‚Dâ gein hân wir einen site: dâ stille wir ir jâmer mit. unser vanen sint erkant, daz zwêne vinger ûz der hant biutet gein dem eide, irn geschæhe nie sô leide wan sît daz Isenhart lac tôt (mîner frouwen frumt er herzenôt), sus stêt diu künegîn gemâl, frou Belakâne, sunder twâl in einen blanken samît gesniten von swarzer varwe sît daz wir diu wâpen kuren an in (ir triwe an jâmer hât gewin): die steckent ob den porten hôch. […]‘ (Parz. 30,24–31,13) [Vor jedem der Tore flatterte über der Schar der Helden eine leuchtende Fahne, darauf ein durchstochener Ritter. Wie Isenhart den Leib verlor, das wählte sich sein Volk zum Wappen. ‚Dagegen setzen wie ein anderes Emblem und machen ihre Klage still. Unsere Fahnen erkennt man daran, daß sie zwei Finger einer Hand zum Eid erhebt, ihr sei nie ein so großes Leid geschehen wie damals, als Isenhart tot niederfiel – das traf meine Herrin ins Herz –: So also steht, in schwarzer Farbe auf weißen Samt genäht, die Königin dort gemalt vor ihnen, seit wir die Wappen jener sahen, denen die Treue viel Kummer einträgt. Hoch über den Toren stehen unsere Zeichen […].‘]

Schwarz auf weiß werden die Themen des Romans in die Bilderschrift der Heraldik übertragen: Der todbringende Minnedienst und die maßlose Trauer, die er auslöst. Dieser Zustand ruft Gahmuret auf den Plan; indem sich sein zobelschwarzer Anker (und mit ihm Wolframs tintenschwarzes W) zum ersten Mal in den weißen Sand (wie die Feder in das weiße Pergament) gräbt, um ihn zu beenden, wird ein neuer, schwarzweißer Held gezeugt, den es nur in dieser Dichtung gibt. Sein aus Chrétiens Vorlage bereits bekannter Bruder Parzival wird dagegen später wieder unter dem genealogischen

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Zeichen des väterlichen Wappens gezeugt. Und dieser neu eingeführte Feirefiz tritt nicht sogleich als Romanfigur in Erscheinung, sondern wird erst einmal schriftlich angekündigt. Gahmuret informiert Belakane nach seinem Weggang in einem handgeschriebenen Brief darüber, was es mit einem möglichen gemeinsamen Sohn auf sich habe, welcher Herkunft er sei und welche Herrschaftsansprüche er habe. Nicole Müller hat zu Recht darauf verwiesen, dass Feirefiz insofern ein Kind der Schrift ist: „Die Figur wird eigentlich im Brief entworfen“,19 und zwar wiederum von Wolfram und Gahmuret gleichermaßen. Mit Tinte und Pergament fingieren Sie einen Sohn, dessen Haut aussieht wie Tinte und Pergament (auch wenn der Brief diesen Umstand noch nicht erwähnt). Erst danach wird die reale, also fiktionale Geburt des Kindes geschildert (Parz. 57,15–28). Später erkennt auch Parzival seinen Bruder nur, weil ihm von seiner Existenz und seinem Aussehen zuvor bereits erzählt worden war. Feirefiz, der in und durch Schrift Gezeugte, wie Schrift Aussehende, existiert also vor allem in und durch Sprache. Später, als er endlich auch leibhaftig in der Handlung auftritt, wird er unter anderem als Schreibender vorgestellt, der eigenhändig Tinte und Pergament zur Hand nimmt, um Briefe in die Heimat zu senden. Anhand ihrer charakteristischen Schriftzeichen, so heißt es, sind diese Botschaften eindeutig Feirefiz zuzuordnen: „sîn schrift wârzeichens niht verdarb“ (Parz. 785,29). Einmal mehr wird dem Gahmuret-Sohn hier die Schrift zum Wahrzeichen und Erkennungsmerkmal. Es lässt sich also beobachten, dass die neu eingeführte Feirefiz-Figur in mehrfacher Hinsicht schriftgeneriert ist, und es bietet sich daher an, sie als einen Ort poetologischer Selbstreflexion zu lesen. Dafür spricht auch, dass Feirefiz in Wolframs Roman zudem als Vater des sagenhaften Priesterkönigs Johannes ausgegeben wird (Parz. 822,21–25). Dieser Zusammenhang ist einigermaßen abenteuerlich und hat die Forschung stets vor große Rätsel gestellt. Doch ein Bindeglied zwischen Feirefiz und dem Priester Johannes könnte die Briefthematik darstellen: Der im 12. Jahrhundert berühmte Priesterkönig, der in Indien ein sagenumwobenes christliches Reich gegründet haben soll, über das er nun schriftlich den Okzident informiert (so wie Feirefiz seiner Heimat Indien brieflich über das christliche Reich des Westens Bericht erstattet), ist nämlich ebenfalls durch einen spektakulären Brief bekannt geworden, den er 1165 an den byzantinischen Kaiser gesandt haben soll!20 Dieser Brief ist offenkundig eine Fälschung, und das heißt, der Priesterkönig ist wie Feirefiz eine (fiktive) Figur der Schrift, die in einem Brief entworfen und durch einen Brief erkannt wird.21 Damit verschiebt sich der Fokus ein weiteres Mal von der Erzählhandlung auf das Schreiben und die Schrift, in der allein solche 19 20

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Nicole Müller: Feirefiz – das Schriftstück Gottes. Bern u. a. 2008 (Bayreuther Beiträge zur Literaturwissenschaft. 38), S. 55, die allerdings völlig andere Schlüsse aus dieser Einsicht zieht. Bettina Wagner: Die Epistola presbiteri Johannis. Lateinisch und deutsch. Überlieferung, Textgeschichte, Rezeption und Übertragungen im Mittelalter. Tübingen 2000 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. 115). Vgl. Friedrich Zarncke: Der Priester Johannes. In: Abhandlungen der philologisch-historischen Classe der Königlich Sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften 7 (1879), S. 827–1030 und 8 (1883), S. 1–186. Ich danke Christa Bertelsmeier-Kierst für diesen Hinweis.

Schwarz auf Weiß – Rot auf Weiß

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wunderbaren Geschöpfe leben, artistisch vorgestellt und ausgemalt von Dichtern, die sich auf diese Kunst des (Er-)Findens und Fingierens verstehen. Die kühne, geradezu hyperbolisch anmutende Ansippung des sagenhaften Priesterkönigs, den Briefe Schreibenden und im Brief Erkannten, an seine eigene, im Brief entworfene und Briefe schreibende Kunstfigur Feirefiz unterstreicht so in erster Linie Wolframs Virtuosität im Einrichten der Schrift, im Erschaffen und Verknüpfen fiktionaler Erzählwelten. Es ist wohl vor allem „Wolframs geniale Autor-Maske“,22 wie Dietmar Peschel es ausgedrückt hat, die wir sehen, wenn wir Feirefiz betrachten: In dieser Maske bewegt sich der Dichter schließlich selbst zum Gral, um dessen liebesfeindliche Gesetze zu verändern. In dem Gegensatz von Schwarz und Weiß, den der Prolog noch moralisch auszulegen scheint, zeichnet sich gegen Ende des Romans damit immer stärker der Farbkontrast der Schrift ab: Der parrierte Held wird als literarisch fingierter Held greifbar, zumindest aber als dessen Bruder, eine Kunstfigur aus Tinte und Pergament, die die große allegorische Wucht des Prologs schließlich augenzwinkernd umleitet in die äußerst vielgestaltige, wunderbar mäandernde Welt des Erzählens. Der im Roman entworfene, existenzielle Gegensatz von Schwarz und Weiß, Himmel und Hölle ist letztlich ein Effekt der Schrift und ihres virtuosen Gestalters, (s)eine Spur schwarzer Tinte auf weißem Pergament – nicht mehr, aber eben auch nicht weniger.

III. Als der junge Parzival die Einöde von Soltane verlässt und in die Welt hinaus reitet, gibt seine Mutter ihm ein recht schlichtes, ebenfalls schwarz-weißes Weltbild mit auf den Weg, das an die moralisch-metaphysische Farbenlehre des Prologs anzuknüpfen scheint. Sie unterscheidet die glänzende Erscheinung Gottes von der schwarzen Farbe des Teufels: „sîn muoter underschiet im gar / daz vinster und daz lieht gevar“ (Parz. 119,29f.). Parzival folgt dem Glanz der zufällig vorbei reitenden Ritter und landet am Artushof, wo er auf einen vollkommen rot gekleideten Ritter trifft, der sogar seine Waffen hat rot einfärben lassen. Er ist davon so fasziniert, dass er diesen Ritter, Ither von Gaheviez, tötet, um an seine Rüstung zu kommen und schließlich selbst zum Roten Ritter zu werden. Dass der Getötete ein Verwandter seines Vaters ist und seine Tat daher als schwere Sünde zu verbuchen ist, weiß Parzival noch nicht. Fortan reitet Parzival als Roter Ritter durch den Roman und trägt damit für den Leser stets das Stigma des Verwandtenmörders. Monika Schausten hat daher von einem „Fall in die Farbe“ gesprochen, die für Parzival krisenhafte Auswirkungen habe.23

22 23

Peschel (Anm. 17), S. 179. Monika Schausten: Vom Fall in die Farbe. Chromophilie in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 130 (2008), S. 459–482.

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Parzivals Begegnung mit der Farbe Rot, die für lange Zeit zu seinem Erkennungszeichen wird (wie die schwarz-weiße Haut für seinen Bruder Feirefiz), ergänzt und überschreibt den basalen Farbkontrast von Schwarz und Weiß, wie er für die Vorgeschichte kennzeichnend war. Allegorisch ist das Rot im Mittelalter zwischen zwei Polen angesiedelt: Es bezeichnet einerseits das Blut, insbesondere das Blut Christi und der Märtyrer. Andererseits ist das Rot aber auch die Farbe der Liebe – und vielleicht gerade deshalb eine Lieblingsfarbe des Hofes. Beide Bedeutungsfelder werden in der Figur des Roten Ritters aufgerufen, denn Parzival ist einerseits aufgrund seiner großen, inneren kiusche und triuwe zu wahrer Minne fähig, was an der tiefen und dauerhaften Bindung zu seiner Frau Condwiramurs deutlich wird. Dies hindert ihn jedoch nicht daran, aus Unwissenheit das Blut seines Verwandten zu vergießen und damit großes Leid in die Welt zu bringen. Darin liegt die Ambivalenz des Roten Ritters Parzival. Bereits bei seinem Vorgänger hatte die Farbe Rot widerstreitende Bedeutungsaspekte. Monika Schausten etwa hat in der „schreiende[n] Röte“ Ithers ein Zeichen seiner „Maßlosigkeit“ und seines Hochmuts gesehen, das sich von der am Hof grundsätzlich positiven Konnotierung der Farbe Rot abhebt.24 Aus heraldischer Perspektive lässt sich diese Einschätzung stützen, denn ein vollkommen roter Ritter erscheint auch aus Sicht des Wappenwesens einseitig und überzogen: Ihm fehlt das Gegengewicht der zweiten Farbe, genauer: das Metall, also Gold oder Silber, Gelb oder Weiß, als Kontrast zur roten Tinktur. Erst wenn eine zweite Farbe hinzu tritt, wird aus dem monochromen Ritter eine heraldisch signifikante Person. Einfarbige, unmarkierte Ritter werden in der Literatur vor allem dann geschildert, wenn es darum geht, die Identität der Person zu verbergen oder ihren Anfängerstatus hervorzuheben, wenn der Ritter noch ein unbeschriebenes Blatt ist.25 Die Farbe Rot ist im Mittelalter aber auch poetologisch bedeutsam, spielt sie doch in der Praxis der Rubrizierung (von lat. rubricare „rotfärben“, „mit Rubriken versehen“; rubrum „Rötel, Roterde“) eine besondere Rolle als Farbe der Schrift (vgl. Abb. 15, Bildteil). Die Rubrizierung dient dem Eintrag farbiger Gliederungs-, Ordnungs- und Schmuckelemente bei der Herstellung mittelalterlicher Handschriften. Sie erfolgt in einem zweiten Arbeitsgang nach dem Verfertigen der schwarz-weißen Grundschrift. Der Rubrikator schrieb beziehungsweise malte danach in Rot (gelegentlich abwechselnd mit Blau oder Grün) in vom Kopisten freigelassene Räume die vorgesehenen Rubriken. Diese können Überschriften, Kapitelzählungen, Seitentitel, Lemmata, Paragraphzeichen, Strichelungen, Anfangsbuchstaben, einfache Lombarden und Ähnliches sein. Die 24 25

Schausten (wie Anm. 23), S. 476. Brault (wie Anm. 16), S. 29–35. Vgl. Haiko Wandhoff: The Shield as a Poetic Screen: Early Blazon and the Visualization of Medieval German Literature 1150–1300. In: Visual Culture and the German Middle Ages. Hrsg. von Kathryn Starkey, Horst Wenzel. New York 2005, S. 53–71. Im Wigalois werden an einer Stelle heraldisch signifikante Schilde eigens mit rotem Damast überzogen, um sie vorübergehend unkenntlich zu machen (Wirnt von Grafenberg: Wigalois, Text der Ausgabe von J. M. N. Kapteyn. Übersetzt, erläutert und mit einem Nachwort versehen von Sabine Seelbach und Ulrich Seelbach. Berlin / New York 2005, V. 9590–96).

Schwarz auf Weiß – Rot auf Weiß

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Rubrizierung dient also der schmückenden Hervorhebung und Auszeichnung bestimmter Textteile. Bisweilen kam dem Rubrikator auch die Korrektur der von seinen Vorgängern geschriebenen Textteile zu. Allerdings gilt hier, auf dem Pergament, das gleiche wie auf dem Schild: Damit aus dem rubrum, der gelösten Roterde, ein Zeichen werden kann, braucht das Rot eine Kontrastfarbe, von der es sich abheben kann: Silber oder Gold im Wappen, weißes Pergament (und eventuell Blattgold) auf der Buchseite. Das Rot muss mit einer anderen Farbe verschnitten werden, damit es âventiure-fähig werden und eine Geschichte aufzeichnen kann. Dieser Sachverhalt, der für sich genommen banal erscheint, erhält nun eine interessante Entsprechung in der Handlung des Parzival. In der viel diskutierten Blutstropfenepisode, die als Schlüsselpassage des Romans gilt,26 fällt mitten im Sommer Schnee, und das ist mehr als ungewöhnlich in einem Roman um König Artus, dem meienbaeren (Parz. 281,16), bei dem sonst immer Frühling herrscht. Doch in diesem Fall scheint der Schnee nötig zu sein, denn erst seine weiße Farbe verleiht Parzivals Rot einen Kontrast und damit eine neue Bedeutung; erst aus dem Kontrast des Rot mit dem Weiß des Schnees erhält seine âventiure endlich ein Ziel: „diz mære ist hie vast undersniten, / ez parriert sich mit snêwes siten“ (Parz. 281,21–22), heißt es dazu im Text. Die Terme undersnîden und parrieren sind der Textilverarbeitung entlehnt und beziehen sich auf das Zusammensetzen eines Kleidungsstücks aus verschiedenfarbigen Stoffen.27 Ein vom Artushof flüchtiger Falke, der Parzival gefolgt war, hat am Morgen eine Gans geschlagen, die sich indes retten kann. Lediglich drei Blutstropfen fallen vor Parzival in den Schnee. Der Ritter ist paralysiert angesichts der bluotes zäher, in denen er ein Abbild seiner schönen Frau erkennt, und versinkt in einer tiefen Meditation der Liebe, in deren Farben sich ihm zugleich die Schönheit der göttlichen Schöpfung offenbart: dô er die bluotes zäher sach ûf dem snê (der was al wîz), dô dâhter ‚wer hât sînen vlîz gewant an dise varwe clâr? Cundwier âmûrs, sich mac vür wâr disiu varwe dir gelîchen. mich wil got sælden rîchen, Sît ich dir hie gelîchez vant. gêret sî diu gotes hant und al diu crêatiure sîn. Condwîr âmûrs, hie lît dîn schîn. […]‘ (Parz. 282,24–283,4) [Als er die Blutstränen sah auf dem Schnee (der war ganz weiß!), da dachte er: ‚Wer hat so viel Kunst in diese Farbe gelegt, dass sie so sehr leuchtet? Cundwier âmûrs, diese Farbe kann sich 26 27

Grundlegend dazu: Joachim Bumke: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im Parzival Wolframs von Eschenbach. Tübingen 2001 (Hermaea. N.F. 94). Siehe Bumke (Anm. 26), S. 143–147. Sie haben also, wie etwa das modische Mi-parti, auch eine heraldische Dimension, insofern gerade dieses Zusammenschneiden eine, wenn nicht die ZeichenGeste des Wappenwesens schlechthin ist.

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wahrhaftig dir vergleichen. Mich will Gott selig machen, da Er mich hier etwas finden ließ, das dir gleicht. Gelobt sei Gottes Hand und seine ganze Schöpfung. Cundwîr âmûrs, hier liegt dein Abbild. […]‘]

Das Blut, bisher eher mit dem Tod verbunden, mit den vielen toten Verwandten vor allem, verwandelt sich nun in ein Zeichen der Liebe. Die Gans kann dem Tod entrinnen, und die Spur ihres Blutes auf der Oberfläche des Schnees verwandelt sich für Parzival in eine Schrift der „wâren minne“ (Parz. 283,14). Entscheidend ist dabei der Farbkontrast, der mit dem Schnee ins Spiel kommt: „sît der snê dem bluote wîze bôt, / und ez den snê sus machet rôt“ (Parz. 283,5f.) – erst dadurch entsteht eine schriftähnliche Konstellation, die lesbar ist (und mithin dem Rot des Blutes eine neue Lesart abgewinnt). Auch Joachim Bumke hat hierin eine Art von Schrift gesehen und gemutmaßt, dass man „den Schnee als Pergamentblatt sehen [darf], auf dem mit Blut Sünde oder Glück eingeschrieben werden können“.28 Darin, vermittelt durch eine Art Lektüreprozess, erfährt Parzival die wahre Liebe und damit auch das Ziel und Programm seiner âventiure, das ihn am Ende dazu befähigen wird, dem Leid der Gralsgesellschaft ein Ende zu setzen. Sein inneres Erkennen wird dabei mit einem äußeren Verkennen korreliert,29 denn der in der Nähe lagernde Artushof vermutet in dem unbekannten Ritter mit aufgerichteter Lanze einen Angreifer, an dem sich zunächst Segremor und Keie tjostierend versuchen. Beide besiegt Parzival, dessen Pferd sich stets rechtzeitig von den Tropfen abwendet, so dass er auf die Angreifer reagieren kann, ehe er wieder in seiner Versenkung versinkt. Nur einer erkennt schließlich, dass hier etwas nicht in Ordnung ist, und das ist der kluge Artusritter Gawan. Auch er liest die roten Zeichen in der schneebedeckten Landschaft, bezieht dabei jedoch den Kontext mit ein und erkennt, dass es sich hier, bei Parzivals Regungslosigkeit, offenbar um eine Tücke der Minne handelt, die die von ihr Ergriffenen gern in Fesseln legt. Schließlich findet er eine Möglichkeit, diese Fesseln der Liebe zu lösen: er marcte des Wâleises sehen, war stüenden im diu ougen sîn. ein failen tuoches von Sûrîn, gefurriert mit gelwem zindâl, die swanger über diu bluotes mâl. Dô diu faile wart der zaher dach, sô daz ir Parzivâl niht sach, im gap her wider witze sîn von Pelrapeir diu künegîn: diu behielt iedoch sîn herze dort. (Parz. 301,26–36) [Er [Gawan, H. W.] gab acht auf des Waleisen Blick, wo seine Augen hingingen. Einen Umhang aus Tuch von Surin, gefüttert mit gelbem Zindel, schwang er dann über die blutigen Male. Sobald 28 29

Bumke (Anm. 26), S. 64. Vgl. Burkhard Hasebrink: Gawans Mantel. Effekte der Evidenz in der Blutstropfenepisode des Parzival. In: Texttyp und Textproduktion in der deutschen Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Elisabeth Andersen, Manfred Eikelmann. Berlin 2005 (Trends in Medieval Philology. 7), S. 237–247.

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der Umhang die Tränen bedeckte, so dass Parzival nichts mehr von ihnen sah, gab ihm die Königin von Pelrapeire [Condwirarmus, H. W.] den Verstand zurück, sein Herz aber behielt sie dort.]

Gawans „List der Verhüllung“,30 die Verdeckung der roten Zeichen im Schnee mit einem gelben Mantel ist eine Zutat Wolframs. Bei Chrétien endet Percevals Trance, als der Schnee in der Sonne allmählich schmilzt.31 Auch daran wird deutlich, dass das Rot der Blutstropfen des Kontrasts des weißen Untergrunds bedarf, um zum Zeichen zu werden, das lesbar ist und Bedeutung erzeugt. Verschwindet der Schnee, dann verschwindet auch die Schrift und mit ihr Percevals Vision. Bei Wolfram beendet erst der Mantelwurf diesen Zustand, der Parzival vollkommen hat verstummen lassen. Erst als die Zeichen verdeckt sind, kann er das in ihnen Gesehene, in der Innenschau Erfahrene in Worte bringen. Er hat in den drei roten Tropfen im Schnee ein Bild seiner Frau erkannt, von der er nun schon seit langer Zeit getrennt ist, und eine Mission gefunden, die seiner âventiure fortan erst eine Bestimmung gibt: die Erkenntnis nämlich, dass er der Minne und dem Gral gleichermaßen folgen müsse – ein Vorhaben, das aus Sicht der Gralsgesellschaft eigentlich ausgeschlossen ist, wo man sich entscheiden muss, ob man sich der Liebe oder dem Gral verschreibt. Doch am Ende wird Parzival aufgrund seiner tiefen Einsicht angesichts der roten Tropfen im weißen Schnee das Unmögliche möglich machen und den Gral mit der Minne versöhnen, wenn er an der Seite seiner Frau das Amt als neuer Gralskönig antritt. Der genaue Zeichencharakter der Blutstropfen im Schnee bleibt nun im Text offen: Es ist weder von einem Bild noch von einer Schrift ausdrücklich die Rede. Man mag an die mittelalterliche Buchmalerei denken, in der, wie Joachim Bumke bemerkt, zwei „rote Wangenpunkte und ein roter Punkt als Kinnbogen zum ikonographischen Minimalprogramm der schematisierten Darstellung eines Gesichts“ gehören.32 Es ist ja immerhin das Gesicht Condwiramurs, das Parzival durch die Blutstropfen sieht. Wichtig ist aber, dass dieses Bild nicht auf der Oberfläche erscheint, sondern dass Parzival, um es zu finden, durch die äußeren Zeichen hindurch auf etwas Tieferes, unter der Zeichenoberfläche Liegendes schauen muss. Die äußeren Zeichen, die für einen anderen Betrachter wohl kaum eine Bedeutung gehabt hätten, führen ihn nach innen und erzeugen dort ein Erinnerungsbild, das ihn vollkommen gefangen nimmt. Diese Art der Wahrnehmung ähnelt der Lektüre einer Schrift, bei der man ebenfalls durch die Buchstaben hindurch auf eine dahinter liegende Bedeutung schauen muss. Diese Bedeutungen, die die Buchstaben transportieren, hat man sich im Mittelalter stets bildlich gedacht.33

30 31

32 33

Hasebrink (Anm. 29), S. 244. Chrétien de Troyes: Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Altfranzösisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Felicitas Olef-Krafft. Stuttgart 1991 (Universal-Bibliothek. 8649), Vv. 4426– 4431. Bumke (Anm. 26), S. 46, Anm. 79; das Zitat stammt von Hasebrink (Anm. 29), S. 242. Siehe den Überblick bei Haiko Wandhoff: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin / New York 2003 (Trends in Medieval Philology. 3), S. 20–30.

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Der Umstand, dass Parzivals zentrale Erkenntnis in einer rätselhaften, ohne Zweifel aber roten (Zeichen-)Schrift dargestellt wird, ließe sich dann vielleicht mit der Praxis der Rubrizierung auf der Buchseite verbinden. Im Schriftbild der mittelalterlichen Handschrift diente das Rot, wie gesagt, zur Hervorhebung besonders wichtiger Passagen eines Textes. Durch diese Art der Rotschrift im Parzival besonders hervorgehoben wäre dann die Einsicht, dass die Minne mit dem Gral zu versöhnen wäre. Dies aber ist nicht nur die Mission, der Parzivals âventiure folgt, sondern in gewisser Weise auch die zentrale These des Romans: Die finale Integration von Minne und Gral kann als eine wesentliche Leistung Wolframs von Eschenbach angesehen werden, mit der er deutlich über seine fragmentarische französische Vorlage hinaus geht. Indem er Chrétiens Perceval, ein frommes Erlösermärchen, das ohne Schluss abbricht, mit Elementen des Minneromans und Motiven des Minnesangs anreichert, macht er daraus einen heiteren Hofroman, bei dem am Ende durch die Macht der Minne die liebesfeindlichen, zum Glück nur scheinbar ehernen Gesetze des Grals zum Erweichen gebracht werden. Und die Person, an der diese Umdeutung vor allem ablesbar ist, die – neben Parzival – am meisten dazu beiträgt, dass die Sphäre des Grals schlussendlich von einem düsteren Ort des Leidens in einen fröhlichen Ort der Liebe umdekoriert wird, ist eben jener Feirefiz, der, wie wir sehen konnten, am deutlichsten Wolframs Handschrift trägt. Als er im Angesicht des Grals die Taufe verlangt, tut er dies nicht etwa, um dieses rätselhafte, aber sicher doch bedeutende dinc endlich sehen zu können, sondern um die wunderschöne Dame heiraten zu können, die den Gral trägt: Jene Repanse de Schoye, mit der er später zum Vorfahren des Priesters Johannes werden soll. Wo alle auf den Gral starren, da erkennt Feirefiz, der Schriftartige, die Schönheit der Frau und die Liebe, die sie zu entzünden vermag. Vielleicht ist das ja ein Hinweis darauf, dass auch wir Deuter und Interpreten des Parzival die Sache mit dem Gral nicht ganz so ernst nehmen sollten.

IV. Nun kann man gegen die oben vorgebrachte Deutung einwenden, dass Wolfram die Blutstropfenepisode gerade nicht – wie etwa die Vorgeschichte – neu hinzu gedichtet, sondern im Wesentlichen von Chrétien übernommen hat. Worin genau soll also die neue, besondere Bedeutung liegen, die in leuchtend roter Rubrizierung hervorgehoben würde? Sieht man davon ab, dass Chrétiens Perceval bei der Betrachtung der Blutstropfen kaum einen tieferen Erkenntnisprozess erfährt, sondern lediglich das Antlitz seiner schönen Frau sieht, von dem er sich nicht abwenden will, dann liegt die wesentliche Veränderung der Szene in dem Einsatz von Gawans Mantel. Dieses Tuch wäre ja eigentlich gar nicht nötig, weil man den Schnee – wie Chrétien vorführt – einfach schmelzen lassen kann; dass es gleichwohl an so zentraler Stelle eingeführt wird, weist auf eine intendierte Bedeutungsverschiebung hin: Das Tuch unterstreicht zum einen den Anteil Gawans an Parzivals Befreiung, ohne die seine âventiure wohl hier schon zu

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Ende gewesen wäre. Dass die Geschichte von Parzival und dem Gral nach dieser kritischen Situation überhaupt weiter erzählt werden kann, ist zu einem guten Teil Gawan zu verdanken, der fortan als Parzivals Freund und Gefährte handelt. Es sind zwei Helden, die den Roman von nun an ins Ziel tragen:34 Während Parzival seine wesentlichen Impulse von innen erhält, wie die Blutstropfenepisode exemplarisch zeigt, solche Innenreisen jedoch nicht unbedingt für einen kompletten Ritterroman taugen, tritt Gawan mit seinen Abenteuern immer dann ins Rampenlicht, wenn es von Parzival gerade nichts Relevantes zu erzählen gibt.35 Gawans aktives Einschreiten, um mit seinem Mantel eine als zu stark, zu intensiv erlebte Erkenntnis zu unterbrechen, indem er ihre Zeichen abdeckt, hat aber auch poetologische Implikationen. Durch die Verhüllung verschwinden die Zeichen im Schnee nämlich nicht; sie lösen sich nicht einfach auf, sondern bleiben unter dem Tuch bestehen – in verhüllter und in eben auf diese Weise erträglich gemachter Form. Gerade dadurch können sie ihre Wirkung überhaupt entfalten, denn erst durch Gawans Verhüllungsakt wird Parzival in die Lage versetzt, das in der Vision Gesehene zunächst in Worte zu fassen und am Ende auch in (Roman-)Handlung umzusetzen. Man kann in dem Einsatz des Tuches daher vielleicht eine Anspielung auf die zeitgenössische, in der neuplatonischen Philosophie gründende Poetik des Integumentum (Decke) oder Involucrum (Schleier) sehen. Diese im 12. Jahrhundert neu formulierte Dichtungstheorie zielt darauf ab, eine in ihrer Reinform inkommensurable, meist kosmologische oder moralische Wahrheit in Form sprachlich-bildlicher Verhüllung oder Verschleierung dennoch darzustellen.36 Dieses Programm, das die Literatur in den Dienst der Philosophie stellt, bildet sich, wie ich meine, in der Blutstropfenepisode ab: Die roten Zeichen, die Parzival zur Erkenntnis der wahren Minne befähigen, sind von ihm nur in einer visionsartigen Trance erfahrbar, in einem mystischen Zustand der Entrückung, der ihn äußerlich handlungsunfähig macht und sogar in große Gefahr bringt. Damit aus dieser fundamentalen Erkenntnis eine âventiure werden kann, ein gesellschaftskompatibler Roman zur Freude des Hofes, bedarf es einer zweiten Instanz, die die wahre, aber nur von Parzival und nur unter bestimmten Bedingungen überhaupt lesbare Schrift in eine mehr oder minder konventionelle Rittergeschichte überträgt. Dies leistet Gawans Verhüllungslist: Sie schafft eine äußere Ummantelung, unter der die von Parzival erfahrene Wahrheit als innerer Kern des Romans bestehen bleibt und in abgemilderter, kommensurabler Form wirken kann. 34 35 36

Vgl. Martin Jones: The Significance of the Gawan Story in Parzival. In: A companion to Wolfram’s Parzival. Hrsg. von Will Hasty. Rochester / Woodbridge 1999, S. 37–76. Siehe dazu Bumke (Anm. 26), S. 157–164 sowie Jones (Anm. 34). Siehe dazu Hennig Brinkmann: Verhüllung (integumentum). In: Der Begriff der repraesentatio im Mittelalter. Hrsg. von Albert Zimmermann. Berlin / New York 1971, 314–339; Christoph Huber: Integumentum. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Harald Fricke u. a. Berlin / New York 2007, Bd. 2, S. 156–160.

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Drittens schließlich hat Gawans Tuch eine Farbe: Es ist gelb und entspricht damit genau jener anderen heraldischen Tinktur, mit der das Rot auf dem Schild parrieret werden kann (wobei das edlere Gold in diesem Fall das weniger wertvolle Silber ersetzen würde). Die Verhüllung der wahren, auf Dauer aber unlesbaren Schrift durch ein Tuch – mit der immerhin Gawan in den Roman eingeführt wird! – verweist auf die notwendige Ergänzung des nicht immer klugen, aber zur inneren Erkenntnis fähigen Roten Ritters durch einen meisterlich in der Außenwelt agierenden Parallelhelden, der mit der Farbe konnotiert wird. Nur der Rote Ritter Parzival kann die wahre Minne in seinem besonders großen Herzen erfahren, aber erst durch die Komplizenschaft des strategisch planenden Gawan mit seinem gelben Mantel kann daraus eine erfolgreiche âventiure werden.37 Diese Einfassung eines roten Kerns (Parzivals âventiure) in eine gelbe Hülle (Gawans âventiure), die die Blutstropfenepisode zeichenhaft aufscheinen lässt, ruft aber noch ein anderes, rätselhaftes Bild in Erinnerung, das uns im Prolog begegnet war. Dort wird nämlich nicht nur der Kontrast von Schwarz und Weiß in Stellung gebracht, sondern – in verdeckter Form – auch der Kontrast von Rot und Gelb. Als der Erzähler über die Schönheit der Frauen räsoniert, unterscheidet er zwischen ihrer äußeren (Körper-)Schönheit und ihrer inneren, wahren Schönheit, einer Art Schönheit des Herzens, die höher zu veranschlagen sei. Zur Veranschaulichung wird das Gleichnis eines Rings bemüht: manec wîbes schoene an lobe ist breit: ist dâ daz herze conterfeit, die lob ich als ich solde daz safer ime golde. ich enhân daz niht für lîhtiu dinc, swer in den kranken messinc verwurket edeln rubîn und al die âventiure sîn (dem glîche ich rehten wîbes muot.) diu ir wîpheit rehte tuot, dane sol ich varwe prüefen niht, noch ir herzen dach, daz man siht. (Parz. 3,11–22) [Die Schönheit vieler Frauen wird weit und breit gefeiert. Wenn da aber das Herz bloß nachgemacht ist, dann lobe ich sie so, wie ich ein Stückchen Glasfuß, in Gold gefasst, zu loben schuldig wäre. Es ist kein leichtes Ding, so meine ich, wenn man in schwaches Messing den edlen Rubin einfaßt und seine ganze âventiure – dem vergleiche ich die innere Gesinnung einer rechten Frau. Eine, die ihr Frausein in der rechten Weise ausübt, deren Farbe will ich nicht prüfen und nicht ihres Herzens Decke, die man sieht.]

Eine schöne Frau, deren Inneres die äußere Schönheit nicht widerspiegle, sei mit einer in Gold eingefassten Glasscheibe vergleichbar. Da solle man sich doch im Zweifel lieber, so der Ich-Erzähler, für einen in Messing gefassten Rubin entscheiden, bei dem der wahre Wert nicht in der äußeren Einfassung, sondern in seinem inneren Gehalt liege. 37

Siehe zu Gawans strategischem Geschick Bumke (Anm. 26), S. 147–150.

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Mireille Schnyder hat darauf hingewiesen, dass dieses Bild nicht nur für die Frauen, sondern auch für den Roman selbst gilt, da in dem Gleichnis ja ausdrücklich – was oft übersehen wird – von der âventiure die Rede ist: Das Frauenlob enthält also zugleich eine Poetik.38 Doch ist bisher kaum beachtet worden, dass aus dem Vergleich zweier defizitärer Möglichkeiten – einem entweder nur äußerlich oder nur innerlich schönen Roman – unausgesprochen natürlich ein Drittes folgt, nämlich ein innerlich wie äußerlich schöner Roman! Die ideale âventiure wäre dann, um im Bild des Rings zu bleiben, eine Kombination aus Rot und Gelb, nämlich ein in Gold gefasster Rubin. Mit dieser Kombination aus rotem Inneren und gelbem Äußeren ist eine verblüffende Analogie zu der von Wolfram neu gestalteten Blutstropfenepisode gefunden. Beide Passagen zusammen genommen lassen die Lesart zu, dass der Roman selbst diese Verhüllungsstruktur für sich beansprucht: Mit Parzivals âventiure verfügt er über einen äußerst kostbaren, inneren, roten Kern, der in einer nicht weniger reichhaltigen, äußeren, goldenen Hülle daher kommt, den heiteren und bisweilen oberflächlichen Gawan-Abenteuern. Diese sind zumeist erkennbar aus konventionellen Versatzstücken und Zitaten anderer Texte zusammengebaut und lassen ihren durchgängigen Bezug zur Parzival-Handlung oft erst auf den zweiten Blick erkennen.39 Wie der rote Rubin einer goldenen Einfassung bedarf, um zu einem gut sitzenden Ring zu werden, einem Geschenk, das eine Dame tragen kann (und das ihr nicht vom Finger rutscht!), so benötigt auch der Rote Ritters, der die wahre Liebe findet, aber in ihr zu versinken droht, dringend eine schöne, aber konventionelle Einfassung, damit seine âventiure zum wunderbaren neuen Hofroman werden kann – und vielleicht ebenfalls zum Geschenk für eine höfische Dame.40

V. Es ist deutlich geworden, dass Farben in literarischen Texten des Mittelalters erheblich zur Bedeutungskonstitution beitragen. Seit dem 12. Jahrhundert müssen neben ihren verschiedenen allegorischen Sinndimensionen auch ihre heraldischen Bezüge berücksichtigt werden. Im Diskurs des Wappenwesens verschiebt sich der Schwerpunkt von der signifikanten Einzelfarbe zum Farbkontrast, wobei die Kombinationsmöglichkeiten begrenzt sind. Durch die Kombination einer bestimmten Farbe mit den Metallen Gold 38

39

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Mireille Schnyder: Frau, Rubin und âventiure: Zur ‚Frauenpassage‘ im ‚Parzival‘-Prolog Wolframs von Eschenbach (2,23–3,24). In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 72 (1998), S. 3–17. Siehe dazu Ulrike Draesner: Wege durch erzählte Welten. Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs ‚Parzival‘. Frankfurt / M. u. a. 1993 (Mikrokosmos. 36), S. 252–259 und 342–353; Manfred Eikelmann: Schanfanzun. Zur Entstehung einer offenen Erzählwelt im ‚Parzival‘. In: ZfdA 125 (1996), S. 245–263. Die Schlussverse des Romans (827,25–30) lassen es denkbar erscheinen, dass der Parzival ebenfalls als Geschenk an eine Dame adressiert sein könnte.

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(Gelb) oder Silber (Weiß) wird das Bild des Wappens einer Schrift ähnlich. Insbesondere die in der Heraldik beliebten Kombinationen von Schwarz auf Weiß und Rot auf Weiß berühren sich mit dem Kontrast, den schwarze bzw. rote Tinte auf weißem Pergament bildet. So liegt es nahe, die Schrift des Wappens mit der Schrift der Literatur in ein produktives Wechselspiel treten zu lassen; dem zeitgleich mit der Heraldik entstehenden höfischen Roman bieten sich schwarz-weiße und rot-weiße Wappen als Orte poetologischer Selbstreflexion geradezu an. Bei der Textanalyse ist in diesem Zusammenhang zu beachten, dass die heraldischen Tinkturen auch in verdeckter Form vorkommen können. Insbesondere Metalle und Edelsteine haben im Diskurs des Wappenwesens einen festen Bezug zu bestimmten Farben und können sie vertreten, ohne dass die Tinktur selbst dabei genannt werden muss. Ein Ring mit rotem Rubin in goldener Fassung, wie Wolfram ihn im Parzival imaginiert, kann daher heraldisch als Rot auf Gelb gelesen werden. Wolfram scheint diese verschiedenen Aspekte der Farben bewusst zu kombinieren, und zwar in einer Weise, die immer wieder die Grenze zwischen Erzählakt und Erzählinhalt durchlässig macht. Er wirft gleich zu Beginn große allegorische Fragen auf, um das dominierende Schwarz auf Weiß der Vorgeschichte schließlich durch das Rot seines Helden Parzival zu ergänzen und zu überschreiben. Allerdings braucht auch das Rot einen Kontrast, um zum Zeichen, zur Schrift und schließlich zur gelungenen âventiure zu werden. Dieser Kontrast wird auf der Handlungsebene durch den Schnee geschaffen, den Gott bzw. der Autor mitten im Sommer fallen lässt. In Rot auf Weiß, der besonders prämierten Farbe der Rubrizierung, erfährt Parzival das Programm seiner âventiure, die er fortan jedoch nur mit Hilfe Gawans zu einem guten Ende bringen kann. Durch den Einsatz seines gelben Mantels, mit dem er den Rot-Weiß-Kontrast verdeckt, sorgt Gawan dafür, dass Parzival wieder in die Außenwelt zurückkehrt und zum Helden eines Ritterromans werden kann. Die Verhüllung der zu starken, die Sinneswahrnehmung überfordernden roten Zeichen durch eine gelbe Textilie bringt auf poetologischer Ebene zugleich die zeitgenössische Theorie des Integumentum ins Spiel. Diese Poetik der Verhüllung bahnt einen Weg, auf dem die unsagbare Idee der von Gott gewirkten, kosmischen Schönheit, die sich, wie Parzival erkennt, in der wahren Minne spiegelt, im Gewand eines fabulierten Ritterromans eben doch, nämlich in bildhafter Verdeckung, darstellen lässt. Andererseits verweist die Abdeckung der roten Zeichen durch den gelben Mantel auf das Bild des perfekten Rings zurück, das im Prolog als Gleichnis für vollkommene Schönheit aufgeworfen wurde: das Bild eines Rings, der einen roten Rubin in goldener Fassung trägt. Von der Blutstropfenepisode her lassen sich dann Parzival als der rote Rubin und Gawan als seine goldgelbe Einfassung verstehen, die erst gemeinsam den vollkommenen, neuen Ritterroman hervorbringen. Aber Wolfram markiert nicht nur die wichtigsten Figuren und Etappen seines Romans mit kräftigen Farben und heraldischen Farbkontrasten, sondern setzt diese möglicherweise auch noch in Bezug zu den Farben der Schrift, wie sie uns auf der Seite eines mittelalterlichen Buches entgegentreten: Der Weg ginge dabei vom einfachen Schwarz-

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Weiß der Grundschrift (die Gahmuret-Bücher) über das hervorhebende Rot-Weiß der Rubrizierung (Parzivals âventiure), in der freilich das Schwarz-Weiß aufgehoben bleibt (das Auftreten Feirefiz’ am Ende des Romans), bis hin zur Blattgoldverzierung (die Gawan-Bücher), durch die das Rot seinen kostbarsten Kontrast und die Geschichte ihre vollkommene Ausgestaltung auf der Buchseite erfährt. Verblüffend ist dabei, dass Wolfram mit den Farben Schwarz, Weiß, Rot und Gelb bereits im Prolog genau die vier Farben leitmotivisch einführt, die auch kulturgeschichtlich als die Urfarben schlechthin gelten können. Der Linguist Guy Deutscher hat die verblüffenden Ergebnisse einer längeren Studie jüngst dahingehend zusammengefasst, „dass sich auf der ganzen Welt die Begriffe für Farben in derselben Reihenfolge entwickelt haben. Zuerst wurde zwischen Schwarz und Weiß unterschieden. Dann kam Rot hinzu. Dann Gelb, dann die anderen Farben.“41 Schwarz, Weiß, Rot und Gelb sind aber auch die stereotypen Farben der mittelalterlichen Schönheitsbeschreibung, die schon in der Antike als Grundfarben galten, „weil sie sich aus ihrer Verbindung zu den vier Elementen des Kosmos ergeben“.42 Dieser Befund unterstreicht einmal mehr Wolframs große Kunst, dem es in seinem Parzival gelingt, mit jenen vier Farben einen Ritterroman neu einzufärben, so dass darin die Schönheit der Frau auf wunderbare Weise zum Spiegel für die Schönheit der Schrift und des Kosmos wird.

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42

Interview mit Guy Deutscher in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Nr. 38, 26.09.2010. Vgl. Guy Deutscher: Im Spiegel der Sprache. Warum die Welt in anderen Sprachen anders aussieht. Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer. München 2010, bes. S. 99–108. Schausten (wie Anm. 23), S. 462f., Zitat S. 463, unter Verweis auf John Gage: Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart. Leipzig 2010, S. 11f. Man mag hier auch an die vier Körpersäfte der Humoralpathologie denken: Schleim, schwarze Galle, Blut, gelbe Galle.

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Haiko Wandhoff

Bruno Quast

Monochrome Ritter Über Farbe und Ordnung in höfischen Erzähltexten des Mittelalters

Wenn im Nibelungenlied Siegfried, Gunther, Hagen und Dankwart nach Isenstein aufbrechen, um Gunthers Werbung um Brünhild voranzutreiben, schwören sich die Recken darauf ein, einmütig zu sein und einhellig auszusagen: „ir habt einen muot. / ir jehet gelîche“ (385,1f.).1 Sie sollen, so Siegfrieds Anweisung, nur eine Auskunft geben, Gunther sei sein Lehnsherr und er sei sein Lehnsmann – „sô sult ir, helde m#re, / wan einer rede jehen: / Gunther sî mîn herre, und ich sî sîn man“ (386,2f.). Es handelt sich hier um die berühmte und viel diskutierte Standeslüge, mittels derer sich Siegfried Gunther unterordnet und damit die faktischen Rangverhältnisse zwischen beiden verwischt. Der Einmütigkeit im Auskunft geben, die durch Siegfrieds Steigbügeldienst nach außen hin bestätigt wird, steht eine optische Einmütigkeit gegenüber. Die Farben, die mit im Spiel sind, signalisieren gegenüber der Unterwerfungsgeste, wie sie von Siegfried ausgeübt wird, gesellschaftliche Gleichheit. Die Pferde und Kleider der beiden stolzen Helden, heißt es im Lied, waren von völlig der gleichen schneeweißen Farbe: „Rehtʿ in einer mâze den helden vil gemeit / von snêblanker varwe ir ros unt ouch ir kleit / wâren vil gelîche“ (399,1–3). Dankwart und Hagen setzen sich in der Farbgebung von Gunther und Siegfried deutlich ab. Man hat uns erzählt, fährt das Lied fort, dass diese beiden Helden kostbare Kleidung von kohlrabenschwarzer Farbe trugen: „wir hœren sagen mære, wie die degene / von rabenswarzer varwe truogen rîchiu kleit“ (402,2f.). Sind bei Siegfried und Gunther Pferde und Kleider von der gleichen Farbe, ist dies bei Dankwart und Hagen unter Umständen nur bei der Kleidung der Fall. Ob auch die Pferde kohlrabenschwarz sind, erfährt der Zuhörer oder Leser nicht. Es wird mithin auf eine Unterscheidung der Personengruppen zugearbeitet. Die Unifizierung und Gleichrangigkeit, die in der Farbe von Kleidung und Pferden kodiert ist, gilt für Siegfried und Gunther verstärkt. Eine differenzierte Wertigkeit indes wird den Farben Weiß und Schwarz einerseits nicht unterstellt, sind sie in dieser Hinsicht kaum zu unterscheiden. Denn alle vier stehen stattlich im Burghof, „die in mîner bürge sô hêrlîche stân“ (410,3), heißt es aus Brünhilds Mund. Alle vier werden als statthaft, „hêrlîche“ (410,3), rühmlich, „lobe-

1

Das Nibelungenlied. Nach der Ausgabe von Karl Bartsch hrsg. von Helmut de Boor. 21. revidierte, von Roswitha Wisniewski ergänzte Auflage. Wiesbaden 1979.

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lîch“ (412,1), von adliger Herkunft, „mit schœnem lîbe“ (413,2), gepriesen. Von Siegfried und Gunther werden von einem aus dem Gefolge der Brünhild, ohne dass auf die Farben referiert würde, Herrscherqualitäten vermerkt (411f.), bei Hagen konstatiert der Gefolgsmann der Brünhild den grimmigen Blick (413,4), bei Dankwart die mutmaßlich zerstörerischen Folgen seines Zürnens (414,4). Man könnte es hier andererseits also durchaus mit einer Gruppenbildung mittels Farbgebung zu tun haben – Herrscherqualitäten von Siegfried und Gunther auf der einen Seite, durch das Weiß der Kleidung hervorgehoben, drohendes Ungemach bei Hagen und Dankwart, die schwarz gewandet auftreten, auf der anderen Seite. Eine explizite Korrelation zwischen Farbgebung und Qualifizierung der Helden wird indes nicht vorgenommen. Für Brünhild, die den Regeln heroischer Exorbitanz folgt und daher zunächst physische Stärke als Ausweis gesellschaftlicher Geltung im wahrsten Sinne des Wortes in den Blick nimmt, stellt sich kein widersprüchliches Bild ein. Die einheitliche Farbe der Kleidung von Siegfried und Gunther signalisiert nach höfischer Logik Statusgleichheit, der Steigbügeldienst, den Siegfried ausübt, demonstriert ostentativ ein klares Ranggefälle. Doch in der heroischen Welt Isensteins gelten die Regeln des Hofes nicht,2 die in ihrer widersprüchlichen Konfiguration – zumindest potentiell – für Verwirrung sorgen müssten. Angesichts solcher differenter Erzähllogiken und Erzählwelten stellt sich nun auch für die höfischen Romane die Frage, wieweit die farblichen Codes dort tatsächlich reichen, welche Tragweite ihnen im Regelwerk höfischer Welten zukommt. Der französische Historiker Michel Pastoureau hat in seinen Studien über die Farben Blau und Schwarz3 die These aufgestellt, dass die arthurischen Romane des 12. und 13. Jahrhunderts eine rekurrente Farbsemantik eingeführt hätten, um Erwartbarkeiten über den Handlungsverlauf zu produzieren. Erwartungshaltungen der zeitgenössischen Zuhörer und Leser würden also nicht allein über bekannte Plots, sondern auch über Farbgebungen geprägt. Ein roter Ritter beispielsweise signifiziere böse Intentionen oder dämonische Aspekte, schwarze Ritter würden oftmals ihre Identität verbergen, weiße Ritter repräsentierten Aufrichtigkeit, grüne sorgten für Unordnung, könnten aber wie schwarze Ritter sowohl gut als auch schlecht sein.4 Eindeutigkeit jedenfalls und damit Erwartbarkeit scheint über stabile Zuschreibungen von Farbwerten5 indes in den seltensten Fällen hergestellt worden zu sein. Die folgenden Überlegungen gehen davon aus, dass nicht der Farbwert bei den einfarbigen Rittern die entscheidende Rolle spielt, 2 3

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Jan-Dirk Müller: Spielregeln für den Untergang. Die Welt des Nibelungenliedes. Tübingen 1998, hier S. 235f. Michel Pastoureau: Blue. The History of a Color. Princeton 2001, S. 55–60 (What coats of arms reveal); ders.: Black. The History of a Color. Princeton 2009, S. 72–75 (Who was the black knight?). Pastoureau 2001 (Anm. 3), S. 59. Vgl. zur mittelalterlichen Farbendeutung Christel Meier, Rudolf Suntrup: Handbuch der Farbenbedeutung im Mittelalter. 2. Teil: Lexikon der allegorischen Farbendeutung. Köln / Weimar / Wien 2011 (Pictura et Poesis. 30), (CD-ROM).

Monochrome Ritter

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sondern der Umstand der Einfarbigkeit selbst, die Monochromie als solche. Als monochrom sollen solche Ritter gelten, die vollständig und nicht nur partiell, also etwa nur deren Rüstung, Waffenkleid oder Schild, über eine bestimmte Farbe gekennzeichnet sind. Die Farbe des monochromen Ritters erstreckt sich in der Regel auch auf dessen Pferd. In den meisten Fällen führt diese Vollständigkeit dazu, dass die betreffenden Ritter einen Namen erhalten, der mit der entsprechenden Farbe identisch ist. In Rede stehen hier nur solche einfarbigen Ritter, die handlungsmächtig agieren. Einfarbigkeit in diesem Sinne scheint in Texten, die eine höfische Welt entwerfen, zum Indikator einer wie auch immer gearteten Ordnungsstörung zu werden.6 An zwei Beispielen soll dieser Zusammenhang vor Augen geführt werden, am Roten Ritter aus Hartmanns von Aue Erec und am Grünen Ritter aus der mittelenglischen romance ‚Sir Gawain and the Green Knight‘.

I.

Der Rote Ritter in Hartmanns von Aue Erec

Die ideale höfische Welt ist bunt.7 Wenn in der finalen Joie de la court-Aventiure des Erec-Romans Hartmanns von Aue der Ritter Erec mit Frau und Zwerg die Burg Brandigan betritt, wird der schöne Palas beschrieben, er besteht aus kostbaren marmornen Steinen, die wie Glas leuchten:8 „gel, grüene, brûn, rôt, / swarz, wîz, weitîn / dirre mislîche schîn / sô g’ebent und sô geliutert was, / daz er glaste sam ein glas / geworht mit schœnen witzen“ (8215–8220).9 (Das bunte Mosaik aus gelben, grünen, braunen, roten, schwarzen, weißen und blauen Steinen war so geglättet und poliert, daß es glitzerte wie Glas, es war sehr kunstvoll zusammengefügt.) Im Palas sitzt eine Versammlung von achtzig Damen, deren Äußeres so gar nicht in die freudvolle Welt passen will. „si hâten an sich geleit / eine wât rîche / und doch unvrœlîche, / nâch vil kostlîchem site. […] ez wâren ir röcke und ir dach / von swarzem samîte“ (8229–38). (Sie trugen prachtvolle Kleider ohne frohe Farben, die sehr kostbar waren. […] Ihre Kleider und Obergewänder waren aus schwarzem Samt.) Wenn sie auch weiße Stirnbinden tragen (8246), mit der Absicht, Schlichtheit und Zurückhaltung zu demonstrieren, dominiert das Schwarz der

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7 8 9

Im Nibelungenlied bezieht sich dieser Sachverhalt sowohl auf das Schwarz von Hagen und Dankwart, das mit unberechenbarem Grimm und Zorn in Verbindung gebracht werden kann, wie auf das Weiß von Siegfried und Gunther, das nach rein höfischer Logik in der Kombination mit der Unterwerfungsgeste Irritationen auslösen müsste. Vgl. hierzu Monika Schausten: Vom Fall in die Farbe. Chromophilie in Wolframs von Eschenbach Parzival. In: PBB 130 (2008), S. 459–482. Zu Glanz als Spiegel höfischer Idealität vgl.: Visual Culture and the German Middle Ages. Hrsg. von Kathryn Starkey, Horst Wenzel. New York u. a. 2005. Hartmann von Aue: Erec. Hrsg. von Günter Scholz. Übersetzt von Susanne Held. Frankfurt a. M. 2007 (Deutscher Klassiker Verlag im Taschenbuch. 20).

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Trauerkleidung. Dass Farbe Bedeutungsträger ist, wird in diesem Zusammenhang unmissverständlich hervorgehoben: Damit zeigten sie, heißt es, dass ihr Herz von Kummer bedrückt war, „daz in daz herze wære / in etelîcher swære“ (8234f.). Zu dem Zeitpunkt, als Erec im vielfarbigen Palas der Burg Brandigan auf die Trauergesellschaft trifft, weiß er noch nichts über den Grund der Trauer bei den Damen. Sie haben, so wird er später in Erfahrung bringen, ihre Männer verloren, die im Kampf gegen den Ritter Mabonagrin ihr Leben lassen mussten, der mit seiner Dame in einem Zaubergarten weilt. Die glänzende Buntheit des Palas und das Schwarz der versammelten Damen signalisieren ein spannungsgeladenes Moment. Bei Chrétien de Troyes, dessen Erec et Enide wohl Vorlage für die Hartmannsche Bearbeitung war, findet sich weder ein vielfarbig gestalteter Palas noch die Versammlung der schwarz gekleideten Witwen. Es scheint ein Spezifikum der Poetik des Hartmannschen Erec zu sein, ideale Ordnung und Ordnungsstörung auf der Burg Brandigan über Farben zu kodieren. Auf der einen Seite sorgen in Hartmanns Erec Farbauszeichnungen dafür, dass Ordnung generiert, die stratifikatorische Gesellschaft sichtbar wird, sie dienen darüber hinaus als Distinktionsmerkmale, indem sie im Sinne Pierre Bourdieus die feinen Unterschiede im Herrschaftsgefüge markieren. Das wird deutlich, wenn zur Eheschließung von Erec und Enite zu Beginn des Romans neben Grafen und Fürsten zehn mächtige Könige aus aller Herren Länder herbei reiten. Die fünf jungen Könige, die vorausreiten, haben gleiche Pferde und gleiche Kleidung („die jungen wâren, sô man seit, / gelîch geriten und gekleit“, 1950f.), sie tragen Kleidung in verschiedenen Farben („zesamene geparrieret“, 1956), ihre Pferde sind rabenschwarz („garwe swarz sam ein raben“, 1962). Die fünf alten mächtigen Könige sind ebenfalls mit gleichen Pferden und Kleidern versehen, ihre Pferde sind schneeweiß („ir pherit blanc snêwîz“, 2020). Farbnennungen gelten in diesem episodischen Zusammenhang exklusiv den höchstrangigen der herbeigeeilten Hochzeitsgäste, um deren soziale Distinktivität zu unterstreichen. Grafen und Fürsten werden im Unterschied zu den Königen nicht mit Farben bedacht. Farben weisen hier also eine besondere gesellschaftliche Dignität aus. Es bedarf eigentlich kaum der Erwähnung, dass der Einzug der Hochzeitsgäste bei Chrétien eine Korrelation von Status und Farbe nicht kennt.10 Auf der anderen Seite rufen Farben, ruft Einfarbigkeit, muss man genauer sagen, Irritationen hervor. Wenn die trauernden Damen die Burg Brandigan verlassen, harmonieren nach dem Willen der Damen die Farben der Pferde und der Kleider, sie sind „swarz riuwevar al ein“ (9857), Pferde und Kleider stimmen in schwarzer Trauerfarbe überein. Am Artushof rufen sie Verwunderung hervor. und wart des guot war genomen, daz si sô gelîche wâren gekleit und ze pherden bereit, und begunden des von schulden jehen, 10

Vgl. Chrétien de Troyes: Erec et Enide / Erec und Enide. Altfranzösisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Albert Gier. Stuttgart 1987, Vv. 1882–1972.

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daz si nie hæten gesehen deheine seltsænern schar, sô manege vrouwen in einer var (9877–9883). [Und man beachtete es wohl, daß sie gleich gekleidet und die Pferde gleich ausgestattet waren, und sie mußten sagen, daß sie nie zuvor eine merkwürdigere Schar gesehen hätten – so viele Damen, die alle gleich aussahen.]

Es ist die massive Einfarbigkeit der Frauengruppe, die am Artushof Verwunderung hervorruft, nicht die Farbe Schwarz. Man wird festhalten können, dass Hartmann von Aue als einer der ersten einen sich über Farbkodierungen eröffnenden poetischen Spielraum systematisch erprobt und genutzt hat. Dass die höfische Welt bei Hartmann von Aue mit glänzender Buntheit assoziiert wird, belegen andere Details der hier in erster Linie in Rede stehenden Brandiganepisode. Der Baumgarten der Burg Brandigan wird als mit bunten, süß duftenden Blumen bewachsen beschrieben: ouch enstuont dâ diu erde niht blôz gegen einer hande breit, diu enwære mit bluomen bespreit, die missevar wâren / und süezen smac bâren (8725–29). [Außerdem war die Erde nirgends auch nur eine Handbreit unbewachsen, sie war mit Blumen in allen Farben übersät, die einen süßen Geruch verströmten.]

Erec erblickt die Dame des Mabonagrin inmitten des Gartens unter einem Zelt aus zwei Arten Samt, „von strichen swarz unde wîz“ (8906), in schwarzen und weißen Streifen. Diese Streifen sind sorgfältig bemalt. Man sieht Menschen, Vögel und Tiere entworfen, mit Namen ausgezeichnet, die Bilder sind von Gold. Wenn es nun darum geht, die Pracht des Zeltes zu beschreiben – „an dirre pavelûne was / êre und gevüere“ (8919f.) –, werden die seidenen zusammengedrehten Zeltschnüre in den Blick genommen, und zunächst wird bemerkenswerterweise festgehalten, dass sie nicht einfarbig sind – „und niht von einer varwe“ (8923), um dann wie beim Palas die Farben einzeln aufzulisten: „rôt, grüene, wîz, gel, / brûn“ (8924f.). Mit der Erwähnung der Fünffarbigkeit der Zeltschnüre überbietet Hartmann die ihm als Vorlage dienende Beschreibung des Zeltes aus dem Eneasroman des Heinrich von Veldeke, dort eine Liebesgabe der Dido an Eneas, bei der lediglich davon die Rede ist, dass die Zeltschnüre sehr fest waren, ohne auf deren Farbigkeit zu sprechen zu kommen.11 Und ein letztes Beispiel für die Vielfarbigkeit als Signum höfischer Idealität: Nachdem Erec Mabonagrin besiegt hat, kehrt er über den Artushof in sein Heimatland Karnant zurück. Um den höfisch angemessenen Empfang durch die ihm entgegen reitenden Edelsten des Landes zu beschreiben, heißt es aus 11

„die snûre wâren vile vast, / als sie von rehte solden sîn“ (Die Schnüre waren sehr fest, wie es ja auch sein musste): Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986, V. 9222.

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Erzählerperspektive: „daz gevilde hie geverwet was / rôt, wîz, gel und als ein gras / von ir sîdînen wât, / sô si diu werlt beste hât“ (10028–10031). (Da war das Feld ganz bunt, rot, weiß, gelb und grasgrün, von ihrer seidenen Kleidung, der besten, die es auf der Welt gibt). Über Farbgebung, ob Vielfarbigkeit oder Einfarbigkeit, auch dies ein entscheidender Aspekt der narrativen Ordnungskonstruktion über Farben, wird nicht nur wie in diesem letzten Beispiel, sondern auch mit Blick auf die farbliche Einheit von Ritter und Pferd eine Unifizierung, eine Entgrenzung von Natur und Kultur vorangetrieben. Im letztgenannten Beispiel, das die Färbung des Gefildes in den Blick nimmt, scheint die höfische Kultur der Landschaft ihren Stempel aufzuprägen. An die Stelle der zu erwartenden bunten Blumen, wie sie etwa im Baumgarten als Zitat höfischer Idealität anzutreffen sind, treten die bunten seidenen Kleider. Natur und Kultur durchdringen einander, gehen ineinander über, ja ersetzen einander. Farben, die im Rahmen höfischer Repräsentation etwa bei Hochzeiten oder beim herrscherlichen adventus ständische Differenzierung markieren, generieren das genaue Gegenteil, nämlich Entdifferenzierung, wenn der Roman den Blick auf die Grenzziehung zwischen Kultur und Natur wirft. Diese Entdifferenzierung wird freilich nicht als Störung imaginiert, sie indiziert vielmehr mythomorphe Vollkommenheit. Höfische Pracht, das hat die Beschreibung des Zeltes im Zentrum des Baumgartens vor Augen geführt, ist bei Hartmann programmatisch mit Vielfarbigkeit verbunden.12 Folglich muss die Einfarbigkeit des Ritters Mabonagrin, gegen den Erec im Baumgarten anzutreten hat, als Ausweis antihöfischer Gesinnung gewertet werden. Über Vielfarbigkeit und Farbdifferenzierung kommt höfische Ordnung ins Spiel, über Einfarbigkeit hält eine Ordnungsstörung Einzug. Eine solche Ordnungsstörung manifestiert sich in einem resultativen Sinne bereits in der Einfarbigkeit der Trauergesellschaft im vielfarbig gestalteten Palas. Der rote Ritter Mabonagrin, der im Kontext der Baumgartenepisode mehrfach nur der Rote genannt wird (Vv. 9068, 9274, 9317, 9338), gibt ein Beispiel für die destabilisierende Funktion von Einfarbigkeit. Bei Chrétien trägt die riesenhafte Gestalt des Ritters lediglich eine rote Rüstung,13 Hartmann überbietet Chrétien, indem er 12

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Exotische Vielfarbigkeit, die womöglich im Zusammenhang eines mittelalterlichen Orientalismus mit Missgestalt in Verbindung gebracht wird, weisen bei Chrétien die Barbioleten auf, aus Indien stammende Tiere, deren Pelzwerk in das Krönungsgewand Erecs hineingenäht wird. „La pane qui i fu cosue / fu d’unes contrefetes bestes / qui ont totes blondes les testes / et les cors noirs com une more, / et les dos ont vermauz desore, / les vantres noirs et la coe inde“ [Chrétien de Troyes (Anm. 10), Vv. 6732–37]. (Das hineingenähte Pelzwerk stammte von einem der missgestalteten Tiere, die die Köpfe ganz blond, den Körper schwarz wie eine Maulbeere und den Rücken oben rot haben, den Bauch schwarz und den Schwanz blau.) – Zu Farbe und Orientalismus in spätmittelalterlicher Romanliteratur vgl. Monika Schausten: Suche nach Identität. Das ‚Eigene‘ und das ‚Andere‘ in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln / Weimar / Wien 2006 (Kölner Germanistische Studien. 7), S. 64–109. „A tant ez vos un chevalier, / sor les arbres, par le vergier, / armé d’unes armes vermoilles, / qui estoit granz a merevoilles, / et, s’il ne fust granz a enui / soz ciel n’eüst plus bel de lui, / mes il es-

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den Ritter mit einem brandroten Pferd, roten Schild und Waffenkleid sowie mit einer roten Rüstung ausstattet: sîn ros was grôz unde hô, starc rôt, zundervar. der varwe was sîn schilt gar: sîn wâpenroc alsam was, er selbe rôt, als ich ez las, gewâfent nâch sînem muote. (9015–9020) [Er hatte ein kräftiges, großes Pferd, ganz rot wie Zunder. Sein Schild hatte die gleiche Farbe: ebenso sein Waffenrock, er selbst trug, wie ich gelesen habe, eine rote Rüstung.]

Weiter heißt es explizierend: „ich wæne, sîn herze bluote, / swenne er niht ze vehtenne vant: / sô mordic was sîn hant“ (9021–9023). (Ich glaube, sein Herz blutete, wenn er niemanden zum Kämpfen hatte: so mordgierig war seine Hand.) Hier wird in einem totalisierenden Gestus – und auf diesen totalisierenden Gestus kommt es an – eine weitere Grenze überschritten, nicht nur die zwischen Kultur und Natur, Ritter und Pferd, Mensch und Tier, die über die Farbe als Einheit inszeniert werden,14 sondern auch die zwischen Außen und Innen sowie die Grenze zwischen Zeiten des blutigen Kampfes und solchen ohne Kampfhandlung.15 Totalisierung ist denn auch das Stichwort für die Existenzform des Ritters und seiner Dame im Baumgarten. Die hier mit der Farbe Rot verbundene Totalisierung korrespondiert mit der Totalisierung der Minne. Das Paar lebt ausschließlich der Liebe, hat sich vom gesellschaftlichen Leben, das sich nicht zuletzt im vielfarbigen Palas abspielt, ausgeschlossen. Das Rot des Ritters, der auch als „vil michel vâlant“ (9197), als großer Teufel bezeichnet wird, hat eine spezifische Farbqualität, es ist „starc rôt, zundervar“ (9016), also brandrot wie Zunder, signalisiert mithin die zerstörerische Kraft der die Gesellschaft bedrohenden Minneexklusivität, das blutende Herz steht für die Entsagung des roten Ritters, für den Zustand, in dem seine Mordlust („sô mordic was sîn hant“, 9023) nicht befriedigt werden kann. Rot ist hier schließlich auch die Farbe der Liebe,16 einer allerdings exklusiven, totalisierenden und

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toit un pié plus granz, / a tesmoing de totes les genz, / que chevaliers que l’an seüst“ [Chrétien de Troyes (Anm. 10), Vv. 5847–5855]. (Seht dort unterdessen einen Ritter, wie er unter den Bäumen durch den Garten dorthin eilte, mit einer roten Rüstung angetan! Der Ritter war so groß, daß man darüber staunen mußte; und wäre er nicht so unvorteilhaft groß gewesen, dann hätte es unter dem Himmel keinen schöneren gegeben als ihn; er war aber nach dem Zeugnis aller einen Fuß größer als jeder Ritter, den man kannte.) Zur Symbiose von Ritter und Pferd vgl. Udo Friedrich: Menschentier und Tiermensch. Diskurse der Grenzziehung und Grenzüberschreitung im Mittelalter. Göttingen 2009 (Historische Semantik. 5), S. 235–240. Es müssten also farblich kodierte Figuren der Totalisierung unterschieden werden, solche, die über Entdifferenzierung Idealität markieren, und solche, die diese Idealität auf den Kopf stellen. Zu den poetischen Funktionen der Farbe Rot bei Wolfram von Eschenbach vgl. Monika Schausten: Ein Held sieht Rot: Bildanthropologische Überlegungen zu Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. XXI. Anglo-German Collo-

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mörderischen Minne, die die Außengesellschaft in eine Art Schockstarre versetzt. Es ist aufschlussreich sich vor Augen zu führen, dass der Beiname ‚der Rote‘ nach Erecs Sieg über Mabonagrin nicht mehr fällt. Mit der Auflösung des Minnezwangs im Baumgarten durch Erecs Sieg – Mabonagrins Minnedame hat ihn durch einen Eid an sich gebunden, so dass er bis zu dem Tag, an dem ihn jemand besiegt, verdammt ist, mit ihr im Baumgarten zu leben –, der Wiederherstellung der gesellschaftlichen Ordnung, verliert die Einfarbigkeit, die totalisierende farbliche Kennzeichnung jegliche Bedeutung. Mabonagrin und seine Minnedame leben in einem heterotopen Zaubergarten, einem mythischen Raum mit spezifischen Eintrittsprivilegien. Die Bäume des Gartens tragen Früchte und Blüten zugleich. Nur der herausfordernde Ritter darf den Innenraum des Gartens betreten. Nach der Aufhebung der Minneexklusivität löst sich der mythische Bann des Gartens, die gesamte Hofgesellschaft kann den Garten betreten. „nû îlten si alle / mit vrœlîchem schalle, / dâ si die herren sâhen an“ (9652–54). (Jetzt eilten sie alle mit fröhlichen Rufen hinein und sahen die beiden Ritter.) Wie der mythische Raum, der durch die exklusive Minnepraxis erst entsteht,17 ist die Einfarbigkeit des Ritters offenbar keine feste Eigenschaft,18 sondern semiotisch auf den devianten Sozialhabitus einer exklusiven Minne bezogen. Einfarbigkeit und mythischer Raum verlieren an Bedeutung, wenn die Exklusivität aufgebrochen ist.

II. Der Grüne Ritter in Sir Gawain and the Green Knight Ich komme auf ein zweites Beispiel zu sprechen, das ich etwas kürzer behandeln werde. Zunächst sei der Inhalt der anonym überlieferten, wohl aus dem 14. Jahrhundert stammenden mittelenglischen ritterlichen romance ‚Sir Gawain and the Green Knight‘ knapp dargelegt. Am Neujahrsfest erscheint am Artushof in Camelot ein riesenhafter Ritter in grüner Kleidung, der sich als Ritter von der grünen Kapelle präsentiert. Der Artushof hat bis

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quium London 2009. Hrsg. von Ricarda Bauschke, Sebastian Coxon, Martin H. Jones. Berlin 2011, S. 177–191; Andrea Schindler: ein ritter allenthalben rôt. Die Bedeutung von Farben im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Farbe im Mittelalter. Materialität – Medialität – Semantik. Bd. 2. Hrsg. von Ingrid Bennewitz, Andrea Schindler. Berlin 2011, S. 461–478. Über Raumkonstitution als Ergebnis menschlicher Praktiken, die Verwandlung von Orten in handlungsgenerierte Räume vgl. Michel de Certeau: Praktiken im Raum. In: Raumtheorie. Grundlagentexte aus Philosophie und Kulturwissenschaften. Hrsg. von Jörg Dünne, Stephan Günzel. Frankfurt a. M. 2006, S. 343–352. – Der Baumgarten steht im Vorfeld des fatalen Versprechens höfischer Nutzung offen. Die Schwertleite Mabonagrins findet hier statt: „dô nam ich swert hier inne“ [Hartmann von Aue (Anm. 9), V. 9486]. Zur Allegorese von Eigenschaften vgl. Christel Meier: Das Problem der Qualitätenallegorese. In: Frühmittelalterliche Studien 8 (1974), S. 385–435. Vgl. auch dies., Rudolf Suntrup: Zum Lexikon der mittelalterlichen Farbenbedeutungen. Einführung in die Methode und Probeartikel zum Farbenbereich ‚Rot‘. In: Frühmittelalterliche Studien 21 (1987), S. 390–478.

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dahin keine Kenntnis von diesem Ritter. Gawain nimmt die Herausforderung des grünen Ritters an: Mit einer Axt schickt er sich an, den Recken zu enthaupten, und verpflichtet sich, ein Jahr später an der Grünen Kapelle nämliche Enthauptung über sich ergehen zu lassen. Dem grünen Ritter kann die Enthauptung indes nichts anhaben, er überlebt auf wundersame Weise und verlässt – den Kopf in der Hand – die Hofgesellschaft. Gawain kommt seinem Versprechen im darauffolgenden Herbst nach und begibt sich auf die Suche nach der grünen Kapelle. Auf seinem Weg entdeckt er eine Burg. Dort wird er freundlich aufgenommen. Der Burgherr, der den Weg zur grünen Kapelle kennt, macht ihm einen Vorschlag: Was er selbst auf der Jagd erlegen und was Gawain in der Burg empfangen werde, wollen sie tauschen. Während der Burgherr auf der Jagd ist, sieht sich Gawain in seinem Schlafgemach von der verführerischen Frau des Burgherrn auf eine harte Probe gestellt. Doch Gawain lässt sich von der Ehefrau des Burgherrn am ersten Tag nur einen Kuss schenken, den er vertragsgemäß an den Burgherrn zurückgibt. Drei Tage ist Gawain den Avancen der Ehefrau ausgesetzt, nur ein Abschiedsgeschenk der Dame, einen grünen Gürtel, der den Träger unverwundbar macht, behält er für sich. So fühlt er sich gegen die Enthauptung durch den grünen Ritter, die auf ihn wartet, gewappnet. Gawain findet am Neujahrstag zur grünen Kapelle, wo ihn der grüne Ritter nach dreimaligem Ausholen mit der Axt nur leicht verletzt; dann gibt sich der grüne Ritter als Burgherr zu erkennen. Der Auftritt in Camelot und auch die Verführungskünste seiner Frau seien Inszenierungen gewesen, initiiert von der Fee Morgane, die die Tapferkeit und Tugend der Artusritter auf die Probe habe stellen wollen. Gawain habe sich noch im Zurückhalten des Gürtels vortrefflich bewährt. Doch Gawain lässt sein Versagen keine Ruhe. An den Artushof zurückgekehrt erklärt er, den Gürtel als Memorialzeichen ständig tragen zu wollen, er soll ihn an sein Versagen erinnern. Die Ritter der Tafelrunde lachen über die Aventiure Gawains und beschließen, um seinetwillen ebenfalls grüne Gürtel zu tragen. Körper und Kleidung des in Camelot erscheinenden fremden, trotz seiner Größe wohlgestalteten Mannes, der mit seinen roten Augen wild rollt, sind vollständig grün. „Wel gay wata \is gome gered in grene, / And \e here of his hed of his hors swete“ (179f.).19 (In fröhliches Grün war dieser Mann gekleidet, und ebenso waren seine Haare grün, passend zu seinem Pferd.) Dieses ist wie der Ritter „grene […] gret and \ikke“ (175) (grün […] groß und stark). In der einen Hand hält er den grünen Zweig einer Stechpalme, Symbol des Weihnachtsfriedens, in der anderen eine Streitaxt, mit einem Blatt aus grünem Stahl. Die Artusrunde starrt den Fremden lange an, man ist erstaunt über die Färbung. „For wonder of his hwe men hade, / Set in his semblaunt sene: / He ferde as freke were fade, / And oueral enker grene“ (147–150). (Erstaunt war man über die Färbung, die seine Erscheinung deutlich sichtbar zeigte: Er trat auf wie der Feind und war über und über leuchtend grün.) Das Erstaunen lässt nicht nach: 19

Sir Gawain and the Green Knight / Sir Gawain und der Grüne Ritter. 2., bibliographisch ergänzte Ausgabe. Übersetzt und hrsg. von Manfred Markus. Stuttgart 1986.

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Ther wata lokyng on len\e \e lude to beholde, For vch mon had meruayle quat hit mene myat, õat a ha\el and a horse myat such a hwe lach, As growe grene as \e gres and grener hit semed, õen grene aumayl on golde glowande bryater (232–236). [Lange starrten sie den Fremden an und beobachteten ihn, denn jeder fragte sich verwundert, was es bedeuten mochte, dass ein Ritter und ein Pferd eine solche Farbe aufweisen konnten, so grün gewachsen waren wie das Gras und noch grüner, so schien es, und leuchtender als grüne Emaille auf Gold.]

