Table of contents : Inhalt Vorwort 0 Einleitung 0.1 Einführung und Problemstellung 0.2 Die Stadtstraße in der Forschung 0.3 Theoretischer Hintergrund und Ziel der Arbeit 0.4 Zum Raumbegriff der Arbeit 0.5 Aufbau des Buches 0.6 Form der Notation 1 Stadtstraßen in ihrer historischen Entwicklung: Formen und Bedeutungen 1.1 Die ersten Straßen 1.2 Stadtstraßen in der Antike 1.3 Stadtstraßen im Mittelalter 1.4 Stadtstraßen der Renaissance 1.5 Stadtstraßen im Barock (17.-18. Jahrhundert) 1.6 Stadtstraßen im 19. Jahrhundert 1.7 Großstadtstraßen im 20. Jahrhundert 1.8 Die Potsdamer Straße: historische Entwicklung und heutige Situation 1.8.1 Von der Landstraße zur Stadtstraße 1.8.2 Die Potsdamer Straße 1900-1945 1.8.3 Die Potsdamer Straße im alten West-Berlin 1945-1989 1.8.4 Die Potsdamer Straße heute 1.8.5 Architektur und Städtebau in der Potsdamer Straße 2 Objekt-Zeichen und Umwelt-Interpretationen: die theoretischen Grundlagen 2.1 Zeichen und Interpretation: zeichentheoretische Grundbegriffe 2.1.1 Was ist ein Zeichen? 2.1.2 Wann ist etwas ein Zeichen? 2.2 Objekt-Zeichen und Objekt-Ordnungen 2.2.1 Zum Objektbegriff 2.2.2 Semiotische Konzeptionen des Objekts 2.2.3 Signifikante Objekte 2.2.3.1 Objekt-Zeichen zwischen Kode und Inferenz 2.2.3.2 Denotation und Konnotation von Objekten 2.2.3.3 Objekttyp und Gebrauchsfunktion 2.2.3.4 Zur Perspektivität der Objektinterpretation 2.2.3.5 Objekttoken und Aisthezität 2.2.3.6 Exkurs: Semiotik und Objektkognition 2.2.4 Die Ordnung der Objekte 2.2.4.1 Objektkomplexe als Syntagmen? 2.2.4.2 Die Analyse und Synthese von komplexen (Objekt-)Zeichen: Theorie und Praxis 2.2.4.3 Die Metonymizität von Objekt-Zeichen 2.2.5 Ein interpretationsorientiertes Modell für Objekt-Zeichen 2.3 Wahrnehmung und Repräsentation von Umwelt 2.3.1 Wahrnehmung von Umwelt und Objekten 2.3.2 Die Welt im Kopf? Wahrnehmung als Ordnung und Schematisierung: Mentale Repräsentationen, Konzepte, Schemata 2.3.3 Umwelt(en) und Umweltrepräsentationen 2.4 Stadt und Zeichen: Tendenzen der stadtsemiotischen Forschung 2.4.1 Die Stadt als räumliches System 2.4.2 Die Stadt als Text 3 Die Straße, die Dinge und die Zeichen: zur Semiotik der Großstadtstraße 3.1 Straße, Stadtstraße, Großstadtstraße: Begriffe, Typen und Merkmale 3.1.1 Zum Lexem /Straße/ 3.1.2 Die Stadtstraße als Typkonzept und kulturelle Einheit 3.1.3 Allgemeine Merkmale von Stadtstraßen 3.1.4 Exkurs: Zu Unterschieden in der Wahrnehmung von Straße und Platz 3.2 Die Großstadtstraße als multiperspektivisches Wahrnehmungsobjekt und strukturierte Vorstellung 3.2.1 Konstituierende Konzepte 3.2.2 Die Großstadtstraße als Metasystem 3.2.3 Die Perspektivierung der Großstadtstraße 3.3 Die Ebenen der strukturellen Perspektivierung 3.4 Die Großstadtstraße als Objektkomplex: qualitative Perspektivierung und syntagmatische Gliederung 3.4.1 Typologie der potentiell als Zeichenausdruck fungierenden Objekte 3.4.2 Typologie der Inhalte von städtischen Objekt-Zeichen 3.4.3 Weitere Typisierungen 3.4.4 Wie signifizieren Straßen-Objekte? Exemplifikation und Ortsindexikalität 3.4.5 Zur praktischen, symbolischen und sensorischen Relevanz städtischer Objekte 3.4.6 Die Straße als Syntagma 3.4.7 Atmosphäre als Wirkung von Objektkomplexen 3.4.8 Exkurs: Leerstellen der Straße 3.5 Zusammenfassung und Modell der Vorstellung 4 Dinge und Zeichen der Potsdamer Straße: die empirische Studie 4.1 Die qualitative Forschung: theoretische Grundlagen und zentrale Merkmale 4.2 Die Erhebungs- und Auswertungsmethodik 4.2.1 Die Interviews: Methode, Sampling und Auswertung 4.2.1.1 Qualitatives Leitfadeninterview als Methode 4.2.1.2 Auswahl der Probanden und Durchführung der Interviews 4.2.1.3 Transkription und Auswertung 4.2.2 Die Pressetexte: Auswahl und Auswertung 4.3 Die „gesprochene Straße“: Analyse der Interviewdaten 4.3.1 Die Potsdamer Straße: relevante Elemente der Vorstellungen 4.3.1.1 Relevante Objekttoken: der Tagesspiegel und andere 4.3.1.2 Relevante Objekttypen: von Altbauten bis Billigläden, von Cafés bis Parks 4.3.1.3 Relevante Nutzungen: Prostitution, Kultur und Straßenverkehr 4.3.1.4 Historische Dimension und eigene Biographie: Themen der Historie der Potsdamer Straße und die Rolle der persönlichen Erinnerung 4.3.1.5 Multikulti und Diskrepanzen: soziale und ethnisch-kulturelle Identitäten der Potsdamer Straße 4.3.1.6 Nicht Alltägliches und Wiederkehrendes: temporäre Objekte 4.3.1.7 „Fast wie auf dem Dorf“: soziale Kontakte als Identifikationsfaktoren 4.3.1.8 Die Rolle der Objektaspekte 4.3.1.9 Gefahren der Straße: Kriminalität, Gewalt und Halbwelt 4.3.1.10 ‚Blinde Flecken‘ 4.3.2 Globale Eigenschaften der Potsdamer Straße 4.3.2.1 „Ein schöner Gemischtkiez“: Vielfalt als Hauptmerkmal 4.3.2.2 „Hässlich, aber interessant“: Bewertungen der Potsdamer Straße 4.3.3 Der topologische Blick auf die Potsdamer Straße 4.3.3.1 Grenzziehungen 4.3.3.2 Die innere Struktur 4.3.3.3 Exkurs: „Lücken, Lücken, Lücken“: Leerstellen der Potsdamer Straße 4.3.3.4 „Diese ruhigen kleinen Seitenstraßen“: die Potsdamer Straße im nahräumlichen städtischen Kotext 4.3.3.5 „Total zentral und völlig peripher“: die Potsdamer Straße im städtischen Kotext Gesamtberlins 4.3.4 Läden, Verkehr, Vielfalt: (Ideal-)Konzepte der Großstadtstraße 4.3.5 Die Potsdamer Straße im Vergleich: typisch Berlin? 4.3.6 „Nur die negativen Seiten“: die Potsdamer Straße im überlokalen Image 4.3.7 Ein anderes Bild der Potsdamer Straße: Nutzerwünsche und Imagearbeit 4.3.7.1 Wünsche der Nutzer 4.3.7.2 Exkurs: Imagearbeit an der Potsdamer Straße 4.3.7.3 Medienbetriebe als neue Imagefaktoren in der Potsdamer Straße 4.3.8 Unterschiedliche Bilder der Potsdamer Straße: die Befragtengruppen im Vergleich 4.3.9 Auswertung der Interviews nach zeichentypologischen Aspekten 4.4 Die geschriebene Straße: die Potsdamer Straße in der Berliner Presse 4.4.1 Themenschwerpunkte der Berichterstattung über die Potsdamer Straße in den Jahren 1998 bis 2008 4.4.2 Vier Presseartikel 1999-2007 4.5 Vorstellungen und Darstellungsimages der Potsdamer Straße: Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse der empirischen Analyse 4.5.1 Die Potsdamer Straße in den Vorstellungen der Anwohner und Nutzer 4.5.2 Die Potsdamer Straße in den Presseartikeln 5 Fazit Literatur Abbildungsverzeichnis Tabellenverzeichnis Anhang
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Eva Reblin Die Straße, die Dinge und die Zeichen
Urban Studies
Eva Reblin hat an der Arbeitsstelle für Semiotik der Technischen Universität Berlin promoviert. Ihre Forschungsschwerpunkte sind Stadt- und Objektsemiotik sowie kognitive Semiotik.
Eva Reblin
Die Straße, die Dinge und die Zeichen Zur Semiotik des materiellen Stadtraums
Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlagkonzept: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Eva Reblin Lektorat & Satz: Eva Reblin Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-8376-1979-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]
Inhalt
Vorwort | 9 0
Einleitung | 11
0.1 0.2 0.3 0.4 0.5 0.6
Einführung und Problemstellung | 11 Die Stadtstraße in der Forschung | 16 Theoretischer Hintergrund und Ziel der Arbeit | 19 Zum Raumbegriff der Arbeit | 26 Aufbau des Buches | 29 Form der Notation | 31
1
Stadtstraßen in ihrer historischen Entwicklung: Formen und Bedeutungen | 33
1.1 1.2 1.3 1.4 1.5 1.6 1.7 1.8
Die ersten Straßen | 38 Stadtstraßen in der Antike | 39 Stadtstraßen im Mittelalter | 41 Stadtstraßen der Renaissance | 42 Stadtstraßen im Barock (17.-18. Jahrhundert) | 44 Stadtstraßen im 19. Jahrhundert | 46 Großstadtstraßen im 20. Jahrhundert | 47 Die Potsdamer Straße: historische Entwicklung und heutige Situation | 55 1.8.1 Von der Landstraße zur Stadtstraße | 56 1.8.2 Die Potsdamer Straße 1900-1945 | 59 1.8.3 Die Potsdamer Straße im alten West-Berlin 1945-1989 | 61 1.8.4 Die Potsdamer Straße heute | 63 1.8.5 Architektur und Städtebau in der Potsdamer Straße | 67
2
Objekt-Zeichen und Umwelt-Interpretationen: die theoretischen Grundlagen | 73
2.1
Zeichen und Interpretation: zeichentheoretische Grundbegriffe | 73 2.1.1 Was ist ein Zeichen? | 75 2.1.2 Wann ist etwas ein Zeichen? | 79 Objekt-Zeichen und Objekt-Ordnungen | 91 2.2.1 Zum Objektbegriff | 94 2.2.2 Semiotische Konzeptionen des Objekts | 96 2.2.3 Signifikante Objekte | 109 2.2.3.1 Objekt-Zeichen zwischen Kode und Inferenz | 109 2.2.3.2 Denotation und Konnotation von Objekten | 119
2.2
2.3
2.4
2.2.3.3 Objekttyp und Gebrauchsfunktion | 123 2.2.3.4 Zur Perspektivität der Objektinterpretation | 127 2.2.3.5 Objekttoken und Aisthezität | 130 2.2.3.6 Exkurs: Semiotik und Objektkognition | 134 2.2.4 Die Ordnung der Objekte | 137 2.2.4.1 Objektkomplexe als Syntagmen? | 137 2.2.4.2 Die Analyse und Synthese von komplexen (Objekt-)Zeichen: Theorie und Praxis | 141 2.2.4.3 Die Metonymizität von Objekt-Zeichen | 144 2.2.5 Ein interpretationsorientiertes Modell für Objekt-Zeichen | 146 Wahrnehmung und Repräsentation von Umwelt | 153 2.3.1 Wahrnehmung von Umwelt und Objekten | 154 2.3.2 Die Welt im Kopf? Wahrnehmung als Ordnung und Schematisierung: Mentale Repräsentationen, Konzepte, Schemata | 155 2.3.3 Umwelt(en) und Umweltrepräsentationen | 159 Stadt und Zeichen: Tendenzen der stadtsemiotischen Forschung | 171 2.4.1 Die Stadt als räumliches System | 173 2.4.2 Die Stadt als Text | 176
3
Die Straße, die Dinge und die Zeichen: zur Semiotik der Großstadtstraße | 181
3.1
Straße, Stadtstraße, Großstadtstraße: Begriffe, Typen und Merkmale | 182 3.1.1 Zum Lexem /Straße/ | 182 3.1.2 Die Stadtstraße als Typkonzept und kulturelle Einheit | 184 3.1.3 Allgemeine Merkmale von Stadtstraßen | 187 3.1.4 Exkurs: Zu Unterschieden in der Wahrnehmung von Straße und Platz | 192 Die Großstadtstraße als multiperspektivisches Wahrnehmungsobjekt und strukturierte Vorstellung | 194 3.2.1 Konstituierende Konzepte | 195 3.2.2 Die Großstadtstraße als Metasystem | 197 3.2.3 Die Perspektivierung der Großstadtstraße | 199 Die Ebenen der strukturellen Perspektivierung | 200 Die Großstadtstraße als Objektkomplex: qualitative Perspektivierung und syntagmatische Gliederung | 204 3.4.1 Typologie der potentiell als Zeichenausdruck fungierenden Objekte | 207 3.4.2 Typologie der Inhalte von städtischen Objekt-Zeichen | 211 3.4.3 Weitere Typisierungen | 215 3.4.4 Wie signifizieren Straßen-Objekte? Exemplifikation und Ortsindexikalität | 215
3.2
3.3 3.4
3.5
3.4.5 Zur praktischen, symbolischen und sensorischen Relevanz städtischer Objekte | 222 3.4.6 Die Straße als Syntagma | 225 3.4.7 Atmosphäre als Wirkung von Objektkomplexen | 227 3.4.8 Exkurs: Leerstellen der Straße | 228 Zusammenfassung und Modell der Vorstellung | 230
4
Dinge und Zeichen der Potsdamer Straße: die empirische Studie | 235
4.1
Die qualitative Forschung: theoretische Grundlagen und zentrale Merkmale | 236 Die Erhebungs- und Auswertungsmethodik | 240 4.2.1 Die Interviews: Methode, Sampling und Auswertung | 244 4.2.1.1 Qualitatives Leitfadeninterview als Methode | 244 4.2.1.2 Auswahl der Probanden und Durchführung der Interviews | 245 4.2.1.3 Transkription und Auswertung | 250 4.2.2 Die Pressetexte: Auswahl und Auswertung | 253 Die „gesprochene Straße“: Analyse der Interviewdaten | 256 4.3.1 Die Potsdamer Straße: relevante Elemente der Vorstellungen | 257 4.3.1.1 Relevante Objekttoken: der Tagesspiegel und andere | 258 4.3.1.2 Relevante Objekttypen: von Altbauten bis Billigläden, von Cafés bis Parks | 266 4.3.1.3 Relevante Nutzungen: Prostitution, Kultur und Straßenverkehr | 288 4.3.1.4 Historische Dimension und eigene Biographie: Themen der Historie der Potsdamer Straße und die Rolle der persönlichen Erinnerung | 297 4.3.1.5 Multikulti und Diskrepanzen: soziale und ethnisch-kulturelle Identitäten der Potsdamer Straße | 304 4.3.1.6 Nicht Alltägliches und Wiederkehrendes: temporäre Objekte | 311 4.3.1.7 „Fast wie auf dem Dorf“: soziale Kontakte als Identifikationsfaktoren | 312 4.3.1.8 Die Rolle der Objektaspekte | 315 4.3.1.9 Gefahren der Straße: Kriminalität, Gewalt und Halbwelt | 322 4.3.1.10 ‚Blinde Flecken‘ | 325 4.3.2 Globale Eigenschaften der Potsdamer Straße | 326 4.3.2.1 „Ein schöner Gemischtkiez“: Vielfalt als Hauptmerkmal | 327 4.3.2.2 „Hässlich, aber interessant“: Bewertungen der Potsdamer Straße | 329 4.3.3 Der topologische Blick auf die Potsdamer Straße | 331
4.2
4.3
4.4
4.5
5
4.3.3.1 Grenzziehungen | 331 4.3.3.2 Die innere Struktur | 332 4.3.3.3 Exkurs: „Lücken, Lücken, Lücken“: Leerstellen der Potsdamer Straße | 349 4.3.3.4 „Diese ruhigen kleinen Seitenstraßen“: die Potsdamer Straße im nahräumlichen städtischen Kotext | 353 4.3.3.5 „Total zentral und völlig peripher“: die Potsdamer Straße im städtischen Kotext Gesamtberlins | 358 4.3.4 Läden, Verkehr, Vielfalt: (Ideal-)Konzepte der Großstadtstraße | 360 4.3.5 Die Potsdamer Straße im Vergleich: typisch Berlin? | 364 4.3.6 „Nur die negativen Seiten“: die Potsdamer Straße im überlokalen Image | 367 4.3.7 Ein anderes Bild der Potsdamer Straße: Nutzerwünsche und Imagearbeit | 369 4.3.7.1 Wünsche der Nutzer | 369 4.3.7.2 Exkurs: Imagearbeit an der Potsdamer Straße | 371 4.3.7.3 Medienbetriebe als neue Imagefaktoren in der Potsdamer Straße | 373 4.3.8 Unterschiedliche Bilder der Potsdamer Straße: die Befragtengruppen im Vergleich | 374 4.3.9 Auswertung der Interviews nach zeichentypologischen Aspekten | 377 Die geschriebene Straße: die Potsdamer Straße in der Berliner Presse | 383 4.4.1 Themenschwerpunkte der Berichterstattung über die Potsdamer Straße in den Jahren 1998 bis 2008 | 383 4.4.2 Vier Presseartikel 1999-2007 | 385 Vorstellungen und Darstellungsimages der Potsdamer Straße: Zusammenfassung und Diskussion der Ergebnisse der empirischen Analyse | 395 4.5.1 Die Potsdamer Straße in den Vorstellungen der Anwohner und Nutzer | 397 4.5.2 Die Potsdamer Straße in den Presseartikeln | 409 Fazit | 413
Diese Studie ist als Dissertation an der Arbeitsstelle für Semiotik der TU Berlin entstanden; sie liegt hier in einer geringfügig überarbeiteten und aktualisierten Fassung vor. Viele hatten einen Anteil an der Entwicklung der Gedanken und des Textes: Danken möchte ich zuallererst und besonders herzlich Prof. Dr. Evelyn Dölling für ihre geduldige und ermutigende Betreuung in allen Phasen der Arbeit. Sie hat mir wichtige Freiräume gelassen, dabei aber den Fortgang immer im Detail interessiert und kritisch begleitet. Prof. Dr. Roland Posner danke ich für die Übernahme des weiteren Gutachtens, außerdem für wertvolle ergänzende Hinweise. Auf Grund seiner Vermittlung konnte ich als Gast an den Forschungskolloquien des Graduiertenkollegs am Center for Metropolitan Studies der TU Berlin teilnehmen. Ein ebenso großer Dank geht an die „Expertinnen und Experten der Potsdamer Straße“, an alle jene, die mir ihre Straßenbilder detailreich im Interview beschrieben haben. Ohne sie, die ich leider namentlich nicht nennen kann, hätte diese Arbeit nicht entstehen können: erst in ihren perspektischen Sichtweisen sind die Dinge in der Straße zu Zeichen der Straße geworden. Auch jenen, die einige dieser Kontakte vermittelt haben, danke ich. Von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern der Doktorandenkolloquien der Arbeitsstelle für Semiotik und anderen Mitstudierenden erhielt ich viele konstruktive Hinweise. Meinen Freundinnen und Freunden, darunter Claudia Bergemann, Angelika Brinkmann, Uwe Freund, Astrid Haupt und Sabine Lieberknecht, gebührt Dank für manche Straßeneindrücke, die sie mit mir geteilt haben, für die Bereitschaft zu Probeinterviews und für stärkenden Zuspruch in schwierigeren Phasen. Meiner Familie danke ich für ihr Verständnis und manche (doch so wichtige) Ablenkung. Bei Björn Wirtjes und Eugen Januschke bedanke ich mich für akribische Korrekturen und Lektorat. Last but not least sind meine Kolleginnen und Kollegen an der Technischen Universität Berlin zu nennen, sie haben mich über die ganze Zeit hinweg unterstützt, dafür möchte ich ihnen danken.
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Einleitung
„Straße – Straße? Sie denken nach und beobachten ihre Umgebung. Nach einiger Zeit finden Sie: Aha, Straße, die Leute sagen, etwas Gerades, Taghelles, dient um sich darauf fortzubewegen. Und Sie empfinden ein kolossales Überlegenheitsgefühl, wie ein Hellsehender unter Blinden. Sie sagen sich: Ich weiß ganz bestimmt, daß eine Straße nichts Gerades, Taghelles ist, sondern, daß sie vergleichsweise ebensogut etwas Vielverzweigtes, Geheimnis- und Rätselvolles sein kann, mit Fallgruben und unterirdischen Gängen, versteckten Kerkern und vergrabenen Kirchen. […] Dann denken Sie darüber nach, wie es denn kommt, daß die anderen Menschen das gar nicht merken.“ Robert Musil, um 1900 (Musil 1983: 8f) „Die große Stadt ist jener semiotische Raum, wo keine Materialität unsemiotisiert bleibt.“ Karlheinz Stierle (Stierle 1993: 14)
0.1 E INFÜHRUNG
UND
P ROBLEMSTELLUNG
Was verbindet die venezianischen rii, den Las Vegas Strip und die hängenden Brücken in Italo Calvinos fiktiver Stadt Zenobia1? Sie alle sind im weitesten Sinne Straßen, d.h. Bewegungsadern und Strukturelemente der Stadt und als solche untrennbar mit ihr verbunden. Lineare Räume in Städten können sich in unterschiedlichen materiellen Formen realisieren, ohne sie existiert jedoch keine Stadt. Historiker gehen davon aus, dass sich die frühen Städte teilweise aus Straßenkreuzungen entwickelt haben, und sich kreuzende Straßen bilden die Grundstruktur jeder Stadt: eine Stadt mit strikt parallel angeordneten Straßen wäre nicht Stadt, sondern nur eine Menge paralleler Straßendörfer. (Stadt- und Land-) Straßen verbinden Orte und ermöglichen so Kommunikation, Straßennetze potenzieren die Möglichkeiten des Austauschs. Straßen in der Stadt verkörpern Stadt auch para-
1
Siehe Calvino 1972/1985: 42f.