Die Runde stellt sich also gleich die Frage nach der Bedeutung der Farbe. Damit ist unter Umständen auf einen allegorischen Farbdiskurs abgezielt, Grün kann für das Feenhafte, Teuflische, für die Natur stehen.20 Der Erzähler folgt den Vorgaben des Farbdiskurses scheinbar, er hat eine erste Antwort parat: Ritter und Pferd sind so grün gewachsen wie das Gras – „as growe grene as \e gres“. Hier begegnet man im Vergleich zur Kulturalisierung der Landschaft im Erec – erinnert sei an das bunte Gefilde – einer Naturalisierung des Ritters. Der Naturalisierung und organologischen Unifizierung von Ritter und Pferd – beide sind grün gewachsen –, steht allerdings eine kulturelle Komponente zur Seite, das Grün ist leuchtender als grüne Emaille auf Gold. In Sir Gawain and the Green Knight tritt nicht schlicht Natur in Gestalt des grünen Ritters gegen Kultur in Gestalt des arthurischen Hofes an, um die ethischen Grundlagen dieser Kultur gewissermaßen von außen in Form einer Tugendprobe21 in Frage zu stellen. So wird der jugendliche Artus als Garant der gleichnamigen Runde als jemand geschildert, der dem Leben aktiv gegenüber steht. „His lif liked hym lyat, he louied \e lasse / Au\er to longe lye or to longe sitte, / So bisied him his aonge blod and his brayn wylde“ (87–89). (Er nahm das Leben von der fröhlichen Seite und liebte es ganz und gar nicht, lange zu liegen oder lange zu sitzen, so trieben ihn sein junges Blut und sein wildes Hirn.) Die Wildheit teilt er mit dem Grünen Ritter, und dessen zwar erschreckende, aber dennoch höfisch-anmutige Erscheinung22 verbindet ihn mit der höfischen Welt der Artusrunde. 20

21 22

D. W. Robertson: Why the Devil Wears Green. In: Modern Language Notes 69 (1954), S. 470– 472, hebt den Aspekt des Teuflischen hervor. Derek Brewer: The Colour Green. In: A Companion to the Gawain-Poet. Hrsg. von Derek Brewer, Jonathan Gibson. Cambridge 1997 (Arthurian Studies), S. 181–190, setzt sich in seiner Deutung der Farbe Grün kritisch ab von neopaganen Forschungspositionen um 1900, die im Grünen Ritter die Emanation eines Vegetationsgottes sehen wollten. Er lässt angesichts der prinzipiellen semantischen Ambiguität der Farben im Mittelalter, wie sie auch von John Gage: Colour and Culture. Practice and Meaning from Antiquity to Abstraction. London 1993, betont wird, die Frage nach einer symbolischen Funktion offen. Die mit der Farbe Grün verbundene Ambiguität wird auch durch die Studie von Piotr Sadowski: The Greenness of the Green Knight. A Study of Medieval Colour Symbolism. In: Ethnologia Polona 15/16 (1991), S. 61–79, bestätigt. Vgl. Jan-Dirk Müller: Höfische Kompromisse. Acht Kapitel zur höfischen Epik. Tübingen 2007, S. 323–333. „Bot mon most I algate mynn hym to bene, / And \at \e myriest in his muckel \at myat ride; / For of bak and of brest al were his bodi sturne, / Both his wombe and his wast were worthily

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Die Pole Kultur auf der einen Seite, Natur auf der anderen unterwandern sich gegenseitig.23 Dennoch wird über eine topologische, genauer: eine die Farbe Grün aufrufende isotopische Verkettung das Moment der Tugendprobe unmissverständlich wachgehalten – über das Erscheinen des grünen Ritters, den grünen Gürtel, das Kleidungsstück des Burgherrn (2358), als Geschenk der Burgherrin, die von ihrem Gemahl aufgefordert worden ist, Gawain zu versuchen (2362), und schließlich die grüne Kapelle als Treffpunkt für den zweiten Akt der Herausforderung. Gawain legt an der grünen Kapelle ein Bekenntnis ab: Lo! \er \e falssyng, foule mot hit falle! For care of \y knokke cowardyse me taat To acorde me with couetyse, my kynde to forsake, õat is larges and lewté \at longea to knyatea. Now I am fawty and falce, and ferde haf ben euer Of trecherye and vntraw\e: bo\e bityde sorae and care! / I biknowe yow, knyat, here stylle, Al fawty is my fare. (2378–2386) [Da ist das Teufelsding (gemeint ist der Schutz und Unversehrtheit gewährende Gürtel, B. Q.), verflucht soll es sein! Weil ich vor deinem Schlag Angst hatte, lehrte mich die Feigheit, mich mit der Habgier zu arrangieren und meine wahre Natur zu verraten, nämlich Großmut und Redlichkeit, die Rittern gebühren. Nun bin ich voller Sünde und ehrlos, der ich doch sonst Tücke und Unehrenhaftigkeit stets gefürchtet habe: mögen sie beide mit Kummer und Sorge einhergehen! Ritter, ich bekenne Euch hiermit unterwürfig, voller Falsch ist mein Wandel.]

Der grüne Ritter kommentiert Gawains Bekenntnis lachend dahin gehend, dass er durch sein Bekenntnis von seinen Missetaten gereinigt sei und übergibt ihm den grünen Gürtel als Memorialzeichen. Es soll Gawain wie alle höfischen Ritter (2399) an das Ereignis bei der grünen Kapelle erinnern. Thenn loae \at o\er leude and luflyly sayde: ‚I halde hit hardily hole, \e harme \at I hade. õou art confessed so clene, beknowen of \y mysses, And hata \e penaunce apert of \e poynt of myn egge. I halde \e polysed of \at plyat and pured as clene As \ou hadea neuer forfeted sy\en \ou wata fyrst borne‘. (2389–2394) [Da lachte der andere Mann und sagte freundlich: ‚Ich bin sicher, daß das Unrecht, das mir widerfuhr, vollständig gesühnt ist. Du bist durch dein Bekenntnis ganz von deinen Missetaten gereinigt und hast offen gesühnt vor der scharfen Klinge meiner Waffe. Ich betrachte dich als gesäubert von dieser Schuld und als so gereinigt, als ob du niemals gesündigt hättest seit deiner Geburt.‘]

23

smale, / And alle his fetures folaande, in forme \at he hade, / ful clene“ (141–146). (Ich stelle jedenfalls fest, daß er ein sehr großer Mann war, und zwar der anmutigste in seiner Größe, der je zu Pferde saß; denn Rücken und Brust seines Körpers waren weit ausladend, Leib und Lenden aber schmal und fein, und all seine Züge paßten äußerst gut zu seinem Körperbau.) Die Bedeutung dieser Unterwanderung für die Frage einer narrativ entwickelten literarischen Ökologie beleuchtet Michael W. George: Gawains’s Struggle with Ecology. Attitudes toward the Natural World in Sir Gawain and the Green Knight. In: The Journal of Ecocriticism 2 (2010), S. 30–44.

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Entscheidend ist das einer Beichte anverwandelte höfische Sündenbekenntnis Gawains,24 seine wahre Natur verraten zu haben. Der grüne Ritter, der ja auch hinter der Versuchung durch die Burgherrin steckt, deckt den höfischen Firnis der Großmut, Ehrenhaftigkeit, Treue und Redlichkeit auf, er enttarnt das Programm höfischen Verhaltens als einsturzgefährdete Fassade. Und weil in Sir Gawain and the Green Knight der Schein trügt, Kultur auf Wildheit aufbaut und das Wilde in höfischer Gestalt daherkommt, bewirkt die höfische Beichte Gawains auch keine Befreiung. Er leidet unter seinem Versagen und solcherart gebeugt kehrt er an den Artushof zurück. Dort tröstet ihn König Artus – und alle am Hof lachen darüber, heißt es im Text. Alle wollen sich einen Wehrgürtel und ein hellgrünes Band wegen des Ritters umbinden. õe kyng comfortea \e knyat, and alle \e court als Laaen loude \erat and luflyly acorden õat lordes and ladis \at longed to \e Table, Vche burne of \e bro\erhede a bauderyk schulde haue, A bende abelef hym aboute of a bryat grene, And \at, for sake of \at segge, in swete to were. (2513–2518) [Der König tröstet den Ritter; und alle am Hof lachen zudem lauthals darüber und stimmen darin überein, daß die Herren und Damen, die zur Tafel gehören und alle Mitglieder der Bruderschaft sich einen Wehrgürtel beschaffen und sich kreuzweise ein hellgrünes Band umbinden und beides gleichermaßen wegen des Ritters tragen sollten.]

Man fragt sich und die Forschung fragt seit Jahrzehnten unermüdlich, worüber der Hof lacht. Die Antwort liegt vielleicht doch eher auf der Hand: Man lacht über die moralische Rigidität Gawains, weil jeder am Hof über die eigenen Fehler nur zu gut Bescheid weiß. Gawain macht sich mit seinem Rigorismus, seinen moralischen Skrupeln lächerlich.25 Diese Pointe passt zu den Mischungsverhältnissen, wie sie der Text inszeniert, zum wilden Artus und zum höfischen grünen Ritter. Der Tafelrunde ist nichts Menschliches fremd, befremdlich und daher komisch wirkt ein höfischer Tugendterror, wie er durch Gawains anhaltendes Lamento zum Ausdruck gebracht wird. Metaphorisch gesprochen könnte man sagen, dass moralische Einfarbigkeit in dieser romance den Verdacht des faulen Zaubers nährt. Und auch reale Einfarbigkeit stellt sich als trügerisch heraus. Tatsächlich handelt es sich bei der grünen Erscheinung ja auch um Zauber der 24

25

Vgl. zum Beichtmotiv Andrew James Johnston: The Secret of the Sacred: Confession and the Self in Sir Gawain and the Green Knight. In: Performances of the Sacred in Late Medieval and Early Modern England. Hrsg. von Tobias Döring, Susanne Rupp. Amsterdam 2005, S. 45–63. Johnston stellt zu Recht fest, dass über die finale Beichte hinaus dieses Sakrament in Sir Gawain and the Green Knight eine bedeutende Rolle spiele. „For all its overt secularity the poem betrays a considerable preoccupation with at least one religious issue, the sacrament of penance.“ (Ebd., S. 46) – Zur höfischen Beichte vgl. auch Jan-Dirk Müller: Der Blick in den anderen. In: Sehen und Sichtbarkeit (Anm. 16), S. 11–34, hier S. 24–33; ders. (Anm. 21), S. 333–339. Johnston (Anm. 24), S. 52, versteht das Gelächter als „ultimate triumph of an aristocratic aesthetic over Christianity’s moral complexities. […] The courtiers symbolically invalidate Gawain’s selfimposed penance by collectively adopting the Green Girdle as their new sign“.

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Fee Morgane. Die höfische Tugend jedenfalls, die Gawain aufrechtzuerhalten sucht, kann durch das finale Lachen des Artushofs getrost als längst entzaubert gelten.

III. Schluss Farben können täuschen. Auf sich aufdrängende Semantisierungen sollte man sich nicht verlassen. Das ist eine Lehre, wie sie im Rolandslied des Pfaffen Konrad begegnet. Dort trägt der monochrom gewandete Verräter Genelun, der die Truppen Karls des Großen an die Sarazenen verrät,26 ein golddurchwirktes Seidengewand mit kostbaren Goldborten (1610–14),27 um seinen Hals einen kunstreichen Reif aus Gold und Edelsteinen (1577f.). Man schnallt ihm zwei goldene Sporen an (1622f.). Sein Reitpferd, das ihm vom Kaiser zugeführt wird, trägt einen goldenen Sattel (1634). Dass er in der hier zitierten Szene über keine Rüstung verfügt, versteht sich, schließlich ist er als Bote der Kaiserlichen unterwegs. Im Lied heißt es, Genelun machte ein altes Wort wahr, „er ervolte daz altsprochene wort:“ (1956) „ez en ist nicht allez golt, daz dâ glîzet“ (1959): Es ist nicht alles Gold, was glänzt. Und weiter: „under scœnem schade liuzet“ (1958), der schöne Schein trügt. Das wird dann erläutert an der oft täuschenden Schönheit eines mächtigen Baumes, der außen grün aussieht, innen aber abgestorben ist – „michels boumes schœne / machet dicke hœne. / er dunket ûzen grüene, / sô ist er innen dürre“ (1962–65). Nicht zuletzt weist dieses Beispiel eines einfarbigen Ritters auf den konstitutiven Zusammenhang von narrativem Farb- und Ordnungsdiskurs, von Monochromie und Ordnungsstörung hin, wobei letztere in der Diskrepanz von Außen und Innen gründet. Die monochromen Ritter, die hier einer näheren Deutung unterzogen worden sind, bestätigen diesen Konnex. Im Nibelungenlied signalisiert die Einfarbigkeit von Siegfried und Gunther nach höfischem Code eine de facto bestehende Gleichrangigkeit, die indes durch den Steigbügeldienst Siegfrieds, der ihn als Werbungshelfer ausweisen soll, relativiert wird. Weil höfische Codes auf Isenstein nicht verfangen, spielt die Irritation, die potentiell daraus resultieren könnte, dass der farblich ausgewiesene Gleichrangige den Steigbügeldienst ausführt, im epischen Geschehen keine Rolle. Die Einfarbigkeit des Roten Ritters in Hartmanns Erec steht im Kontrast zur programmatischen Vielfarbigkeit der höfischen Welt. Insofern sich gesellschaftliche Ordnung in Polychromie 26

27

Zur dissimulatio vgl. Rüdiger Schnell: Curialitas und dissimulatio im Mittelalter. Zur Interdependenz von Hofkritik und Hofideal. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 161 (2011): Semantik der Kulturkritik. Hrsg. von Niels Werber, S. 77–138, hier bes. S. 104–126. Schnell kritisiert die Vorstellung, dass im höfischen Mittelalter Inneres und Äußeres aufeinander verweisen würden, sich erst in der Frühen Neuzeit hingegen dissimulatio zu einem Verhaltensideal entwickelt habe. Das Rolandslied des Pfaffen Konrad. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Hrsg., übersetzt und kommentiert von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1996.

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zeremoniell manifestiert, leistet diese einen konstitutiven Beitrag zur höfischen Repräsentation. Einfarbigkeit hingegen signalisiert nicht zuletzt in ihrer transgressiven Qualität eine die Gesellschaft bedrohende Totalisierung der Minne. Sir Gawain and the Green Knight führt Einfarbigkeit als Täuschung vor Augen. Beim Grünen Ritter handelt es sich um einen Farbzauber, der die höfische Idealität auf die Füße stellen soll. Gawains Tugend, seine, wenn man so will, moralische Einfarbigkeit, wird seitens des Hofes – durchaus mitfühlend – der Lächerlichkeit preisgegeben. Dass die höfischen Texte mit Farbwerten spielen, scheint evident. Bei den monochromen Rittern geht es aber um mehr als Emotionen, Tugenden oder Statuszuweisungen markierende Farbwerte, es geht ums Ganze der Gesellschaft, insofern offenbar regelmäßig über Farbkodierungen deren Ordnungsprinzipien narrativen Verhandlungen unterzogen werden. Totalisierung der Minne (Mabonagrin) und Täuschung in ihren Spielformen von Selbsttäuschung (Gawain) und dissimulatio (Genelun) gefährden die höfische Gesellschaft von innen. Das Erscheinen monochromer Ritter in höfischen Texten indiziert solche potentiellen Bedrohungen.

Dagmar C. G. Lorenz

Imaginierte Körperfarben Zur Konstruktion und Kritik rassistisch besetzter Farbsemantiken das Jüdische betreffend

„Schade, daß sie schwarze Haare hat,“ stellt Christina Evans, eine der Figuren in Veza Canettis posthum veröffentlichten Lustspiel Der Palankin, über ihre Bekannte Sophie fest, als besiegele die Haarfarbe schon den Misserfolg dieser angehenden jungen Schauspielerin.1 Die Bedeutung von Körperfarben, einschließlich der Haarfarbe, im gesellschaftlichen Kontext ist ebenso bekannt wie die sinnstiftende Zuschreibung von Farben allgemein. Im Gegensatz zu Veza Canettis in Wien entstandenen Werken spielt ihr 1939 im englischen Exil geschriebener Roman Die Schildkröten exklusiv unter Juden mit Ausnahme der peripher wahrgenommenen Vertreter der feindlichen deutschen Besatzungsmacht und einiger Österreicher. Mit dem sogenannten Anschluss im März 1938 waren auch in Österreich die Nürnberger Rassengesetze in Kraft getreten und die bereits 1935 mit ihrem Mann Elias aus dem dicht besiedelten zweiten Wiener Stadtbezirk in den Vorort Grinzing umgesiedelte Autorin sah sich zunehmend antisemitischer Verfolgung ausgesetzt.2 Innerhalb ihres an ihren eigenen Wiener Freunden und Bekannten modellierten Figurenarsenals wird ein durchaus vielfältiges Panorama von Charakteren und Einstellungen sichtbar. Canetti vermittelt den Eindruck einer Vielfalt ihrer jüdischen Gestalten unter anderem durch die ihnen kalkuliert zugeschriebenen Körperfarben, besonders durch Haarfarbe und Teint. Die Farbskala reicht von blond bis schwarzhaarig und macht einerseits deutlich, dass die Farbpalette der Rassenkundler und Nazi-Ideologen, mit der Canetti durchaus vertraut ist, bewusst hinterfragt und unterminiert wird. Andererseits gibt die Autorin zu erkennen, dass Haarfarbe und Teint nicht nur in der diskriminierenden dominanten Gesellschaft, sondern auch innerhalb der Minderheit eine Rolle spielen. In diesem Beitrag sollen sowohl die Fremdzuschreibung als auch die Eigenzuschreibung des Jüdischen untersucht werden, soll also dem Bild von Juden in der Imagination von Nichtjuden und in der Imagination von Juden nachgegangen werden. An literarischen Beispielen werde ich darlegen, dass es sich bei den hierzu verwendeten farblichen Bildern – eigentlich mimetische Wahrnehmungen sind es kaum – um schon Vorgegebenes, Abrufbares handelt, das herangezogen wird, um das Konzept des Fremden bzw. des Eigenen auszudrücken. 1 2

Veza Canetti: Der Palankin. In: Dies.: Der Fund. Erzählungen und Stücke. Hrsg. von Elias Canetti. München 2001, S. 206–306, hier S. 214. Veza Canetti: Die Schildkröten. München u. a. 1999.

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„Es mochte ein schönes Gesicht gewesen sein. Als sie es wieder senkte, fiel das schwarze Haar darüber.“3 Mit diesen Worten wird Eva Kain, die Protagonistin, in Die Schildkröten eingeführt, unschwer als eine vom Leid Gezeichnete zu erkennen. Ihre schwarzen Haare sind ihr Verhängnis, wie sie ihrem Mann erklärt: „Es schlagen jeden Tag neue Gesetze auf uns nieder, gegen die Menschen mit schwarzen Haaren.“4 Von der ebenfalls jüdischen Nachbarin Hilde heißt es dagegen: „Sie ist blond und das Haar fliegt über ihr Gesicht. Die hohe Gestalt überwältigt das Matrosenkleid, es ist, als wäre kein Kleid vorhanden, so selbstherrlich macht sich der Körper geltend. Die starken Schultern kehren sich heraus, das Mädchen ist selbstbewußt.“5 Und kurz darauf folgt gewissermaßen das Fazit: „Zum Glück, Hilde ist blond.“6 Selbstbewusstsein und Zuversicht, vielleicht zu viel davon, scheinen Produkte ihrer Blondheit. Hildes naive Ausführungen bei ihrer Annäherung an den SA-Mann Pilz setzen allerdings Warnzeichen: „Papa ist Privatgelehrter. Die Großmutter war groß und blond […], aber sie stammt aus dem Ghetto. Mama, ja Mama ist schwarz und wird schon dick, gesteht Hilde, aber andere Leute sind noch dicker.“7 Bei Andreas Kain, Evas Mann, werden die „slawischen Züge“ und die „hellen“ Augen betont und als Begründung dafür angeführt, dass es in ihm „friedlich aussieht“, denn die feindseligen Blicke, unter denen Eva leidet, treffen ihn nicht.8 Blaue, reine, klare Augen hat auch Andreas’ Bruder Werner, aber seine „Nase [krümmt] sich um ein winziges Stück nach unten“. Andreas gleicht seinem Bruder und gleicht ihm nicht, „weil seine Nase nach aufwärts ging“.9 Felberbaum, der konservative jüdische Mitbewohner der Kains in der engen Stadtwohnung, in die Eva, Werner und Andreas zwangseingewiesen werden, nachdem der SA-Mann Pilz ihre Wohnung übernommen hat, und mit dem sie den Beginn des Terrors erleben, ist ein alter, konservativer Mann mit „dünnen grauen Haaren“. Bei seinem Abtransport in ein Konzentrationslager findet er sich neben „einem Mann, der groß und blond und auch sonst in allem hervorragend“ schien und in dem er den Vorbeter des Tempels erkennt.10 Die unterschiedslose Verfolgung aller Juden zeigt, dass die rassistische Fremdbestimmung durch die Nazis alle gruppeninternen jüdischen Zuordnungen außer Kraft setzt. Das von Veza Canetti umrissene Panorama der jüdischen Gesellschaft in Wien vor dem Holocaust entspricht in etwa den Forschungsergebnissen von Rudolf Virchow aus dem Jahre 1886, eruiert an etwa 10.000 deutschen Schulkindern. Sander Gilman weist darauf hin, dass entsprechend Virchows Studie Ende der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts die westeuropäischen Juden von anderen Westeuropäern ihrer Sprache, Kleidung, Berufswahl, Wohngegend und selbst dem Haarschnitt nach nicht mehr zu 13 14 15 16 17 18 19 10

Ebd., S. 7. Ebd., S. 13. Ebd., S. 17. Ebd., S. 21. Ebd. Ebd., S. 13. Ebd., S. 43, S. 24, S. 25. Ebd., S. 247, S. 237.

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unterscheiden waren. Mehr noch, Virchow stellte fest, dass sie sich auch in Bezug auf Haut-, Haar- und Augenfarbe von der Mehrheit der deutschen Bevölkerung nicht unterschieden. Virchows Statistiken versuchten zu zeigen, dass wo immer ein höherer Prozentsatz der Gesamtbevölkerung hellere Haut oder blauere Augen oder blonderes Haar hatte, auch unter Juden ein höherer Prozentsatz hellere Haut oder blauere Augen oder blonderes Haar hatte. Gilman betont, dass obwohl Virchow versuchte, Gründe für den Eindruck einer jüdischen Akkulturation anzuführen, er doch weiterhin davon ausging, es handele sich bei den Juden um eine gegenüber den Deutschen gesonderte, deutlich rassische Kategorie.11 Elias Canettis eigene Beschreibung seiner zukünftigen Frau Veza als schwarzhaarige Raben-Dame entspricht dem Bild von Veza Canettis dunkler Protagonistin Eva in Die Schildkröten. So heißt es in Canettis Autobiographie: „Sie sah sehr fremd aus, eine Kostbarkeit, ein Wesen, wie man es nie in Wien, wohl aber auf einer persischen Miniatur erwartet hätte. Ihre hochgeschwungenen Brauen, ihre langen schwarzen Wimpern […] brachten mich in Verlegenheit.“12 Diese Darstellung erinnert an das Phantasiebild der „schönen Jüdin“, oft mit Spanien assoziiert, wie es u. a. Florian Krobb untersucht hat, und wie es sich auch bei Klassikern wie Grillparzer findet.13 Auf dunkeln Samt die Glieder hingegossen, Den weißen Arm umkreist von Perlenschnüren, Lehnt weichgesenkten Hauptes die Ersehnte, Die goldnen Locken – nein, ich sage, schwarz! – Des Hauptes Rabenhaar – und so denn weiter! Du siehst, ich bin gelehrig, Garceran, Und da gilt gleich denn: Christin, Maurin – Jüdin.14

Andere Freundinnen fallen Elias Canetti durch ihre „helle“ Erscheinung auf, so etwa Frieda Benedikt, die „sehr hell [wirkte] und versuchte, etwas zu sagen, wobei ihre Augen immer heller wurden […]. So konnte mir nicht entgehen, daß sie grüne Augen hatte“ – eine Eigenschaft, die Susanne Ovadia, Benedikts Schwester, in ihrem Nachwort zu dem Roman ihrer Schwester bestätigt: Friedl „war zierlich und hübsch, mit ihrem blondem, leicht gewelltem Haar und den großen, blau-grün schimmernden Nixenaugen“.15 Im Kontrast dazu wirkt Ovadia als junges Mädchen auf Canetti asiatisch: „[…] 11 12 13 14

15

Sander L. Gilman: Multiculturalism and the Jews. New York 2006, S. 21. Elias Canetti: Die Fackel im Ohr: Lebensgeschichte 1921–1931. München 1980, S. 85f. Florian Krobb: Die schöne Jüdin. Jüdische Frauengestalten in der deutschsprachigen Erzählliteratur vom 17. Jahrhundert bis zum 1. Weltkrieg. Tübingen 1993 (Conditio Judaica. 4). Franz Grillparzer: Die Jüdin von Toledo. In: Ders.: Werke in sechs Bänden. Hrsg. von Helmut Bachmaier. Bd. 3: Dramen 1828–1851. Frankfurt / M. 1987 (Bibliothek deutscher Klassiker. 20), S. 483–555, hier 2. Aufzug, Vers 473–479. Elias Canetti: Das Augenspiel. Lebensgeschichte 1931–1937. München 1985, S. 254. Susanne Ovadia: Nachwort. In: Anna Sebastian [Frieda Benedikt]: Das Monster. Übers. von Christel Wiemken. Köln 2004 (Edition Memoria), S. 319–328, hier S. 323. [Original: The Monster. London 1944].

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mit offenen pechschwarzen Haaren, stark atmend, die dunklen Augen auf ein Ziel gerichtet, das man nicht kannte, sehr jung, […] etwas Östliches in den Zügen (doch für eine Japanerin ihres Alters zu groß und zu schwer).“16 Ovadia ihrerseits beschreibt Canetti wie folgt: „Aber er besaß einen wirklich schönen Denkerkopf, voll von dunklen Haaren, und sehr ausdrucksvolle, helle Augen.“17 Diese Eigenschaften schreibt Veza Canetti Andreas Kain in Die Schildkröten zu. Im Gegensatz zu der Vielfarbigkeit und -gestaltigkeit der jüdischen Charaktere bei Autoren wie den Canettis, die den Rassenkonzepten der Zeit widersprechen, bezeichnen die von Christen und selbsternannten Ariern mit Juden assoziierten Farben die Polarität von Gut und Böse. Auf die Behauptungen der in jeder Beziehung unsauberen Rassenkunde soll hier nicht in Einzelheiten eingegangen werden, da es hier vorrangig um die literarische Tradition gehen soll. Bei der Darstellung von jüdischen Figuren durch Nichtjuden geht es nicht um die Zuschreibung von grundsätzlich neuen Farben, etwa einer Palette, wie sie sich bei der Darstellung von christlichen Gestalten nicht findet. Eher handelt es sich um eine unterschiedliche Farbverteilung oder -tönung. So wird z. B. das Haar jüdischer Frauen nicht als golden oder goldblond bezeichnet, sondern als rot oder schwarz. Es wird ihnen auch nicht die traditionelle weiße oder gar schneeweiße Haut schöner Christinnen zugeschrieben, sondern eher eine Elfenbeinfarbe ohne Erwähnung der viel gelobten roten Wangen. Das schon genannte Grün der Augen breitet sich in dem Nazi-Filmplakat für Jud Süß als penetrantes Giftgrün über das ganze Gesicht des Protagonisten aus.18 Shakespeares Shylock (zw. 1596 und 1598) wurde auf der Elisabethanischen Bühne mit roten Haaren und langer Nase dargestellt bzw. auch mit roter Kopfbedeckung.19 Diese Farbgebung findet sich wieder in Gustav Freytags Soll und Haben (1855) bei Veitel Itzig, dem Hassbild eines jüdischen Mannes, das wie folgt konstruiert ist: „Junker Itzig war keine auffallend schöne Erscheinung; hager, bleich, mit rötlichem krausem Haar, in einer alten Jacke und defekten Beinkleidern sah er so aus, daß er einem Gendarmen ungleich interessanter sein mußte als andern Reisenden.“20 Hier erzeugen vampirhafte Blässe und Rothaarigkeit im Verbund mit dem Hinweis auf eine mögliche kriminelle Energie der Figur sofort den erwünschten Eindruck, der das Ende des Werks, den Tod des in unlautere Geschäfte verwickelten Veitel Itzigs, 16 17 18

19

20

Das Augenspiel (Anm. 15), S. 237f. Ovadia (Anm. 15), S. 323. Vgl. dazu: Arbeitsmaterial zum Nazi-Propagandafilm. In: Lehrer online. Unterrichten mit digitalen Medien. 8. Oktober 2010. http://www.lehrer-online.de/ns-propagandafilm.php, eingesehen am 3. August 2011. Shylock wurde ursprünglich mit roter Perücke als komische Figur dargestellt. Vgl. dazu auch: Shakespeare, Appendix to The Merchant of Venice. A New Variorum Edition of Shakespeare. Hrsg. von Horace Howard Furness. Philadelphia 1888, S. 370. Edgar Rosenberg: From Shylock to Svengali. Stanford 1960, S. 35, merkt an, dass zu Sir Walter Scotts Zeit die roten Haare bei der Darstellung von Juden nicht mehr erforderlich waren, und schwarze Haare den Vorteil hatten, ein Übermaß von Fett zu suggerieren. Gustav Freytag: Soll und Haben: Roman in sechs Büchern. Leipzig 1892, S. 20.

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bereits erahnen lässt. In Wilhelm Raabes Der Hungerpastor (1864) ist es wieder die schwarze Haarfarbe, die zur Charakterisierung des jüdischen Antihelden Moses Freudenstein verwendet wird und zwar auf eine Weise, die dessen destruktives Wesen gleich mit erfasst: „Die schwarzen Haare zerwühlend, saß hier Moses, immer mehr beschäftigt, die bunte Mannigfaltigkeit des Lebens aufzulösen.“21 Jüdische Männer, wie um Überalterung ihres Volkes zu suggerieren, werden oft mit Weiß oder grau kodiert, wie Stifters ahasverischer Jude Abdias, auf dessen subtil antisemitische Tendenz die Germanistin und Auschwitzüberlebende Ruth Klüger überzeugend aufmerksam gemacht hat.22 „Dreißig Jahre nach dem Tode Ditha’s lebte Abdias noch. Wie lange nachher, weiß man nicht. In hohem Alter hatte er die schwarze Farbe verloren, und war wieder gebleicht worden, wie er in seiner Jugend gewesen war.“23 Eine Ausnahme zu dieser Farbwahl stellt die Figur der blauäugigen Ditha in Stifters Abdias dar, wie um das wunderbare Mädchen, das jungfräulich von einem Blitz erschlagen wird und stirbt, von den anderen Juden, von den Menschen überhaupt, abzusetzen. Es zeigt sich an ihr eine Aura, „da sie eben an dem offenen Fenster stand und dem entfernten Blitzen zusah, bemerkte Abdias, der hinter ihr in einem Stuhle saß, daß ein leichter, schwacher, blaßer Lichtschein um ihr Haupt zu schweben beginne.“24 Da das Jüdische traditionell mit Spanien oder dem sogenannten Orient assoziiert ist, wird bei weiblichen Gestalten, besonders auch in der Malerei, zur Steigerung des Exotischen gern das Motiv des üppigen schwarzen Haars, allerdings bei relativ blasser Hautfarbe, verwendet, man denke etwa an Klimts Judith- oder Salome-Gestalten, aber auch offenes rotes Haar wird zu eben diesem Effekt eingesetzt, z. B. bei Pierre Bonnauds Salome.25 Die voluptuöse, schwarze mit goldenen Ornamenten ausgestattete Skulptur Königin Esther (1972) des einst von den Nazis verfolgten Ernst Fuchs auf der Terrasse seiner von Otto Wagner erbauten Fin de siècle-Villa in Wien-Hütteldorf ist Parodie und Würdigung solcher Phantasmagorien jüdischer Weiblichkeit und ein Aufruf zum Umdenken, das der Holocaust erforderlich machte und das trotzdem zumeist nicht erfolgte.26

21 22

23 24

25 26

Wilhelm Raabe: Der Hungerpastor. Berlin 271906, S. 72. Ruth Klüger: Die Leiche unter dem Tisch. Jüdische Gestalten aus der deutschen Literatur des neunzehnten Jahrhunderts. In: Dies.: Katastrophen. Über deutsche Literatur. Göttingen 1994, S. 83–108, hier S. 99. Adalbert Stifter: Abdias. In: Ders.: Studien II. Augsburg 1956, S. 5–104, hier S. 104. Ebd., S. 91. Weiter heißt es ebd., S. 98: „Wenn Abdias nun so voraus dachte, wie alles werden würde; wenn er an einen künftigen Bräutigam dachte, so fiel ihm die schöne, dunkle, freundliche Gestalt Urams ein, dem er sie gegeben hätte – aber da Uram todt war, konnte er sich nichts anders denken, als daß Ditha immer schöner und blühender werden und so fort leben würde.“ Das Bild des 1865 geborenen Pierre Bonnaud im Internet unter: http://www.victorianweb.org/ painting/france/bonnaud1.html, eingesehen am 3. August 2011. Das Bild der Skulptur im Internet unter: http://www.werbeka.com/wien/wien2/wvefmd.htm, eingesehen am 2. August 2011.

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Günter Grass’ Die Blechtrommel (1959) soll als ein Werk, das sich mit dem Dritten Reich und dem Zweiten Weltkrieg auseinandersetzt, exemplarisch ins Auge gefasst werden. In ihrem bahnbrechenden Artikel A ‚Jewish Problem‘ in German Postwar Fiction hat Ruth Klüger bereits beobachtet, dass Grass den von den Nazis an der jüdischen Bevölkerung begangenen Genozid auf verzerrte und sentimentalisierende Weise in sein Werk einbringt. Sie kritisiert vor allem die klischeehafte Darstellung des jüdischen Spielwarenhändlers Sigismund Markus in den Kapiteln „Fernwirkender Gesang vom Stockturm aus gesungen“ und „Glaube, Liebe, Hoffnung“. Seine Darstellung als Schwächling und geborenes Opfer minimalisiere den Holocaust und mache somit den Genozid für die Leser erträglich.27 Die Beschreibung seiner braun gefleckten behaarten Hand und seiner Haare lassen Markus physisch widerwärtig erscheinen. „Ärmelschoner trug er wie gewöhnlich über seinem dunkelgrauen Alltagstuch. Kopfschuppen auf der Schulter verrieten seine Haarkrankheit.“28 Für die Konstruktion des als durchaus unheroisch, ja verächtlich dargestellten polnischen Holocaustüberlebenden Mariusz Fajngold verlässt sich Grass auf bekannte Farbstereotype. Der in Polen verbleibende Fajngold, „mit dünnem rötlich wehendem Haar“ (ein in kurzer Abfolge zweimal erwähntes Kennzeichen) winkt dem Zug, der mit der von ihm begehrten deutschen Frau, Maria Matzerath, abfährt, bis er „nur noch aus Winken bestand, bis es ihn nicht mehr gab“.29 Angesichts der unerfreulichen Charaktereigenschaften, mit denen Grass Fajngold ausgestattet hat, scheint sein Verbleiben in Polen als die beste Lösung. Die christliche Imagination hat seit dem Mittelalter Judentum und Juden mit den Farben des Satans, rot und schwarz, kodiert.30 Als Haarfarben evozieren Rot und Schwarz auch Hexen, sündhafte und laszive Frauen, sowie Frauen, die gegen die Normen verstoßen wie etwa Shakespeares Dark Mistress im Gegensatz zu dem platonisch verehrten blonden Jüngling der Sonette. Auf diese sprachlich abgespeicherten Farbsemantiken konnte sich dann auch die sogenannte Rassenkunde berufen, die im späten neunzehnten Jahrhundert und frühen zwanzigsten Jahrhundert Einstand hielt.31 Zwar heißt es bei Hans F. K. Günther, dem wohl prominentesten Rassenkundler der Nazi-Ära, zunächst, „das eigentliche Wesen des jüdischen Aussehens [sei] schwer mit einer ge-

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Günter Grass: Die Blechtrommel. Frankfurt / M. 1963. [Erstausgabe 1960]. „Fernwirkender Gesang vom Stockturm aus gesungen“, S. 76–86; „Glaube, Liebe, Hoffnung“, S. 160–167. Ruth Klüger Angress: A ‚Jewish Problem‘ in German Postwar Fiction. In: Modern Judaism 5 / 1 (1985), S. 215– 233. Vgl. dazu außerdem Ruth Klüger: Gibt es ein ‚Judenproblem‘ in der deutschen Nachkriegsliteratur. In: Dies.: Katastrophen (Anm. 22), S. 9–38, hier S. 23. Die Blechtrommel (Anm. 27), S. 164f. Ebd., S. 347. Melvin Konner: The Jewish Body. New York 2009, S. 83, kommentiert das Motiv des „satanischen Juden“. Vgl. dazu außerdem: Joshua Trachtenberg: The Devil and the Jews. The Medieval Conception of the Jew and Its Relation to Modern Anti-Semitism. New Haven 1943. Hans F. K. Günther: Rassenkunde des deutschen Volkes. München 1922. Darin: „Rassenkunde des jüdischen Volkes“, S. 367–434.

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wissen Sicherheit und Genauigkeit zu beschreiben“.32 Dann aber unternimmt er doch den Versuch, einen jüdischen Phänotyp zu erstellen. Mit pseudo-wissenschaftlicher Akribie beschreibt Günther die Hautfarbe von Juden als „meist dunkler“ als bei „nordrassischen“ Menschen, die Augenfarbe als dunkler, und wenn heller, dann grün. In Berufung auf Virchow heißt es: „Der Farbe nach ist das Haar bei der Mehrzahl der Juden dunkel, entweder braun oder schwarz. Doch findet sich eine auffallend große Anzahl rothaariger Juden, und auch das blonde Haar ist im jüdischen Volk so stark vertreten, daß in südeuropäischer Umwelt die Juden hie und da hellhaariger sind als ihre nichtjüdische Umgebung.“33 Dieser nagenden Ungewissheit zum Trotz entstand jedoch eine rassenkundlich untermauerte Literatur, z. B. Artur Dinters viel gelesene Roman-Trilogie Die Sünden der Zeit, in deren erstem Band Die Sünde wider das Blut (1917) die Unkenntnis der als körperlich, geistig und spirituell dargestellten Gefahr der Rassenmischung zu genealogischen Verwirrungen, ja zur Tragödie, führt. Die Protagonistin des Romans ist eine falsche Blondine, die Tochter einer blonden deutschen Frau und eines schwarzhaarigen jüdischen Bankiers, deren Kind, gezeugt mit ihrem nichtsahnenden blonden deutschen Ehemann, aussieht wie der dunkle Großvater. Ein weiteres schwarzhaariges Kind mit einer neuen blonden Frau entsteht dadurch, dass diese irgendwann mit einem jüdischen Mann liiert war. Wie bereits Freytag und Raabe kontrastiert Dinter dann den verderblichen Werdegang des jüdisch aussehenden Jungen mit dem seines arischen Bruders, was ihm Gelegenheit gibt, Aussehen und Charaktereigenschaften des sogenannten Ariers mit denjenigen der sogenannten Juden zu kontrastieren. Einfacher noch geht es in der Propaganda zu. In Hitlers Mein Kampf wird Pseudowissenschaft mit Physiognomie und Farbsymbolik, mit Altem und Neuem, vermischt. So schreibt Hitler schlicht: „Als ich einmal so durch die innere Stadt strich, stieß ich plötzlich auf eine Erscheinung in langem Kaftan mit schwarzen Locken. Ist dies auch ein Jude? war mein erster Gedanke.“34 Die Antwort auf diese Frage erübrigt sich. Glatt verläuft auch die Stereotypisierung im Propagandafilm, z. B. in Veit Harlans Jud Süß (1940). Der von Ferdinand Marian dargestellte Protagonist sticht durch seine dunklen Haare und Augen aus der christlichen Gesellschaft Württembergs und ihrem Herrscher Karl Alexander, gespielt von Heinrich George, hervor. Zu den Kontrastfiguren zu Süß/ Marian gehören besonders die betont blonden Darsteller Kristina Söderbaum und Malte Jäger. Die vermeintliche Uniformität der jüdischen Bevölkerung ist dadurch angezeigt, dass ein mauschelnder Werner Krauss, der 1943 in Wien auch Shylock darstellte, als Rabbi Loew und Süß’ Sekretär Levy auftritt. In den literarischen Werken jüdischer Autoren kommt es auf verschiedenste Weise zur Aneignung von Stereotypen der dominanten Gesellschaft. Zunächst können diese zur positiven Selbstdarstellung verwendet werden wie in Lion Feuchtwangers Roman Jud Süß (1925). Auch hier finden sich ähnlich wie im rassistischen Diskurs detaillierte 32 33 34

Ebd., S. 372. Ebd., S. 375–376. Adolf Hitler: Mein Kampf. München 1934, S. 54f.

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Körperbeschreibungen und strategisch eingesetzte Farbstereotypen. Der Gräfin werden graue Augen und nussbraune Haare zugeschrieben, dem jüdischen Hoffaktor Landauer in Kaftan und schütterem Ziegenbart rotblond verfärbte Haare, der in seiner Schönheit effeminiert und exotisch wirkende Süß hat dunkelbraune Augen, „sehr rote Lippen“, eine griechische Nase, eine mattweiße Haut (man denke an die Elfenbeinfarbe von Gertrud Kolmars Martha Wolg) und „reiche dunkelbraune Haarwellen“, die er unter einer modischen Perücke versteckt. Im Gegensatz dazu erscheint der Mystiker Rabbi Gabriel – in Veit Harlans Film Rabbi Loew – mit seinen „trübgrauen Augen“ im massigen blutlosen Gesicht gewöhnlich.35 Letztlich kommt es ja auch auf Süß an, der nach dem Mord an seiner schönen Tochter Naemi, welche Kolmar zu ihrer Susanna inspiriert haben mag, und vor seiner spektakulären Hinrichtung eine innere Wandlung durchmacht, die sich auch in der Farbgebung manifestiert. Wichtig ist, dass Feuchtwanger dabei gezielt literarische Klischees und die Rassenkunde unterminiert. Süß, so stellt sich überraschenderweise heraus, ist der Sohn eines christlichen adligen Vaters und hat damit die Möglichkeit, sich über den Vater als Nichtjude zu identifizieren. Er entscheidet sich aber für die jüdische Identität, sein mütterliches Erbe, und so für seinen Untergang. Indem Süß das Judentum wählt, nimmt er das schwere Schicksal eines jüdischen Märtyrers auf sich und legt eine Integrität an den Tag, wie sie keiner der christlichen Charaktere besitzt. Der weißbärtige, ahasverische Süß spricht vor der ihn schmähenden Menge das Schma Israel, das Bekenntnis zum jüdischen Glauben.36 Es ist deutlich, dass es Feuchtwanger um das Bekenntnis zum Judentum als Religion und als Kulturtradition geht. Selbst die den Juden angedichteten Klischees sind in seinem Roman positiv konnotiert. „Das Kind,“ Naemi, „mattweißen Gesichts“ und „blauschwarzen Haars,“ entspricht in ihrer Keuschheit dem Idealbild der bereits aus der deutschen und österreichischen Literatur bekannten „schönen Jüdin“, die in der Gestalt der Rahel bei Grillparzer (Die Jüdin von Toledo) und als Ditha bei Stifter (Abdias) ein tragisches Ende findet. Naemi ist das Gegenstück zu Feuchtwangers keineswegs reinen schwäbischen Jungfer Magdalen Sibylle, ein „kleines, dummes, schwäbisches Landmädel“ mit zwar dunklen Haaren aber blauen Augen, die ihr uneheliches Kind von Süß „ohne viel Federlesen“ zur Welt bringt.37 Ähnliche Assoziationen evoziert nach 1945 das Kontrastpaar Margarete – Schulamith in Paul Celans berühmtem Holocaustgedicht Todesfuge (1948): „Dein goldenes Haar Margarete“ spielt an auf die Mutter und Kindsmörderin Gretchen, die Freundin Fausts, die trotz ihrer Vergehen zum Inbild deutscher Weiblichkeit avancieren konnte. „Dein aschenes Haar Schulamith“ evoziert die Geliebte des Hohen Liedes und steht ikonisch für die im Holocaust ermordeten jüdischen Frauen.38 Auch zur Erhellung des von Sander Gilman in der Nachfolge von Theodor Lessing so bezeichneten jüdischen Selbsthasses, der unreflektierten Angleichung der Eigen35 36 37 38

Lion Feuchtwanger: Jud Süß. Frankfurt / M. 1976, hier S. 13, S. 14–15, S. 35–36, S. 61. Ebd., S. 517. Ebd., S. 345, S. 249, S. 208. Paul Celan: Todesfuge. In: Ders.: Mohn und Gedächtnis. Stuttgart 1952, S. 37–39.

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wahrnehmung an negative Fremdwahrnehmungen, verwenden jüdische Autoren strategisch die bekannten Farbklischees.39 So zum Beispiel Gertrud Kolmar in ihren posthum veröffentlichten Erzählungen Die jüdische Mutter (entstanden 1932/33) und Susanna (entstanden 1935/38).40 Die Protagonistin der ersteren Novelle, Martha Jadassohn, verheiratete Wolg, kommt aus dem ostjüdischen Milieu einer kleinen Stadt in Posen. Mit ihren mittellosen Eltern an der Peripherie der Berliner Gesellschaft lebend, von der reformierten jüdischen Gemeinde gleichermaßen be- wie entfremdet, ist ihre jüdische Identität weitgehend das Produkt ihrer Isolierung und der auf sie projizierten Wahrnehmungen anderer. „Wenn ich Blauaugen will und blondes Haar, brauch’ ich bloß in den Spiegel zu gucken,“ bemerkt Marthas Mann Friedrich und bezeichnet damit die dunkle Erscheinung seiner Frau als aufreizenden Kontrast zu sich selbst.41 Noch dunkler ist das Kind des ungleichen Paares und hebt sich deutlich von seiner blondhaarigen Umgebung ab.42 „Als hätte bei seinem Entstehen des Vaters Helle mit dem Dunkel der Mutter gekämpft und ihr Finsteres hätte sein Lichtes zuletzt erschlagen und aufgefressen. Ursulas Auge und Haar waren nächtig, die Haut war gelblich, fast braun, klang tiefer noch als der Elfenbeinton im mütterlichen Gesicht.“43 Diese phänotypische Entwicklung läuft derjenigen in Dinters Sünde wider das Blut zuwider und ist als kritischer Kommentar auf die mechanistische, an den Mendelschen Regeln orientierte menschliche Vererbungs- und Rassenkunde aufzufassen. Im Bewusstsein ihrer fremdartigen Erscheinung fühlt sich die hilfesuchende Martha als Eindringling bei ihren Nachbarn, den Anliegern einer Gartenkolonie, die sie „böse, fast knurrig, wie Hunde, die man beim Fressen stört“ ansehen.44 Im Gegensatz zu dem blonden Opfer des Kindermörders Beckert in Fritz Langs Film M (1931), in dem der jüdische Schauspieler Peter Lorre die Hauptrolle als psychisch gestörter Lustmörder spielte, deutet Kolmar an, daß Ursa, die Tochter von Martha Wolg, ihrer „schwarzbraunen Haare,“ ihrer „düsteren Haut“ und ihrer slawischen Züge wegen in Berlin besonders gefährdet ist.45 Marthas Schreckensvorstellungen über die Qualen, die ihre geschändete Tochter gelitten haben muss, erinnern an Langs Film. Es wird Martha, dieser rachesuchenden Kindsmörderin, schließlich zum Verhängnis, dass sie so wenig von sich als Jüdin hält und weiß und den Diskurs der Nationalsozialisten von Eugenik und Euthanasie so gründlich verinnerlicht, offenbar ohne zu bemerken, dass dieser sich gegen sie selbst und Ursa richtet. Für sie ist das geschädigte Kind so gut wie tot, und sie verschließt sich dem Zuspruch eines ihr bekannten jüdischen Anwalts, der ihr von ihren Rachewünschen abrät. Stattdessen wendet sich Martha 39 40 41 42 43 44 45

Theodor Lessing: Der jüdische Selbsthass. Berlin 1930; Sander L. Gilman: Jüdischer Selbsthaß: Antisemitismus und die verborgene Sprache der Juden. Frankfurt / M. 1993. Gertrud Kolmar: Die jüdische Mutter. Frankfurt / M. 2003; dies.: Susanna. Frankfurt / M. 1994. Die jüdische Mutter (Anm. 40), S. 18. Vgl. ebd., S. 25: „Martha […] erblickte ein kleines blondzöpfiges Mädchen“, sowie S. 56: „Ihr Nachbar, ein dreister flachsheller Knirps, zupfte Martha am Kleid […]“. Ebd., S. 20f. Ebd., S. 28. Ebd., S. 103.

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an einen Freund ihres toten Mannes, einen gewissen Albert Renkens mit „silbrigem“ Haar. Sie verkennt die Gefahr, die in dessen stechendem Blick aus „fahlblauen Augen“ mit „sehr kleinen Pupillen“ lauert.46 Und nur am Rande nimmt sie zur Kenntnis, dass dieser Renkens den Juden in Deutschland mitleidlos das Schicksal der spanischen Juden von 1492 voraussagt und Marthas Sinnlichkeit als eine schamlose jüdische Eigenschaft bezeichnet. Ihr gehen erst die Augen auf, als sie bei einem überraschenden Besuch in seinem Vorzimmer eine antisemitische Schrift mit dem Titel „Deutsche Wehr – Blätter für völkisches Denken“ findet.47 Die an Julius Streichers Stürmer gemahnenden Artikel zwingen Martha zu der Erkenntnis, dass sie selbst ja die Mörderin ihrer Tochter ist. Indem sie den blonden Antisemiten als Rächer für ihr Kind aufruft, ist sie sowohl Ziel der Rache als auch ihr Opfer. Diese tragische Verwirrung treibt Martha zum Selbstmord. Wie bei Feuchtwanger und Canetti sind auch bei Kolmar schwarze Haare und dunkle Augen Zeichen von Verwundbarkeit und Gefährdung, denen die jüdischen Protagonisten körperlich und seelisch ausgesetzt sind. Bei Feuchtwanger droht die Gefahr durch Nichtjuden, bei Kolmar durch Nichtjuden und Juden. In der Mitte der 1930er Jahre geschriebenen Novelle Susanna geht es Kolmar um die Darlegung der Vorurteile in einer vom westlichen Rassen- und Rassenhygienediskurs beeinflussten jüdischen Gemeinde im „Osten“. Einer ungewöhnlichen jungen Frau namens Susanna wird das Recht auf Liebe, Ehe und Kinder abgesprochen, da sie den herrschenden Vorstellungen von Normalität nicht entspricht. Eine Nachbarin sagt von ihr: „[…] der Rücken ist gerade und der Sechel ist krumm.“ Mit anderen Worten: Susanna mag körperlich vollkommen sein, aber geistig entspricht sie nicht dem, was man für normal hält. Aus dieser eigentlich unbewiesenen Annahme, die auch Susannas aufgeklärter Vormund teilt, zieht Letzterer die Schlussfolgerung „daß Susanna niemals heiraten darf“.48 Susannas Geschichte wird aus der Perspektive einer aus dem Westen Deutschlands geholten Gouvernante erzählt, die elf Jahre nach dem Tod ihres Zöglings entgegen aller Hoffnung auf ein Affidavit wartet, um Deutschland verlassen und sich vor der dort inzwischen begonnenen Judenverfolgung retten zu können. Als Jüdin ist die Erzählerin in ihrer Heimat zu einer Außenseiterin geworden, nachdem sie selbst Susanna als eine solche behandelt hatte. Das Außenseitertum der isoliert gehaltenen Susanna beruht z.T. auf ihrem exzentrischen Verhalten und ihrer bemerkenswerten Erscheinung: „Schön war sie, vollkommen die zarte Haut, die Tönung von altem Elfenbein, die runde Stirn unter schwarzem Haar, die feine und gerade Nase. Dunkel und lachend strahlten die Augen; sie hatten ein sehr tiefes Blau“, berichtet die Erzählerin. Bestimmte Züge teilt Susanna mit Martha Wolg und Ursa (Die jüdische Mutter), so auch die Affinität zu Tieren.49 Wie Martha ist sich Susanna ihrer jüdischen Identität bewusst, aber im Gegensatz zu der in Berlin lebenden Martha und der aus dem Rhein46 47 48 49

Ebd., S. 112–119, S. 135, S. 178. Ebd., S. 144 und S. 182. Susanna (Anm. 40), S. 40 und S. 10. Ebd., S. 11.

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land stammenden Erzählerin, Susannas Gesellschafterin, kennt Susanna die jüdischen Gebete und die Bibel. Darüber hinaus ist sie frei von jedwedem verinnerlichten Antisemitismus, wie ihre Liebe zum Judentum und die Zuneigung zu ihrem jüdisch aussehenden Verehrer Rubin zeigen.50 Die Erzählerin schildert Rubin, den Geliebten des „schönsten Mädchens“ mit Begriffen aus Günthers Rassenkunde als stereotypischen Juden und somit als unattraktiv aus moderner westlicher Sicht. Er hatte „glattes, schütteres Haar auf einem kugelschädligen Kopf und solche ungemilderten, scharf semitischen Züge“.51 Es sind Susannas Bekenntnis zum Judentum angesichts des herrschenden antisemitischen Klimas, ihre Überzeugung, ein Tier zu sein im Gegensatz zu den nach-aufklärerischen cartesianischen und humanistischen Ideologien, wie auch ihre leidenschaftliche poetische Einbildungskraft, die ihre Mitmenschen an ihrem Verstand zweifeln lassen.52 Letztlich ist allerdings ihre Erscheinung die eigentliche Quelle der Aufmerksamkeit, die sie erregt: „Das Sonderlichste war noch, daß die Männer Susanna grüßten. Manche bewundernd, andere augenglitzernd und frech, einige fast ernst und voll Mitleid. Die Frauen jedoch grüßten selten […]. Die Irre, mit der es nun schlimmer wurde, so daß man ihr vorsichtshalber eine Wächterin hielt. Das war gut und gerechte Strafe. Denn dieses Geschöpf tat das Böse, daß jede Frau, die es traf, verwaschen und reizlos wurde.“53 So entsteht ein Konsens, nach dem Susanna als monströs gilt und von den Menschenrechten ausgenommen wird. Selbst ihr Geliebter verlässt sie abschiedslos. Ihre Entscheidung, ihm zu Fuß auf den Zugschienen zu folgen, endet mit ihrem Tod. Wie in Feuchtwangers Jud Süß und Kolmars Die jüdische Mutter erregt die außerordentliche Schönheit einer jüdischen Frau mit schwarzen Haaren, elfenbeinfarbener Haut und dunklen Augen Begierde, Eifersucht und letztlich mörderische Aggression. Nach dem Holocaust ist in den Texten einiger jüdischer Autoren ein parodistischer oder satirischer Umgang mit Stereotypen zu beobachten, so zum Beispiel in Edgar Hilsenraths Roman Der Nazi und der Friseur und in Irene Disches Kurzprosa in dem Erzählband Fromme Lügen.54 Beide Autoren nehmen keine Umkehrung der Klischees selbst, wohl aber eine deren tradierter Zuschreibung und Wertung vor. So führt Hilsenrath in seinem von den deutsch-jüdischen Doppelbiographien des neunzehnten Jahrhunderts inspiriertem Werk den aus unsäglich verkommenen Verhältnissen kommenden späteren Barbier und Nazi-Massenmörder Max Schulz als „unehelichen, wenn auch rein arischen Sohn der Minna Schulz“ ein. Max „hatte schwarze Haare, Froschaugen, eine Hakennase, wulstige Lippen und schlechte Zähne“. Von dem jüdischen Friseursohn 50 51 52 53 54

Ebd., S. 15 und S. 20f. Ebd., S. 42. Ebd., S. 19 und S. 20. Ebd., S. 21. Edgar Hilsenrath: Der Nazi und der Friseur. Frankfurt / M. 1984; Irene Dische: Fromme Lügen. Sieben Erzählungen. Aus dem Englischen übersetzt von Otto Bayer und Monika Elwenspoek. Reinbek bei Hamburg 1994.

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Finkelstein dagegen heißt es: „Mein Freund Itzig war blond und blauäugig, hatte eine gerade Nase, feingeschwungene Lippen und gute Zähne.“55 Es ist aber Max, der als SA-Mann, im Zweiten Weltkrieg hemmungslos mordet, zu Gold kommt und überlebt, während Itzig und seine Familie ermordet werden. Freilich wird es Max durch sein Äußeres leicht gemacht, sich nach 1945 Itzigs Identität anzueignen und als HaganahMitglied und späterer Friseur in Israel als Jude weiterzuleben und Vergünstigungen für Holocaustüberlebende für sich in Anspruch zu nehmen: „Man steckte mich, Itzig Finkelstein, mit anderen Gekreuzigten, in das DP-Erholungslager Lichtenberg bei Berlin. Einem Juden werden keine Fragen gestellt: Waren Sie bei der Wehrmacht? Waren Sie Parteimitglied? Oder gar Mitglied der SS?“56 Zu Max’ angeborenen Merkmalen kommen noch künstliche hinzu, wie die SS-Tätowierung, welche der Auschwitz-Nummer weicht, sowie die Beschneidung, die an dem Erwachsenen vorgenommen werden muss.57 Letzten Endes wird auch das Motiv der Lüsternheit und der Vorliebe für blonde Frauen – ein Standardthema in der antisemitischen Nazi-Literatur – auf Hilsenraths falschen Juden übertragen. Als Schwarzmarkthändler wird er der Geliebte der Gräfin Kriemhild von Hohenhausen. Hilsenraths nachlässiger Umgang mit der Sprache zeigt, dass es sich bei dieser Gestalt, einer nach wie vor fanatischen Antisemitin, um ein Klischee handelt, ja, dass es sich um ein solches handeln soll: „Für mich war sie bloß blond. Vielleicht auch groß. Also groß und blond. Mehr nicht. […] eine große blonde Frau.“58 Aufwendig dagegen wird Max’ spätere Frau, die Holocaust-Überlebende Mira, die aus einem Massengrab klettert, und danach bis zur Staatsgründung Israels stumm bleibt und an einer pathologischen Fresssucht leidet, geschildert.59 Gerade bei dieser Figur fehlt die farbliche Markierung, und sie gewinnt vor allem durch ihr Schicksal Gestalt. In den satirischen Erzählungen Fromme Lügen der in Washington Heights geborenen Irene Dische, die vor der deutschen Veröffentlichung in englischer Sprache als Pious Lies erschienen waren, ist in Eine Jüdin für Charles Allen der Effekt von mit zahlreichen Klischees assoziierten Farben am deutlichsten hervorgehoben.60 Protagonist der Erzählung ist der „unauffällige dunkelhaarige“ Buchhalter aus Oregon namens Charles Allen, dessen kurzes Haar auch als „schwarz“ bezeichnet wird. Er forscht dem Leben und Erbe seines verstorbenen Vaters Johannes Allerhand in Berlin nach.61 Charles’ Expedition führt auch zur Entdeckung seiner deutsch-jüdischen Identität, die unter seiner katholischen Konfession, die er seiner Mutter verdankt, weil sich diese nach der Ankunft in den USA taufen ließ, verborgen liegt. Mit Charles’ Katholizismus geht ein asketischer Lebenswandel Hand in Hand – er verfügt bei seiner Ankunft in Berlin über 55 56 57 58 59 60 61

Der Nazi und der Friseur (Anm. 54), S. 24. Ebd., S. 137. Ebd., S. 138f. Ebd., S. 142. Ebd., S. 261. Irene Dische: Eine Jüdin für Charles Allen. In: Fromme Lügen (Anm. 54), S. 7–76. Ebd., S. 7 und S. 17.

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keine sexuellen Erfahrungen –, und somit eine Reinheit, wie die nazistischen Rassenkundler sie dem nordischen Menschen andichteten. Charles’ Selbstfindung beginnt, als er mit einer geschäftstüchtigen Frau namens Esther in Kontakt kommt, die eigentlich eine deutsche Nichtjüdin namens Margret Becker ist, sich aber das in der Nazipropaganda als jüdisch gekennzeichnete Verhalten zu Eigen gemacht hat und in einer Aufmachung auftritt, mit der sie vortäuscht, Jüdin zu sein: „Ihr schwarzes Haar reichte bis zur Taille, und ein schiefer roter Mund beherrschte das blasse Gesicht.“62 In einer Begegnung mit Esthers Mutter wird diese Aneignung einer jüdischen Identität erklärt: Esther/Margrets Vater war von Beruf Rechtsanwalt und Mitglied der NSDAP und trat später der SS bei. „Und dann bekommt Margret mit fünfzehn,“ also um 1959, „auf einmal diesen Tick. Behauptet, sie heißt Esther. Färbt sich ihr schönes Haar schwarz. Blonde Haare hatte sie, wie ein Engel“, berichtet die Mutter. In der Tat weist sie das Foto von einem „schlanken kleinen Mädchen mit blonden Zöpfen vor, das bei einem bleichen, müde aussehenden Mann auf dem Schoß saß“.63 Charles als katholischer Kryptojude bildet das Gegenbild zu der verkleideten Nazitochter: Er ist unschuldig und unwissend, bis sie ihn korrumpiert. Die Gewalt, die Charles ihr antut, gefolgt von seiner raschen Abreise, ist als Normbruch angesichts einer extremen Provokation zu deuten, als Quelle zukünftiger Gewissensbisse der verhinderten Betrügerin Esther gegenüber. In ihrem Schreiben hinterfragen und ironisieren Hilsenrath und Dische die bekannten Farbklischees und die mit diesen assoziierten Charakterstereotypen auf eine Weise, die den in der Nachkriegszeit eingetretenen historischen und politischen Wandel deutlich zu Tage treten lässt. War es vor dem Ende des Dritten Reichs lebensgefährlich, Jude zu sein oder als Jude zu gelten, so geht aus diesen nach dem Holocaust entstandenen Werken hervor, dass es von Vorteil sein konnte, die Identität eines jüdischen Überlebenden zu besitzen oder anzunehmen, besonders in der Nachkriegszeit, als Nazis gerichtlich belangt wurden. Beide Werke bringen zudem zum Ausdruck, dass es häufig gerade ehemalige Nazis und ihre Kinder waren, die in den Genuss dieser Vorteile kamen. So begründet der Massenmörder Max Schulz eine angesehene Existenz in Israel als Ehemann einer Holocaustüberlebenden und Familienvater auf der Basis seines jüdischen Äußeren. Bei Dische schafft sich die Nazitochter Margret Becker als Angestellte und Geliebte des zurückgekehrten Exilanten nicht nur ein lukratives Angestelltenverhältnis, sie ist sogar im Begriff, sich den Besitz des Verstorbenen anzueignen: „Wissen Sie, ich habe alles für Allerhand getan“, erklärt sie seinem Sohn. „Über fünfzehn Jahre lang. Ich habe aus seinem Laden was gemacht, und jetzt, wo er tot ist, kommen zum Dank seine Verwandten und halten die Hand auf.“64 Es ist ironisch, dass es die Deutsche ist, die Nazitochter Esther/Margret, die zwei jüdische Männer, Vater und Sohn, zu übervorteilen sucht, indem sie sich mittels ihrer Verkleidung und gefärbtem Haar in ihr Vertrauen 62 63 64

Ebd., S. 15. Ebd., S. 73. Ebd., S. 15.

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einschleicht, um sie dann auszubeuten. Hilsenraths und Disches subversive Narrative führen nicht nur völkische Vorstellungen von Rasse und Körperfarbe ad absurdum, sie dekonstruieren auch die in der Nachkriegsliteratur oft anzutreffenden Opfernarrative der ehemaligen Täter. Diese sind, wie oben gezeigt, selbst bei prominenten und als kritisch geltenden Autoren wie Grass anzutreffen, deren Werke, indem sie antisemitische Klischees validieren, Belege für das Weiterleben der Vorkriegsideologie sind. Wie leicht diese Klischees wieder ihrem ursprünglichen Zweck der Diffamierung zugeführt werden können, dokumentiert der 2002 erschienene Roman Tod eines Kritikers von Martin Walser, der mit antisemitischen Stereotypen arbeitend nicht zu Unrecht als ein boshafter ad hominem Angriff auf den jüdischen Literaturkritiker Marcel Reich-Ranicki gedeutet wurde.65 Gleich auf welche Weise die mit Rassismus und Diskriminierung konnotierten Farbschemata und Klischees verwendet werden, die Tatsache, dass sie weiterhin verfügbar sind, belegt ihre Persistenz. Darüber hinaus ist festzuhalten, dass diese Farbzuschreibungen nicht nur in literarischen und propagandistischen Texten tradiert wurden und werden, sondern auch im analytischen Diskurs von Interpreten und Kritikern. So zitiert die gegenwärtige Wikipedia-Seite zur Farbsymbolik den entsprechenden Artikel aus Meyers Große[m] Konversations-Lexikon von 1906, nach dem Rot nicht nur Leben, Liebe und Leidenschaft, Feuer oder Sonnenglut bezeichnet, sondern auch als „Zeichen der Vermischung mit dunkeln Rassen, als Zeichen verräterischer Gesinnung (Judas) […]“. Und weiter heißt es: „Schwarz endlich gilt außer der Farbe der Trauer hauptsächlich noch als die der Unterwelt und des Bösen sowie aller nächtlichen Taten und Gelüste (schwarzes Herz, schwarze Gedanken, schwarze Opfertiere für die Unterirdischen). Auch mit Feuerrot oder Gelb gepaart, diente Schwarz zur Symbolisierung des Teufels und seiner Heerscharen.“66 Auf diese Weise ermöglicht das an traditionellen Topoi orientierte analytische Lesen einen einfachen Zugriff auf Klischees und Gemeinplätze, die der literarische Kanon anbietet, und damit wiederum dessen Übertragung in andere Diskursformen. Die ursprüngliche Willkürlichkeit der Farbsymbolik, willkürlich wie das sprachliche Symbol selbst, wird vergessen oder ignoriert, wie auch das Wissen um die Zufälligkeit der farblichen Erscheinung ausgeblendet wird durch einen irrationalen

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Martin Walser: Tod eines Kritikers. Frankfurt / M. 2002. Klaus Briegleb: Unkontrollierte Herabsetzungslust. Martin Walser und der Antisemitismus der ‚Gruppe 47‘. In: Die Welt online vom 29. Juni 2002 argumentiert: „Aber es geht um Antisemitismus, um den deutschen Antisemitismus ‚nach Auschwitz‘.“ http://www.welt.de/print-welt/article397093/Unkontrollierte_Herabsetzungslust.html, eingesehen am 7. Oktober 2010. Aleida Assmann: Two Forms of Resentment: Jean Améry, Martin Walser and German Memorial Culture. In: New German Critique 90 (2003), S. 123–133, hier S. 128, sieht den Grund für Walsers Ressentiment, das bereits während der BubisDebatte zum Ausdruck kam, in dessen Ablehnung der „culture of intensive memoralization“ des Holocaust, die sich in Deutschland entfaltet hatte. Meyers Großes Konversations-Lexikon. Bd. 6. Leipzig 1906, S. 319–320. Farbsymbolik. In: http://de.wikipedia.org/wiki/Farbsymbolik, eingesehen am 23. Juni 2010.

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Glauben an die wesenhafte Bedeutung von Farben. Dem Farbdiskurs Menschen und Tiere unterliegt immer ein ideologisches und politisches System. Farblich schwer klassifizierbare Körper sind für Rassen-, Kasten- und Symbolsysteme beunruhigend, weshalb hybride oder unzuverlässige Körper durch eigens zu diesem Zweck gewählte Farben eine Vereindeutigung erfahren. So deutet etwa das Schwarz der Kleidung auf die Trauer, das weiße Kleid bei der Hochzeit auf die Reinheit ebenso wie der gelbe Fleck oder der gelbe Judenstern zur Bezeichnung des Jüdischen verwendet werden. Meister solcher vereindeutigender Farbmarkierung waren die Nationalsozialisten, die für alle erdenklichen Kategorien von KZ-Gefangenen eine kennzeichnende Farbe bereit hielten: Gelb für jüdische, Rosa für schwule, Rot für politische, Grün für sogenannte kriminelle Gefangene, usw. Den scheinbar eindeutigen Farbzuweisungen unterliegt allerdings oft eine finstere Ironie. So überschneidet sich die Farbgebung der rot-schwarzen Hakenkreuzfahne Nazideutschlands und der Hakenkreuzarmbinde der SA, der Symbole der vorgeblich echten Arier, mit den jahrhundertelang den Juden zugeschriebenen Farben. Dieser Umstand ist den Bezeichnern wohl kaum aufgefallen, denn es ist gemeinhin die sozial schwächere Gruppe, die gesehen und analysiert wird, die Frauen – „Das Weib“ – von den Männern,67 die Roma von der jeweiligen sesshaften Bevölkerung, die sogenannten Indianer von den Europäern, den angeblich Weißen, die Juden von den Nichtjuden. Der Grund, weshalb die erfundenen und aufgezwungenen Zuschreibungen Gültigkeit beanspruchen können, ist der ungleiche Zugang zu Kommunikationsmitteln. Im Laufe der Geschichte bildeten Juden unter den nicht-territorialen Völkern eine Ausnahme aufgrund ihres hohen Bildungsniveaus, das Lese- und Schreibfähigkeit und das Erlernen von Sprachen einschloss. Daraus ergaben sich Möglichkeiten zur Etablierung, Tradierung und Verbreitung eigener alternativer Vorstellungen und Gegenbilder. Versuche, jüdische Erfahrungen und Perzeptionen zu veröffentlichen und feindliche Klischees abzuwehren, gibt es im deutschsprachigen Schreiben seit der Aufklärung und verstärkt seit dem neunzehnten Jahrhundert. Selbstverständlich handelt es sich bei den gegen Juden und Judentum gerichteten Feindbildern um weit mehr als die Manipulation von Farbsymbolik. Letztlich aber ist diese ein wichtiger Bestandteil derjenigen Strategien, die dazu verwandt werden, das Fremde gegenüber dem Eigenen sichtbar und eindeutig abzuwerten. Die Bedeutung von Farben für soziale Ausgrenzungs- und Diskriminierungsprozesse darf nicht unterschätzt werden, weil Farben die Sinne und nicht den Intellekt ansprechen. Farben sind unmittelbar erkennbar und haben für Gedächtnis- und Lernfunktionen eine besondere Bedeutung, wie etwa an der Falschfarbzuweisung für medizinische Modelle aus pädagogischen Gründen ersichtlich ist.68

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Vgl. dazu etwa: Emerich du Mont: Das Weib. Über dessen Wesen und Verhältniß zum Manne. Philosophische Briefe. Leipzig 1880. Vgl. dazu Sabine Müller und Dominik Groß: Farben als Werkzeug der Erkenntnis. In: Farbe – Erkenntnis – Wissenschaft. Zur epistemischen Bedeutung von Farbe in der Medizin. Hrsg. von Dominik Groß, Tobias H. Dunker. Berlin 2006, S. 93–116.

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Dagmar C. G. Lorenz

Bei der ideologischen Ausdeutung der an menschlichen Körpern wahrgenommenen Farben einschließlich der Suggestion und Verwendung falscher Farben zum Zwecke der Indoktrination sowie auch bei dem erzwungenen Tragen diskriminierender Farben handelt es sich ja im Grunde um jene Lehr- und Einübungsstrategien, die jeder Gewalt vorausgehen.

Imaginierte Körperfarben

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Historische Anthropologie

Elke Brüggen

Die Farben der Frauen Semantiken der Colorierung des Weiblichen im Parzival Wolframs von Eschenbach Joachim Bumke zum Gedenken

Sie müssen Farben für Sofie finden, wie kein Maler sie je angerührt hat. Müssen Wörter finden, die Götter den Dichtern nur in stillsten Stunden übereignen, und Sie müssen, ach nein, es ist alles Unsinn, was ich sage, Vermessenheit, nein, schreiben Sie, eine schöne, sehr junge Weiblichkeit, punktum, jeder soll sich genau jene vorstellen können, die er für die Schönste hält, einen gewissen Zauber kann man nur teilen, mitteilen, indem man Feinheiten verschweigt, sehen Sie mich nicht so herablassend an, ich weiß, Sie werden das gut machen, ja. (Helmut Krausser, Eros, Köln 2006, S. 25f.)

Manche tragen geradezu abenteuerliche Namen. Sie heißen dann Papiris von Trogodiente, Behantins von Kalomidente, Farielastis von Affricke oder auch Amaspartins von Scipelpionte. Die Rede ist von Figuren im Werk Wolframs von Eschenbach.1 Zu Hunderten bevölkern sie die Erzählwelten des Parzival und des Willehalm, und ihr Autor hat mitunter ganze Listen solcher Wortungetüme angehäuft, welche das Korsett des vierhebigen Reimpaarverses sprengen und den in der Epik um 1200 geltenden Standards metrischer Formung Hohn sprechen.2 Anders als in der Vorlage, dem Roman de 1

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Einen neuen Überblick gibt jetzt das Figuren-Lexikon von Elke Brüggen und Joachim Bumke. In: Wolfram von Eschenbach. Ein Handbuch. Hrsg. von Joachim Heinzle. Band 1–2. Berlin / Boston 2011, hier Bd. 2, S. 835–938. Der Parzival wird nach der folgenden Ausgabe zitiert: Wolfram von Eschenbach: Parzival. Auf der Grundlage der Handschrift D. Hrsg. von Joachim Bumke. Tübingen 2008 (Altdeutsche Textbibliothek. 119). – Die eingangs genannten Namen finden sich in einer Aufzählung von besiegten Gegnern, die Feirefîz gibt, nachdem König Artûs ihn und Parzivâl gebeten hat, ihm „[…] liute und lant“ zu nennen, „die iu mit strîte sîn bekant“ (V. 23015f./ 769,27f.); Namenvarianten sind erfasst bei Nigel F. Palmer: Zum Liverpooler Fragment von Wolframs ‚Parzival‘. In: Studien zu Wolfram von Eschenbach. Festschrift für Werner Schröder zum 75. Geburtstag. Hrsg. von Kurt Gärtner, Joachim Heinzle. Tübingen 1989, S. 151–181. Die Liste des Feirefîz hat in der Vorlage, Chrétiens Conte du Graal, keine Entsprechung, ebenso wenig die unmittelbar daran anschließende Aufzählung, die Parzivâl liefert (V. 23071–108/ 771,23–772,30). In einer Überleitung von der Gauvainzur Perceval-Handlung, als der Erzähler Percevals fünfjährige Suchfahrt resümiert, wird lediglich gesagt, dass Perceval auf merkwürdigen, gefährlichen und schwierigen Aventiuren sechzig Ritter

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Elke Brüggen

Perceval ou Le Conte du Graal von Chrétien de Troyes, in dem ein großer Teil des Personals namenlos bleibt und unter Bezeichnungen wie pucele oder pucelete, damoisele, li Vermax Chevaliers, li Rois Peschiere, la germaine cousine oder la damoisele estolte erscheint,3 sind im Parzival fast alle Figuren der Handlung mit Namen bedacht worden.4 Es ist ein fast obsessiv anmutender Zug in Wolframs Erzählen, gesteigert bis

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als Gefangene an den Hof von König Artus schickte; siehe Chrétien de Troyes: Le Roman de Perceval ou Le Conte du Graal. Der Percevalroman oder Die Erzählung vom Gral. Altfranzösisch / Deutsch. Übersetzt und hrsg. von Felicitas Olef-Krafft. Stuttgart 1991 (Reclams UniversalBibliothek. 8649), V. 6224ff. Chrétien ist mit dem Mittel des Namenkatalogs im Perceval ohnehin sehr zurückhaltend umgegangen. – Listen und Kataloge von Namen kennt bereits die antike Epik – man denke nur an den berühmten Schiffskatalog aus Homers Ilias, 2, 484ff. Zu Ursprung und Entwicklung sowie zu den Formen und Funktionen solcher Aufzählungen in der antiken Epik vgl. Wilhelm Kühlmann: Katalog und Erzählung. Studien zu Konstanz und Wandel einer literarischen Form in der antiken Epik. Diss. Freiburg i. Br. 1973. – Eine neuere Studie zu den Namenkatalogen in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Epik des 12. bis 16. Jahrhunderts hat Michael Müller vorgelegt: Namenkataloge. Funktionen und Strukturen einer literarischen Grundform in der deutschen Epik vom hohen Mittelalter bis zum Beginn der Neuzeit. Hildesheim / Zürich / New York 2003 (Documenta Onomastica Litteralia Medii Aevi. Dolma. Reihe B Studien. 3); zu den Namenkatalogen in Wolframs Willehalm ebd. S. 109–155, zu den Namenkatalogen im Parzival und im Titurel S. 203–216, zu den hier in Rede stehenden Gegnerkatalogen im Parzival S. 210–216, jeweils mit älterer und weiterführender Literatur. Vgl. auch die Zusammenstellung einschlägiger Forschungsliteratur bei Christa Jochum-Godglück: Namen und die Konstruktion christlicher und heidnischer Räume in Wolfram von Eschenbachs Willehalm. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik 39, Heft 156 (2009), S. 132–144. Die Studie von Jane Bliss (Naming and Namelessness in Medieval Romance. Woodbridge / Suffolk 2008 [Studies in Medieval Romance. VII]) basiert auf einer Untersuchung englischer und französischer Texte. Eine neue Skizze zur Untersuchung der Signifikanz literarischer Namen stammt von Wolfgang Haubrichs: Die Signifikanz der Heldennamen. In: Das ‚Nibelungenlied‘ und ‚Das Buch des Dede Korkut‘. Sprachwissenschaftliche Beiträge zum ersten interkulturellen Symposium in Baku, Aserbaidschan, 2009. Hrsg. von Kamal M. Abdullayev [u. a.] unter redaktioneller Mitarbeit von Dorothea Winterling. Wiesbaden 2011 (Imagines Medii Aevi. Interdisziplinäre Beiträge zur Mittelalterforschung. 28), S. 55–70. Vgl. Müller (Anm. 2): „Chrétiens ‚Perceval‘ ist mit etwas mehr als einhundert verschiedenen Personen- und Ortsnamen im Vergleich zu Wolfram ‚namenarm‘ zu nennen.“ (S. 205, Fußnote 379). Die nahezu durchgängige Benennung der Figuren steht in einem Zusammenhang mit der von der Forschung stark beachteten Textstrategie der verzögerten oder auch der vorausgreifenden Namensnennung. Vgl. Dennis H. Green: The Art of Namedropping in Wolfram’s ‚Parzival‘. In: WolframStudien VI (1980), S. 84–150, hier S. 114–126; Silke Rosumek: Techniken der Namensnennung in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘. In: Namen in deutschen literarischen Texten des Mittelalters. Vorträge. Symposium Kiel, 9.–12.09.1987. Hrsg. von Friedhelm Debus, Horst Pütz. Neumünster 1989 (Kieler Beiträge zur Deutschen Sprachgeschichte. 12), S. 189–203, hier S. 190f. Alexander Lasch hat die von ihm als Inversion bezeichnete Technik der zunächst vorenthaltenen Namensnennung in einem interessanten Beitrag zu Hartmanns Erec zum Thema gemacht: „Eingreifendes Denken“. Rezipientensteuerung aus pragmatischer Perspektive in Hartmanns von Aue Erec. In: Imagination und Deixis. Studien zur Wahrnehmung im Mittelalter. Hrsg. von Kathryn Starkey, Horst Wenzel in Verbindung mit C. Stephen Jaeger, Peter Strohschneider, Carsten Morsch. Stuttgart 2007, S. 13–31.