12 | DIE STRASSE, DIE DINGE UND DIE Z EICHEN
digmatisch. „Was kommt einem, wenn man eine Großstadt denkt, als Erstes in den Sinn? Ihre Straßen“ schreibt die Stadtforscherin Jane Jacobs (Jacobs 1961/1976: 57). Wenn in dieser Arbeit von der Stadt und ihren Elementen und Teilräumen die Rede ist, so ist die Großstadt gemeint, soweit sich die jeweilige Aussage auf den Zeitraum des späten 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart bezieht. ‚Großstadt‘ wird hier nicht an eine spezifische Einwohnerzahl gekoppelt,2 zugrunde gelegt wird vielmehr Louis Wirths Definition einer Großstadt als „a relatively large, dense, and permanent settlement of socially heterogeneous individuals“ (Wirth 1938/2007: 91).3 Bestimmungsmerkmale einer Großstadt sind demnach eine relative Größe, eine hohe Konzentration von Menschen, Dingen und Institutionen sowie Heterogenität der Einwohner und Lebensformen.4 Großstadt soll ferner vor allem als europäische Großstadt verstanden werden, eine universale Verallgemeinerung oder eine vergleichende Betrachtung der Straßen europäischer und nichteuropäischer Großstädte wird nicht angestrebt. Von allen Straßenformen, die Großstädte aufweisen, können Geschäftsstraßen als besonders typisch aufgefasst werden.5 Wenn Doreen Massey für die Großstadt 2
Als Großstadt werden in Deutschland Städte über 100.000 Einwohner aufgefasst (Gabler Wirtschaftslexikon, Stichwort: Großstadt, online im Internet: http://wirtschaftslexikon.gabler.de/Archiv/9851/grossstadt-v6.html [28.12.2011])
3
In der Stadttheorie wird oft nicht eindeutig zwischen Stadt (welche ja auch die Kleinstadt einschließen würde) und Großstadt unterschieden, Wenn heute soziologisch, anthropologisch etc. über die Stadt der Gegenwart geschrieben wird, wird diese meistens als Großstadt gedacht. Exemplarisch z.B. bei Dirk Baecker: „Die Stadt ist der Ort, an dem man sich nicht kennt und dennoch Interaktion und Kommunikation miteinander aufnehmen kann.“ (Baecker 2004: 195) (In der Kleinstadt kennt man sich!) Die Ursache des oftmaligen Fehlens dieser Differenzierung ist wahrscheinlich in der historischen Entwicklung der Stadtsoziologie zu suchen, welche sich in der Auseinandersetzung mit der modernen Großstadt entwickelte (z.B. bei Simmel, siehe Simmel 1903/1995). „Die Frage nach dem Neuen, das mit der modernen Großstadt in die Welt kam, stand am Ausgangspunkt der Stadtsoziologie.“ (Häussermann/Siebel 2004: 11) Auch die US-amerikanische Stadttheorie, die in der Chicago School ihren Ausgang nahm, ist immer eine ‚theory of the city‘, also eine Theorie der größeren und ökonomisch wichtigeren Stadt gewesen.
4
S.a. Löw/Steets/Stoetzer 2008: 11.
5
Elisabeth Lichtenberger stellte 1963 fest: „Die Geschäftsstraßen gehören zu den wesentlichen Kennzeichen großer Städte. Ihr pulsierendes Getriebe zieht jeden Besucher meist zuerst in seinen Bann, und an ihnen versucht er sich zu orientieren.“ (Lichtenberger 1963: 257) In den Zentren der europäischen Großstädten können die großen Geschäftsstraßen heute immer noch ihre Anziehungskraft behaupten, sehen sich jedoch seit spätestens den
E INLEITUNG
| 13
feststellt „The city [is] an intense focal point […] of social relations in time and space“ (Massey 1999: 102), so kann die großstädtische Geschäftsstraße, im Unterschied zu anderen städtischen Raumtypen wie Wohnstraßen, Plätzen und Parks, als Ort speziell ausgeprägter Intensität angesehen und damit als Konzentrationsort des Städtischen beschrieben werden. Daher werden Geschäftsstraßen auch im Mittelpunkt der Betrachtung stehen; die Potsdamer Straße als empirisches Untersuchungsobjekt steht exemplarisch für eine großstädtische Geschäftsstraße. Geschäftsstraßen in der Großstadt (im Folgenden auch kurz als „Großstadtstraßen“ bezeichnet) sind öffentliche, polyfunktionale Räume. Wie alle Straßen dienen sie der Bewegungsleitung, gleichzeitig und gleichwertig sind sie aber auch Orte des Handels, der sozialen Interaktion sowie Wohnadressen. Großstadtstraßen werden nicht nur genutzt, sondern wir interpretieren auch ihre einzelnen Elemente, Architektur und Zustand der Häuser, die Art der Läden, Ladenschilder und Verkehrszeichen, Kleidung und Habitus der Passanten. Die Dinge der Straße verweisen auf den sozialen und kulturellen Hintergrund der Anwohner und Nutzer, auf die allgemeine und städtebauliche Geschichte, auf ökonomische Verhältnisse, sie geben Verkehrsregeln vor und identifizieren bestimmte Orte. Für Sharon Zukin manifestieren sich in Geschäftsstraßen sowohl soziale Gleichheit als auch Differenz, sie sind ‚Schaubühnen‘ der sozial verorteten Alltagskultur: „Shopping streets affirm both difference and sameness, a tendency to identify either with or against the Other […]. Shopping spaces are a valuable prism for viewing public culture. The types of goods that are sold, at what prices, and in what forms – these are the everyday experiences in which physical spaces are ‚conceived‘ in the light of social structure.“ (Zukin 1995: 257) Als Großstadtstraßen sollen ausdrücklich nicht nur die großen Einkaufsstraßen in den Stadtzentren aufgefasst werden, sondern auch die Geschäftsstraßen in den einzelnen Vierteln, die den spezifischen Charakter des Quartiers spiegeln: „Streets and the streetscape are particularly important in defining the character of urban areas.“ (Nasar 1989: 32) Die Semiotik als Wissenschaft von Zeichen und Zeichenprozessen geht davon aus, dass alle Aspekte der Kultur als semiotische Phänomene untersucht werden können (Eco 1976/1987: 46). In diesem Sinne können auch städtische Räume und ihre Objekte Gegenstand semiotischer Betrachtung werden und als soziale und kulturelle Bedeutungsphänomene analysiert werden. Im Unterschied zu den fachbezogenen Perspektiven der Soziologie, Architektur, Stadtplanung und Geographie ermöglicht die Semiotik eine disziplinenübergreifende Beschäftigung mit dem komplexen Raum Großstadtstraße. Dabei liefert die Semiotik nicht nur das 80er Jahren des 20. Jahrhunderts auf der einen Seite mit der Konkurrenz der Shopping Malls und auf der anderen Seite mit der kleinerer Straßen mit einem gehobenen Angebot konfrontiert.
14 | DIE STRASSE, DIE DINGE UND DIE Z EICHEN
Instrumentarium zur Beschreibung städtischer Zeichen, Zeichenkonfigurationen und Bedeutungen sondern auch zur differenzierten Analyse der Zeichen- und Interpretationsprozesse. In welcher Weise können Bedeutungen eines urbanen Teilraums semiotisch modelliert werden? Martin Krampen stellt fest: „The city [may be] seen as a collection of objects.“ (Krampen 1979: 6) Auch Straßen als Einzelelemente der Großstadt sind komplexe Konfigurationen von Objekten, aber gleichzeitig Umwelt und Handlungsraum für die Stadtbewohner. Die Straße und ihre Objekte eröffnen Handlungsmöglichkeiten: die Bewegung, Einkaufen, den Cafébesuch, das Zusammentreffen mit anderen Menschen allgemein, aber sie schränken auch Handlungen ein: die Häuserwände markieren eine konkrete, materielle Grenze zwischen öffentlichem und privatem Raum, Verkehrszeichen regulieren das Verhalten der Verkehrsteilnehmer. Die Sinneseindrücke einer Straße sind multimodal organisiert, wir sehen die Gründerzeithäuser, hören den Lärm der Lkws und riechen das frische Brot in der Bäckerei oder die Abgase des Kraftfahrzeugverkehrs. Die Großstadtstraße fordert die Sinne heraus: eine „rasche Zusammendrängung wechselnder Bilder“ zusammen mit einem „schroffe[n] Abstand innerhalb dessen, was man mit einem Blick umfasst“ hat Georg Simmel bereits 1903 als Charakteristika der großstädtischen Wahrnehmung identifiziert (Simmel 1903/1995: 116). Die Dinge der Straße zeigen dem mit der lokalen Kultur Vertrauten an, welche Praxen sie zulassen und welche nicht, dabei kann das Objekt selbst für seine mögliche Gebrauchsfunktion stehen oder vermittelt durch Schrift oder bildhafte Zeichen auf seine Funktion hinweisen. Über die gebrauchsfunktionalen Bedeutungen hinaus liefern die Elemente der Straße auch Indizien für weitere soziale und kulturelle Tatbestände, anhand derer die Nutzer ihre Umwelt deuten und bewerten. Es handelt sich um eine sehr komplexe Textur von Objekten der Wahrnehmung, die zu Zeichen werden können, wobei jedes Objekt immer mehr als eine Sichtweise zulässt und potentiell durch eine Vielzahl unterschiedlicher Kodes erschließbar ist. So kann man beispielsweise fragen, ob die noch entzifferbaren Spuren einer früheren Ladeninschrift nur für den Namen des Ladens, für die Nutzungsgeschichte des Hauses oder für die Vernachlässigung der Fassade oder für alle drei Inhalte stehen. Diese Überlegungen zeigen, dass es weder sinnvoll noch praktikabel ist, eine ‚objektive‘ Katalogisierung der Objekte der Straße und ihrer möglichen Bedeutungen vorzunehmen6 oder gar nach einem ‚Kode der Straße‘ zu suchen. Interessanter ist es vielmehr, Relationen zwischen Elementen der Straße und zwischen ihren Bedeutungen aus der Sicht der Nutzer der Straße zu analysieren, das heißt zu fragen, welche Bedeutungseinheiten das ‚Bild‘ der Straße im Bewusstsein der Stadtbewohner prägen und in welcher 6
In der Literatur finden sich minutiöse Protokolle städtischen Lebens und Beschreibungen städtischer Räume z.B. bei Georges Perec, vgl. Perec 1991 und 2008.
E INLEITUNG
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Weise diese Bedeutungen in dem Bild zusammenwirken. Als ein Ausgangspunkt der semiotischen Modellierung städtischer Umweltbilder wird der Begriff der stadträumlichen Vorstellung7 eingesetzt: stadträumliche Vorstellungen sind ganzheitliche, komplexe, strukturierte kognitive Repräsentationen, in denen die Erfahrung von städtischer Umwelt organisiert wird. Sie fassen sowohl Wissen als auch Beurteilungen und Präferenzen zusammen und wirken handlungsleitend.8 Diese Vorstellungen können in der Kommunikation externalisiert werden und als Text einer semiotischen Analyse unterzogen werden. Untersuchungsgegenstand ist in diesem Sinne nicht die materielle Straße selbst, sondern die Vorstellungen der Straße, wie sie wiederum in den Texten repräsentiert sind.9 Im empirischen Teil der Arbeit werden die in sprachlichen Texten manifestierten Vorstellungen der Potsdamer Straße in Berlin untersucht. Die Potsdamer Straße steht exemplarisch für eine Großstadtstraße mit einer bedeutenden Vergangenheit und einer eher unsicheren Zukunft. Im Zentrum Berlins gelegen, nicht weit vom Regierungsviertel und angebunden an den Potsdamer Platz, kämpft sie gleichwohl mit Problemen wie Ladenleerstand und hoher Verkehrsbelastung. In ihrem Verlauf spiegeln sich, vielleicht deutlicher als in manch anderen Berliner Straßen, die 7
In dieser Arbeit wird der Begriff der Vorstellung und nicht der weiter verbreitete des Vorstellungsbildes genutzt, um deutlich zu machen, dass diese Art der mentalen Repräsentation nicht nur bildhaft, sondern auch begrifflich (propositional) kodiert ist. Zur Bestimmung der Begriffe Repräsentation, Vorstellung, Image siehe Kap. 2.3.