Die Farben der Frauen

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hin zu dem Phänomen des Namens ohne Person.5 Er steht in einem Zusammenhang mit dem erzählerischen Projekt, nahezu alle auftretenden oder genannten Figuren des Textes in ein großes, zumindest für moderne Rezipienten nur schwer überschaubares Verwandtschaftsnetz einzubinden, welches dem komplexen Erzählgeflecht des Parzival ein Rückgrat gibt und überdies eine in diverse Konstellationen ausgefaltete thematische Leitlinie. Zudem knüpft der Autor mit Hilfe von Figurennamen und Motiven in auffallender Weise an die arthurische Erzählwelt Hartmanns von Aue an, gestaltet sie weiter aus, vervollständigt sie, führt sie fort und erschafft sich so einen text- und werkübergreifenden Fiktionsrahmen.6 Die große Anzahl namentlich genannter Figuren zählt zu den Besonderheiten des Parzival, die diesen Artus- und Gralroman vom Anfang des 13. Jahrhunderts von vergleichbaren Texten abheben. Ein Novum stellt auch die Fülle weiblicher Figuren dar – im Parzival hat man es mit etwa fünfzig Frauenfiguren zu tun, die mit einem Namen bedacht werden. Viele gewinnen ein eigenes Profil und sind für die Sinnkonstitution des Textes bedeutend. In meinem Beitrag möchte ich den Blick auf die literarische Colorierung des Weiblichen im Parzival lenken. Mein Zugriff zielt auf eine Erfassung der im Zusammenhang mit der Darstellung von Frauenfiguren vorkommenden Farben, auf die literarischen Techniken ihrer Evokation, auf ihre kontextabhängigen Semantiken und ihre unterschiedlichen Diskursivierungen. Dabei soll gezeigt werden, dass prinzipiell Erwartbares (wie die ausführliche descriptio personae oder figurae) entweder ganz fehlt oder (so die Vorliebe für die Verbindung von Weiß und Rot) in besondere Zusammenhänge gestellt und insofern ein in hohem Maße signifikanter Umgang mit topischem Material praktiziert wird. 5

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Hierbei geht es um Figuren, die zwar genannt werden, die aber nicht handelnd hervortreten. Vgl. dazu Müller (Anm. 2), S. 10 mit Fußnote 18. Beim Parzival bezieht sich dieses Phänomen nicht nur auf Namen von biblischen Figuren und Heiligen oder Figuren aus anderen literarischen Werken, sondern auch auf Namen von Figuren, die erst mit diesem Text (resp. seiner Vorlage) in die Literatur eingeführt wurden und in diesem Sinne genuin zum erzählerischen Kosmos des Parzival zählen. Die bedeutendste unter ihnen ist wohl Clinschor; weitere sind etwa Ampflîse, Isenhart oder Secundille. Auch Lähelîn würde ich hier eingliedern, da er zwar einen kurzen Auftritt im zweiten Buch hat, ansonsten aber nur über die Erwähnungen aus dem Munde anderer Figuren oder über Einlassungen des Erzählers gegenwärtig ist. Vgl. zu diesem Komplex Elke Brüggen: Schattenspiele. Beobachtungen zur Erzählkunst in Wolframs ‚Parzival‘. In: Wolfram-Studien XVIII (2004), S. 171–188; Markus Stock: Lähelin. Figurenentwurf und Sinnkonstitution in Wolframs ‚Parzival‘. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 129 (2007), S. 18–37; Robert Schöller: Minne-Fragmente. Angedeutete Liebestragödien im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. In: Mythos – Sage – Erzählung. Gedenkschrift für Alfred Ebenbauer. Hrsg. von Johannes Keller, Florian Kragl. Göttingen 2009, S. 441–454. Vgl. dazu Rüdiger Schnell: Literarische Beziehungen zwischen Hartmanns ‚Erec‘ und Wolframs ‚Parzival‘. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 95 (1973), S. 301–332; Christine Wand: Wolfram von Eschenbach und Hartmann von Aue. Literarische Reaktionen auf Hartmann im ‚Parzival‘. Herne 1989; Ulrike Draesner: Wege durch erzählte Welten: Intertextuelle Verweise als Mittel der Bedeutungskonstitution in Wolframs ‚Parzival‘. Diss. Frankfurt a. M. [u. a.] 1993 (Mikrokosmos. 36). Müller (Anm. 2), S. 208–210.

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Elke Brüggen

Wer sich für die Farben der Frauen interessiert, wird bei einem höfischen Roman wie dem Parzival als erstes nach beschreibenden Passagen Ausschau halten, welche im Rahmen einer Darstellung weiblicher Schönheit7 Gelegenheit bieten, die Haare, das Antlitz und einzelne Körperpartien sowie die Kleidung durch die Angabe von Farbwerten zu modellieren, wird also nach einer descriptio personae8 suchen. Die descrip7

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Als Meister des Lobs weiblicher Schönheit gilt Wolfram dem anonymen Autor der wohl zu Beginn des 14. Jahrhunderts entstandenen Minnerede Der rote Mund, die in zwei Sammelhandschriften des 15. Jahrhunderts überliefert ist. Zu Beginn der im Codex Karlsruhe 408 aufgezeichneten längeren Version ordnet sich der Ich-Sprecher in die literarische Tradition des Frauenlobs ein, indem er die Schönheit der von ihm selbst zu preisenden Dame und seine eigene Kunst an Frauenfiguren aus dem Parzival (u. a.: Orgelûse, Cundwîrâmûrs, Repanse de schoye, Sigûne, Jeschûte, Cunnewâre) und Wolframs Meisterschaft misst. Von der schonsten frawen genant / der rot múnt. In: Codex Karlsruhe 408. Bearbeitet von Ursula Schmid. Bern 1974, S. 503–512, hier Vv. 1–46. Über Wolfram heißt es in Vv. 9f.: „Der kond frawen hoch loben, / Daß in nyman moch vber oben.“ In Vv. 16–18: „Die werlt also ver brýnt, / Daß nymmer sein gleich wirt, / Er hot ir aller lob ver irt.“, Vv. 32f.: „Er hot beý seynen jaren / Lobes vil an sie gewant.“ In Vv. 35ff. gibt das Ich sich der Vorstellung hin, dass Wolfram, würde er noch leben, ihn im Lob seiner Dame unterstützt hätte: „Er hulff mir die ßusen loben / Mit red vnd mit schalle / Endlich fur sie alle. / Durch die wer mir / So gar liep sein leben, / Er kond ir lob mit hulden geben.“ (Vv. 38–43). Zu dieser Minnerede, in der die bis in den Bereich des Wunders gesteigerte Hyperbel vom Roten Mund im Mittelpunkt steht, vgl. Ingeborg Glier: Der rote Mund. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon. Hrsg. von Kurt Ruh [u. a.]. Bd. 8. Berlin / New York 21992, Sp. 264f; dies.: Artes amandi. Untersuchung zu Geschichte, Überlieferung und Typologie der deutschen Minnereden. München 1971 (Münchener Texte und Untersuchungen zur deutschen Literatur des Mittelalters. 34), S. 118–121; Michael Waltenberger: Diß ist ein red als hundert. Diskursive Konventionalität und imaginative Intensität in der Minnerede Der rote Mund. In: Visualisierungsstrategien in mittelalterlichen Bildern und Texten. Hrsg. von Horst Wenzel, C. Stephen Jaeger in Zusammenarbeit mit Wolfgang Harms, Peter Strohschneider, Christof L. Diedrichs. Berlin 2006 (Philologische Studien und Quellen. 195), S. 248–274; Susanne Köbele: Die Kunst der Übertreibung. Hyberbolik und Ironie in spätmittelalterlichen Minnereden. In: Triviale Minne? Konventionalität und Trivialisierung in spätmittelalterlichen Minnereden. Hrsg. von Ludger Lieb, Otto Neudeck. Berlin / New York 2006 (Quellen und Forschungen zur Literatur- und Kulturgeschichte. 40 [274]), S. 19–44, bes. S. 32–39. Die detaillierte Personenbeschreibung kombiniert das Lob des Aussehens, das sich auf den Körper und die Kleidung beziehen kann, mit einem Lob der Tugend und hält bei der Verdeutlichung der äußeren Erscheinung häufig die Reihenfolge a capite ad calcem ein. Die Empfehlung, in systematischer Weise vom Kopf zu den Füßen vorzugehen, findet sich in mehreren Poetiken des Mittelalters; siehe dazu Josef Eßer: Die Schöpfungsgeschichte in der ‚Altdeutschen Genesis‘ (Wiener Genesis V. 1–231). Kommentar und Interpretation. Göppingen 1987 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 455), S. 270. Für die von ihm konsultierten Rhetoriken der lateinischen Antike konnte Edmond Faral jedoch keine entsprechenden Belege beibringen; siehe Edmond Faral: Les Arts Poétiques du XIIe et du XIIIe siècle. Recherches et documents sur la technique littéraire du Moyen Age. Paris 1958, S. 80f. Hennig Brinkmann wies auf hellenistische Belege (Aphthonius, Nikolaos) hin: Hennig Brinkmann: Zu Wesen und Form mittelalterlicher Dichtung. Halle a. d. Saale 1928 (Nachdruck Tübingen 1979), S. 65. Als wichtige Musterbeispiele für die Beschreibung eines schönen und eines hässlichen Menschen gelten die Theoderich- und Gnatho-Portraits des Sidonius Apollinaris (Epist. I,2 und III,13), Teilabdruck bei Faral 1958, S. 80f. Zu weiteren Personenbeschreibungen bei Sidonius vgl. Edmond Faral: Sidoine Apollinaire et la technique littéraire du

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tio9 als rhetorisch-epische Gestaltungstechnik, als kunstvolle Beschreibung von Personen, Gegenständen, Orten, Jahreszeiten etc., wie sie, noch vor einer systematischen Behandlung und präskriptiven Fixierung in den antiken und spätantiken Handbüchern der Rhetorik und Poetik,10 in antiker Literatur zu finden ist,11 wurde dem Mittelalter zum einen über das Studium der antiken Epiker im Rahmen der schulischen Vermittlung der auctores12 zugänglich, zum anderen über die Rezeption wichtiger Lehrbü-

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Moyen Âge. In: Miscellanea Giovanni Mercati. Bd. 2. Letteratura Medioevale. Città del Vaticano 1946, S. 567–580. Noch älter ist die Beschreibung eines Soldaten im Werk des Vegetius, die im Documentum de modo et arte dictandi et versificandi Galfrids von Vinsauf erwähnt wird (Galfrid von Vinsauf: Documentum de arte versificandi. In: Faral 1958, S. 263–320, hier Abschnitt 62, S. 296) und auf die Brinkmann (Brinkmann 1928, S. 76) und Eßer (Eßer 1987, S. 271) aufmerksam gemacht haben. Eine im Mittelalter häufiger praktizierte Technik der descriptio personae ist der Verweis auf berühmte Beschreibungen von (mythologischen) Figuren aus älteren Werken, wie ihn Isidor von Sevilla empfiehlt (Isidorus Hispalensis: Etymologiae II. Isidore of Seville: Etymologies. Book II. Rhetoric. Text edited and translated with annotations by Peter K. Marshall. Paris 1983 [Collection A.L.M.A.], S. 92–95). Ich verwende im vorliegenden Beitrag durchgängig den auch in den lateinischen Artes versificatoriae oder Artes poeticae des 12. und 13. Jahrhunderts vorkommenden Begriff descriptio. Er steht in einem Zusammenhang mit weiteren griechischen und lateinischen Begriffen wie ekphrasis, enárgeia, hypertýposis, ethopoiía, effictio, notatio, evidentia, die zum Teil gleichbedeutend verwendet werden, mit denen zum Teil aber auch unterschiedliche Perspektivierungen des Phänomens verbunden sind. Vgl. Albert W. Halsell, Lisa Gondos: Beschreibung. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 1. Tübingen 1992, Sp. 1495–1510, hier Sp. 1495; Albert W. Halsell, Lisa Gondos: Descriptio. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 2. Tübingen 1994, Sp. 549–553, hier Sp. 549; Nikolaus Henkel: Descriptio. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus Weimar [u. a.]. Bd. 1. Berlin 1997, S. 337–339, hier S. 337. Medien- und bildwissenschaftlich inspirierte Forschungen in der Mediävistik favorisieren seit einiger Zeit den Begriff Ekphrasis, engen ihn allerdings häufig auf die Beschreibung von Kunstwerken ein. Vgl. Haiko Wandhoff: Ekphrasis. Kunstbeschreibungen und virtuelle Räume in der Literatur des Mittelalters. Berlin / New York 2003 (Trends in Medieval Philology. 3), Forschungsüberblick S. 2–12. Vgl. Heinrich Lausberg: Handbuch der literarischen Rhetorik. Eine Grundlegung der Literaturwissenschaft. München 1960. Zusammenfassend zur Technik der descriptio Halsell, Beschreibung (Anm. 9). Halsell, Descriptio (Anm. 9). Henkel (Anm. 9). Frühe und traditionsbildende Beispiele sind der Schild des Achill aus Homers Ilias (XVIII, 468– 607) sowie Palast und Garten des Alkinoos aus der Odyssee (VII, 81–132). Eine große Bedeutung erlangte ferner die descriptio von Aeneas’ Schild aus Vergils Aeneis (VIII, 626–731). Vgl. Nikolaus Henkel: ‚Fortschritt‘ in der Poetik des höfischen Romans. Das Verfahren der Descriptio im ‚Roman d’Eneas‘ und in Heinrichs von Veldeke ‚Eneasroman‘. In: Retextualisierung in der mittelalterlichen Literatur. Hrsg. von Joachim Bumke, Ursula Peters. Berlin 2005 (Zeitschrift für Philologie Sonderheft. 124), S. 96–116, hier S. 98 und S. 101. Vgl. dazu B[irger] Munk Olsen: L’étude des auteurs classiques latins aux XIe et XIIe siècles. Bd. 1–3. Paris 1982. 1985. 1987. 1989. (Documents, études et répertoires); Edmond Faral: Recherches sur les sources latines des contes et romans courtois du Moyen Âge. Paris 1913; Brinkmann (Anm. 8), S. 118–184. Henkel (Anm. 11), S. 100, Fußnote 13, hat außerdem auf die Studie von Wendy Chapman Peek aufmerksam gemacht: Vision, Language, Spectacle. Ekphrasis in the Aeneid and Medieval Romance. Diss. masch. Cornell University 1992.

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cher.13 Die antiken und spätantiken Abhandlungen zur Rhetorik betrachteten die descriptio sowohl als Mittel der politischen, der beratenden oder gerichtlichen Rede als auch im Kontext epideiktischer Rede. Entsprechend unterschiedlich nimmt sich die Zuweisung von Funktionen aus. So hielt man die descriptio in argumentativer Perspektive für geeignet, die Wichtigkeit einer Sache herauszustellen14 und im Rahmen der narratio, der Erzählung eines Vorgangs, eines Tathergangs vor Gericht,15 die Glaubwürdigkeit des Dargelegten durch Verdeutlichung und Erläuterung zu steigern: durch die Nennung der wesentlichen Züge, durch ein Aufzählen von Details und durch eine Herausstellung besonders relevanter Merkmale.16 Schon früh wurde dabei, u. a. mit Hilfe der Begriffe enargeia und hypotyposis bzw. evidentia,17 auf die Wirkung abgehoben, welche die descriptio auf die Imagination der Zuhörer zu entfalten vermag, indem sie mit Worten malt, ihnen die behandelte Sache anschaulich macht, vor Augen stellt und auf diese Weise innere Bilder generiert, durch die sie affektiv involviert werden.18 Der descriptio wurde zudem eine schmückende Funktion beigemessen, welche den artifiziellen Charakter der Rede unterstreicht. Bei Quintilian findet sich eindrucksvoll reflektiert, dass das Ornamentale der Rede keineswegs einen Gegensatz zur Erzeugung von Anschaulichkeit bedeuten muss, sondern, im Gegenteil, diese steigern und somit die Rolle der Beschrei-

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Vgl. dazu Henkel (Anm. 11), S. 99f. Henkel nennt hier, unter Berufung auf Halsell 1994 (Anm. 9), Lausberg (Anm. 10) und Ernst Robert Curtius (Dichtung und Rhetorik im Mittelalter. In: Deutsche Vierteljahrsschrift 16 [1938], S. 435–475, hier S. 461–469) vor allem die Rhetorik Ad Herennium, Ciceros De inventione, Horazens Ars poetica und die Praeexercitamina Priscians und verweist darauf, dass „die Art und Weise des Umgangs mit diesen Lehrbüchern im Hochmittelalter“ bislang noch nicht genügend erforscht ist. Ein Fragezeichen hinter die Verbreitung von Quintilians Institutio oratoria setzt Hübner (Gert Hübner: evidentia. Erzählformen und ihre Funktion. In: Historische Narratologie. Mediävistische Perspektiven. Hrsg. von Harald Haferland, Matthias Meyer unter Mitarbeit von Carmen Stange, Markus Greulich. Berlin / New York 2010 [Trends in Medieval Philology. 19], S. 119–147), S. 125, Fußnote 19. So bereits Aristoteles, Rhetorik I, 7, 31. Siehe dazu Halsell 1992 (Anm. 9), Sp. 1497. Siehe dazu Joachim Knape: Historia. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 3. Tübingen 1996, Sp. 1406–1410; ders.: Narratio. In: Ebd. Bd. 6. Tübingen 2003, Sp. 98–106 (jeweils mit weiterführender Literatur). Vgl. Cicero: De oratore III, 53, 202: „Denn es macht großen Eindruck, bei einer Sache zu verweilen, die Dinge anschaulich auszumalen und fast so vor Augen zu führen, als trügen sie sich wirklich zu. Das ist von großem Wert bei der Darlegung einer Sache, für die Erhellung dessen, was man auseinandersetzt, und für die Steigerung der Wirkung, um das, was man hervorhebt, in den Augen der Zuhörer so bedeutend darzustellen, wie die Rede es ermöglicht.“ (zitiert bei Halsell 1992 [Anm. 9], Sp. 1496); vgl. auch Quintilian IX, 2, 40 (mit Beziehung auf Cicero, zitiert bei Halsell 1992 [Anm. 9], Sp. 1496) und VIII, 3, 61 (zitiert bei Halsell 1992 [Anm. 9], Sp. 1496f.). Vgl. dazu Ansgar Kemmann: Evidentia, Evidenz. In: Historisches Wörterbuch der Rhetorik. Hrsg. von Gert Ueding. Bd. 3. Tübingen 1996, Sp. 33–47; Hübner (Anm. 13), S. 123–125. Vgl. z. B. [Pseudo-]Hermogenes: Progymnasmata, 10; Quintilian: Institutio oratoria, 4, 2, 123; Ad Herennium, 4, 55, 68; Priscian: Praeexercitamina, [c. 10] De descriptione. Siehe Halsell 1994 (Anm. 9), Sp. 550f. Eine Fülle von Belegen bei Lausberg (Anm. 10), § 810ff.

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bung als Beweismittel unterstützen kann.19 Im Rahmen der epideiktischen Rhetorik wurde die descriptio zur Verstärkung von Lob und Tadel eingesetzt und ihre amplifizierende Funktion stärker betont. Das 12. und 13. Jahrhundert führte die Tradition rhetorisch-poetischer Kodifizierung von Schreibweisen und Regeln mit eigenen lateinischen Poetiken fort.20 Besondere Aufmerksamkeit haben in der literaturwissenschaftlichen Forschung vor allem die noch im 12. Jahrhundert entstandene Ars versificatoria des Matthäus von Vendôme und die Poetria nova sowie das Documentum de arte versificandi des Galfrid von Vinsauf vom Anfang des 13. Jahrhunderts auf sich gezogen.21 Diese halten bestehende Praxen literarischer Gestaltung fest und formulieren gleichzeitig, indem sie einschlägige Muster bereitstellen, einen Anspruch, der wiederum auf das literarische Schaffen zurückwirken konnte. Insofern können die Poetiken „Orientierungspunkte“ sein für eine Rekonstruktion literarischer Standards und entsprechender Publikumserwartungen in einer Kultur der Litterati, können aufzeigen, „was um 1200 als literarisch vorbildlich eingeschätzt wurde“ und können als „Indikatoren ästhetischer Wertung und literarischen Geschmacks dieser Zeit“ angesehen werden.22 In der Poetria nova Galfrids von Vinsauf

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Quintilian: Institutio oratoria VIII, 3, 61: „Das Schmuckvollste ist das, was mehr ist als nur durchsichtig und einleuchtend. Seine ersten Stufen bestehen darin, das, was nach deinem Wunsch herausgearbeitet werden soll, deutlich zu erfassen und herauszuarbeiten, die dritte ist die, die zu dem gesteigerten Glanz des Ausdrucks führt, den man im eigentlichen Sinn gepflegt nennen kann. Deshalb wollen wir die enargeia (Anschaulichkeit), deren ich schon bei den Regeln für die Erzählung Erwähnung getan habe, zu den Schmuckmitteln stellen, weil die Veranschaulichung oder, wie andere sagen, Vergegenwärtigung mehr ist als die Durchsichtigkeit, weil nämlich die letztere nur den Durchblick gestattet, während die erstere sich gewissermaßen selbst zur Schau stellt.“ Übersetzung Halsell 1992 (Anm. 9), Sp. 1496. Vgl. hierzu Douglas Kelly: The Conspiracy of Allusion. Description, Rewriting, and Authorship from Macrobius to Medieval Romance. Leiden / Boston / Köln 1999 (Studies in the history of Christian thought. 97). Die mittelalterlichen Poetiken sind wohl nicht allein durch die antike Literatur und Rhetorik beeinflusst worden, sondern auch durch die Beschreibungskunst der frühmittelalterlichen lateinischen Dichtung. Vgl. dazu den materialreichen und erhellenden Beitrag von Alexandru Cizek: Das Bild von der idealen Schönheit in der lateinischen Dichtung des Frühmittelalters. In: Mittellateinisches Jahrbuch 26 (1991), S. 5–35. Zu den mittelalterlichen Poeto-Rhetoriken vgl. Medieval Eloquence. Studies in the Theory and Practice of Medieval Rhetoric. Hrsg. von James J. Murphy. Berkeley / Los Angeles / London 1978. Matthäus von Vendôme: Ars versificatoria. In: Mathei Vindocinensis Opera. Hrsg. von Franco Munari. Bd. 3. Rom 1988 (Storia e letteratura. Raccolta di studi e testi. 171); Geoffroi de Vinsauf: Poetria nova. In: Faral 1958 (Anm. 8), S. 194–262 (Text), S. 15–33 (Untersuchung); Ernest Gallo: The Poetria Nova and its Sources in Early Rhetorical Doctrine. Den Haag / Paris 1971 (De Proprietatibus Litterarum. Series Maior. 10), S. 14–129 (Text und englische Übersetzung), S. 133–224 (Untersuchung); Geoffroi de Vinsauf: Documentum de modo et arte dictandi et versificandi. In: Faral 1958 (Anm. 8), S. 263–320 (Text), S. 15–33 (Untersuchung). Henkel (Anm. 11), S. 102. Vgl. Kathryn Marie Talarico: Fundare domum: Medieval Descriptive Modes and the Roman d’Énéas. In: Yale French Studies 61 (1981), S. 202–224.

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wird die descriptio als Stilfigur der Erweiterung eines Gegenstandes behandelt und erhält so Relevanz im Rahmen eines auf die dilatatio materiae und die damit verbundene spezielle Wirkungsästhetik bedachten Erzählens.23 Ausgedehnt und dabei gefällig soll die Beschreibung sein, zudem abwechslungsreich im sprachlichen Ausdruck.24 Wie eine solche poetische Kunst aussehen kann, exemplifiziert Galfrid mit Hilfe einer virtuosen Beschreibung einer schönen Frau,25 welche die körperlichen Vorzüge einzeln ausstellt, bei den goldfarbenen Haaren beginnend und bei den zierlichen Füßen endend, um sich dann einer Evokation vorteilhafter Kleidung zuzuwenden. Glanz, Farbe und Proportion sind die leitenden Parameter dieser Schönheitsbeschreibung.26 Wenn es schließlich heißt, Jupiter hätte nur Augen für diese Frau gehabt, hätte er sie gekannt, und in ihr alle anderen gesehen (V. 621), dann wird deutlich, dass die descriptio in diesem Kontext vornehmlich auf Typisierung und Verallgemeinerung zielt. Die Reichweite des Einflusses der in einem Kontext lateinischer Schriftlichkeit und Buchkultur situierten Poetiken auf die Etablierung und Durchsetzung volkssprachiger Epik ist insbesondere für die deutsche Literatur kontrovers beurteilt worden, zumal die frühesten mittelalterlichen Schriften nicht vor dem späteren 12. und frühen 13. Jahrhun23

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Dazu grundlegend: Franz-Josef Worstbrock: Dilatatio materiae. Zur Poetik des ‚Erec‘ Hartmanns von Aue. In: Frühmittelalterliche Studien 19 (1985), S. 1–30; vgl. auch ders.: Wiedererzählen und Übersetzen. In: Mittelalter und frühe Neuzeit. Übergänge, Umbrüche und Neuansätze. Hrsg. von Walter Haug. Tübingen 1999 (Fortuna vitrea. 16), S. 128–142, bes. S. 137ff. Aufgegriffen wurden die Überlegungen Worstbrocks in dem Band Retextualisierung (Anm. 11). Zu den in den mittelalterlichen Poetiken festgehaltenen Verfahren der Stoffadaptation und zu ihrer Relevanz für die volkssprachliche Dichtung vgl. zudem die Studie von Silvia Schmitz: Die Poetik der Adaptation. Literarische inventio im ‚Eneas‘ Heinrichs von Veldeke. Tübingen 2007 (Hermaea. Germanistische Forschungen. Neue Folge. 113). Kritik an den Überlegungen Worstbrocks hat Elisabeth Schmid vorgebracht: Erfinden und Wiedererzählen. In: Inspiration und Adaptation. Tarnkappen mittelalterlicher Autorschaft. Hrsg. von Renate Schlesier, Beatrice Trînca. Hildesheim 2008 (Spolia Berolinensia. 29), S. 41–55. Vgl. auch die Relativierung bei Corinna Laude: wîs lûter sam ein îs – oder: Schwierige Schönheit. Überlegungen zur Etablierung ästhetischer Normen in der höfischen Epik. In: Text und Normativität im deutschen Mittelalter. XX. Anglo-German Colloquium. Hrsg. von Elke Brüggen, Franz-Josef Holznagel, Sebastian Coxon, Almut Suerbaum unter Mitarbeit von Reinhold Katers. Berlin / New York 2012, S. 79–104, hier S. 91, Fußnote 47. Vgl. Geoffroi de Vinsauf: Poetria nova, V. 554–561. In: Faral 1958 (Anm. 8), S. 214. Vgl. ebd., V. 562–621. Übersetzung und Analyse bei Andreas Kraß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen / Basel 2006 (Bibliotheca Germanica. 50), S. 154– 157; vgl. auch die Anweisungen zur Beschreibung weiblicher Schönheit in Galfrids Documentum, Faral 1958 (Anm. 8), S. 271f. Zur Zuordnung von Körperteilen und Farben im Abschnitt über den ornatus difficilis (Geoffroi de Vinsauf: Poetria nova, V. 70ff. In: Faral 1958 [Anm. 8], S. 221) vgl. Ulrich Ernst: Haut-Diskurse. Semiotik der Körperoberfläche in der Erzählliteratur des hohen Mittelalters. In: Körperkonzepte im arthurischen Roman. Hrsg. von Friedrich Wolfzettel. Tübingen 2007, S. 149–200, hier S. 187. Ebd., S. 186, Beobachtungen zur tropenreichen Beschreibung der Schönheit Helenas bei Matthäus von Vendôme (Ars versificatoria, I, 56f. In: Munari [Anm. 21], S. 82–86), bei welcher die „aus der Farbspannung von weiß und rot resultierenden Qualitäten der Gesichtshaut“ besonders betont sind.

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dert entstanden sind und somit für die Frühphase der Herausbildung einer neuen höfischen Literatur nur sehr bedingt in Anschlag gebracht werden können. Im Falle der Personenbeschreibung in deutschsprachigen epischen Texten – und nur um sie, die Personenbeschreibung, geht es mir hier – muss allerdings festgehalten werden, dass sich eine Vertrautheit mit entsprechenden Empfehlungen und literarischen Mustern bereits in der mittelhochdeutschen Literatur des 11. und 12. Jahrhunderts belegen lässt.27 Von prägender Bedeutung sind sie im Eneasroman Heinrichs von Veldeke, der um 1180 datiert wird. Nikolaus Henkel und Silvia Schmitz haben die Poetik der Adaptation, welche Veldeke im Rekurs auf Vergils Aeneis und den anonymen Roman d’Énéas entwickelt hat, genauer beschrieben und sie in den Kontext eines Dichtungsverständnisses gestellt, für das nicht die originale Schöpfung oder Erfindung, sondern die Aufnahme und die Bearbeitung von Vorlagen, das Wiedererzählen oder die Retextualisierung, zentral ist und das die Spielräume für Produktivität innerhalb der als Identität und Differenz zu bestimmenden Pole auf einer Skala von, so Susanne Bürkle, „variierender Imitation, innovativer Variation und freier, angemessener Ergänzung, Übersteigerung und Überbietung des Vorgegebenen“ findet.28 Veldeke hat seiner Version der Eneas-Geschichte zwei Beschreibungen inseriert, welche im vorliegenden Zusammenhang von Interesse sind. Deren erste profiliert die Figur der Königin Dido von Karthago.29 Die Verse sind ein berühmtes, in der Forschung schon mehrfach behandeltes Beispiel für eine aus dem topischen Arsenal an 27

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Vgl. die Übersicht bei Eßer (Anm. 8), S. 273f.; ebd. S. 272f. eine Auflistung entsprechender Partien in lateinischer Literatur. Belege zu Beschreibungen von Frauenschönheit in der mittelhochdeutschen Lyrik hat bereits Brinkmann (Anm. 8), S. 164ff., zusammengestellt. Sammlungen von Personenbeschreibungen aus der altfranzösischen Literatur findet man bei Rudolf Baehr: Zum Einfluss der lateinischen Beschreibungslehre (descriptio) auf einige Portraits der provenzalischen und französischen Literatur des Mittelalters. In: Münchener Universitäts-Woche an der Sorbonne zu Paris vom 13. bis 17. März 1956. Hrsg. von Jean Sarrailh, Alfred Marchionini unter Mitwirkung von Walter Trummert. München 1956, S. 122–134 und bei Alice M. Colby: The Portrait in TwelfthCentury French Literature. An Example of the Stylistic Originality of Chrétien de Troyes. Genf 1965, S. 14–22. Henkel (Anm. 11), Schmitz (Anm. 23); das Zitat bei Susanne Bürkle: ‚Kunst‘-Reflexion aus dem Geiste der descriptio. Enites Pferd und der Diskurs artistischer meisterschaft. In: Das fremde Schöne. Dimensionen des Ästhetischen in der Literatur des Mittelalters. Hrsg. von Manuel Braun, Christopher Young. Berlin / New York 2007 (Trends in Medieval Philology. 12), S. 143–170, hier S. 146. Für die gelehrten Autoren hebt Schmitz (S. 8ff.) besonders die Rolle des Schulunterrichts hervor. Dass die Verfahren der abbreviatio und der dilatatio materiae auch in den Artes versificatoriae nicht nur als lehr- und lernbare Techniken präsentiert werden, sondern zugleich „als Bestandteil eines übergeordneten Erzählkonzepts verhandelt“ werden, hat auch bereits Joachim Hamm im Anschluss an die Arbeiten Worstbrocks (Anm. 23) betont: Camillas Grabmal. Zur Poetik der dilatatio materiae im deutschen Eneasroman. In: Literaturwissenschaftliches Jahrbuch. Neue Folge. 45 (2004), S. 29–56, hier S. 30f. Heinrich von Veldeke: Eneasroman. Mittelhochdeutsch / Neuhochdeutsch. Nach dem Text von Ludwig Ettmüller ins Neuhochdeutsche übersetzt, mit einem Stellenkommentar und einem Nachwort von Dieter Kartschoke. Stuttgart 1986 (Reclams Universal-Bibliothek. 8303), V. 59,19–60,33.

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Elementen geschickt auswählende Aufnahme und Variation des Musters der Beschreibung einer schönen Frau, die für die deutschsprachigen Epen der Folgezeit normsetzend wurde.30 Veldeke hat die descriptio personae hier in Anknüpfung an seine Vorlagen vorrangig als Beschreibung der Kleidung Didos realisiert. Eine andere Anlage zeigt hingegen die Beschreibung der amazonenhaften Camilla, der „kunegîn von Volcâne“ (145,39) aus dem Heer des Turnus, dem sich Eneas in seinen Kämpfen bei Laurentum gegenübersieht. Bei ihrer Einführung in die Handlung werden descriptiones ihrer körperlichen Schönheit, ihrer Kleidung und ihres Pferdes (145,36–147,19; 148,15–149,23) aneinandergereiht; später folgen noch eine Rüstungsbeschreibung und eine Beschreibung ihres Grabmals.31 Veldeke setzt hier ein mit einem allgemeinen Preis von Camillas unübertrefflicher, geradezu göttinnenhafter Schönheit (145,36–146,9), um dann, in Anlehnung an das rhetorische Schema a capite ad calcem, ihr weißblondes, gerade gescheiteltes Haar, ihre glatte Stirn, die schmalen braunen Augenbrauen von natürlichem Wuchs, die schönen, wohlgeformten Augen sowie Nase, Mund und Kinn von hohem Liebreiz zu nennen (146,10–22). Ein besonderes Augenmerk gilt dem Teint, „lieht unde gût, / rehte als milich unde blût, / wol gemischet rôt und wîz, / âne blank und ân vernîz“, „ohne Puder und Schminke“, die sie, wie es dann heißt, nicht nötig hatte, da ihre Gesichtsfarbe „von natûre wîz und rôt“ war (146,23–28).32 Ein weiterer Blick gilt der Schönheit ihrer Arme und Hände und schließlich ihrer wundervoll proportionierten Gestalt, schlank und doch weiblich, und in der angemessenen Gewandung, die sie trägt, von hohem Reiz (146,29–33). Über die Erwähnung der Gewandung findet Veldeke zur Kleiderbeschreibung, die er mit einem gleitenden Übergang anschließt. 30

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Vgl. dazu u. a. Gabriele Raudszus: Die Zeichensprache der Kleidung. Untersuchungen zur Symbolik des Gewandes in der deutschen Epik des Mittelalters. Hildesheim / Zürich / New York 1985 (ORDO. Studien zur Literatur und Gesellschaft des Mittelalters und der frühen Neuzeit. 1), S. 60– 68; Elke Brüggen: Kleidung und Mode in der höfischen Epik des 12. und 13. Jahrhunderts. Heidelberg 1989 (Beihefte zum Euphorion. 23), S. 39f.; Henkel (Anm. 11), S. 106–110; Schmitz (Anm. 23), S. 130–134, S. 152. Zur Figur der Camilla liegen mehrere neuere Arbeiten vor. Vgl. Laude (Anm. 23), bes. Abschnitt II; sowie die von Laude in den Anmerkungen 19, 22 und 24 verzeichneten Titel, die hier nicht noch einmal wiederholt werden sollen. Des Weiteren sind relevant: Talarico (Anm. 22), S. 202–224, bes. S. 217–219; Marie-Sophie Masse: La description dans les récits d’Antiquité allemands fin du XIIedébut du XIIIe siècle. Aux origines de l’adaptation et du roman. Paris 2004 (Nouvelle Bibliothèque du Moyen Âge. 68); dies.: Von Camillas zu Enites Pferd. Die Anfänge der deutschsprachigen descriptio im Spannungsfeld der Kulturen. In: Akten des XI. Internationalen Germanistenkongresses. Paris 2005. Bd. 7. Hrsg. von Jean-Marie Valentin unter Mitarbeit von Ronald Perlwitz. Bern 2008 (Jahrbuch für Internationale Germanistik. Reihe A 83), S. 13–20; Sara Stebbins: Studien zur Tradition und Rezeption der Bildlichkeit in der ‚Eneide‘ Heinrichs von Veldeke. Frankfurt a. M. / Bern 1977 (Mikrokosmos. 3). Zum Vergleich von Camillas Gesichtsfarbe mit Milch und Blut vgl. Jean-Marc Pastré: Pour une esthétique du portrait: les couleurs du visage dans la littérature médiévale allemande. In: Les Couleurs au Moyen Âge. Hrsg. vom Centre Universitaire d’Etudes et de Recherches Médiévales d’Aix. Aix-en-Provence 1988, S. 287–300, hier S. 294f.

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Hier betont er zunächst die außerordentliche Pracht von Camillas Kleidung, die ihren singulären Reichtum und ihre Macht offenbaren (146,34–39). Das Weiß ihres feinen Untergewands wird mit dem eines Schwans verglichen (146,40–147,1). Ein roter, besonders eng getragener Gürtel hebt sich davon ab (147,2–3). Für den Mantel sind ein weißes Hermelinfutter, ein grünseidener Oberstoff und ein breiter brauner Zobelbesatz aufgewandt (147,8–13), das Haar schmückt ein geflochtenes Band (147,14–15). Dieses strahlend schöne Geschöpf, dessen Attraktivität jeden affiziert und das noch dem Mächtigsten den Wunsch eingibt, es in seinen Armen zu halten (146,20–22), dem niemand böse sein kann (147,18–19), definiert sich jedoch nicht als Frau, sondern als jungfräulicher Ritter: mit Waffen umzugehen, ist das, was sie beherrscht, und Ritterschaft zu üben und dabei ihre Jungfräulichkeit zu bewahren, sind das einzige, woran ihr liegt (147,5–7; 147,20–148,14).33 Vergleichbare Deskriptionen von Körper- und von Kleiderschönheit adliger Damen finden sich seit Veldekes Eneit in vielen höfischen Romanen,34 und sie werden sowohl für die Figurenzeichnung nutzbar gemacht als auch handlungsmotivierend und handlungsbegründend eingesetzt. Bei den litteraten Autoren werden sie mitunter mit besonders großer Virtuosität gehandhabt und öffnen sich dann mitunter für einen Diskurs artistischer Meisterschaft.35 Zudem ist mit Recht darauf hingewiesen worden, dass derartige, systematisch verfahrende Deskriptionen – sei es, dass sie dem alten Muster a capite ad calcem folgen, sei es, dass sie eine Ordnung von innen nach außen realisieren, also bei der Beschreibung der Gewandung von demjenigen Kleidungsstück ausgehen, das am nächsten auf der Haut getragen wird, – „wahrnehmungspsychologisch von überzeugender Effizienz“ sind und in der Sukzession der sprachlichen Zeichen „strukturierte mentale Bildvorstellungen“ gestalten können.36 Der Parzival Wolframs von Eschenbach bietet nicht eine längere descriptio einer schönen Frau, was in Anbetracht der großen Anzahl von Frauenfiguren aufmerken lässt. Da es durchaus Deskriptionen zu anderen Themen gibt, lässt sich das Fehlen der Beschreibung weiblicher Schönheit nicht auf eine prinzipielle Unkenntnis dieser Gestal33

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Diesen Umstand betont Talarico (Anm. 22) und untermauert damit ihre Überlegung, dass die descriptiones der mittelalterlichen Epiker stets in ihrem Kontext zu betrachten seien (bes. S. 217– 219). Vgl. Raudszus (Anm. 30); Brüggen (Anm. 30); Kraß (Anm. 25). Vgl. dazu Kraß (Anm. 25), S. 356–374. Vergleichbares lässt sich, wie vor allem Susanne Bürkle und Joachim Hamm herausgearbeitet haben, auch bei anderen Genera der descriptio beobachten. Siehe Bürkle (Anm. 28). Dies.: Der Meister-Diskurs in der volkssprachlichen Literatur um 1200: Die Anfänge literarischer Meisterschaft zwischen handwerklicher Kompetenz und artistischer Valorisierung [erscheint voraussichtlich 2013 in: Stil. Mittelalterliche Literatur zwischen Konvention und Innovation. XXII. Anglo-German Colloquium, Düsseldorf 7.–11.9.2011. Hrsg. von Elizabeth Andersen, Ricarda Bauschke, Nicola McLelland]. Joachim Hamm: Meister Umbrîz. Zu Beschreibungskunst und Selbstreflexion in Hartmanns ‚Erec‘. In: Vom Verstehen deutscher Texte des Mittelalters aus der europäischen Kultur. Hommage à Elisabeth Schmid. Hrsg. von Dorothea Klein. Würzburg 2011 (Würzburger Beiträge zur deutschen Philologie. 35), S. 191–218. Henkel (Anm. 11), S. 108.

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tungstechnik zurückführen, zumal bei Chrétien entsprechende Passagen bereitstanden, wie sich etwa mit Blick auf dessen Einführung der Blancheflor (Wolframs Cundwîrâmûrs) zeigen ließe (1795–1829). Eher scheint sich hier eine gewollte Zurückhaltung abzuzeichnen. Dafür spricht zum einen, dass Wolfram die Parzival-Figur in den verschiedenen Stadien des für sie imaginierten Weges immer wieder mit entsprechenden Deskriptionen konturiert hat, so dass diese den Erzählprozess mit tragen.37 Man gewinnt so den Eindruck, dass Wolfram die descriptio personae für den Protagonisten reserviert hat – die ausführlichen Beschreibungen der hässlichen Cundrîe (9290– 9358/312,2–314,10; 23274–23288/778,16–30; 23325–23346/780,7–28) stellen eine Ausnahme dar, die gesondert zu betrachten wäre. Zum anderen ist darauf hinzuweisen, dass Details des Topos’ durchaus aufgenommen werden, was eine Vertrautheit mit dem Muster bezeugt. Diese Details werden allerdings auf eine eigenwillige Art und Weise eingespielt, die eine Tendenz zur Fragmentierung zeigt, zu einer Auflösung des Musters in einzelne, isoliert dargebotene Splitter. Im Hinblick auf das Moment der Farbgebung erlauben dabei rekurrente Elemente Aussagen über spezielle Schwerpunktsetzungen. Sie sollen im Folgenden erläutert werden. Sprachwissenschaftliche wie literatur- und kulturwissenschaftliche Studien haben für das (westliche) Mittelalter Rot, Weiß und Schwarz als zentrale Farbbereiche identifiziert. Herman Pleij hat von einem „basic color scheme“ gesprochen,38 und Aletta Leipold und Hans-Joachim Solms haben in ihrer korpusbasierten Analyse von Farbbezeichnungen im Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen für die drei Farbenbereiche einen Anteil von ca. 60 % am Farbwortschatz ermittelt, wobei die mit Weiß und mit Rot assoziierten Farbspektren 28 resp. 25 % ausmachen, während auf Schwarz lediglich 9 % der Belege entfallen.39 Im Hinblick auf den Stellenwert von Farbbezeichnungen im Rahmen der Frauendarstellung im Parzival kann die hohe Quantität der Belege im weißen und roten Farbenbereich erwartungsgemäß bestätigt werden, ebenfalls die relativ größere Anzahl der Weiß-Belege. Deutlich geringer ist auch hier die Präsenz von Schwarz; sie resultiert zudem aus einem Sonderfall: der Imagination der dunkelhäutigen Schönheit Belacâne und ihres in der Verbindung mit dem hellhäuti-

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Vgl. Kraß (Anm. 25), S. 121–132. Eine Reihe wichtiger Beobachtungen finden sich auch schon bei Raudszus (Anm. 30), S. 100–138. Zur Kleiderthematik im ‚Parzival‘ vgl. auch Paula Barran Weiss: Personal Clothing in Wolfram’s Parzival and Willehalm: Symbolism and Significance. University of British Columbia. Ph.D. Diss. [masch.] 1976; Michael D. Amey: Clothes make the Man: Parzival dressed and undressed. In: Journal of Gender Studies 13 (2004), S. 63–75. Herman Pleij: Colors demonic and divine. Shades of Meaning in the Middle Ages and After. Translated by Diane Webb. New York 2004, S. 17. Aletta Leipold, Hans-Joachim Solms: Farbbezeichnungen im Mittelhochdeutschen und Frühneuhochdeutschen. In: Sprachwissenschaft 34 (2009), S. 317–340. Die Ergebnisse stützen sich auf eine Auswertung des Bochumer Mittelhochdeutsch-Korpus (http://ruhr-uni-bochum.de/wegera/ archiv_1.htm [eingesehen am 27.02.2012]) und des Bonner Frühneuhochdeutsch-Korpus (http:// korpora.org/Fnhd/ [eingesehen am 15.02.2012]).

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gen Gahmuret gezeugten, schwarz-weißen Sohnes Feirefîz. Mit vereinzelten Nennungen kommen ansonsten nur noch die Farbwörter brûn und grâ vor.40 Was die Bildungsweise der Farbwörter angeht, dominiert eindeutig und mit Abstand der adjektivische Bereich; eine durch eine Ableitung mit -e geschaffene Substantivierung zur Bildung eines Abstraktums begegnet nur ein Mal (roete, 4042/136,6), je ein Mal kommen zudem die Verbbildungen rôten („rot werden“, „erröten“, 11142/373,24) und erblîchen (13003/435,27) vor. Bei den attributiv oder prädikativ gebrauchten Adjektiven hat man es ganz überwiegend mit Simplizia (wie wîz, rôt, swarz, brûn) zu tun. Singulär erscheint das Bemühen, den exakten Farbwert (im konkreten Fall: eine Abmilderung von Rot in Richtung auf Blassrot, Rosa) durch ein weiteres Adjektiv zu präzisieren: So spricht der Erzähler von den „rôten velwelohten mâl“ Herzeloydes, ihren zartroten Brustwarzen (3354/113,6). Der entgegengesetzte Fall einer Intensivierung des Farbwerts durch die Kombination mit dem Adjektiv al ist ebenfalls vertreten (al rôt „ganz rot“, „durch und durch rot“, 18940/633,24). Die Bezeichnung snêwîz (3867/130,11) stellt ein Adjektivkompositum dar, bei dem das Farbwort als Zweitglied dient und das Erstglied ein Substantiv bildet, das schon von alter her als wichtigste Bezugsgröße für die Ermittlung des Denotats von Weiß fungiert.41 Weitere Adjektivkomposita, jetzt allerdings mit dem Farbwort als Erstglied, sind bleich gevar (13056/437,20) und rôt gevar (13002/435,26; 21810/729,18). nâch bluot var (3303/111,15) ist als periphrastische Wendung einzustufen („hat das Aussehen von Blut“, „hat Ähnlichkeit mit Blut“), ebenso die Aussage „dem [munt, E. B.] was wol fiwers varwe kunt“ (5238/176,10); in beiden Fällen wird die Farbkennzeichnung allein über die Farbeigenschaft des Bestimmungsworts Blut resp. Feuer geleistet. Das weiße Farbspektrum bezeichnet Wolfram durch verschiedene Wörter: blank, bleich, clâr, lieht, wîz. Am häufigsten und etwa doppelt so oft wie wîz ist ein Farbadjektiv benutzt, das im Neuhochdeutschen als Farbbezeichnung nicht mehr existiert: blank. Es kommt zum Einsatz, wenn topische Schönheitsattribute der höfischen Dame, die strahlend weißen Hände (3880f./130,24f.; 5246/176,18; 8311/279,13) und Arme (4038/136,2; 11656/390,28), exponiert werden sollen; auch für den Oberkörper (9127/306,19) und seine Haut (das vel, 7651/257,15f.) oder die weiblichen Brüste 40

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Meine Ausführungen gründen auf den Textaussagen zu 15 Frauenfiguren, die für die Handlung des Parzival von größerer Bedeutung sind: Antikonîe, Bêne, Belacâne, Cundwîrâmûrs, Cunnewâre, Ginovêr, Herzeloyde, Itonjê, Jeschûte, Lîâze, Obîe, Obilôt, Orgelûse, Repanse de schoye, Sigûne. – Mittlerweile konnte ich meine Ergebnisse mit Hilfe unveröffentlichter Materialien von Elisabeth Höpfner (Düsseldorf) und William Jervis Jones (London) überprüfen. Elisabeth Höpfner hat mir Auszüge aus ihrer Masterarbeit zum Thema „Farbsemantik in Wolframs von Eschenbach Parzival “, Düsseldorf 2011, zugänglich gemacht (Kap. 2.2.2.1, 2.2.5, 3.1.2, 3.2.3, Literaturverzeichnis), zudem tabellarische Übersichten einschlägiger Textstellen, die sie als Vorarbeit angelegt hat; William Jervis Jones hat mir die elektronische Version des Teils zum Mittelhochdeutschen (1051– 1350) seines „Historischen Lexikons deutscher Farbbezeichnungen“ überlassen, das voraussichtlich 2012 bei DeGruyter erscheinen wird. Beiden gilt mein herzlicher Dank. Vgl. Leipold, Solms (Anm. 39), S. 323.

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(7695/258,27) wird es verwendet. Haut, Hände und Brüste der Frauen sind aber auch als wîz bezeichnet (2617/88,15; 3283/110,25; 7649/257,13; 8217/276,9), zudem der Schmelz der Zähne (3867–3869/130,11–13). Sowohl blanc als auch wîz werden, wenn es um die Haut geht, gern mit der Angabe linde verbunden (2617/ 88,15; 3283/110,25; 5746/176,18; 8311/279,13), so dass der Eindruck strahlender Schönheit nicht nur auf dem Farbwert des blendenden und makellosen Weiß basiert, sondern zudem auf der jugendlichen Glattheit der Haut. Zwei Mal nur erscheint wîz in Verbindung mit einem Kleidungsstück: Das Farbadjektiv bezeichnet ein Untergewand Herzeloydes (2999/101,9) und eines der Cundwîrâmûrs (5705/192,15). Zwei Mal wird das Denotat von wîz durch die Angabe von Referenzobjekten verdeutlicht; so wird im Falle der schönen Jeschûte die Farbe des Zahnschmelzes durch den Verweis auf Schnee bestimmt (3867–3869/130,11–13), während es von ihrer Haut heißt, sie sei noch weißer als Schwanengefieder (7649/257,13). Inwieweit blanc und wîz synonym sind, wäre zu prüfen;42 möglicherweise beschreibt blanc auch um 1200 noch in einem höheren Maße einen Glanz- als einen Farbeffekt.43 clâr und lieht sind ohnehin sog. zweiwertige Adjektive, die ebenfalls Glanz wie auch Farbe konnotieren können;44 sie finden Anwendung 42 43 44

Vgl. Minna Jacobsohn: Die Farben in der mittelhochdeutschen Dichtung der Blütezeit. Leipzig 1915 (Teutonia. Arbeiten zur germanischen Philologie. 22), S. 158. Vgl. Leipold, Solms (Anm. 39), S. 324 zu wîz. Ebd. S. 323, Fußnote 20, mit Rückbezug auf Jacobsohn (Anm. 42), S. 153f. Bei Jacobsohn ist das breite Spektrum der „Ausdrücke für Lichteffekte“ auf den Seiten 3–63 erfasst. Vgl. außerdem Christiane Ackermann: dirre trüebe lîhte schîn. Körperinszenierung, Ich-Präsentation und Subjektgestaltung im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Körperkonzepte (Anm. 26), S. 431–454; Klaus-Dieter Barnickel: Farbe, Helligkeit und Glanz im Mittelenglischen. Bedeutungsstruktur und literarische Erscheinungsformen eines Wortschatzbereiches. Düsseldorf 1975 (Düsseldorfer Hochschulreihe. 1); Claudia Brinker-von der Heyde: Lieht, schîn, glast und glanz in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘. In: Licht, Glanz, Blendung. Beiträge zu einer Kulturgeschichte des Leuchtenden. Hrsg. von Christina Lechtermann, Haiko Wandhoff unter Mitarbeit von Christof L. Diedrichs [u. a.]. Bern [u. a.] 2008 (Publikationen zur Zeitschrift für Germanistik. Neue Folge. 18), S. 91–103; dies.: Geliebte Mütter – Mütterliche Geliebte. Rolleninszenierung in höfischen Romanen. Bonn 1996, hier S. 75–88; Michela Fabrizia Cessari: Der Erwählte, das Licht und der Teufel. Eine literarhistorisch-philosophische Studie zur Lichtmetaphorik in Wolframs ‚Parzival‘. Heidelberg 2000 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik. 32); Ingrid Hahn: Parzivals Schönheit. Zum Problem des Erkennens und Verkennens im ‚Parzival‘. In: Verbum et signum. Beiträge zur mediävistischen Bedeutungsforschung. Studien zu Semantik und Sinntradition im Mittelalter. Bd. 2. Hrsg. von Hans Fromm, Wolfgang Harms, Uwe Ruberg. München 1975, S. 203–232; Wolfgang Haubrichs: Glanz und Glast. Vom inflationären Wortschatz der Sichtbarkeit. In: Sehen und Sichtbarkeit in der Literatur des deutschen Mittelalters. XXI. Anglo-German Colloquium London 2009. Hrsg. von Ricarda Bauschke, Sebastian Coxon, Martin H. Jones. Berlin 2011, S. 47–64; Hanspeter Mario Huber: Licht und Schönheit in Wolframs ‚Parzival‘. Diss. Zürich 1981; Jan-Dirk Müller: schîn und Verwandtes. Zum Problem der ‚Ästhetisierung‘ in Konrads von Würzburg Trojanerkrieg. (Mit einem Nachwort zu Terminologie-Problemen der Mediävistik). In: Im Wortfeld des Textes. Worthistorische Beiträge zu den Bezeichnungen von Rede und Schrift im Mittelalter. Hrsg. von Gerd Dicke, Manfred Eikelmann, Burkhard Hasebrink. Berlin / New York 2006 (Trends in Medieval Philology. 10), S. 287–307. – Zum Ausdruck lieht gemâl, der im Parzival im Rahmen

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bei der Kennzeichnung schöner Hände (16463/551,7; 18946/633,30) resp. Zähne (3869/130,13). clâr bezieht sich zudem auf das schimmernde Blond der Haare (4506/151,24). Als Bedeutung von anders var kann Weiß nur deshalb erschlossen werden, weil von einem Wechsel der Tönung des Teints die Rede ist, bei der ein glühendes Rot den Ausgangspunkt darstellt (18940–18943/633,24–27). Eindeutig negativ konnotiert ist das Adjektiv bleich, das als Ausdruck eines Weichens oder eines Verlustes der Körperfarbe geläufig ist; Wolfram setzt es ein, um mit Blick auf Gesicht und Lippen die Devitalisierung Sigûnes fasslich zu machen, die als Inkluse in permanenten Gebet über dem Sarg ihres toten Geliebten Schîânatulander lebt und im Prozess eines allmählichen Nachsterbens gezeigt wird (13002f./435,26f.; 13056/437,20). Für den Farbenbereich Rot konstatieren Leipold und Solms für das Mittelhochdeutsche und Frühneuhochdeutsche „hinsichtlich seiner Ausdrucksmöglichkeiten und auch seines Bedeutungsspektrums“ eine stärkere Ausdifferenzierung als bei anderen Gruppen von Farbwörtern mit Ausnahme von wîz;45 Christel Meier und Rudolf Suntrup sind für das Lateinische zu einem vergleichbaren Ergebnis gelangt.46 Vor diesem Hintergrund erscheint die Verwendung von Rot im Rahmen der Frauendarstellung im Parzival reduktiv, und zwar sowohl mit Blick auf die verwendeten Lemmata als auch mit Blick auf die aktivierten Bedeutungen. In der Regel genügt allein das Adjektiv rôt, um die Farbqualität aufzurufen, vereinzelt kommt das Adjektivkompositum rôt gevar (13002/435,26; 21810/729,18) zum Einsatz, gelegentlich findet sich zudem die intensivierende Angabe al rôt (18940/633,24), einmal die Prägung durchliuhtic rôt (3861/130,5), welche ebenfalls der Intensivierung dient. Auch die Verbbildung rôten (zur Bezeichnung des Errötens des Gesichts, 11142/373,24) und das Substantiv roete (auf eine durch Misshandlung zu bewirkende Verfärbung des Augenweiß bezogen und daher als Anzeichen von Entehrung, Demütigung, Entbehrung und Krankheit aufzufassen, 4042/136,6) – beide je einmal nachzuweisen – sind Ableitungen des Basisadjektivs

45 46

von Schönheitsbeschreibungen gehäuft auftritt und in ein Spannungsverhältnis zu den Prägungen vêch gemâl und rûch gemâl tritt vgl. Michaela Schmitz: Der Schluss des Parzival Wolframs von Eschenbach. Kommentar zum 16. Buch. Berlin 2012. (Vgl. bes. die Erläuterungen zu 789,2, 793,9 und 801,3). Leipold, Solms (Anm. 39), S. 328. Christel Meier, Rudolf Suntrup: Zum Lexikon der Farbenbedeutungen im Mittelalter. Einführung zu Gegenstand und Methoden sowie Probeartikel aus dem Farbenbereich ‚Rot‘. In: Frühmittelalterliche Studien 21 (1987), S. 390–478; vgl. jetzt auch dies.: Lexikon der Farbenbedeutungen im Mittelalter. CD-ROM. Köln / Weimar / Wien 2011 (= Vorabversion von Teil 2 der Publikation: Christel Meier, Rudolf Suntrup: Handbuch der Farbenbedeutung im Mittelalter. Teil 1. Historische und systematische Grundzüge der Farbendeutung. Teil 2. Lexikon der allegorischen Farbendeutung [Pictura et Poesis. 30] [erscheint voraussichtlich 2012]). Für eine Kurzvorstellung des Projekts siehe Rudolf Suntrup, Christel Meier-Staubach: Farbenbedeutung im Mittelalter. Handbuch und DatenCD. In: Farbe im Mittelalter. Materialität – Medialität – Semantik. Im Auftrag des Mediävistenverbandes hrsg. von Ingrid Bennewitz, Andrea Schindler unter Mitarbeit von Karin Hanauska, Peter Hinkelmanns und Bettina Becker. Bd. 1–2. Berlin 2011 (Akten des 13. Symposiums des Mediävistenverbandes vom 1.–5. März 2009 in Bamberg), Bd. 1, S. 367–376.

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rôt. Auf die Farbe des Feuers rekurriert Wolfram zur Evokation von Körperschönheit ein einziges Mal, dann nämlich, wenn er Jeschûtes volle und heiße, also gut durchblutete Lippen fokussiert (7654–7656/257,18–20). Auch wenn die Zuordnung der roten Farbe zum Mund als stereotyp gelten muss, so ist doch immer wieder zu Recht vermerkt worden, mit welcher Konsequenz Wolfram diese Koppelung im Parzival im Rahmen der descriptio personae gehandhabt hat. Es ist der (nicht nur weibliche) Mund, dem immer wieder und fast ausschließlich die rote Farbe attribuiert wird;47 die wenigen Belege, in denen es um ein Erröten des Teints aus Scham oder Schüchternheit geht,48 fallen kaum ins Gewicht. Das einzige Kleidungsstück, das mit Rot in Verbindung gebracht wird, ist dasselbe, das auch im Farbenbereich Weiß Erwähnung findet: Es ist das Untergewand, das Herzeloyde von Gahmurets Kampfeinsatz im Orient verbleibt. Wenn es heißt, es sei „nâch bluot var“ (3303/111,15), ist indes nicht lediglich blutfarben gemeint, sondern mit Blut getränkt; wenn es, gemeinsam mit der Lanzenspitze, die Gahmuret getötet hat, und stellvertretend für den im Orient gebliebenen Leichnam im Münster bestattet werden soll, figuriert es gar als „daz bluot“ (3319/112,1), und diese metonymische Relation macht präsent, was absent (und verloren) ist: das Leben des geliebten Mannes. Eine Untersuchung der im Kontext der Frauendarstellung in Wolframs Parzival zu beobachtenden unterschiedlichen Diskursivierungen von Farben sollte bei der (im Rahmen der descriptio pulchritudinis durchaus geläufigen) kontrastiv-komplementären Verbindung von Weiß und Rot ansetzen und dabei die Gegenüberstellung und Kombination von Weiß und Schwarz einbeziehen. Ansatzpunkt für beides hätte dabei der Prolog zu sein, der bekanntlich mit einer farbmetaphorischen Anthropologie des parrierten, schwarz und weiß gemusterten oder gemischten Menschen einsetzt, an dem Himmel und Hölle gleichermaßen Anteil haben (1–14/1,1–14), um sie nur wenig später (und immer noch im Prolog) um eine genderspezifische, auf die Frau zielende Variante zu ergänzen, die ihren Ausdruck in der Privilegierung eines in Messing gefassten Rubins gegenüber goldummanteltem Glasfluss findet, wodurch eine Aufwertung des muotes resp. des herzen gegenüber der varwe (im Sinne von Aussehen) erfolgt (71–84/3,11– 24). Beide Varianten einer Zweifarbigkeit erfahren, freilich ganz anders semantisiert, in der Narration ihre Konkretisierungen: durch die Verbindung des weißen christlichen Ritters Gahmuret mit der dunkelhäutigen Heidin Belacâne, in Gestalt des schwarzweißen Mischwesens Feirefîz und in der Schönheit der Cundwîrâmûrs, evoziert durch den Blick Parzivâls auf ein besonderes Zusammenspiel von weißem Schnee und rotem

47

48

Im Rahmen der für den vorliegenden Beitrag untersuchten Textpassagen (vgl. Anm. 40) sind die folgenden Stellen zu nennen: 3285/ 110,27; 3861/ 130,5; 4041/ 136,5; 4167/ 140,15; 5237f./ 176,9f.; 5543/ 187,3; 7654–7656/ 257,18–20; 12097/ 405,19; 12735–12737/ 426,29–427,1; 13002/ 435,26; 18868/ 631,12; 21302/ 712,20; 21810/ 729,18; 24130/ 807,5. 11142/ 373,24; 16449/ 550,23; 18940–18942/ 633,24–26.

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Blut.49 Über diese Konkretisierungen kann die Spur zu den das Textgewebe durchziehenden Diskusivierungen der Farben aufgenommen werden. Mit Blick auf das Muster Rot-Weiß ließe sich zum einen eine Verbindung mit dem „das Netzwerk der Handlung ebenso […] wie die Facetten der Figurenzeichnung“ bestimmenden Gewaltdiskurs aufzeigen,50 zum anderen eine mit der Darstellung von Sterben und Tod, zum dritten eine mit dem thematischen Komplex von Erleuchtung und Erkenntnis. In den Fokus rücken dabei vor allem drei Frauenfiguren, jeweils in ihrer Relation zu Parzivâl: Jeschûte, Sigûne und Cundwîrâmûrs.

49

50

Zur Relevanz der Farbkoppelung Weiß-Schwarz und zur Bedeutung von Rot für die Poetik des Parzival hat Monika Schausten in den letzten Jahren mehrere Beiträge vorgelegt. Vgl. Monika Schausten: Suche nach Identität. Das ‚Eigene‘ und das ‚Andere‘ in Romanen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit. Köln 2006 (Kölner Germanistische Studien. Neue Folge. 7), S. 75–86; dies.: Vom Fall in die Farbe. Chromophilie in Wolframs von Eschenbach ‚Parzival‘. In: Beiträge zur Geschichte der deutschen Sprache und Literatur 130 (2008), S. 459–482; dies.: Ein Held sieht Rot: Bildanthropologische Überlegungen zu Wolframs von Eschenbach Parzival. In: Sehen und Sichtbarkeit (Anm. 44), S. 177–191. Jüngst sind außerdem erschienen: Andrea Schindler: ein ritter allenthalben rôt. Die Bedeutung von Farben im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: Farbe im Mittelalter (Anm. 46), S. 461–478; Beatrice Michaelis: Farbspiele in ‚Kudrun‘ und ‚Parzival‘. In: Ebd., S. 493–503; Susanne Knaeble: Der colorierte Sippenkörper in Wolframs Parzival. In: Ebd., S. 583–595. Im vorliegenden Zusammenhang sind überdies Beiträge von Interesse, die unter den Rubriken „Terminologie der Farben und Farbe in der höfischen Literatur“ versammelt wurden. Einen Vorstoß, die „spezifische Rationalität der Texte und ihrer immanenten Poetik“ anhand von Farbbeziehungen aufzudecken, hat Hans-Jürgen Scheuer unternommen: Farbige Verhältnisse. Zur Topik kultureller und literarischer Farbkonzeption in Texten des 12.–14. Jahrhunderts und bei Heinrich von Kleist. Habilitationsschrift [masch.] Göttingen 2000, Zitat S. 1. Zum Parzival vgl. ebd. Kap. III. Die Farben der Verwandtschaft, S. 121–292. Bes. A. Genealogische Umschrift: Das Modell ‚Feirefiz‘ im Parzvial Wolframs von Eschenbach, S. 124–142. Ulrich Ernst: Liebe und Gewalt im Parzival Wolframs von Eschenbach. Literaturpsychologische Befunde und mentalitätsgeschichtliche Begründungen. In: Chevaliers errants, demoiselles et l’Autre: höfische und nachhöfische Literatur im europäischen Mittelalter. Festschrift für Xenja von Ertzdorff zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Trude Ehlert. Göppingen 1998 (Göppinger Arbeiten zur Germanistik. 644), S. 215–243, Zitat S. 243. Vgl. zu diesem Thema auch Helmut Brackert: der lac an riterschefte tôt. Parzival und das Leid der Frauen. In: Ist zwîvel herzen nachgebûr. Günther Schweikle zum 60. Geburtstag. Hrsg. von Rüdiger Krüger, Jürgen Kühnel, Joachim Kuolt. Stuttgart 1989 (Helfant-Studien. 5), S. 143–163; Elisabeth Lienert: Zur Diskursivität der Gewalt in Wolframs ‚Parzival‘. In: Wolfram-Studien XVII. Wolfram von Eschenbach – Bilanzen und Perspektiven. Eichstätter Kolloquium 2000. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Eckart C. Lutz, Klaus Ridder. Berlin 2002, S. 223–245; Robert Scheuble: mannes manheit, vrouwen meister. Männliche Sozialisation und Formen der Gewalt gegen Frauen im Nibelungenlied und in Wolframs von Eschenbach Parzival. Diss. Frankfurt a. M. [u. a.] 2005 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. 6); Albrecht Classen: Diskursthema ‚Gewalt gegen Frauen‘ in der deutschen Literatur des hohen und späten Mittelalters. Mit besonderer Berücksichtigung Hartmanns von Aue Erec, Wolframs von Eschenbach Parzival und Wirnts von Grafenberg Wigalois. In: Studien zu Literatur, Sprache und Geschichte in Europa. Wolfgang Haubrichs zum 65. Geburtstag gewidmet. Hrsg. von Albrecht Greule [u. a.]. St. Ingbert 2008, S. 49–62.

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Im Folgenden möchte ich Beobachtungen zur Modellierung des Gewaltdiskurses präsentieren, welche im Parzival im Rückgriff auf die Farben Weiß und Rot erfolgt.51 Ich lege dazu eine entsprechend pointierte Lektüre der beiden Jeschûte-Szenen vor (3844– 4096/129,18–137,30; 7617–8166/256,11–274,18), welche durch einen Vergleich mit dem Chrétienschen Text geschärft wurde.52 Die zweifache Begegnung des Protagonisten mit der Herzogin Jeschûte, Ehefrau von Herzog Orilus von Lalander, ordnet sich einem strukturell bedeutsamen Motivstrang zu, der im Rekurs auf die Darstellung eines Zusammentreffens und einer Interaktion des Helden mit Frauen aus unterschiedlichen gesellschaftlichen Sphären (Jeschûte, Sigûne, Cunnewâre, Lîâze, Cundwîrâmûrs, Repanse de schoye, Cundrîe) wichtige Stationen auf dessen Weg zum Artusritter und schließlich zum Gralkönig markiert. Mit Blick auf die Tektonik des Romans ist festzuhalten, dass die erste Begegnung Parzivâls mit der Herzogin Jeschûte den Beginn dieses Weges markiert, während die zweite nach dem Versagen des Helden auf der Gralsburg und vor seiner Aufnahme in die Artusgesellschaft eingeordnet ist und an dieser Position die Funktion hat, mittels einer Demonstration seiner triuwe die Vorwürfe der Mitleids51

52

Ich beschränke mich dabei, wie angekündigt, auf den Bereich der Frauendarstellung. Zum weiteren Kontext vgl. die Bemerkungen von Schöller (Anm. 5), S. 454: „Der Stoff aber, aus dem der ‚Parzival‘ geschnitten ist, ist nicht nur weiß wie der sommerliche Schnee, den der Protagonist am Beginn des sechsten Buches auf seiner Irrfahrt vorfindet: Er ist mit Blut kontaminiert.“ Zu den Jeschûte-Szenen vgl. die in Anm. 50 genannte Literatur sowie die folgenden Beiträge: Otfrid Ehrismann: Jeschute, or, How to Arrange the Taming of a Hero: The Myth of Parzival from Chrétien to Adolf Muschg. In: Medievalism in Europe II. Hrsg. von Leslie J. Workman, Kathleen Verduin. Cambridge 1996 (Studies in Medievalism. VIII), S. 46–71; Susanna Backes: Von Munsalvaesche zum Artushof. Stellenkommentar zum fünften Buch von Wolframs Parzival (249,1–279,30). Herne 1999, hier S. 52–138; Cornelia Schu: Vom erzählten Abenteuer zum Abenteuer des Erzählens. Überlegungen zur Romanhaftigkeit von Wolframs Parzival. Frankfurt a. M. 2002 (Kultur, Wissenschaft, Literatur. Beiträge zur Mittelalterforschung. 2), hier S. 222–234; Elisabeth Schmid: weindiu ougn hânt süezen munt (272,12). Literarische Konstruktion von Wahrnehmung im Parzival. In: Wahrnehmung im Parzival Wolframs von Eschenbach. Actas do Colóquio Internacional 15 e 16 de Novembro de 2002. Hrsg. von John Greenfield. Porto 2004, S. 229–242; dies.: Lüsternheit. Ein Körperkonzept im Artusroman. In: Körperkonzepte (Anm. 26), S. 131–147, bes. S. 135–138; Martin Schuhmann: Li Orgueilleus de la Lande und das Fräulein im Zelt, Orilus und Jeschute. Figurenrede bei Chrétien und Wolfram im Vergleich. In: Formen und Funktionen von Redeszenen in der mittelhochdeutschen Großepik. Hrsg. von Nine Miedema, Franz Hundsnurscher. Tübingen 2007, S. 247– 260; ders.: Reden und Erzählen. Figurenrede in Wolframs Parzival und Titurel. Heidelberg 2008 (Frankfurter Beiträge zu Germanistik. 49), hier: S. 214–222; W. Günther Rohr: „Ich sihe hie mangen Artûs“. Der Artûshof im Parzival Wolframs von Eschenbach. In: „Und wer bist du, der mich betrachtet?“ Populäre Literatur und Kultur als ästhetische Phänomene. Festschrift für Helmut Schmiedt. Hrsg. von Helga Arend. Bielefeld 2010, S. 297–311, hier S. 299ff. Elke Brüggen: swie ez ie hom, ir munt was rôt – Zur Handhabung der descriptio weiblicher Körperschönheit im Parzival Wolframs von Eschenbach. [Erscheint voraussichtlich 2013 in: Stil (Anm. 35)]. Weitere Literatur ist erfasst in: David N. Yeandle: Commentary on the Soltane and Jeschute Episodes in Book III of Wolfram von Eschenbach’s Parzival (116,5–138,8). CD-Rom. Heidelberg 1984; ders.: Stellenbibliographie zum ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach für die Jahrgänge 1984–1996. Bearbeitet von Carol Magner, unter Mitarbeit von Michael Beddow [u. a.]. Tübingen 2002.

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losigkeit und der fehlenden erberme, die vorher und nachher von verschiedenen Seiten artikuliert werden, zu relativieren. Beide Szenen werden im Wald situiert, die Vorgänge ereignen sich somit fernab von der Welt des Hofes. Der Naturbereich fungiert bei Wolfram nicht nur als Resonanzraum eines als unzivilisiert, ungehobelt und gewalttätig beschriebenen männlichen Verhaltens, er scheint überdies mit Blick auf die deutliche Erotisierung der Beschreibung weiblicher Schönheit von Belang, deren Lizenzen zugleich einer Zuspitzung der thematisierten Gewaltphänomene den Boden bereiten. Anders als im französischen Text werden hier nämlich nicht nur Äußerungsformen manifester physischer wie psychischer Gewalt zum Thema, also die Entehrung Jeschûtes durch die körperlichen Übergriffe Parzivâls, ihre Beraubung durch ihn und ihre Peinigung durch die Strafandrohungen und -maßnahmen ihres Ehemannes. Die Frauenfigur wird im Parzival zudem durch die (erotisierende resp. sexualisierende) Art ihrer Stilisierung sowie durch die Blicklenkung und das Räsonnement des Erzählers zum Objekt erotischer und aggressiver Phantasien, die nicht nur in ein Spannungsverhältnis zur ganz anders gelagerten Wahrnehmung des unbedarften Parzivâl gesetzt,53 sondern außerdem mit den Mitleidsbekundungen des Erzählers nur schwer zu harmonisieren sind; es ist nicht zuletzt diese Generierung einer gespaltenen Erzählinstanz, welche die Abgründigkeit der Szene möglich macht. Chrétien wie Wolfram machen die Angabe, dass sich die erste Szene am frühen Morgen ereigne (635–640; 3840f./129,14f.). Auf einer Lichtung entdecken die Protagonisten ein kostbares Zelt, in dem sich eine köstliche Frau befindet, allein und – schlafend (638–671; 3842–3859/129,16–130,3). Doch während bei Chrétien die pucele erwacht, als Perceval eintritt (677–680), wird Jeschûte erst aus ihrem Schlummer gerissen, als Parzivâl zu ihr aufs Bett springt, um sie in die Arme zu schließen (3887–3891/131,1– 5).54 Zwischen den Eintritt in das Zelt und das Eindringen in das Bett der Dame ist bei 53

54

„Allein der magische Glanz des Rings zieht ihn zum Bett der Jeschute, nicht etwa ihre Schönheit oder sexuelle Attraktivität.“ Klaus Ridder: Parzivals Gier. Habsucht als Moment kultureller Identitätssuche im Parzivalroman Wolframs von Eschenbach. In: Körperkonzepte (Anm. 26), S. 269–286, hier S. 275. Anders Schausten 2008 (Anm. 49), die mit Blick auf die Verse 130,4–13 davon spricht, dass es „das Zusammenspiel von Rot und Weiß auf dem Antlitz der Schlafenden“ sei, „das das Begehren des jungen Mannes“ wecke (S. 473); vgl. auch Schausten 2011 (Anm. 49), S. 190, Fußnote 41. Zum perspektivierten Erzählen vgl. Gert Hübner: Erzählform im höfischen Roman. Studien zur Fokalisierung im ‚Eneas‘, im ‚Iwein‘ und im ‚Tristan‘. Tübingen / Basel 2003 (Bibliotheca Germanica. 44). Ders.: Fokalisierung im höfischen Roman. In: Wolfram-Studien XVIII (2004), S. 127–149. Dafür, dass es zu einer Vergewaltigung kommt, gibt es im Text keine klaren Anhaltspunkte. Gleichwohl wird die Möglichkeit einer solchen insinuiert. Besonders plakativ: der Hinweis des Erzählers auf Parzivâls Vater Gahmuret, der die Situation mit Sicherheit anders und besser zu nutzen verstanden hätte als sein Sohn: „het er gelernt sîns vaters site, / die werdeclîche im wonte mite, / diu bukel waere gehurtet baz, / da diu herzoginne al eine saz, / diu sît vil kumbers durch in leit.“ (4139–4143/ 139, 15–19). Zum Vorhandensein einer solchen Latenz zwischengeschlechtlicher Gewalt in der Bêne- und der Antikonîe-Episode vgl. Mireille Schnyder: Erzählte Gewalt und die Gewalt des Erzählens. In: Gewalt im Mittelalter. Realitäten – Imaginationen. Hrsg. von Manuel Braun, Cornelia Herberichs. München 2005, S. 365–379, hier S. 375–379.