8
Vgl. z.B. Pocock 1978: 3.
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Andere Disziplinen, die sich mit Vorstellungen städtischer Umwelten und mit Konzepten von Objekten beschäftigen sind u.a. die Humangeographie, die Umweltpsychologie, die Stadtsoziologie und die Kognitionswissenschaft (s.a. unten Kap. 2.3). Die zwischen Humangeographie und Umweltpsychologie stehende Mental-Map-Forschung erforscht die Strukturierung von Räumen und die Orientierung in ihnen. Die ebenfalls in beiden Disziplinen verankerte imageorientierte Forschung ist eher an globalen Bedeutungszuweisungen wie an dem Gesamtimage einzelner Städte oder einzelner Stadtviertel interessiert. Sie untersucht u.a. intentional produzierte Werbeimages, während die Mechanismen der Konstruktion einzelner Images aus Vorstellungen von Einzelobjekten weniger betrachtet werden. Die Umweltpsychologie im engeren Sinne beschäftigt sich u.a. mit subjektiven Bewertungen von Umwelten, sie ist insgesamt eher form- als inhaltsorientiert, d.h. besonders Bewertungen von Architektur und Stadtanlage werden betrachtet. Die Stadtsoziologie interessiert sich besonders für die Identifikation mit einer spezifischen Umwelt, für die Interaktion sozialer Gruppen sowie die Konzeption sozialer Räume in der Stadt. Die Kognitionswissenschaft untersucht die Kognition und Konzeptbildung von Objekten (meistens als Typen) und weniger die Mechanismen der Wahrnehmung konkreter, ganzheitlicher Umwelten.
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Höhen und Tiefen von mehr als einem Jahrhundert Berliner und deutscher Geschichte, Architektur und Stadtplanung. Die historischen Bedeutungen der Potsdamer Straße, als Wohnort bekannter Persönlichkeiten wie Theodor Fontane und Walter Benjamin, Standort wichtiger Verlage und anderer Kultureinrichtungen, als lebendige Geschäftsstraße mit einer Vielzahl von Spezialgeschäften, aber auch als Rotlichtviertel wirken auch in ihrem heutigen Bild nach. Der südliche Teil ist geprägt von geschlossener Bebauung der Gründerzeit im Wechsel mit Nachkriegsbauten, neben einzelnen Fachgeschäften und Läden des täglichen Bedarfs finden sich viele von Migranten betriebene Geschäfte und Imbissstuben sowie Schnäppchenläden. Auch die in den letzten Jahren (teilweise erst nach Ende des Erhebungszeitraums) neu zugezogenen Galerien sind im Straßenbild noch wenig sichtbar. Der Abschnitt nördlich des Landwehrkanals wird von der offenen ‚Stadtlandschaft‘ (Scharoun) des Kulturforums eingenommen, mit mehreren Museen, Philharmonie und Kammermusiksaal und der Staatsbibliothek. Daran schließt das Ende der 90er Jahre neu errichtete Potsdamer Platz-Areal an, das sich in seiner Kombination von Urban Entertainment Center, Shopping Mall und Wohnbebauung vor allem zu einem Anziehungspunkt für Berlin-Touristen entwickelt hat. Die ausgeprägte städtebauliche, funktionale und soziale Heterogenität provoziert die Frage, ob man überhaupt von einer Straße sprechen kann. Gerade diese Uneinheitlichkeit, die Kontraste verschiedener Straßenformen und -funktionen innerhalb eines Straßenzuges lassen jedoch die Potsdamer Straße als einen besonders interessanten Untersuchungsgegenstand erscheinen. Ihr öffentliches Bild ist vorwiegend durch den südlichen Teil geprägt, dieser wird auch im Mittelpunkt der empirischen Untersuchung stehen. Kommunale Einrichtungen und lokale Initiativen bemühen sich seit Jahren um die Aufwertung der Potsdamer Straße, auch ihre Strategien und Ziele sollen in den Interviews thematisiert werden und semiotisch analysiert werden.
0.2 D IE S TADTSTRASSE
IN DER
F ORSCHUNG
Auffällig ist, dass der Topos Stadtstraße in der Literatur von Architektur und Städtebau eine vergleichsweise untergeordnete Rolle spielt. Dabei muss jedoch berücksichtigt werden, dass die urbanistische Literatur Straßen als konstituierende Elemente der Stadt immer implizit thematisiert. Als umfangreichste Publikation zum Gegenstand ist die Aufsatzsammlung „On Streets“ (Anderson 1978a) zu nennen, deren Spektrum historische, städtebauliche, soziologische und auch semiotische Beiträge (Agrest 1978, s.u.) umfasst. Straßentypen und Straßennetze werden aus einer planerischen Sicht von Marshall vorgestellt und diskutiert (Marshall 2005). Moughtin (1992) schildert die städtebaulichen Formen Straße und Platz in ihrer historischen Entwicklung, Stadtstraßen werden auch in historischen
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Überblicksdarstellungen der Straße allgemein, wie Hitzer (1971) und Lay (1992/1994) thematisiert. „Great Streets“ von Rom bis Beijing und ihre Gestaltung werden von Allan B. Jacobs (1993) vorgestellt und Qualitätskriterien benannt. Bernard Rudofskys „Straßen für Menschen“ (1969/1995) ist ein leidenschaftliches Plädoyer für die Straße der Fußgänger als öffentlicher, „bedeutsamer Außenraum“ (ebd.: 9) und eine starke Polemik gegen die autogerechte amerikanische Stadt, er beschreibt Form und Funktion von Straßen in unterschiedlichen Kulturen und Zeiten. In der essayistischen Abhandlung „La rue“ stellt Jean-Loup Gourdon (2001) die urbane Form der Straße in ihren dialektischen Polen zwischen räumlicher Form und sozialem Zusammenleben, Dynamik der Bewegung und Statik des Wohnens, Permanenz und Wandlung, Öffentlichkeit und Privatheit dar. Weitere neuere monographische, kulturwissenschaftlich ausgerichtete Überblicksdarstellungen zur Stadtstraße existieren meines Wissens nicht.10 Mit generellen perzeptuellen Eigenschaften von Fußgängerstraßen beschäftigt sich Rapoport (Rapoport 1990a). Einige umfassendere empirische Analysen von einzelnen Straßen findet man in der Soziologie, Ethnologie, Anthropogeographie und Architektur/Stadtplanung, z.B. Welz 1991, Weber/Pahl 2001 und Strohmeier 2005. Angelika Psenner untersucht die Wahrnehmungen von Testpersonen bei Spaziergängen durch die Praterstraße in Wien, indem sie diese beim Gang durch die Straße Objekte und Räume fotografieren und darüber sprechen lässt (Psenner 2002, Psenner 2004).11 Ein am Institut für Landschaftsarchitektur der ETH Zürich angesiedeltes Projekt analysiert seit 2008 kulturübergreifend − anhand von Fallstudien in Shanghai, Tokio, Zürich und Berlin − Gestalt, Nutzung und Qualität von Straßen als exemplarischen
10 In ihrer Habilitationsschrift erstellte die österreichischen Stadtgeographin Elisabeth Lichtenberger eine Typologie der Wiener Geschäftsstraßen nach Funktionstypen der Handels- und Gewerbebetriebe und Ausstattungsmerkmalen der Geschäfte (Lichtenberger 1963). In ihrer Einleitung wies sie auf die geringe Anzahl von empirische Untersuchungen von Geschäftsstraßen zumindest im europäischen Raum hin. Eine angekündigte soziologische Arbeit von Saskia Sassen zur 14th Street in New York (vgl. Sassen 1994) ist offenbar nie veröffentlicht worden. 11 Psenner stellt z.B. deutliche Unterschiede der Straßenwahrnehmung abhängig von der Jahreszeit fest. Im Winter ist die Aufmerksamkeit eher auf einzelne Objekte gerichtet, während in der wärmeren Jahreszeit eher der Raumeindruck im Mittelpunkt steht. Ferner reagieren auf dem Lande oder in der Kleinstadt Lebende bzw. von dort stammende Probanden eher auf gestaltete Platzsituationen als in der Stadt sozialisierte Testpersonen (Psenner 2004: 131f). In der Zusammenfassung ihrer Ergebnisse stellt Psenner vor allem die Raumwahrnehmung in den Mittelpunkt, obwohl auch die Aussagen der Probanden zu Einzelobjekten sicher eine detailliertere Analyse wert gewesen wäre.
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öffentlichen Räumen.12 Auch einige neuere Aufsatzsammlungen gehen aus sozialund kulturwissenschaftlichen Perspektiven dem Phänomen Straße nach, darunter Fyfe 1998 und Geschke 2009. Stadt als potentiell semiotisches Phänomen wurde in der Semiotik zuerst in den 60er Jahren untersucht. Bis Anfang der 70er Jahre entstand eine Vielzahl von meist strukturalistisch ausgerichteten Veröffentlichungen. Dagegen ist die Zahl der originär stadtsemiotischen Publikationen seit 1980 relativ gering, trotz der Hausse des Stadt-Themas im wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs. Allgemein kann konstatiert werden, dass die bisherigen theoretischen oder empirischen Arbeiten sich vorwiegend mit einzelnen städtischen Zeichensystemen beschäftigen, wobei der gebaute Raum, d.h. allein die durch Architektur und Stadtplanung gestaltete Umwelt, einen Interessenschwerpunkt bildet. Einen Überblick über Tendenzen der stadtsemiotischen Forschung gibt das Kapitel 2.4. Die Forschung zur Umweltkognition und zum Vorstellungsbild der Stadt wird in Kapitel 2.3 behandelt. Semiotische Analysen des Phänomens Stadtstraße oder anderer städtischer Teilräume sind rar. Diana Agrest schlägt Jakobsons Modell der kommunikativen Funktionen zur struktural-semiotischen Analyse von Straßen (und städtischen Räumen allgemein) vor, da dieses ermögliche, die Plurifunktionalität von urbanen Elementen darzustellen (Agrest 1978). Knapp, aber präzise analysiert Gottdiener (1986) das System Shopping Mall und identifiziert paradigmatische Mall-‚Themen‘ und syntagmatische innere Strukturen. Als semiotisch in einem weiten Sinne kann noch Abraham Moles’ Vortrag zur Wahrnehmung von Stadtstraßen (Moles 1979) verstanden werden, in dem er u.a. eine Phänomenologie von Straßensituationen anregt. Umfassendere empirische semiotische Untersuchungen von konkreten Straßen konnte ich nicht nachweisen. Kurz erwähnt werden sollen auch die sich oft als poststrukturalistisch verstehenden Publikationen zur „urban anthropology“ (Low 1999a: 21), die seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts besonders im angelsächsischen Raum in großer Vielzahl erschienen sind. Diese Literatur, die sich mit der sich wandelnden Rolle der Stadt zwischen Postfordismus und Globalisierung beschäftigt und nach dem Bild der Stadt in der Zukunft fragt, nutzt häufig Begriffe des semiotischen Vokabulars, wie Zeichen, Repräsentation, Text, Bedeutung. Sie bezieht sich auf Theoretiker wie Henri Lefebvre, Claude Lévi-Strauss, Pierre Bourdieu und Michel de Certeau, die auf der Grenze zwischen Soziologie, Anthropologie und Semiotik arbeiten und in einer strukturalistischen Tradition stehen. Besonders die Metaphern der ‚lesbaren Stadt‘, der ‚Stadt als Text‘ und der ‚Lesarten der Stadt‘ fehlen in fast keiner der Aufsatzsammlungen, die sich mit der Stadt des ausgehenden 20. Jahr12 http://www.vogt.arch.ethz.ch/?root=9&cat=141&lang=de [28.12.2011], Krusche 2009 und Krusche/Roost 2010.