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Wolfram als eine descriptio der besonderen Art die einer Schlafenden platziert, deren implizierte Schutz- und Wehrlosigkeit sie, wie zu zeigen sein wird, zum Objekt eines äußerst zudringlichen Erzählers macht. Die Beschreibung ist gegen die Vorlage eingefügt. Anstelle einer descriptio personae findet man bei Chrétien eine Beschreibung des zweifarbigen, roten und goldenen, Zeltes, dessen Spitze in Form eines goldenen Adlers die Strahlen der Sonne reflektiert, welche so, die intensive Farbigkeit des Zeltes aufnehmend, die neben einer Quelle gelegene Wiese in ein buntes Licht taucht (641–648). Der französische Autor baut auf diese Weise die Szenerie eines locus amoenus und aufgrund des häufig an sie geknüpften Minnekontextes eine entsprechende Erwartungshaltung auf. Wolfram übergeht die Zeltbeschreibung nicht, setzt aber andere Schwerpunkte. Vor allem tilgt er das elaborierte Spiel von Licht und Farbe,55 um es dann umso effektiver bei der nachfolgenden Beschreibung weiblicher Körperschönheit zum Einsatz zu bringen, welche zunächst den Mund und die Hüften, sodann Arm und Hand fokussiert (3853–3881/129,27–130,25). Gleich die ersten Worte heben darauf ab, dass Parzivâl die Frau von Herzog Orilus „ligende minneclîche“ fand (3855/129,29), „gelîche eime rîters trûte“ (3857/130,1); sie setzen den Ton für das, was dann an Erzählerbemerkungen folgt und was die Herzogin in eine eindeutig-zweideutige Situation versetzt. Wenn die descriptio den leuchtend roten Mund fixiert, ihn als „der minne wâfen“ (3860/130,4) bezeichnet und „gerndes ritters herzen nôt“ (3862/130,6), wenn es dann heißt, dass die geöffneten Lippen, die das blendende Weiß der Zähne sehen lassen, „der minne hitze fiwer“ tragen (3865/130,9), wenn schließlich der Erzähler sich der Vorstellung hingibt, dass er sich daran gewöhnen könnte, einen so schönen Mund zu küssen (3870f./130,14f.), so formiert sich aus diesen Einlassungen die Vorstellung, dass es Liebesküsse waren, welche die brennende Röte auf Jeschûtes Lippen gezaubert haben. Mehr noch: Es wird suggeriert, dass es nicht Müdigkeit ist, die Jeschûte schlafen lässt, sondern eine Mattigkeit, die ihre Ursache im nächtlichen oder frühmorgendlichen Liebesspiel hat. Diese Art des Erzählens zielt auf den Gedanken, dass es Orilus’ Leidenschaft war, die Jeschûte so erhitzt hat, dass sie die Decke „von ir stiez“ (3875/130,19), hinab bis zur Hüfte. Durch seine Ausgestaltung der Situation im Zelt gibt Wolfram Jeschûtes perfekte Formen in intimer Lage den Blicken preis und facht die erotische Imagination der Rezipienten an.56 Dabei mag es zunächst den Anschein haben, als wahre die Nennung des vollendet proportionierten „süezen lî[bes]“ (3879/130,23) in ihrer Vagheit die in höfischer Literatur übliche Diskretion und als sei die anschließende Verschiebung der Aufmerksamkeit 55 56

Es wird nur gesagt, dass das prachtvolle, große Zelt „von drîer varwe samît“ war (3847/ 129,21). Schu (Anm. 52) spricht davon, dass der Erzähler „genüßlich das Bild der schlafenden Schönen in lasziver Pose“ zeichne und „den Rezipienten dadurch zum Komplizen seiner Begehrlichkeiten macht“ (S. 330) – „The status of nakedness in medieval literature remains still to be ascertained“. Mit dieser Bemerkung eröffnet Friedrich Wolfzettel einen aufschlussreichen Beitrag zum Motiv der Nacktheit vorwiegend im Artusroman der Romania, auf den ich im vorliegenden Zusammenhang verweisen möchte: Friedrich Wolfzettel: Der defiziente arthurische Körper: Nacktheit als Gattungs-Paradigma. In: Körperkonzepte (Anm. 26), S. 201–230.

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auf den langgliedrigen Arm und die weiße Hand der Schönen (3880f./130,24f.) als eine weitere Abmilderung intendiert; doch in Wahrheit wird die Figur durch eine kunstvolle Aussparung weitgehend entblößt: dass Jeschûte ein Untergewand trägt, erfährt man nämlich erst an späterer Stelle (3903/131,17), und so mutiert sie in der erzählerisch gelenkten Vorstellung des Hörers oder Lesers für kurze Zeit zur Nackten.57 Weil er aufgrund einer Ambiguität der Zeichen und ihrer Fehlinterpretation seine Frau des Ehebruchs verdächtigt, verhängt Orilus eine monströse Strafe. Er will Jeschûte leiden lassen, ihr die fröude nehmen und ihre Attraktivität auslöschen (4041– 4044/136,5–8). Die Maßnahmen setzen auf verschiedenen Ebenen an, sie umfassen die Aufhebung der ehelichen Gemeinschaft ebenso wie die Verweigerung angemessener Kleidung und eines standesgemäßen Reittiers und wollen Jeschûte der öffentlichen Schande preisgeben (4059–4078/136,23–137,12). Für die Zerstörung von Jeschûtes Schönheit lässt Wolfram Orilus ein Bild finden, das bei dem zentralen Schönheitsmerkmal des Mundes ansetzt, dessen Röte ins Gegenteil verkehrt werden soll: Fahl werden sollen die Lippen seiner Frau, und die Röte soll sich dafür in ihren Augen einnisten (4041f./136,5f.).58 Die Effekte von Jeschûtes Leidensweg malt der Erzähler detailliert aus, wenn Parzivâl bei seinem Rückweg von Munsalvaesche ein zweites Mal auf sie trifft. Sie ist so verändert, dass dieser sie zunächst nicht wieder erkennt. Die Frau bietet ein Bild des Jammers. Jeschûte selbst thematisiert ihre Entkräftung (7721– 7733/259,23–260,5), und der Erzähler spricht von ihrem Unterkleid, das nur noch aus aneinander geknoteten Stoffstücken besteht, die der Haut keinen flächendeckenden Schutz vor der Sonne mehr geben können (7644–7650/257,8–17; 7734f./260,6f.). Gegenüber Chrétien sind die Zeichen der Qualen insgesamt mit geringerer Drastik geschildert: im Conte du graal wird eine bedauernswerte Kreatur präsentiert, deren Haut aufgrund der zusammengeknoteten, überall löchrigen Lumpen, die sie trägt, nicht nur sonnenverbrannt, sondern durch Hitze, sengende Sonne und Frost aufgeplatzt ist und in Fetzen herunterhängt, als sei sie mit einem Aderlassmesser bearbeitet worden. In dem von keiner Kopfbedeckung geschützten Gesicht sind hässliche Falten sichtbar, die ein nie versiegender Strom von Tränen darauf zurückgelassen hat (3717–37). Diese Angaben fehlen im Parzival. Doch auch bei Wolfram wird der Leib der Frau als malträtierter Körper gezeigt: ouch heten die este und etslîch dorn ir hemde zerfüeret. 57 58

Die Angabe von Schuhmann 2007 (Anm. 52), S. 254, Anm. 17, es werde offengelassen, ob Jeschûte bekleidet ist oder nicht, ist nicht korrekt. Schmid 2004 (Anm. 52) hat diese Stelle als Beispiel für „ein für Wolfram charakteristisches […] Verfahren“ behandelt, „Farben an Stellen einzusetzen, wo sie gemäß dem in der höfischen Kultur geltenden Schönheitsstandard nicht hingehören“ (S. 233). Immer wieder unterwandert der Autor, so Schmid, „die gängige Beschreibungstopik […]; indem er konventionelle optische Vorstellungen mit extravaganten Metaphern versetzt, oder indem er z. B., statt ein typisches Schönheitsmerkmal anzubringen, eine besondere Formulierung erfindet“ (S. 231f.).

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swâ daz mit zerren was gerüeret, dâ sah er vil der stricke. dar unde liehte blicke: ir hût noch wîzer denn ein swan. sine hete niht wan knoden an. swâ die wâren des velles dach, in blanker varwe er daz sach. daz andr leit von sunnen nôt. (7644–7653/ 257,8–17)

Elisabeth Schmid hat angesichts dieser Beschreibung die Frage gestellt, was hier eigentlich zu sehen sei und für wen. „Die Stellen, die infolge der Bedeckung ihre Weiße behalten haben, sind jedenfalls für Parzival, dem die Wahrnehmung zugeschrieben wird, nicht sichtbar“, so Schmid. Und sie fährt fort: „Es ist der Dichter, der unter die Lumpen geschaut, bzw. ihr die Lumpen ganz ausgezogen hat und ihrem Leib ein Muster aus sonnenverbrannten und weißen Blößen einzeichnet.“59 Ist es zu weit hergeholt, den Einfall eines weiß-roten Hautmusters mit der Vorliebe fürs parrierte in Verbindung zu bringen, dem schwarz-weißen Elsterngefieder, dem „mit Schnee unterfütterte[n] Artuspfingsten“, dem Hin- und Hergeworfensein, das für Parzivals Lebensweg charakteristisch scheint (9713–9716/326,5–8), dem gedanklichen Schwanken Trevrizents zwischen Unschuld und Sünde (13672–13675/458,6–9) oder dem „gefleckten Feirefiz“?60 Der Gedanke hebt darauf ab, dass es zwei Verursacher für den malträtierten Körper der Jeschûte gibt: Orilus, den gewalttätigen Ehemann, und Wolfram, für den der geschundene Leib der Frau zum „Objekt der poetischen Bearbeitung“ wird und als „Medium eines ehrgeizigen Kunstwillens“ fungiert.61

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61

Schmid 2007 (Anm. 52), S. 136f. Schmids Verzicht auf eine an der Erzähltheorie geschulte Differenzierung der Instanzen, die sich in der Rede vom „Dichter“ bezeugt, kann hier beiseite bleiben. Zitate ebd., S. 137. Zur Relevanz des Wortes parrieren für den Parzival siehe Joachim Bumke: Die Blutstropfen im Schnee. Über Wahrnehmung und Erkenntnis im ‚Parzival‘ Wolframs von Eschenbach. Tübingen 2001 (Hermaea. Germanistische Forschungen. Neue Folge. 94), S. 143–147; ders.: Wolfram von Eschenbach. 8., völlig neu bearbeitete Aufl. Stuttgart 2004 (Sammlung Metzler. 36), S. 210. Vgl. zuletzt Beatrice Trînca: Parrieren und undersnîden. Wolframs Poetik des Heterogenen. Heidelberg 2008 (Frankfurter Beiträge zur Germanistik. 46). Schmid 2007 (Anm. 52), S. 138. Angeregt wurden die Überlegungen durch Ausführungen von Hartmut Böhme zu literarischen Verfahren der Körperfragmentierung im 16. und 17. Jahrhundert: Hartmut Böhme: Erotische Anatomie. Körperfragmentierung als ästhetisches Verfahren in Renaissance und Barock. In: Körperteile. Eine kulturelle Anatomie. Hrsg. von Claudia Benthien, Christoph Wulf. Hamburg 2001, S. 228–253. Vgl. dazu außerdem Jörg Jochen Berns: Die demontierte Dame. Zum Verhältnis von malerischer und literarischer Porträttechnik im 17. Jahrhundert. In: Daß eine Nation die andere verstehen möge. Festschrift für Marian Szyrocki zu seinem 60. Geburtstag. Hrsg. von Norbert Honsza, Hans-Gert Roloff. Amsterdam 1988 (Chloe. Beihefte zum Daphins. 7), S. 67–96; Rudolf Drux: Über das anatomische Verfahren der Körperdarstellung in barocken ‚Sprachgemälden‘. Am Beispiel der dekonstruierten Geliebten. In: Deutsche Vierteljahrsschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte 83 (2009), S. 88–102.

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Anders als Chrétiens pucele ist Wolframs geschundene und entehrte Jeschûte jedoch immer noch eine äußerst attraktive Frau, die ihre erotischen Reize nicht eingebüßt hat. Und so wird auch in dieser Szene das Feuerrot ihres Mundes betont, das ihr geblieben ist, und die strahlend helle Haut unter den geknoteten Flicken, „noch wîzer denn ein swan“ (7649/257,13). Wie sehr die Figur der Jeschûte aber auch hier zum Opfer eines sich geradezu voyeuristisch ausnehmenden Erzählers wird, zeigt die Passage, in der sich die Aufmerksamkeit des Erzählers für die Tränen der leidenden Frau bruchlos mit seiner Sensibilität für die Schönheit ihrer hochaufragenden, runden, wie gedrechselt wirkenden, vor allem aber: weißen Brüste verbindet: Al weinende diu frouwe reit, daz si begôz ir brustelîn, als sie gedraet solden sîn. diu stuonden blanc, hôch, sinwel. jâne wart nie drehsel sô snel, der si gedraet hete baz. (7692–7697/ 258,24–29)

Dass die Tränen auf ihre Brüste fließen, konnte Wolfram bei Chrétien finden (3730– 37), nicht aber die rasche Transformation einer empathisch angelegten Betrachtung in ein sexualisiertes Taxieren, mit dem der Erzähler seine männliche Kennerschaft unter Beweis stellt.62 Auch hier wird jene Spaltung der Erzählinstanz greifbar, von der bereits die Rede war. Sie wäre mit Blick auf die Mitleidsbekundungen des Erzählers weiterzuverfolgen, die nicht verhindern, dass die zur ihrer Schande entblößte Herzogin zur Zielscheibe seiner Anzüglichkeiten und seines obszön-aggressiven Spottes wird.63 Gemeint ist die Phantasie des anrîtens, der Attacke „zer blôzen sîten“ (7658/257,22), mit ihrem „auf der konventionell austauschbaren Bildlichkeit von Tjoste und Liebeskampf beruhende[m] anzügliche[n] Doppelsinn“64 und dem berühmt-berüchtigten Wortspiel 62

63 64

Bei Chrétien heißt es lediglich: „Et quant ele en un liu se coevre, / Un pertruis clot et cent en oevre.“ („Wenn sie sich an einer Stelle verhüllt, verbirgt sie [zwar] ein Loch, [doch] legt sie [auch] hundert [neue] frei.“ [3745f.].) Ernst (Anm. 50) spricht davon, dass „die Ausgestaltung der Erzählerrolle […] deutlich Züge des Syndroms von Sexualität und Aggression“ zeige (S. 241). Schmid 2007 (Anm. 52). Der Ansicht, dass die Stelle, sei sie nun witzig oder nicht, „unsere Aufmerksamkeit auf die Kunst des Erzeugers lenkt, zu dessen Preis sie gereichen soll“ (ebd.), somit ein weiterer Fingerzeig auf die Artifizialität der Figurendarstellung im Parzival ist, kann man in meinen Augen nur zustimmen. Als Ausweis von Wolframs hohem Sprachbewusstsein und seiner „intellektuelle[n] Präsenz noch im letzten Detail“ gilt die Stelle Hartmann (Heiko Hartmann: Darstellungsmittel und Darstellungsformen in den erzählenden Werken. In: Heinzle [Anm. 1], Bd. 1, S. 145–220), S. 208. Horst Wenzel hat die mit den Begriffen dörper resp. vil(l)ein verbundene Abgrenzung eines unzivilisierten, unhöfischen Verhaltens von einem höfischen Benehmen, das den gesellschaftlich geforderten Regeln und Ansprüchen genügt, als verbindendes Element der Diskurse über die Tischsitten und über die Liebe ausgemacht; vgl. Horst Wenzel: Tisch und Bett – Zur Verfeinerung der Affekte am mittelalterlichen Hof. In: Prozesse der Normbildung und Normveränderung im mittelalterlichen Europa. Hrsg. von Doris Ruhe, Karl-Heinz Spieß. Redaktion RalfGunnar Werlich. Stuttgart 2000, S. 315–332.

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vilân / vil an, in das Karl Lachmann in seiner Ausgabe mit Hilfe einer eckigen Klammer eingriff:65 [nantes iemen vilân, der het ir unreht getân:] wan si hete wênc an ir. (257,23–25)

Kaum weniger harmlos ist möglicherweise die Beteuerung „doch naeme ich sölhen blôzen lîp / für etslîch wol gekleit wîp“ (7667f./257,31f.). Für einen kurzen Moment mag man glauben, dass sie durch die vorausgeschickte Versicherung der Schuldlosigkeit Jeschûtes und den Hinweis auf ihre makellose güete gleichsam entschärft sei (7662–7664/257,26–28), zumal der Gedanke einer inadaequatio von Äußerem und Innerem bereits vom Prolog an lanciert wird; und doch gelingt es nicht, das Misstrauen in die Bemerkung abzustreifen und sie so zu nehmen, wie sie sich prima vista anbietet: als unverdächtiges Zeugnis einer ehrenhaften (in den literarischen Zeugnissen der Zeit um 1200 indes eher selten vermittelten) Einstellung, die den Wert eines Menschen nicht an Äußerlichkeiten bemisst: Zu nah stehen die betreffenden Verse bei denen, die genüsslich dem Bild einer überall entblößten Frau Raum geben, mit der ein hinreichend versierter Galan leichtes Spiel hätte, Versen, die zudem der Erzähler selbst mit der Frage nach dem war zuo? auf spielerische Weise hinterfragt (7665f./257,29f.). Die Ausführungen zu dem an das Muster Weiß-Rot gekoppelten Gewaltdiskurs wären, wie schon gesagt, um weitere Beobachtungen zum Einsatz von Farben bei der Darstellung von Sterben und Tod und bei der Thematisierung von Erleuchtung und Erkenntnis zu ergänzen. Mit den Farben der Frauen wäre zwar lediglich ein Ausschnitt aus den kolorierten Textwelten von Wolframs Parzival erfasst, doch ließen sich daran, wie mir scheint, Literarisierungsstrategien sichtbar machen, die dem Text ein spezifisches Gepräge verleihen. Relevant erscheint mir in diesem Zusammenhang die Abweisung der längeren descriptio, von der bereits die Rede war. Sie erfolgt unausgesprochen, der Autor bemüht dafür nicht einmal einen Unsagbarkeits- oder Unfähigkeitstopos, und doch greifen wir hier eine Variation der Verweigerung eines traditionellen Mittels vormoderner Poetik, wie sie Gottfried von Straßburg anlässlich der Aufgabe, von Tristans Schwertleite zu erzählen, explizit gemacht hat – freilich nur, um dieses Mittel später umso strahlender wieder ins Recht zu setzen. Wolfram geht einen anderen Weg, indem er mit unterschiedlicher Zielrichtung, aber doch mit einer gewissen Konsequenz die inadaequatio exponiert, den Bruch mit dem Kalokagathia-Konzept, das innere und äußere Schönheit in ein Entsprechungsverhältnis setzt.66 Belacâne, Jeschûte und die hässliche Cundrîe avancieren in diesem Kontext zu zentralen Figuren. Doch während bei der Herzogin Jeschûte die Diskrepanz zwischen innerer Schönheit, sozialem 65 66

Vgl. dazu Wolfram von Eschenbach. Sechste Auflage von Karl Lachmann. Berlin, Leipzig 1926, S. IX. Weiterführende Überlegungen in diese Richtung bietet die Studie von Anna Karin: Inadaequatio. Gestörte Ordnungen im Spiegel ungewöhnlicher Gewanddeskriptionen. Magisterarbeit Bonn [2010].

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Rang und beeinträchtigtem Äußerem als eine temporäre Störung gilt, die als reversibel gezeigt wird, stellt die Konstruktion von Figuren wie Belacâne oder Cundrîe das gewohnte Entsprechungsverhältnis entschiedener in Frage, da die ihnen attribuierte Devianz unauslöschlich ist.67 Inwieweit Devianz im Parzival Defizienz anzeigt oder als Signum einer neuen Qualität der Figurendarstellung zu verstehen ist, bedarf, wie mir scheint, in jedem einzelnen Fall noch einmal sorgfältiger Prüfung.*

67

*

Annette Gerok-Reiter stuft Jeschûtes ‚Hässlichkeit‘ ebenso wie diejenige Iweins oder Enites als „Prüfung“ und als „Durchgangsstadium“ ein, während sie in der von Cundrîe repräsentierten „Verbindung von hässlich und höfisch / gut“, die „sich […] nicht als Signum einer provisorischen Übergangsphase“ verstehen lasse, ein „erstaunliches Novum in der höfischen Epik bis dahin“ erblickt. Vgl. Annette Gerok-Reiter: Individualität. Studien zu einem umstrittenen Phänomen mittelhochdeutscher Epik. Tübingen / Basel 2006 (Bibliotheca Germanica. 51), hier S. 113. Literaturbeschaffung, Überprüfung der bibliographischen Angaben und Einrichtung des Typoskripts lagen in den Händen von Ann-Kathrin Deininger, Lea Heckelsberg und Anna-Katharina Nachtsheim; ihnen sei zum Schluss herzlich gedankt.

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Elke Brüggen

Andreas Kraß

Die Farben der Trauer Freundschaft als Passion im Trojanerkrieg Konrads von Würzburg

I.

Die Farben der Liebe

Strahlende Farben sind ein zentrales Merkmal der mittelalterlichen Ästhetik.1 Davon legen die gotischen Kirchenfenster ein eindrucksvolles Zeugnis ab. In der Leuchtkraft der Farben, die bei Sonnenlicht die gotische Kathedrale erfüllen, scheint nach christlicher Auffassung die Präsenz Gottes auf. Leuchtende Farben zählen im Mittelalter auch zum ästhetischen Repertoire der weltlichen Kunst und Literatur. In der höfischen Dichtung des 12. und 13. Jahrhunderts dienen sie vielfach der idealisierenden Darstellung schöner Ritter und Damen. In beiden ästhetischen Registern, dem geistlichen wie dem weltlichen, sind Licht und Farbe Elemente einer Epiphanie: des göttlichen Wesens im einen, des höfischen Wesens im anderen Fall.2 Ein markantes Beispiel für die Signifikanz von Farben in der höfischen Literatur bietet der Trojanerkrieg Konrads von Würzburg, ein Roman aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Konrad gibt eine ausführliche Beschreibung der schönen Helena, die auch die Farben des Körpers und der Kleidung einbezieht.3 Helenas Körper zeichnet sich durch die traditionellen Liebesfarben Rot und Weiß aus. Rot sind Wangen und Lippen, weiß sind Haut und Zähne. Hinzu kommen das Gold der Haare und das Schwarz der Augenbrauen. Helenas Kleidung ist mit einem Farbenzauber versehen. Ihr Rock wechselt täglich siebenmal zwischen den 1

2 3

Außer vorliegendem Band vgl. auch: Farbe im Mittelalter. Materialität – Medialität – Semantik. Hrsg. von Ingrid Bennewitz, Andreas Schindler. 2 Bde. Berlin 2011; Hans Jürgen Scheuer: Farbige Verhältnisse. Literarisch-anthropologische Untersuchungen zum Zusammenspiel von Farbpoetik und Adelskultur. Habilitationsschrift masch., Göttingen 2000. Zur mittelalterlichen Ästhetik vgl. ferner Rosario Assunto: Die Theorie des Schönen im Mittelalter. Ostfildern 1992 (Nachdruck der Ausgabe Köln 1963); Umberto Eco: Kunst und Schönheit im Mittelalter. München 1998 (Nachdruck der Ausgabe München 1991). Vgl. Andreas Kraß: Geschriebene Kleider. Höfische Identität als literarisches Spiel. Tübingen 2006 (Bibliotheca Germanica. 50), S. 149–192 (Kap. B II: „Epiphanie: Verklärung höfischer Identität“). Vgl. Andreas Kraß, Die schöne Helena: Ästhetik und Poetik der Mode in den Trojaromanen Benoîts de Sainte-Maure, Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg. In: Grenzgänge. Beiträge zu einer modernen Romanistik 17 / 33 (2010) (Themenheft „Maskeraden der Schönheit“), S. 85– 100.

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Andreas Kraß

Farben Rot und Weiß.4 Ihr Mantel, der aus dem Fell eines Wundertiers gefertigt ist, spielt in sechs verschiedenen Farben: Rot, Weiß, Gelb, Grün, Blau und Violett.5 Der Farbenzauber, der von Helena ausgeht, ist zugleich ein Liebeszauber. Dies erweist sich in der ersten Begegnung von Paris und Helena. Als der trojanische Held die griechische Königin erblickt, wechselt er die Farbe: des wart er als ein regenboge geverwet von der minne der glanzen küneginne, der schœne durch sîn herze brach. (Vv. 19790–93) [Deswegen wurde er wie ein Regenbogen eingefärbt von der Liebe zur strahlenden Königin, deren Schönheit in sein Herz eindrang.]6

Die Entzündung der Liebe durch Schönheit schildert Konrad als Naturschauspiel. Anknüpfungspunkte des Vergleichs sind die Motive des Regenbogens und des einbrechenden Glanzes. Wie ein Blitz durch den Himmel zuckt und die Sonne einen Regenbogen in den Himmel malt, so dringt Helenas Schönheit in das Herz des trojanischen Helden hinein und erfüllt ihn mit den Farben der Liebe. Zugleich weckt die Beschreibung dieses Vorgangs Assoziationen an die Ästhetik der gotischen Kathedrale. Die Schönheit Helenas dringt in Paris’ Herz, wie Sonne, Licht und Farbe in den Kirchenraum einbrechen. Konrad, so lässt sich festhalten, setzt die Zeichenebene der Farben ein, um die Entstehung der Liebe zu markieren. Entscheidend sind dabei zwei Sachverhalte: erstens die Erweckung der Liebe des Mannes durch die Schönheit der Frau und zweitens der Widerschein der weiblichen Schönheit im Teint des Mannes. Wenn Paris wie ein Regenbogen leuchtet, so spiegelt er sich in den Farben Helenas, deren Schönheit seine Liebe erweckt.

II. Die Farben der Freundschaft Die Geschichte des Trojanischen Krieges hat nicht nur ein idealtypisches Liebespaar, sondern auch ein idealtypisches Freundespaar zu bieten, nämlich die Waffenbrüder

4

5 6

Hier und im Folgenden zitiere ich den Trojanerkrieg nach folgender Ausgabe: Der Trojanische Krieg von Konrad von Würzburg. Nach den Vorarbeiten K. Frommanns und F. Roths zum ersten Mal hrsg. von Adelbert von Keller. Amsterdam 1965 [Nachdruck der Ausgabe Stuttgart 1858], hier Vv. 20086–91: „sus endert er sich alle tage / und lie sich zweier hande spehen. / ze siben zîten blanc gesehen / und ze siben zîten rôt / wart er von künsterîcher nôt, / dâ mite er was getwungen.“ Ebd. Vv. 20186–89: „sehs varwe sint ûf ez geleit, / die glîzent nâch dem wunsche dâ. / wîz, brûn, gel, rôt, grüen unde blâ / siht man von im dâ schînen.“ Alle Übersetzungen von mir.

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Achill und Patroklos.7 Das Mittelalter kannte die Ereignisse um Troja zunächst nur aus zweiter Hand, nämlich in Form einer spätantiken Chronik mit dem Titel De excidio Troiae historia. Verfasser des lateinischen Werks ist Dares Phrygius (5. Jh.), der als Kriegszeuge auf trojanischer Seite galt. Auf Dares fußt der hochmittelalterliche Roman de Troie, eine höfische Versdichtung des altfranzösischen Schriftstellers Benoît de Sainte-Maure (12. Jh.). Auf diesem basiert wiederum das Liet von Troye, eine mittelhochdeutsche Adaptation der altfranzösischen Vorlage aus der Feder Herborts von Fritzlar (12. Jh.). Konrad von Würzburg verarbeitete in seinem summenhaften Roman alle Quellen, derer er habhaft werden konnte, darunter auch die genannten TrojaDichtungen. Im Folgenden möchte ich zeigen, ob und in welcher Weise die betreffenden Autoren Farbmotive einsetzen, um die Freundschaft zwischen Achill und Patroklos zu inszenieren. Dares, der die Ereignisse des Trojanischen Kriegs knapp referiert, zeigt keinerlei Interesse an Farben. Benoît, der die Chronik in einen höfischen Roman umwandelt, schmückt die Handlung um Achill und Patroklos erheblich aus, verzichtet aber noch auf die Verwendung von Farbattributen. Herbort setzt erste Farbmotive ein, um die Anschaulichkeit des Geschehens zu steigern. Es bleibt jedoch Konrad von Würzburg vorbehalten, die Geschichte der Waffenbrüder mit einer elaborierten Farbmotivik auszustatten. Farben dienen ihm wiederum nicht nur zur Beschreibung von Figuren, sondern auch zur Codierung von Figurenbeziehungen. Während die Farben im ersten Fall (Liebespaar Paris und Helena) die Entstehung der minne begleiten, kommen sie im zweiten Fall (Freundespaar Achill und Patroklos) erst zum Zuge, als es um die Bewährung der minne in Situationen des Kampfes, des Todes und der Klage geht. Beim Liebespaar markieren die Farben den Anfang, beim Freundespaar das Ende der Beziehung.

a)

Die Farben des Todes: Hektor und Patroklos

Patroklos stirbt durch das Schwert Hektors, des Gegenspielers Achills auf trojanischer Seite. Dares verwendet auf den tödlichen Zweikampf nur drei schlichte Worte: „Hector Patroclum occidit“.8 Zwar weiß der Chronist zu berichten, dass die Schlacht, in deren

7

8

Vgl. Andreas Kraß: Achill und Patroclus. Freundschaft und Tod in den Trojaromanen Benoîts de Sainte-Maure, Herborts von Fritzlar und Konrads von Würzburg. In: Zeitschrift für Literaturwissenschaft und Linguistik (LiLi) 114 (1999) (Thema: Traurige Helden, hrsg. von Wolfgang Haubrichs), S. 66–98. De excidio Troiae historia. Lateinischer Text und deutsche Übersetzung zitiert nach Andreas Beschorner: Untersuchungen zu Dares Phrygius. Tübingen 1992 (Classica Monacensia. 4), hier Kap. XIX, S. 35: „proelium acre iracundumque fit, fortissimus quisque in primis cadit. Hector Patroclum occidit et spoliare parat. Meriones eum ex acie, ne expoliaretur, eripuit“ („Es kam zu einer heftigen und hitzigen Schlacht, und gerade die Tapfersten fielen unter den Vordersten. Hektor tötete Patroklos und war eben im Begriff ihn seiner Rüstung zu berauben. Meriones riß ihn (d. h. Patroklos), damit er nicht seiner Rüstung beraubt werde, aus der Schlacht“).

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Verlauf Patroklos sein Leben verliert, heftig und hitzig („acre iracundumque“) gewesen sei; auch merkt er an, dass Hektor vergeblich versucht habe, die Rüstung seines Gegners zu rauben. Eine nähere Beschreibung der Umstände, unter denen Patroklos kämpft und stirbt, bleibt jedoch aus. Dares notiert das Faktum des Todes, die Modalitäten interessieren ihn nicht. Benoît verpflanzt das Geschehen in das ritterliche Milieu des 12. Jahrhunderts. Als höfischer Dichter, der seinem Publikum ein anschauliches Bild der Ereignisse vor Troja geben möchte, geht er auf die Qualität der Waffen, die Hektor und Patroklos mit sich führen, näher ein. So heißt es in der Szene, in der Hektor Patroklos tötet: Conduit le bon espié trenchant, Que tot le piz li vait fendant. Le cuer li trenche en dous meitiez: Envers chaï morz a ses piez. [Er stieß den trefflich scharfen Speer mitten durch den nagelneuen Schild und die feinen Maschen des Panzerhemds, das Patroklos genommen hatte, und durchbohrte seine Brust und schnitt sein Herz entzwei. Patroklos fiel tot vor die Füße seines Gegners.]9

Benoît weist jeder Waffe eine spezifische Eigenschaft zu. Hektors Speer ist scharf, Patroklos’ Schild ist neu, die Maschen seines Kettenhemds sind fein. Den Akt der Tötung dramatisiert Benoît mit dem Motiv des in der Mitte zerteilten Herzens. Herbort reichert die Schilderung des Zweikampfs mit weiteren Details an. Hektor und Patroklos fliegen aufeinander zu wie Pfeil und Vogel, die Lanzen zersplittern, und der Schwertkampf beginnt: Die herrē griffen an die _wert Do begundē die recken Mit den brunē ecken Howen _chrote _nidē Den wapenroc v@ _idē Vñ den hal_berc darvnde Patroclo wart ein wHde In daa herze _o groa Daa er tot zv der erden schoa Der gei_t vur _ine vart Patroclus wart al_o hart Vnd al_o kalt als ein _tein Im _tarten arm vnd bein. 9

Hier und im Folgenden zitiere ich den Roman de Troie nach folgender Ausgabe: Le roman de Troie par Benoît de Sainte-Maure. Pub. d’après tous les manuscrits connus par Léopold Eugène Constans. Paris 1906, Bd. 2, hier Vv. 8347–50. Neufrz. Prosaübersetzung in: Le Roman de Troie par Benoît de Sainte-Maure. Texte trad. et présénte par Emmanuèle Baumgartner. Paris 1987, S. 110 / 111: „Il pointe alors son bon épieu tranchant en plein milieu de l’écu tout neuf et du haubert aux fines mailles qu’avait pris Patrocle et lui perce la poitrine, coupant le cœur en deux. Patrocle tombe mort aux pieds de son adversaire.“

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[Die Herren griffen nach ihren Schwertern. Da begannen die Helden den Waffenrock aus Seide und die darunter befindliche Rüstung mit den rot funkelnden Schneiden zu zerhauen, zerstechen und zerschneiden. Patroklos empfing eine so große Wunde in seinem Herzen, dass er tot auf den Boden stürzte. Die Seele wich von ihm. Patroklos wurde so hart und kalt wie ein Stein, seine Arme und Beine erstarrten.]10

Hier kommt das erste und einzige Farbattribut ins Spiel. Die Schneiden der Schwerter sind brûn. Das Wort verbindet einen Farbwert (dunkelfarbig) mit einem Glanzwert (funkelnd) und lässt sich am ehesten mit dunkelrot funkelnd übersetzen.11 Auch der Waffenrock wird spezifiziert, er ist aus Seide gefertigt. Aus dem höfischen Kontext darf man schließen, dass farbige Seide gemeint ist, aber das wird nicht expliziert. Wie seine altfranzösische Vorlage spricht Herbort von der Verwundung des Herzens, streicht aber das bereits auf den Waffenrock und die Rüstung verwendete Motiv der Zerteilung. Stattdessen umschreibt er das Erstarren und Erkalten der Leiche mit der Metapher des Steins. Konrad greift die Motive seiner Vorgänger auf und geht weit über sie hinaus. Er beschreibt Farbe und Schmuck der ritterlichen Rüstungen, Waffen und Fahnen in allen Einzelheiten. Hektor trägt ein Banner, das mit Gold durchwebt ist und von einem Löwen aus rotem Samt geziert wird. Patroklos trägt einen kristallenen Schild, der einen auf goldenem Grund mit rotem Drachenblut gemalten Vogel Greif zeigt. So ordnet Konrad die Gegenspieler einander ästhetisch zu. Beider Wappen zeichnen sich durch das Farbspiel von Gold und Rot sowie durch allegorischen Tierschmuck aus. Hektor kämpft im Zeichen des Löwen, Patroklos im Zeichen des Greifs. Ferner erfährt man, dass Patroklos’ Pferd eine Decke aus Samt trägt, die grüner als Klee und, wie sein Schild, mit roten Greifen geschmückt ist. Die Rüstung des auf dem Pferd sitzenden Ritters ist rotgolden. Der Farbkontrast von Rot und Grün ist somit ein zusätzliches Signum des Erscheinungsbildes von Patroklos. Die Pracht, mit der Ross und Reiter ausgestattet sind, dient der Aristie des Helden. Wie bei Herbort fliegen die Kämpfer wie Pfeile, Vögel und Drachen aufeinander zu, wie bei Herbort zerbersten die Lanzen im Zusammenprall. Konrad fügt noch das Detail hinzu, dass die Lanzen bunt bemalt sind. Wenn sie in hunderttausend farbige Splitter zerstieben, rufen sie den Effekt eines Feuerwerks hervor: daz die gemâlen schefte zerspielten von ir crefte ze tûsent hundert stücken. (Vv. 30977–79) [(…) dass die bunten Schäfte von ihrer Kraft in hunderttausend Stücke zerplatzten.] 10

11

Hier und im Folgenden zitiere ich Herborts Version nach folgender Ausgabe: Herbort’s von Fritslâr liet von Troye. Hrsg. von G. Karl Frommann. Quedlinburg/Leipzig 1837 (Bibliothek der gesammten deutschen National-Literatur von der ältesten bis auf die neuere Zeit. 5), hier Vv. 4983–95. Vgl. Matthias Lexer: Mittelhochdeutsches Handwörterbuch. 3 Bde. Leipzig 1872–78, hier Bd. 1, Sp. 365f. (online eingesehen in der Datenbank Mittelhochdeutsche Wörterbücher im Verbund der Universität Trier: http: www.mwv.uni-trier.de/Projekte/MWV/wbb).

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Andreas Kraß

Auch den Tod des griechischen Helden schildert Konrad in einer Weise, die eine ästhetische Harmonie zwischen den Widersachern erzeugt. Wenn Hektor Patroklos erschlägt, begegnen sich strahlende Körper und Waffen. Hektor entleibt Patroklos mit einem spiegelklaren Schwert, das er in seiner blanken Hand führt: dar nâch begunde zücken Hector mit blanker hende wert ûz sîner scheiden ein guot swert, daz lûter sam ein spiegel schein. (Vv. 30980–83) [Danach zückte Hektor mit seiner blanken, edlen Hand aus der Scheide ein gutes Schwert, das lauter wie ein Spiegel glänzte.]

Er spaltet Patroklos in zwei Teile – nicht nur, wie bei Benoît, das Herz, sondern den gesamten Leib. Wenn Konrad Patroklos mehrfach als klar bezeichnet, lässt er ihn an den Qualitäten, die er Hektors Hand und Schwert zuspricht, partizipieren.12 Das Bild ist eher ein in zwei Hälften gespaltener Kristall als ein zerschnittener Körper. Auch im weiteren Verlauf der Kämpfe setzt Konrad auf Farbeffekte. Er schildert in mehrfacher Variation, wie die grüne Heide (V. 31159: „ûf daz grüene gras“, V. 31205: „ûf der heide grüene“) von rotem Blut getränkt wird (V. 31236: „rœten“, V. 31238: „mit bluotes mâle“, V. 31260: „dâ muoste giezen rôtez saf“). Das komplementäre Farbspiel wiederholt sich, wenn die Röte der Schwerter im Grün des Grases widerscheint: „geverwet was der grüene wase / von sîme swerte in rôten schîn“ (V. 31300f.). Dieser Farbkontrast entspricht dem Erscheinungsbild des Patroklos, dessen rotgoldene Rüstung sich von der kleegrünen Pferdedecke abhebt. Die Farben von Ritter und Ross nehmen somit den blutigen Tod auf dem Schlachtfeld vorweg und spiegeln ihn. Ferner beschreibt Konrad das Feuerwerk der funkensprühenden Waffen, die an die splitternden Lanzen Hektors und Patroklos’ erinnern: „[…] ûz dem stahelwerke sîn / der glanz des wilden fiures stoup“ (V. 31196f.). In der Feuerhitze glüht Hektors Haut wie ein Salamander: „sîn verch in hitze gluote / gelîch den salamandern“ (V. 31332f.). So werden Kampf und Tod zu einem ästhetischen Ereignis stilisiert.

b)

Die Farben der Trauer: Achill und Patroklos

Achill antwortet auf den Verlust des Freundes mit einer Totenklage. Diese Szene durchläuft ebenfalls den Weg von der Lakonie des spätantiken Chronisten zur elaborierten Rhetorik Konrads von Würzburg. Dares begnügt sich erneut mit drei Worten: „Achilles Patroclum plangit“ („Achilles betrauerte Patroklos“).13 Den Verlauf der Klage gestaltet 12 13

V. 30992: „den clâren wol gestalten“; V. 31009: „durch sîne clârheit ûz erwelt“. De excidio Troiae historia (Anm. 8), Kap. XX, S. 36: „Achilles Patroclum plangit, Graiugenae suos. Agamemnon Protesilaum magnifico funere effert ceterosque sepeliendos curat. Achilles Patroclo ludos funebres facit“ („Achilles betrauerte Patroklos, die Griechen die Ihren. Agamemnon

Die Farben der Trauer

233

er nicht aus, gestische und rhetorische Äußerungen der Trauer fehlen. Benoît überführt die Notiz in eine anschauliche Szene. Mehrfach hebt er den schönen („beaus“, „douz“, „genz“) Leib des toten Helden hervor: Achillès plore Patroclon: Onc greignor duel ne fist nus hom. Desor le cors sovent se pasme, Mout se laidenge e mout se blasme: ,Ne fis pas bien, beaus douz amis, Quant jo senz mei vos i tramis. […] En vos esteit mis cuers trestoz, Quar mout estiëz beaus e proz, Leiaus e frans e de bon aire. […] Vostre genz cors tant mare i fu! Plus m’amiëz que nule rien, Quar jo ere vostre, e vos mien.‘ (Vv. 10331–36, 10347–49, 10354–56) [Achilles beklagte Patroklos: Niemals hat jemand gleiche Trauer geäußert. Oftmals warf er sich über den Leichnam, oft klagte er sich an, oft tadelte er sich: ‚Ich tat nicht recht, schöner, süßer Freund, als ich Euch ohne mich in den Kampf ziehen ließ. […] An Euch hatte ich mein Herz übergeben, denn Ihr wart sehr schön und kühn, treu und von großem Adel. […] Euer so schöner Körper ist verloren! Ihr habt mich mehr geliebt als jemand sonst, denn ich war Euer und Ihr wart mein.‘]

Wenn sich Achill über die schöne Leiche wirft, ist der Körperkontakt gestisches Zeichen der Liebe, die ihn mit seinem Freund verbindet. Achill und Patroklos haben zu Lebzeiten ihre Herzen getauscht, daher sind sie eins: „Quar jo ere vostre, e vos mien.“ Herbort modifiziert die Szene. Er streicht den Schönheitspreis, ersetzt die Geste des Niederwerfens durch das Motiv des Kusses und baut das Motiv der seelischen Einheit aus: Do dia ge_chach vnderdes Do klaugete achilles Patrocun _inē gesellen […] Er kv_te in do er tot lac […] ‚Ich was du du wer ich Beide dich vnd mich Hette eine truwe Du bi_t immer min ruwe Din not min not Ich bin mit dir halp tot Din gei_t i_t halp mit mir.‘ (Vv. 6073–75, 6077, 6081–87)

trug Protesilaos in prächtiger Weise zu Grabe und ließ die übrigen begraben. Achilles hielt für Patroklos Leichenspiele ab“).

234

Andreas Kraß

[Unterdessen, als dies geschah, da beklagte Achill seinen Freund Patroklos. Er (…) küsste ihn, der tot dalag. (…) ‚Ich war du und du warst ich. Uns beide, dich und mich, verband eine Treue. Du wirst immer mein Schmerz sein und deine Not meine Not. Ich bin halb mit dir gestorben und dein Geist ist halb bei mir.‘]

Herbort versieht das Motiv der Seeleneinheit mit drei neuen Akzenten. Er wandelt die Zueignungsformel („Quar jo ere vostre, e vos mien“) in eine Identitätsformel („Ich was du du wer ich“) ab, definiert Freundschaft als Verhältnis der Treue („truwe“) und des Mitleidens („Din not min not“) und liest das von Benoît eingeführte Motiv des halbierten Körpers symbolisch. Wenn die Freunde eins sind, so bringt der Tod eine paradoxe Wirkung hervor: der überlebende Freund ist schon halb gestorben („Ich bin mit dir halp tot“), der tote Freund ist noch halb lebendig („Din gei_t i_t halp mit mir“). Auf den Einsatz von Farbattributen verzichtet Herbort. Konrad verdoppelt die Totenklage und fügt eine komplexe Farbmotivik ein. Das erste Mal klagt Achill unmittelbar nach dem Tod seines Freundes, das zweite Mal im Rahmen der Bestattungsfeier. An der ersten Klage sind alle Griechen beteiligt: man clagte sîne blüende jugent und sînen wunnebæren lîp. (V. 31000f.) [Man beklagte seine blühende Jugend und seinen erfreulichen Leib.]

Die Metapher der blühenden Jugend kündigt den Farbencode an. In der ersten Klage greift Konrad die Komplementärfarben auf, die er bereits in der Kampfszene eingesetzt hat. Die Farben des Schlachtfeldes – das Rot des Blutes auf dem Grün der Heide – prägen Achills Klage in der Weise, dass seine Augen im Anblick des Freundes, der auf der Heide liegt, rot werden, also die Farbe des vergossenen Blutes annehmen: Achilles, sîn geselle, betrüebet wart durch sînen tôt. sîn ougen lûter wurden rôt durch in von herzeleide. er clagte in ûf der heide getriuwelichen […]. (Vv. 31018–23) [Sein Tod betrübte seinen Freund Achilles. Seine klaren Augen wurden rot vom Herzeleid um ihn. Treu beklagte er ihn auf der Heide.]

Die Entsprechung der Farben markiert die Leidensgemeinschaft (compassio) des überlebenden mit dem toten Freund. Die zweite, im Kontext der Trauerfeierlichkeiten angesiedelte Totenklage zeichnet sich durch ein komplexes Farbenspiel aus. Zunächst ist auf eine Serie von Klagegebärden hinzuweisen, die farblich markiert ist: er zarte sînen wangen abe daz liehte rœselehte vel und roufte ûz sîme hâre gel die löcke bî den stunden.

Die Farben der Trauer

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[…] er want mit jâmer an der stete die lûterbæren hende sîn. (Vv. 38774–77, 38790f.) [Er zerkratzte seine strahlenden, wie Rosen leuchtenden Wangen und raufte sich da die Locken aus seinem gelben Haar. […] Er rang dort jammervoll seine strahlend weißen Hände.]

Die Körperteile, auf die sich die Gebärden richten, sind jeweils mit einer Farbe verknüpft. So entsteht ein sich wechselseitig steigernder Kontrast von Trauer und Schönheit. Achill zerkratzt die Wangen, aber es sind rosenrote Wangen („rœseleht“); er rauft sich die Haare, aber es sind gelbblonde Haare („gel“); er ringt die Hände, aber es sind leuchtend weiße Hände („lûterbære“). Es wird eben nicht gesagt, dass Achill in seiner Trauer fahl, bleich und grau geworden wäre. Im Gegenteil wird die Schönheit durch die Trauer und die Trauer durch die Schönheit noch gesteigert. Der Dreiklang der Farben Rot, Gelb und Weiß korrespondiert mit der Metapher der blühenden Jugend des Patroklos, die bereits in der Sterbeszene eingeführt wurde (V. 31000: „blüende jugent“) und die im weiteren Verlauf der Klage erneut aufgegriffen wird: „dîn lîp geblüemet schein“ (V. 38825). Wenn der Erzähler bemerkt, dass Achills Wangen nicht nur rot, sondern rot wie Rosen („rœseleht“) sind, so ergibt sich ein metaphorischer Zusammenklang der Freunde: des blühenden und geblümten Patroklos einerseits und des rosenfarbenen Achill andererseits. Der tote und der trauernde Freund verschränken sich in der imaginären Vorstellung einer bunten Blumenwiese. Dies ist ein ästhetischer Euphemismus, mit dem Konrad die Freundschaft der griechischen Helden noch im Zeichen des Todes zu feiern weiß. Ein weiterer Aspekt kommt hinzu. Wenn Achill mit weißen Händen die roten Wangen zerkratzt, so erinnert dies an die dominanten Farben in der Schönheitsbeschreibung der Helena. Rot und Weiß sind die Farben jener minne, die nicht nur Helena und Paris, sondern auch Achill und Patroklos verbindet. In die Serie der Klagegebärden ist eine umfangreiche Darstellung der Beweinung des toten Freundes eingebettet: er twuoc im sîne wunden mit wazzer âne lougen, daz im ûz sînen ougen vil gar unmæzeclichen vlôz und alsô vaste dâ begôz den ritter edel unde guot, daz im sîn rôsevarwez bluot vil manigen bitterlichen trahen begunde ab sîme verhe twahen und sîne wunden reinte. sô vaste nie geweinte kein ritter, als Achilles tete. (Vv. 38778–89) [Er wusch ihm seine Wunden mit jenem Wasser ohne Lauge, das maßlos aus seinen Augen floss und dort den edlen, guten Ritter so reichlich überströmte, dass ihm die vielen bitteren Tränen das rosenfarbene Blut von der Haut wuschen und die Wunden reinigte. So heftig hat noch nie ein Ritter geweint, wie Achill es tat.]

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Andreas Kraß

Konrad greift in diesem Zusammenhang das Motiv der Rosenfarbe noch einmal auf, bezieht es nun aber auf die blutigen Wunden des toten Patroklos: „sîn rôsevarwez bluot“. Konrad nutzt diese Farbkorrespondenz, um die Einheit des Klagenden mit dem Beklagten zu unterstreichen. In den rosenfarbenen Wangen Achills („rœseleht“) spiegeln sich die rosenfarbenen Wunden des toten Freundes („rôsevarwez“). Der implizite Vergleich zwischen Wunden und Rosen ist ein typisches Motiv der christlichen Passionsfrömmigkeit. Konrad rückt den toten Freund in die Nähe des Gekreuzigten und den klagenden Freund in die Nähe der schmerzensreichen Gottesmutter.14 Achill erscheint als amicus dolorosus, der mit seinen Tränen die blutigen Wunden des Leichnams auswäscht.15 Auf den gestischen Teil der Totenklage folgt eine rhetorische Partie, die für den höfischen Farbencode ebenfalls relevant ist. Zunächst greift Konrad das auf symbolischer Ebene bereits eingeführte Motiv der personalen Union auf. Achill und Patroklos, so heißt es in einer expliziten Übereignungsformel, die sich an die entsprechenden Formulierungen bei Benoît und Herbort anschließt, sind in ihrer Freundschaft eins – „du warst mein und ich war dein“: ‚owê, daz ich ze tôde mac mich selber niht geweinen, sît daz ich dînen reinen lîp muoz iemer hân verlorn, den ich ze friunde hete erkorn dem herzen und dem sinne mîn! dû wære mîn, sô was ich dîn vür al diu welt besunder.‘ (Vv. 38816–23) [‚Ach, dass ich mich nicht selbst zu Tode weinen kann, da ich dich Edlen für immer verloren habe, den ich mir als Freund auserwählt hatte für mein Herz und meinen Verstand! Du warst mein, ebenso war ich dein, vorzüglich vor der ganzen Welt.‘]

Es folgen zwei Metaphern, die den Gedanken der Einheit wieder auf die symbolische Ebene zurückspielen: 14

15

Vgl. Deutsches Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm, Bd. 8 (R-Schiefe), Leipzig 1893, Sp. 1163–1181 (Stichwort ‚Rose‘), hier Sp. 1178: „sehr häufig von den Wunden Jesu“, mit Hinweis auf Heinrich von Freiberg, Tristan, Verse 6866–69: „und der die rôten rôsen truoc / mit bitterlîchem smerzen / durch uns an sînem herzen, / an vüeaen und an henden.“ Die ikonographische Anlehnung an den religiösen Bildtypus der Lamentatio Christi ist unverkennbar. Vergleichbare höfische Adaptationen dieses christlichen Bildmusters, auf die Konrad hier intertextuell anspielt, finden sich bereits im frühen Artusroman. Vgl. Andreas Kraß: Die Mitleidfähigkeit des Helden. Zum Motiv der compassio im höfischen Roman des 12. Jahrhunderts (Eneit, Erec, Iwein). In: Aspekte des 12. Jahrhunderts. Freisinger Kolloquium 1998. Hrsg. von Wolfgang Haubrichs, Eckart C. Lutz, Gisela Vollmann-Profe. Berlin 2000 (Wolfram-Studien. 16), S. 282– 304; Michael Curschmann: Vom Wandel im bildlichen Umgang mit literarischen Gegenständen. Rodenegg, Wildenstein und das Flaarsche Haus in Stein am Rhein. Freiburg / Schweiz 1997, S. 17f. Curschmann verweist auf die Beweinung Ascalons durch Laudine in Hartmanns Iwein und im entsprechenden Wandbild auf Burg Rodenegg bei Brixen.

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,der tugende was ein wunder, mit der dîn lîp geblüemet schein. dû wære ein vester marmelstein der êren und der triuwen: des muoz mîn herze in riuwen dur dich versigelet iemer ligen.‘ (Vv. 38824–29) [‚Die Tugend war wunderbar, mit der du geblümt strahltest. Du warst ein massiver Marmorfels der Ehren und der Treue. Deswegen muss mein Herz für immer um deinetwillen in Trauer versiegelt ruhen.‘]

Achill vergleicht den Leichnam seines Freundes mit Blumen und die Treue seines Freundes mit Marmor. Der geblümte Leib des Patroklos antwortet auf Achill, dessen klagender Körper in den Blumenfarben Weiß, Rot und Gelb spielt. Außerdem fügen sich die Metaphern des geblümten Leibes und der marmornen Treue zu einem Bild zusammen, das auf eben jene Trauerhandlung um Patroklos referiert, von der Konrad hier erzählt, nämlich auf die Beweinung auf der Heide und die Bestattung in einem Marmorsarg: „des morgens wart ein sarc gemaht / ûz edelem marmelsteine. / dar în sô wart der reine / Patrokel schône dâ geleit“ (Vv. 38930–33). Konrad inszeniert ein eigentümliches Wechselspiel zwischen Requisiten und Metaphern der Klageszene. Der geblümte Leib verweist auf die Heide und umgekehrt, die marmorne Treue auf den Marmorsarg und umgekehrt. Dies ist eine allegorische Verdichtung und semiotische Verschränkung der Szene, die in der höfischen Epik des Mittelalters kaum Ihresgleichen hat.

III. Geschriebene Farben Wie sich zeigte, elaboriert Konrad die Klageszene, die er in seinen volkssprachlichen Vorlagen vorfand, und überzieht sie mit einem komplexen Farbencode. Dieser erfüllt verschiedene Funktionen. Erstens markiert er die zentrale Figurenkonstellation, zum einen die Feindschaft zwischen Patroklos und Hektor, zum anderen die Freundschaft zwischen Achill und Patroklos. Zweitens symbolisiert er das spezifische Freundschaftskonzept, das Konrad in Übereinstimmung mit Benoît und Herbort auf die griechischen Helden projiziert, nämlich die personale Einheit der Waffenbrüder. Drittens leistet er eine allegorische Verdichtung der erzählten Szene, indem sich der Schauplatz in den Affekten und die Affekte im Schauplatz spiegeln. Es gelingt Konrad, selbst Situationen des Todes und der Klage als ästhetische Ereignisse zu inszenieren. Niemand lässt seine Helden so schön kämpfen, sterben und klagen wie Konrad von Würzburg. Dass Konrad wusste, was er tat, zeigt ein selbstreflexiver Hinweis, den er in seiner Beschreibung von Helenas überragender Schönheit platziert. Er argumentiert an dieser Stelle, dass die Natur der Malerei überlegen sei, weil sie lebendig zeige, was die Male-

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Andreas Kraß

rei nur tot nachahmen könne. Alle Gemälde, die die Wände eines Saals zieren, müssen sofort erblassen, wenn die schöne Helena den Raum betritt: nû seht, wie von den wenden erschîne ein tôt gemælde blint, swâ lebende crêâtiure sint, sus wâren alle varwe tôt unde erloschen garwe, sô man ir lebendez bilde kôs. (Vv. 19714–19) [Nun seht, wie ein Wandgemälde tot und blind erscheint, wo lebende Geschöpfe anwesend sind; so waren alle Farben tot und ganz und gar erloschen, als man ihr lebendes Bild betrachtete.]

Wenn Konrad Natur und Kunst in dieser Weise gegeneinander ausspielt, so hat der Kontrast eine poetologische Implikation. Das tote Gemälde kann Lebendigkeit nur solange vortäuschen, wie die lebendigen Geschöpfe, die es abbildet, nicht gegenwärtig sind. Auf Helena bezogen heißt dies, dass die Farben („alle varwe“) der Bilder, die man von ihr malt, verblassen müssen, wenn sie selbst hinzutritt. Heißt dies, dass Konrad die Malerei als Bild der Dichtung nimmt und letztlich auf die Überlegenheit der Natur über die Poesie zielt? Übt sich Konrad in dichterischer Bescheidenheit, indem er die Unerreichbarkeit der Natur durch die Kunst beschwört? Das Gegenteil ist der Fall. Bei Helena handelt es sich ja nicht um eine historische Person, sondern um eine literarische Figur, die jenseits der Erzählung keine Existenz hat. Konrad war gewiss nicht der Meinung, dass er Helena in seiner Schönheitsbeschreibung nachahmt, sondern allererst erschafft, indem er sie beschreibt. Die Figur ist Effekt der Beschreibung, nicht deren Vorlage. Folglich dürfte es Konrad nicht wirklich um die Überlegenheit der Kunst über die Natur gehen, sondern vielmehr um die Überlegenheit seiner Kunst über die Kunst aller Dichter, die vor ihm Helena beschrieben haben. In seiner Helena hat das höfische Publikum nicht ein „tôt gemælde“, sondern ein „lebendez bilde“ vor Augen.16 Konrad überbietet Herbort, Benoît und alle anderen Schriftsteller, die sich je bemühten, Helena zu beschreiben. Diese gewissermaßen über Bande gespielte Überbietungsgeste impliziert ferner einen Vergleich zwischen Dichtung und Malerei, den Konrad nicht weiter ausführt. Es ist ein Vergleich, in der die Dichtung – Konrads Dichtung – die Oberhand behält. Das Verhältnis von Dichtung und Malerei ist ein explizites Thema auch in Lessings Laokoon, der diesen Sachverhalt ebenfalls am Beispiel der schönen Helena – aber auch des schönen Achilles – illustriert und dabei ebenfalls auf die Wirkung der Farben zu

16

Einige Jahrhunderte später führt die Historia von D. Johann Fausten eben diesen Sachverhalt vor, wenn Faustus seinen Studenten das lebende Bild der schönen Helena vor Augen führt und diese sich vergeblich bemühen, das Objekt der in ihnen erzeugten Imagination abzumalen; vgl. Andreas Kraß: Ein sehr herrlich Gestalt eins Weibsbilds. Helena als Figur des Begehrens in der ‚Historia von D. Johann Fausten‘. In: Schrift und Liebe in der Kultur des Mittelalters. Hrsg. von Mireille Schnyder. Berlin / New York 2008 (Trends in Medieval Philology. 13), S. 243–255.

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sprechen kommt.17 Lessing argumentiert, dass die Malerei Gegenstände im Raum darstelle, die Dichtung aber Handlungen in der Zeit. Die Malerei sei auf das Nebeneinander, die Dichtung hingegen auf das Nacheinander der Elemente gerichtet. Daher solle die Dichtung auf gegenständliche Schönheitsbeschreibungen verzichten und sie der Malerei überlassen. Lessing hebt Homer als einen Dichter hervor, der diese Regel beherzige und auf Schönheitsbeschreibungen verzichte: Und auch hier ist Homer das Muster aller Muster. Er sagt: Nireus war schön; Achilles war noch schöner; Helena besaß eine göttliche Schönheit. Aber nirgends läßt er sich in die umständlichere Schilderung dieser Schönheiten ein. Gleichwohl ist das ganze Gedicht auf die Schönheit der Helena gebauet.18

Daraus folgt für Lessing aber nicht, dass Dichtung Schönheit grundsätzlich nicht darzustellen vermöchte. Ihr Vorzug bestehe vielmehr darin, Schönheit in der Dimension der Zeit abzubilden, das heißt als Reiz und Wirkung. Der Reiz sei Schönheit in Bewegung, die Wirkung der Effekt auf die betrachtenden Figuren. Wenig später kommt Lessing auf das ästhetische Medium der Farbe zu sprechen. Er äußert sich kritisch über die Wertschätzung, die der humanistische Dichter Lodovico Dolce († 1568) seinem Kollegen Ariost († 1533) entgegenbrachte. Dolce hatte es sich erlaubt, in einer Abhandlung über die Malerei (Dialogo della pittura, 1557) die Beschreibung Alcians im fünften Gesang von Ariosts Orlando furioso (1516–1532) zu preisen. Lessing kommentiert: Dolce bewundert darin die Kenntnisse, welche der Dichter von der körperlichen Schönheit zu haben zeiget; ich aber sehe bloß auf die Wirkung, welche diese Kenntnisse, in Worte ausgedrückt, auf meine Einbildungskraft haben können. Dolce schließt aus jenen Kenntnissen, daß gute Dichter nicht minder gute Maler sind; und ich aus dieser Wirkung, daß sich das, was die Maler durch Linien und Farben am besten ausdrücken können, durch Worte grade am schlechtesten ausdrücken läßt. Dolce empfiehlet die Schilderung des Ariost allen Malern als das vollkommenste Vorbild einer schönen Frau; und ich empfehle es allen Dichtern als die lehrreichste Warnung, was einem Ariost mißlingen müssen, nicht noch unglücklicher zu versuchen.19

Das Argument, das Lessing gegen Ariost und seinesgleichen vorbringt, besteht darin, dass das, was die Maler durch Linien und Farben „am besten“ ausdrücken können, sich durch Worte gerade „am schlechtesten“ ausdrücken lasse. Konrad von Würzburg hält sich nicht an die Arbeitsteilung von Malerei und Dichtung. Er inszeniert Schönheit nicht nur als Reiz und Bewegung, sondern auch mit der differenzierten, oftmals geradezu exzessiven Beschreibung seiner Gegenstände. Dass er dabei auch Farben einsetzt, zeigen seine Darstellungen der schönen Helena und des trauernden Achill. Damit steht Konrad nur scheinbar im Widerspruch zu Lessing. Bei 17 18

19

Vgl. Kraß (Anm. 3), S. 85–88, 98; ders. (Anm. 16), S. 246–251. Ich zitiere Lessings Text hier und im Folgenden nach folgender Ausgabe: Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon: oder über die Grenzen der Malerei und Poesie. In: Ders.: Werke 1766–1769. Hrsg. von Wilfried Barner. Frankfurt / M. 2007 (Bibliothek deutscher Klassiker. 57), S. 11–321, hier: Erster Teil, XX, S. 145, Z. 4–9. Ebd., Erster Teil, XX, S. 150, Z. 2–14.

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Andreas Kraß

Konrad gerät zum Vorzug, was Lessing als Nachteil anführt. Wenn Konrad die Körper des klagenden Achill und des beklagten Patroklos beschreibt, so zielen die Farben, die er ihnen zuordnet, nicht auf gegenständliche Repräsentation. Wenn Konrad sagt, dass das Blut rot und die Heide grün sei, so erzeugen diese Attribute insofern keine Anschaulichkeit, als die betreffenden Farben entweder pleonastisch oder topisch sind. Wenn Konrad dennoch viel Wert auf die Farbgebung legt, so hat dies in erster Linie einen semiotischen Grund. Literatur vermag die Farbe von ihrem gegenständlichen Bezug zu entlasten, damit sie reine Bedeutung wird. Der semiotische Effekt tritt an die Stelle der materiellen Referenz.20 Konrads Beispiel zeigt, wie Literatur Farben nicht repräsentiert, sondern evoziert. Die Zeichenhaftigkeit der Farben beschränkt sich bei Konrad nicht auf zweistellige Codes im Sinne symbolischer Konventionen wie rot ist die Liebe oder schwarz ist die Trauer. Vielmehr entwirft er semiotische Komplexe, die ein Imaginäres zur Anschauung bringen. Die Vorstellung, die Konrad im Falle der Trauer Achills um Patroklos’ mithilfe der Farben evoziert, ist die personale Einheit der Freunde. Ihre Freundschaft erweist sich als Passion im doppelten Sinne. Das Leiden des einen Freundes setzt den leidenschaftlichen Affekt des anderen frei, der keine Differenz mehr zwischen jenem und sich selbst zu erkennen vermag: „dû wære mîn, sô was ich dîn“.

20

Vgl. Kraß (Anm. 2), S. 1–37 (Kap. A I: „Semiotik der Kleidung: Theorie und Methode“).

Barbara Kosta

Blau: Sehnsucht, Geschlecht und Judith Schalanskys Roman Blau steht dir nicht. Matrosenroman

Die Farben sind Taten des Lichts, Taten und Leiden. Johann Wolfgang von Goethe, Zur Farbenlehre

In der Einleitung seines Buches Blau postuliert Michel Pastoureau einige grundlegende Voraussetzungen, die jede Untersuchung zur Symbolik der Farben berücksichtigen sollte. Er behauptet erstens, dass es „keine transkulturellen Wahrheiten zur Wahrnehmung von Farbe [gebe], und zweitens, dass Farbe als Forschungsobjekt vernachlässigt würde.“1 Pastoureau konstatiert damit den enormen Wert, den Studien zur Farbe und ihrer Geschichte als Teil einer Sozialgeschichte für sich beanspruchen können. „In der Tat“, schreibt er, „Farbe ist ein gesellschaftliches Phänomen. Es ist die Gesellschaft, die die Farbe macht, die sie definiert, ihr Bedeutung zuweist, ihre Codes und Werte aufstellt, ihren Gebrauch festlegt und bestimmt, ob sie akzeptabel ist oder nicht.“2 Mit anderen Worten, Farben sind visuelle Anhaltspunkte voller impliziter und expliziter Bedeutungen. Hautfarben, Nationalfarben auf Flaggen, Farben, die mit politischen Bewegungen assoziiert werden und geschlechtsspezifische Farben – solche und viele weitere farbige chromatische Oberflächen legen offene und unterbewusste symbolische Werte bloß, deren Semantiken oft politisch und gesellschaftlich aufgeladen sind. Das heißt, dass Farben ebenso Teil diskursiver Praktiken sind und kulturelle Bedeutungen und Identitäten produzieren, begreiflich machen und festschreiben, wie sie bloße ästhetische Vorlieben repräsentieren.3 „Was ist deine Lieblingsfarbe?“ ist eine der ersten Fragen, die Kinder sich gegenseitig stellen und die auch noch die Erwachsenen aufhorchen lässt. Somit enthüllt eine Farbe ebenso viel wie sie verdeckt. Und so sucht eine psychologisch orientierte Farbenforschung seit jeher zu ergründen, inwiefern Farben Gefühle zum Ausdruck bringen können, auf welche Weise sie mithin Gefühle so abbil1

2

3

Michel Pastoureau: Blue: The History of Color. Princeton 2001, S. 7: There is a „transcultural truth to color perception, second that color has been missing frequently as a object of study.“ (Meine Übersetzung). Ebd., S. 10: „Color is a social phenomenon. It is society that ‚makes‘ color, defines it, gives it meaning, constructs its codes and values, establishes its uses, and determines whether it is acceptable or not.“ (Meine Übersetzung). Vgl. dazu grundlegend: John Gage: Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart. Übersetzt von Magda Moses und Bram Opstelten. Berlin 2001.

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Barbara Kosta

den, dass sie Identität und Persönlichkeit eines Menschen definieren. Und umgekehrt stellte man fest, dass Farben Launen beeinflussen und Assoziationen hervorrufen können; sie steuern unbewusste Reaktionen und sind Zeichen für eine Gefühlswelt voller Dissonanzen und Harmonien.4 Farbe ist somit nicht zuletzt ein affektives Phänomen. Untersuchungen zeigen, dass Farben auch kognitive Leistungen beeinflussen können, weil sie bestimmte Stimmungen erzeugen, wie z. B. eine Studie zur Wirkung der Farben Rot und Blau belegt.5 Demnach entfacht die Farbe Blau Kreativität, während Rot Genauigkeit fördert. Im Folgenden möchte ich mich der Farbe Blau und ihrer Bedeutung für die neuere deutsche Literatur- und Kulturgeschichte zuwenden, und zwar im Hinblick auf ihre komplexe Bezogenheit auf Diskurse der Geschlechtsidentität und Emotionalität, wie sie besonders von den Romantikern im 19. Jahrhundert propagiert worden ist, die bekanntlich im Blau die Farbe der Sehnsucht erblickten. Durch die Literatur der Romantiker gewann das Blau eine besondere kulturelle Bedeutung, deren Symbol die blaue Blume war, als Zeichen eines ganz spezifischen unerfüllbaren Verlangens. Die Romantiker versahen diese Farbe mit einer einzigartigen Aura. So bemerkt Pastoureau über die besondere Beziehung der Romantiker zu Farben, besonders aber zum Blau: „Die Bewegung der Romantiker brachte Farben in die Literatur wie keine andere Bewegung. Die Romantiker verspürten eine besondere Andacht dieser Farbe [dem Blau, B.K.] gegenüber, besonders in Deutschland.“6 Gerade diese große Bedeutung der Farbe Blau für die Romantiker hat sich auch tief in die zeitgenössische Sensibilität eingeschrieben. Es ist ihr Konzept der Sehnsucht, das Ausgangspunkt für die nachfolgenden Überlegungen zu den Variationen der Farbe Blau und den mit ihr assoziierten Räumen und Emotionen in der nachromantischen Literatur sein soll. Pastoureau schreibt dementsprechend: „Der Triumph des Blaus verdankt sich dem Aufkommen eines neuen Farbsymbolismus, der Blau zur würdigsten Farbe krönte und ihre Assoziation mit Fortschritt, mit Aufklärung, Träumen und Freiheit bekräftigte. Die Romantik sowie die amerikanische und französische Revolution spielten in dieser letzten Phase des Triumphs von Blau eine wesentliche Rolle.“7

4 5

6

7

Vgl. dazu Eva Heller: Wie Farben wirken. Farbpsychologie, Farbsymbolik, Lieblingsfarben, Farbgestaltung. München 2000. Pam Belluck: Reinvent the Wheel? Blue Room. Diffusing a Bomb. Red Room. In: New York Times vom 5. Februar 2009: www.nytimes.com/2009/02/06/science/06color.html, eingesehen am 3. August 2011. Pastoureau (Anm. 1), S. 138: „The Romantic movement brought color into literature in a way never before seen. [It had a] particular devotion to this color, particularly in Germany.“ (Meine Übersetzung). Pastoureau (Anm. 1), S. 124: „Blue’s triumph came thanks to the appearance of a new color symbolism, which enthroned blue as the worthiest color and assured its associations with progress, enlightenment, dreams, and liberty. The Romantic movement and the American and French revolutions played an essential role in this last stage of blue’s triumph.“ (Meine Übersetzung).

Blau: Sehnsucht, Geschlecht und Judith Schalanskys Roman Blau steht dir nicht

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Es ist gewiss nicht meine Absicht, der äußerst nuancierten Palette möglicher Bedeutungen von Blau eine einzige zuzuweisen, sondern es geht mir eher darum, einige der unendlichen Möglichkeiten von Semantisierungen in Betracht zu ziehen, die mit den literarisierten Träumen und Sehnsüchten in blauen Tönen einhergehen. Das Blau, auf das ich hier verweisen werde, ist zu einem nicht geringen Teil seit dem Ende des 19. Jahrhunderts Teil einer symbolischen Ordnung westlicher Kulturen, der nicht zuletzt die männliche Geschlechtsidentität codiert. Zuvor galt Blau lange nicht als männliche Farbe. Vielmehr wurde es in der christlichen Tradition in Gestalt des hellblauen Mantel Marias zum Signum des Heiligen; in der Rede vom blauen Blut fungierte es für die Aristokratie als Symbol der Macht. Und in der Romantik repräsentiert das Blau zwar bereits ein männliches Begehren, das indes bekanntlich durch weibliche Figuren objektiviert wird.8 Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Farbe Blau zum „Symbol für die Arbeits- und Männerwelt“.9 Das Blau, wie es von einer Kultur begriffen wurde, die Aufklärung und Fortschritt nicht allein schätzte, sondern auch fetischisierte, wurde dann häufig im Kontext einer binär organisierten Geschlechterordnung dem Bereich der Männlichkeit zugewiesen, ja die Farbe schrieb diese gar vor. Blau markierte den Jungen, es versah ihn mit jener kulturellen Codierung, die bereits das in dieser Hinsicht wohl programmatische Gemälde des Blue Boy (1770) von Thomas Gainsborough prägt (vgl. Abb. 16, Bildteil). Diese gegenüber der Tradition veränderte Assoziation von Blau mit Männlichkeit bestätigt Pastoureaus Behauptung, dass die Bedeutung der Farben sich mit der Zeit ändert. Das Gainsborough-Bild gilt als Hommage an den flämischen Maler Anthonis van Dyck, einen Maler, den Gainsborough verehrt hat. Das Kostüm des Knaben jedenfalls orientiert sich angeblich an einem van Dyck-Gemälde, das über einhundert Jahre zuvor entstanden ist.10 Wie ich im Folgenden näher ausführen werde, wird Blau heutzutage besonders im westeuropäischen Raum mit Geist, Wahrheit, Beständigkeit, Treue, Frieden, Reinheit und Weisheit assoziiert und steht zudem für Konzepte von Ewigkeit und Raum. Dasjenige Blau im westlichen Farbenrepertoire, das mit Geschlecht assoziiert wird, ist als kühle Farbe gedacht, und wird immer noch als Code für Männlichkeit verwendet. Im Rückgriff auf die Farbe Blau werden streng kodifizierte, geschlechtsspezifische Attribute gekennzeichnet, zu denen auch der Zugang zu den verschiedensten öffentlichen Sphären gehört. Besonders im Hinblick auf Säuglinge scheint die farbliche Markierung von Geschlecht gefordert, um sichtbare Grenzen zu ziehen, die das Geschlecht klar ausweisen, und um so dem Unbehagen vorzubeugen, 18

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Vgl. dazu vor allem Novalis: Heinrich von Ofterdingen. Frankfurt / M. 2007, S. 101. Hier löst der Blick des Protagonisten in die blauen Augen Mathildes sein Begehren aus: „Aus ihren großen ruhigen Augen sprach ewige Jugend. Auf einem lichthimmelblauen Grunde lag der milde Glanz der braunen Sterne.“ Vgl. dazu: http://de.wikipedia.org/wiki/Blau, eingesehen am 3. Oktober 2011. Dieses Bild hat angeblich den Erstlingsfilm von Friedrich Murnau: Der Knabe in Blau (1919), der als verschollen gilt, inspiriert. Vgl. dazu: www.marlenedietrich.org/plusMuseum2.htm#, eingesehen am 3. August 2011.

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das mit Fehlidentifizierung und einer verwischten Geschlechtsidentität einhergehen könnte. Das männlich codierte Blau kommt hier der Stabilisierung geschlechtlicher Normen und der subtilen Steuerung psychologischer Reaktionen entgegen, ebenso wie Rosa als farbliches Zeichen von Weiblichkeit fungiert. Wirft man einen Blick auf die deutsche und europäische Kultur im Hinblick auf die Geschichte ihrer Farbencodes, findet man schon im Bereich der Lexik auch Beispiele dafür, dass Überschreitungen traditioneller Geschlechterdifferenzierungen im Rekurs auf Farbtermini und deren geschlechtsspezifische Codierung markiert werden. Eine solche Transgression traditioneller Geschlechtertrennung begegnet schon im 19. Jahrhundert, und zwar da, wo Frauen, die dem traditionellen Frauenbild nicht entsprechen, bissig als Blaustrümpfe bezeichnet werden. Blaustrumpf ist hier ein pejorativ verwendetes Epitheton, das all jene Frauen als unweiblich markiert, die ihrer intellektuellen Neigung nachgehen. Das Etikett des Blaustrumpfs weist die maskuline Frau als abartig aus und verunglimpft damit auch die Forderung nach dem Wahlrecht und nach der Emanzipation von Frauen. In ihrem Gedicht Sankt Peter und der Blaustrumpf witzelt Marie von Ebner-Eschenbach über die öffentliche Aufregung und die gleichzeitige Dämonisierung all jener Frauen, die um Freiheit kämpften: Ein Weiblein klopft ans Himmelsthor, Sankt Peter öffnet, guckt hervor: – „Wer bist denn du?“ – „Ein Strumpf, o Herr“. . Sie stockt, und milde mahnet er: „Mein Kind, erkläre Dich genauer, Was für ein Strumpf?“ „Vergieb – ein blauer.“ Er aber grollt: „Man trifft die Sorte Nicht häufig hier an unsrer Pforte. Seid sammt und sonders freie Geister, Der Teufel ist gar oft nicht dreister, Geh hin! er dürfte von Dir wissen, Der liebe Herrgott kann Dich missen.“ […]11

Auf ganz andere Weise erobern Künstler des 20. Jahrhunderts, wie Cézanne, Picasso und Yves Klein, das Blau. Ihre Hingezogenheit zu Blau und zu seinen geschlechtsspezifischen Konnotationen, können hier Yves Kleins (1928–1962) semantische Vorlieben verdeutlichen. Er ist berühmt für seine monochromatischen Blautöne, die tief und leuchtend sind. „Mit Hilfe des Pigmenthändlers Edouard Adam perfektionierte Klein ein besonderes ultramarines Pigment, dessen chemische Zusammensetzung unter dem

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Marie von Ebner-Eschenbach: Gesammelte Schriften. Erster Band: Aphorismen, Parabeln, Märchen und Gedichte. Berlin 1893, S. 191.

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Namen IKB (International Klein Blue) patentrechtlich geschützt ist.“12 Der Künstler sah im Blau den „reinen Raum“ und einen Ausdruck nicht-materieller Werte. Er sah Blau als das, was über alles, was gesehen oder angefasst werden kann, hinausgeht. Seiner Auffassung nach ist „das Blau für sich allein, losgelöst von allen funktionalen Daseinsberechtigungen“.13 Es ist die Farbe des Himmels und des Meeres, und in diesem Kontext steht es für emotionale Freiheit. Folgen wir Kleins Ausdeutung dieser Farbe, steht Blau für das nicht-Greifbare – für die Sphäre der Erinnerung, der Träume, der Sehnsucht, des Begehrens, und der Befreiung. Es ist nicht zufällig, dass der Künstler dieses Blau benutzt, um den Menschen figürlich so darzustellen, dass er von der Materialität seines Körpers befreit zu sein scheint. Die von Klein auf diese Weise ins Bild gesetzte Reinheit der Erfahrung erinnert an die oben bereits erwähnte Symbolik des Blauen als Farbe der Sehnsucht in der Romantik. Blau ist somit auch in der Kunst des 20. Jahrhunderts weiterhin Ausdruck einer Sehnsucht nach dem Unerreichbaren, eines Begehrens nach neuen Bewusstseins- und Erlebnishorizonten, die ursprünglich vom männlichen Subjekt ausgehen, so wie es sich der Protagonist Heinrich von Ofterdingen bei Novalis erträumt. Romantische Sensibilität und Farbsymbolik gehen Hand in Hand. Die Farbe Blau wurde so zum Symbol für Bereiche, die sich Frauen erst langsam erobern. In einer Zeit, in der die Grenzen traditioneller Geschlechterrollen durchlässig wurden, hat die Schauspielerin Marlene Dietrich sich bezeichnenderweise die Farbe Blau zu eigen gemacht, als sie sich im Photostudio d’Ora 1927 in Wien als Blue Boy photographieren ließ. Ihre Selbstdarstellung in Blau provoziert die männlich codierte Tradition, und sie destabilisiert Vorstellungen normativer Geschlechtsidentitäten (Abb. a). Das Kostüm, das Dietrich trägt, verleiht Geschlechterdifferenzen einen performativen Aspekt. Indem eine Frau des 20. Jahrhunderts sich mit der blauen Farbe versieht, werden tradierte Geschlechtsdifferenzen in eine diese verunklarende Androgynität aufgelöst. Dietrich war dafür bekannt, die Grenzen zwischen den Geschlechtern nicht zur Kenntnis zu nehmen und kokettierte mit der eigenen Bisexualität, so z. B. anlässlich ihres Auftritts mit Margo Lion in den zwanziger Jahren sowie mit dem Lied Meine beste Freundin, das sie im Duett sangen, und in Filmen, wie z. B. in Josef von Sternbergs Morocco aus dem Jahr 1930. Und noch nach dem Zweiten Weltkrieg und bis in unsere Tage hinein gilt es für Frauen, die semantische Sphäre der Farbe Blau zu erobern. Das Tragen von Blue Jeans ist ebenso Zeichen einer solchen Eroberung wie der Umstand, dass sich auch Autorinnen mit den geschlechtsspezifischen Codierungen der Farbe Blau auseinandersetzen.

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Edouard Adam: The Search for the Perfect Blue. In: The Independent vom 12. Juni 2005: http://www.independent.co.uk/news/people/profiles/edouard-adam-the-search-for-the-perfect-blue493934.html, eingesehen am 3. August 2011. Yves Klein: http://gv.pl/wp-content/uploads/2007/12/blue_xe.pdf, eingesehen am 3. August 2011.

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Abb. a: Marlene Dietrich als Blue Boy, 1927, © ÖNB, Wien.

Blau steht dir nicht. Matrosenroman In Judith Schalanskys literarischem Debüt Blau steht dir nicht. Matrosenroman aus dem Jahr 2009 ist die narrative Inszenierung eines Zusammenhangs von Geschlechtsidentität und Sehnsucht nach entfernten, unbekannten Orten durch den sprachlichen Einsatz der Farbe Blau getragen. Die blaue Uniform des Seefahrers besetzt als Symbol unerreichbarer Orte die Phantasie eines heranwachsenden Mädchens.14 Das heißt, es ist die Farbe Blau, die die Protagonistin des Romans in eine Phantasiewelt der Möglichkeiten und der Freiheit versetzt. Blau, nicht Rot, dient als Leitfaden des gesamten Romans, an dem entlang die Erzählerinnenfigur Aspekte persönlicher Geschichte mit solchen der Kulturgeschichte verbindet. Dementsprechend bemüht die Autorin zudem einen Wechsel zwischen der Instanz des Ich-Erzählers und der des personalen Erzählers. Durch diese Technik gelingt es ihr, personale und kollektive Geschichten eng miteinander zu 14

Judith Schalansky: Blau steht dir nicht. Matrosenroman. Hamburg 2008.

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verbinden und so eine außergewöhnlich innovative, nicht-lineare Erzählung zu formen, die durch die Integration von Text und Bildteilen ebenso getragen ist wie durch die assoziative Verbindung von persönlicher Erzählung und sozialkritischem Blick auf die Geschichte der ehemaligen DDR. Insgesamt bearbeitet die Autorin – angelehnt an das kaleidoskopische Verfahren des von ihr geschätzten W. G. Sebald15 – ein autobiographisches Thema, das sie sowohl in Rekursen auf eigene Kindheitserlebnisse als auch in Hinweisen auf historische, soziale und geographisch-topographische Zusammenhänge in Text und Bild entfaltet. Der Roman beginnt mit einem Blick auf die Ostsee, einem Blick in die Ferne, die eine mythische Bedeutung im jungen Leben der Hauptfigur Jenny gewinnt. Für das Kind Jenny ebenso wie für die Autorin Schalansky, die ihre Kindheit innerhalb der Grenzen der DDR verbracht hat, bietet die See endlose Möglichkeiten zu Träumereien und wird zur Projektionsfläche persönlicher Empfindungen und Wünsche. Der Wunsch, die politischen Grenzen ihres Heimatlandes zu überschreiten, findet in Jennys Faszination für Landkarten, wie z. B. für die Karte der Insel Usedom, Ausdruck, auf die die Autorin in ihrem Roman anspielt. In einem ursprünglich an der Universität Potsdam angefertigten, literarisch-typographischen Projekt, in dessen Rahmen die beiden ersten Kapitel ihres Romans entstanden sind,16 zitiert Schalansky die Karte Usedoms als Paratext ihres Romans. In diesem Kommentar zum Roman, der laut Selbstauskunft der Autorin als Diplomarbeit in der Auflage von sieben Exemplaren gedruckt wurde,17 bekundet die Autorin, sie habe die Karte „aus dem DDR-Kinderbuch O so dumm – Usedom“ entnommen.18 Die Farbe des tiefblauen Meeres und das Bild eines Bootes, so heißt es in der Kommentarausgabe weiter, das auf den Rand der Karte, wahrscheinlich auf das offene Meer, zufährt, erwecken in der Betrachtenden einen Wunsch nach Weite. Die Bildunterschrift zur Karte lautet: „Das Kind stößt immer wieder an Grenzen. Es sind sowohl die Grenzen der eigenen Vorstellung als auch politische Grenzen.“19 Im ersten Kapitel des Romans erfahren wir, dass Jennys Großeltern auf der Insel Usedom wohnen – ein Ferienort, wie Jennys Großmutter „nie müde [wurde] zu betonen“;20 denn dort gab es Schätze wie Seepferdchenkämme, Korallenschmuck, Seeigel und Seemannsknoten. Das Cover der Shanty-Platte mit dem Meer und einer akustischen Palette von Brandungswellen sind weitere Artefakte, die die Phantasie des Kindes dazu anregen, sich über das streng vorgeschriebene, sesshafte Leben ihrer Eltern und über 15

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Schalansky bemerkt am 8. Dezember 2006: „Die Prosa W. G. Sebalds hat mich inspiriert […].“ In: http://www.blau-steht-dir-nicht.de/downloads/44/schalansky-bsdn-kap2.pdf (eingesehen am 3. August 2011). Vgl. dazu die Informationen des marebuchverlags auf folgender Website: http://www.blau-stehtdir-nicht.de/de/, eingesehen am 3. August 2011. Vgl. dazu Schalansky selbst am 12. März 2008 in: http://www.fontblog.de/neues-von-judithschalansky, eingesehen am 3. August 2011. Judith Schalansky: Die Auswanderung der Seepferdchen. Diplomarbeit, Potsdam 2007, S. 9. Schalansky: Diplomarbeit (Anm. 17), S. 9. Schalansky (Anm. 14), S. 7.

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ihre eigenen geopolitischen Grenzen hinwegzusetzen. Sie beschreibt ihre eigenen Eltern als „unbeweglich“.21 Umgeben von der phantasmagorischen See fühlt sich Jenny besonders zu der Figur des Matrosen hingezogen. Sowohl für die Autorin als auch für ihre fiktive Figur besitzt der in Blau gekleidete Matrose magische Eigenschaften und „wird zum Ausgangspunkt der Schwärmerei und Sehnsüchte“.22 Wie Schalansky an anderer Stelle erklärt, bedeuten die Matrosen für sie „eine Sehnsucht“, und sie behauptet weiter, „das freie Seemannsleben hat seit jeher die Phantasie der Daheimgebliebenen angeregt“.23 Nicht die Badeurlauber faszinieren das junge Mädchen am meisten, sondern die Matrosen, deren blaue Uniformen und fremde Sprachen mit Weite und Fernweh assoziiert werden. Darüber hinaus evoziert das Wort Matrose für Schalansky bestimmte Bilder und Vorstellungsgehalte wie „Engel, Angehörige einer anderen Welt, einer Gegenwelt, einer Heterotopie, von der Foucault [1967] in Anderen Räumen schreibt. Was passiert wenn die anderen Räume zu Besuch sind, auf Besuch, wie man noch viel treffender sagt?“ fragt Schalansky. „Sie locken und verwirren.“24 Diese anderen Räume der Phantasie sind stets mit der Farbe Blau assoziiert. Blau, vor allem versinnbildlicht durch das Meer, wird in seiner Manifestation der Matrosenuniform zum Fetisch, der die Sehnsucht nach anderen Orten ermöglicht, die fern von den eigenen Topographien liegen und zu anderen Erfahrungen des Selbst führen. Blau steht somit besonders für persönliche Freiheit, für die Möglichkeit von Grenzüberschreitungen, die die Projektion in den endlosen Horizont nahelegt. In diesem Kontext muss Jenny indes erkennen, dass Blau auch jene Farbe ist, die ganz explizit mit kulturell opportunen Männlichkeitskonzepten verbunden ist. Die Behauptung ihrer Großmutter, die auch den Titel des Buches liefert: „blau steht dir nicht“25, markiert einen Gegensatz zu Rot und Grün und deutet im Kontext der symbolischen Register der Farbe Blau in Bezug auf Jenny auf eine Sphäre des Unerlaubten/Nicht-Statthaften. Ihr Großvater bestätigt indirekt diese Semantiken des Blau, wenn er als Antwort auf Jennys Ausruf „Wenn ich groß bin, werde ich Matrosin,“ feststellt, es gebe keine weibliche Form von Matrose.26 Der Großvater sagt: „Das heißt Matrose. Und außerdem werden Mädchen keine Matrosen. Frauen auf dem Schiff bringen Unglück.“27 Die Rolle des Matrosen sowie all das, wofür er steht, ist Frauen, dieser männlichen Rede zufolge, unzugänglich und versperrt. Demnach sind sie von allem ausgeschlossen, was der durch die blaue Farbe repräsentierte symbolische Raum impliziert. Die Verdrängung des Weiblichen aus diesem über die Farbe geschlechtsspezifisch codierten symbolischen Raum wird weiterhin auch visuell durch das vom Großvater aufgenommene Foto fixiert. Das Foto 21 22 23 24 25 26 27

Schalansky (Anm. 14), S. 17. Schalansky: Diplomarbeit (Anm. 18), S. 1. Ebd. Ebd., S. 29. Schalansky (Anm. 14), S. 60. Ebd., S. 69. Ebd.

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zeigt Jenny, die vor dem die Bildmitte beherrschenden blauen Meer an den Rand gedrängt ist. Die Erzählerin kommentiert witzelnd: „Die Fotos waren Ergebnisse eines Abwägens, ein Kompromiss zwischen Kulisse und Hauptrolle.“28 Im Kontext einer solchen symbolisch fixierten Ausgrenzung aus dem Bedeutungsbereich der Farbe Blau, stellt sich die Frage, ob und inwiefern es möglich ist, dass Jenny die Position der Hauptfigur besetzen kann. Schalansky deutet somit explizit auf die kulturellen Implikationen von Farben, wenn sie auf die Ausgrenzung ihrer Protagonistin aus der Welt der Matrosen deutet. Zugleich wendet sie sich gegen eine Tradition, die Frauen aus dem die Welt bereisenden Corps ausschließt. Jennys Zugang zur Welt des männlichen Blaus und der Welt der Matrosen findet allerdings allein in der Phantasie des Mädchens statt. Die erwachsene Autorin aber widersteht der diskursiven Macht der die Frauen ausschließenden, eingrenzenden Räume, indem sie sich selbst in die Welt der Matrosen einschleust. Sie lenkt so die Aufmerksamkeit auf die kollektive und persönliche Faszination, die von der Welt der Matrosen ausgeht, und zeigt auf, inwiefern sie einen Teil der kollektiven Imagination ausmachen. In der westlichen Kultur ist z. B. das Modephänomen Matrosenanzug weitläufig verbreitet, behauptet Schalansky. „Alle tragen den Anzug der Matrosen, Lübecker Bürgersöhne und lettische Bauernmädchen, die Kinder des englischen Königs, des deutschen Kaisers, des russischen Zaren. Sie bilden eine heimliche Kinderarmee, sind Reservisten für die kommende Zeit.“29 Tatsächlich war der Matrosenanzug in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das typische Kleidungsstück für Knaben in Großbritannien, Deutschland und Frankreich. Modisch war er in der Zeit von 1870 bis in die 1930er Jahren etabliert. Seine häufigste Farbe war Blau. „Von der Jungen auf die Mädchenmode übergreifend, tauchten ab 1880 verstärkt Matrosenblusen zum Faltenrock auf, was auch in der Damenmode (vor allem in der Sportbekleidung u. a. bei Tennis) Eingang fand.“30 Bezeichnenderweise erlangte der Matrosenanzug für Kinder parallel zur Verbreitung des Nationalismus in Europa Beliebtheit. Vor allem jedoch boten Matrosenanzüge Mädchen die Möglichkeit, in Bereichen aufzutreten und mitzumachen, die zuvor den Jungen vorbehalten waren. Es ist bemerkenswert, dass junge Mädchen Matrosenkleidung anlegen durften. Sie waren junge Cross Dressers, deren Körper sich noch in der Entwicklung befanden. Selbstverständlich mussten sie sich in den Dienst der Hegemonie stellen und als Vertreterinnen nationaler Ambitionen in ihrer Identifikation mit der Uniform fungieren, aber gleichzeitig und als unbeabsichtigtes Nebenprodukt erlangten sie die Möglichkeit, am Bedeutungsbereich der Farbe Blau zu partizipieren. Interessanterweise wurde der Matrosenanzug häufig als Sportkleidung für Mädchen verwendet, wenn Bewegung und Leibesübungen gefördert wurden, eine physische, nahezu als revolutionär zu bezeich28 29 30

Ebd., S. 22. Ebd., S. 41. Museum Kindheit und Jugend. www.berlin-kindheitundjugend.de/raum_drei_matrosenanzug.html, eingesehen am 3. August 2011.

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nende Beschäftigung, die im 19. Jahrhundert noch kaum als weiblich galt. Über die Vereinnahmung von Kindern als Accessoires für die Verbreitung des Nationalgeistes hinaus ergänzte diese Variation blauer Anzüge für Mädchen die geschlechtsspezifische Kleidung durch einen weiteren, wohl performativen Aspekt. Den Mädchen Kleidung überzuziehen, die traditionell nur für Jungen bestimmt war, destabilisiert und erweitert tradierte Geschlechternormen und fördert implizit auch Konzepte von Androgynität. So gesehen konnte das Tragen von Matrosenanzügen auf die Transgression tradierter Geschlechterrollen sowie auf die Möglichkeit zur Mobilität und damit zum Zugang für Mädchen zur männlichen Welt des Blau deuten, die in diesen Fällen gleichbedeutend mit Abenteuer war. Ein Photo aus dem Jahr 1924, auf welchem ein junges Mädchen und zwei Jungen in Matrosenanzügen zu sehen sind, kann in diesem Zusammenhang als Beispiel für die Verbreitung des Matrosenanzugs dienen, dessen Aneignung ein Zeichen der unbegrenzten Möglichkeiten im Roman darstellt (Abb. b). Nicht zufällig deutet die Kulisse im Photo auf die Ferne als eine Idylle und stellt so eine klare Beziehung zwischen Sehnsucht und dem Matrosenanzug her. Das Bild unterstreicht die Möglichkeit einer Grenzüberschreitung und die Sehnsucht, die das Tragen

Abb. b: Ein Mädchen und zwei Jungen im Matrosenanzug, 1924, Privatbesitz Kosta.

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dieses ‚Kostüms‘ impliziert. Für Mädchen war dies eine viel weitreichendere Grenzüberschreitung als für Jungen. Somit dürfen die performativen Aspekte dieses blauen Modeklassikers nicht unterschätzt werden, da er auf den Konstruktcharakter von Geschlechtsidentitäten hinzuweisen vermag. Judith Butlers eloquente Theorie von Geschlecht und Performanz gewährt bekanntlich Einsicht in diese Konstruktion und ihr performatives Element. Butler stellt fest: Geschlecht ist in keiner Weise eine stabile Identität oder ein fester Ort, von dem verschiedene Handlungen und Verhaltensweisen ausgehen; es ist vielmehr eine Identität, die sich mit der Zeit vorsichtig bildet – eine Identität, die sich durch ein stilisiertes / geformtes Wiederholen von Handlungen festschreibt. Weiterhin wird Geschlecht durch die Stilisierung des Körpers festgeschrieben und muss daher als das Alltägliche verstanden werden, innerhalb dessen körperliche Gesten, Bewegungen und Inszenierungen aller Art die Illusion eines dauerhaften, geschlechtsspezifischen Selbst aufbauen.31

Im Kontext von Schalanskys Roman erlaubt der Matrosenanzug alternative Aufführungen von Geschlechtsidentitäten, die nicht tradiert sind und Weiblichkeit mit Freiheit und Ungebundenheit in einen Zusammenhang bringen. Nicht zufällig ähnelt das Marineblau des Matrosenanzugs der Dämmerung – einer Zwischenzeit, die man die blaue Stunde nennt, einer Zeit des Übergangs und der Mehrdeutigkeit. Schalansky, fasziniert von den Matrosen und ihren blauen Uniformen als Modeerscheinung des 19. und frühen 20. Jahrhunderts und besonders als Requisit der geschlechterüberschreitenden (transgender) Ästhetik, fügt ihrem Roman ein Porträt der androgynen Dichterin und Photografin Claude Cahun (geborene Lucy Schwob) bei, die als Matrose posiert (Abb. c).32 Cahun, die sich den Namen Claude selbst erfunden hatte, um ihre Androgynität zu betonen, wurde im Jahr 1894 in Nantes geboren und hat Geschlechternormen sowie eine normative Sexualität sowohl in ihrer Kunst und als auch in ihrem eigenen Leben in Frage gestellt. Oftmals als Surrealistin bezeichnet, stellte sie sich in den Mittelpunkt ihrer Photographien und dekonstruierte festgeschriebene Geschlechterkonzepte durch ihre Selbstinszenierung. Für Schalansky ist es kein Zufall, dass Cahun für ihre Selbstdarstellung auch zum Matrosenanzug greift. In diese Selbst-Inszenierungspraxis fügt sich auch das politische Engagement Cahuns. Cahun, die lange in Jersey lebte, unternahm mit ihrer Lebensgefährtin Suzanne Malherbe auch Widerstandsaktionen gegen die Besatzung der Nazis. 31

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Judith Butler: Performative Acts and Gender Constitution: An Essay in Phenomenology and Feminist Theory. In: Theatre Journal 40 (1988), S. 519–531, hier S. 519: „[…] gender is in no way a stable identity or locus of agency from which various acts proceed; rather, it is an identity tenuously constituted in time – an identity instituted through a stylized repetition of acts. Further, gender is instituted through the stylization of the body and, hence, must be understood as the mundane way in which bodily gestures, movements and enactments of various kinds constitute the illusion of an abiding gendered self.“ (Übersetzung ins Deutsche von Tanja Harjes). Das Photo in Schalansky (Anm. 14), S. 79.

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Abb. c: Claude Cahun posiert als Matrose. In: Judith Schalansky: Blau steht dir nicht. Matrosenroman. Frankfurt / M. 2011, S. 79.

In Schalanskys Roman ist der Matrosenanzug jedoch nicht allein in Bezug auf die Reflexion tradierter Geschlechternormen interessant, sondern er ist darüber hinaus auch als Ausdruck verschiedener Sehnsüchte inszeniert, die herrschende gesellschaftliche Normen herausfordern. In einer komplexen Auseinandersetzung mit der Farbe Blau für eine Zeit, in der die Matrosen am Ruder saßen, untersucht die Autorin auch historische Momente sozialer und kultureller Veränderungen, um der Farbe Blau weitere Semantiken zuzuweisen. So ruft sie sich eine Szene aus Sergei Eisensteins Panzerkreuzer Potemkin ins Gedächtnis. Die blauen Matrosenanzüge sind in eine auf der Leinwand reproduzierten Revolution hinein choreographiert und stehen dort als Metonymie für eine Revolte gegen die Monarchie zu Beginn der russischen Revolution 1919. Schalansky berichtet, dass der Regisseur Sergei Eisenstein sowie die Schauspieler, die Filmcrew und die Saalordner zur Premiere Matrosenanzüge trugen. Diese Geschichte rückt die Autorin in die Nähe jener Ereignisse, die Teil der Geschichte der DDR wurden. Dabei rekurriert sie assoziativ wieder auf den performativen Aspekt des Matrosenanzugs. Das Stürzen eines politischen Systems schwingt mit in der Revolution, die die Hauptfigur in ihrem eigenen Leben erfährt, namentlich den Zusammenbruch der DDR und ihrer politischen

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Eliten. Mit Bezug auf Honecker schreibt Schalansky: „Der Zar dankt ab, hieß es, sagt meine Mutter und schaut aus dem Fenster. …Sie fühlt sich betrogen.“33 Sofort nach dem Fall der Mauer fährt die Familie ans Mittelmeer – das Meer ist hier Symbol ihrer neu erworbenen Reisefreiheit. Blau steht dir nicht macht sich die Farbe Blau zunutze, um einen symbolischen Raum zu bezeichnen, der außerhalb von Jennys geschlechtlicher und geopolitischer Identität liegt und der Grenzen überschreitet. Er gehört zu den imaginären Räumen, die inspirieren, aber zuweilen für die Hauptfigur auch noch unerreichbar erscheinen. Die Erzählerin träumt sich in die Rollen einer Reisenden und eines Matrosen und einer Trägerin der Farbe Blau, um auf diese Weise der Botschaft der Großeltern, dass Blau ihr nicht steht, etwas entgegenzusetzen. Ihr Alter Ego ist Wolfgang (gemeint ist der Schriftsteller Wolfgang Koeppen), der vermutlich auf der Suche nach seinem Vater seine Heimat verließ, und der wie Schalansky in Greifswald geboren wurde. Er überschreitet Grenzen, arbeitet als Koch auf einem Schiff und schreibt Reiseberichte. Schalansky schreibt: „Sein Passfoto besteht an vielen Grenzen die Prüfung. Am überfüllten Times Square steht er wie ich zwischen Soldaten, Matrosen und Fliegern.“34 Ein Tagebucheintrag Koeppens verrät eine ähnliche Faszination für Matrosen, ein Umstand, der bei Schalansky ein Gefühl tiefer Verwandtschaft erweckt – sie nennt ihn bei seinem Vornamen: „Wolfgang schreibt im Notizbuch: Ihre Marineanzüge sind so marineblau und ihre Haut ist so wetterbraun, dass sie unmöglich Matrosen sein können.“35 Erst gegen Ende des Romans konstatiert die Autorin, dass die Figur des Matrosen, mit der sie sich identifizierte und die sie in ihrer Jugend als Bild der Befreiung und der Freiheit romantisierte, sie im Zusammenhang mit der DDR auch betrogen hat. Denn im Gegensatz zum Phantasiebild der Autorin und ihrer Protagonistin, das den Matrosen als Ausdruck von Freiheit und Abenteuer idealisierte, vollstreckten die realen DDR-Matrosen das Gesetz und dienten als „Grenzbeschützer, die Republikflucht melden“.36 Mit der Einsicht, dass die Uniform des Matrosen im nationalstaatlichen wie auch im militärischen Kontext eine Erotik der Macht zum Ausdruck bringen konnte, verschwindet der Zauber der Matrosen und der Unbegrenztheit der blauen See. Aus Protest beschließt die Autorin: „Ich gehe ans Land.“37 Sie verlässt den Ort ihrer Kindheit und die imaginierten Räume phantasierter Erlebnisse aus der Zeit der eingemauerten DDR. Die politischen Grenzen schränken ihre Bewegungsfreiheit und ihren Wunsch, ferne Orte zu erkunden, nicht mehr ein. Sie kann an der Welt des Blaus teilhaben und sie ihr Eigen nennen. Bezeichnenderweise trägt Schalansky auf dem Autorenbild auf der Umschlagrückseite Blau.38 Sie hat sich mit den Grenzen und Möglichkeiten der Farbe Blau auseinanderge33 34 35 36 37 38

Schalansky (Anm. 14), S. 55. Ebd., S. 130. Ebd., S. 131. Ebd., S. 139. Ebd. Ebd.: Bild der Autorin auf dem Rückumschlag des Buches.

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setzt und sich über die Semantiken dieser Farbe, wie sie ihr ihre Großeltern mit dem Satz „blau steht dir nicht“ vorzuschreiben versuchten, hinweggesetzt. Mit der Farbe Blau hat die Erzählerin auch von ihren imaginären und realen grenzüberschreitenden Topographien Besitz ergriffen. Sie hat sich ebenfalls über die binären semantischen Oppositionen einer kulturell tradierten Farbe, die Männlichkeit definiert, hinweggesetzt und es gewagt, sich nach der Ferne, die ihr früher verwehrt wurde, zu sehnen und sie sich schließlich zu eigen zu machen. Schalansky arbeitet sich in ihrem Roman durch die Einschränkungen, die dem Kind auferlegt werden, zu einem selbstbestimmteren, freiheitlichen Leben hindurch. Ihre Reisen führen in ihr zweites Buch, Atlas der abgelegenen Inseln: Fünfzig Inseln, auf denen ich nie war und niemals sein werde, in dem sie sich selbst als ein Atlas-Kind beschreibt, welches in seiner Phantasie weite, andere Räume durchquert, angelockt von Landkarten und Ländern umgeben vom Meer.39 Die Matrosin in ihr erkundet mit Hilfe ihrer Phantasie neue Landschaften, von Blau.

39

Judith Schalansky: Atlas der abgelegenen Inseln. Hamburg 2009.

Inge Stephan

Weiß in polaren Diskursen der Moderne Überlegungen zu Caspar David Friedrichs Eismeer (1823/24), Alfred Anderschs Hohe Breitengrade (1969) und Gerhard Richters Eis (1981)

I. Unter den Farben nimmt Weiß eine Sonderstellung ein. Zusammen mit Schwarz bildet es einen Gegensatz, der schon in der Antike mit einer Fülle von Bedeutungen aufgeladen worden ist.1 Schwarz und Weiß spiegeln das Verhältnis zwischen Dunkelheit und Licht und repräsentieren zugleich die äußersten Pole der Wahrnehmung. Für Platon ist Weiß ein Effekt, der sich aus der Ausdehnung des Sehstrahls ergibt, Schwarz dagegen entsteht durch dessen Zusammenziehung, während sich Rot als Farbe dazwischen durch eine Kombination der beiden gegenläufigen Bewegungen – das sogenannte Flimmern – bildet.2 Dieses einfache Dreierschema wird von Aristoteles erweitert. Seiner Meinung nach begrenzen Schwarz und Weiß ein Spektrum von fünf unvermischten Grundfarben, die sich unter dem Einfluss von Licht und Dunkel in ihrer Farbigkeit weiter ausdifferenzieren.3 Ungeachtet aller Unterschiede im Einzelnen weisen alle antiken Autoren Schwarz und Weiß in ihren Farbordnungen eine besondere Bedeutung als Ausgangsoder Grenzfarben zu und knüpfen daran weitreichende philosophische und kosmologische Überlegungen, deren Wirkungen sich noch in Romantik und Klassik beobachten lassen. Beispielhaft hierfür sei an Goethes Farbenlehre (1810) und Runges FarbenKugel (1810) erinnert, in denen zeitgleich von Seiten der Dichtung und der Malerei das antike Erbe gegen Newtons New Theory about Light and Colours (1671/72) verteidigt wird, wonach die Farbwahrnehmung auf den verschiedenen Brechungsgraden des Lichts und nicht auf der Wechselwirkung von Schwarz und Weiß im Auge des Betrach-

1

2 3

Vgl. John Gage: Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart. Leipzig 2009; Andreas Christ: Farbenlehre. Bilderwelten und die Magie der Farben. Geschichte, Symbolik, Praxis. Würzburg 2008; Franz Siepe: Die Farben des Eros. Das Schönheitsideal im Wandel der Zeit. Berlin 2007 („Schwarz auf Weiß oder vom hohen Alter farblicher Gegensätze“, S. 17–24); Victoria Finlay: Das Geheimnis der Farben. Eine Kulturgeschichte. Berlin 2005 („Weiß“, S. 127–155); Margarete Bruns: Das Rätsel Farbe. Materie und Mythos. Stuttgart 1997 („Weiß – Die Göttin“, S. 186–214; „Schwarz – Das unnahbare Licht“, S. 215–244). Vgl. Gage (Anm. 1), S. 2. Vgl. ebd., S. 13.

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Inge Stephan

ters beruht. Wie Goethe ist auch Runge davon überzeugt, dass Schwarz und Weiß einen besonderen Status im Farbspektrum einnehmen. In der Farben-Kugel heißt es: § 6. Wir sondern aber Weiß und Schwarz von den anderen drei Farben (die wir überhaupt nur Farben nennen) aus und stellen sie in eine verschiedene, den Farben wie entgegengesetzte Klasse. Weiß und Schwarz bezeichnen nämlich in unserer Vorstellung einen bestimmten Gegensatz (den von Hell und Dunkel oder Licht und Finsternis), und das nicht nur für sich allein, sondern auch in ihrer stärkeren oder schwächeren Vermischung sowohl mit den Farben als mit allen farbigen Mischungen. Das Hellere oder Dunklere an sich läßt sich durch mehr oder weniger Weißlich oder Schwärzlich vorstellen. Das Hell und Dunkel überhaupt steht in einem allgemeinen und anderen Verhältnis zu den Farben, als diese es untereinander haben.4

Wenn man über Weiß nachdenkt, gilt es die enge Verbindung zwischen Weiß und Schwarz sowie deren besonderes Verhältnis zu den anderen Farben ebenso zu berücksichtigen wie die bis heute kontrovers diskutierte Frage, ob es sich bei Weiß überhaupt um eine Farbe im eigentlichen Sinne handelt. Im Trattato della Pittura hat Leonardo da Vinci in Übereinstimmung mit den Autoren seiner Zeit die These vertreten, dass Weiß „selbst keine Farbe“ sei, aber die Fähigkeit besitze, „jede beliebige Farbe anzunehmen“.5 All dies mögen – insbesondere nach Newton – müßige Streitereien um Begrifflichkeiten sein, für die kulturgeschichtliche und literarische Wahrnehmung von Weiß handelt es sich aber um Positionen, die bis in die Gegenwart ungebrochen sind. Als Nicht- oder Unfarbe stellt Weiß (neben Schwarz) gerade für Künstler der Moderne eine Provokation dar, die Malewitsch mit seinem Skandalbild Schwarzes Quadrat (1914/15) und seiner Komposition Weiß auf Weiß (1918) auf den Punkt gebracht hat.6 Er steht am Anfang einer monochromen und minimalistischen Kunsttradition, deren Nachwirkungen bis in die Gegenwartskunst reichen.7 Früher als in der Malerei hat Weiß bereits in der Literatur des 19. Jahrhunderts eine starke Beunruhigung dargestellt. Melvilles Moby Dick (1851) ist wohl das bekannteste Beispiel für den Schrecken, der vom Weißen ausgehen kann. In seinem Schlüsselroman über die Krise des männlichen Subjekts verkörpert der weiße Wal den „Schrecken aller Schrecken“,8 während in Conrads Heart of Darkness (1899) das Schwarze das absolute Grauen symbolisiert.9 Die monströse metaphorische Aufladung von Schwarz und Weiß 4 5 6 7

8 9

Zit. nach Barbara Oettl: Weiß in der Kunst des 20. Jahrhunderts. Studien zur Kulturgeschichte einer Farbe. Regensburg 2008, S. 16. Ebd. Abbildungen befinden sich im Anhang von Oettl (Anm. 4). Vgl. die Beispiele ebd. und in den Katalogen: Die Farben Schwarz. Hrsg. von Thomas Zaunschirm. Wien 1999 (Ausstellung im Landesmuseum Johanneum, Graz, 28.5.–10.10.1999); E blanc, I rouge, U vert, O bleu … Farben. Hrsg. von Annegret Laabs, Uwe Gellner. Bielefeld / Leipzig 2007 (Ausstellung im Kunstmuseum Kloster unser lieben Frauen, Magdeburg, 9.12.2006–11.3.2007) sowie Michel Pastoureau: Noir. Histoire d’une couleur. Paris 2008. Herman Melville: Moby Dick. Aus dem Amerikanischen von Thesi Mutzenbecher, Ernst Schnabl. Zürich 1977, S. 208. Joseph Conrad: Herz der Finsternis. München 1977, S. 165.

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gerade zu diesem Zeitpunkt erklärt sich zum Teil daraus, dass die Romane Teil eines expansionistischen und kolonialistischen Diskurses sind, in dem Schwarz und Weiß eine rassistische Einfärbung erfahren, deren fatale Konsequenzen durch aktuelle Whiteness-Debatten10 und gegenwärtige kritische Arbeiten von Künstlern11 zunehmend ins öffentliche Bewusstsein rücken. Weiß avanciert in der Literatur des 19. Jahrhunderts aber nicht nur zur Chiffre des Unheimlichen und Furchtbaren, sondern besitzt in der Folge der Erhabenheitsdiskurse des 18. Jahrhunderts auch eine ausgesprochen positive Aura. In Hegels Phänomenologie des Geistes (1807) steht Weiß für „reine Identität“12 und wird zum Symbol des Absoluten verklärt. Über die Kategorie des Reinen und Erhabenen schleichen sich in diesen Absolutheitsdiskurs Geschlechtervorstellungen ein, die von Seiten der Genderforschung schon seit längerem kritisch analysiert worden sind.13 Weiß erscheint aus dieser Perspektive nicht als unschuldige Farbe, sondern ist so überdeterminiert, dass sie ganz Kontroverses bedeuten kann. Im Weiß ist – ähnlich wie im Schwarz – die Ambivalenz von Wahrnehmung so gesteigert, dass es weit mehr als eine Farbe bzw. Unfarbe repräsentiert. Es rückt in den Rang einer philosophischen, ästhetischen oder moralischen Kategorie, mit der Gegensätze, Abgrenzungen und Hierarchien in unserer Gesellschaft bis heute produziert werden. Die Sonderstellung von Weiß lässt sich auch an einer sprachlichen Besonderheit ablesen, durch die Weiß aus der Reihe der anderen Farben herausgehoben wird. In der vergleichenden Studie Basic Colour Terms (1969) wird die These vertreten, dass jede Sprache der Welt über mindestens zwei Farbbegriffe verfügt. Der erste und wichtigste ist danach Weiß, der zweite Schwarz.14 Das umfangreichste Vokabular zur Farbe Weiß besitzen die Bewohner der arktischen Regionen. Mehr als vierzig verschiedene Ausdrücke verwenden die Inuit angeblich, um die Eigenschaften, die Farbtöne und die Konsistenz von Schnee zum Ausdruck zu bringen.15 In seinem Handbook of American Indian Languages (1911) hat der Sozialanthropologe Franz Boas zwar nur vier unterschiedliche Wortstämme von Schnee in der Sprache der Inuit ausgemacht, diese Zahl hat sich in 10

11 12 13

14 15

Vgl. Richard Dyer: White. New York / London 1997; Valery Babb: Whiteness Visible. The Meaning of Whiteness in American Literature and Culture. New York 1998; Jana Husmann: SchwarzWeiß-Symbolik. Dualistische Denktraditionen und die Imagination von „Rasse“. Bielefeld 2010. Vgl. z. B. Isaac Julien: True North – Fantôme Afrique. Hrsg. von Veit Görner, Eveline Bernasconi. Ostfildern 2006 (Ausstellung in der Kestnergesellschaft, Hannover, 23.6.–20.8.2006). Vgl. Wolfgang Ullrich: Einleitung. In: Weiß. Hrsg. von dems., Juliane Vogel. Frankfurt / M. 2003, S. 10. Vgl. Christina von Braun: Zum Begriff der Reinheit. In: Metis. Zeitschrift für historische Frauenforschung und feministische Praxis 6 (1997), H. 11, S. 7–25. Siehe auch: Un / Reinheit im Kulturvergleich. Hrsg. von Martin Vöhler, Angelika Malinar. Paderborn 2009; Klaus Poenicke: Eine Geschichte der Angst? Appropriation des Erhabenen in der englischen Ästhetik des 18. Jahrhunderts. In: Das Erhabene. Zwischen Grenzerfahrung und Größenwahn. Hrsg. von Christiane Pries. Weinheim 1989, S. 76–90. Vgl. Oettl (Anm. 4), S. 62. Vgl. ebd., S. 64.

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der Folgezeit aber so wundersam vermehrt,16 dass sie bis heute durch die Forschung geistert und in Büchern wie Peter Høegs Fräulein Smillas Gespür für Schnee (1994), Orhan Pamuks Schnee (2005) oder Charlie Englishs Das Buch vom Schnee (2009) in unterschiedlicher Weise Spuren hinterlassen hat. Schnee ist das Stichwort für die drei Beispiele, mit denen ich mich im Folgenden beschäftigen möchte. Schnee repräsentiert das ideale Weiß, auch wenn ihm einige Punkte auf der Albedo-Richtskala fehlen, mit der das Rückstrahlungsvermögen von nicht selbstleuchtenden, diffus reflektierenden (nicht spiegelnden) Oberflächen gemessen wird. Idealweiß hätte theoretisch 100 % Albedo (lat. weiße Farbe), eine völlig schwarze Fläche dagegen 0 %. Die Albedo von frisch gefallenem Schnee beträgt zwischen 75 und 95 %, gealterter Schnee besitzt nur noch einen Albedowert von 40 bis 70 %. Die schneebedeckte Tundra hat eine Albedo von 80 %.17 Die arktischen Regionen sind also ein ideales Feld, um Weiß in seiner größten Reinheit, Ungeheuerlichkeit und Erhabenheit zu beobachten – auch wenn ein heftiger Schneefall, von dem Adalbert Stifter in seiner Erzählung Aus dem Bairischen Walde (1867) berichtet, Grenzerfahrungen auslösen kann, die denen der Polarfahrer durchaus zur Seite gestellt werden können.18 Das „Bild des weißen Ungeheuers“19 signalisiert bei Stifter eine Überwältigung durch das Weiße, das zuvor bereits Edgar Allan Poes Held Arthur Gordon Pym zur Strecke gebracht hat und das am Ende des 19. Jahrhunderts Jules Vernes Kapitän Len Guy in Pyms Gefolge einholen wird.20

II. Um Weiß-Erfahrungen subtilerer Art geht es in Caspar David Friedrichs Gemälde Das Eismeer (1823/24) und Alfred Anderschs Reisebericht Hohe Breitengrade (1969). Sie sind Repräsentanten eines arktischen Diskurses, die neben den Polarexpeditionen von Nansen, Amundsen, Scott oder Shackleton eher randständig wirken. Für die ambivalenten Gefühle, die von weißen Landschaften ausgehen, sind sie jedoch besonders einschlägig, weil im Medium der Malerei bzw. der Literatur die Faszination und der Schrecken deutlicher thematisiert werden als in den Aufzeichnungen der Polarfahrer,

16 17 18

19 20

Vgl. Finlay (Anm. 1), S. 462. Vgl. Oettl (Anm. 4), S. 24. Vgl. Juliane Vogel: Mehlströme / Mahlströme. Weißeinbrüche in der Literatur des 19. Jahrhunderts. In: Weiß (Anm. 12), S. 167–192; Arno Dusini: Wald. Weiße Finsternis. Zu Stifters Briefen und Erzählung „Aus dem Bairischen Walde“. In: Euphorion 92 (1998), H. 4, S. 437–455. Adalbert Stifter: Aus dem Bairischen Walde. In: Ders.: Sämtliche Werke. Bd. 15: Vermischte Schriften. 2. Abt. Hrsg. von Gustav Wilhelm. Reichenberg 1935, S. 321–353, hier S. 353. Zum Verhältnis von Poe und Verne vgl. Inge Stephan: Musen & Medusen. Mythos und Geschlecht in der Literatur des 20. Jahrhunderts. Köln u. a. 1997, S. 1–9.

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die ums nackte Überleben kämpfen und wenig Zeit zum Nachdenken, geschweige denn Muße für ästhetische Reflexionen haben. Die Zugehörigkeit von Friedrichs Gemälde (vgl. Abb. 17, Bildteil) zum polaren Diskurs erschließt sich erst auf den zweiten Blick. Das Bild (96,7 × 126,9 cm), für das sich zu Lebzeiten von Friedrich kein Käufer fand – 1905 wurde es von der Hamburger Kunsthalle erworben –, entwirft das bizarre Szenario eines vereisten Meeres, das von bedrohlich ineinander verkeilten, sich auftürmenden Eisschollen dominiert wird. Bei einem Besuch in Friedrichs Atelier sah der französische Bildhauer David D’Angers einige Arbeiten des Künstlers und notierte in seinem Reisetagebuch: Heute Abend (7.11.1834) habe ich den Maler Friedrich besucht. Er selbst öffnete uns die Tür. Er ist groß und hager, von bleicher Hautfarbe. Seine Augen, von dichten Brauen überschattet, sind tief umrändert. Er hat uns in sein Atelier geführt: ein Ofen, ein kleiner Tisch, eine leere Staffelei, an den grün gestrichenen Wänden ist Nichts aufgehängt. Erst nach langem Bitten holt uns Friedrich einige Werke hervor […]. [Sie] veranlassen zum Träumen; sie gleichen Dichtungen; bewundernswert, wie er die Tragödie der Landschaft verstanden hat.21

Besonderen Eindruck machte ihm ein „Nordmeerbild“, bei dem es sich offensichtlich um Das Eismeer handelt: [E]in Eisberg hatte ein Schiff verschlungen, von dem nurmehr Reste zu sehen sind. Eine große und schreckliche Tragödie; kein Mensch hat überlebt. Das ist gut überlegt, da sonst die Aufmerksamkeit verteilt würde.22

Die „Konfliktstruktur des Bildes“23 hat der Kunsthistoriker Peter Rautmann sehr überzeugend herausgearbeitet und dabei nicht nur auf die zahlreichen anderen Schnee- und Friedhofsbilder Friedrichs verwiesen, sondern auch die These stark gemacht, dass das Gemälde kein abstrakter Ausdruck von „Feierlichkeit und Erhabenheit“ sei, sondern durchaus als „Darstellung des Schreckens der Polarwelt“ gedeutet werden könne.24 Wenn man Rautmanns subtilen Beobachtungen und seiner überzeugenden Argumentation folgt, handelt es sich bei Friedrichs Eismeer um ein visionäres Bild, dessen Entstehung sich jedoch recht konkret nachvollziehen lässt. Im Winter 1820/21 fertigte er Einzelstudien des Eisgangs auf der Elbe an, den er aus seinem Atelier in Dresden beobachten konnte. Als der preußische König Friedrich Wilhelm III. Das Eismeer auf einer Ausstellung in Berlin sah, fühlte er sich bezeichnenderweise nicht an die Arktis, son21

22 23

24

Pierre-Jean David D’Angers: Les carnets de Daniel D’Angers. Paris 1958, Bd. 1, S. 309. Zit. nach Peter Rautmann: C. D. Friedrich. Das Eismeer. Durch Tod zu neuem Leben. Frankfurt / M. 1991, S. 5. D’Angers, zit. nach ebd. Rautmann hat in der Reihe kunststück eine subtile Interpretation des Bildes vorgelegt, auf die ich mich im Folgenden stütze: ebd. Vgl. v. a. den Abschnitt „Die Konfliktstruktur des Bildes“, S. 10– 14. Ebd., S. 14. Rautmann wendet sich hier gegen den Friedrich-Forscher Börsch-Supan, der dies behauptet hatte. Vgl. Helmut Börsch-Supan, Karl Wilhelm Jähnig: Caspar David Friedrich. Gemälde, Druckgraphiken. München 1973, S. 140.

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dern an die Elbe erinnert, wie seine abfällige Bemerkung zeigt, dass „das Eis im Norden […] wohl anders aussehen“ möchte.25 Tatsächlich malte Friedrich sein chef d’œuvre, das seinerzeit unter dem Titel „Ideale Scene eines arktischen Meeres, ein gescheitertes Schiff unter den aufgethürmten Eismassen“ mehrfach öffentlich gezeigt wurde, in seinem Atelier, und nutzte dabei die frühen Ölskizzen vom Eisgang auf der Elbe für die Ausarbeitung von Details. Die entscheidende Anregung für sein Eismeer ging von William Edward Parrys missglückter Polarexpedition von 1819/20 aus, die in ganz Europa auf lebhafte Anteilnahme stieß. Bei seinem Versuch, durch die Entdeckung einer NordWest-Passage den Seeweg von Europa in den Pazifik zu verkürzen, wurde Parry mit seinen beiden Schiffen und seiner Besatzung im Eis eingeschlossen und musste in der Arktis überwintern. Sein 1821 veröffentlichter Reisebericht26 enthielt auch eine Reihe von spektakulären Illustrationen, die Friedrich gekannt haben könnte. Mit seinem als verschollen geltenden Gemälde Ein gescheitertes Schiff auf Grönlands Küste im Wonnemond, das im Nachlass als „Verunglückte Nordpolexpedition“ verzeichnet und lange Zeit von der Forschung mit dem Eismeer verwechselt wurde, spielte Friedrich direkt auf Parrys Expedition an, spitzte jedoch – ähnlich wie im Eismeer-Gemälde – die Katastrophe entscheidend zu: Während Parry sich mit seinen Schiffen aus dem Eis befreien und mit seiner Mannschaft unversehrt zurückkehren konnte,27 gibt es bei Friedrich keine Überlebenden. Dennoch geht das Eismeer-Bild in einer katastrophischen Lesart nicht auf. Der Diskurs des Erhabenen, der von Kant maßgeblich geprägt worden ist, hat auch in Friedrichs Bild seine Spuren hinterlassen. Für Kant sind der „grenzenlose Ozean“,28 aber auch die „Eispyramiden“29 erhaben, „weil sie die Seelenstärke über ihr gewöhnliches Mittelmaß erhöhen und ein Vermögen zu widerstehen von ganz anderer Art in uns entdecken lassen, welches uns Mut macht, uns mit der scheinbaren Allgewalt der Natur messen zu können.“30 Friedrichs Interesse gilt im Sinne von Kant solchen erhabenen Landschaften, die er vor allem in Schnee und Eis findet. Anders als viele seiner Künstlerkollegen, die sich auf den Weg ins heiße und farbenfrohe Italien machten, zog es Friedrich in den eisigen, entfärbten Norden. Seine Absicht, nach Island zu reisen,31 konnte er zwar nicht 25 26

27 28 29 30

31

Vgl. Rautmann (Anm. 21), S. 14. Vgl. William Edward Parry: Journal of a Voyage for the Discovery of the North-West-Passage from the Atlantic to the Pacific. 1819–1820. London 1821. Zwei Illustrationen zu diesem Reisebericht sind abgedruckt bei Rautmann (Anm. 21), S. 19. Eine Darstellung von Parrys Reise findet sind bei Fergus Fleming: Barrow’s Boys. Hamburg 2002 (Kapitel 14: „Parry zum Pol“, S. 295–304). Immanuel Kant: Kritik der Urteilskraft. In: Ders.: Werke in zehn Bänden. Hrsg. von Wilhelm Weischedel. Bd. 8. Darmstadt 1968, S. 343. Ebd., S. 349. Ebd., S. 343. Zu Kant vgl. Johannes Haag: Kant und die Farben. In: Farben. Betrachtungen aus Philosophie und Naturwissenschaften. Hrsg. von Jakob Steinbrenner, Stefan Glasauer. Frankfurt / M. 2007, S. 102–125. Vgl. Rautmann (Anm. 21), S. 19.

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realisieren, die Vorliebe für den Norden und seine Winterlandschaften blieb jedoch ungebrochen.32 Im Jahre 1834 schwärmte er seinem Besucher D’Anger von einem Bild vor, von dem man nicht weiß, ob er es überhaupt gemalt hat oder es ebenfalls nur verschollen ist. Bei D’Anger lesen wir: Er sagte mir, er hätte die Absicht, ein anderes Bild zu malen, in welchem man am Horizont einen Eisberg sehen würde, welcher ein Schiff erdrückt habe. Im Vordergrund wäre das Wasser klar und durchsichtig und eine Frühlingsvegetation erkennbar, am Flußufer läge ein Logbuch mit der Mitteilung, der Kapitän X und seine Mannschaft hätten die außerordentlichsten Naturschauspiele gesehen, die sich der Mensch vorstellen könnte. Welch große Idee für ein Bild.33

Auch dieses Gemälde muss man sich menschenleer vorstellen. Das zerdrückte Schiff im Hintergrund und das aufgeschlagene Logbuch im Vordergrund sind die einzigen Zeichen menschlicher Zivilisation. Stärker als im Eismeer, wo nur die aufreißende Wolkenbank den Blick auf ein „Stück nebelfreien Himmel, das im lichten Blau erstrahlt“34 öffnet, wären in diesem Bild zumindest zwei hoffnungsvolle Momente angedeutet. „Frühlingsvegetation“ und die schriftlichen Verweise auf „die außerordentlichsten Naturschauspiele“ spielen aber mehr auf die Überlebenskraft der Natur und der Menschheit insgesamt an als auf die der einzelnen Menschen, von denen nicht sicher ist, ob sie die Katastrophe überlebt haben. Die Kunst jedoch – in diesem Falle die Malerei und die Schrift – behauptet sich gegenüber der Natur, die zwar allgewaltig ist, aber des Menschen bedarf, um erinnert zu werden. Im Diskurs über das Erhabene, das sich bereits in Kants Überlegungen zu den „Eispyramiden“ indirekt mit dem Weißen verbindet, nimmt Friedrichs Eismeer – das einzig erhaltene Bild seiner arktischen Visionen – eine Schlüsselrolle ein. Der delikate Einsatz von Weiß in seinen verschiedenen Farbabstufungen über Ocker, Gelb, Grau, Grün und Blau und seiner unterschiedlichen Helligkeit vom gleißenden Weiß zum schattigen Dunkel macht das Bild zu einer eindrucksvollen Studie über die Möglichkeiten, Weiß als Farbe und Metapher in der Malerei zu verwenden. Dieser Einsatz findet in einer Epoche statt, in der die Erfahrungen mit Revolution und Restauration die Zeitgenossen zutiefst verunsicherten und sich Analogien zwischen Natur- und Gesellschaftsgeschichte geradezu aufdrängten. Die Restauration galt als „Winter in Deutschland“35, der auf den revolutionären „Volksfrühling“36 von 1813 gefolgt war – man denke an Schuberts Liederzyklus Die Winterreise (1824/28) und Heines Poem Deutschland. Ein Wintermärchen (1848), die beide auf solche Vorstellungen anspielen. Vor diesem Hintergrund 32 33 34 35

36

Caspar David Friedrich. Winterlandschaften. Hrsg. von Kurt Wettengl. Dortmund 1990 (Ausstellung im Museum für Kunst- und Kulturgeschichte, Dortmund, 16.06.–29.07.1990). D’Angers (Anm. 21), S. 329. Die dt. Übersetzung zit. nach Rautmann (Anm. 21), S. 19. Vgl. die Interpretation des Gemäldes ebd., S. 10–14. Das Zitat ebd., S. 11. Vgl. ebd. den Abschnitt „Die Restauration – Winter in Deutschland“, S. 25–36. Ausführlicher dazu: Ders.: Winterzeiten. C. D. Friedrichs und Ph. U. Runges künstlerische Konzeption und Praxis. Denk- und Sehanstöße für heute. In: Kritische Berichte 9 (1981), H. 6, S. 38–64. Vgl. Rautmann (Anm. 21), S. 29.

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sind vereiste Landschaften und Schiffskatastrophen auf Friedrichs Bildern als Symbole des politischen Scheiterns zu lesen. Es gibt jedoch auch im Eismeer-Gemälde hoffungsvolle Momente, auf die Rautmann in seiner Deutung hingewiesen hat: Die Erscheinung des Eises als steinige Substanz in der Nähe und gläserne in der Ferne trägt zur ambivalenten Bedeutung von Scheitern und Hoffnung bei. So enthält das Bild zerstörter und vereister Natur Merkmale der vereisten gesellschaftlichen Realität, wie es auch solche eines utopischen Gegenbildes mit sich führt.37

Der auffällige Kontrast zwischen dem lichten Blau des Himmels und den massiven weißlichen Eisflächen verleiht dem Bild seine besondere Stimmung, die im Betrachter unterschiedliche Reaktionen hervorrufen kann. Das Blau des Äthers, der die Eisberge am Horizont in ein durchsichtiges bläulich-weißes Licht taucht, lässt sich als Referenz auf die Hochschätzung der Farbe Blau in der Romantik lesen, zugleich erinnert die kristalline Durchsichtigkeit der Eisberge im Hintergrund an phantastische Eispaläste, die an Novalis denken lassen. Im Heinrich von Ofterdingen (1802) beschwört Klingsohr in seinem Märchen das Bild einer vereisten Stadt und schwärmt von den „Eis- und Schneeblumen“, den „Kristallpflanzen“ im Garten sowie einem „Springquell […], der zu Eis erstarrt“ ist.38 Diese eisige Szenerie verwandelt sich bei Novalis jedoch sehr schnell, während sich im Eismeer die Hoffnung auf Erwärmung allein mit der Farbe Blau verbindet, die hier einen epochal anmutenden Konflikt mit der Farbe Weiß ausficht. Als „Sehnsuchtsfarbe“39 verweist Blau auf die Romantik, Weiß als Symbol des Erhabenen dagegen auf die Aufklärung.

III. Caspar David Friedrich war nie in der Arktis, nicht einmal nach Island hat er es geschafft. Ihm mussten der Reisebericht von Parry und die darin enthaltenen Stahlstiche genügen, um eine Anschauung vom weißen Norden zu bekommen. Alfred Andersch – fast einhundertfünfzig Jahre später – ist ebenfalls nicht zum Nordpol, immerhin aber bis nach Spitzbergen gekommen.40 Im August des Jahre 1965 fuhr er an Bord der Havella, eines schon betagten, aber soliden Hochseekutters, der für die regelmäßigen Fahrten zwischen Tromsø und Spitzbergen mit einem Eisschild und allen notwendigen technischen Apparaturen ausgestattet war, in den Norden – ein Jahr, nachdem der befreundete

37 38 39 40

Vgl. ebd., S. 41. Novalis: Dichtungen. Reinbek 1963, S. 171f. Vgl. Rautmann (Anm. 21), S. 37. Alfred Andersch: Wanderungen im Norden. Mit 32 Farbtafeln nach Aufnahmen von Gisela Andersch. Olten / Freiburg 1962. Erstmals in den Norden ist Andersch mit seiner Frau und seinem Stiefsohn im Jahre 1953 gereist.

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Ernst Jünger diese Reise gemacht hatte.41 Über die Gründe für die Reise schweigt sich der Autor aus.42 Er konzentriert sich in seinen „Nachrichten von der Grenze“ – so der Untertitel des Berichts – ganz auf die Bestandsaufnahme dessen, was er sieht. Kurze Sätze, die häufig nur aus einem Wort bestehen, erinnern an Notate, die alles Erzählerische bewusst vermeiden. Die Sprache nähert sich der Kargheit der Landschaft an, die nur aus wenigen „Zeichen“ (S. 146) besteht, die Andersch in der Rückschau im letzten Kapitel noch einmal sorgfältig ordnet (S. 141–150). Unter den Zeichen nehmen die „Lokalfarben“ (S. 149) einen besonderen Platz ein. Sie sind nicht nur, wie der Autor bemerkt, in seinem Reisebericht „ausführlich beschrieben“ (ebd.), sie verleihen diesem auch eine spezifische Farbästhetik. Es sind Farben, die wir von Caspar David Friedrichs Eismeer-Bild kennen. Von dem „Treibeismeer“ gibt Andersch folgende Beschreibung: Ich habe drei Grundkonstellationen seiner farbigen Erscheinung festgestellt. Bei grauem Eisenhimmel war sein Wasser schieferblau, der Schnee seiner Schollen reflexionslos, tot. Wenn man sich nach Norden wandte, wo kein Land mehr zu sehen war, ergaben diese Farben, projiziert auf eine Endlosigkeit, die Metapher der absoluten Leere. […] Im größten Gegensatz dazu entstand das Bild des arktischen Ozeans, wenn das Firmament einen Zustand höchster Reinheit erreichte. Dann wurden das Blau des Himmels und das Blau des Wassers sich völlig gleich; in dem gleichen durchsichtigen Hellblau, das nur am oberen und unteren Rand sich dunkler färbte, umflossen sie die Konturen strahlender Schnee-Archipele. In solchen Stunden mochte es auch geschehen, daß am nördlichen Horizont der Eisblink aufleuchtete, der Widerschein großer Eisfelder in den Abgründen des Himmels. Doch am seltsamsten illuminierte sich das Meer, wenn eine sehr hohe Wolkendecke über ihm sich langsam auflöste und durch den Stratokumulus das Licht in gebündelten Strahlen drang; dann spielte das Wasser in allen Tönungen zwischen seidigem Oliv und reinem Gold, während die Treibeistafeln, die es umgab, doch in einem kalten, bläulichen Weiß verharrten, in einer Art von Waschblau. Dieser Gegensatz zwischen einem erregten und einem kühlen Grundton versetzte uns in Spannung; er spiegelte die Dialektik der Erde an ihrer extremen Grenze. (S. 110f.)

Andersch bleibt bei einer solchen Bestandsaufnahme nicht stehen. Das Stimmungsbild beschwört mit der „absoluten Leere“ und „Reinheit“ Metaphern, die auf den Diskurs des Erhabenen verweisen, wird aber durch den Autor sogleich durch Reflexion gebrochen:

41

42

Jünger hat über diese Reise in seinem Tagebuch berichtet. Ernst Jünger: Sämtliche Werke, erste Abteilung, Tagebücher VI. Bd. 6, Reisetagebücher. Stuttgart 1982, S. 443–502. (Spitzbergen 24. Juli–15. August 1964). In diesem Band befinden sich auch die Aufzeichnungen von einer früheren zweimonatigen Reise 1935 (Erstdruck 1943), S. 37–88. In einer Notiz auf der letzten, nicht mehr paginierten Seite des Buches schreibt Andersch: „[D]er vorliegende Bericht geht aus Erfahrungen hervor, die der Verfasser als Leiter einer FilmExpedition des Deutschen Fernsehens im Jahre 1965 sammeln konnte. Das Ergebnis dieser Expedition ist der Film HAAKONS HOSENTASCHEN von Alfred Andersch und Martin Bosboom, der bisher in Deutschland und der Schweiz gezeigt wurde.“ – Die Zitate aus dem Reisebericht werden im Folgenden nach der Taschenbuchausgabe direkt im Text nachgewiesen. Alfred Andersch: Hohe Breitengrade oder Nachrichten von der Grenze. Ein Reisebericht mit 48 Farbtafeln nach Aufnahmen von Gisela Andersch. Zürich 1984.

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Ich weigere mich übrigens, solche Phänomene des Spektrums, wie ich sie hier berichte, als Stimmungen zu bezeichnen; es handelte sich nicht um Stimmungen, durch die wir fuhren, sondern um objektive farbige Tatbestände, um meßbare Ergebnisse aus Frequenzen und Wellenlängen weißen Lichts. Wenn wir genug hatten von Farben, genug auch von jenem Weiß, in dem sie sich trafen und auflösten, richteten wir unsere Blicke auf einige schwarze Tafeln in der Form von Trapezen, die im Osten und Norden aufgerichtet waren, als Zeichen dafür, daß es auch Welten ohne Licht gibt. Entlang der Packeisgrenze näherten wir uns den Sieben Inseln, als wüßten wir, daß in solchen Monolithen der Finsternis und der Reflexion auch aller Schein und Widerschein endet: dieser ganze von Farben, von Licht schwätzende, redende, singende Stern. (S. 111)

Alle Farbigkeit endet in Weiß oder Schwarz. Dieses Resümee ist weniger als farbentheoretische Reflexion denn als melancholischer Befund zu werten. Die „Ausfahrt“ (S. 19) in den Norden ist eine Reise in eine Welt, die durch klare Gegensätze geprägt ist: Schwarz und Weiß sind die Grundfarben, auf die Andersch immer wieder stößt. Die kleinen schwarzen Vögel, die im Meer neben der Eisgrenze schwimmen, regen ihn zu einem Gedicht über „Schwarzes Geflatter in einer grenzenlosen und kalten Einöde“ (S. 113) an. Er versucht, die „Essenz des Nordens“ (S. 112) in Worte zu fassen, indem er den Namen des Vogels in verschiedenen Sprachen untereinanderschreibt: krabbentaucher plautus alle alkekonge little auk black guillemot spitsbergenteist uria grylle gryllteist (ebd.)

Zweifellos ist ein solches Wortgedicht nicht nur ein enthusiastisches Bekenntnis zum „onomatopoetischen Reiz“ (ebd.), der von Namen ausgeht, sondern auch als Ausdruck einer Schreibhemmung zu lesen, die jeden Autor vor einer weißen Seite, vor einem leeren Blatt befallen kann. In seinem Aufsatz Shining. Oder: Die weiße Seite stellt Thomas Macho die Fragen: „Was sieht der Autor, der sich plötzlich nicht mehr autorisieren kann? Was stellt sich dem Wunsch in den Weg, das glänzende Weiß mit Zeichen und Buchstaben, dunklen Spuren im Schnee, zu durchlöchern? Worin besteht die Botschaft der marginalen Verschiebung, die das ‚white‘ ins ‚write‘ konvertiert?“43 Die an das Gedicht anschließende Bemerkung – „unzweifelhaft sind alle Menschen, die den Dingen Namen gaben, große Dichter gewesen. Überhaupt sind alle Menschen Dichter …, doch lassen wir das!“ (S. 113) – scheint den Autor selbst nicht befriedigt zu haben, wie auch eine andere Stelle zeigt, wo das Ungenügen an der eigenen „Methode

43

Thomas Macho: Shining. Oder: Die weiße Seite. In: Weiß (Anm. 12), S. 17–28, hier S. 17. Wie stark gerade die Literatur die Spannung zwischen Schwarz und Weiß produktiv macht, zeigt der Band: Schwarz Weiß Gedichte. Mit Illustrationen von Ulrichadolf Namislow. Hrsg. von Gabriele Sander. Stuttgart 2009.

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der Beschreibung“ (S. 53) bezeichnenderweise gerade an der Farbe Rot ausbricht.44 Die Krise der Beschreibung ist durchgängiges Thema der Aufzeichnungen. Darüber hinaus kann das Gedicht auch als Ausdruck einer tiefergreifenden Sinn- und Lebenskrise gedeutet werden, die durch vielerlei ausgelöst sein mag.45 Nur wenige Stichworte finden sich dazu im Reisebericht: Die Abscheu vor dem Ausdruck „Engagement“ (S. 10), ein deutlicher Seitenhieb auf seine erfolgreicheren Schriftstellerkollegen zu jener Zeit, die Kritik am „Walschlachten“ (S. 17) und am „Massentourismus“ (S. 20), die sich zur monströsen Metapher des „Fortschritts-Phallus“ (S. 43) verdichtet, die Konstatierung von „Sinnlosigkeit“ (S. 52) und der Entwicklung auch in geologischer Hinsicht sowie die apokalyptische Vision einer neuen Eiszeit, die „Manhattan unter einer Eiskappe“ (S. 16) begräbt46 – all dies sind Hinweise auf eine Melancholie, die in der entleerten und entfärbten Welt der Arktis eher eine Bestätigung denn eine Heilung findet. Die melancholische Stimmung, die sich immer wieder in der Beobachtung von Schwarz-Weiß-Konstellationen niederschlägt, wird verstärkt durch die Gesellschaft, von der Andersch als Reisender umgeben ist. Neben den wenigen Lebenden, die zum Teil aber auch schon an Untote erinnern, wie der Skipper Haakon, dessen steifes Bein sofort eine Assoziation an Captain Ahab hervorruft (vgl. S. 14, 28), oder der völlig verstummte Schiffsjunge (vgl. S. 28), ist der Autor von Toten umgeben: von den Heroen der Polfahrt, von ihren Berichten und Bildern, die er gelesen oder auf seine Reise extra mitgenommen hat.47 Er ist der letzte Nachfahre einer Generation von Männern, deren Spuren sich vor allem in Büchern und Stichen, aber auch in den tiefgefrorenen Resten ihrer Expeditionen im Schnee und Eis erhalten haben.48 Unter diesen Heroen 44

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48

Dieses Rot ist die einzige kräftige Farbe, die im Reisebericht vorkommt. Besonderen Eindruck macht auf Andersch „eine brennend rote“ Flechte, „die Kreise bildet“: „Es ist möglich, daß Captain Parry dieselbe Flechte betrachtet hat wie ich, wenn er am Abend auf dem Crozier Point spazierenging. Ein brennendes Rot vor einem Horizont aus Eis. Die letzte glühende Laterne vor dem Pol. Mag sein, daß sie ihm für einen Augenblick ungeduldig gemacht hat. Da unten lag sein Schiff, fein in Stahl graviert. Manchmal nützt es nichts, etwas anzuschauen, das Jahrhunderte braucht. Eine so rote Flechte ist in erster Linie rot, dann erst eine Flechte.“ (S. 88). Vgl. Stephan Reinhardt: Alfred Andersch. Eine Biografie. Zürich 1990, dort v. a. das Kap. 20: „Eisbären und Walroß“, S. 396–418. Einen solchen Film hat Roland Emmerich mit The Day after Tomorrow (2004) realisiert. Zu Beginn der Reise in Oslo besucht Andersch das norwegische Polarinstitut, wo er neben den „ältesten Nachrichten der Welt“ (S. 15) – Steinen und Fossilien – auch auf eine „tausendbändige Sammlung von Büchern über die norwegische Arktis“ (S. 17) stößt, darunter zahlreiche kostbare Originalausgaben. Zum Zusammenhang von Bibliotheksreisen und realen Reisen vgl. Bettine Menke: Die Polargebiete der Bibliothek. Über eine metapoetische Metapher. In: DVjs 74 (2000), H. 4, S. 545–599. In seiner Tradition steht auch der fiktive Polarreisende Manzini, dessen Spuren sich ebenfalls in Spitzbergen verlieren. Vgl. Christoph Ransmayr: Die Schrecken des Eises und der Finsternis. Wien 1984 sowie dazu Inge Stephan: „Weiße Flecken“ und „schwarze Löcher“. Untergangs- und Auferstehungsszenarien heroischer Männlichkeit in Christoph Ransmayrs ‚Kältetexten‘ Die Schrecken des Eises und der Finsternis (1984) und Der fliegende Berg (2006). In: Vom Erhabenen und vom

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Inge Stephan

nimmt Parry, den wir schon von Friedrich kennen, einen Ehrenplatz ein. Andersch bezieht sich jedoch nicht auf dessen erste desaströse Fahrt von 1820/21, sondern auf die von 1827, von der Parry in seiner Narrative of an Attempt to Reach the North Pole (1828) berichtet hat. Von dieser Reise ist Andersch so fasziniert, dass er einen originalen Stahlstich aus dem Buch mit an Bord des Schiffes genommen hat. Wie diese Kostbarkeit in die Hände des Autors gelangt ist, bleibt sein Geheimnis (S. 85), das Bedauern, dass er „hundert Jahre zu spät auf die Welt gekommen“ (ebd.) ist, enthält er dem Leser jedoch nicht vor. Dieses Bedauern drückt sich in vielen Passagen des Reiseberichts aus, so zum Beispiel an einer Stelle, wo er Friedrich und Parry in einem Atemzug nennt: Was hat die Welt verloren, seitdem es keine Segelschiffe mehr gibt! Wenn man es genau wissen will, muß man sich Caspar David Friedrichs Hafen von Greifswald ansehen. Oder einfach nur eine der Gravüren in Captain Parrys Werk. Man soll dem Vergangenen nicht nachtrauern. Ich trauere dem Vergangenen nach. (S. 86)

Die Einsicht, dass auch die Zeit der Polarfahrten vorbei ist – „Wenn man es recht bedenkt, so sind in die Eiswüste um den Pol eigentlich nur ein paar Männer eingedrungen, und nur zwischen 1827 und 1909“ (S. 87) –, macht aus den Nachfahren nur noch peinliche Touristen: Jetzt liegt dort unten nicht mehr die „Hecla“ [Parrys Schiff; Anm. I.S.], nur noch die „Havella“. Auch die „Havella“ sieht aus wie ein Segelschiff, aber sie ist keines mehr, sondern ein kleiner Dieselkutter. Immerhin könnte sie mit ihren Segeln noch vorankommen, wenn die Maschine einmal ausfiele. Sie ist ein einsames Schiff in einem leeren Meer. Hier ist nichts mehr los. (ebd.)

Auch wenn Andersch in seiner „Typologie der Polarforschung“ (S. 143) auf manche Sonderlinge und Melancholiker hinweist, das Bild von Parry bleibt ungetrübt. Er und Nansen sind die beiden Heroen, die ihm am nächsten stehen. Ihre Bedeutung liegt für ihn darin, […] daß sie, indem sie ein paar historische Augenblicke lang die Grenze überschritten, gezeigt haben, wie unverletzbar der Raum jenseits der Grenze in Wirklichkeit ist. Sie haben kein Tabu gebrochen. Sie wollten in das letzte Geheimnis der Erde eindringen, gewiß, aber als sie feststellen, daß es aus einer weißen Endlosigkeit bestand und aus nichts sonst, daß es so wenig enthielt wie eine Cella, zogen sie sich schweigend zurück. (S. 118)

Das Bild der „weißen Endlosigkeit“ und die „Cella“ (lat. Teil des Tempels, der eigentlich das Kultbild enthält) markieren noch einmal die Bedeutung von Weiß für den Text. Es ist Ausgangs- und Schlusspunkt einer Suche, die zu keinem Ende kommt. Alfred Anderschs Reisebericht Hohe Breitengrade besteht aber nicht nur aus Wörtern und Sätzen, ihm sind in Anlehnung an Parrys Reisebericht 48 Farbtafeln beigegeben, die nach Aufnahmen von Gisela Andersch entstanden sind, die ihren Mann begleitet hat und unter dem Namen Åsa merkwürdig verschlüsselt und gleichzeitig überdeterminiert Komischen. Über eine prekäre Konstellation. Hrsg. von Hans Richard Brittnacher, Thomas Koebner. Würzburg 2010, S. 115–127.

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– als Figur des Nordens und Bezeichnung für Filmempfindlichkeit – im Text erscheint.49 Unter ihren Fotos sind für unseren Zusammenhang besonders die monochromen Weiß-in-Weiß-Bilder interessant.50 Ich konzentriere mich im Folgenden auf eine Farbfotografie, die auch als Titelbild fungiert (vgl. Abb. 18, Bildteil). Sie ist vom Eis her aufgenommen und zeigt die Havella an der Packeisgrenze. Die Blickrichtung ist dieselbe wie in Caspar David Friedrichs Bild, die „Konfliktstruktur“ ist jedoch entschärft. Wir sehen ein intaktes Schiff, das von frisch gefallenem Schnee überzogene Eis im Vordergrund wirkt ebenso wenig bedrohlich wie das graublaue Meer und der Himmel, die ineinander übergehen. Es ist ein Bild der Stille und Kälte, aus dem – trotz des Schiffes – das Leben entwichen scheint. In Anderschs Reisebericht wird nicht nur die Entstehung des Fotos (S. 108), sondern auch die Nachgeschichte erzählt: Nachdem Åsa aus der Perspektive der Eisküste das Schiff fotografiert hat, verliert sie bei einem Spaziergang in der weißen Wüste die „Orientierung“ (ebd.). Sie meint, sich in einem weißen Labyrinth zu befinden, aus dem es keinen Ausgang gibt. Erst als sie zwischen zwei Eisskulpturen die Spitzen des Großmastes der Havella sieht, findet sie den rettenden Weg zum Schiff zurück. Von dieser Erfahrung bleibt der Autor frei – er ist an Deck geblieben. In der nachträglichen Beschreibung werden solche elementaren Verunsicherungen durch das Weiß jedoch zu seinen eigenen. Auch eine weitere Gefährdung erlebt der Autor nur aus zweiter Hand: In der Nacht gerät die Havella in Treibeis. Der Kapitän, „der dafür bekannt ist, daß er niemals etwas riskierte“ (S. 135), kann der Versuchung nicht widerstehen, eine Umrundung der Parry-Insel zu wagen – vielleicht um Åsa zu imponieren, wie der Autor argwöhnt. Das Schiff, dessen Ende Caspar David Friedrich in seinem Gemälde festgehalten hat, gerät in eine bedrohliche Situation. Der Kapitän der Havella kann sich befreien, Åsa, die einzige, die das gefährliche Abenteuer miterlebt, macht eine an Novalis’ Eisphantasie erinnernde Erfahrung, die der „kalte Romantiker“ Andersch51 nachträglich in folgende Impression fasst:

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50

51

Gisela Andersch ist Malerin. Zu dem komplizierten Verhältnis des Künstlerehepaars finden sich viele Hinweise in der Biographie von Reinhardt (Anm. 45). Gisela Andersch hat zahlreiche Buchumschläge für die Werke ihres Mannes gestaltet, Alfred Andersch hat sie als Künstlerin in seiner Publikation Einige Zeichnungen (1977) gewürdigt. Vgl. das Foto von Gisela Andersch und die dazugehörige Stelle bei Alfred Andersch: „Dieser Bär wirkte besonders gelb, weil die Eisplatte hinter ihm aus irgendwelchen optisch-physikalischen Gründen so weiß war wie nur möglich. Sie war asymmetrisch zugeschnitten, weiß auf das Weiß der Ebene im Norden geklebt, eine monochrome Collage. (War Ben Nicholson hier gewesen?)“, S. 119. Ben Nicholson (1894–1982), britischer Maler und Objektkünstler, war in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts international sehr erfolgreich (Retrospektive 1955 in der Tate Gallery). Aufmerksamkeit erregten v. a. seine monochromen Collagen in Weiß, Grau und Schwarz. Vgl. Klaus Scherpe: „Schützt Humanismus denn vor gar nichts?“ Alfred Andersch im Kontext. In: Nachkriegsliteratur in Westdeutschland. Bd. 2: Autoren, Sprache, Traditionen. Hrsg. von Jost Hermand u. a. Berlin 1983, S. 6–27. Der Begriff ebd., S. 20.