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hunderts beschäftigen (z.B. Low 1999b, Liggett 1995). Allerdings werden die semiotischen Termini häufig nur lose und metaphorisch verwendet, ihnen liegt meist keine genuin semiotische Analyse oder die Auseinandersetzung mit einer klassisch semiotischen Position zugrunde. Der empirische Gegenstand dieser Arbeit, die Potsdamer Straße in Berlin, ist bisher in unterschiedlichen Kontexten thematisiert worden, insgesamt überwiegt die historische Perspektive. Untersuchungen aus semiotischer Sicht liegen bisher nicht vor. Das 1983 erschienene Porträt der Potsdamer Straße von Benny Härlin und Michael Sontheimer verknüpft Reportageskizzen des Kiezmilieus der 80er Jahre mit historischen Exkursen (Härlin/Sontheimer 1983). Eine umfassende Kulturgeschichte der Potsdamer Straße haben Sibylle Nägele und Joy Markert 2006 vorgelegt (Nägele/Markert 2006), eine überarbeitete Neuauflage erschien 2011 (Nägele/Markert 2011). Eine Auseinandersetzung mit historischen, städtebaulichen, ökonomischen und kulturellen Aspekten der Potsdamer Straße als Teil der Bundesstraße 1 leisten vier Gutachten aus dem Jahr 1990 (Zimmer 1990). Das Studienprojekt des Instituts für Europäische Ethnologie der Humboldt-Universität Berlin ‚Nahwelten‘ beschäftigte sich mit der Produktion von Lokalität im Bereich des Quartiermanagements Tiergarten-Süd, in diesem Rahmen sind auch zwei Studien zur Wahrnehmung und zum Image der Potsdamer Straße entstanden (Geulen 2002, Nippe 2002). Die seit den 90er Jahren erschienene Literatur zum Potsdamer Platz ist kaum überschaubar, ihr Spektrum reicht vom touristischen Bildband über kritische Würdigungen der Planungen (z.B. von Rauch/Visscher 2002) bis zu soziologischen Auseinandersetzungen (Fischer/Makropoulos 2004).
0.3 T HEORETISCHER H INTERGRUND
UND
Z IEL DER ARBEIT
Ziel der Arbeit ist es, eine Großstadtstraße als einen semiotischen Raum zu modellieren und zu analysieren. Untersucht wird die Bedeutungskonstitution und Bedeutungsstrukturierung einer konkreten Großstadtstraße durch die Stadtbewohner am Beispiel der Potsdamer Straße in Berlin. Wie oben gesehen (Kap. 0.2), haben sich semiotische Untersuchungen der Stadt bisher vorwiegend auf den gebauten Raum konzentriert, während holistische Betrachtungen städtischer Räume sich kaum finden lassen. In dieser Arbeit sollen architektonische Objekte keine Vorrangstellung erhalten, sondern gleichberechtigt mit anderen Elementen der Straße in dem Maße berücksichtigt werden, wie sie sich in den Vorstellungen manifestieren und als Zeichen wirksam werden. Wenn man Straßen als Konfigurationen von potentiell zeichenhaften Objekten auffasst, dann stellt sich die Frage nach dem Status der ‚materiellen Dinge‘ in der semiotischen Theorie. Festzuhalten ist: die Semiotik hat, wenn sie sich überhaupt
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für Objekte interessierte, diese überwiegend – ausgehend von einer Sicht, die die Objekte mit den sie denotierenden sprachlichen Begriffen gleichsetzte – als Typen von gebrauchsfunktionalen Artefakten betrachtet. Damit wurden die Objekte entkonkretisiert und gleichzeitig dekontextualisiert, weil Typen in der immer einen Kontext liefernden ‚realen‘ Welt nicht vorkommen, sondern nur Exemplare von Typen. Der Regenmantel steht in dieser Auffassung für Regen (auch wenn der gerade vorbeiflanierende von Prada ist), das Haus für Wohnen und Geborgenheit (auch wenn es sich um eines in einer Reihe von Slumhäusern handelt, mit blinden Fenstern und Müll im Vorgarten). Objekte sind für die Semiotik, z.B. bei Umberto Eco, vornehmlich abstrakte ‚kulturelle Einheiten‘, die in Lexikonartikeln beschrieben und in Bildern dargestellt werden können, aber sie sind keine konkreten Dinge der täglichen Erfahrung. Beschäftigt man sich mit der Semiotisierung eines städtischen Raumes, also mit einer konkreten Objektkonfiguration par excellence, kann eine solche von Materialität und der Einbettung in eine Alltagsumwelt absehende Betrachtung von Objekten nicht als adäquat erscheinen, vielmehr muss eine differenzierte Sicht entwickelt werden. Ein Aspekt der theoretischen Überlegungen dieser Arbeit ist es zu zeigen, dass eine Semiotik des Konkreten möglich ist, wenn man eine rein typorientierte Objektsemiotik hinter sich lässt und die kognitiven Perspektiven und Relevanzsetzungen der Interpreten mit ins Spiel bringt, für welche die Objekte immer auch Dinge ‚at a certain point in space and time‘ sind. Einen semiotischen Untersuchungsansatz der Stadt und ihrer Objekte, der die mannigfaltigen Perspektiven der Stadtbewohner auf die Stadt einbezieht, hat Roland Barthes vorgeschlagen: „Wer sich in der Stadt bewegt, […] entziffert seinen Zwängen und Bewegungen entsprechend Bruchstücke des Textes und aktualisiert sie insgeheim für sich.“ (Barthes 1967/1976: 41) „Die Hauptsache ist nicht so sehr die Anhäufung von funktionellen Untersuchungen und Studien über die Stadt als vielmehr die Anhäufung von Lektüren der Stadt.“ (Barthes 1967/1988: 208)13 Die Bedeutungen der Stadt sollen nicht in einer eindeutigen Korrelation einzelner Objekte mit ihren jeweiligen Inhalten gesucht werden. Vielmehr soll ihre Signifikation anhand der kontextuellen Beziehungen zwischen ihren Objekten, wie sich in den Interpretationen der Stadtbewohner darstellen, erforscht werden (Barthes 1967/1976: 41, Barthes 1967/1988: 206). Barthes’ Empfehlungen zum methodischen Vorgehen bei der semiotischen Untersuchung der Stadt tragen
13 Zur Unterscheidung verschiedener ‚Diskurse’ über die Stadt und der ihnen spezifischen Wahrnehmungsmuster siehe auch Hauser 1990.
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demnach sowohl der Perspektivität der städtischen Objekte als auch ihrer Verankerung in einem Kontext Rechnung.14 Ausgehend von Barthes‘ Überlegungen steht im Zentrum der Dissertation die Frage, in welcher Weise konkrete Objekte der Wahrnehmung als Zeichen im städtischen Kontext auf ihre Interpreten wirken und wie diese Interpretationsprozesse modelliert werden können. Barthes’ Arbeiten zur Stadt- und Objektsemiotik (Barthes 1964/1988, Barthes 1967/1988, Barthes 1964/1983) dienen dabei als Denkanstöße, maßgeblicher theoretischer Orientierungsrahmen der Arbeit ist jedoch die Semiotik Luis Prietos (Prieto 1966/1972, 1975a, 1989-1995). Auf der Basis eines erkenntnistheoretischen Begriffs des materiellen Objekts entwickelt Prieto besonders in seinen späteren Arbeiten eine kognitiv orientierte Objektsemiotik, die die Objektkategorisierung als unterste Ebene der Semiotisierung einbezieht und die Perspektivität der Objektinterpretation betont. Als Zeichenmodell wird in der Arbeit Hjelmslevs zweistelliges Schichtenmodell des Zeichens (Hjelmslev 1943/1974) zugrunde gelegt. Hjelmslevs Modell zeichnet sich dadurch aus, dass es die kognitive Formung des ‚Realen‘ durch das Zeichen berücksichtigt und spezifisch terminologisch beschreibt, womit es auch den konkreten materiellen Zeichenträger begrifflich fasst. Ferner bildet Hjelmslevs Unterscheidung zwischen dem grundlegenden denotativen Zeichen als Einheit von Ausdruck und Inhalt und dem auf diesem aufbauenden symbolischen konnotativen Zeichen die Voraussetzung zur Modellierung komplexer Interpretationsprozesse, wie sie in der Deutung urbaner Objekte zur Anwendung kommen. Einbezogen in die Modellierung städtischer Bedeutungen werden außerdem einzelne Aspekte der kognitionstheoretisch fundierten Relevanztheorie Sperber und Wilsons (1995) sowie der phänomenologisch ausgerichteten Relevanztheorie Alfred Schütz’ (u.a. Schütz 1970/1971). Ergänzend werden Elemente aus Ecos Kultursemiotik (Eco 1972, 1973/1977, 1976/1987) wie das Konzept der Kulturellen Einheit genutzt, um die kulturelle Bedingtheit urbaner Interpretation in dem Modell zu verankern.
14 Ein differenziertes Modell der semiotischen Konstitution der Umwelt Stadt wurde von Barthes allerdings nicht entwickelt.
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Die theoretische Leitfrage der Arbeit lautet: Wie kann die Bedeutungskonstitution einer konkreten Großstadtstraße semiotisch modelliert werden? Folgende Annahme wird der semiotischen Modellbildung zugrunde gelegt: Hypothese (1): Interpretationen konkreter städtischer Umwelten sind maßgeblich durch folgende Dimensionen bestimmt: 1. die Objekte des Stadtraums in ihrer Materialität,15 2. die die Objekte konstituierenden Interpreten des Stadtraums sowie 3. den zeitlich-räumlichen Kontext, der in der Interpretation zum Tragen kommt. Diese Dimensionen dürfen jedoch nicht ausschließlich, sondern nur als perspektivische Ansichten gedacht werden, sie sind miteinander verbunden und interdependent. Die theoretischen Grundlagen in Kapitel 2 verknüpfen daher von Anfang an eine objektbezogene mit einer subjektbezogenen Perspektive: Basis der semiotischen Modellierung ist zwar der Begriff des materiellen Objekts und des Objekt-Zeichens (Kap. 2), diese werden jedoch immer als von Interpreten auf der Basis eines ‚Realen‘ konstituierte aufgefasst. Auch die Ordnung der Umwelt und ihrer Objekte (Kap. 2.2.4) ist nicht ohne einen ordnenden Geist zu denken. Wie bereits erwähnt, ist der Begriff der stadträumlichen Vorstellung Ausgangspunkt der Modellierung städtischer Bedeutungskomplexe. Eine stadträumliche Vorstellung ist eine komplexe strukturierte mentale Repräsentation der Elemente und Relationen eines konkreten städtischen Raumes, z.B. einer ‚Straße X‘. Als stabilisiertes Ergebnis von Interpretationsprozessen der Straße X vereinigt sie in sich die drei oben genannten Interpretationsdimensionen. Der ganzheitliche Ansatz wird durch die Beschränkung der Untersuchung auf einen Teilraum der Stadt, die Straße, möglich. Der Fokus liegt auf einer städtischen Mesoebene. Die mittlere Ebene wurde bisher in der stadtsemiotischen Forschung kaum thematisiert (Ausnahme Gottdiener 1986, s.o.), und selbst in anderen stadtorientierten Disziplinen wie der Geographie wenig bearbeitet (vgl. Hard 1996). Dieser Teilraum ist aber für die Nutzer einerseits immer schon durch seine Relation zum urbanen System bestimmt (zur Makroebene), andererseits aus städtischen Einzelphänomenen (Mikroebene) konstituiert. Eine Großstadtstraße ist somit exemplarischer städtischer Erfahrungsraum, Stadt wird in ihr und in ihrer Verbindung mit dem städtischen Kontext erfahren. Keinem Großstadtbewohner ist es möglich, seine
15 Es wird ein erkenntnistheoretischer Begriff des Objekts zugrunde gelegt, wie ihn Luis Prieto formuliert hat: ein materielles Objekt ist ein Fragment der materiellen Wirklichkeit, das von einem Subjekt als solches erkannt wird (Prieto 1995: 69). Vgl. Kap. 2.2 .
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Stadt in ihrer Gänze zu kennen, sein Wahrnehmungs- und Interpretationsradius ist immer auf Teilräume beschränkt. Auch wenn die Straße im Folgenden holistisch und nicht allein als gebauter Raum untersucht wird, darf nicht übersehen werden, dass städtische Räume durch gebaute Strukturen erst definiert werden. Die Gebäude bilden die Wände, Grenzen und gleichzeitig den Hintergrund für das Geschehen in den Straßen und anderen städtischen Räumen. Die Arbeit betrachtet die Straße schwerpunktmäßig aus der Sicht der Interpreten. Die ‚Produzenten‘-Perspektive der Stadtplanung wird in der Darstellung der historische Genese von Straßenräumen (Kap. 1) berücksichtigt, ferner können auch die Mitarbeiter lokaler Initiativen oder des Quartiermanagements als Produzenten städtischer Bedeutung betrachtet werden. Grundsätzlich erscheint es fraglich, ob bei einer holistischen kultursemiotischen Betrachtung der Stadt die strenge Dichotomie Sender-Empfänger beibehalten werden kann (vgl. auch Ledrut 1973/1986: 120). Die Bewohner einer Stadt sind nicht nur Interpreten städtischer Räume. Sie produzieren deren Bedeutungen auch, indem sie die Räume nutzen, und sie selbst können zum Zeichen für andere Interpreten werden. Die ‚semiotische Schwelle‘16 ist in dieser Arbeit niedrig angesetzt, es wird ein weiter Zeichenbegriff zugrunde gelegt, der sehr viel umfassender als der Alltagsbegriff des Zeichens definiert ist. In einer Common-Sense-Einstellung wird man als ‚Zeichen der Straße‘ nur diejenigen Objekte bezeichnen, die intentional produziert wurden, um eine bestimmte Botschaft zu übermitteln. Dazu zählen u.a. die Verkehrszeichen, Straßenschilder, Ladenschilder, Werbeplakate. Diese werden hier Kommunikations-Zeichen genannt.17 Von diesen unterschieden werden sollen die Objekte als Zeichen, kurz Objekt-Zeichen, dies sind Objekte oder Objektaspekte, die potentiell von einem Interpreten als Zeichen für einen Tatbestand gelesen werden können, ohne dass im engeren Sinne18 eine Kommunikationsabsicht eines Senders vorliegt. Dies können sein: Objekte, die für eine Gebrauchsfunktion stehen (wie ein Laden, ein Gebäude, eine Sitzbank), ästhetische Objekte (z.B. ein aufwendig gestaltetes Eingangstor), natürliche Phänomene (die Laubfärbung der 16 Vgl. Eco 1976/1987: 24ff, 39ff. 17 Systeme kommunikativer Zeichen werden nur am Rande betrachtet, d.h. in die aufzustellenden Typologien eingeordnet, aber ihre Kodes nicht im Detail behandelt. Man kann davon ausgehen, dass kommunikative Zeichen nur einen geringen Platz in den Vorstellungen einer konkreten Straße einnehmen, da sie im Allgemeinen keine charakteristischen Merkmale einer individuellen Straße darstellen, sondern, wie z.B. die Verkehrszeichen, in allen Straßen anzutreffen sind. 18 Der Begriff der Kommunikation wird hier eng gefasst, d.h. gebrauchsfunktionale und ästhetische Inhalte werden ausgenommen.
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Bäume), vom Menschen nicht-intentional produzierte Objekte oder Objektaspekte (der abblätternde Putz an einer Fassade). Auf der Basis der theoretischen Überlegungen zum Objekt als Zeichen wird ein Zeichen- und Interpretationsmodell erarbeitet, das der besonderen Spezifik städtischer objekthafter Zeichen gerecht wird und ggf. auch in zukünftigen stadtsemiotischen Untersuchungen Anwendung finden kann. Dieses Interpretationsmodell für Objekt-Zeichen, das die Genese eines einzelnen Objekts als Zeichen beschreibt, wird ergänzt durch das Modell der komplexen Vorstellung Großstadtstraße X. Im empirischen Teil der Arbeit werden exemplarisch die Objekte und Bedeutungen einer konkreten Straße, der Potsdamer Straße in Berlin, anhand der in sprachlichen Texten externalisierten Vorstellungen von Anwohnern, Nutzern sowie über die Straße berichtenden Journalisten untersucht. Folgende Leitfragen werden an die Texte herangetragen: Welche Objekte bzw. Objektaspekte und Inhalte lassen sich in den Vorstellungen der Potsdamer Straße nachweisen, sind folglich für die Interpreten besonders relevant? Welche strukturellen Einheiten werden gebildet? Welche Relationen zwischen der Semiotisierung einzelner Objekte bzw. Objektaspekte und der Interpretation größerer Einheiten der Straße oder der gesamten Straße lassen sich feststellen? Der empirischen Untersuchung werden folgende Hypothesen zugrunde gelegt: Hypothese (2): Als Elemente der Vorstellungen des städtischen Raums Potsdamer Straße sind zu erwarten: 1. Objekte, die intentional19 für eine Gebrauchsfunktion geschaffen wurden. 2. Objekte oder Objektaspekte, die als Anzeichen auf weitere sekundäre, symbolische Inhalte verweisen, die sich aus dem Objekttyp oder dem spezifischen Ausdruck oder Inhalt des konkreten Einzelobjekts herleiten. Wenn man von der Stadt und damit auch der Straße als einem von Menschen bewohnten und im historischen Ablauf geformten Raum ausgeht (s.o.), kann ein hoher Stellenwert sozialer und historischer Inhalte angenommen werden. 3. Sensorisch (meist visuell) besonders saliente Objekte. Hypothese (3): Spezifische Inhalte einzelner Elemente werden in der Interpretation auf die gesamte Straße oder auf Teilabschnitte übertragen.
19 Der Begriff ‚intentional‘ wird im Folgenden überwiegend im starken Sinne, d.h. als ‚mit bewusster Absicht‘ oder ‚mit bewusster Absicht hergestellt‘ verstanden. Zum Begriff der ‚Intentionalität‘ im Sinne der phänomenologischen Philosophie siehe Kap. 2.2.4.1.
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Datenerhebung und -auswertung der empirischen Untersuchung erfolgen nach dem qualitativen Paradigma. Im Gegensatz zu quantitativen Methoden (Fragebogenerhebungen etc.) eignet sich die qualitative Methode, die durch ihre Offenheit besser die unterschiedlichen subjektiven Deutungen der Individuen untersuchen kann, besonders für ein Untersuchungsfeld, das alltags- und lebensweltliche Vorstellungen Bedeutungszuschreibungen zum Thema hat. Repräsentativität ist nicht oberstes Ziel der qualitativen Forschung, vielmehr werden die zu untersuchenden Subjekte nach ihrer Relevanz für das Thema ausgewählt. Das Untersuchungskorpus umfasst die transkribierten Interviews mit 20 derzeitigen und früheren Anwohnern bzw. Nutzern der Potsdamer Straße sowie themenrelevante Zeitungsartikel der Lokalpresse. Als Interviewform wird das Leitfadeninterview in einer relativ offenen Form gewählt, in dem die Probanden nach ihrer Vorstellung der Potsdamer Straße befragt werden. Interviewt wurden im Frühsommer 2008 Anwohner, Gewerbetreibende und Mitarbeiter lokaler Initiativen und Institutionen (IG Potsdamer Straße, Quartiersmanagement); Anlieger der unterschiedlichen Teilabschnitte der Potsdamer Straße (Kleistpark bis Potsdamer Platz) sollten möglichst gleichmäßig repräsentiert sein. Ebenfalls wurden Vertreter unterschiedlicher sozialer Gruppen einbezogen. Als aktuelle oder frühere Anwohner und Nutzer haben die Interviewten den differenzierten „Nahblick“ des Fußgängers auf die Straße, der sich von dem zielorientierten des Autofahrers unterscheidet, für den die Straße überwiegend Transitraum ist. Die Zeitungsartikel wurden aus Berliner lokalen Tageszeitungen und Stadtmagazinen erhoben, Auswertungszeitraum war 1998 (Jahr der Eröffnung der ‚Daimler-City‘ inkl. Potsdamer Platz Arkaden am Potsdamer Platz) bis 2008. Eine grobe Themenübersicht mit einem Ausblick bis ins Jahr 2009 wird erstellt und vier Artikel im Detail ausgewertet. Auswahlkriterium für die Zeitungstexte ist eine schwerpunktmäßige Beschäftigung mit der Potsdamer Straße als Ganzes oder mit einzelnen mit ihr verbundenen Themenkomplexen. Neben den oben formulierten Leitfragen sollen folgende spezifische Fragestellungen sowohl in die Leitfadenentwicklung einfließen als auch erste Anhaltspunkte für die Auswertung des Korpus und die semiotische Analyse bilden (Überblick): Gibt es ein übergeordnetes Konzept der Potsdamer Straße und woran orientiert es sich? Welche historischen Gestalt- oder Funktionsaspekte wirken im Bild nach? Wie verhält sich das Bild der Potsdamer Straße zum allgemeinen Konzept einer Stadtstraße? Wie sieht das Wunschbild der Potsdamer Straße aus? Welche Bedeutungen und Funktionen sollen gestärkt, welche zurückgedrängt werden? Wie unterscheiden sich die Vorstellungen der Anwohner und Nutzer von den in den Presseartikeln vermittelten Bildern? Die ergänzende Fotofrage dient dazu, Semiotisierungen von einzelnen Objekten herauszuarbeiten und ggf. in den Kontext der Gesamtvorstellung zu setzen.
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Das Buch enthält acht fotografische Abbildungen von Elementen der Potsdamer Straße. Sechs Schwarzweißfotografien zeigen die meistgenannten Objekte der Potsdamer Straße, bei den beiden Farbfotografien handelt es sich um die den Probanden zur Stellungnahme vorgelegten Fotos (siehe Abbildungsverzeichnis). Für eine umfassende fotografische Repräsentation der Straße sei verwiesen auf die in Google Maps/Google Street View erstellte Karte (http://g.co/maps/mdvh7 [30.12.2011]). Aufnahmedatum der Google-Steet-View-Ansichten ist Juli 2008, diese Ansichten zeigen also das Straßenbild zum Zeitpunkt der Interviews. Eine topographische Übersichtskarte der Potsdamer Straße findet sich im Anhang dieser Arbeit.