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Åsa nahm wahr, wie sie unter dem noch immer blauen Himmel der arktischen Nacht zu Glas wurde. Sie fror nicht. Sie hielt sich jenseits des Gefühls auf, das man Kälte nennt. […] Entzückt betrachtete sie den Großmast und seine Takelung, der sich gleich ihr, mit Eis überzogen hatte. Die Gegenstände wurden zu reinen Formen. Metamorphose. Überzogen sein von einem Netz aus hexagonalen Symmetrien. Oder vielleicht nur von einer amorphen Masse, die durch Erstarrung einer Schmelze entsteht. Gläsern stehen, auf einem Schiff aus Glas, dachte Åsa. Niemals verwesen. Höchstens zerbrechen, wie Reisig. Oder wie Eis. (S. 134f.)

Ein anderes mystisch aufgeladenes Erlebnis aus dem Eismeer wird aus der Autorenperspektive wiedergegeben: Weiß dämmert die „Havella“ über dem weißen Feld zu Füßen des schwarzen Bergs der Parry-Insel. […] Die Farben der Welt sind blau, schwarz, weiß, golden. Die Welt ist aus Email, aus einer Glasmasse, die über Metall fließt. Nur gegen den Pol zu ist der Horizont dunkel. Einmal hebt eine Kugelrobbe ihren kleinen schwarzen glänzenden Kopf aus dem Wasser, taucht dann wieder weg. Ein winziges Plätschern. Lautlosigkeit. Nichts als hin und wieder ein sprödes Klingen, ein Klimpern. Das Eis klingelt. Luftbläschen im Eis platzen auf, wenn es schmilzt. Eine Eis-Zimbel. Oder: jemand rührt ganz vorsichtig an die hohen Register einer Celesta, und die Himmlische klingt. Man kann sie nur hören, wenn es ganz still ist. Es ist ganz still. Achtzig Grad fünfundvierzig Strich nördlicher Breite. (S. 140)

Der Ton der Erhabenheit ist unüberhörbar. Er scheint gesteigert durch die synästhetischen Empfindungen, in denen Farben und Töne eine harmonische Einheit bilden, die des Menschen nicht bedarf bzw. ihn nur als Zuschauer oder Zuhörer duldet. In seiner „Nachschrift oder Ästhetische Flaschenpost“ (S. 156–159) hat Andersch eine Botschaft hinterlassen, die der des namenlosen Kapitäns aus Friedrichs visionärem Bild gleicht, wo eine aufgeschlagene Seite des Logbuches den Hinweis auf „die außerordentlichsten Naturschauspiele“ enthalten sollte, „die sich der Mensch vorstellen könnte.“52 Auch Andersch ist von der Schönheit der Arktis überwältigt. Der absolute Gegensatz zwischen „Naturschönem“ und „Kunstschönem“, von dem Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik53 gesprochen hat, löst sich für ihn unter dem Eindruck seiner arktischen Reise auf. Wichtig ist es für Andersch, eine Sprache zu finden, welche die Wirkungen des Naturschönen auf den Betrachter beschreiben kann. In Carl von Linnés Lappländische[r] Reise (1732), in Alexander von Humboldts Ansichten der Natur (1808) und in Charles Darwins Reise eines Naturforschers um die Welt (1844) findet er Passagen, die ihm zeigen, dass es Autoren gibt, die sich „dem rein Phänomenalen ihrer Gegenstände gegenüber nicht sprachlos verhalten“ haben (S. 158). An einer anderen Stelle weist Andersch auf das Buch einer Autorin hin, die für ihn aber offensichtlich in einer anderen Liga spielt als Linné, Humboldt oder Darwin: In dieser Gegend, nur etwas weiter nördlich, am Gråkhugen, muß die Hütte des deutschen Jägers Karl Ritter gestanden haben. Seine Frau hat den Winter 1936 / 37 dort mit ihm verbracht, und die52 53

Vgl. Rautmann (Anm. 21), S. 19. Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik I. In: Ders.: Werke in 20 Bänden. Auf der Grundlage der Werke von 1832–1845. Hrsg. von Eva Moldenhauer, Karl Markus Michel. Frankfurt / M. 1970. Bd. 1, S. 127–385.

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sem Aufenthalt verdanken wir die einzige Schilderung der Form- und Lichtphänomene der Polarnacht, die wir besitzen (Christiane Ritter, Eine Frau erlebt die Polarnacht, Berlin, 1938). Was keiner der Forscher, Wissenschaftler, Groß-Touristen, auch Nansen nicht beschrieben hat – denn die Ästhetik gehört nicht zur Naturwissenschaft, die Form nicht zur Forschung –, das erfahren wir aus dem Buch dieser Frau: wie es sich anhört, wenn das Packeis auf die Küsten läuft, daß ein Blizzard sich anfühlt wie eine Schneewand, daß die Stunden nach einem solchen Schneesturm sich in den reinsten Tönen des Blaus abspielen. Zwar schwärmt diese Frau, aber sie schwärmt präzis. Wann wird einmal eine Geschichte der naiven Literatur geschrieben werden? (S. 56, 73)54

Dieser Reisebericht hat zahlreiche Neuauflagen erlebt55 und ist nicht zuletzt dadurch interessant, dass er auch Aquarelle und Federzeichnungen der Autorin enthält. Die Verbindung von Text und Bildern – ein Phänomen, das sich bei einer Vielzahl von Polarberichten findet – scheint darauf zu verweisen, dass die Autoren unter dem Eindruck „der außerordentlichsten Naturschauspiele“ ihre Wahrnehmungen doppelt einzufangen suchen. Text und Bild treten in einen gegenseitigen Beglaubigungszusammenhang, in dem die alte Laokoon-Kontroverse über das Verhältnis von Malerei und Dichtung in der Nachahmung der Natur aufscheint. Auch Anderschs Reisebericht setzt auf die Kombination von Text und Bild, wobei diese – anders als bei Ritter, die Autorin und Illustratorin in Personalunion ist – einer geschlechtsspezifischen Arbeitsteilung folgt: Andersch ist Wort-, seine Frau Bildkünstlerin. „Sie macht etwas im Raum, ich in der Zeit“,56 hat er über ihre ambitionierte, nicht immer spannungsfreie Partnerschaft geäußert. In seinem eigenen Reisebericht sind Andersch vor allem die Passagen sprachlich gelungen, wo er der Faszination nachspürt, die für ihn von endlosen, glänzend weißen Flächen ausgeht, und die Schwierigkeiten thematisiert, die ihm die Beschreibung der Farben bereitet.

IV. Diese Überlegungen wären unvollständig, wenn sie den Blick nicht auf das Bild Eis (1981) von Gerhard Richter lenken würden (vgl. Abb. 19, Bildteil). Die Maße (70 × 100 cm) sind etwas kleiner als die von Friedrichs Eismeer. Wie dieses ist es mit Öl auf Leinwand gemalt, aber es erinnert mehr an ein unscharfes Foto als an ein Gemälde. Es setzt sich bewusst ab von der fotorealistischen Genauigkeit, die den Vordergrund vom Eismeer prägt, wie auch von der Schärfe, um die sich Gisela Andersch als Fotografin in ihren Spitzbergen-Bildern bemüht hat. In Richters verschwommenem Bild, dessen Vorlage sich in seinem Atlas befindet, in dem er seit 1962 kontinuierlich 54 55

56

Der Seitensprung ergibt sich durch die dazwischengeschobenen Fotos von Gisela Andersch. Die 22. Auflage erschien 2009. Die verschiedenen Auflagen, die in der Anzahl der Aquarelle und Federzeichnungen differieren, enthalten unterschiedliche Nachworte der Verfasserin, die im Jahr 2000 im Alter von 103 Jahren verstorben ist. Vgl. die Biographie von Reinhardt (Anm. 45), S. 576.

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Inge Stephan

Fotos, Collagen und Skizzen sammelt,57 gibt es keine Erinnerung an Menschliches mehr, weder ein intaktes noch ein zerborstenes Schiff deuten auf Lebendiges oder ehemals Lebendiges. Richters Bild ist völlig von Menschen und Gegenständen entleert, das leuchtende Blau des Himmels bei Caspar David Friedrich ist einer milchig graubraunen Fläche gewichen, in der Himmel und Erde verschmelzen. Der Betrachter schaut von einer erhöhten Perspektive auf die Szene, die vom Maler wie ein willkürlich anmutender Ausschnitt präsentiert wird. Das auf der Mittellinie schwimmende Treibeis und die bläulichweißen, flottierenden Eisberge sind anders angeordnet als bei Friedrich. Im Hintergrund erkennen wir zwei kompakte Eisschollen, im Vordergrund zwei kleinere wolkige Eisformationen, deren Schatten sich im Meer auflösen. Das Weiß auf dem Bild ist matt und gedämpft, es fehlt an Licht, das es zum Glänzen und Gleißen bringen könnte. Man zögert, von einer Weißin-Weiß-Malerei zu sprechen, dafür ist das Weiß durch Grau-, Ocker- und Blautöne zu deutlich in seiner Klarheit und Leuchtkraft gebrochen. Dem Bild fehlt – trotz seiner Stille – die erhabene Dimension. Vom Eis geht kein Schrecken aus. Statt eine heroische arktische Landschaft zu beschwören, konzentriert sich Richter ganz auf das Farbenspiel des Eises und befreit auf diese Weise das Weiß aus dem überdeterminierten Bedeutungsgefüge, in das es Jahrhunderte eingezwängt gewesen ist. Damit markiert das Bild einen Abschied vom aufklärerischen Diskurs über das Erhabene ebenso wie vom arktischen Diskurs, in dem das Weiße, Reine, Absolute und Heroische eine problematische Allianz eingegangen sind.

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Vgl. Gerhard Richter: Atlas. Hrsg. von Helmut Friedel. Köln 2006. Das Foto ist Teil der GrönlandSerie (1972) und befindet sich auf der Seite 359 oben in der Mitte. Die Grönland-Fotos wurden erstmals in dem Fotoband Eis (1981) veröffentlicht und malerisch bearbeitet. Siehe auch den Band: Gerhard Richter: Eis. Köln 2011, der einen Lexikon-Artikel über Grönland aus der Allgemeinen Enzyklopädie der Wissenschaften und Künste (1871) mit den Grönland-Fotos in einer bizarr anmutenden Weise verschränkt.

Jörg Döring

Die Farben der Landkarten

Landkarten sind nicht zuletzt ein Bild gebendes Medium. Deshalb sind ihre Farben (sofern wir es mit kolorierten Landkarten zu tun haben) nicht eingebildet, sondern sichtbar. Wohl aber sind die Welten, besser gesagt: die Weltausschnitte und Weltoberflächenbeschreibungen, die in Landkarten zur Darstellung kommen, in bestimmter Hinsicht auch imaginierte Welten wie die imaginierten Welten aus Literatur und Kunst. Landkarten sind in ihrem Weltzugriff konstitutiv in aller Regel referentieller als andere Bildmedien, aber weil keine Karte ihren Referent so zeigen kann wie er ist, sondern sich immer für eine spezifische Form der Reduktion räumlicher Komplexität entscheiden muss, verhandelt sie in dieser Wahl stets einen Aspekt der (niemals alternativlosen) Vorstellbarkeit von Welt.1 Die Farbgebung der Landkarte ist dabei ein Parameter unter anderen, der deren Lesbarkeit und Funktionalität mit restringiert. Und gerade weil die Landkarten besonders wirkmächtige Weltbilder bereitstellen, erscheint eine kulturwissenschaftliche Analyse ihres Farbengebrauchs auch im Kontext der Farbdiskurse von Literatur und Kunst – wie im vorliegenden Band – nicht deplaciert. In drei Schritten möchte ich mich diesem Thema annähern. Zunächst soll ein kurzer Rückblick der Frage gelten, wie die Landkarten ganz allgemein – nicht nur ihre Farbverwendung – zum Gegenstand der Kulturwissenschaften werden konnten. Warum und seit wann also Landkarten nicht länger nur in hilfswissenschaftlichem Sinne für Historiker bzw. nur in praktischer Hinsicht für Geographen und Kartographen von Interesse sind (i). Sodann soll in einer lockeren diachronen Reihe am Beispiel ausgewählter Einzelfälle – von den Weltkarten des Mittelalters bis zu heutigen Autoatlanten – die Farbgestaltung in der analogen Kartographie (zunächst auf Tierhäuten, Pergament, später überwiegend auf Papier als Trägerschicht) vorgestellt und erörtert werden (ii). Seit dem digitalen Medienumbruch um 2000 entwickeln sich mittlerweile auch farbliche Darstellungskonventionen für digitale Karten bzw. kartenverwandte rechnergestützte Geovisualisierungen – wie z. B. für die populäre Globalraumsimulation des Geobrowsers Google Earth – die auch imaginativ die Raumbilder der alten Globen und Atlanten zu 1

Vgl. dazu die berühmte erzählerische Phantasie von Jorge-Luis Borges Über die Strenge der Wissenschaft (1961) über die einzig denkmögliche nicht-reduktive Karte im utopisch-genauen Maßstab von 1:1 – eine Karte, so groß wie die Welt selber (die aber damit vollständig funktionslos wäre). In: Ders.: Borges und ich. Gesammelte Werke. Bd. 6. München 1982, S. 85–97.

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Jörg Döring

beerben begonnen haben. Auch bei diesen gegenwärtigen Geovisualisierungen haben Farben ihren Anteil an der Produktion zeitspezifischer Weltbilder (iii). Die Kernthese, die hier vor allem in den Abschnitten (ii) und (iii) diskutiert werden soll, richtet sich gegen ein lange Zeit sehr stabiles Narrativ der Kartographiegeschichte und seine Konsequenzen für die Interpretation des Farbgebrauchs in der Landkarte. Dieses Narrativ teilt die Geschichte der Kartographie in zwei deutlich geschiedene Phasen: einerseits die so genannte vorwissenschaftliche Phase der Kartographie vor 1800, in der die Landkarten – aufgrund ihrer aus heutiger Sicht mangelnden Präzision – nur mehr vor allem als ästhetische bzw. historische Gegenstände angesehen werden; andererseits die wissenschaftliche Phase der Kartographie seit den großen nationalstaatlichen Vermessungsunternehmungen des 18. Jahrhunderts bis heute, in der die Karten aufhörten, schön zu sein, stattdessen nur immer genauer und damit erst im wissenschaftlichen Sinne gegenstandsadäquat werden.2 Diese dominant fortschrittsgeschichtliche Verlaufskonstruktion schließt Annahmen über die Farbsemantik der Landkarten mit ein. In der vorwissenschaftlichen Phase der Kartographie sei der Farbgebrauch vor allem topischen oder dekorativen Zwecken unterworfen gewesen. Die Farben der Karten konnten z. B. eine heilsgeschichtliche Symbolik zum Ausdruck bringen oder aber die natürlichen Farben des Raumausschnitts, der in ihnen zur Darstellung kommen sollte, besonders wirkungsvoll nachahmen. Mit den Begriffen der Peirceschen Zeichentypologie gesprochen: der Bezug des Kartenzeichens Farbe zu seinem Objekt, dem dargestellten Raumausschnitt, sei entweder als ein symbolischer, d. h. nur auf kultureller Konvention beruhender, oder bestenfalls als ein ikonischer angesehen worden, d. h. als eine Relation der Ähnlichkeit der Kartenfarbe mit ihrem Objekt, darstellbar mit Hilfe einer referentiellen Farbsemantik. Demgegenüber sei die wissenschaftliche Phase der Kartographie bis heute sinnvollerweise durch eine vor allem differentielle Farbsemantik gekennzeichnet. Die Kartenfarben würden gewählt einzig zur besseren farblichen Absetzung verschiedener Typen von Rauminformation. Sie sollen Lesbarkeit und Präzision der Kartenaussage erhöhen und seien daher symbolisch nur in ihrer Arbitrarität, d. h. ohne Rücksicht auf die Natürlichkeit ihrer Farbzeichen, organisiert.3 Differentiell heißt hier, dass die Bedeutungsqualität des einzelnen Farbzeichens nur in seiner Relation (bzw. Differenz) zu allen anderen von der Karte benutzten Farbzeichen verständlich

2

3

Vgl. u. a. Georges Grosjean, Rudolf Kinauer: Kartenkunst und Kartentechnik. Vom Altertum bis zum Barock. Bern / Stuttgart 1970, S. 5; Gerald R. Crone: Maps and their Makers. An Introduction to the History of Cartography. 5London 1978. Vgl. Arthur Robinson: Psychological Aspects of Color in Cartography. In: International Yearbook of Cartography 7 (1967), S. 50–61; Janet Mersey: Colour and Thematic Map Design. The Role of Colour Scheme and Map Complexity in Choropleth Map Communication. In: Cartographica 27 (1990), Nr. 3, S. 1–138; Gerald Fremlin, Arthur Robinson: The Imagery of Topographical Maps. In: Dies.: Maps as mediated seeing. Cartographica 35 (1998), Band 1/2, S. 37–54. Vgl. auch Winfried Nöth: Landkarten. In: Ders.: Handbuch der Semiotik. 2Stuttgart / Weimar 2000. S. 490.

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werde.4 Demgegenüber sollen die hier diskutierten Kartenbeispiele verdeutlichen, dass im Hinblick auf die Farbgestaltung der Landkarten dieses schlicht-optimistische Fortschrittsmodell – von dekorativ zu szientifisch, von referentiell zu differentiell – seinerseits nicht präzise genug ist. Die je historisch-konkrete Realität der Landkarten zeigt immer schon beides: sowohl Ansätze einer differentiellen Farbsemantik auch schon in der vorwissenschaftlichen Phase der Kartographie, als auch Restbestände einer referentiellen Farbsemantik in der wissenschaftlichen Kartographie bis heute. Denn das ist die Lektion der kulturwissenschaftlichen Problematisierung von Landkarten gerade nach deren Verwissenschaftlichung: Es gibt bis heute keine unschuldige Objektivität der Landkarte. Die vorwissenschaftlichen Karten sind Lesbarkeits- und Präzisionserfordernissen ebenso unterworfen wie die wissenschaftlichen Karten sich dekorativ-ästhetischer Elemente bedienen. Das gehört mit zu dem Überredungszusammenhang, den Landkarten entbergen, wenn man sie auch in rhetorischer Hinsicht zu lesen versteht als eine „dichte Beschreibung“ (Clifford Geertz) des Raumes. Zu studieren wäre dieser Überredungszusammenhang hier am Beispiel der Kartenfarben.

I. Das Interesse der Kulturwissenschaft für die Landkarten begann um 1990 mit der breiteren Rezeption von Texten aus der Critical Cartography, einer eher losen Formation v. a. angelsächsischer Kulturgeographen und Kartographiehistoriker, die erstmals das bis dahin unbestrittene Fortschrittsnarrativ innerhalb der Kartographiegeschichte in Frage stellte. Zu den bekannteren unter ihnen zählen etwa David Woodward, John Brian Harley, John Pickles, Denis Wood, John Fels, Mark Monmonier oder Denis Cosgrove.5 4

5

Vgl. Eva Waniek: Zur Unterscheidung einer referentiellen und differentiellen Bedeutungsauffassung am Beispiel Gottlob Freges und Ferdinand de Saussures. In: Die Zukunft des Wissens. XVIII. Deutscher Kongreß für Philosophie Konstanz 1999. Hrsg. von Jürgen Mittelstraß. Konstanz 1999, S. 710–716. David Woodward: Art and Cartography. Six historical Essays. Chicago 1987; ders., John B. Harley: The History of Cartography (insgesamt 8 Bände, 5 mittlerw. erschienen). Chicago 1987ff.; John B. Harley: Maps, Knowledge, and Power. In: The Iconography of Landscape. Essays on the Symbolic Representation, Design, and Use of Past Environments. Hrsg. von Denis Cosgrove, Stephen Daniels. Cambridge 1988, S. 277–312; ders.: Deconstructing the Map. In: Cartographica 26 (1989), Bd. 2, S. 1–20; John Pickles: Text, Hermeneutics and Propaganda Maps. In: Trevor J. Barnes, James S. Duncan: Writing Worlds. Discourse, Text and Metaphor in the Representation of Landscape. London / New York 1992, S. 190–213; ders.: A History of Spaces. Cartographic Reason. Mapping and the Geocoded World. London / New York 2004; Denis Wood: How Maps work. In: Cartographica 29 (1992), Bd. 3, S. 66–74; ders., John Fels: The Power of Maps. New York 1992; Mark Monmonier: Eins zu einer Million. Die Tricks der Kartographen [zuerst in Engl.: 1991]. Basel [u. a.] 1996; Denis Cosgrove: Mappings. London 1999. Allg. einführend: Jeremy Crampton, John Krygier: An Introduction to Critical Cartography. In: ACME: An International E-Journal for Critical Geographies 4 (2006), Bd. 1, S. 11–33.

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Jörg Döring

Die kartographischen Zeugnisse aus der vorwissenschaftlichen Zeit – so die Autoren der Critical Cartography – könnten keineswegs allein daran gemessen werden, wie genau, wie gut, wie adäquat sie bereits den euklidischen Raum zu repräsentieren in der Lage sind – auf dem Weg hin zu seiner wissenschaftlich-exakten Darstellung. Mit dem euklidischen Raum ist dabei aus Sicht der fortschrittsgläubigen wissenschaftlichen Kartographie an einen physikalisch-abstrakten Containerraum gedacht, der dadurch gekennzeichnet sei, dass in ihm jedes Element seine klar definierte Raumstelle aufweist, folglich nicht zwei Elemente denselben Raum beanspruchen können. Aus dieser Sicht mussten z. B. die mappae mundi des Mittelalters – wie die Ebstorfer Weltkarte (um 1240, Abb. a) – als naive, geographisch falsche, mindestens stark defizitäre Darstellung der Erdoberfläche angesehen werden.

Abb. a: Die Ebstorfer Weltkarte (um 1240), in: Ute Schneider: Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute. Darmstadt 2004, S. 24f.

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Und nur in dieser ihrer Differenz zu einer angemessenen kartographischen Repräsentation erschienen der älteren Kartographiehistorie solche Karten erklärungsbedürftig: was bedeutet es, wenn die Erdkugel hier auf eine Fläche projiziert erscheint, die vom Meer umflossen wird? Wenn die Erdgestalt als der Leib Christi figuriert, sein Kopf und seine Glieder figürlich als Teil des Kartenrandes gegeben sind und die Flüsse und Meere gleichsam als Christi Leibinneres, seine Lebensadern erscheinen? Was bedeutet die Zentralität des Toponyms Jerusalem, dargestellt mit goldenen Mauern, was die Ostausrichtung der Karte? Welche Rückschlüsse auf die Provenienz der Karte lässt die anteilsmäßige Dominanz norddeutscher Toponyme zu? Und ihrer heilsgeschichtlichen Symbolik zum Trotz, beansprucht der Kartenautor in seinem Legendentext, seine Karte gebe das versammelte geographische Wissen aus römischen Itineraren wieder und sei von Nutzen nicht nur für Lesende, sondern weise auch Reisenden die Richtung.6 Gemessen am Telos der modernen Geodäsie, ist es gerade diese offenkundig beschränkte praktische Funktionalität der vormodernen Karten, die das Interesse der älteren Kartographiehistorie weckte. Demgegenüber arbeitete die Critical Cartography die per se weltbilderzeugende Macht der Kartographie heraus – auch und vor allem nach deren Verwissenschaftlichung, weil hier sich die Kartenaussage leicht hinter der vermeintlichen Objektivität oder Neutralität einer präzisen Erdbeschreibung verbergen ließ. Besonders gut lässt sich diese These am Beispiel der geopolitischen Propagandakarten des frühen 20. Jahrhunderts veranschaulichen. In vielen deutschen Erdkundebüchern für den Schulunterricht der Zwischenkriegszeit fand sich die Karte Der deutsche Volksund Kulturboden von Albrecht Penck und Arnold Hillen Ziegfeld (vgl. Abb. b)7. Obwohl die Landmassenumrisse Mittel- und Osteuropas hier fraglos topographisch korrekt wiedergegeben sind, ist die ethnopolitische Aussage dieser Karte sofort augenfällig. Gegen das „Diktat“ der Versailler Staatsgrenzen von 1918 beharrt sie auf der Ausdehnung deutschen „Volks- und Kulturbodens“ im Osten und plädiert für eine erdkundliche Bevorrechtigung der „natürlichen Landschaft“ vor den willkürlichen, veränderlichen Staatsgrenzen. Das Volk ist noch da, aber der Raum fehlt. Schraffiert eingezeichnet ist eine so genannte „Siedlungsbrücke im Osten“, so als sei dort die polnische, weißrussische, tschechische Bevölkerung nicht-existent. Gerade in der strikten Reduk6

7

„que scilicet non parvum prestat legentibus utilitatem, viantibus directionem rerumque viarum gratissime speculationis di[l]ectionem.“ Zit. n.: Konrad Miller: Mappaemundi. Die ältesten Weltkarten. H. 5. Stuttgart 1896, S. 8. Vgl. auch die Interpretation dieser vieldiskutierten Passage bei Cornelia Herberichs: Zur Lesbarkeit der Ebstorfer Weltkarte. In: Text-Bild-Karte. Kartographien der Vormoderne. Hrsg. von Jürg Glauser, Christian Kiening. Freiburg 2007, S. 201–217, hier S. 212ff. In: Karl Christian von Loesch: Volk unter Völkern. Bücher des Deutschtums. Bd. 1. Breslau 1925, S. 62–73 u. Karte. Vgl. auch: Michael Fahlbusch: Wissenschaft im Dienst der nationalsozialistischen Politik. Die „Volksdeutschen Forschungsgemeinschaften“ von 1931–1945. Baden-Baden 1999; Hans-Dietrich Schultz: Sie wußten, was sie taten! Die propagandistische „Kraft der Karte“ in der deutschen Schulgeographie der Zwischenkriegszeit. In: Visualisierung des Raumes. Karten machen – Macht der Karten. Forum Leibniz-Institut f. Länderkunde. Hrsg. von Sabine Tzschaschel, Holger Wild, Sebastian Lentz. Leipzig 2007, S. 13–37.

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Abb. b: Der deutsche Volks- und Kulturboden von Albrecht Penck und Arnold Hillen Ziegfeld, in: Hans-Dietrich Schultz: Sie wußten, was sie taten! Die propagandistische „Kraft der Karte“ in der deutschen Schulgeographie der Zwischenkriegszeit. In: Sabine Tzschaschel / Holger Wild / Sebastian Lentz (Hrsg.): Visualisierung des Raumes. Karten machen – Macht der Karten. Forum Leibniz-Institut f. Länderkunde, Leipzig 2007, S. 13–37, hier S. 25.

tion ihrer räumlichen Parameter verrät die Karte ihre politische Botschaft, soll sich ihre weltbilderzeugende Kraft entfalten. Der Kartenautor Hillen Zeigfeld hielt seine Karte für den schulischen Einsatz für „ungemein wertvoll“, denn sie vermittele den „Eindruck einer verschwenderischen Kraftfülle unseres Volkes, das in seinen Westlanden durch Natur und fremdes Machtaufgebot zum Stillstand gezwungen, nun seinen ganzen Besitz an körperlichem und geistigem Gut nach Osten“ ausgestreut habe.8 Nicht nur im Schulunterricht waren diese Karten bedeutsam; die revisionistische deutsche Kulturraumpolitik berief sich gerne auf sie, weil sie hier ihre Gebietsansprüche mit Hilfe der wissenschaftlichen Kartographie untermauert sah. Dass solche Karten nicht neutral und

8

Zit. n. Schultz (Anm. 7), S. 24f.

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objektiv sind, versteht sich leicht (obwohl die Zuarbeit deutscher Geographen und Kartographen für die nationalsozialistische Großraumpolitik von der Fachdisziplin lange Zeit geleugnet wurde).9 Anders sieht es aus z. B. mit dem Kartenbild eines Falk-Stadtplans der Stadt Siegen von 2004 (vgl. Abb. c).

Abb. c: Kartenbild eines Falk-Stadtplans der Stadt Siegen von 2004, in: Falk-Stadtplan Siegen. Mit Ortsteilen von Netphen. Ostfildern 2004.

9

Vgl. Michael Fahlbusch: Die verlorene Ehre der deutschen Geographie. In: Frankfurter Rundschau vom 2. Oktober 1999.

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Unsere Gewöhnung an diese ständig verfügbaren und vielbenutzten Alltagskarten trägt dazu bei, dass wir geneigt sind, sie tatsächlich für eine neutrale Form des geographischen Wissens zu halten. Und dabei vergessen, dass auch solche unscheinbaren Karten persuasiv kommunizieren durch die Wahl ihrer kartographischen Darstellungsmittel: durch die Auswahl der gezeigten Gegenstände, durch die Größe ihrer Symbole, durch die Dicke ihrer Linien, durch ihre Buchstabengrößen, durch ihre Emblematik, Dekoration und die Auszeichnung ihrer je spezifischen points of interest. J. B. Harley, der von der Kulturwissenschaft bis heute meistrezipierte Autor der Critical Cartography, behauptet: Much of the power of the map, as a representation of social geography, is that it operates behind a mask of a seemingly neutral science. It hides and denies its social dimensions at the same time as it legitimates. Yet whichever way we look at it the rules of society will surface.10

Welche Regeln der Gesellschaft gibt nun der Falk-Stadtplan von Siegen 2004 zu erkennen? Zunächst fällt auf, dass für den Karteninhalt die Verkehrswege offenbar weit wichtiger genommen werden als die Geländedarstellung. Das teils markante Höhenprofil der Siegener Innenstadt, das für einen Fußgänger durchaus relevant sein könnte, kommt in dieser Karte nicht zur Darstellung. Es gibt keine Höhenlinien, keine Bergstriche oder Böschungsschraffen: alles Auszeichnungsformen der Geländedarstellung in zeitgenössischen topographischen Karten. Stattdessen wird mit Hilfe von Schriftgrößen und Liniendicke mehrstufig differenziert zwischen Haupt-, Nebenstraßen und Autobahn. Das markanteste (weil farblich hervorgehobene und am häufigsten verzeichnete Legendensymbol) ist das (blaue) Parkplatzzeichen. Demgegenüber sind andere points of interest wie das Rathaus, Schloss, Museen, Schulen oder militärische Standorte nicht symbolisch verzeichnet, sondern nur als Aufsicht des Gebäudeumrisses gegeben und kursiv beschriftet. Dabei fällt die Schrift halbfett und kleiner aus, gegenüber den vollgefetteten unterschiedlich großen Straßenbezeichnungen. Offenbar denkt die Karte vorrangig an einen mobilisierten Nutzer, sie handelt von dem Vorrecht von Straße und Erschließung gegenüber anderen möglichen Formen der Rauminformation. Das kann man durchaus als eine Regel der Gesellschaft, in der Karten solchen Typs benutzt werden, bezeichnen. Die einzigen Orte, die so wie die Parkplätze auch durch ein eigenes Legendensymbol ausgezeichnet werden, sind Postämter, Krankenhäuser und eine Feuerwehrstation: Infrastrukturen der Alltags- sowie der Krisen- und Notfallkommunikation. Mit der Critical Cartography ließe sich sagen: der Falkplan situiert seine Nutzer vorrangig als für den Notfall gerüstete Verkehrsteilnehmer. Es sind solche unscheinbaren, in unserer Nutzerwahrnehmung gleichsam normalisierte Kartenkonventionen, für die die Analysepraxis der Critical Cartography sensibilisiert: z. B. die Weltbild-stiftende Macht der Nordung der Karte. Sie ist so prägend für 10

Harley 1989 (Anm. 5), S. 7. Vgl. dazu auch einen Klassiker der Critical Cartography: die Interpretation einer Straßenkarte – in diesem Falle der „Official State Highway Map of South Carolina, Ed. 1978 / 79“ – bei Denis Wood, John Fels: Designs on Signs. Myth and Meaning in Maps. In: Cartographica 23 (1986), Bd. 3, S. 54–103.

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unser Vermögen, Karten zu lesen – die so genannte cartoliteracy – dass von den geosteten oder gesüdeten Karten des Mittelalters ein zunächst großes Irritationspotential ausgeht (vgl. Abb. d).

Abb. d: Pilgerkarte von Giraldus Cambrensius (um 1200), in: Das Buch der Karten. Meilensteine der Kartografie aus drei Jahrtausenden. Hrsg. von Peter Barber. Darmstadt 2006, S. 53.

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Die Welt scheint uns auf dem Kopf zu stehen. Rom, das Pilgerziel, steht an der Kartenspitze, und optisch in gerader Linie nach unten durchquert das Auge des Kartenlesers Italien, Frankreich, Flandern, Britannien bis nach Irland, wobei die Landmassengrenze nicht gleichbedeutend ist mit dem Rand der Karte. Das ganze untere Viertel der Karte hat der Kartenmacher der Darstellung des (flaschengrünen) Atlantikwassers vorbehalten. Für uns als Kartenleser zeitigt die Irritation durch den Konventionsbruch allerdings auch Beobachtungsgewinne. Weil unser normalisiertes Kartenverständnis suspendiert ist, entziffern wir die Karte – anders als etwa einen Shell-Autoatlas oder das Display unseres Autonavigationsgerätes – sofort mit allergrößter Aufmerksamkeit. Die Critical Cartography will aber vor allem auf die Macht solcher vermeintlich unscheinbarer Karten aufmerksam machen, deshalb finden sich hier vergleichsweise wenige Kartenanalysen aus der Zeit der vorwissenschaftlichen Kartographie. Anhand einer prägnanten, heute immer noch gültigen Definition der Landkarte aus dem Jahr 1968 lässt sich zeigen, dass jede ihrer Bestimmungen zum Einfallstor gegebenenfalls machtvoller Normalisierungen werden kann (aus denen dann Weltbilder hervorgehen). Der Schweizer Kartograph Eduard Imhof bezeichnete Karten als „verkleinerte, vereinfachte, inhaltlich ergänzte und erläuterte Grundrissbilder der Erdoberfläche oder von Teilen derselben.“11 Jede Karte stellt ihre Landschaft zunächst verkleinert dar. Die erste Wahl eines Kartenmachers besteht in der Festlegung des Maßstabes – also des Maßes dieser Verkleinerungsoperation. Will er ein kleines Gebiet darstellen, dafür aber genauer, wählt er einen großen Maßstab. Will er ein großes Gebiet übersichtlich machen, wählt er einen kleinen Maßstab und verzichtet damit auf Genauigkeit. Dem Bestimmungsmerkmal Verkleinerung entspricht komplementär die Vereinfachung. Der Kartenmacher muss immer aus der Totalität räumlicher Elemente der Erdoberfläche eine Auswahl treffen, die er zu Parametern seiner Karte erhebt. Für die Totalität an verfügbarer räumlicher Information fehlt es ihm infolge der notwendigen Verkleinerung schlicht an Darstellungsfläche. Die Wahl des einen Maßstabs und die Selektion bestimmter Rauminformation sind damit immer gleichbedeutend mit einer Entscheidung gegen alle anderen Formen von Verkleinerung und Vereinfachung. Diese Auswahlentscheidungen bestimmen über die Kartenaussage. Anders gesagt: die Rhetorik einer Karte bemisst sich nicht zuletzt daran, welche räumliche Information sie gerade vorenthält. Jede Karte – das lehrt die Critical Cartography – hat auch ihr spezifisches Schweigen. Mark Monmonier bringt es auf die drastische Formel: „Eine gute Karte beschönigt oder verschweigt die Wahrheit, um es dem Kartenbenutzer zu erleichtern, das Wichtigste zu erkennen […]“12 – das Wichtigste aus Sicht des Kartenmachers freilich. Zum Geschäft dieser Vereinfachung gehört auch, was die Kartographie Generalisierung nennt: aus vielgestaltigen Gebäudeformen macht die Karte ein einfaches Rechteck, aus dem Flussmäander eine Kurve, aus Straßenkurven einen Strich: je nach Maßstab. Die Vereinfachung besteht also immer auch aus Typisierung, Stilisierung und 11 12

Zit. n. Wolfram Schwieder: Richtig Kartenlesen. 2Bielefeld 2001, S. 15. Monmonier (Anm. 5), S. 45.

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Abb. e: Liniennetzplan der Londoner Untergrundbahn von Henry Beck aus dem Jahr 1933, in: Das Buch der Karten. Meilensteine der Kartografie aus drei Jahrtausenden. Hrsg. von Peter Barber. Darmstadt 2006, S. 321.

Begradigung. Ein besonders eindrucksvolles Beispiel dafür ist der Liniennetzplan der Londoner Untergrundbahn von Henry Beck aus dem Jahr 1933 (vgl. Abb. e), der bis heute das Vorbild aller Karten metropolitaner Nahverkehrsverbünde auf der ganzen Welt geblieben ist. Das „Wichtigste“ aus Sicht von Beck für den U-Bahn-Nutzer sei nicht die exakte Wiedergabe der Entfernung zwischen zwei Stationen und auch nicht die „Wahrheit“ der Geografie Londons. Das „Wichtigste“ sei die Funktionalität der Karte in Bezug auf die Orientierung des Nutzers im Verkehrssystem: wo bin ich in etwa, wo will ich hin, wo muss ich dafür umsteigen? Das erdräumliche Bild Londons wird auf den begradigten Themsefluss reduziert. Ansonsten zeigt die Karte in ihrer radikalen Selektion räumlicher Information nur die ebenfalls begradigten (und farblich abgesetzten) Linien des Nahverkehrssystems mit ihren toponymisch adressierten Haltestellen in relativer Lage zueinander. Die Funktionalität der Karte wird durch eine grafische Klarheit erreicht, die bewusst auf Kosten der geographischen Genauigkeit geht. Wegen der Konsequenz seiner Generalisierung hat man Becks Plan bisweilen sogar das Kartographische abgesprochen: man bezeichnet ihn eher als topologische oder diagrammatische Karte, häufiger noch: als Kartogramm. Dabei generalisiert jede Karte, nur nicht so auffällig wie in

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Abb. f: Mercator-Projektion von 1569, in: www.wikimedia.com, Suchbegriff: Mercatorprojektion, Bildnummer: 20060918193221 (eingesehen am 23.10.2011).

Becks U-Bahn-Plan.13 Und jede Karte verzerrt auch konstitutiv den Raum, den sie darstellt: das verbirgt sich hinter Imhofs Bestimmung von den „Grundrissbildern der Erdoberfläche oder von Teilen derselben.“ Die (Papier-)karte ist notwendig zweidimensional, referiert aber auf ein dreidimensionales, gekrümmtes Gebilde, die Erdkugel. Eine Kugeloberfläche aber lässt sich nicht verzerrungsfrei auf eine Ebene projizieren. Deshalb muss sich der Kartenmacher für eine Projektionsart entscheiden: entweder er projiziert winkeltreu. Dann entspricht ein rechter Winkel auf der Erdoberfläche auch einem rechten Winkel auf der Karte, aber sie ist nicht flächentreu. Oder der Kartenmacher projiziert flächentreu. Dann sind gleich große Flächen auf der Erdkugel auf der Karte auch gleich groß dargestellt, aber die Karte verliert an Winkeltreue. Auch die beste Karte der wissenschaftlichen Kartographie muss sich für eine Form der Verzerrung entscheiden.14 Insbesondere bei den Weltkarten wird die weltbilderzeugende Macht der 13

14

Meine Interpretation folgt hier: Karl Schlögel: Sprache der Karten, Kartensprachen. In: Ders.: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München / Wien 2003, S. 96–107, hier S. 102ff. Außeracht gelassen werden hier weitere kartographische Projektionsarten wie z. B. die Azimutalprojektion. Jede von Ihnen handelt sich das beschriebene Verzerrungsproblem ein. Mit der Wahl

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Abb. g: Die Gall-Peters Projektion, in: www.wikimedia.com, Suchbegriff: Gall-Peters-Projektion, Bildnummer: 0CGQQ9QEwAg&dur=347 (eingesehen am 23.10.2011)

gewählten Projektionsart sinnfällig. Das Weltbild der Tagesschau z. B. – und damit nicht nur ihres – war lange Zeit geprägt durch die so genannte Mercator-Projektion von 1569 (vgl. Abb. f). Mercator entschied sich für die winkeltreue Zylinder-Projektion, weil Winkeltreue der Karte eine Voraussetzung für die Schifffahrtsnavigation ist und er sich erhoffte, die Seefahrer der Frühen Neuzeit würden seine Weltkarte mit auf See nehmen (was sie kaum taten, weil die Karte viel zu kostbar war). Die Zylinderprojektion hat zur Folge, dass die Karte in Äquatornähe relativ genau ist, dafür aber in Richtung der Pole große Verzerrungen in Kauf nehmen muss. Grönland erscheint in der Mercator-Projektion etwa genauso groß wie Afrika, dabei ist Afrika flächenmäßig etwa 15mal größer als Grönland. Vielleicht war deshalb die Mercator-Projektion in der nördlichen Hemisphäre so lange populär (und damit weltbild-stiftend), weil sie den Norden optisch privilegiert. Das führte in den 1970er Jahren zu einer Ideologiekritik der Projektionsarten und mündete in das Gegenweltbild der so genannten Gall-Peters-Projektion (vgl. Abb. g). Der deutsche Historiker (!) Arno Peters entschied sich gegen Mercator für eine 1855 von dem schottischen Kleriker James Gall entwickelte orthografische Projektionsart und popularisierte sie als counter-cartography: als politisches Instrument im Meinungsfür eine Projektionsart entscheidet sich der Kartenmacher nur zwischen unterschiedlichen Verzerrungsformen.

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kampf um die Belange der Dritten Welt. Die Gall-Peters-Projektion setzt auf Flächentreue und erzeugt damit im Ergebnis tatsächlich ein völlig anderes Bild von der Erde als ganzer: Afrika – der Süden, die Dritte Welt – erscheint endlich zu seiner wahren Flächengröße (im Verhältnis zu den mächtigen Ländern des Nordens) aufgewertet und Britannien ins rechte Größenverhältnis zu seiner ehemaligen Kolonie Indien gesetzt – dies aber auf Kosten der Winkeltreue des Kartenbildes. Die Peters-Projektion wird heute von der UNESCO propagiert und gilt als die politisch-korrekte Karte der Welt. Die Tagesschau heute benutzt zwar nicht die Peters-Projektion für ihre Weltkarten, hat aber die Mercator-Projektion immerhin zugunsten eines etwas flächentreueren Weltbildes aufgegeben.15 Aus Imhofs Kartendefinition fehlen uns jetzt nur noch die Bestimmungen „inhaltlich ergänzte oder erläuterte“ Grundrissbilder der Erdoberfläche: hiermit ist auf die Unterscheidung topographischer von thematischen Karten abgehoben. Während sich topographische Karten auf die Darstellung der Erdoberfläche mit ihren sichtbaren Objekten konzentrieren, kann sich die thematische Karte für die Darstellung selbstbestimmter (auch nicht-sichtbarer) Themen entscheiden. Die thematische Karte exponiert mithin die räumliche Verteilung eines oder mehrerer selbst gewählter Gegenstände, indem diese auf einer topographischen Grundkarte eintragen werden. Die Tiefe an topographischer Rauminformation der Grundkarte ist dabei stark abhängig von der Aussageabsicht der thematischen Karte. Pencks Kulturboden-Karte wäre ein Beispiel für eine thematische Karte mit topographisch stark reduzierter Grundkarte. Weil diese geopolitische Karte allein die flächenmäßige Ausdehnung des Deutschtums jenseits der Staatsgrenzen kommunizieren will, kann sie auf topographische Information z. B. zum Geländeprofil oder zu den Flussverläufen mühelos verzichten. Auch bei dem Falk-Stadtplan ließ sich ein gewisser thematischer Akzent (zuungunsten der topographischen Tiefe) herausarbeiten, wenngleich die Karte ihn weniger explizit macht als die geopolitische. Weil man schlechthin alles in seiner räumlichen Verteilung zeigen kann und darin einen je historisch-konkreten Nutzen erkennen mag, übersteigt die Zahl der thematischen Karten die der topographischen bei weitem. So wie der Philo-Atlas. Handbuch für die jüdische Auswanderung aus Berlin 1938 die topographische Information seiner Weltkarte auf die „Entfernungen in der Welt in Kilometern“ reduziert, damit die jüdischen Emigranten ihre Ausreisekosten kalkulieren konnten (vgl. Abb. h), so zeigt das ZEIT-MagazinFormat Deutschlandkarte heute Woche für Woche, wo z. B. in Deutschland die Bibel am häufigsten verkauft wird oder wo es welche Markenware billiger gibt (vgl. Abb. i u. j): thematische Karten als die Kultivierung feiner geographischer Unterschiede innerhalb des nationalstaatlichen Gemeinschaftsraums.

15

Vgl. zur Wirkungsgeschichte der Gall-Peters-Projektion: Jeremy Crampton: Cartography’s Defining Moment: The Peters Projection Controversy, 1974–1990. In: Cartographica 31 (1994), Bd. 4, S. 16–32.

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Abb. h: Philo-Atlas. Handbuch für die jüdische Auswanderung aus Berlin 1938, in: Karl Schlögel: Sprache der Karten, Kartensprachen. In: Ders.: Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisationsgeschichte und Geopolitik. München/Wien 2003, S. 126.

Als die Ideologie dieser Karten könnte man die Beförderung regionalistischer Standortkonkurrenzen bezeichnen. Es versteht sich, dass insbesondere die Wahl der Themen, die von der thematischen Karte vorgenommen wird, unsere geographischen Imaginationen16 des zugrunde gelegten Territoriums stark beeinflussen. Gerade den thematischen Karten ist ihr implizit rhetorischer Charakter leicht anzusehen. Als kurzes Fazit unseres Schnelldurchlaufs durch die Lektionen der Critical Cartography: Die Landkarten – egal ob topographisch oder thematisch, egal ob vormodern oder geodätisch präzise – können niemals als neutrale oder objektive Bildmedien der Rauminformation angesehen werden. Stattdessen kommunizieren sie in je spezifischer Weise persuasiv und bedienen sich rhetorischer Mittel, die eine kritische Lektüre der Karte als „thick text“ (J. B. Harley) erst zu explizieren hätte.

16

Vgl. Derek Gregory: Geographical Imaginations. Cambridge 1994.

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Abb. i: ZEIT-Magazin-Format Deutschlandkarte (Ausschnitt), in: ZEITmagazin Nr. 13 vom 19.03. 2008, S. 10.

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Abb. j: ZEIT-Magazin-Format Deutschlandkarte (Ausschnitt), in: ZEITmagazin Nr. 12 vom 13.08. 2008, S. 10.

II. Eines der vorzüglichen Mittel der Kartenmacher, um emotionale Wirkungen beim Betrachter zu erzeugen, ist der Einsatz von Farben. Deshalb ist es mehr als erstaunlich, dass der Aspekt Farbgestaltung und deren Bedeutung in der Geschichte der Kartographie, von der kulturgeograpischen Forschung bislang nur sehr peripher behandelt wurde. Auch die Critical Cartography macht hier keine Ausnahme.17 Vielleicht erscheint ihr ja der Einsatz von Farbe eines der plakativeren Ausdrucksmittel der Kartengestaltung zu sein und deshalb weniger verdächtig, Teil solcher Wahrnehmungsnormalisierungen zu werden, die dem Kartennutzer selbst unbewusst bleiben und daher die Analyse herausfordern. Dabei sind geographische Imaginationen mit den Farben der Karten eng verbunden – auch solche, die bestimmt nicht den Intentionen der Kartenmacher 17

Die ausführlichste und instruktivste Behandlung des Themas Kartenfarben findet sich derzeit bei einer Historikerin: Vgl. Ute Schneider: Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute. Darmstadt 2004. Hier bes. S. 120–131.

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entsprechen. Ein Beispiel wäre die physische Deutschlandkarte des berühmten DierckeErdkunde-Atlas, diesem altehrwürdigen Schulmedium, mit dem mutmaßlich jede/r westdeutsche Schüler/in einer höheren Lehranstalt seit 1948 aufgewachsen ist (nachdem der Atlas von den Besatzungsbehörden für den Schulunterricht wieder freigegeben war. Den Diercke – ursprünglich „Schul-Atlas über alle Teile der Erde“ – gibt es indes schon seit 1883). Diese physische Deutschlandkarte benutzt Farben zur Auszeichnung des Höhenprofils, was die geographischen Imaginationen aber nicht daran hindert, mit den Kartenfarben ganz anderes zu konnotieren, wie der Autor Thomas Krüger in einer biographischen Miniatur erinnert: Der Diercke […] hat mit seiner Jahrzehnte lang unveränderten Karteneinteilung der Republik in Norden, Mitte und Süden in den Höhenfarben von Tiefgrün zu Kackbraun die Sehgewohnheiten ganzer Generationen geprägt und dafür gesorgt, dass man bei Norddeutschland immer wahlweise an Kühe, Grünland und Rot-Grün denkt und bei Süddeutschland an Berge oder – in polemischen Momenten – an eine politische Farbe aus dem Haselnuss-Spektrum.18

Die Reminiszenz (auch wenn sie ein norddeutsches Vorurteil kolportiert) beschreibt ziemlich genau das Dilemma der Farbverwendung in der wissenschaftlichen Kartographie. Die Kartenmacher des Diercke haben sich um eine differentielle Farbsemantik bemüht: Die Farbe Grün repräsentiert einfach eine bestimmte generalisierte Höhenstufe innerhalb des Landschaftsprofils – im Unterschied zu zwei anderen generalisierten Höhenstufen: Flachland – Mittelgebirge – Hochgebirge. Diese differentiell gemeinte Semantik ist aber nicht davor gefeit, vom Nutzer – dem kartographischen Laien – mit referentieller und/oder symbolischer Bedeutung aufgeladen zu werden. Er denkt beim Grün des Flachlandes an Kuhwiesen, bei den darin rot ausgezeichneten Stadtsymbolen an Parteikoalitionen, die sogleich mit der Region identifiziert werden – der Norden steht für Rot-Grün, der Süden für politisches Braunland. Dieses Unbehagen gegenüber den schwer kontrollierbaren Farbwirkungen der Landkarte teilt sich auch mit in einem der klassischen Lehrbuchtexte der wissenschaftlichen Kartographie. In dem Standardwerk Thematische Kartographie schreibt der uns schon bekannte Eduard Imhof über „Die Farben und ihre Effekte“: Überall wo es die technischen und finanziellen Möglichkeiten erlauben, sucht man die Ausdruckskraft, Lesbarkeit und Schönheit der Karten durch farbige Gestaltung zu erhöhen. Vielfarbigkeit ist für die Karte, wie für viele graphische Erzeugnisse, ein außerordentlicher Gewinn. Bei falschem und schlechtem Einsatz aber wird sie zum Verderben. Das Spiel mit der Farbe ist verlockend, aber gefährlich wie das Spiel mit dem Feuer.19

Die Redundanz dieser Warnung wird hier mit zitiert, weil sie auf den Affekt, die verstörende Ambivalenz des Autors aufmerksam macht, die offenbar im Spiel ist, wenn die wissenschaftlichen Kartographen über die Verwendung von Farben räsonieren. „Lesbarkeit“ und „Schönheit“ zugleich könnten durch Farbeinsatz gesteigert werden, wird 18 19

Thomas Krüger: Ein Jungsbuch. In: Frankfurter Rundschau vom 17. September 2008. Eduard Imhof: Thematische Kartographie. Berlin / New York 1972, S. 46.

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hier gesagt. Einerseits also verheißt die Farbe einen Übersichtsgewinn. Das verweist auf die spezifische Ökonomie der Knappheit, die eine gute Karte auszeichnet: Sie soll so schnell, so irritationsfrei wie möglich rezipiert werden können wie möglich, damit sie unserer Orientierung im Raum, den die abbildet, dienlich ist. Dabei sollen Farben die Lesbarkeit der Karte erleichtern. Andererseits stellen Farben wegen ihrer suggestiven Kraft offenbar auch eine Gefahr dar, vor der Imhof gar nicht nachdrücklich genug warnen zu können glaubt. Farben machen die Karte schöner, ausdruckskräftiger, aber genau diese Wirkungen erscheinen darstellungstechnisch umso schlechter beherrschbar. Die Farben werden hier gerade wegen der Verlockung, die von ihrer Schönheit ausgeht, als Verderbensdrohung des maßlosen, verführbaren Kartographen denunziert.20 Er muss sich fortan strikt um szientifische Nüchternheit bemühen, um der Angst vor der Farbe zu trotzen. In einem heutigen Lehrbuch der Kartographie von 2010 ist der Absatz über die Farbverwendung gegenüber Imhof deutlich affektmodelliert: von der Schönheit der Kartenfarben und deren Gefahren ist überhaupt keine Rede mehr, stattdessen konzentriert sich der Autor Peter Kohlstock auf die Funktionalität der Farben für eine irritationsfreie Lesbarkeit der Karte im Dienste ihrer Aussageabsicht: Die Verwendung der Farben steigert die Lesbarkeit einer Karte gegenüber Schwarz-WeißDarstellungen erheblich. Sie ermöglichen eine (ggf. zusätzliche) Erläuterung bzw. Abgrenzung von Objekten (z. B. Grün für Waldgebiete), eine Objekthervorhebung (z. B. Hauptverkehrsstraßen) und eine Objektabstufung (z. B. Meerestiefenzonen durch verschiedene Blautöne). Außerdem können gleiche Objekte bzw. Objektarten schneller erfasst werden. Grundsätzlich müssen die wesentlichen Darstellungselemente einer Karte, insbesondere Signaturen und Farbgebung in einer Zeichenerklärung (Legende) erläutert werden.21

Die Farbe soll also hier in erster Linie Objekte erläutern helfen, sie hervorheben oder abstufen. Das kann durch Kontrast oder Skalierung geschehen. In beiden Fällen bestimmt sich die Bedeutung des einzelnen Farbzeichens in seiner Differenz oder Relation zu den anderen in der Karte verwendeten Farbzeichen. Im Falle der Skala drückt eine Ähnlichkeit der Farbzeichen Abstufungen einer gemeinsamen Qualität des repräsentierten Objektes aus. Durch farblichen Kontrast können Objekte, die die Karte voneinander abgrenzen will, optisch leichter hervorgehoben werden. Ein differenzsemantisches Vorgehen, das von Kartenschönheit nichts wissen will, stattdessen Farbverwendung strikt in den Dienst der Kartenverständlichkeit stellt. Aber schon das, was das Lehrbuch als Beispiele für Farbverwendung anführt (Grün für Waldgebiete; Blautöne für Meerestiefenzonen) öffnet ein Einfallstor für die Restbestände eines referenzsemantischen Denkens: Grün wie der Wald – Blau wie das Meer. Denn die von Kohlstock beschriebene Funktionalität von farblicher Objektabgrenzung oder -abstufung belehrt ja noch nicht 20

21

Es wäre zu prüfen, ob diese Warnung Imhofs an die Kartographen nicht auch als Spielart jener Chromophobie beschrieben werden kann, die David Batchelar für die Geschichte und Gegenwart der ganzen westlichen Kultur ausgemacht hat. Vgl. David Batchelor: Chromophobie. Angst vor der Farbe. 2Wien 2004. Peter Kohlstock: Kartographie. 2Paderborn / Wien / München / Zürich 2010, S. 79.

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darüber, für welche Farben sich der Kartograph konkret entscheiden soll, um Objektdifferenzen innerhalb der Karte hervorzuheben. Die Farbbeispiele, die gegeben werden, sind vielleicht hochgradig konventionalisiert. Aber zu fragen wäre auch danach, warum sich auch in der szientifischen Kartographie das Grün für Vegetationselemente und das Blau für das Meer behauptet haben. Vielleicht weil sich darin ein überwunden geglaubtes Element der imitatio naturae bewahrt hat, das für Kartograph wie Betrachter die Lesbarkeit der Karte nicht stört (und ihre Schönheit vielleicht gar vermehrt). Insofern ist der konsequent differenzsemantischen Bestimmung der Farbverwendung in dem bis heute maßgeblichen Grundlagentext zur Kartosemiotik von Winfried Nöth nur bedingt zuzustimmen, der behauptet: Viele Merkmale von Karten können keinerlei unmittelbare Ähnlichkeit mit den bezeichneten geographischen Orten in Anspruch nehmen. So haben zum Beispiel Kartenfarben für Wasser, Flachland oder Berge wenig oder keine Ähnlichkeit mit dem, was sie bezeichnen. Die Farbwahl beruht auf Stereotypen.22

Dass aber die Auswahl dieser Farbstereotypen selber möglicherweise von Ähnlichkeitsannahmen über das Verhältnis von Repräsentamen – dem Kartenfarbzeichen – und seinem Raum-Objekt geleitet ist, bleibt bei Nöth außer Acht. Solche referenzsemantischen Spurenelemente in der wissenschaftlichen Kartographie stören auch das fortschrittsgeschichtliche Narrativ in der Kartographie-Historie. Für die Farbverwendung besagt es, dass in der vorwissenschaftlichen Phase der Kartographie die Farben nach topischen oder dekorativen Gesichtspunkten ausgewählt worden seien. Ein Beispiel dafür wäre die Portolankarte des Genueser Kartographen Vesconte Maggiolo aus dem Jahr 1541 (vgl. Abb. k). Für die frühneuzeitliche Seefahrt konzipiert, konzentriert sie sich auf die Küstenverläufe und Häfen, die Topographie der restlichen Landmasse wird nur im Umriss gegeben, der dann Platz lässt für viele dekorative Elemente, die auch Farbigkeit miteinschließen. Die Beduinenzelte in Nordafrika sind bunt, die Herrscherfiguren des Inlandes, die perspektivisch gegebenen Gebirgszüge und nicht zuletzt die Stadt Genua, die Heimatstadt des Kartographen. Für ihre Funktionalität ist die Karte topographisch nur an den Küstenverläufen interessiert. Die bunt ausgeschmückte Landmassendarstellung hat deshalb eher schon parergonalen Charakter. Dazu gehört auch die markanteste Farbigkeit auf der Karte: die Darstellung des Roten Meeres, ein Kardinalpunkt schon vieler mittelalterlicher Karten, der hier in topischem Rot gegeben ist. Hervorgehoben erscheint die Farbe nicht nur deshalb, weil sie damit als einziges Kartenelement auch die Eigenschaft eines der dargestellten Toponyme repräsentiert. Es sticht auch deshalb heraus, weil Maggiolo die Meere ansonsten unkoloriert lässt. Anders in der berühmten Rekonstruktion der antiken Ptolemaios-Weltkarte von 1482 (vgl. Abb. l): im Holzschnittverfahren hatten die frühneuzeitlichen Kartographen diese antike Weltsicht (aus der Zeit um 150 n. Chr.) nachgebildet und popularisierten damit 22

Nöth (Anm. 3), S. 489.

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Abb. k: Portolankarte des Genueser Kartographen Vesconte Maggiolo aus dem Jahr 1541, in: Ute Schneider: Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute. Darmstadt 2004, S. 27.

erstmals ein nicht – wie die Mappae mundi des Mittelalters – nach heilsgeschichtlichen Kriterien ausgerichtetes, sondern ein mathematisch begründetes, geographisches Bild der Erde: die Wiederentdeckung des Ptolemaios war ein bedeutender Umschwung in der Geschichte der neuzeitlichen Geographie. Die Geographia des antiken Gelehrten aus Alexandria war im 15. Jahrhundert durch Übersetzung in das Lateinische bekannt geworden. Die Erfindung des Buchdrucks trug dann zur raschen Verbreitung auch der Ptolemaios-Karten bei. Die Darstellung der antiken Welt reicht hier im Westen von den Kapverdischen Inseln bis zum Golf von Siam im Osten. Der bekannte Teil von Nordafrika geht in eine südliche terra incognita über, die den Kartenrand überschreitet. Zum Binnenmeer wird in dieser Weltansicht der antiken „Ökumene“ der indische Ozean. Bevor nun die spezifische Farbigkeit dieser Ptolemaios-Nachbildung kommentiert werden kann, gilt es folgende Einschränkung zu beachten, auf die Ute Schneider hingewiesen hat. Sie betont, dass insbesondere die Farbgebung mittelalterlicher Karten die Forschung bis heute vor große Probleme stellt. In den meisten Fällen wissen wir sehr wenig über ursprüngliche Farbgebungen und nachträgliche Kolorierungen. Anweisungen und Manuale zur Herstellung und Verwendung von Farben waren im Mittelalter selten und sogar bis ins 18. Jahrhundert durch sehr unterschiedliche Farbterminologien geprägt. Die Überlieferung von Farbmustern reicht außerdem nicht einmal bis

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Abb. l: Rekonstruktion der antiken Ptolemaios-Weltkarte von 1482, in: Ute Schneider: Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute. Darmstadt 2004, S. 10f. ins 18. Jahrhundert zurück […]. Die Farbpigmente, die zum Teil seit der Antike bekannt waren, besaßen keine genormte Qualität und wurden nach individuellem Geschmack und Rezept angerührt.23

Deshalb lässt sich nur mutmaßen, ob das in der Ptolemaios-Nachbildung von 1482 verwendete Lapislazuli-Blau zur Darstellung der Meere auch den ursprünglichen Intentionen des antiken Kartographen entsprochen hat. Als leuchtender Farbton jedenfalls prägt es – neben den gelb unterlegten Toponymen zur Bezeichnung der Meere und den rötlich gefassten Bändern zur Kennzeichnung der Äquatorlinie und der Wendekreise – den Farbeindruck dieser Weltkarte ganz dominant.24 Und doch lässt sich auch hier die widersprüchliche Einheit von referenz- und differenzsemantischer Farbgestaltung studieren: das Lapislazuli-Pigment ergibt genau den ultramarinen Blauton, der bis heute gerade wegen seiner mimetischen Qualität als Kardinalfarbe des (südlichen) Meeres gilt. So blau wie das Meer: fast erscheint es wie eine Säkularisierung des Himmelsblaus, mit dem Giotto in der Cappella degli Srcovegni in Padua seine spätmittelalterlichen Deckenfres23 24

Vgl. Schneider (Anm. 17), S. 123. Aus Druckkostengründen ist die Wiedergabe farblicher Abbildungen in diesem Band leider stark limitiert. Deshalb ist es unbefriedigend, aber leider unabdingbar, dass hier die Farbigkeit der Karten bisweilen nur beschrieben wird, die Karten selber aber nur in schwarz-weiß abgebildet werden können.

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ken gestaltete. Weil das Pigment so kostbar war, wurde es nur sehr selten verwendet, und wenn dann nur zur Darstellung des göttlichen Himmels. In der Ptolemaios-Nachbildung wird das Blau gleichsam auf die Erde zurückgeholt und bleibt als imitatio naturae der Darstellung des Meeres vorbehalten. (Der Himmel auf dieser Weltkarte ist demgegenüber blässlich weiß gegeben). Das wäre die referenzsemantische Seite dieser Farbgestaltung. In kartographischem Sinne modern an dieser Weltkarte ist aber die farbliche Hervorhebung der Kontinente. Um die Landmassen Europa, Asien und Afrika optisch voneinander abzuheben, wählt der Ptolemaios-Rekonstrukteur um 1482 drei verschiedene Farbtöne: Europa ist braun-rot gegeben, Afrika blassgelb, und Asien bleibt ganz weiß. Damit etabliert die Karte ein differenzsemantisches Element. Hier deutet sich eine Lesbarkeitsschicht an, die in geographischer Hinsicht nicht die (verkleinerte) Abbildung des naturräumlich Gegebenen erstrebt, sondern ein im physischen Raum nicht sichtbares geographisches Wissen – die Unterscheidung der Kontinente – farblich zu akzentuieren sucht. Ein großer Sprung in der Geschichte der Kartographie verdeutlicht, dass die Koexistenz referenz- und differenzsemantischer Darstellungselemente auch noch für die Farbgestaltung der wissenschaftlichen Karten nachweisbar ist. Besondere Bedeutung erlangt die Farbgestaltung einer Landkarte ab dem frühen 19. Jahrhundert bei der Darstellung des Höhenprofils einer Landschaft. Voraussetzung für den kartographisch neuen Typ der Relief- (oder hypsometrischen) Karte waren zum einen die Verfügbarkeit von wissenschaftlich erhobenen Höhendaten (seit den hypsometrischen Studien von Alexander von Humboldt ab 1799), zum anderen die technische Durchsetzung des Farbendruckes mittels der Chromolithographie (etwa seit 1830).25 Über diese Drucktechnik verfügte Carl Ritter (1779–1859), neben Humboldt der Ahnherr der wissenschaftlichen Geographie in Deutschland, noch nicht, als er 1803 die Karte Deutschland als Bas-Relief erstellte: er zeichnete und kolorierte sie noch mit der Hand (vgl. Abb. 20, Bildteil), und das für unterrichtliche Zwecke während seiner Zeit als Hauslehrer in Frankfurt. Der pädagogische Kontext ist dieser Urszene des hypsometrischen Kartierens nicht äußerlich, denn er verdeutlicht das Kalkül bei der hier zugrundegelegten Farbgestaltung des Höhenprofils. Ritters Handkolorierung bemüht sich um eine systematische Farbfolge, die die Höhenplastik der Landschaft nach dem einpoligen Prinzip „je heller, je höher“ modelliert. Am dunklen Braun sollen seine Schüler das Tiefland erkennen, und je höher die Mittelgebirge werden, umso heller wird der Farbton. Die Alpen im Süden sind fast weiß gegeben und ähneln damit der Aufsicht auf eine schneebedeckte Gebirgskette. So glaubte der Hauslehrer, seinen Zöglingen das Höhenprofil der Heimat intuitiv anschaulich zu machen (flankierend dazu ließ er die Schüler ein Sandkastenmodell erarbeiten): ganz in differenzsemantischem Sinne werden Höhenschichten durch eine systematische Farbfolge veranschaulicht; aus pädagogischen Gründen referenzsemantisch hingegen begründet sich die konkrete Wahl der Auszeichnungsfarben für eine – mindestens im Hinblick auf die Gebirge – naturnahe Darstellung. 25

Vgl. Ingrid Kretschmer: Naturnahe Farben kontra Farbhypsometrie. In: Cartographica Helvetica 21 / 22 (2000), S. 39–48.

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Dass die pädagogische Farbgestaltung der Karten auch zu einem machtvollen Instrument der politischen Kommunikation werden kann, soll abschließend an zwei thematischen Karten aus dem 19. Jahrhundert verdeutlicht werden. Sie gehören in den Kontext der nationalen historischen Schulatlanten bzw. der Schulwandkarte, die im Zeitalter der sich herausbildenden Nationalstaaten zu einem Mittel der politischen Bildung und Selbstverständigung avancierten. In Deutschland vor der Reichseinigung sollten insbesondere schulisch genutzte Kartenbilder dazu beitragen, die Sehnsucht nach einem nationalstaatlich organisierten Territorium zu steigern und somit eine „imagined community“26 zu begründen: die vorgestellte (und kartographisch abgebildete) Nation als Überredungshilfe für den politischen Schritt zur Nationalstaatsbildung. Bei der persuasiven Kommunikation dieser Kartenbilder spielten Farben eine bedeutende Rolle. Berühmt geworden sind die vielfarbigen Kartenbilder Mitteleuropa im Jahre 1648 oder Deutschland im 17. Jahrhundert, mit denen in Putzgers Historischem Schulatlas seit 1877 die (mit der Reichseinigung endlich überwundene) Zersplitterung deutschen Territoriums versinnbildlicht werden sollte.27 Unterstützt wurde diese politische Wirkungsabsicht der Karten durch die im schulischen Unterricht eingeübte Redeweise vom Flickenteppich oder der Narrenkappe, die in der buntscheckigen Farbigkeit der Karte anschaulich werde. Die Aufsplitterung des Territoriums in duodezfürstlichen Partikularismus: eine wertende Interpretation der Vergangenheit in geschichtspolitischer Absicht. Ohne die suggestive Farbigkeit solcher thematischen Karten hätte dieses Geschichtsbild sich nicht so leicht in Schülerköpfe verpflanzen lassen. Unser Abbildungsbeispiel zeigt die Karte MittelEuropa im Jahre 1250 (vgl. Abb. 21, Bildteil) aus dem Historischen Atlas von Carl Wolff (ebenfalls aus dem Jahr 1877): das deutsche Mitteleuropa-Konzept der BismarckZeit, das den politischen Anspruch Deutschlands auf einen Platz in der Mitte Europas untermauern will durch eine kartographische Rückprojektion in die Vergangenheit. Die Karte hebt farblich im Wesentlichen den damaligen Herrschaftsbereich der Staufer und des Heiligen Römischen Reiches hervor, benutzt allerdings einen Territorialbegriff, der in den Selbstbezeichnungen des Hochmittelalters überhaupt nicht vorkam. Ute Schneider macht zudem darauf aufmerksam, dass auch die „zahlreichen bunten Flecke den Herrschaftsformen dieser Zeit“ überhaupt nicht entsprachen – im Gegenteil: „Mit Bezug auf seine eigene Gegenwart und das deutsche Kaiserhaus hob Wolff das Territorium Brandenburg in flächiger Blaufärbung heraus.“28 So zeigt diese historische Karte gleich in doppelter Weise ihre politische Zeitverhaftung. Das farbliche Pendant zum historischen Flickenteppich ist in den Kartenwerken dieser Zeit der monochrome Nationalstaat, mit dem die Gegenwart gegenüber der Vergangenheit farblich ausgezeichnet wird. In differenzsemantischer Hinsicht prägnant wird diese Einfarbigkeit besonders dort, wo im Zeit26 27 28

Vgl. Benedict Anderson: Imagined Communities: Reflections on the Origin and Spread of Nationalisms. London 1983. Vgl. Armin Wolf: What can the History of Historical Atlases teach? Some Lessons from a Century of Putzger’s Historischer Schulaltlas. In: Cartographica 28 (1991), Bd. 2, S. 21–37. Schneider (Anm. 17), S. 90.

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alter des Imperialismus mit den Farben der Landkarten auch geopolitische Ansprüche ausgedrückt sind: das berühmteste Beispiel hierfür ist das Imperial Red (vgl. Abb. 22, Bildteil), in dem auf der zweieinhalb mal anderthalb Meter großen Wandkarte seit 1884 über viele Jahre in Großbritanniens Schulen die globale Ausdehnung des britischen Empire dargestellt wurde.29 Die Buntheit dieser Karte beschränkt sich ganz auf ihre parergonalen Elemente: im Zentrum unten die allegorische Figur der Britannia, mit Dreizack und Schild in den Farben der Union Flag, thronend auf der Weltkugel, die von dem Titan Atlas gestützt werden muss. Zu ihren Füßen lagern sich dunkelhäutige Schönheiten – Sklavinnen aus den südlichen Kolonien des Königreiches, die in Britannias Gefolge aufgestiegen zu sein scheinen. Der übrige Kartenrand exponiert in praller, kindgerechter Farbigkeit einen Reigen von Figuren, deren Position jeweils grob auf ihre erdräumliche Herkunft verweist: oben links Indianer und Trapper, räumlich benachbart zu dem nordamerikanischen Kontinent, unten rechts bei Australien die Darstellung einer barbusigen Aboriginee usf. Die Weltkarte, die von diesem bunten Personal umrahmt wird, kommt dagegen nur mit wenigen Farbzeichen aus. Blau die Ozeane, Schwarz als Schriftfarbe der äußerst sparsamen Toponyme und zur Kennzeichnung von Schifffahrtswegen; dominierend aber, und für die Wirkungsgeschichte dieser Karte maßgeblich, ist das Lachsrot, in dem das britische Empire im globalen Maßstab verortet wird und das im Zuge der Popularisierungsgeschichte dieser Karte häufig nur noch als british red bezeichnet wurde. Demgegenüber bleibt jede andere Landmassendarstellung gleichsam leer-weiß. Der farbpsychologische Effekt dieser Kontrastierung liegt auf der Hand: Die Leucht- und Signalfarbe Rot stellt den Herrschaftsanspruch des Imperiums in seiner räumlichen Ausdehnung heraus, soweit er bereits verwirklicht ist. Die weißen Flächen schweigen beredt: als ob sie noch darauf warteten, beschriftet zu werden, d. h. in british red koloriert. Farbkontrastiv ist dieses Empire auf weitere Expansion ausgelegt. Darüber hinaus versinnbildlicht die Rotauszeichnung die Kleinheit des Kernlandes im Vergleich zur Größe und globalen Verteilung seiner Kolonien. Die Darstellung der Welt ist auf das Zentrum Großbritannien ausgerichtet. Gerade an dieser Karte lässt sich eins der Basistheoreme der Critical Cartography gut veranschaulichen: die Entscheidung der Kartographen für ein Auszeichnungselement ist gleichbedeutend mit der Entscheidung gegen andere, die damit von der Karte gleichsam verschwiegen werden. Das einzige thematische Darstellungselement sind hier die Schifffahrtsrouten, die das Kernland mit den Kolonien verbinden. Damit will die Karte den britischen Schüler auch von der logistischen Beherrschbarkeit und Verflechtung des Empire überzeugen. Was bei dieser suggestivreduktiven Darstellungsweise verschwiegen wird, sind die vielen anderen Verkehrswege, die die Seefahrer-Nation Großbritannien mit dem Rest der Welt unterhielt. Der Weltverkehr kommt hier nur als straff gespanntes Fadenwerk zur Anschauung, von dem das 29

Hier ist die Ausgabe der Karte von 1886 wiedergegeben. Vgl. auch Zoë Laidlaw: Das Empire in Rot. Karten als Ausdruck des britischen Imperialismus. In: Kartenwelten. Der Raum und seine Repräsentation in der Neuzeit. Hrsg. von Christoph Dipper, Ute Schneider. Darmstadt 2006, S. 146–159.

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Empire zusammengehalten wird. Diese berühmte Karte ist ein Beispiel dafür, wie auch mittels Farbgestaltung buchstäblich ein Weltbild gestiftet wurde.