0.4 Z UM R AUMBEGRIFF DER ARBEIT Die Arbeit untersucht die Großstadtstraße als einen semiotischen Raum. Der Begriff des semiotischen Raumes wird dabei lose verwendet. In erster Annäherung wird darunter ein materieller, konkreter Teilraum der Umwelt verstanden, dessen Objekte (einschließlich der ihn nutzenden Personen) für seine Interpreten zeichenhaft werden können.20 In diesem Gebrauch ist er nicht gleichzusetzen mit Juri Lotmans theoretisch komplexem Konzept der Semiosphäre. Lotman definiert Semiosphäre als den semiotischen Raum einer Kultur, dieser umfasst die Gesamtheit aller der Kultur zugehörigen Zeichenbenutzer, Texte und Kodes (Lotman 1990). Der Raum der Semiosphäre ist abstrakt gedacht und rekurriert nicht notwendig auf konkretmaterielle Räume wie Nationalstaaten oder andere Einheiten (Lotman 1990: 289).21 Bei der Entscheidung, ob die außersemiotische theoretische Fundierung der Arbeit eher Raumtheorien oder eher Wahrnehmungstheorien in den Vordergrund stellen sollte, fiel die Entscheidung auf Letztere (siehe Kap. 2.3). Der der Arbeit zugrunde liegende Raumbegriff wird an dieser Stelle deshalb nur sehr knapp ein-
20 Zu ähnlichen Verwendungen siehe Stierle 1993: 14 u.ö. In einem sozialwissenschaftliche Kontext sprechen Dörner und Vogt (1990: 136ff) unter Bezug auf Bourdieus Habitustheorie und auf seinen Begriff des sozialen Raumes von gesellschaftlichen „Zeichenräumen“, in denen soziale Strukturen durch Lebensäußerungen und Zeichenverwendungen der Akteure lesbar werden. Hier erweitert sich der Zeichenbegriff auf nicht-intentionale Zeichen und Zeichenprozesse der Exemplifikation. Damit nähert sich diese Verwendung der in dieser Arbeit intendierten. 21 Inwieweit auch städtische Räume als Semiosphären beschrieben werden könnten, wäre sicher eine lohnenswerte Fragestelllung in einer kultursemiotischen Untersuchung, als die sich die vorliegende Arbeit jedoch nicht zentral versteht.
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geführt, ist jedoch auch in Kapitel 2.3, das sich mit Umweltwahrnehmung und -repräsentation beschäftigt, zumindest implizit ständig präsent.22 Im Folgenden wird der Begriff des semiotischen Raumes aus drei Perspektiven, die drei der Arbeit zugrunde liegende Raumkonzepte widerspiegeln, thesenartig beleuchtet und abschließend in einer Synthese wieder zusammengeführt. 1. Die raumtheoretische Perspektive: der relationale, konstituierte Raum Raum wird nicht im Sinne Newtons als absolute Größe, als Behälterraum, der unabhängig von den Dingen in ihm existiert, aufgefasst, sondern ist als kognitiv konstituierte Struktur zu verstehen. In Anlehnung an das von Martina Löw im Rahmen ihrer „Raumsoziologie“ (2001) entwickelte Raumkonzept wird Raum als relationale, prozesshaft hergestellte Ordnung von Objekten bestimmt.23 Diese Ordnung wird sowohl kognitiv-mental in der Wahrnehmung konstituiert (Löw spricht hier von Synthese)24 als auch materiell durch Platzierung von Objekten (Spacing) (Löw 2001: 224f). Das Spacing umfasst sowohl die menschliche ‚Eigenplatzierung‘ durch Bewegung im Raum als auch die Konstruktion von Gebäuden, Schaffung von Grünflächen etc., die Einrichtung von Geschäfts- oder Wohnräumen als auch die Positionierung von symbolischen Zeichen als Markierungen. 2. Die semiotische Perspektive: Zeichen als bedeutungstragende materielle Einheiten in Raum und Zeit Der Zeichenausdruck (oder Zeichenträger) wird in der Semiotik von einigen Theoretikern als konkrete materielle, von anderen als abstrakte mentale Entität definiert.25 Bei den in dieser Arbeit thematisierten Objekt-Zeichen der Straße handelt es sich um materielle, sinnlich wahrnehmbare Einheiten, die in der Interpretation zu Zeichenausdrücken werden können. Sie können, wenn wir Kants Erkenntnistheorie folgen, nur in ihrer raumzeitlichen Form erkannt werden, eine 22 Zu einer spezifisch semiotischen Auseinandersetzung mit Raum und (städtischen) Raumrepräsentation in Texten vgl. z.B. Wenz 1997. 23 Ausgehend von relativistischen Raumkonzeptionen wie denen Leibniz’ oder Einsteins definiert Löw Raum als „eine relationale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen (Lebewesen) an Orten“ (Löw 2001: 27ff, 67, 224). 24 Zur kognitiven Konstitution der Umwelt siehe ausführlich Kap. 2.3. 25 Eine Betrachtung des Zeichenträgers als materielles Objekt findet sich bei Morris, während für Saussure der Signifikant nur eine mentale Einheit (als Lautvorstellung) darstellt. Für Peirce kann der Zeichenträger sowohl materiellen als auch mentalen Charakter haben. Hjelmslev Zeichenmodell bezieht neben den mentalen auch materielle Aspekte des Zeichenträgers ein (Nöth 2000: 132, zu Saussures und Hjelmslevs Zeichenmodell siehe Kap. 2.1.1 ).
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andere Weise der Anschauung ist uns nicht gegeben (Kant 1781/1974: B 33-B 73).26 Sie können für uns potentiell zu Bedeutungsträgern werden, die auf Gebrauchsfunktionen, soziale Strukturen, Verhaltensvorschriften etc. verweisen, wobei wir ihre Inhalte immer unter Berücksichtigung ihres raumzeitlichen Kontextes erschließen. 3. Die Alltagsperspektive: die Stadtstraße als gelebter Raum Die Stadtstraßen, die wir im Alltag passieren, nutzen wir als Bewegungsräume, als Wege durch die Stadt, als Räume zum Einkaufen, seltener zum Flanieren. In dieser Einstellung existieren diese Straßen und ihre Dinge für uns auf diese oder jene Weise, sie sind schön oder hässlich, eintönig oder lebhaft, ruhig oder laut. Wir haben eine enge oder eine distanzierte Beziehung zu ihnen, je nachdem, ob wir dort wohnen, sie uns vertraut sind oder wir sie nur selten besuchen. Dieser gelebte Raum ist der Raum der direkten Erfahrung, er wird ‚so wie er ist‘ fraglos als gegeben angenommen.27 Hier ist die Straße alltäglicher Umraum, sie ist durch ihre Randbebauung oder andere raumbildende Begrenzungen definierter Behälterraum, in dem sich diese und jene Dinge befinden oder eine Fläche, auf der sich diese und jene Ereignisse zutragen. Der gelebte Raum ist sinnhaft, seine Objekte haben eine Identität und eine Bedeutung, er besitzt eine Atmosphäre. In diesem Sinne ist der gelebte Raum der ‚blind‘ konstituierte Raum aus der subjektiven Perspektive des Alltagsnutzers, des „Beobachters erster Ordnung“.28 26 „Der Raum ist nichts anderes, als nur die Form aller Erscheinungen äußerer Sinne, d.i. die subjektive Bedingung der Sinnlichkeit, unter der allein uns äußere Anschauung möglich ist.“ (Kant 1781/1974: B 42) Diese grundlegende zeiträumliche Bedingtheit unserer Erkenntnis zeigt sich auch in den Interpretationsmechanismen städtischer Umwelten, aber diese Interpretationen sollen hier nicht dominant aus der Räumlichkeit der Straße bzw. der Stadt heraus verstanden werden. Ein expliziter ‚spatial turn‘ wird hier nicht vollzogen (zum Begriff und der Agenda des ‚spatial turn‘ vgl. u.a. Döring/Thielmann 2008). 27 Vgl. auch Mack 1999: 222. Was hier lose als gelebter Raum bezeichnet wird, entspricht der „Lebenswelt“ bei Schütz und Luckmann (Schütz/Luckmann 1979: 25ff), die Husserls Lebensweltbegriff (Husserl 1954) für die Soziologie interpretieren. Vgl. auch Berger und Luckmanns „Alltagswelt“ (Berger/Luckmann 1969: 21ff). Es gibt keine eindeutige Äquivalenz zu Henri Lefebvres Begriff des espace vécu, dem durch komplexe, meist nichtverbale Symbole erfahrenen Raum; eher umfasst der gelebte Raum sowohl Aspekte des espace vécu als auch des espace perçu (des Raums der Alltagspraxis) (Lefebvre 1974/1991: 36, Schmid 2005: 222ff). 28 „Der Beobachter erster Ordnung konzentriert sich auf das, was er beobachtet, und erlebt bzw. handelt in einem Horizont relativ geringer Information. Er mag in spezifischen Hin-
E INLEITUNG
| 29
4. Die Synthese der Perspektiven: der semiotische Raum Potsdamer Straße als Gegenstand der Untersuchung Gegenstand der angewandten Untersuchung sind die Vorstellungen eines empirischen Straßenraumes, der Potsdamer Straße. In dieser Bestimmung werden die drei erstgenannten Perspektiven auf den Raum wieder zusammengeführt. Dabei wird davon ausgegangen, dass in den Vorstellungen, die zumindest partiell auf den Erfahrungen des gelebten Raumes Potsdamer Straße gründen, der Straßenraum in seiner Struktur und Bedeutung mit Hilfe von Objekt-Zeichen konstituiert wird. Indem der Raum sprachlich beschrieben wird, tritt jedoch auch eine über die Alltagserfahrung und -praxis hinausgehende Reflexion hinzu, der Raum verliert einen Teil seiner lebensweltlichen Selbstverständlichkeit.
0.5 AUFBAU
DES
B UCHES
Kapitel 1 beschreibt die diachrone Entwicklung von Stadtstraßen in Europa und arbeitet die für einzelne Epochen typischen Straßenformen und -funktionen heraus. Das abschließende Unterkapitel 1.8 gibt einen Überblick über die Geschichte und die heutige Situation des Erhebungsgegenstands Potsdamer Straße. In Kapitel 2 werden die theoretischen Grundlagen eingeführt und diskutiert, auf denen die Argumentation und die Modellbildung der Straße als semiotischer Raum in Kapitel 3 aufbaut. Kapitel 2.1 stellt die in der Arbeit zum Tragen kommenden semiotischen Grundlagen dar. Es wird ein Zeichenbegriff eingeführt, der zwischen strukturaler und prozessualer Perspektive vermittelt und damit das Zeichen bereits im Prozess der Interpretation situiert. Welche Mechanismen in der Interpretation materieller Objekte als Zeichen wirken, steht im Zentrum der theoretischen Fragestellung der Arbeit. In Kapitel 2.2 wird aus der Diskussion unterschiedlicher semiotischer Konzeptionen des Objekts heraus ein Ebenenmodell zur Darstellung der Interpretation konkreter Objekte entwickelt. Die Einbeziehung kognitionswissenschaftlicher Aspekte in die semiotische Fragestellung erfordert eine zumindest knappe Einführung in die für die Arbeit relevante Terminologie und Positionen dieser Disziplin. Das Kapitel 2.3 klärt daher einige wahrnehmungspsychologische und kognitionswissenschaftliche Grundbegriffe: kognitive Repräsentation, Konzept, Vorstellung und Image. Das abschließende Unterkapitel 2.4 beschreibt Tendenzen
sichten überrascht sein und nach Erklärungen suchen, wenn sich seine Erwartungen nicht erfüllen; aber das ist eher Ausnahme als die Regel und ist auf seine Informationsverarbeitungsfähigkeit abgestimmt. Er lebt in einer ‚wahr-scheinlichen’ Welt.“ (Luhmann 1996 : 103)
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der stadtsemiotischen Forschung und stellt dabei zwei Hauptrichtungen einander gegenüber. In Kapitel 3 wird das Objekt Großstadtstraße unter semiotischen Aspekten analysiert. Die in Kapitel 2 dargestellten semiotischen und wahrnehmungstheoretischen Modelle werden auf die Semiotisierungsprozesse des Objekts Großstadtstraße angewendet. Das Konzept der Vorstellung dient als Klammer zur verbindenden Darstellung von semiotischen und kognitiven Prozessen. In Kapitel 3.1 wird als ein Typkonzept und kulturelle Einheit bestimmt, etymologische Beziehungen werden dargestellt und allgemeine Merkmale des Objekts Großstadtstraße herausgearbeitet. Kapitel 3.2 bildet den zentralen Teil des 3. Kapitels. Es stellt dar, wie die Vorstellung einer Straße (als Typ oder als Einzelobjekt) semiotisch interpretiert werden kann und entwickelt ein Modell der Vorstellung einer konkreten Straße X als individuelles Metasystem. In Kapitel 3.4 werden eine Typologie der Elemente der Straße als potentielle Objekt-Zeichen erstellt, Signifikationsweisen und Relevanzformen städtischer Objekte beschrieben sowie mögliche Strukturierungen der Straße dargestellt. Ein Exkurs ist den Leerstellen der Straße, wie Baulücken und leerstehenden Läden, gewidmet. In Kapitel 4 wird die in der Arbeit angewendete qualitative Erhebungs- und Auswertungsmethode dargestellt und ihre Auswahl begründet sowie das Untersuchungskorpus beschrieben. Anschließend erfolgt die Analyse der Korpustexte auf Grundlage der in Kapitel 2 und 3 erarbeiteten Modelle und Fragestellungen. Die Ergebnisse der empirischen Analyse werden in Kapitel 4.5 zusammengefasst. Im Fazit in Kapitel 5 werden die theoretischen Modellierungen und die empirischen Ergebnisse zusammenfassend dargestellt und diskutiert. Es wird nach möglichen, generalisierenden Implikationen der empirischen Resultate gefragt. Abschließend wird auf einige spezifische Fragen hingewiesen, die in der Arbeit nicht näher geprüft werden konnten und es werden Vorschläge für weitergehende Untersuchungen gemacht. In einem Nachsatz werden die Bedingungen einer Semiotik des Konkreten formuliert.