III. Welches sind nun die Kartenbilder, die heute nach dem digitalen Medienumbruch unsere geographischen Imaginationen prägen? Die Bedeutung der Kartenbilder hat eher noch zugenommen, wenn man einfach nur ihre Ubiquität zum Maßstab nimmt. Bei der marktbeherrschenden Suchmaschine Google sind Maps ein fester Menüpunkt der spezifizierten Suche, gleich neben Bildern und Youtube-Videos. Wenn wir ein beliebiges Toponym oder eine Adresse bei der Suchmaschine Google eingeben, findet sich zumeist schon unter den ersten zehn Treffern eine Miniaturansicht der Google-Map, die uns bereits in die Nähe des gesuchten Ortes führt. Haben wir die digitale Kartenoberfläche per Mausklick einmal betreten, können wir mittels einer Zoomfunktion den Maßstab unserer Ortserkundung frei wählen oder von hier aus mit verschiedenen Navigationselementen ohne weiteren Suchbefehl uns beliebig innerhalb einer GlobalraumSimulation bewegen. Hierbei wird zwischen einer Luftbild- (bzw. Satelliten-)ansicht oder einem Kartenbild gewählt. Allein diese Option verändert unseren Umgang mit den Ansichten der Erdoberfläche und bleibt insofern nicht unmaßgeblich für unsere Weltbilder nach dem digitalen Medienumbruch. Wir können uns entscheiden zwischen einer Ansicht, die dem analogen Kartenbild ähnlich sieht (wenngleich sie im Hinblick auf die hier verwendeten kartographischen Auszeichnungsmittel außerordentlich reduziert ist), oder einer Ansicht, die in etwa dem Blick des Piloten vom Flugzeug aus auf die Erde entspricht. Das Luftbild breitet die Landschaft unter uns in photographischer Farbigkeit aus und mag durch diese naturalistische Anmutung den Impuls noch verstärken, mit Hilfe der Zoomfunktion den gewünschten Ort noch näher in Augenschein zu nehmen. Wie ein Pilot im Sturzflug können wir uns dem Ziel unserer Suche annähern und die spezifische Farbigkeit der sich uns nähernden Objekte auf der Erdoberfläche als Orientierungspunkte benutzen. In verschiedenen Brauntönen schimmern die landwirtschaftlichen Flächen, deren Flurbegrenzungen wir deutlich erkennen. Die Städte schimmern in pointilistischer Buntheit, bevor wir im Anflug immer deutlicher Straßennetz und Siedlungsgefüge erkennen. Je mehr wir uns dem gewünschten Ort annähern, umso deutlicher wird, dass es sich bei der Luftbildansicht gar nicht um ein reines Luftbild, sondern von Anfang an um ein Hybrid aus Luftbild und Kartenansicht handelt. Das Luftbild ist gleichsam beschriftet mit den passenden Toponymen, die Verkehrswege sind farblich hervorgehoben, damit sie auch aus größerer Höhe gut erkennbar sind, selbst die Flüsse sind nachkoloriert. Je näher wir kommen, umso mehr an kartographischer Zusatzinformation wird in das Luftbild integriert: Straßennamen, Stadtteilbezeichnungen, Sehenswürdigkeiten, kommerzielle Informationen. Erst wenn wir unseren Bestimmungsort in der allerhöchsten Auflösung erreicht haben, verwandelt sich das Luftbild

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wieder in ein gröber gepixeltes Raster, das in bundesdeutschen Städten dem leicht unscharfen Blick aus etwa 5 Metern Höhe entspricht. Doch damit nicht genug: wer mag, kann von hier aus in die so genannte Street View-Ansicht überwechseln, die jetzt ein Sich-Weiterbewegen des Blicks auf Straßenniveau offeriert. Wo bislang verfügbar, kann – wer will – zum digitalen Flaneur werden, der sich (unerkannt) durch eine zwar ihrerseits unbewegte, aber in naturalistischer Farbigkeit gegebene Umwelt navigiert. Für unser Weltbild folgenreich ist dabei nicht so sehr die geographische Erschließungstiefe dieser Erdansichten (die ist im Vergleich zu ambitionierter Kartographie eher bescheiden), sondern die fast widerstandslose optische Verfügungsgewalt über den globalen Raum, die mit einer beispiellosen Mobilisierung des Blicks einhergeht. Aus dem Fingerreisen auf dem Wohnzimmer-Globus – dem aus der Reiseliteratur bekannten armchair-travelling – ist ein Globalraumsurfen mit dem Geobrowser geworden. Der entscheidende Unterschied besteht in dem fast beliebigen Maßstabwechsel. Die Annäherung an den gewünschten Weltausschnitt ist subjektiv-dynamisch geworden: im Zentrum jedes dieser digitaltechnisch ermöglichten Weltbilder steht jetzt nicht länger irgendein von der Karte privilegierter Weltausschnitt (etwa: die eurozentrische Karte), sondern im Zentrum steht immer der Nutzer selbst. Das digitale Welt-Kartenbild adaptiert sich an seinem technisch mobilisierten Blick. Hinsichtlich der Farbigkeit solcher Geovisualisierungen besonders eindrucksvoll ist der Geobrowser Google Earth. Voreingestellt als Ausgangspunkt unserer Blickreisen über den Globus ist immer das längst ikonisch gewordene, leuchtende Bild der Erde als blue marble, aus den schwarzen Tiefen des Weltalls betrachtet. Was hier simuliert wird, ist nicht weniger als der orbitale Blick, eine Selbstbeobachtung zweiter Ordnung gewissermaßen, die – wie wir aus den Astronauten-Erzählungen wissen – in vieler Hinsicht weltbildverändernd wirken kann.30 Nicht zuletzt auch im Automobil sind farbige Digitalkarten allgegenwärtig geworden: auf den Displays unserer Navigationsgeräte (vgl. Abb. m/n). Hierbei handelt es sich um einen Spezialfall der subjektiv-dynamischen Geovisualisierung, denn der Nutzer steht nicht im Zentrum der Karte wie bei den Google Maps, sondern der Nutzer ist selbst in Bewegung. Der Raumausschnitt, den das adaptive Kartenbild repräsentiert, ist abhängig von den Lenkoperationen des Automobilisten im physischen Raum.31 Die beiden hier gewählten Abbildungsbeispiele zeigen zwei unterschiedliche Visualisierungstypen: das erste Display (Abb. m) nimmt die aus Computerspieloberflächen bekannte Ego Shooter-Perspektive ein: Der reale Autofahrer sieht im 30

31

Vgl. Tristan Thielmann: Das Weltraumkameraauge, die Erde und der rasende Stillstand. Ein flashback. In: Geo-Visiotype der Telekommunikation [Sonderheft Massenmedien und Kommunikation MuK 170 / 71]. Hrsg. von Jörg Döring. Siegen 2009, S. 99–128; und ders., Pablo Abend: Die Erde als Interface. Ein Google-Earth-Rundgang. In: Raum als Interface (Sonderheft Massenmedien und Kommunikation, MuK 187 / 188). Hrsg. von Annika Richterich, Gabriele Schabacher. Siegen 2011, S. 127–143. Vgl. Tristan Thielmann: ‚You have reached your destination!‛ Position, positioning and superpositioning of space through car navigation systems. In: Social Geography 1 (2007), Bd. 2, S. 63–75.

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Abb. m: Digitalkarte auf dem Display eines Navigationsgerätes, in: http://www.navispot.de/wp-content/ uploads/2009/06/EasyCar_UT710-2.JPG (eingesehen am 2.12.2011)

Abb. n: Digitalkarte auf dem Display eines Navigationsgerätes, in: http://0.tqn.com/d/cars/1/0/C/E/1/ ag_08cts_navdisplay.jpg (eingesehen am 2.12.2011)

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Zentrum seines Displays ein leuchtend rotes Automobil, das auf einer lila-farbenen Fahrspur, die fast räumlich gegeben ist, seinem einprogrammierten Ziel entgegenfährt. Ein gelber Signalpfeil, der erkennbar nicht zum Verkehrszeicheninventar der hier abgebildeten Stadtlandschaft gehört, weist dem roten Automobil schon vorsorglich die Stelle an, an der es bald nach rechts abbiegen soll – in „200 m“, wie ein in das Display eingeklinktes Bild im Bild rechts verrät. Die Position des roten Automobils im Display verändert sich gemäß der Bewegungsrichtung des realen Automobilisten im physischen Raum. Der dreidimensionale Umgebungsraum des Display-Autos ähnelt erkennbar dem physischen Raum, den der reale Autofahrer gerade durchquert. Der routinierte praktische Umgang mit solchen Visualisierungen – das Fahren wird häufig als eine konstitutiv-semiautomatische Handlungsweise beschrieben – lässt leicht vergessen, dass wir hier zu einer gleichsam schizoiden Perspektive genötigt werden: Auf dem Display sehen wir uns selber wie von außen beim Autofahren zu; wie ein Verfolger unserer selbst, heften wir uns an die Stoßstange eines Avatars, den man gleichwohl niemals einholen kann, weil er paradoxerweise die exakte Raumstelle einzunehmen scheint, an der wir uns im physischen Raum gerade befinden. Eine solche Perspektive ist buchstäblich irre: wir kennen sie ansonsten nur aus dem Traum oder aus den Beschreibungen von Nahtoderfahrungen. Diese Perspektive geradezu lustvoll auszuagieren, haben wir in den immersiven Computerspielen längst gelernt. Beim Fahren mit dem Navi folgen wir unserem Avatar ohne jede Irritation – wie im Autopilot-Modus. Das gilt vom Grundsatz her auch für das zweite Abbildungsbeispiel (Abb. n), nur dass hier eine deutlich abstraktere, moderatere Blickposition gewählt ist. Der sich bewegende Stellvertreter unserer selbst auf dem Display ist nicht objekthaft gegeben, sondern ein roter Pfeil auf hellblauer Fahrspur. Das Display zeigt einen Split screen, dessen rechte Hälfte den Umgebungsraum des Autofahrers nur in einer auf die Straßenführung reduzierten Aufsicht anbietet. Die linke Hälfte exponiert dagegen eine schematisch angedeutete Dreidimensionalität dieses Umgebungsraumes, diesmal aber aus mittlerer Distanz von schräg oben betrachtet. Man könnte hier von einem Bird’s eye view sprechen oder von der aus der Kunstgeschichte bekannten Kavaliersperspektive, die den gelassenen Überblick aus der Ferne bevorzugt. Der Avatar wird hier allemal lieber auf Abstand gehalten. Der Split screen als Ganzes betrachtet, zeigt wiederum die Eigenschaften der Digital- als Konvergenzmedien: das Display verbindet die medialen Vorzüge der kartographisch-abstrakten Rauminformation (rechts) mit denen einer eher filmisch-perspektivischen Raumdarstellung (links), beides angepasst an die dynamische Blickposition eines mobilisierten Betrachtersubjekts. Dass die Verfügungsgewalt über diese schöne neue Welt der nutzerzentrierten Geovisualisierungen nicht total ist, dass sie auf Grenzen stößt und Störungen ausgesetzt ist, das soll hier abschließend nicht unerwähnt bleiben. Auch die bunten digitalen Karten kennen ein spezifisches Schweigen. Wer bei Google Maps das Toponym „Geilenkirchen“ eingibt, bekommt eine Kartenansicht des kleinen nordrhein-westfälischen Städtchens im Kreis Heinsberg angeboten, bei der man in westlicher Richtung, ganz nah an

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Abb. o: Google Maps: Geilenkirchen, in: www.google.maps.de, Suchbegriff: Geilenkirchen, Bildnummer: 0x47c0a452466c9121:0x42760fc4a2a7b00 (eingesehen am 18.11.2012)

der holländischen Grenze, die Umrisse eines Flughafens erkennen kann – die „NATO Airbase Geilenkirchen“. Will man sich nun an diesen Ort heranzoomen, kann man sich zwar dem Rollfeld bis auf 20 Meter nähern, die militärischen Anlagen im Westen des Geländes aber sind bis zur völligen Unkenntlichkeit verpixelt (vgl. Abb. o). So wie es bei der analogen Kartographie äußere Zensur gab und gibt, die die kartographische Darstellung von erdräumlich Gegebenem unterbindet, intervenieren machtvolle Akteure – hier das Militär – gegen ihre ubiquitäre Zurschaustellung durch Geovisualisierungsmedien. Zum Schweigen dieses digitalen Kartenbildes gehört auch, dass die Karte ihr Schweigen nicht vertuscht, sondern deutlich erkennbar kommuniziert. Das unkenntlich Gemachte zeigt sich nur mehr, je näher man heranzoomt, als ein graphisches Wabenmuster – bei der „NATO Airbase Geilenkirchen“ farblich passenderweise im Spektrum der militärischen Tarnfarben: von staubgrau bis olivgrün. Neben dieser äußeren Zensur entbirgt das Weltbild der digitalen Geovisualisierungen auch eine neue Form der Reproduktion alter geographischer Ungleichheiten: die Luft-

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und Satellitenbilder, die in Google Maps und Google Earth verwendet werden, sind von höchst unterschiedlicher Qualität – je nach Standort: die Orte der Ersten Welt sind durch hohe Auflösungen und perfektes Rendering der Einzelbilder gekennzeichnet. In der Dritten Welt – besonders bei der Darstellung des ländlichen Afrika – liegen oftmals nur grob aufgelöste Bilddaten mit schlecht gerenderten Einzelbildern vor, so dass ein Ranzoomen verunmöglicht wird und kein optisch einheitliches Landschaftsbild mehr zustande kommt. Diese neue Form einer Geographie der Ungleichheit wird auch im digitalen Zeitalter über Sichtbarkeitsbarrieren vermittelt: aus der terra incognita der analogen Kartographen ist eine Pixelwüste geworden – der einstmals dunkle ist heute der unscharfe Kontinent. Ein Abfallprodukt dieser medialen Störungen sind wie collagiert erscheinende Landschaftsbilder einer bizarren, bisweilen hoch ästhetischen Farbigkeit (vgl. Abb. 23, Bildteil): ein neuer Flickenteppich des Digitalzeitalters.

Medialität

Silke Tammen

Rot sehen – Blut berühren Blutige Seiten und Passionsmemoria in einem spätmittelalterlichen Andachtsbüchlein (Brit. Libr., Ms. Egerton 1821)

I.

Einführung

Nach den grundlegenden Forschungen von Michel Pastoureau, Christel Meier-Staubach, Rudolf Suntrup und anderen1 haben unlängst die Vorträge auf dem 13. Symposium des Mediävistenverbandes zum Thema „Farbiges Mittelalter!?“ gezeigt, wie vielfältig die Farbdiskurse dieser langen Epoche sind.2 Unser Wissen geht zwar in die Breite, aber Ulrike Heinrichs hat in ihrer Arbeit über Martin Schongauers Farbverständnis betont, wie wichtig es auch ist, nach etwaigen Schnittstellen der Farbdiskurse zu 1

2

In chronologischer Reihung seien genannt: Michel Pastoureau: Figures et couleurs: études sur la symbolique et la sensibilité mediévale. Paris 1986; Christel Meier, Rudolf Suntrup: Zum Lexikon der Farbenbedeutungen im Mittelalter. Einführung zu Gegenstand und Methoden sowie Probeartikel aus dem Farbenbereich ‚Rot‘. In: Frühmittelalterliche Studien 21 (1987), S. 390–478; Rudolf Suntrup: Farbsymbolik. In: Lexikon des Mittelalters. Bd. 4. München / Zürich 1989, Sp. 289–291; Michel Pastoureau: ‚Ceci est mon sang.‘ Le Christianisme médiéval et la couleur rouge. In: Le pressoir mystique. Hrsg. von Danièle Alexandre-Bidon. Paris 1990, S. 43–56; Rudolf Suntrup: Liturgische Farbenbedeutung im Mittelalter und in der frühen Neuzeit. In: Symbole des Alltags, Alltag der Symbole. Hrsg. von Gertrud Blaschitz, Helmut Hundsbichler, Gerhard Jaritz, Elisabeth Vavra. Graz 1992, S. 445–467; John Gage: Colour and Culture. Practice and Meaning from the Antiquity to Abstraction. Berkeley 1993; Ulrich Ernst: Farbe und Schrift im Mittelalter unter Berücksichtigung antiker Grundlagen und neuzeitlicher Rezeptionsformen. In: Settimane di Studio del Centro italiano di Studi sull’Alto Medioevo 41 (1993 / 1994), S. 344–415; die 1996 begründete und von Romano Silva und Enrico Castelnuovo kuratierte Luccheser Tagungs- und Tagungsbandreihe Il colore nel medioevo: arte, simbolo, tecnica; Andreas Petzold: ‚On the Significance of Colours.‘ The Iconography of Colour in Romanesque and Early Gothic Book Illumination. In: Image and Belief. Hrsg. von Colum Hourihane. Princeton 1999, S. 125–134; Christel Meier: The Colourful Middle Ages. Anthropological, Social and Literary Dimensions of Colour Symbolism and Colour Hermeneutics. In: Tradition and Innovation in an Era of Change. Hrsg. von Rudolf Suntrup. Frankfurt / M. 2001, S. 227–256; Herman Pleij: Colors Demonic and Divine. Shades of Meaning in the Middle Ages and After. New York 2004; Sandra Hindman: Colorful! Color in Medieval and Renaissance Manuscript Illumination. Paris 2005; Christel Meier, Rudolf Suntrup: Handbuch der Farbenbedeutungen im Mittelalter. 2 Bde. Köln / Wien voraussichtlich 2012. Farbe im Mittelalter. Materialität – Medialität – Semantik. Hrsg. von Ingrid Bennewitz, Andrea Schindler. 2 Bde. Berlin 2009 (Akten des 13. Symposiums des Mediävistenverbandes vom 1. bis 5. März 2009 in Bamberg).

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fragen, so nach derjenigen zwischen Theorie und Gebrauch von Farben, von naturalphilosophischen Ansätzen etwa hinsichtlich der Reizbarkeit der Seele und konkreten Kunstwerken.3 Eine solche Schnittstelle zwischen Theologie der Blutfarbe, ihrem mnemotechnischen Potential einerseits und der originellen Produktionsästhetik des konkreten Farbeinsatzes andererseits möchte ich im Folgenden genauer beleuchten. Mit den wie blutige Haut erscheinenden Seiten eines spätmittelalterlichen Gebetbuchs lassen sich die in der Einleitung zu vorliegendem Band gemachten Beobachtungen zur schweren Erfassbarkeit von Farbe aufgreifen. Farbe ist im Auge des Betrachters chromatischer Effekt, Licht, ungegenständlich und zugleich an Medien – Materialien, Gegenstände und ihre Oberflächen – gebunden. Überdies oszilliert Farbe zwischen sprachlichen Begriffen, Symbolisierungen und sinnlicher Wahrnehmung, die keinesfalls nur an das Auge gebunden sein muss, sondern auch den realen wie imaginierten Tastsinn betreffen kann. Die Farbsensibilität der Sinneswahrnehmung ist nicht natürlich gegeben, sondern kulturell geprägt, was besonders deutlich im Kontext mittelalterlicher Passionsfrömmigkeit wird, in der es mit Berndt Hamm um eine Naherfahrung Gottes geht, in der sinnliches Erleben, Emotionalität und Bilderinnerung idealiter zusammenarbeiten sollen.4 Mit meinem Untersuchungsobjekt, in dem rote, dick und glänzend aufgetragene Farbpigmente als Blut Christi wahrgenommen werden wollen und dennoch ihre deutliche Codierung als Mal- und Schreibstoff sichtbar bleibt, wo Farbtropfen gesehen, als Passionszeichen ‚gelesen‘ und zugleich betastet sein wollen, will ich exemplarisch den medialen Aspekt von Farbe beleuchten. Egerton 1821, das ein für private Andachtsbücher typisches Format von ca. 12,5 cm mal 8,9 cm aufweist, entstand um 1490 in England, wohl in einem Kartäuserkloster.5 3 4 5

Ulrike Heinrichs: Martin Schongauer. Maler und Kupferstecher: Kunst und Wissenschaft unter dem Primat des Sehens. Berlin 2008. Berndt Hamm: Gott berühren. Mystische Erfahrung im ausgehenden Mittelalter. In: Gottes Nähe unmittelbar erfahren. Hrsg. von Dems., Volker Leppin. Tübingen 2007, S. 111–137. Ich konnte die Handschrift leider noch nicht in Augenschein nehmen. Erste Überlegungen zur Handschrift unter dem Aspekt der Memoria- und Paragonethematik bei Silke Tammen: Vom Haften der Erinnerung: Gedanken zur Intermedialität und einem Paragone der Gedächtnismedien im Mittelalter. In: Gedächtnisparagone – intermediale Konstellationen. Hrsg. von Christiane Holm, Sabine Heiser. Göttingen 2010, S. 131–152 und Silke Tammen: Blut ist ein ganz besonderer ‚Grund‘: Bilder, Texte und die Farbe Rot in einem kartäusischen Andachtsbüchlein (Brit. Libr., Ms. Egerton 1821). In: Bild und Text – Text und Bild im Mittelalter. Hrsg. von Barbara Schellewald, Karin Krause. Köln / Wien 2011, S. 229–251. Das British Museum erwarb die Handschrift 1860 von W. J. Handcock in Dartford. Sein durch handschriftlichen Eintrag im Jahre 1540 dokumentierter erster und einziger bekannter Besitzer ist ein gewisser John Harris aus Hackington bei Canterbury. Vgl. Catalogue of Additions to the Manuscripts in the British Museum in the Years 1853–1875. London 1877, no. Eg. 1821. F. A. Gasquet: An English Rosary Book of the 15th Century. In: The Downside Review 12 (1893), S. 215–228, hier S. 215 stellte den Text des Buches unter dem Aspekt des Rosenkranzgebets vor, ohne die visuelle Gestaltung zu kommentieren. Neuerliche Aufmerksamkeit auf die Handschrift lenkte David S. Areford: The Image in the Viewer’s Hands. The Reception of Early Prints in Europe. In: Studies in Iconography 24 (2003), S. 5–42, hier S. 21; ders.: Kat. Nr. 49. In: Die Anfänge der europäischen

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Der lateinische Textteil beinhaltet einen Psalter, verschiedene Rosenkranzmeditationen und eine Heiligenlitanei. Die Besonderheit des Büchleins liegt in seinem Proömium in Gestalt monochromer schwarzer und roter, mit Blutstropfen vollständig bemalter Pergamentseiten. Einige von ihnen wurden mit recht einfach gestalteten Holzschnitten ungeklärter Provenienz beklebt, eine eigentlich verbreitete Praxis.6 Erst der einzigartige blutige Farbgrund der Seiten im Verein mit der intensiven Bemalung der Holzschnitte mit Blutstropfen machen das Werk zu einem außergewöhnlichen Beispiel für die Integration von Druckgraphik in einer Andachtshandschrift während der langen Koexistenzphase von handschriftlichem und gedrucktem Buch. Egerton 1821 lässt sich weder einem Autor noch einem Künstler zuweisen. Aufgrund der Präsenz eines zum Schmerzensmann betenden Kartäusermönches auf dem letzten der eingeklebten Holzschnitte und der ausgeprägten Passionsthematik der ganzen Handschrift vermutete schon Campbell Dodgson die Anfertigung des Büchleins in einem Kartäuserkloster, vielleicht in der Londoner Kartause, wahrscheinlicher noch in der von Sheen (Domus Jesu de Bethlehem), in der eine besondere Devotion zu den fünf Wunden Christi gepflegt wurde.7 Sicher zu entscheiden ist dies ebenso wenig, wie offen bleiben muss, ob die Handschrift von einem Mönch individuell zur Andacht geschaffen

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Druckgraphik. Holzschnitte des 15. Jahrhunderts und ihr Gebrauch. Katalog zur Ausstellung der National Gallery of Art (Washington) und des Germanischen Nationalmuseums (Nürnberg). Hrsg. von Peter Parshall, Rainer Schoch. Nürnberg 2005; David S. Areford: The Viewer and the Printed Image in Late Medieval Europe. Farnham u. a. 2010, S. 76–80; Julian M. Luxford: Precept and Practice: the Decoration of English Carthusian Books. In: Studies in Carthusian Monasticism in the Late Middle Ages. Hrsg. von Dems. Turnhout 2008, S. 225–267, hier S. 261–264 zur Frage des kartäusischen Kontextes der Holzschnitte; Luxford schlägt eine späte Datierung um 1514 vor, weil der Ordensgründer Bruno in der Heiligenlitanei neben den zwei anderen Kartäusern Hugo von Lincoln und Hugo von Grenoble auftaucht. Papst Leo X. hatte in diesem Jahr die ordensinterne Verehrung des nicht kanonisierten Gründers erlaubt. Aber erscheint eine Verehrung Brunos im 15. Jh. nicht auch ohne päpstliche Approbation denkbar? Im ausgehenden 15. Jh. findet sich der parallele Gebrauch handgeschriebener und gedruckter Andachtsschriften bzw. Mischformen; vgl. Curt F. Bühler: The Fifteenth Century Book: the Scribes, the Printers, the Decorators. Philadelphia 1960. In Drucken findet man Illuminationen und in Handschriften eingeklebte, häufig auch für Ränder und Initialen passend beschnittene Holzschnitte. Zu den Holzschnitten vgl. Campbell Dodgson: English Devotional Woodcuts of the Late 15th Century, with special reference to those in the Bodleian Library. In: Walpole Society 17 (1928 / 9), S. 95–108; Eamon Duffy: Devotion to the Crucifix and Related Images in England on the Eve of the Reformation. In: Bilder und Bildersturm im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit. Hrsg. von Bob Scribner. Wiesbaden 1990, S. 21–36; spezifischer zu monastischen Milieus in Deutschland Peter Schmidt: Gedruckte Bilder in handgeschriebenen Büchern. Köln 2003; für England Mary C. Erler: Pasted-In Embellishments in English Manuscripts and Printed Books. In: The Library 14 (1992), S. 185–206; Martha Driver: The Image in Print: Book Illustration in Late Medieval England and its Sources. London 2004 konnte von mir nicht mehr konsultiert werden. Dodgson (Anm. 6). Die aus London und Sheen überlieferten Bibliotheksbestände weisen eine deutliche Präferenz für mystisches Schrifttum auf. Vgl. James Hogg: Les chartreuses anglaises: Maisons et bibliothèques. In: Les Chartreux et l’art du XIVe–XVIIIe siècle. Hrsg. von Alain Girard, Daniel Le Blévec. Paris 1989, S. 207–230, hier S. 227.

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und genutzt wurde, ob er sie allein oder arbeitsteilig gestaltete, ob das Büchlein nicht auch für eine dem Orden nahestehende Birgittin aus dem der Kartause von Sheen benachbarten Kloster Syon oder für einen lateinkundigen Laien aus dem geistigen Umfeld der Kartäuser bestimmt war oder später weitergegeben worden sein könnte.8 Eines steht fest: Den schweigsamen Orden zeichnete eine intensive Buchkultur aus, die Buchherstellung galt als „Predigt mit den Händen“9 – für jeden einzelnen Mönch selbst, der Bücher häufig im Alleingang fertigte, aber auch als Predigt an die Adresse der Anhänger des Ordens außerhalb der doppelten Mauern der Einzelzelle und des ganzen Klosterkomplexes. Der starke Einfluss der Kartäuser (ebenso wie der der Birgittinen) auf das spirituelle Schrifttum, die laikale Passionsdevotion10 und die Produktion von Andachtsbüchern im England des 15. Jahrhunderts ist zwar unbestritten,11 bedarf aber einer sorgfältigen Diskussion jeder einzelnen Handschrift.12 18

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Sheen wurde von Heinrich V. im Jahre 1414 gegründet und stand dem im gleichen Jahr vom König gegründeten Birgittinenkloster Syon auf der anderen Seite der Themse nicht nur räumlich, sondern auch spirituell nahe. Für Syon weiß man sicher, dass devotionale Holzschnitte in handgeschriebene wie gedruckte Bücher inkorporiert wurden. Nigel Palmer: Blockbooks, Woodcut and Metalcut Single Sheets. In: A Catalogue of Books Printed in the 15th Century now in the Bodleian Library. 6 Bde. Hrsg. von Alan Coates u. a. Oxford 2005, hier Bd. 1, S. 1–50, Nr. XYL–13. Die Nonnen erhielten Bücher von den Kartäusern von Sheen. Ebd., 154. Eine Birgittin als Empfängerin von Egerton 1821 wäre also durchaus vorstellbar. Die Präsenz zweier weiblicher Heiliger für zwei Wochentage in der Litanei Exercitium meum cotidianum ließ Gasquet (Anm. 5), S. 228 eine weibliche Empfängerin vermuten, was mir für sich allein betrachtet aber als schwaches Indiz erscheint. Luxford (Anm. 5), S. 238. Die Übersetzung der Meditationes Vitae Christi ins Englische durch den Kartäuser Nicholas Love macht jene zum populärsten englischen volksprachlichen Buch des 15. Jahrhunderts in England. Dazu Duffy (Anm. 6), S. 23–24. John Fewterer, Generalkonfessor der Birgittinen von Syon, empfahl in seinem verbreiteten Myrrour or Glasse of Christes Passion: „The contynual or dayly lesson of a Christian should be the remembraunce of the passion of Christe.“ Ebd., S. 23. Zu den komplexen Kommunikationsprozessen zwischen Kartausen, Pfarrpriestern und Laien vgl. Vincent Gillespie: The Haunted Text: Reflections in the Mirror to Deuout People. In: Medieval Texts in Context. Hrsg. von Denis Renevey, Graham D. Caie. London 2008, S. 136–166. Die englische Forschung hat in den letzten Jahren ein komplexes Bild der kommunikativen Austauschprozesse zwischen Kartausen und Welt entwickelt, das eindeutige Zuordnungen von Manuskripten an Kartäuserklöster nur noch auf der Faktenbasis von Bibliotheksinventaren und Einträgen in den Büchern selbst erlaubt. Der Einfluss der Kartäuser von Sheen und Mount Grace in York und der Birgittinen von Syon auf die Verbreitung devotionalen Schrifttums über Abschriften und Drucke in Laienkreise hinein war beträchtlich, wenngleich quasi inoffiziell, da diese Orden nicht direkt pastoral tätig waren, sich aber eines Netzwerks von Pfarrpriestern und Laien bedienten. Eamon Duffy: The Stripping of the Altars. Traditional Religion in England 1400–1580. New Haven 22005, S. 62 und S. 297–298; James Hogg: Mount Grace Charterhouse and Late Medieval Spirituality. In: Analecta Cartusiana 82 (1983), S. 1–43. Zu den Birgittinen und ihrem großen Interesse am Buchdruck, insbesondere zu Syon mit seiner räumlichen Nähe zu den Londoner Offizinen vgl. Erler (Anm. 6), S. 204. Einen ersten Überblick zu englischen Manuskripten, die in Kartausen entstanden oder dorthin durch Schenkung gelangten, und deren Dekorationen liefert Luxford (Anm. 5).

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Der derzeitige Wissensstand um illuminierte Handschriften, die im Kartäuserorden oder in seinem Umkreis entstanden sind, beruht auf der Kenntnis weniger Objekte und erscheint geradezu widersprüchlich: Mit einer volkssprachlichen Andachtssammelhandschrift (London, BL, Ms. Add. 37049), die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstanden ist und ca. 145 zwar kunstlose, aber expressive und eng mit dem Text verzahnte Federzeichnungen aufweist,13 ist ebenso zu rechnen wie mit einer nahezu bildlosen Handschrift aus dem Baseler Margarethenkloster (Basel, Öffentliche- und Universitätsbib., Ms. A VIII 37), die von einem Kreuzigungsbild eingeleitet wird und einen vor dem Umgang mit Bildern und ihrem Ablenkungspotential warnenden Text enthält.14 Dieser Befund überrascht nicht, denn obwohl der Orden strenge Statuten zur Ausstattung der Kartausen besaß, in denen goldene und silberne Ausschmückungen in seinen Kirchen ebenso verboten wurden wie Wandbehänge und Teppiche, werden Bücher in diesem Zusammenhang niemals erwähnt. Jenseits von Statuten ist ohnehin mit einer anderen, gelebten und sicherlich auch über Außenkontakte und Stifter beeinflussten Realität zu rechnen.15 Die Frage nach der Bildkritik führt also nicht sehr weit; sinnvoller erscheint mir die ins Positive gewendete Frage danach, was sich Kartäuser jenseits des normativen Schrifttums von Bildern versprachen. Trotz aller Unwägbarkeiten möchte ich im Folgenden die Gestaltung von Egerton 1821 als eine produktionsästhetische Stellungnahme eines Kartäusers zum Bildgebrauch verstehen.

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Vgl. Thomas W. Ross: Five Fifteenth-Century „Emblem“ Verses from Brit. Mus. Addit. MS. 37049. In: Speculum 32 (1957), S. 274–282; Francis Wormald: Some Popular Miniatures and their Rich Relations. In: Miscellanea pro arte. Hermann Schnitzler zur Vollendung des 60. Lebensjahres. Hrsg. von Anton von Euw. Düsseldorf 1965, S. 279–285; Marlene Hennessy Villalobos: Morbid Devotions: Reading the Passion of Christ in a Late Medieval Miscellany. London, British Library, Additional Ms. 37049. PhDiss. Columbia University 2001; Jessica Brantley: Reading in the Wilderness: Private Devotion and Public Performance in Late Medieval England. Chicago 2007. Jeffrey Hamburger: The Writing on the Wall: Inscriptions and Descriptions of Carthusian Crucifixions in a Fifteenth-Century Passion Miscellany. In: Tributes in Honor of James Marrow: Studies in Painting and Manuscript Illumination of the Late Middle Ages and Northern Renaissance. Hrsg. von Dems., Anne S. Kortweg. London 2006, S. 231–252. Der von Hamburger (ebd., S. 237) konstatierte „striking lack of illumination“ in kartäusischen Büchern erscheint übertrieben. Luxford (Anm. 5), S. 228 kommt zu dem nüchternen Befund, dass sich in den klar Kartausen zuzuordnenden Manuskripten keine ordensspezifische Bildprogrammatik oder Dekorationsweise feststellen lasse. Auch im Bereich der devotionalen Holzschnitte weiche eigentlich nichts ab vom breiteren Kontext der spätmittelalterlichen Passionsdevotion. Allenfalls könne man sagen, dass sich kaum qualitativ hochstehende Bildausstattungen in den englischen kartäusischen Büchern erhalten haben. Vgl. Brantley (Anm. 13) mit einem Kapitel zu „Carthusians and Art“; Alain Girard: Les chartreux, l’art et la spiritualité autour d’Avignon. In: Les Chartreux et l’art (Anm. 7), S. 19–38, hier S. 26– 27.

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II. Von Bildern zu Texten und wieder zurück Schlägt der Leser das Büchlein auf, so wird er mit einem düsteren, ‚bildlosen‘ und doch suggestiven Anblick konfrontiert: Folios 1r–2r sind schwarz und mit einzelnen leuchtend roten, niederströmenden Tropfen bemalt (Abb. 24, Bildteil). Folio 2r erscheint stark abgerieben, was möglicherweise bei der Entfernung eines weiteren, einst dort eingeklebten Bildes geschehen sein könnte.16 In Schwarz eingefärbte Pergamente wurden in Spätmittelalter und Renaissance selten eingesetzt, weil sie das Pergament brüchig machen. Es haben sich sieben, wohl unter dem Eindruck des am Burgunderhof als Modefarbe eingeführten Schwarz, eingefärbte Gebetbücher aus dem späten 15. Jahrhundert erhalten.17 Der Schöpfer unseres Büchleins, dessen Seiten zwar schwarz bemalt, nicht aber im Tauchbad gefärbt wurden, wollte wohl kaum einen solchen repräsentativen Effekt erzielen. Die rotbetropfte Schwärze der Eingangsseiten reizt stattdessen die Imagination durch ihr hohes Assoziationspotential. Auf den ersten Blick erinnerte sie mich heutige Betrachterin an die buntgemusterten Marmor- und Porphyrplatten, wie sie etwa in die Wände des linken Seitenschiffs von San Marco in Venedig oder in Tragaltäre eingelassen sind und die nicht nur wegen ihrer kostbaren Materialität, sondern auch wegen ihrer potentiellen Bildlichkeit geschätzt wurden.18 Man denkt vielleicht auch an die marmi finti, die Fra Angelico unter der sogenannten Madonna der Schatten im Dormitoriumsgang des Dominikanerklosters von San Marco in Florenz malte und die Georges Didi-Huberman im Sinne einer pseudo-dionysischen Theologie der Unähnlichkeit Gottes als Projektionsflächen für ein spirituelles Sehen deutete.19 Haben die schwarzen, befleckten Eingangsseiten eine vergleichbare Funktion, 16

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John Lowden hat die Handschrift in einem die thematische Bandbreite mittelalterlicher Handschriften spielerisch entfaltenden Vortrag „Treasures known and unkown in the British Library“ (British Library Conference Centre, 2007) unter der Thematik des „Küssens von Bildern“ erwähnt, ist sich aber nicht sicher, ob dies der Grund für den abgenutzten Zustand der Seite ist. Vgl.: www.bl.uk/ catalogues/illuminatedmanuscripts/TourKnownA.asp. Auf fol. 2r sieht man auch Kratzspuren. Vielleicht war auch hier einst ein Holzschnitt eingeklebt, der einem späteren Benutzer missfiel und unter dem Einsatz von Wasserdampf und Kratzen entfernt wurde. Mit dem Dampf wäre die schwarze Farbe partiell abgelöst worden, nicht aber das vermutlich auf einer Lackbasis beruhende Rot. Ich danke Andreas Uhr (JLU Gießen) für diese Überlegung. Vgl. Biblioteca Apostolica Vaticana. Liturgie und Andacht im Mittelalter. Katalog zur Ausstellung im Diözesanmuseum Köln. Hrsg. von Joachim Plotzek, Ulrike Surmann. Stuttgart 1992, S. 274 zu geschwärzten Handschriften und ebd., S. 386 und S. 392 zu teilweise purpurgefärbten Andachtsbüchern wie dem Carafa-Stundenbuch und dem Missale-Brevier Ferdinands des Katholischen. Vgl. auch Ulrike Jenni, Dagmar Thoss (Kommentar): Das schwarze Gebetbuch (Gebetbuch des Galeazzo Maria Sforza). Codex 1865 der Österreichischen Nationalbibliothek in Wien. Frankfurt / M. 1982, S. 10–11. Vgl. Dario Gamboni: Potential Images. Ambiguity and Indeterminacy in Modern Art. London 2002, S. 20–29 zu deren vormodernen Vorgeschichte, u. a. zu Leonardos Gedanken über die Inspirationskraft befleckter Flächen. Georges Didi-Huberman: Fra Angelico. Unähnlichkeit und Figuration. München 1995.

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indem sie noch vor einer Konfrontation mit Schriften und Bildern den Blick dramatisch verdunkeln? Man könnte die über Schwärze gleitenden roten Tropfenformen als Funkenflug über einem Nachthimmel sehen, wenn nicht die folgenden Seitengestaltungen ein Verständnis als Blut wahrscheinlicher machen würden. Ob auch dem schwarzen Grund eine Bedeutung zugewiesen werden kann, ist eine sich daran anschließende Frage.20 Blättert der Betrachter weiter, indem er das schwarze Diptychon der Blätter 1v und 2r zusammenklappt, tritt Helligkeit ein und gerät er in lesbarere Gefilde (Abb. 25, Bildteil): Auf die ungeschwärzte Rückseite, also auf fol. 2v, wurde ein Holzschnitt mit der das Christkind stillenden Madonna geklebt. Der Oberkörper einer auf der linken Seite knienden Adorantenfigur ist aus dem Holzstock herausgeschnitten worden. So entstand eine durchgängig kolorierbare Fläche als Fond für die Marienfigur, und es wurde zugleich eine wohl für den oder die Rezipienten der Handschrift störende Betrachterfigur unkenntlich gemacht. Umgeben von den farbig ausgemalten Bodenkacheln bleibt allerdings ein Stumpf stehen, dessen Entfernung innerhalb der feinteiligen Bodenkachelung technisch wohl zu kompliziert erschien.21 So gibt der Stumpf dem Betrachter immer noch die angemessene Rezeptionshaltung vor – nämlich anbetend zu knien. Der einfache Druck ist auf drei Seiten von einem handgeschriebenen lateinischen Text umgeben, der links unten anhebt, in die Senkrechte steigt, horizontal nach rechts über dem Bild weiter läuft und den Leser anweist: „Wer Christus preisen und die Jungfrau Maria ehren will, soll das Herz erheben, den Rosenkranz aufsagen und verbreiten.“22 Nach kommentarloser Schwärze und Blut nun ein Bild des Anfangs, der zartfarbigen Helligkeit und der klaren schriftlichen Botschaft an den Rezipienten, der nun nicht mehr nur als Betrachter, sondern auch als Leser und Sprecher eines Gebets adressiert wird. Dieses Aufrufen des andächtigen, zu Gott erhobenen Herzens bedeutet, dass sich der Betrachter auf einen Dialog mit Gott einzurichten hat.23 Ein solcher Dialog steht immer im Zeichen der Erinnerung, der recordatio als Beherzigung der Passion Christi. Der Vermutung, dass in unserer Handschrift ein solcher Dialog gemeint ist, gibt der dem Marien20

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Weiter unten soll ein Antwortversuch auf die von Lowden (Anm. 16) gestellte Frage unternommen werden: „Why it opens with blood drops on black pages I do not know; I’m hoping that posing the question will in due course elicit the answer.“ Vgl. Wilhelm L. Schreiber: Handbuch der Holz- und Metallschnitte des 15. Jahrhunderts. Leipzig 1926–1930, hier Bd. 8, S. 61. Ich danke Andreas Uhr für diesen Hinweis. „Qui Christum vult laudare, Mariamque Virginem onorare / Debet sursum cor levare, rosarium hoc dicere et divulgare.“ Auf dem unteren Teil der Seite steht: „Suscipe rosarium Virgo deauratum / Ihu per compendium vitae decoratum.“ Das Erheben des Herzens (sursum corda) hat seinen Ort in der Messliturgie: Der Zelebrant erhebt die Hände, um damit das schon im Alten Testament erwähnte Erheben des Herzens zu Gott zu demonstrieren. Eine solche Situation führt der Laie vor, der in der Miniatur zum Artikel Cor in der englischen Enzyklopädie Omne bonum (vor 1375) sein großes Herz dem etwa genauso hohen Bild des Gekreuzigten auf einem Altar wie eine Opfergabe entgegenhält. London, Brit. Libr. MSS Royal 6 E VI–6 E VII, hier 6 E VI, fol. 425v. Vgl. Lucy Freeman Sandler: Omne Bonum. A 14thCentury Encyclopedia of Universal Knowledge. 2 Bde. London 1996.

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bild gegenüberstehende Beginn eines Textes Recht, der sich Die fünf Lilien der Jungfrau nennt. Dort sollen fünf Lilien imaginiert werden, auf denen verschiedene Erinnerungsaufforderungen geschrieben stehen, u. a. „Erinnere dich des unschuldigsten Todes Christi“24 – womit ein Rückbezug zur blutbetropften Schwärze der ersten drei Seiten gegeben sein könnte. Nach dem ‚Erheben des Herzens‘ und dem bildlosen Lilientextteil folgt auf fol. 6r bis fol. 9v eine visuell explizitere Stufe der Andacht: Heute acht, ehemals zehn25 leuchtend rote, in mehreren Farbschichten bemalte und mit zahllosen tropfenden Wunden regelmäßig überzogene Seiten (Abb. 26, Bildteil). Mangels einer Pigmentuntersuchung kann nichts über die Materialität dieser Farbe gesagt werden, üblich war aber der gemischte Einsatz von Mennigerot und dem teureren Zinnoberrot, denen roter Lack aus Brasilholz-, seltener aus Krappwurzelpigmenten hinzugefügt wurde. Neuere Untersuchungen kolorierter Holzschnitte religiöser Thematik aus dem späten 15. Jahrhundert haben eine große Sensibilität gerade gegenüber Rottönen und deren Farbnuancen, Dichtigkeit und Oberflächenwirkung aufgezeigt.26 Die Blutflächen werden nicht durch einen äußeren Rahmen begrenzt, sondern erscheinen wie nahsichtige Ausschnitte von etwas Größerem – in diesem Kontext kann nur die gepeinigte Haut Christi gemeint sein. Die letzten drei dieser blutenden Seiten sind mit zeitgenössischen handkolorierten Holzschnitten beklebt, deren Provenienz nicht mehr festzustellen ist:27 Ein von Leidenswerkzeugen und weiteren Passionszeichen umrahmter Schmerzensmann auf fol. 8v steht einem Fünfwundenbild auf fol. 9r entgegen (Abb. 27, Bildteil). Auf fol. 9v kniet ein Kartäuser vor stehendem Schmerzensmann (Abb. 28, Bildteil).28 Warum die fünf Seiten, die dieser kleinen Serie voraus24 25 26

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Nach Areford 2003 (Anm. 5), S. 17: „Memorare innocentissime mortis Christi.“ Nach Lowden (Anm. 16) gab es ein weiteres derartig bemaltes Blatt, das aber herausgeschnitten worden ist. Shelley Fletcher, Lisha Glinsman, Doris Oltrogge: The Pigments on Hand-Colored 15th-Century Relief Prints from the Collections of the National Gallery of Art and the Germanisches Nationalmuseum. In: The Woodcut in 15th-Century Europe. Hrsg. von Peter Parshall. New Haven 2009, S. 277–297. Dies gilt auch für die Madonna lactans auf fol. 2v. Nach Luxford (Anm. 5), S. 256 sei die Frage nach den Entwerfern der Vorlagen und den Schnitzern der Druckstöcke „usually opaque“. Sechs Holzschnitte lassen sich derzeit mit Kartausen in Verbindung bringen, die meisten mit Sheen und London. Luxford (ebd., S. 260) hält es für eher unwahrscheinlich, dass Druckstöcke in den Kartausen selbst geschnitten wurden; die Londoner Kartause besaß aber einen Druckstock mit den Fünf Wunden Christi. Sheen sei im frühen 16. Jahrhundert zu einem Ort der Verbreitung „und vielleicht auch der Produktion“ von Holzschnitten geworden. Nach Areford 2003 (Anm. 5), S. 185 handele es sich um „seltene Beispiele früher englischer Druckgraphik“. Es gibt aber sehr ähnliche englische Holzschnitte mit Darstellungen des von Leidenswerkzeugen umgebenen Schmerzensmannes ab den 1480er Jahren und der Fünf Wunden. Beispiele bei Duffy (Anm. 6). Für den Holzschnitt auf fol. 9v, der den Kartäuser im Dialog mit dem stehenden Schmerzensmann zeigt, diskutiert Luxford (Anm. 5), S. 264 ein vergleichbares Exemplar, das als Titelblatt einer in Sheen verfassten Andachtsschrift (Pomander of Prayer) diente, die in der Birgittinenabtei Syon für den Druck ediert wurde; ein Holzschnitt aus der Londoner Offizin

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gehen, leer blieben, ist ungeklärt. Vielleicht sollten ursprünglich mehr Passionsholzschnitte eingeklebt werden. Auffällig ist jedenfalls, dass die bildlosen Doppelseiten durchgehend bemalt wurden. Offenbar wurde jeder blutbemalten Seite ein eigenständiger Schauwert zugemessen, egal ob sie freibleiben oder beklebt werden sollte, worauf nach einer näheren Betrachtung der Holzschnitte zurückzukommen sein wird. Der von den arma Christi und weiteren Memorialzeichen umrahmte Schmerzensmann auf fol. 8v ist ein geläufiger Holzschnitt im England dieser Zeit. Die Devotion zur imago pietatis und den Leidenswerkzeugen verband sich im Spätmittelalter u. a. aufgrund einer Vision Gregors d. Großen mit einer in der römischen Pilgerkirche Santa Croce in Gerusalemme, an die ein Kartäuserkloster angeschlossen war, verehrten Mosaikikone des Schmerzensmannes und mit Ablässen.29 So verspricht denn auch der gedruckte Text unterhalb des Schmerzensmannes: „All denen, die andächtig [devoutly] fünf Pater Noster, fünf Ave und ein Credo vor einer solchen Gestalt [figure] beten, werden 32.755 Jahre Vergebung gewährt.“30 Ein späterer protestantischer Besitzer des Buches hat das für ihn anstößige Versprechen des Ablasses durchgestrichen.31 Das gegenüberliegende Blatt zeigt nahsichtig das für den ganzen Leib Christi stehende und von der Lanze verwundete Herz vor dem Kreuz. Das Herz wirkt wie der Quell all des auf Buchseiten und Holzschnitte verteilten Blutes. Von ihm ausgehend, aber ohne mit diesem verbunden zu sein, ragen in die durch das Kreuz ausgeschnittenen vier freien Bildfelder die mit Nägeln durchbohrten, jeweils drei dicke Blutstropfen vergießenden Hände und Füße Christi. Die Verehrung der Fünf Wunden war über den Kartäuserorden hinaus im ganzen Europa des 15. Jahrhunderts verbreitet.32 Der dritte Holzschnitt nimmt dem

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William Caxtons bzw. seines Nachfolgers Wenkyn de Worde zeigt eine von Leidenswerkzeugen umrahmte imago pietatis, vor der ein Kartäuser kniet. Der in den 1490ern entstandene Druck wurde auf das letzte leere Blatt einer 1487 in Antwerpen gedruckten Andachtsschrift (Colloquium Peccatoris et Crucifixi Jhesu Christi) geklebt. Vgl. Carlo Bertelli: The Image of Pity in Santa Croce in Gerusalemme. In: Essays in the History of Art presented to Rudolf Wittkower. Hrsg. von Douglas Fraser. London 1967, S. 40–55, hier S. 48. Vgl. Bertelli (Anm. 28); Heike Schlie: Erscheinung und Bildvorstellung im spätmittelalterlichen Kulturtransfer: Die Rezeption der Imago Pietatis als Selbstoffenbarung Christi in Rom. In: Das Bild der Erscheinung. Die Gregorsmesse im Mittelalter. Hrsg. von Andreas Gormans, Thomas Lentes. Berlin 2007, S. 59–109. „To all them that devoutly say five Pater nosters, five Aves, and a creed afor such a figure ar graunted 32,755 years of pardon.“ Zwei sehr ähnliche, ikonographisch und textlich leicht abweichende Holzschnitte befinden sich in der Bodleian Library und werden in die 1490er Jahre datiert. Ihre englischsprachige, 32.755 Ablassjahre versprechende Unterschrift wurde ebenfalls durchgestrichen. Duffy (Anm. 11), S. 214 zur Verbreitung und Präsenz dieses Holzschnitttyps in Laienandachtsbüchern. Vgl. auch Palmer (Anm. 8), Nr. XYL-11 und Nr. XYL-13. Zu dieser verbreiteten Praxis Eamon Duffy: Marking the Hours: English People and Their Prayers, 1240–1570. New Haven 2006. Die Rückseite des Bildnisses des Kartäuserabtes Willem van Bibaut, der auf seinem 1523 vom Meister der Marienlegende gemalten Diptychon das an der bloßen Brust Mariens ausruhende Christuskind betrachtet, zeigt Herz, Hände und Füße Christi vor einem Kreuz (Amsterdam, Privatsammlung). Besonders die Kartäuser von Sheen verehrten die Fünf Wunden und propagierten ihren

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Herzen gegenüber eine distanzierende Außenperspektive ein und zeigt einen auf einem kleinen Erdhügel stehenden, von Essigschwammstab und Lanze flankierten Schmerzensmann. Dieser führt einen Dialog mit einem knienden Mönch, der durch sein helles Habit mit Kapuze und die Perlen einer am Gürtel getragenen Gebetsschnur als Kartäuser ausgewiesen wird. Der Mönch bittet um Erlösung: „Herr, ich bitte [Dich], leite zu mir das Heil.“ Christus antwortet: „Sohn, fliehe [die Welt?], überwinde [Versuchungen?], schweige, sei ruhig.“33 Die Unterschrift dann in Englisch: „Der größte Trost in aller Versuchung ist das Gedenken (remembrance) der Passion Christi.“34 Nach John Lowdens Beschreibung des Manuskripts folgt auf das außergewöhnliche Proömium ein Schriftteil, der hauptsächlich nicht etwa in schwarzer Tinte, sondern in dem auch für das Blut benutzten leuchtenden Rot geschrieben wurde. Jede Seite trage zusätzlich das Namenskürzel Christi. Von den Blut- und Bildseiten ausgehend vollzieht sich hier eine quasi exkarnatorische Bewegung vom Bild zur Schrift, deren Verbindung die rote Blutfarbe ist.35 Auf eine Schilderung der Methode, den Rosenkranz zu beten, folgt eine Litanei (Exercitium meum cotidianum), die Gebete zu Heiligen für jeden Tag der Woche enthält. Später,36 auf fol. 27r, steht ein zweiundzwanzigstrophiges Carmen de Rosario Beatae Mariae Virginis, das durch ein Bild zweier Rosen, in deren Mitte ein

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Kult durch die Verbreitung einfacher Holzschnitte. Duffy (Anm. 11), S. 246, Abb. 99. Ein solcher Holzschnitt aus Sheen, der vermutlich als ein Souvenir für Besucher und Pilger ausgegeben wurde, ist komplexer als das Fünfwundenbild aus Egerton 1821 und zeigt zwei Engel, die die arma Christi auf einem von der Dornenkrone bekrönten und vom Kreuz, Essigschwammstab und Lanze hinterfangenen Schild präsentieren. Vgl. Palmer (Anm. 8), S. 47, Nr. XYL-32 (und XYL-33, ein einfacheres, stark übermaltes Exemplar). In der oben erwähnten kartäusischen Andachtssammelschrift (BL, Ms. Add. 37049, vgl. Anm. 13) wird auf fol. 24r ein kurzes Gedicht zum Herzen Christi von einer einfachen Zeichnung eines von punktförmigen Blutstropfen oder Wundmalen bedeckten Schmerzensmanns begleitet, der sein überdimensionales verwundetes Herz einem knienden Kartäuser vorweist. Das bluttriefende und aus der horizontalen Wunde blutende Herz ist beschriftet mit der Aussage, dass es sich um 547.500 Tropfen handele. Vgl. Ross (Anm. 13), S. 275–276 und Abb. ohne Seite. Zu Verehrung der Fünf Wunden in England vgl. Duffy (Anm. 11), S. 243. Mönch: „D[omi]ne obsecro dirige ad me salutem.“ Christus: „Fili fuge vince tace quiesce.“ Transkription der Verf. „The greatest comfort in al temptacyon. Is the reme[m]braunce of crystes passyon.“ Transkription der Verf. Den üblicheren, umgekehrten Vorgang vom logos (Schrift) zum Bild beschreibt der Franziskaner Ugo Panciera: Der Meditierende solle in seinem Inneren stadienweise derartig lebendige Bilder heraufbeschwören, dass sie mit den körperlichen Sinnen erfahrbar werden. Wenn der Geist anfange, über Christus nachzudenken, erscheine dieser der Imagination zuerst in geschriebener Form. Dann erscheine er als Umriss, dann als Umriss mit Schattierung, dann mit Farben und Fleischtönen getönt, schließlich im Fleisch und vollrund. Nach Beth A. Mulvaney: The Beholder as Witness: the Crib at Greccio from the Upper Church of San Francesco, Assisi and Franciscan Influence on Late Medieval Art in Italy. In: The Art of the Franciscan Order in Italy. Hrsg. von William R. Cook. Leiden 2005, S. 169–188, hier S. 169. Der Textteil ist von Gasquet (Anm. 5), S. 219 leider nicht komplett dargestellt worden: Zwischen Litanei und Rosenkranz vermerkt er „several matters of interest“.

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Herz sitzt, abgeschlossen wird. Darauf folgt wieder eine Empfehlung und Anleitung zum Gebet des Rosenkranzes, dann ein dreiteiliger Rosenkranz mit kurzen Meditationsanweisungen. Auf die Zusammenhänge zwischen den Rosenkranzmeditationen und den vorhergehenden Bildern kann hier nicht weiter eingegangen werden,37 nur soviel sei gesagt: Alle drei eingeklebten Holzschnitte mit ihren unterschiedlichen Blicken auf Christus – Halbfigur der imago pietatis, close-up des Herzens (Blick ins Innere), ganzer Körper des stehenden Schmerzensmannes – lassen sich auf den Passionsteil der Meditationen beziehen. Der Rosenkranz des vor dem Schmerzensmann knienden Kartäusers auf dem letzten Holzschnitt erscheint wie das performative und zeichenhafte Bindeglied zwischen Bildern und Textteil. Katalysator dieser Imaginationsübungen ist der blutende Untergrund der Holzschnitte, der den Blick immer wieder auf sich zieht, und der Blutregen über ihnen, der auch das Farbmaterial der Schrift des Rosenkranztextes zu bilden scheint. In Egerton 1821 werden alle medialen Register der Andacht gezogen: Es gibt verschiedene handgeschriebene Texte, in denen zur Passionsmemoria aufgefordert wird – die zu imaginierenden beschrifteten Lilien und die späteren Rosenkranzmeditationen, die Verbindungen zum bildlichen Proömium erlauben. Es bietet unbebilderte, wiewohl ikonisch aufgeladene schwarze und rote blutende Seiten, einige von ihnen beklebt mit Holzschnitten, die so angeordnet wurden, dass sie Hauptthemen der Andacht abdecken: die Madonna lactans, die ablassversprechende imago pietatis mit Armabildern, die die ganze Passion zeichenhaft vergegenwärtigen, ein textloses close-up der Wunden als dramatischen Höhepunkt der Bildfolge, die sich in die Tiefe des Heiligen Herzens begibt,38 schließlich den Dialog eines Kartäusers mit Christus.

III. Farbe und Bild, Erinnerung und Aneignung Was das Büchlein so bemerkenswert macht, ist nicht nur seine durchdachte Dramaturgie der Abfolge von Bildern, Erinnerungsaufforderungen und Rosenkranztexten, deren Anleitungen emphatisch eine Überblendung der Schrifterfahrung durch eine imaginierte oder auch reale Bilderfahrung fordern, sondern auch die Entscheidung des Buchschöpfers, eine Reihe von Holzschnitten nicht einfach auf das blanke Pergament zu kleben, sondern für einen durchgehenden und starkfarbigen Untergrund zu sorgen, vor dem sich die Holzschnitte klar abheben. Das Irritierende an dieser meines Wissens einzigartigen Grundierung ist nun, dass sie eine Hautoberfläche evoziert, die aus regelmäßig platzier37 38

Vgl. Tammen 2011 (Anm. 5). Zur Inszenierung der Seitenwunde und des verwundeten Herzens in der Buchmalerei vgl. Silke Tammen: Blick und Wunde – Blick und Form: zur Deutungsproblematik der Seitenwunde Christi in der spätmittelalterlichen Buchmalerei. In: Körper und Bild im Spätmittelalter. Hrsg. von Kristin Marek u. a. Paderborn / München 2006, S. 85–114.

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ten Wunden zu bluten scheint. Das Verhältnis von Fläche, Blut und Wunde ist bei näherer Betrachtung aber gar nicht so leicht zu bestimmen. Auf die schon komplett und gleichmäßig eingefärbten roten Seiten wurden dunklere, nach unten auslaufende Blutstropfen gesetzt, die von oben nach unten verlaufen. Manche Tropfen treten dreibahnig aus einem quer gesetzten Schnitt aus, andere als Einzelgänger aus einem punktförmigen Austritt. Die Flächengestaltung wirkt stilisiert, wie man dies von Farbfassungen spätmittelalterlicher Kruzifixe kennt:39 Gegeißelte Haut wird evoziert, aber nicht imitiert. Um den übernatürlichen Effekt zu verstärken, geht ein Blutregen auf die aufgeklebten drei Holzschnitte nieder, als würde der Untergrund sich paradoxerweise über den Holzschnitt hinwegsetzen, das Bluten auch nach dem vollzogenen Aufkleben der Bilder weitergehen – bis am Ende das Bild wieder ausgelöscht, seinem Farbgrund angeglichen wäre? Von diesem Blutregen sind dann noch einmal die dicht gesetzten Blutstropfen zu unterscheiden, die den Körper Christi jeweils bedecken, als wäre hier der Impuls des Malers am stärksten gewesen, die Quelle des Bluts zu markieren bzw. erneut zum Bluten zu erwecken.40 Auf ikonographischer Ebene hat man das Irritierende treffend und schnell, vielleicht aber zu schnell erklärt: Die Devotion zum Blut Christi kennt einerseits die Vorstellung eines sich geradezu maßlos verströmenden Blutbrunnens.41 Andererseits ist das genaue Bedenken der einzelnen Wunden und Zahl der Tropfen verbreitet. Für David Areford ist die Gestaltung von Egerton 1821 auf eine für die spätmittelalterliche Passionsfrömmigkeit typisch rechnerische Imagination zurückzuführen, die für den Christuskörper auf die Zahl von 5.475 Wunden und 547.500 Tropfen kam.42 John Lowden hat dies in die 39

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Zu derartigen regelmäßigen Setzungen in der Tafelmalerei vgl. Urban Küsters: Narbenschriften. Zur religiösen Literatur des Spätmittelalters. In: Mittelalter. Neue Wege durch einen alten Kontinent. Hrsg. von Jan-Dirk Müller, Horst Wenzel. Stuttgart / Leipzig 1999, S. 81–110; zu Kruzifixen, deren Fassungen vor allem im 14. Jahrhundert sehr regelmäßig gesetzte Wunden aufweisen, aus denen drei Blutströme rinnen, Godehard Hoffmann: Das Gabelkreuz in St. Maria im Kapitol zu Köln und das Phänomen der Crucifixi dolorosi in Europa. Worms 2006. Zur Praxis, den Körper Christi in Holzschnitten mit Passionsthematik, besonders in Kreuzigungen, per Hand nachträglich „zum Bluten zu bringen“ vgl. Areford 2010 (Anm. 5), S. 45–53. Gegenüber den von Areford besprochenen Beispielen fällt hier eine doppelte Strategie ins Auge: Der Körper Christi wird mit besonders dicht gesetzten Tropfen bedacht, zugleich wird aber auch die ganze Fläche des Holzschnitts betropft, werden sowohl Körperbild als auch Medium markiert. Caroline Walker Bynum: Wonderful Blood: Theology and Practice in Late Medieval Northern Germany and Beyond. Philadelphia 2007, S. 70 weist auf die über den Kartäuserorden hinausreichende Vorstellung hin, dass nämlich Christus in der Passion und mit dem Lanzenstich sein Blut übernatürlicherweise bis auf den allerletzten Tropfen vergossen habe – willentlich, so etwa der Kartäuser Dionysius, um seine Liebe zu zeigen. Vgl. auch James Clifton: Ein Brunnen voll Blut. Darstellungen des Blutes Christi vom Mittelalter bis zum achtzehnten Jahrhundert. In: Blut. Kunst, Macht, Politik, Pathologie. Katalog zur Ausstellung des Museums für Angewandte Kunst und der Schirn Kunsthalle. Hrsg. von James M. Bradburne, Annette Weber. München 2002, S. 65–87; Beate Fricke: Zur Genealogie von Blutspuren. Blut als Metapher der Transformation auf dem Feldbacher Altar (ca. 1450). In: L’Homme 21 (2010), S. 11–32. Areford 2003 (Anm. 5), S. 187.

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Tat umgesetzt und sich der Mühe unterzogen, auf der am blutigsten erscheinenden Seite ungefähr 540 Wunden zu zählen. Mit den ursprünglich zehn Blutseiten käme man ungefähr auf 5400 Wunden, die Christus erhalten haben soll.43 Die Seiten hätten dann nicht nur einen Schau-, sondern einen rechnerischen Wert und würden eine visuelle Stellvertretungsleistung für den ganzen Leib Christi erbringen. Insgesamt verbildliche, so Areford, das blutende Pergament in „einzigartige[r] Realität“ die beliebte metaphorische Analogisierung des geschundenen Passionsleibes mit der Pergamentherstellung und Buchbeschriftung – als Lesbarmachung des Opfers, zur Lektüre aufgeschlagen am Kreuz und rubriziert mit Bluttinte.44 Davon abgesehen, dass ich die Aussagefähigkeit des Begriffs Realität grundsätzlich und insbesondere im Zusammenhang mit einer solchen Stilisierung von Farbe, Bild und Form, wie sie hier vorliegt, überaus problematisch finde, ist Areford natürlich zuzustimmen. Die Gleichsetzung von Christus und Buch oder Heilsurkunde war verbreitet.45 Es war immer wieder eine Aufgabe sakraler Handschriften, das Wort im Zusammenspiel von Pergament und Farbpigmenten, Texten und Bildern sichtbar zu vergegenwärtigen und dabei sogar – unter bestimmten Umständen – diesem Wort Fleisch in Form und Farbe strömenden Blutes zu geben, also den Leib Christi präsent zu machen.46 So zeigt eine kolorierte Zeichnung in einer Sammlung von Andachtstexten, die vielleicht aus einem nordenglischen Kartäuserkloster um 1450 stammt, Christus, der eine Urkunde vor seinen Körper hält – sein auf dem Kalvarienberg gegebenes Heilsversprechen. Christus blutet auf das Pergament; die Anfangsbuchstaben des Textes sind rot rubriziert. Das die Gültigkeit und Echtheit der Urkunde bezeugende Siegel ist die rot gemalte Seitenwunde.47 Während hier der Zusammenhang von Schrift und Opferleib auf rein bildlicher Ebene sichtbar gemacht und farblich markiert wird, ging der Schöpfer unseres Codex einen Schritt weiter, indem er ganze Seiten mit einem blutigen Muster bedeckte. Mangels eines unbemalten Pergamentrandes schlägt die beim Umblättern unvermeidliche Berührung der Farbflächen in die imaginierte Berührung blutender Haut um. Die für die Christus43 44 45

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Lowden (Anm. 16), ohne Seite. Areford 2003 (Anm. 5), S. 187. So der englische Mystiker Richard Rolle (†1349): „[…] swet Jhesu, þy body is lyke a boke written al with rede ynke; so is þy body al written with rede woundes. Now, swete Jhesu, graunt me to rede upon þy boke, and somwhate to undrestond þe swetnes of þat writynge […].“ In: English Writings of Richard Rolle, Hermit of Hampole. Hrsg. von Hope Emily Allen. Oxford 1963, S. 34–36, hier S. 36; vgl. dazu auch Küsters (Anm. 39). Systematisch ist dieses Zusammenspiel von Farbe, sakraler Schriftlichkeit und Körperlichkeit noch nicht untersucht worden. Erste Überlegungen zum Einsatz und auch zur Differenzierung von Rot und Purpur im Hinblick auf die Passion in früh- und hochmittelalterlichen liturgischen Handschriften bei Patrizia Carmassi: Purpurismum in martyrio. Die Farbe des Blutes in mittelalterlichen Handschriften. In: Farbe im Mittelalter (Anm. 2), S. 251–273. British Museum, Ms. Add. 37049, fol. 25r; vgl. Anm. 13. Neben diesem Exemplar sind zwölf andere Versionen des Gedichts aus dem 15. Jahrhundert überliefert. Vgl. Mary Caroline Spalding: The Middle English Charters of Christ. Baltimore 1914, S. xix–xxix zu Abschriften des Textes mit diesem Bild.

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Buch-Metaphorik konstitutive Vorstellung vom Lesen eines solchen Körperwundentextes, mit der der Buchkünstler vertraut gewesen sein muss, stößt hier an ihre Grenzen: Es gibt weder einen Text wie in dem englischen Bild-Gedicht Charter of Christ, noch einen klar umgrenzten Körper. Die dickflüssige und erhaben wirkende Farbe der Blutstropfen erscheint stattdessen tastbar wie eine Blindenschrift, die ein Berühren und Berührt-Werden herausfordert. Damit ist aber noch nicht alles gesagt über das Potential dieser Buchphantasie, die mehr als nur ein handhabbares Christusbuch bereitstellt, sondern auch über erinnernde Vergegenwärtigung im Sinne von recordatio und damit über das Herz (cor) des Andächtigen spricht. Hier wurden Drucke, die an sich schon hinreichend deutlich das Leiden Christi verbildlichen, auf einen normalerweise unterhalb der Aufmerksamkeitsschwelle liegenden, hier nun grellfarbig hervorgehobenen Untergrund geklebt, der die Idee des blutigen Opfers Christi so penetrant visualisiert, dass man nicht umhin kann, an einen Passus aus der Schrift Ad Herennium zu denken. In Buch III der um 86 bis 82 v. Chr. entstandenen und zwischen dem 12. und 14. Jahrhundert breit rezipierten Schrift rät nämlich ein Rhetoriklehrer, imagines agentes als Aufhänger für den zu memorierenden Inhalt der Rede in auffälliger Weise einzukleiden, ja zu verunstalten u. a. mit Blut und roter Farbe: Imagines igitur nos in eo genere constituere oportebit quod genus in memoria diutissime potest haerere. Id accidet si quam maxime notatas similitudines constituemus; si non multas nec vagas; sed aliquid agentes imagines ponemus; si egregiam pulcritudinem aut unicam turpitudinem eis adtribuemus; si aliquas exornabimus, ut si coronis aut veste purpurea, quo nobis notatior sit similitudo; aut si qua re deformabimus, ut si cruentam aut caeno oblitam aut rubrica delibutam inducamus, quo magis insignita sit forma […].48

Vor diesem Hintergrund sind die roten Tücher, mit denen Rogier van der Weyden seine monumentale Kreuzigung für die Kartäuser von Scheut bei Brüssel (um 1460) und das Personal seines Kreuzigungsdiptychons (um 1460–1465) hinterfängt, nicht nur als Ehrentücher, die tatsächlich hinter Skulpturen hängen konnten, zu verstehen, sondern auch als unterstützende Maßnahmen für die Passionsmemoria und die Emotionen mitleidender oder brennender Liebe.49 Sicherlich sind dieser Vorstellung vom zu Liebe und Memoria entzündenden Potential des Rot manche Farbgründe in der Tafelmalerei wie die 48

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„We ought, then, to set up images of a kind that can adhere longest in the memory. And we shall do so if we establish likenesses as striking as possible; if we set up images that are not many or vague, but doing something. If we assign to them exceptional beauty or singular ugliness, if we dress some of them with crowns or purple cloaks, for example, so that the likeness may be more distinct to us; or if we somehow disfigure them, as by introducing one stained with blood or soiled by mud or smeared with red paint, so that its form is more striking […].“ Cicero. Ad. C. Herennium de ratione dicendi (Rhetorica ad Herennium). Hrsg. von Harry Caplan. London / Cambridge 1954, S. 220f. „Durandus [Rationale divinorum officiorum] verzeichnet den Brauch, an Festtagen in den Kirchen Vorhänge (cortinae) in verschiedenen Farben aufzuhängen; wenn diese rot sind, sollen sie den Betrachter zur charitas bewegen.“ Meier / Suntrup 1987 (Anm. 1), S. 449f. Vgl. auch Suntrup 1992 (Anm. 1), S. 459–461; zur Signalwirkung von Rot Heinrichs (Anm. 3), S. 140.

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der Kreuztragung auf den Außenseiten eines Triptychons des Veronikameisters50 geschuldet, denn Rot wurde als eine der schönsten und am intensivsten wirkenden Farben betrachtet. So schrieb Johannes Kreutzer († 1468), Prior der Dominikaner von Gebweiler über das Rot in Bezug auf das Hohelied 5,10 („Mein Freund ist weiß und rot, auserkoren unter vielen Tausenden.“): „Es ist werlich die kreftigeste varbe, die nit allein die hertzen zuo dem herren zühet, sunder sü verwundet ouch die hertzen.“51 Das Zusammenwirken von Imaginatio und Memoria kann durch starke Emotionen und ebenso starke Bilder und Farben befördert werden, eine Vorstellung, die sich mit den rein gedanklichen imagines agentes der antiken Mnemotechnik verbindet und einen in der Forschung kontrovers diskutierten Einfluss auf die Erscheinungsweise realer mittelalterlicher Bilder ausübte. Unser Buchschöpfer hat mit den Holzschnitten zwar starke Bilder, aber eben vorgefundene und keine eigenen Bilder verwendet, wozu Ad Herennium aber gerade riet.52 Erst durch die Grundierung der Seiten und das „Beschmieren“ der Bilder mit Blutfarbe wandelte er sie zu eigenen, memorial wirksameren Bildern um. Ein Verständnis der blutroten Seiten der Handschrift erschließt sich also vergleichsweise leicht, doch wie soll man die drei ersten, unbebilderten und mit wenigen Blutstropfen bedeckten schwarzen Seiten deuten: Ist das Schwarz eine Fläche, ein Raum, ein Material? Vielleicht dachte der Buchschöpfer an den „dunklen Spiegel“ des Pauluswortes, in dem Gottes Präsenz für irdische Augen nicht gesehen, sondern nur geahnt und imaginiert werden kann. Mit diesem Spiegel hätte sich die verbreitete Metaphorik des Buches als Spiegel harmonisch verbinden können.53 In welchem Verhältnis stünden hierzu aber die Blutstropfen? Ich vermute, dass weniger der dunkle Spiegel des Pauluswortes assoziiert werden sollte, sondern eher noch das dunkle Herz des Betrachters, das in der Passionsfrömmigkeit als Organ der Memoria und Kommunikation mit Christus wirkt. Die Schwärzung des Pergaments könnte auf die Sündhaftigkeit der Menschenseele und den Verlust ihrer schönen Gottesebenbildlichkeit verweisen. Wenn Christus nun üblicherweise als Spiegel gedacht wurde, an dessen Bild sich der Mensch schrittweise angleichen solle, dann waren Organe dieser reformativen Arbeit die Augen, ihr Ort aber war das Herz: Mit den Augen des Herzens sollte gesehen werden; die inneren Wände dieser zum Seelenraum ausgeweiteten Kammer konnten als bemal- und beschriftbar

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Außenseite eines Triptychons, ca. 1410. Kreuzlingen, Sammlung Heinz Kisters. Florent Landmann: Johannes Kreutzer aus Gebweiler († 1468) als Mystiker und Dichter geistlicher Lieder. In: Archives de l’Eglise d’Alsace 7 (1957), S. 21–62, hier S. 55; Heinrichs (Anm. 3), S. 158. Zur Problematik der Übertragung des Begriffs imagines agentes auf die Kunst Peter Parshall: The Art of Memory and the Passion. In: The Art Bulletin 81 (1999), S. 456–472, hier S. 460. In seinen Ratschlägen für die Novizen (Exhortatorium novitiorum) empfahl Dionysius der Kartäuser († 1471) die Lektüre religiöser Schriften, denn in diesen Büchern würden sie wie in einem Spiegel ihre Unvollkommenheit sehen. Doctoris ecstatici D. Dionysii Cartusiani Opera Omnia. Bd. 38. Tournai 1909, S. 542–543.

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imaginiert werden.54 Nicht nur brennende Liebe und Andacht, die das Herz für diese Neuprägung erweichte, sondern der aktive Umgang mit gemachten Bildern sollte diese heilsame innere Bebilderung des Menschen unterstützen und zugleich gegen die Gottesvergessenheit wirken.55 In der eingehenden Betrachtung der schwarzen Seiten lag vielleicht der Auftakt zu einer Erinnerungsarbeit und Arbeit am Herzensinneren. Dieses erschiene anfänglich schwarz, d. h. verhärtet und sündhaft, aber schon mit einigen roten Tropfen sich aufhellend und verflüssigend, dann nach der späteren schriftlichen Aufforderung „das Herz zu erheben“ und sich der Passion Christi zu erinnern, verändert, blutend dem geschundenen Fleisch Christi angeglichen, grellrot gefärbt, am Ende mit Christusbildern bekleidet.56 Meine Deutung des blutigen Büchleins als Herzensspiegel und Schnittstelle zwischen verwundetem Christus- und Betrachterherz erhält Plausibilität durch die Forschungen Eric Jagers zur Buchmetaphorik des christlichen Selbst: Das Herz wurde im Spätmittelalter als ein mit der Passion Christi inwendig zu beschriftendes, jederzeit transportables und intimes Andachtsbuch verstanden. Gebete flehten Christus an, mit seinem Blut, den Nägeln oder dem Speer als stilus seine Wunden, ja sogar ganze Szenen seines Leidens in das verhärtete Herz des Menschen einzutragen und dieses dadurch weich zu machen. In einem um 1400 in diversen Abschriften verbreiteten englischen Gedicht bittet der Gläubige: „Jesus, write within my heart / How blood out of thy wounds did spurt; / inscribe it with your blood so often / That my heart will finally soften.“57 Das durchbohrte (hier übrigens in eine helle und eine verschattete Hälfte geteilte) Herz auf dem Holzschnitt könnte man dementsprechend als zentralen Dreh- und Angelpunkt zwischen Betrachterherz und Christusherz verstehen. Das Einkleben und Aufdrücken der Bilder auf die Blutseiten externalisiert so das normative Idealbild geglückter Erinnerung, implizit auch das Tilgen schlechter Bilder, die durch Versuchungen, (die im letzten Holzschnitt zitierten „temptacyons“) ins Herz gelangt waren, und die Befestigung von 54

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Thomas Lentes: Inneres Auge, äußerer Blick und heilige Schau. In: Frömmigkeit im Mittelalter. Politisch-soziale Kontexte, visuelle Praxis, körperliche Ausdrucksformen. Hrsg. von Klaus Schreiner. München 2002, S. 179–220, besonders S. 182, 187–188. Genauere Ausführungen hierzu in Tammen 2010 (Anm. 5). Bruno Quast hat mich während der Tagung auf eine weitere Verständnismöglichkeit aufmerksam gemacht. Ließe sich eine Rezeption der Schriften des Dominikaners und einflussreichen Mystikers Johannes Taulers auch bei den Kartäusern nachweisen, dann könnte man Taulers Verständnis von Finsternis und Nacht in Anschlag bringen. In einem solchen Zusammenhang würden die schwarzen Anfangsseiten einen Ort und zugleich einen Zustand evozieren, in dem der Gläubige sich bewusst der hoffungslosen Gewissheit überantwortet, Gottes Gnade verloren zu haben. Nur von diesem dunkelsten Punkt aus kann das Licht Gottes aber eintreten und eine Reinigung erfahren werden, „der sich der Mensch auszusetzen hat, ohne darüber zu verfügen“. Vgl. Alois Haas: Die Arbeit der Nacht. Mystische Leiderfahrung nach Johannes Tauler. In: Die dunkle Nacht der Sinne. Leiderfahrung und christliche Mystik. Hrsg. von Gotthard Fuchs. Düsseldorf 1989, S. 9–40, hier S. 40. Das erlösende Blut in Form der Tropfen träte hier an die Stelle des Lichts; eine tatsächliche Erhellung würde dann mit dem ersten Holzschnitt der Madonna lactans eintreten. Nach Eric Jager: The Book of the Heart. Chicago 2000, S. 110.

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Christusbildern im Herzen – bewusst konventionelle Bilder, denn die Normierung, ja Gleichschaltung der seelischen Bebilderung war im monastischen Kontext angestrebt.58 Konventionell erscheinen die Holzschnitte, unkonventionell das Verfahren ihrer Aneignung, das ein starkes Spannungsverhältnis zwischen Bildlichkeit und Farbigkeit erzeugt. Pergament und Farbe erscheinen im Wandel von der reinen Farbfläche zu den schon ikonischen, in ornamentaler Regelmäßigkeit gesetzten Tropfen begriffen. Der Blick trifft auf eine Nahaufnahme einer Hautoberfläche, deren fehlende Begrenzung durch einen Rahmen es erschwert, überhaupt noch von Bild zu sprechen. Dem dick eingefärbten Pergament steht das dünnere, fragilere Papier des Holzschnitts gegenüber. Der Starrheit und Stillgestelltheit seiner Bildelemente und der Konturiertheit und klaren Lesbarkeit des Drucks begegnet die Arbeit einer konkreten Hand. Der Kontrast zwischen den von Schrift begleiteten, mit einer klaren Ikonographie versehenen Holzschnitten und den bemalten Seiten lässt sich gut im Sinne der Differenzierung Georges DidiHubermans zwischen dem „Sichtbaren“ (ikonographisch Lesbaren) und seinem unbewussten Anderen, dem „Visuellen“, fassen.59 Während das Reich des „Sichtbaren“ in den Holzschnitten mit ihren Bildern und Texten liegt, trifft der auf den Spuren des Blutregens von ihnen abgleitende Blick auf das „Visuelle“, den suggerierten Einbruch einer dem Betrachter unmittelbar nahen, göttlich-fleischlichen Körperlichkeit in das Pergament. Die Vorstellung einer durch die Sünden der Menschheit auf Dauer gestellten Passion Christi (passio perpetua) und die zwar im 15. Jahrhundert debattierte, aber gerade von den Kartäusern verteidigte Annahme der Lebendigkeit des noch nach dem Kreuzestod vergossenen Blutes aus der Seitenwunde,60 das die Sünden der Menschheit permanent reinwaschen soll, wird, durch den blutenden Untergrund veranschaulicht, letztlich Nährboden und Urgrund aller christlicher Bildproduktion. Demgegenüber erscheint die Passion auf Bildebene in den Holzschnitten als abgeschlossenes, in Zeichen 58

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Zur Normierung der Bilderfahrung in Reformorden und bei den Kartäusern, dort speziell zu einem Zyklus von ehemals vierundzwanzig Kreuzigungstafeln mit jeweils einem knienden Kartäuser, die Jean de Beaumetz für die Einzelzellen der Kartause von Champmol zwischen 1389 und 1395 anfertigte, vgl. Jeffrey F. Hamburger: The Reformation of Vision. In: Ders.: The Visual and the Visionary. New York 1998, S. 427–467, hier S. 430–431. Georges Didi-Huberman: Vor einem Bild. München 2000, S. 34–39, 192–193 zur doppelten „Fleischwerdungsökonomie“ im Christentum, die einerseits der christlichen Bildkultur den Körper Christi und damit die Möglichkeit gab, das Göttliche sichtbar zu machen und zu ästhetisieren, andererseits aber auch in diese Welt des Sichtbaren das geopferte Fleisch immer wieder hervorbrechen ließ. Anders formuliert: Durch die Inkarnation des logos öffnet sich das Göttliche auf die Welt hin, umgekehrt bleibt die Welt der sicht- und lesbaren Formen fragil, lauert hinter dem Schleier der Bilder das Ungeformte, nicht fassbare Göttliche, die Ungeheuerlichkeit des in der Passion zerstörten Fleisches. Zu einer über den Kontext der christlichen Religion hinausgehenden Auffassung der Malerei als Inkarnation vgl. ders.: La peinture incarnée. Paris 1985. Die Adjektive zur Charakterisierung dieses Bluts im devotionalen Schrifttum sind „rot“, „frisch“, „heiß“, „flüssig“ und immer wieder „lebendig“. So Walker Bynum (Anm. 41), S. 169. Diese Qualitäten „convey a sense that sanguis Christi is the true continuing – because living – presence of Christ here on earth.“ Ebd., S. 172.

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geronnenes Geschehen. Die Farbe Rot und damit auch die Vorstellung vom Malen als Akt einer Inkarnation, als Evokation eines Fleisch-Werdens im Sinne von FarbeGeben,61 arbeitet hier mit dem gedruckten Bild durchaus spannungsvoll zusammen – in einem Moment, als die Zeit des mühse(e)lig kopierten und illuminierten Buches langsam und unter Ausbildung von Mischformen aus Handschrift und Druck auslief. Diesen Übergangsprozess begleitete der Benediktinerabt Johannes Trithemius 1492 mit dem Traktat De laude scriptorum, in dem er die spirituellen Verdienste des Bücherschreibens lobte: „Denn was wir niederschreiben, prägen wir (imprimimus) dem Geist stärker ein, weil wir uns zum Lesen und Schreiben Zeit nehmen müssen.“62 Amüsanterweise verwendet der Abt hierfür ein Sprachbild, das dem Konkurrenzunternehmen des Drucks mehr als nahe steht. Mit der Frage nach dem Spannungsverhältnis zwischen gedrucktem Bild, Farbe und Schrift will ich noch einmal zum kartäusischen Entstehungskontext des Buches zurückkehren. Das Kopieren von Büchern und Verfassen eigener Schriften in der Abgeschiedenheit der einzelnen Eremitenzelle wurde im Kartäuserorden als gottgefälliges Werk hochgehalten. „Die consuetudines nennen das Schreiben von Handschriften als das gängigste Handwerk der Mönche.“63 Das Kartäuserbuch war „in der Regel das Werk eines einzelnen Mönches, der das Buch […] kopierte, ausschmückte und einfaßte. […] Auch in stilistischer Hinsicht war es daher mit verschiedenen ästhetischen Elementen ausgestattet, abhängig vom jeweiligen Geschmack des einzelnen Urhebers. Die Kartäuser betrachteten das Buch vor allem als einen Gebrauchsgegenstand. Bei der Herstellung standen deshalb der Inhalt und die Zweckmäßigkeit im Vordergrund, nicht das kunstvolle Äußere.“64 Die Charakteristika des blutigen Büchleins, in dem der einzige Luxus im verschwenderischen Umgang mit der Farbe Rot besteht, passen in diese Buchkultur. Da hier keine besondere Befähigung in der Miniaturmalerei gefragt war, kann man sich die Herstellung des Büchleins im Alleingang eines Schreibers vorstellen. Gerade der letzte Akt der Gestaltung der Bildseiten, das Legen eines Blutregens über die Holzschnitte, scheint wie geboren aus einer schweigsamen, konzentrierten Passions-

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Christiane Kruse: Wozu Menschen malen. Historische Begründungen eines Bildmediums. München 2003, Kap. 4: „Fleisch Werden und Bild Werden“, S. 175–224; Skepsis gegenüber der religiösen Codierung von incarnazione zeigt Ann-Sophie Lehmann: In the Flesh. Jan van Eyck’s Adam and Eve Panels and the Making of the Northern Nude. Zwolle 2007. Verallgemeinerungen führen in dieser Frage nicht weiter, der Kontext entscheidet über derartige Kodierungen. „Fortius enim, que scribimus, menti imprimimus, quia scribentes et legentes ea cum morula tractamus.“ Johannes Trithemius: De laude scriptorum – zum Lobe der Schreiber. Hrsg. und übers. von Klaus Arnold. Würzburg 1973, S. 61. Sönke Lorenz: Ausbreitung und Studium der Kartäuser in Mitteleuropa. In: Bücher, Bibliotheken und Schriftkultur der Kartäuser. Hrsg. von Sönke Lorenz. Wiesbaden 2002, S. 1–19, hier S. 14. Stanisław Rybandt: Die Buchkunst der Kartäuser. In: Bücher, Bibliotheken (Anm. 63), S. 195–197, hier S. 196.

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meditation, die in Performanz übergeht.65 Abt Guigo de Saint-Romain schrieb in den consuetudines, die er 1128 kompilierte und die über die folgenden drei Jahrhunderte immer wieder zitiert wurden: „Bücher sollen […] mit größtem Eifer hergestellt werden, damit wir das Wort Gottes mit den Händen predigen, da wir es ja mit dem Munde nicht können.“66 Der Blutregen auf den Seiten und über den Holzschnitten erscheint mir in diesem Zusammenhang wie eine stumme Predigt der Hände jenseits von Schrift und Bild, deren Inhalt nicht nur die Passion ist, sondern die sich dem gedruckten Bild mit dem Farbpinsel ebenso sanft wie bildskeptisch nähert: Die von dem Schöpfer des Buches benutzten Holzschnitte mit ihren kurzen Texten verdanken sich zwar dem Druck, der ihm aber nicht eindrücklich genug sein konnte, um haltbare Erinnerungsbilder in seinem Herzen zu bilden. Der durch Meditationsroutine und Topik der Passionsmemoria geschulte Blick eines monastischen Lesers würde möglicherweise allzu schnell über die Texte und Bilder hinweggleiten, gäbe es nicht den spektakulären Einsatz der Blutmalerei, der die Imagination in anderer Weise reizt als die bekannten Ikonographien und Texte. Durch die Gleichzeitigkeit eines blutigen Klebegrundes für die Holzschnitte und des über diese gelegten Blutregens lässt sich nämlich nicht recht auflösen, wo eigentlich – bezogen auf einen Körper oder ein Organ, ein Innen oder ein Außen – die gedruckten Bilder zu lokalisieren sind. Diese beinahe schwindelerregende Unklarheit67 steht im Zusammenhang mit der doppelten Wahrnehmungsmöglichkeit der blutigen Seiten als Herzensinneres des Betrachters und Passionskörper Christi. Ein Blick, der sich auf die Frage nach Ort und Quell des Blutes einlässt und im Blutregen verfängt, ist ein anderer als der in den eindeutigen Holzschnitten und Texten implizierte Blick. Wie kaum eine andere mir bekannte spätmittelalterliche Andachtshandschrift dient das blutige Büchlein einer konzentrierten Anleitung zur Introspektion. Aufschlagen des Buches heißt hier nicht einfach Lesen von Texten und Sehen von Farbe und Bildern, sondern ein umfassendes Schauen68 und ein Berühren und Berührt-Werden, heißt buchstäblich beeindruckt werden. Unser Fallbeispiel kann den in der Einleitung zu vorliegendem Band skizzierten Wandel der Farben(be)deutung vom Mittelalter zur Moderne vielleicht nicht in Frage stellen, aber doch relativieren. Dort wird mit Christel Meier-Staubach ein in Goethes Farbenlehre kulminierender Paradigmenwechsel aufgerufen, „der sich von der […] neuplatonischen Lichtmetaphorik Plotins und damit auch Farbauslegung hin zu einer 65

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Damit läge ein Fall für die Vermutung von Luxford (Anm. 5), S. 239 vor, dass Kartäuser den Akt der Buchdekoration in einem „essentially religious way“ analog zu dem des Schreibens von Büchern betrachtet hätten. Guiges Ier: Coutumes de Chartreuse. Paris 1984 (consuetudines 28.3), S. 224. Zu derartigen Phänomen Silke Tammen: Stelzenfisch und Bildnisse in einer Baumkrone, Unähnlichkeit und Montage: Gedanken zur Ambiguität mittelalterlicher Bilder. In: Ambiguität in der Kunst. Hrsg. von Verena Krieger. Wien / Köln 2009, S. 53–71. Hierzu passim Peter Czerwinski: per visibilia ad invisibilia. Texte und Bilder vor dem Zeitalter von Kunst und Literatur. In: Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur 25 (2000), S. 1–94.

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Theorie erstreckt, die den Gefühlswert der Farbe, das Farberleben und die psychische Wirkung der Farbe in den Vordergrund stellt. […] War die Farbendeutung des Mittelalters vor allem ‚überindividuelle[r], gesellschaftsbezogene[r] und auch deiktische[r] Natur‘, so basier[t] der Interpretationsansatz von Goethe vor allem auf dem ‚Gefühlswert der Farbe‘.“69 Die Farbe Rot lässt sich in unserer Handschrift sowohl in ihrer christologischen Codierung und deiktischen Natur als Blut verstehen, als auch – im Einklang mit dem zitierten Schrifttum – als zur Liebe und gesteigerten Erinnerungsfähigkeit anregende Farbe sehen. Sie ist Trägerin von Gefühlswerten und in ihrer taktilen und performativen Qualität als ein wirkungsästhetisch bedeutsames Drittes zwischen Text und Bild zu betrachten.

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Meier / Suntrup 1987 (Anm. 1), S. 400.

Irma Trattner

Die Farbe in der Mittelalter-Rezeption der Bildenden Kunst und deren Transformationsprozesse Zur Rezeption Jacopo Pontormos in den Medien des 20. Jahrhunderts

I.

Einführung

Jacopo Pontormo (1494–1556) zählt zu den wichtigsten Künstlern in der Zeit der Renaissance in Italien. Er steht für die Nobilitierung der Melancholie im Zeitalter des Saturn. Viele seiner Bilder geben in verschlüsselter Form Grundideen menschlichen Seins wieder. Die Verhüllung gilt als eine der größten Kräfte der Offenbarung und so wird das Unerklärbare im 16. Jahrhundert zum Qualitätsbegriff schlechthin. Und so spiegeln sich in Werken der Jahrzehnte um 1500 Aspekte menschlichen Seins in verschlüsselter Form wieder und sind ohne Berücksichtigung des Neuplatonismus nicht verständlich. Mit dem wachsenden Einfluss der griechischen Sprachlehrer im 15. Jahrhundert und der Kenntnis der antiken Schriften selbst kamen Platon und der Neuplatonismus, der nicht scharf von ihm geschieden und in dunkle Urzeiten zurückdatiert wurde, wieder zu Ehren. Als Leitfigur der neuplatonischen Bewegung im italienischen Quattrocento besuchte der ehrwürdige Gemisthos Plethon1 im Gefolge des byzantinischen Kaisers das Konzil zu Ferrara und Florenz. Pleton war es, der die neue philosophische Religion gestiftet hatte und einen Kreis von Erleuchteten, Erwählten, zu denen auch Bessarion2 zählte, um sich versammelte. Kult und Liturgie der Ostkirche vermischten sich bei ihm in ungeordneter Weise mit Vorstellungen heidnischen Ursprungs und wurden zu einer neuen Mysterienreligion stilisiert.3 Edgar Wind hat mit seinem Buch über Heidnische

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Gemisthos Plethon (ca. 1355–1452) war ein griechischer Philosoph in der Tradition des Platonismus. Basilius Bessarion (geb. 1403 Trapezunt – gest. 1472 Ravenna) war ein byzantinischer Theologe und Humanist, Kardinal und Titularpatriarch von Konstantinopel und damit einer der berühmten griechischen Gelehrten, die im 15. Jahrhundert einen wichtigen Anteil an der Erschließung der Schriften Platons und weiterer antiker griechischer Autoren hatte. Siehe dazu: Götz Pochat: Geschichte der Ästhetik und Kunsttheorie. Von der Antike bis zum 19. Jahrhundert. Köln 1986, S. 239–240.

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Mysterien in der Renaissance den Reflex dieser geistigen Situation in der Bildkunst am eindringlichsten sichtbar gemacht.4 Die Obsession des Verborgenen und Obskuren findet sich nach Christoph Bertsch mit entscheidender Vehemenz auch bei Jacopo Pontormo, der, obwohl jeder Künstler im Zeitalter des Saturn sein eigenes Ritual zelebrierte, federführend für eine neue ästhetische Häresie steht. Eine machtvolle Irrealität, Licht und Kolorit in bislang nicht gekannter Radikalität eingesetzt, Schatten und Schleier von extremer Durchsichtigkeit und Farben, die mitten in die Brust leuchten, lassen viele Arbeiten Pontormos zu leuchtenden Visionen geistiger Erkenntnisse werden.5 Pontormos Bild der Heimsuchung (vgl. Abb. 29, Bildteil) zählt zu jenen komplexen Werken in der bildenden Kunst, die jede Beschäftigung zu einer Annäherung werden lassen – zu einem Mosaikstein unterschiedlichster Fragestellungen. Zwischen 1527 und 1531 sind uns zahlreiche Werke des Künstlers bekannt. In diese Zeitspanne fallen die Vollendung seiner Arbeiten in der Capponi Kapelle in S. Felicità (Abb. a) und die Heimsuchung in Carmignano (vgl. Abb. 29, Bildteil). Sowohl die vollendeten Bilder und die Dichte der formalen Gestaltung als auch die besondere Spiritualität und Abstraktion der Darstellung sind besonders bemerkenswert. Die Heimsuchung in Carmignano (Öl auf Holz, 2,02 × 1,56 m) ist vermutlich als Auftragsarbeit der Familie Pinadori-Buanaccorso entstanden.6 Sie befindet sich heute in der Pfarrkirche am zweiten rechten Seitenaltar und wird auf das Entstehungsjahr 1528 datiert.7 Dargestellt ist die im Neuen Testament geschilderte Begegnung (Lukas 1,39–56) zwischen Maria und Elisabeth, der Frau des Priesters Zacharias, die im hohen Alter der Geburt des späteren Johannes des Täufers entgegensieht. Bei der Begrüßung ihrer Ver4

5

6 7

Edgar Wind: Pagan Mysteries in the Renaissance. Harmondsworth 1967. Otto Pächt kritisiert in seiner Publikation „Kritik der Ikonologie“ Edgar Wind aufs Heftigste, insofern dessen ikonologischer Methodenansatz, dessen Interesse für seine Begriffe mehr der nachmittelalterlichen formal leicht lesbaren Kunst gelte. Nach Pächt ist die ikonologische Forschung zu der weit verbreiteten Überzeugung gelangt, „dass es gerade bei den bedeutenden Kunstwerken, auf die es schließlich ja ankäme, hinter der Fassade des sinnlich Wahrnehmbaren einen tieferen Sinn gäbe, welcher verborgen sei. Zudem sei den genialen Schöpfern dieser Gebilde daran gelegen gewesen, ihre innersten Gedanken vor den Blicken der Banausen zu verheimlichen. Im Grunde genommen seien die Schöpfungen der großen Meister Kryptogramme, die nur die, in die Geheimsprache Eingeweihten, auflösen könnten.“ Otto Pächt: Kritik an der Ikonologie. In: Bildende Kunst als Zeichensystem. Ikonographie und Ikonologie. Theorien – Entwicklung – Probleme. Hrsg. von Ekkehard Kämmerling. Bd. 1. Köln 1979, S. 353–376, hier: S. 354. Christoph Bertsch: Jacopo Pontormo. Vier Frauen in Carmignano. Ein Hauptwerk des Manierismus im Spannungsfeld der politischen und geistigen Umbrüche der zweiten Florentiner Republik. Wien / Köln / Weimar 2000, S. 7. Hierfür gibt es keine urkundlichen Quellen. Dtv Lexikon der Kunst. Bd. 5. München 1996, S. 690.

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Abb. a: Jacopo Pontormo, Grablegung, ~ 1525, Öl / Holz, Capella Capponi, S. Felicità, Florenz, ©: bpk | Scala | Hermann Buresch

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wandten hat Elisabeth die Eingebung, dass ihr in der gleichfalls schwangeren Maria die zukünftige Mutter Christi begegnet. Maria ihrerseits erlebt durch die Begegnung mit Elisabeth eine Bestätigung der Verkündigung. Diesen Hinweis finden wir in keinem Bibeltext, sondern in Abschnitten der Legenda aurea des Jacobus de Voragine,8 wo die Verkündigung des Herrn in drei Stufen sehr ausführlich beschrieben und interpretiert wird.9 In der abendländischen Tradition wird deshalb die Heimsuchung von mittelalterlichen Autoren als Hinweis auf die Menschwerdung Christi und die Bedeutung von Johannes als dessen Vorläufer gedeutet und verstanden. Ein Fest der Heimsuchung ist 1263 durch Bonaventura für den Franziskanerorden und erstmals 1389 für den gesamten Geltungsbereich der katholischen Kirche eingeführt worden, so dass Darstellungen bis in das späte Mittelalter keinerlei kultischen Einflüssen unterliegen.10 Das führt zu der Frage, seit wann dieses Motiv seinen Eingang in die Kulturgeschichte gefunden hat. Vorzugsweise ist die Begegnung bzw. die Heimsuchung seit Beginn ihrer Darstellung im 6. Jahrhundert bis in das späte Mittelalter an Zyklen der Kindheit Jesu beziehungsweise des Marienlebens gebunden. Ebenso ist diese Darstellung häufig zwischen der Verkündigung und Christi Geburt eingeordnet. Die ursprünglichen Bildtypen der Umarmung und des Gesprächs setzen sich bis in das späte Mittelalter fort und weisen eine geringe Variationsmöglichkeit auf. Teilweise wird die Szene durch die Gestalt einer Magd oder durch die mit der Handlung verbundene Person des Zacharias erwiesen. Für die byzantinische Kunst kommt neben dem Neuen Testament ebenso der Akaisthos-Hymnus als Bildquelle in Betracht, in dem die Begrüßung durch Handreichung, Umarmung und Gespräch vollzogen wird, wobei vor allem Elisabeth akklamierend die Hand erhoben hält. Im Apsismosaik der Basilika Eufrasiana in Poreć, das um 540 n. Chr. entstanden ist, empfängt Elisabeth Maria vor ihrem Haus stehend. Eine ädikulaartige Vorderansicht mit einer Türöffnung ist dargestellt, deren Türvorhang von einer Dienerin beiseite gezogen wird. 18

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Die Legenda aurea des Jacobus de Voragine. Aus dem Lateinischen übersetzt von Richard Benz. 11. Aufl. Gerlingen 1993 (Sammlung Weltliteratur. Mittellateinische Literatur. Hrsg. von Walter Berschin), S. 47–56. „Die Goldene Legende war das populärste und verbreitetste religiöse Volksbuch des Mittelalters – weiter verbreitet und weit mehr gelesen als die Bibel. Sie ist zwischen 1263 und 1273 entstanden. Ihr Verfasser, der Dominikaner Jacobus de Voragine, 1298 als Erzbischof von Genua verstorben, schuf nicht nur eine Legende von Heiligenviten in chronologischer Ordnung. Seine geniale Leistung lag darin, daß er unter Verarbeitung vielfältigsten und verschiedenartigsten Quellenmaterials (Heilige Schrift, Passionalien, apokryphe Evangelien, Apostel- und Märtyrerakten, in Klöstern und im Volk überlieferte Geschichten) in volkstümlicher und zugleich kunstvoll dichterischer Sprache als glänzender Erzähler das Leben Jesu und der Heiligen darstellt, kommentiert und daraus moralische Nutzanwendungen zieht.“ In: Archiv für Liturgiewissenschaft. Zit. n.: http://de.wikipedia.org/wiki/Legenda_aurea (eingesehen am 12.12.2011). Vgl. Legenda aurea (Anm. 8), S. 249–257. Gregor M. Lechner: Maria Gravida. Zum Schwangerschaftsmotiv in der bildenden Kunst. München 1981, S. 492.

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Nicht ohne Einfluss franziskanischer Theologie und Spiritualität kommt es unter anderem bei Giotto di Bondone in den Fresken der Arenakapelle zu Padua, die zwischen 1305 und 1307 entstanden sind, und im späten Mittelalter zur Ausgestaltung der emotionalen Seite des Vorganges, die bis hin zum Kniefall als Ausdruck der Verehrung reicht, welche dem noch nicht geborenen Gottessohn gilt.11 Das Motiv der Heimsuchung wurde auch mehrfach im Sinne eines Andachtsbildes gestaltet und ist in den flämischen Stundengebetsbüchern, wie zum Beispiel dem Gebetbuch der Maria von Burgund (1485–1490) oder den im Auftrag der Brüder Limburg entstandenen Très Riches Heures des Duc de Berry (1410–1416), nachzuweisen. Bei der seit dem 15. Jahrhundert auch als selbständiges Tafelbild auftretenden Gruppe kommt der genau beobachtete emotionale Aspekt durch Mimik und Körpersprache zum Ausdruck. In der italienischen Malerei wird die Begegnung von Maria und Elisabeth in einem Innenraum gezeigt, während sich die niederländischen Maler besonders liebevoll der Ausgestaltung des Hintergrundes mit einer Landschaftsszenerie und dem Haus der Elisabeth zuwenden, was wir am Beispiel der Heimsuchung von Rogier van der Weyden (1432–1435) zu sehen bekommen.

II. Das Gemälde von Jacopo Pontormo Aus dem frühen 16. Jahrhundert kennen wir bereits zwei Beispiele der Heimsuchung von Pontormo, die er noch in der alten Bildtradition, der Begegnung von zwei Frauen, gestaltet. Zwischen 1514 und 1516 bricht er mit der üblichen Gestaltungsweise, indem er eine neue Tradition aufnimmt. In Florenz entsteht für den Chiostrino dei voti der SS. Annunziata eine Heimsuchung, in der Maria und Elisabeth einander in einer durch zahlreiche Figuren belebten Szene begegnen. Elisabeth kniet sogar vor Maria. Wie Volker Breidecker ausführlich recherchiert hat, nimmt die Heimsuchung im toskanischen Stadtstaat um 1500 eine spezielle Rolle ein. Und wie schon erwähnt, ist dieses ikonografische Thema häufig mit der Verkündigung, der Geburt Christi oder dem Letzten Abendmahl verknüpft. Breidecker verweist auf die Bedeutung der körperlichen Erfahrungen des Gebens, Nehmens, Verzehrens und Umarmens.12 Das Tafelbild von Mariotto Albertinelli (Abb. b), das 1503 entstand, dürfte Pontormo bekannt gewesen sein, zumal er ja sein Schüler war.

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Vgl. Dtv Lexikon der Kunst. Bd. 3. S. 194–195, bes. S. 194. Volker Breidecker: Florenz oder: „Die Rede, die zum Auge spricht“. Kunst, Fest und Macht im Ambiente der Stadt. München 1992, S. 243–247.

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Abb. b: Mariotto Albertinelli, Heimsuchung, Öl / Holz, Uffizien, Florenz. Wikimedia Commons.

Auch viele Heimsuchungen anderer bekannter Künstler zeigen verschiedene ikonografische Varianten dieses Themas. Mit oder ohne Architekturgestaltung, als Zweier-Gruppe oder mit mehreren Personen und Elisabeth kniend oder stehend. Doch sind diese Beispiele nicht mit unserem Gemälde in Verbindung zu bringen, da Pontormos Neuschöpfung vollkommen außerhalb der gängigen Tradition steht. Kommen wir nun zur ersten Analyse dieses Motivs bei Jacopo Pontormo: Den beiden vorderen stehenden Frauen sind zwei weitere Frauen zugeordnet, so dass alle gemeinsam eine Vierergruppe bilden, die sich durch Ruhe und Erhabenheit auszeichnet. Maria und Elisabeth kehren einander die Gesichter zu und werden im Seitenprofil gezeigt, während die zwei Begleitfiguren, leicht nach hinten versetzt, ihren Blick frontal aus dem Gemälde heraus unbeweglich auf den Betrachter richten. Das Prinzip der Kombination einer frontalen Darstellung mit einer Profilansicht lässt eine Kommunikation unmöglich erscheinen. Und so nehmen auch die beiden Frauen im Vordergrund ihre Begleiterinnen nicht wahr.

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Die Anordnung der Frauengruppe ist gleich einem Rhombus angelegt, so dass sie sehr verinnerlicht wirkt und Nähe suggeriert. Die Umarmung von Maria und Elisabeth ist durch große Spiritualität geprägt. Sie stehen sich gleichwertig gegenüber, wobei der Begegnung zweier herausragender Frauengestalten besonderes Augenmerk geschenkt wird. Eine feierliche Grundhaltung voll menschlicher Würde und Eleganz prägt die Darstellung, die trotz des Volumens der gemalten Frauen eigenartig leicht wirkt, scheint sie sich doch der Schwerkraft zu widersetzen. Die Blicke der beiden Frauen in der zweiten Bildebene lassen eine melancholische Stimmung aufkommen und scheinen einer anderen Bewusstseinsebene anzugehören.13 Pontormo arbeitet die Beziehungen der vier Frauen sowohl psychologisch als auch körperlich äußerst kompliziert aus, durch ihre Körperführungen und die Lichtführung erzeugt er mannigfache Verschränkungen, ohne eine vordergründige dramatische Gestik einzusetzen. […]. Die körperlichen Berührungen verstärken die Zusammengehörigkeit, ohne die Eigenständigkeit und Geschlossenheit der einzelnen Frauen zu vermindern. In sich ruhend strahlt die Szene ein Innehalten in der Bewegung aus, in ihrem transistorischen Aspekt an die Grablegung [Abb. a] in der Capponi Kappelle in Florenz erinnernd. […]. Die beiden Begleitfiguren sind Maria und Elisabeth in eigentümlicher Art verwandt, scheinen nochmals auf sie zu verweisen. […]. Die Heimsuchung in Carmignano vermittelt in ihrer Grandiosität eine visionäre Darstellung. Die Szene spielt in der Abenddämmerung. Die Figurengruppe befindet sich im Kontrast zu den klaren, flächigen Formen der Architektur, eine unbelebte Straße in einem städtischen Bereich zeigend […]. Der architektonische Rahmen entspricht in den Dimensionen nicht der Frauengruppe, ist sachlich gehalten […]. Die expressiven Grenzen des frühen 16. Jahrhunderts werden durchbrochen, Pontormos aufgewühlte Kreativität kommt insbesondere in der Farbgebung zum Tragen und tritt in Konkurrenz zur Beschaulichkeit, Erhabenheit und Ruhe der Darstellung.14

Die verblüffenden Farbkontraste spiegeln sich vor einem monotonen Hintergrund und zeigen eine beeindruckende Sensibilität. Elisabeth ist mit einem hellgrünen Kleid mit orangefarbenem Umhang, der im Schattenbereich in kräftiges Rosa übergeht, dargestellt. Ihr Kopftuch ist cremefarben und weist grüne Schattierungen auf. Die Frau hinter ihr ist in eine olivgrüne Draperie gekleidet. Maria hat rötliches, meist verdecktes Haar, einen blau-grünen Umhang, das Kopftuch und die Ärmel sind in einem hellen, starken Rosa, das in Hellrosa übergeht, gehalten. Ihre Begleiterin ist mit hellrotem Haar gestaltet, der Umhang mit einem intensiven Rosa. Sie trägt einen dunkelgrünen Schal, der Stoff der Ärmel ist in hellem Grün gemalt. Auch Licht und Kolorit leisten mittels konstrativer und ausgleichender Wechselbeziehungen einen wichtigen Beitrag zur Gestalt-Bildung. Das Atmosphärische mit seinem Raumschatten und seinem Lichtglanz löst die Formoberfläche mit allen Details auf und verwandelt die Dinglichkeit samt ihren Lokalfarben in ein unsubstantielles maleri13

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Ich nehme hier gerne die anregende Frage während der Diskussion der verantwortlichen Tagungsleiterin, Frau Prof. Dr. Monika Schausten, auf, dass die beiden Frauen im Hintergrund, die mit dem Bildbetrachter in Kontakt stehen, eventuell sogar als Zeugen des Geschehens erklärt werden könnten. Dieser Aspekt wurde bisher von der Forschung nicht in Betracht gezogen, was meiner Ansicht weiterhin beleuchtet werden sollte. Bertsch (Anm. 5), S. 40f.

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sches Fluidum, das zuerst farbiges Licht und erst in zweiter Linie Haar oder Inkarnat ist.15 Das Gewand Elisabeths, das von Hellgrün mit orangenem Umhang in kräftiges Rosa übergeht und changierend in das cremfarbene Kopftuch weitergeht, verfügt dadurch über eine Leuchtkraft, die die Aufmerksamkeit schon prima vista auf sich lenkt. Maria trägt einen blau-grünen Umhang. Ihr hellrosa gestaltetes Kopftuch korrespondiert mit dem Rosa ihres Ärmels. Die rückwärtige Assistenzfigur besticht mit einem intensivrosa Umhang und einem dunkelgrünen Schal, während die weitere frontal ausgerichtete Person mit einer hellgrünen Kopfbedeckung gemalt ist. Die Harmonie der Farben könnte nahezu mit der Harmonie von Tönen verglichen werden. Nicht umsonst wird in der Farbforschung auch von Farbtönen gesprochen. Ob nun Pontormo ein Instrument beherrscht hat, ist unbekannt. Gewiss war er aber wie andere Künstler auch befähigt, um die simultane Wirkung von Farben und Tönen zu empfinden.16 Den vielleicht überzeugendsten Beleg für eine solche Begabung liefert uns ein Beispiel aus der klassischen Moderne: Anlässlich einer Aufführung von Richard Wagners Lohengrin in der Moskauer Oper, schreibt Kandinsky in seinen Rückblicken, „sah ich alle Farben in meinem Geiste“.17

III. Kleiner Exkurs zur Farbgebung des 16. Jahrhunderts in der italienischen Malerei Zu den Grundzügen der Farbgestaltung in der italienischen Hochrenaissance gehört die Verringerung der Farbenanzahl gegenüber dem vielteiligen Kolorismus des Quattrocento, der durch sukzessive Farbkontraste starker und gebrochener Buntfarben und Neutralwerte bestimmt war. An seine Stelle tritt jetzt eine Konzentration auf wenige beherr15 16

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Vgl. Otto Pächt: Venezianische Malerei des 15. Jahrhunderts. Die Bellinis und Mantegna. München 2002, S. 148. Vgl. Irma Trattner: Die Marienkrönungstafel im Zisterzienserstift Stams in Tirol. Ihre Stellung zwischen Süd und Nord. In: Das Münster. Zeitschrift für christliche Kunst und Kunstwissenschaft 52 (1999), S. 298–310, bes. S. 301–309. Wassili Kandinsky: Rückblicke. Bern 1977, S. 14. Im 20. Jahrhundert haben Künstler die Nähe der Farbe zur Musik in unterschiedlichster Weise empfunden. Um 1913 malte Kandinsky eine Reihe komplexer Kompositionen von fast symphonischer Dimension, deren Formen und Farben seiner Ansicht nach in Analogie zu den Klangfarben der Instrumente eines Orchesters im Betrachter verschiedene Schwingungen erzeugten. Sein eigenes Instrument war das Cello, dessen Klangfarbe für ihn einem dunklen Blau entsprach. Paul Klee wiederum huldigte in einer großformatigen, imposanten Komposition den Strukturprinzipien des barocken Kontrapunkts, mit denen er sich auch als Lehrer am Bauhaus eingehend befasste. Piet Mondrian wurde bei seinem letzten, in New York entstandenen Hauptwerk, das unvollendet blieb, durch den stakkatoartigen Klavierstil der jüngsten Stilrichtung des amerikanischen Jazz zu neuartiger Vitalität angeregt. Vgl. John Gage: Kulturgeschichte der Farbe. Von der Antike bis zur Gegenwart. Ravensburg 1997. Die angeführten Abbildungen ebd., S. 238f.: Nr. 189, Nr. 191, Nr. 192.

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schende Bildfarben und eine neue Bedeutung von Simultankontrasten, der auch ein vermehrt auftretender Dunkelgrund dient. Die Buntfarben selbst werden dunkler, auch die neutralen Töne setzen tiefer an.18 Jacopo Pontormo „arbeitet aus der tiefen Verfangenheit der Farbe im Helldunkel, wie sein Lehrer Andrea del Sarto, Zug um Zug heraus“.19 Die Kreuzabnahme in S. Felicità in Florenz (Abb. a), ein Schlüsselwerk seiner Farbgestaltung, schließt in der „Umfassung einer farbig nicht betonten Mitte durch stark kontrastierende Buntheiten“ an Michelangelo an.20 In der eigenwilligen Interpretation dieser Buntheiten geht Pontormo jedoch weit über Michelangelo hinaus. Er „zeigt wohl alle Hauptfarben je ein- oder zweimal an formal wichtigen Stellen in voller Sättigung und Reinheit, viel häufiger aber in weiter Entfernung von ihrem Normalzustand, unter Umgehung von Zwischenstufen.“21 Dies trifft nach Strauss vor allem auf das Blau zu, das als ein ausgesprochen heller Wert, nach gedecktem Türkisblau und Grau hin gebrochen, den weitaus größten Teil der Bildfläche beansprucht. Das Gelb erscheint nur im unteren Bilddrittel dicht und ungetrübt, sonst ausschließlich in extrem hoher Stimmlage und versetzt zu unreinen Nuancen. Wohl am aufschlussreichsten aber ist die Verwendungs- und Erscheinungsweise des Rot: Gleichgültig, ob es als reines Hochrot gegeben ist oder, in äußerster Verdünnung, als ein überhelles Rosa – beide Male wirkt es nicht so sehr als Attribut einer Gegenstandsfarbe, sondern als eine Lichtqualität, jedoch unabhängig von äußerer Beleuchtung, was ebenso in der Heimsuchung begegnet. Gleiches gilt von fast allen Buntfarben in ihrer aquarellhaften Transparenz, was im Gemälde der Heimsuchung als etwas Schwebendes, als von innen her motivierte geheimnisvolle Darstellung anmutet.22 Ernst Strauss verweist auf das „sublimierende Licht“, das selbst in die Substanz der Gegenstandsform angreift, und dies bis zu einem so hohen Grade, dass die Oberflächenqualität des Farbträgers sich der Bestimmbarkeit entzieht.23 „Wo immer aber ‚auftretendes‘ Licht gezeigt wird, wirkt es als Widerschein oder mondscheinartig bleich, als eine farbverzehrende eher denn als eine farbsteigernde Kraft, der jedoch 18

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Lorenz Dittmann: Farbgestaltung und Farbtheorie in der abendländischen Malerei. Eine Einführung. Darmstadt 1987, S. 135. Im Gefolge dieser Konzentration vollzieht sich, nach tastenden Anfängen im Quattrocento, die Herausbildung der Primärfarbentrias (Rot, Gelb, Blau) als Grundlage der koloristischen Ordnung bei Raffael, Andrea del Sarto, Coreggio und Tizian. Emil Maurer: Zum Kolorit von Pontormos ‚Deposizione‘. In: 15 Aufsätze zur Geschichte der Malerei. (Festgabe zum 65. Geburtstag von Emil Maurer). Hrsg. von Oskar Bätschmann und Benno Schubiger. Basel / Boston / Stuttgart 1982, S. 109–122, bes. S. 120. Ernst Strauss: Koloritgeschichtliche Schlüsselwerke der neuzeitlichen Malerei. In: Koloritgeschichtliche Untersuchungen zur Malerei seit Giotto und andere Studien. Hrsg. von Lorenz Dittmann. 2. erw., u. um Farbtaf. verm. Aufl. München / Berlin 1983, S. 81–98, zu Pontormos Kreuzabnahme vgl. ebd. S. 95f. Strauss (Anm. 20), S. 95. Vgl. Dittmann (Anm. 18), S. 156. Strauss (Anm. 20), S. 96, bezieht sich hier vor allem auf den den Oberkörper des Leichnams stützenden Jüngling vorne, wo der materielle Unterschied zwischen Inkarnat und Bekleidung nahezu aufgehoben zu sein scheint.

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nirgends im Bilde ein Dunkel polar entgegensteht.“24 Und Emil Maurer überspitzt das noch, indem er schreibt, dass in der „Übermacht des Lichte wie im spektralartigen Kolorit eine Erscheinung höherer Natur vermittelt wird.“ Nicht das Abbild einer Leichentragung, das durch Elektion und Purifikation idealisiert wäre, sondern der manieristischen idea-Lehre entsprechend, der Abglanz einer göttlichen Vorstellung, der gerade in seiner Allfarbigkeit und Helle, die Universalität und die hohe Objektivität eines Urbildes behauptet.25

IV. Wer war Jacopo Pontormo? Jacopo Pontormo verkörpert, wie wir den Berichten seiner Zeitgenossen und seinen eigenen Aufzeichnungen entnehmen, den Typus des modernen Künstlers. Ein empfindsamer Intellektueller, der zurückgezogen, begleitet von Melancholie und Anderssein, lebte und nur bestimmte Aufträge annahm. Die Kunstwissenschaft bezeichnete ihn oft auch als eine Art Sonderling, demgegenüber sich der Zweifel aufdrängt, ob es überhaupt lohne, sich mit ihm zu befassen. Unbeantwortet bleibt indessen die Frage, was Pontormo unersetzlich zum Verständnis der Welt und des Menschen beiträgt, warum wir ihn nicht entbehren können. Seine Tagebucheintragungen lassen eher einen zum Pessimismus geneigten Menschen vermuten. Über seine Werke hat er nicht eine Zeile geschrieben. Dennoch ist wohl zu attestieren, dass der Künstler der Vergangenheit und seiner Zeit doch das zum Ausdruck und zur Anschauung bringt, auch wenn es Widerspruch wachruft, was einer nachdenklichen Anschauung zumindest neue Impulse verleiht. Giorgio Vasari schrieb 1568 über Pontormo in seinen Viten: Selbst wenn […] seine eigenbrötlerische Lebensweise wenig Zustimmung fand, heißt das nicht, daß irgendeiner, der dies möchte, keine Entschuldigung für ihn finden könnte. Denn wir sind ihm zu Dank verpflichtet für die Werke, die er schuf, und sollten ihn nicht für diejenigen beschuldigen und tadeln, zu deren Ausführung er keine Lust hatte.26

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Strauss (Anm. 20), S. 95f. Maurer (Anm. 19), S. 119. Giorgio Vasari: Das Leben des Pontormo. Neu übersetzt, kommentiert und hrsg. von Katja Burzer. Berlin 2004, S. 54. Giorgio Vasari (1511–1574) war ein italienischer Künstler und Hofmaler der Medici und Biograf florentinischer Künstler. Er gilt durch seine Schriften über das Leben und Werk zeitgenössischer Meister als einer der ersten Kunsthistoriker. Er führte den von ihm selbst abgewerteten Epochenbegriff der Gotik ein. Ebenso geht die Stilbezeichnung Manierismus auf ihn zurück. Auch den Renaissancebegriff führte er in seinen Lebensbeschreibungen der italienischen Künstler 1550 erstmalig ein. Vgl. dazu: Ulrich Thieme, Felix Becker: Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart, 20. Jahrhundert. Bd. 33. Leipzig 1999 (Unveränderter Nachdruck der Originalausgaben Leipzig 1939 und 1940.), S. 119–128.

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Pontormos Bildwerke bleiben über mehrere Jahrhunderte vergessen, weshalb sie sich heute noch – was durchaus eine Besonderheit darstellt – an den ursprünglichen Orten befinden, für die sie geschaffen wurden. Seit Beginn des 20. Jahrhunderts, wo wir der Vielfalt der Kunstströmungen, der Ismen wie Impressionismus, Expressionismus, Kubismus oder Futurismus u. v. a. mehr begegnen, wird er von der Forschung wieder entdeckt, und es entstehen erste Publikationen. Der amerikanische Kunsthistoriker Clapp sah 1912 zum ersten Mal die Kreuzabnahme (Abb. a) der Kirche Santa Felicità in Florenz, und er schrieb 1916 im Vorwort zu einer ersten umfassenden Monographie über Pontormo über dieses Gemälde: „Es traf mich wie eine Offenbarung“.27

V. Die Rezeption von Jacopo Pontormo im 20./21. Jahrhundert Nicht nur Kunsthistoriker erweisen diesem Maler wieder die Ehre. Auch Theater- und MedienkünstlerInnen des 20. und 21. Jahrhunderts entdecken Pontormo und verwenden als Ausgangspunkt ihrer eigenen Arbeiten seine Gemälde. So zum Beispiel der italienische Literaturwissenschaftler und Regisseur Pier Paolo Pasolini,28 der 1963 in dem Film La Ricotta neben einer Kreuzabnahme von Rosso Fiorentino auch Pontormos gleichnamiges Gemälde vorführt, damit wichtige Intentionen der Werke Pontormos aufnimmt und diese in ein neues Medium überträgt.29 27 28

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Frederick Mortimer Clapp: Jacopo Carucci da Pontormo. His life and work. With a Foreword by Frank Jewett Mather, JR. Yale New Haven / London 1916. S. xiii. Pier Paolo Pasolini wurde als Sohn eines Berufsoffiziers und einer Volksschullehrerin 1922 in Bologna geboren. Für seine ersten schriftstellerischen Werke war der Wohnort seiner Großeltern, die ländliche Kleinstadt Casarsa in Friaul, wo er zumeist seine Schulferien verbrachte, ausschlaggebend. Gedichte, die er bereits im Alter von sieben Jahren verfasste, gehen auf diese Zeit und Umgebung zurück. So entstand bereits 1942 ein Lyrikband in friulischem Dialekt (Poesie a Casarsa), der aber von der faschistischen Zensur verboten wurde. Bis in die fünfziger Jahre folgten weitere Gedichtbände und Romane zu unterschiedlichen Themen. Seit 1955 beschäftigte er sich intensiv mit dem Film. Filmästhetisch lässt Pasolini sich kaum einordnen. Pasolini gestaltete seine Dialoge im Film poetisch, gab seinen Metaphern oft ikonografische Tiefe und überließ nichts dem Zufall. „Als Regisseur hat Pasolini nicht nur die Szenerie des europäischen Films seiner Zeit verändert und beeinflusst. Fast alle seine Filme waren Zäsuren, einschneidende, maßstabverschiebende Ereignisse, die immer wieder – auch heute noch – veranschaulichen, was Kino sein kann“. In: ARTHAUS COLLECTION. KulturSPIEGEL. Klappentext zu Pier Paolo Pasolini collection (DVD-Video) 2008. Die neuen Medien sind insofern zukunftsorientiert und heute nicht mehr wegzudenken, als dass sie in besonderer Weise der künstlerischen und wissenschaftlichen Intermedialität unserer Gesellschaft verpflichtet sind. In der Verknüpfung von gestalterisch-künstlerisch-medialer Praxis, wissenschaftlicher Reflexion und pädagogischem Handeln beschäftigt sich die Mediengestaltung vorrangig mit dem Bereich der Digitalen Medien.

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VI. The Greeting – eine Video-Klanginstallation von Bill Viola Videoinstallationen nehmen heute einen durchaus sichtbaren Teil des zeitgenössischen Kunstschaffens ein. Dabei geht es um Filme oder fotografische Bilder, die in höchst verschiedenen Anordnungen bzw. Präsentationsformen gezeigt werden. Dass diese Installationen selten in die Ausstellungen von Museen integriert sind, liegt vor allem auch an den technologischen Gegebenheiten ihrer Präsentation.30 Der Videokünstler Bill Viola, 1951 in New York geboren und heute in Long Beach in Kalifornien lebend, ist einer der bedeutendsten Künstler, die sich auf Videoinstallationen spezialisiert haben. Er ist weltweit durch seine Video-Klang-Installationen hervorgetreten. 1992 nahm er mit einer großen Arbeit an der documenta IX in Kassel teil. Ein Jahr vorher konzipierte und realisierte er für das Museum für Moderne Kunst in Frankfurt zur Eröffnung des Hauses eine Arbeit mit dem Titel The Stopping Mind (1991). Diese Videoinstallation zählt bis heute als seine weltweit einzige permanente VideoInstallation. Diese Arbeit wird im Frankfurter Haus als eine der wichtigsten der Sammlung bewertet. Aus schriftlicher Quelle ist zu lesen: Seit etwa 1976 konzentriert sich Viola auf die subjektive Wahrnehmung der sichtbaren äußeren sowie der unsichtbaren inneren Zusammenhänge der Welt, auf die Beziehung zwischen Mensch und Natur, Mensch und Kultur, Mensch und Zivilisation sowie Fragen nach den Wirklichkeiten von Leben und Tod, einem möglichen Leben vor der Geburt und nach dem Tod.31

1995 präsentiert Viola das Werk Die Begrüßung (The Greeting) als amerikanischen Beitrag auf der Biennale in Venedig (vgl. Abb. 30–32, Bildteil). Das Werk gehört zu der Gruppe der fünf Videoarbeiten, die unter dem Titel Vergrabene Geheimnisse (Buried Secrets) konzipiert wurden. Bemerkenswert ist, dass der Künstler das Video als Vision einsetzt, wobei sich die Wahrnehmung durch visuelle und akustische Erfahrung verschieben kann. Nicht die äußere Wirklichkeit interessiert Bill Viola. Er verfolgt die Visualisierung von Gefühlen, Intuitionen oder des Transzendenten. Mit Intuition und Intellekt arbeitend, will er durch seine Werke primär die Intuition des Betrachters ansprechen. Er verwendet die Videotechnik als Mittel, innere Bilder umzusetzen. Seine Videoaufnahmen reproduzieren zwar die sichtbare Wirklichkeit, gehen jedoch über die Repräsentation von sichtbarer Wirklichkeit hinaus. Viola arbeitet dabei mit der Montage von Bildern, kurzen Einblendungen und der Verwendung von extremer Zeitlupe. Dabei sieht der Videokünstler eine Analogie zwischen den technisch erzeugten Videobildern und dem durch sie ermöglichten Blick auf die Welt hinter dem Sichtbaren einerseits und den 30 31

Vgl. dazu: August Heuser: The Greeting – eine Videoinstallation von Bill Viola. In: Das Münster 52 (1999), S. 158–159. Heuser (Anm. 30), S. 158.

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spirituellen Erfahrungen von Mystikern und Schamanen früherer Zeiten, verschiedener Religionen und Kulturen andrerseits.32 Bill Viola greift mit seiner Arbeit The Greeting auf kunsthistorische Wurzeln zurück, indem er das Werk des italienischen Manieristen Jacopo Pontormo reflektiert (vgl. Abb. 29, Bildteil). Er stellt mit modernen technischen Mitteln das Bild nach. Sowohl die Heilsgeschichte als auch die malerische Tradition werden kommentiert. Er macht daraus eine Filmsequenz, indem er die Monumentalität des alten Gemäldes in die heutige Zeit transferiert. Während Pontormo in seinem Bild bestrebt ist, genau den Moment einzufangen, in dem Maria und Elisabeth sich in geistiger Versenkung am nächsten sind und der Betrachter den stummen Dialog erahnt, verfügt Viola dank der Videotechnik über die Möglichkeit, das Gemälde in der Zeit zu entfalten. Zur Raffinesse der Arbeit von Viola gehört es allerdings, keine simple Nacherzählung anzufertigen, sondern er kontaktiert sein eigenes Medium, indem er dem Video die Geschwindigkeit entzieht und die reale Spielzeit des Filmes von 55 Sekunden auf 10 Minuten ausdehnt. Dadurch entsteht der irritierende Effekt eines sich langsam, unmerklich bewegenden Bildes. Es ist, als ob das Altarretabel aus einer inneren Dynamik heraus erwachse.33 Betritt der Besucher oder die Besucherin den Raum, so sieht man auf der Leinwand zwei Frauen im Gespräch auf einem städtisch anmutenden Platz projiziert. In Untersicht aufgenommen, werden die Bewegung, das Aufeinanderzugehen, die Begrüßung, der körperliche Kontakt sichtbar und durch die Zeitlupenwende dem Alltäglichen entrissen. Die geflüsterten Worte, kaum hörbar, und die traumwandlerischen Bewegungen lassen das Irrationale der Situation erkennen und verweisen auf den spirituellen Charakter der Bildvorlage Pontormos. Die Worte, „Can you help me. I need to speak with you right away“, lassen sich undeutlich wahrnehmen. Die Architekturkulisse der Stadt – vermutlich Florenz – wird von Viola mit ihren Ecken und Brechungen genau rekonstruiert. Sogar das Serielle der Figurenanordnung Pontormos wird nahezu beibehalten, wobei Viola die Zahl der Figuren auf drei reduziert und sie in Schuhe und Gewänder von heute einkleidet (vgl. Abb. 31, Bildteil). Frappierend ist es, wie es ihm gelingt, eine antikisierende Kleidung zu schaffen, welche die Frauen eindeutig als Zeitgenossinnen erscheinen lässt, jedoch gleichzeitig in eine zeitlose Ferne rückt.34 Die Ältere der beiden Frauen – Elisabeth – ist schwanger. Der tiefblaue Himmel wirkt wie ein winterliches Licht und lässt die Tageszeit unbestimmt. Ein Sturmgebrause wird hörbar, die modernen sommerlichen Kleider der beiden Frauen in Rot und Ocker fangen an, sich im Wind zu bewegen. In ihre Unterhaltung tritt mit großen Schritten im stärker werdenden Wind und bei fast unmerklichen Lichtveränderungen eine dritte, 32 33 34

Kurt Wettengl: Room for St. John of the Cross. In: Bill Viola. Europäische Einsichten / European Insights. Hrsg. von Rolf Lauter. München / London / New York 1999, S. 248–266. http://www.medienkunstnetz.de/werke/the-greeting (eingesehen am 12.12.2011). Die Kunst des 20. Jahrhunderts. Museum Ludwig Köln. Hrsg. von Marc Scheps. Köln [u. a.] 1996, S. 736.

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ebenfalls schwangere Frau, die auf die ältere zutritt, diese mit heftigen Umarmungen begrüßt und ihr die bereits erwähnten Worte ins Ohr flüstert. Schließlich wird diese der ihr noch unbekannten Frau vorgestellt. Die intensive Unterhaltung geht nun zu dritt weiter. Das Geräusch des Windes und die schwingende Bewegung der Kleider lassen wieder nach.35 Dadurch, dass der ca. 55 Sekunden dauernde Film in eine Zeitlänge von 10 Minuten gedehnt wird, sind die Mund-, Hand- und Körperbewegungen in extremer Langsamkeit, aber überaus großer Deutlichkeit zu sehen. Alle Bewegungen, auch die der Kleider im Sturm und Wind, erhalten eine außerordentliche Eleganz, Leichtigkeit, Sinnlichkeit sowie eine poetische Ausstrahlung, womit auch ein ungewöhnliches, großes Volumen auf der Projektionsfläche gegeben ist. Das Mienen- und Gestenspiel der drei Frauen wird für den/die Betrachter/in bis ins Kleinste sichtbar, durchschaubar und nachvollziehbar. Die Kommunikation wird nicht zu einem auditiven, sondern zu einem visuellästhetischen Erlebnis. Und hier ereignet sich meines Erachtens der Brückenschlag von Jacopo Pontormos Gemälde zu der Videoarbeit Bill Violas.

VII. Was beabsichtigt Bill Viola mit seiner Arbeit The Greeting? Inhaltlich weicht Viola nicht unwesentlich von der Altartafel ab. Pontormo platziert zwei Frauen mit ernsthaftem Gesichtsausdruck im Hintergrund des Geschehens. Viola ersetzt die Vierer-Komposition durch eine Konstellation zu dritt, die nicht simultan stattfindet, sondern dem Verlauf einer Geschichte folgt. Zunächst treffen eine ältere Frau im Halbprofil, am rechten Bildrand zu sehen, und ihre jüngere, blonde, blau gekleidete Freundin aufeinander. Sie begrüßen sich freudig. Das blaue Gewand, das Alter und die Haarfarbe erwecken zunächst den Eindruck, dass diese Sequenzstelle den Hauptteil eines Tableau vivant darstellt. Erst nach einigen Minuten tritt eine dritte Person von links auf (vgl. Abb. 30, Bildteil). Sie trägt ein rotes Kleid und hat schwarze Haare. Und als die beiden sich umarmen, werden die Worte ins Ohr geflüstert, die die andere Frau nicht hören kann und die sich deshalb unentschlossen verhält. Sehr viel eindringlicher als bei Jacopo Pontormo rückt Viola dieses Ungleichsein im Moment der Gleichzeitigkeit in den Bildmittelpunkt. Dies konnte im Jahr 2001 besonders gut wahrgenommen werden, als in der Pfarrkirche von Carmignano vom 7. April bis zum 17. Juni eine Präsentation vor Ort gezeigt wurde. Neben dem Gemälde von Pontormo wurde parallel der Videofilm Violas gezeigt. War die Arbeit in Venedig in einem geschlossenen dunklen Raum als Einzelwerk ohne Vergleich zu sehen, konnte 35

Vgl. Heuser (Anm. 30), S. 159.

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man hier nur erahnen, was eigentlich wahrgenommen werden sollte. Ohne kunsthistorisches Vorwissen waren viele fragende Gesichter bei den Betrachtern zu beobachten. In Carmignano hingegen konnte auf Grund des Originals und des nebenbei laufenden tableau vivant eindeutig festgestellt werden, worauf, so meine ich, beide Künstler hinauswollten. Formal ist Pontormos Gemälde deshalb bemerkenswert, weil, wie oben bereits ausgeführt, der Maler die beiden Frauen in der Seitenansicht zeigt, im Hintergrund aber auch zwei weibliche Personen in der Frontalansicht darstellt. Viola variiert das Altarbild für seine Videosequenz, bis hin in die Architektur, gebraucht aber auch die Farbigkeit des Bildes für die Farbigkeit seiner Arbeit. Der merkwürdige Effekt, den Pontormo durch die Doppelung der Gestalten erreicht, wird von Viola durch die Verlangsamung der Bildsequenz wiederholt. Somit ist der räumliche Effekt der Doppelung auf dem Gemälde Pontormos übersetzt, indem Viola diese in die Aktion seines Videos überträgt.36 Wie Christoph Bertsch treffend schreibt, können Pontormos Hauptwerke in den zwanziger und frühen dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts als eine fortlaufende Diskussion grundlegender Fragen des menschlichen Seins verstanden werden. Seine Heimsuchung steht außerhalb gängiger Traditionen und ist für die damalige Zeit ein Gemälde der Avantgarde, das Pontormos gereinigtes magisches Denken zeigt. Reinigung als Trennung von Seele und Leib, der wandernde Geist, weibliche Prinzipien, Fruchtbarkeit und Schwangerschaft, die Verwandlung und Transformation, eine Entwicklung vom Niedrigen zum Höheren, vom Grobstofflichen zum Feinstofflichen werden thematisiert und in den aktuellen Rahmen der zweiten Florentiner Republik gestellt.37

VIII. Zeiten des Umbruchs In der griechischen Inselwelt hielt sich in den Jahren 1414–1422 der florentinische Kaufmann Cristoforo del Buondelmonte auf, der 1419 auf Andros ein spätantikes Werk aufgestöbert hatte, den Horapollo38 (Abb. c). Man glaubte, es handele sich um eine Darstellung von Hieroglyphen aus ägyptischer Zeit – in Wirklichkeit entstammten die merkwürdigen Bilderrätsel der Spätantike. Diese Hieroglyphen sind jedoch von außerordentlicher geistesgeschichtlicher Bedeutung, weil 36 37 38

Vgl. Heuser (Anm. 30), S. 158. Bertsch (Anm. 5), S. 92. Horapollo war ein im späten 5. und frühen 6. Jahrhundert lebender spätantiker Philosoph, der aus Ägypten stammte. Als Heide wurde er Opfer der antiheidnischen Maßnahmen Kaiser Zenons. 484 kam es zu Übergriffen, was in Alexandria zu einer Spaltung der philosophischen Schule führte. Mehrere heidnische Philosophen konvertierten zum Christentum, darunter auch Horapollo.

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Abb. c: Hori Apollinis selecta hieroglyphica. Imagines vero cum priuilegio by Horapollo (Romanae: sumtibus lulij Franceschini, ex typographia Aloysij Zannetti, 1599). Brooklyn Museum Libraries. Wilbour Library of Egyptology. Special Collections.

man sie als expressive Symbole gedeutet hat. Die eigentliche Wahrheit, der tiefste Sinn, so hieß es, müsse nach den Humanisten manchmal in verschleierte, mystische Form gekleidet werden, damit die Uneingeweihten und Unkundigen das Heilige nicht profanierten. Das symbolische Zeichen besitze demnach dieselbe Kraft wie ein Talisman und bedürfe eines Interpreten. Die Entzifferung der Hieroglyphen des Horapollo sowie die Erstellung von neuen Hieroglyphen, Bilderrätseln und gelehrten dunklen Sprüchen durch die Humanisten entsprach demnach der herkömmlichen neuplatonischen Anschauung, nach welcher das Bild als Träger von etwas Göttlichem und Übersinnlichen erscheint.39 Der synkretische Charakter der Religiosität im 15. Jahrhundert in Italien sowie die Vermischung christlichen Glaubens mit antikem, heidnischem und jüdischem Gedankengut und der tiefgreifende Einfluss dieser Strömung auf Form und Inhalt der bildenden Kunst sind von einer Reihe ikonologisch ausgerichteter Forscher erörtert worden. Zu nennen sind hier vor allem Aby Warburg, Fritz Saxl, Raymond Klibansky und Er39

Siehe dazu: Pochat (Anm. 3), S. 239–240.

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win Panofsky. Und wie bereits erwähnt, machte Edgar Wind mit seinem Buch über Heidnische Mysterien in der Renaissance den Reflex dieser geistigen Situation in der bildenden Kunst am eindringlichsten sichtbar.40 Ich gehe jedoch mit Otto Pächt konform, indem ich die Meinung vertrete, dass die moderne Ikonografie und Ikonologie unsere Aufnahmeorgane mit dem Wissen um die Tradition, die in jeder historischen Situation eine andere ist, auszustatten hat. Denn es ist zu bedenken, dass die christliche Religion eine Buchreligion ist und ihre Heilswahrheiten dadurch kodifizierbar sind. Die Grenzen der christlichen Ikonografie sind somit schnell erklärt. Spezifisch müsste man nach den Grenzen der modernen Ikonografie in anderen Disziplinen suchen, denn im Historischen verhält es sich wie im Religiösen. Vieles ist auch dort kodifiziert und somit Grenzen unterworfen. Die absolute Grenze der Ikonografie bildet die Tatsache, dass die bildende Kunst niemals etwas selbst erfindet, dass sie letzten Endes nur illustriert, was in anderen geistigen Sphären vorher ersonnen worden ist. „Ob gewollt oder nicht, resultiert daraus eine Imagination einer Kunst, die konstant nachhinkt.“41 Meines Erachtens verwendete Pontormo dieses durchaus traditionelle Bildprinzip der Darstellung eines überzeitlichen Geschehens als zeitgenössisches Ereignis und lässt sein Werk jenseits aller Zeitgebundenheit zum Ausdruck zeitloser Dauer geistiger Erfahrungen und Erkenntnisse werden. Interessant ist jedoch, dass Bill Viola „diese Beziehung zwischen Unendlichkeit, Aktualität oder Begrenztheit des Lebens als ein[en] wichtige[n] Bestandteil unserer Existenz“ interpretiert und eine Analogie zu unserem heutigen Dasein kommentiert. Als Vehikel thematisiert er über Pontormos’ Altarbild den aktuellen Diskurs zu Simultanität, Fiktionalität und Immaterialität.42 Er sieht das Bild nicht als Objekt, sondern als ein lebendiges, permanent sich wandelndes Ereignis, als Wesen mit eigenem Dasein. Dabei scheint er auf eine bereits 1939 festgehaltene Feststellung Rudolf Arnheims zu rekurrieren, der am 24.5.1939 in der Neuen Zürcher Zeitung darauf hinwies, dass die Problematik des Filmkünstlers darin bestünde, dass er Bewegung und Handlung in Gleichklang bringen solle. Man könne durch perspektivische Verschiebungen und Aufeinanderfolgen von unbewegten Objekten und Licht starre Gemälde bewegen. Ohne filmische Auflösung sei eine künstlerische Darstellung von Kunstwerken nicht möglich, die das „Augenöffnen für die Zeichensprache der Kunst“ erfüllen soll. Rudolf Arnheim, der Philosoph, Kunsthistoriker und Filmtheoretiker, publizierte 1932 sein Hauptwerk Film als Kunst.43 Unter anderem schreibt er, dass das Auge des einfachen Mannes sich die lebenden Bilder des Films besser einprägen könne und sieht den 40 41 42 43

Wind (Anm. 4). Pächt (Anm. 4), S. 373. Doris Krystof: Jacopo Carrucci, genannt Pontormo. Köln 1998, S. 6–7. Rudolf Arnheim: Film als Kunst. Berlin 1932. Neuauflage München / Wien 1979. Vgl. Vortrag von Helmut H. Diederichs anlässlich des Bonner Arnheim-Symposions im November 1997. http:// www.sozpaed.fh-dortmund.de/diederichs/texte/arnheimb.htm (eingesehen am 12.03.2012).

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Film als Bilderbibel des Volkes! Unter anderem erstellt er damit erstmals ein theoretisches System des Films. Bill Viola differenziert und steigert mit seiner Video-Klang-Installation das stehende Bild Pontormos insofern, als er drei Frauen unterschiedlichsten Alters und Kleidung auftreten lässt. Alle kommunikativen Bezüge werden durchgespielt. Die künstlerische Vision eines Bildes ist für Viola wichtig. Er spricht von einem Kommunikationssystem vieler Künstler über Jahrhunderte hinweg. Vergrabene Geheimnisse: Dieser Titel wurde von Viola einem Vers von Dschalal ad-Din Muhammad Rumi, einem der bedeutendsten persischen Philosophen des Mittelalters, entnommen. Die Projektion innerer Bilder erfolgt zwischen verwandten Seelen. Das Medium des Videos ermöglicht für Viola die Darstellung des vorher und nachher, lässt den Bewegungsmoment, das Thema der Transformation, das in Pontormos Heimsuchung bereits impliziert ist, augenscheinlich werden. Der biblisch unkundige Betrachter oder der unwissende Rezipient des Videos werden die neutestamentliche Grundlegung und wahrscheinlich auch den Zitatcharakter des Films und des Titels der Installation – The Greeting bzw. Heimsuchung –44 nicht erkennen. Jacopo Pontormo schaffte es meiner Meinung nach mit beeindruckender Sicherheit, einen psychologischen Zustand theatralisch auszudrücken. Wie im Theater wird das „einzige Fenster verdunkelt“, um Licht auf die konkrete Kraft des Überirdischen zu werfen. Es versteht sich von selbst, dass diese konzeptuelle Vision in der Darstellung eine Form generierte, die in seiner Zeit von Interesse war. Durch seine Fähigkeit, subtile Bilder darzustellen, ist Pontormo mit Pier Paolo Pasolini vergleichbar.45 Der eine drückte sich durch die bildende Kunst aus, während der andere sich zunächst in Bezug auf Schrifttexte Bilder als einprägsame Metaphern erschuf. Jacopo Pontormo und Pier Paolo Pasolini waren Menschen, die sich durch ihre Reinheit, Unschuld und die Fähigkeit, die Form darzustellen, ausgezeichnet haben. Inwieweit dieser Gegensatz zu ihrem Leben wie Tag und Nacht gestanden sein möge, ist quellenmäßig nicht gesichert. Unterschwellig ist vermutbar, dass eben dieser Gegensatz zu ihrem Leben wie der Tag und die Nacht steht. Aber war es nicht vielleicht genau das, wodurch 44

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Zur Vergegenwärtigung kulturgeschichtlicher Inhalte heute bedarf es einer Vermittlungsstrategie, die zugleich Forschungsstrategie ist – und umgekehrt. Unter Staging Knowledge ist eine künstlerisch-wissenschaftliche Kulturtechnik zu verstehen, welche als Ausstellungs-Format einem Bildungsbedürfnis entgegenkommt, das die kunst- und kulturwissenschaftlichen Diskurse auch als ästhetische Erfahrung erleben will und gestalten möchte. Erst intuitive Geschmacksintelligenz und ein leidenschaftsfähiger Verstand sichern der Theorieproduktion die erwünschte libidinöse Besetzbarkeit: Soll doch die performative Kulturvermittlung als Rhetorik in Bewegung der Modulation unserer Affekte folgen, wie auch der Produktivität des Unbewussten geneigt sein – getragen von der Verve subversiver Freiheitsobsession. Vgl. dazu: www.ufg.ac.at (eingesehen am 10.4.2011). Als Pasolini mit 39 Jahren das Filmemachen begann, bezogen sich seine Drehbücher auf genaue Beobachtung, Analyse und Darstellung von allgemeinen existenziellen und kritischen Lebenssituationen.

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sie durch ihr durchdachtes und rigoroses Werk einen philosophischen Nachlass aufgebaut haben? Bill Violas künstlerische Fähigkeit ist m. E. insofern hervorzuheben, als dass er Details reflektiert und diese in ein klares Licht stellt. Darin sehe ich die Verwandtschaft zu Jacopo Pontormo. Es ist wichtig zu erkennen, weshalb neue Epochen sich von vorherigen unterscheiden. Und es wäre zu wünschen, mit der Ehrlichkeit der KünstlerInnen diese Unterschiede zu betonen. Das Ähnliche, das Ehrliche, das Sublime kann schwer zu einer Neoehrlichkeit oder einem Postähnlichen werden. Viola und Pontormo haben verschiedene Analogien, in denen sie sich treffen. Wir sollten uns nur darauf besinnen, dass Jacopo Pontormo als einer der ersten Künstler die extreme Spannung des Lebens aufzeigte, die in der Folge immer wieder zu interpretieren versucht wurde. Es bleibt unbestritten, dass die Funktion der Kunst Film und bildende Künste eint, wenn es um Darstellung, Erzählung, Wahrnehmung und deren Mitteilung geht. Von daher bezweifle Hans Ulrichs Recks Auffassung, dass die Kunst- und Kulturgeschichte sich aktuell auch ohne Filmwissenschaften und Medienphilosophie behaupten kann. Und es wäre zu begrüßen, wenn die Geistes- und Sozialwissenschaften dieser Tendenz zukünftig mehr freien Raum geben würden.46

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Hans Ulrich Reck: Film, Kunst, Kino – Die „Kunst des Films“ aus der Sicht und als Chance der Kunstgeschichte. In: Das bewegte Bild. Film und Kunst. Hrsg. von Thomas Hensel. München 2006, S. 81–127, hier S. 93.

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Verzeichnis der Autorinnen und Autoren

Elke Brüggen ist Professorin für Ältere Germanistik an der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität Bonn. Jörg Döring ist Professor für Neuere deutsche Philologie, Medien- und Kulturwissenschaft an der Universität Siegen. Ulrich Ernst ist Professor für Allgemeine Literaturwissenschaft und Deutsche Philologie an der Bergischen Universität Wuppertal. Udo Friedrich ist Professor für Ältere deutsche Sprache und Literatur an der Georg-August-Universität Göttingen. Saskia Haag ist Wissenschaftliche Assistentin für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Konstanz. Barbara Kosta ist Professorin für deutsche Literatur und Film an der Universität von Arizona in Tucson. Helga W. Kraft ist Professorin (em.) für deutsche Literatur und Kultur der Neuzeit an der Universität von Illinois in Chicago. Andreas Kraß ist Professor für Ältere deutsche Literatur an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Dagmar C. G. Lorenz ist Professorin für deutsche Literatur und Kultur der Neuzeit an der Universität von Illinois in Chicago. Bruno Quast ist Professor für Deutsche Philologie (Literatur des Mittelalters) an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Heike Sahm ist Wissenschaftliche Angestellte an der Universität Siegen. Monika Schausten ist Professorin für Ältere deutsche Sprache und Literatur an der Universität zu Köln. Inge Stephan ist Professorin (em.) für Neuere deutsche Literatur an der Humboldt-Universität zu Berlin. Silke Tammen ist Professorin für Kunstgeschichte (Schwerpunkt Mittelalter) an der Justus-LiebigUniversität Gießen. Irma Trattner ist Gastprofessorin für europäische Kunstgeschichte an der Saint John’s University Minnesota und Vertragslektorin an der Kunstuniversität Linz für Kulturgeschichte und Gender Studies. Haiko Wandhoff vertritt derzeit eine Professur an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist Privatdozent für Ältere deutsche Literatur und Frühneuzeitforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin.

Bildteil

Abb. 1: Laurence Sterne: Marmorierte Seite. In: The Life and Opinions of Tristram Shandy, Gentleman. Hrsg. von Melvyn New, Joan New, Bd. I. Gainesville 1978.

Abb. 2: Claude Simon: Montageplan zu La Route des Flandres. Schema nach Hilde Strobl: Die Planung des Raumes in der Zeichnung des Dichters. In: Architektur wie sie im Buche steht, S. 157 (Abb. 103).

Abb. 3: Heinrich Böll: Farbige Planskizze zu der Erzählung Das Ende einer Dienstfahrt (1967). Abbildung nach: Ansichten. Die Romanskizzen Heinrich Bölls. Hrsg. von der Heinrich-Böll-Stiftung. Berlin 2010, S. 87.

Abb. 4: Sophie Calle: Monday Orange; Thursday Green; Sunday Orange, Red, White, Green, Yellow & Pink. In: The Chromatic Diet. In: Dies.: Double Game (With the participation of Paul Auster), London 1999, S. 14, 17 und 21. © Sophie Calle.

Abb. 5: Die Farben und Goethe. Farbenwesen, Performance, Wetzlar 2010; © Fotograf Klaus Frahm.

Abb. 6: Johann Wolfgang von Goethe: Farbenkreis zur Symbolisierung des „Menschlichen Geistesund Seelenlebens“, November 1809, Frankfurt / M. FDH/FGM, Inv. Nr. 14047, Corpus VI B, N 27.

Abb. 7: Johann Wolfgang von Goethe: Die Solfatara von Pozzuoli, 1787, Weimar, SWK / GNM, Inv. Nr. 640, Corpus II, 87.

Abb. 8: William Joseph Mallord Turner: Light and Color (Goethe’s Theory) – The Morning after the Deluge, Moses Writing the Book of Genesis, 1843, © Tate Gallery, London, 2011.

Abb. 9: Antoine Chrysostôme Quatremère de Quincy: Handkolorierte Rekonstruktionszeichnung des Zeus in Olympia (1815), in: Andreas Prater: Streit um Farbe. Die Wiederentdeckung der Polychromie in der griechischen Architektur und Plastik im 18. und 19. Jahrhundert. In: Bunte Götter. Die Farbigkeit antiker Skulptur. Eine Ausstellung der Staatlichen Antikensammlung und Glyptothek München. Hg. v. Vinzenz Brinkmann. 2. Aufl. München 2004, S. 256-267, hier S. 256.

Abb. 10: Jakob Ignaz Hittorff: Rekonstruktion des Empedoklestempels in Seliunt (1830), in: Harry Francis Mallgrave: Gottfried Semper. Ein Architekt des 19. Jahrhunderts. Aus d. Amerik. v. Joseph Imorde u. Michael Gnehm. Zürich 2001, S. 49.

Abb. 11: Gottfried Semper: Kolorierte Perspektive der Akropolis (1833), in: © gta Archiv, ETH Zürich: Semper-Archiv Nr. 20-0215-2.

Abb. 12: Iwein mit dem Löwenwappen, Schloss Rodenegg, Südtirol. © Gräfin Dorothea von Wolkenstein.

Abb. 13: Ankerwappen der Stadt Narvik. In: Carl-Alexander von Volborth: Heraldik. Eine Einführung in die Welt der Wappen. Stuttgart / Zürich 21992, S. 42.

Abb. 14: Manuskript mit Initiale, © Universitätsbibliothek Heidelberg. Thomasin von Zerklaere: Der welsche Gast. cpg 330, fol. 1r.

Abb. 15: Manuskript mit Initiale, © Universitätsbibliothek Heidelberg. Wolfram von Eschenbach: Parzival (Band 1). cpg 339, fol. 6r.

Abb. 16: Thomas Gainsborough, Blue Boy, 1770, © The Huntington, L. A.

Abb. 17: Caspar David Friedrich: Das Eismeer, Öl auf Leinwand 1823/1824, © bildarchiv preussischer kulturbesitz: 00036758, Hamburger Kunsthalle.

Abb. 18: Die Havella an der Packeisgrenze. In: Alfred Andersch: Hohe Breitengrade oder Nachrichten von der Grenze. Ein Reisebericht mit 48 Farbtafeln nach Aufnahmen von Gisela Andersch. Zürich 1984. Photographie von Gisela Andersch; © Gisela Andersch.

Abb. 19: Gerhard Richter: Eis, 1981 (WV Nr. 476), © Gerhard Richter 2012.

Abb. 20: Carl Ritter: Deutschland als Bas-Relief (1803), in: Lothar Zögner (unter Mitarbeit von Klaus Lindner u. Gudrun K. Zögner): Kartenschätze. Aus den Sammlungen der Staatsbibliothek zu Berlin. Preußischer Kulturbesitz. Braunschweig 2000, S. 120f.

Abb. 21: Mittel-Europa im Jahre 1250. Aus dem Historischen Atlas von Carl Wolff (1877), in: Ute Schneider: Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute. Darmstadt 2004, S. 89.

Abb. 22: George Parkin: Map of the World (1884), in: Ute Schneider: Die Macht der Karten. Eine Geschichte der Kartographie vom Mittelalter bis heute. Darmstadt 2004, S. 120.

Abb. 23: Ausschnitt Senegal. Screenshot aus Google Earth 2010, Privatarchiv Pablo Abend.

Abb. 26: Egerton 1821, fol. 6v–7r, © British Library.

Abb. 24: Egerton 1821, schwarze Seiten, 1v–2r, © British Library.

Abb. 25: Egerton 1821, fol. 2v, © British Library.

Abb. 27: Egerton 1821, fol. 8v–9r © British Library.

Abb. 28: Egerton 1821, fol. 9v, © British Library.

Abb. 29: Pontormo (Carucci, Jacopo called 1494–1556): Visitation. Carmignano, San Michele. © 2012. Photo: Scala, Florence

Abb. 30: Bill Viola: The Greeting, 1995. Video/sound installation, 430 × 660 × 780 cm. Color video projection on large vertical screen mounted on wall in darkened space; amplified stereo sound. Performers: Angela Black, Suzanne Peters, Bonnie Snyder. Production Still. Photo: Kira Perov

Abb. 31: Bill Viola: The Greeting, 1995. Video/sound installation, 430 × 660 × 780 cm. Color video projection on large vertical screen mounted on wall in darkened space; amplified stereo sound. Performers: Angela Black, Suzanne Peters, Bonnie Snyder. Production Still. Photo: Kira Perov

Abb. 32: Bill Viola: The Greeting, 1995. Video/sound installation, 430 × 660 × 780 cm. Color video projection on large vertical screen mounted on wall in darkened space; amplified stereo sound- Performers: Angela Black, Suzanne Peters, Bonnie Snyder. Production Still. Photo: Kira Perov