E INLEITUNG
0.6 F ORM
DER
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N OTATION
Typen und Exemplare (bzw. Token)29 werden in dieser Arbeit folgendermaßen notiert (angelehnt an Blanke 2003: 32): •
•
Typen und Exemplare der Ausdrucksebene [Auto] steht für ein Auto als konkretes materielles Objekt, als Objektexemplar. |Auto| steht für das konkrete Wort ‚Auto‘ in einem sprachlichen Text (z.B. in einer der Interviewtranskriptionen), d.h. für das spezifische sprachliche Ausdrucksexemplar. /Auto/ steht für den sprachlichen Ausdruck ‚Auto‘ als Ausdruckstyp. Typen und Exemplare der Inhaltsebene steht für den Inhaltstyp ‚Auto‘, d.h. den Inhalt (als Denotation) von /Auto/ oder den Inhalt (als denotatives Kategorisierungsergebnis) eines oder mehrerer [Autos]. steht für das Inhaltsexemplar, den Inhalt .
Hervorhebungen werden kursiv gesetzt, dies gilt auch für Fachtermini bei ihrer jeweils ersten Nennung im Text. Die in der Textanalyse vergebenen Kategorien werden in Kapitel 4 durch Kursivsetzung und einfache Anführungszeichen gekennzeichnet (z.B. die Kategorie ‚Fachgeschäfte‘). Um die Lesbarkeit nicht zu beeinträchtigen, wurde auf die Doppelnennung von weiblicher und männlicher Form verzichtet. Mit Nennung der männlichen Funktionsbezeichnung ist immer auch die weibliche Form mitgedacht. Legende zu den stichwortartigen Zusammenfassungen in Kapitel 4: + / ++ O − ĺ
häufig / sehr häufig genannt nicht / wenig genannt als nicht vorhanden, fehlend bezeichnet weiterführende Inhalte
29 Zur Unterscheidung von Exemplaren und Token siehe Kap. 2.1. Token werden wie Exemplare gekennzeichnet.
1
Stadtstraßen in ihrer historischen Entwicklung: Formen und Bedeutungen
Stadtstraßen bilden einen spezifischen Typ urbaner Räume. Ebenso wie synchron unterschiedliche Formen und Funktionen von städtischen Räumen zu differenzieren sind, können auch einzelne urbane Raumformen in ihrem diachronen Wandel beschrieben werden. Straßen und andere städtische Räume werden einerseits in jeder Epoche nach den jeweiligen ökonomischen, sozialen, kulturellen und politischen Bedürfnissen spezifisch geformt, d.h., ihre Entwicklung verläuft evolutionär unter Anpassung an die gegebene lokale und überlokale Umwelt.1 Andererseits wird die städtische Umwelt selbst zum bedingenden Faktor von sozialen, politischen und kulturellen Entwicklungen. „Mind takes form in the city; and in turn, urban forms condition mind.“ (Mumford 1938: 5, [Herv. i. Orig.]) Dieses Kapitel gibt einen Überblick über die historischen Veränderungen von städtischen Straßenformen, ihren Nutzungen und symbolischen Inhalten.2 Einzelne semiotische Aspekte fließen in die Darstellung ein, eine detaillierte semiotische Interpretation wird hier jedoch nicht angestrebt.3 Im Mittelpunkt steht die Entwicklung von Stadtstraßen in Europa,
1 2
Umwelt im weiten Sinne des uexküllschen Begriffs verstanden (siehe Kap. 2.3.3). Wenn in dieser Arbeit lose von symbolischen Bedeutungen, symbolischen Inhalten, symbolischer Relevanz etc. die Rede ist, wird nicht auf den peirceschen Begriff des Symbols als konventionelles Zeichen Bezug genommen (dazu siehe Kap. 2.2.3.1). Das Symbolische ist hier weiter gefasst und beschreibt Bedeutungsbeziehungen, die nicht rein gebrauchsfunktional oder denotativ konstituiert sind, sondern darüber hinausgehende sekundäre, konnotative Schichten aufweisen (vgl. Ecos Begriff der symbolischen Funktion, Kap. 2.2.2).
3
Auch globale symbolische Bedeutungen des Begriffs Straße wie oder werden in diesem Kapitel nicht thematisiert, vgl. dazu Kap. 3.1.2.
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für das 20. Jahrhundert werden auch nordamerikanische Großstadtstraßen berücksichtigt.4 Joseph Rykwert schreibt über die Stadt: „It is an artefact – an artefact of a curious kind, compounded of willed and random elements, imperfectly controlled.“ (Rykwert 1988: 24) In ähnlicher Weise konzipiert Stanford Anderson die Straßen, also Elemente der Stadt, als Artefakte: sie sind Artefakte als Produkte menschlichen Handelns, aber nicht als Produkte eines menschlichen zielgerichteten Entwurfs (Anderson 1978b: 7). Dies ist nicht in dem Sinne zu verstehen, dass die Anlage von Straßen überwiegend nicht intentional geplant wird (das Gegenteil ist der Fall), sondern dass einmal geplante Straßen sich über die Zeit in ihrer Nutzung und in begrenztem Maß auch in ihrer Form ständig wandeln können, während nur ein ‚Skelett‘ des gebauten Raumes (die Fahrbahn und ggf. die den Raum definierenden Häuser) stabil bleibt.5 Weiterhin können auch die Produkte einer spezifischen Planung immer auf dem Hintergrund ihrer kultur-evolutionären Bedingtheit betrachtet werden, der einzelne Entwurf stellt nur einen kleinen Schritt in einer allgemeinen kulturellen Entwicklung dar. 6 4
Die historische Entwicklung von Stadtstraßen außerhalb Europas und Nordamerikas wird nicht betrachtet.
5
Bedingt durch die relative Permanenz des gebauten Raumes (siehe ausführlicher Kap. 3.1.3) existieren immer Straßenformen und Straßenelemente unterschiedlicher historischer Herkunft nebeneinander. Diese synchrone Präsenz unterschiedlicher diachroner Schichten wird in diesem Kapitel nur untergeordnet thematisiert, sie kommt bei der Beschreibung des Untersuchungsgegenstandes Potsdamer Straße (Kap. 1.8) exemplarisch zur Sprache. Aldo Rossi weist darauf hin, dass Funktionen zeitgebunden sind, städtebauliche Phänomene jedoch auch bedeutsam bleiben, wenn ihre Funktion erloschen ist. Die Gestalt einer Stadt sei „immer die Gestalt zu einem bestimmten Zeitpunkt, auch wenn in dieser Gestalt viele Zeiten zugegen sind“ (Rossi 1969/1973: 45).
6
Mit Geoffrey Broadbent könnte man die Befestigung von Straßen dem „pragmatischen Design“ zuordnen, da hier unterschiedliche Materialien in einem sich über Jahrhunderte erstreckenden Prozess von Versuch und Irrtum und angepasst an die jeweiligen praktischen Bedürfnisse, genutzt wurden, um Straßen zu bauen, die ihre Funktion immer besser erfüllten. Neben dem pragmatischen Designtypus unterscheidet Broadbent zwischen ikonischem, analogischem und kanonischem Design in der Architektur. Als analogisches Design kann der antike Rasterplan aufgefasst werden, der dem damaligen Denken gemäß die Ordnung des Kosmos auf die irdische Stadt projiziert. Ikonisches Design als Übernahme von früheren Mustern der Straßenanlage findet sich z.B. in der Renaissance, während die Rasterpläne der nordamerikanischen Städte ein Beispiel für kanonisches, d.h. einem geometrischen System unterworfenes Design darstellen (vgl. Broadbent 1988: 25ff). An diesen Beispielen zeigt sich jedoch auch, dass die Broad-
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Besonders in der frühen Entwicklungsgeschichte von Straßen sind Form und Funktion in gegenseitiger Abhängigkeit zu konzipieren. Die ersten Wege und Straßen entstanden aus ‚Trampelpfaden‘, indem Menschen den von anderen Menschen oder von Tieren hinterlassenen Spuren folgten (s.u. Kap. 1.1). Durch die Nutzung entstand somit eine Form, die eine weitere zukünftige Nutzung anregte, mit der Fortentwicklung der Technik wurde eine weitere Formveränderung und -optimierung ermöglicht usf. Die frühen Wege und Straßen können als Produkt einer Bewegungskonvention im Raum verstanden werden. Eine generelle gegenseitige Abhängigkeit von Straßenformen als gebautem Raum und den jeweiligen Funktionen soll hier jedoch nicht behauptet werden.7 In den frühen Siedlungen entstanden die Straßen nicht als Ergebnis einer intentionalen Planung, sondern als nicht besetzte „Distanzflächen“ zwischen den Gebäuden, welche die strukturbildenden Elemente darstellten (Curdes 1993: 73). Es handelte sich hier um „additiv entstandene Siedlungsordnungen“ (Curdes 1993: 72ff), diese Ordnungsform ist charakteristisch für Dörfer, aber beispielsweise auch für die Städte des Mittelalters (s.u. Kap. 1.3). Semiotisch kann man von einem Kode der dritten Art, einer ‚spontanen Ordnung‘ sprechen. Dagegen liegt bei den orthogonalen Straßennetzen der frühen mesopotamischen Städte bereits ein künstlicher Kode8 der intentionalen Planung des Stadtraums vor. Curdes spricht hier von „durch Teilung entstandenen Ordnungen“ (Curdes 1993: 75f). Als kultur- und epochenübergreifende Grundfunktion (im Folgenden als Standardfunktion bezeichnet)9 von Straßen (Stadt- und Landstraßen) kann die Funktion als Verkehrsweg bestimmt werden. Darüber hinaus verweisen Straßen auf eine Vielzahl weiterer gebrauchsfunktionaler und symbolischer Inhalte, die kulturund epochenspezifisch unterschiedlich ausgestaltet sind. Die Standardfunktion der Verkehrsleitung kann in einzelnen Epochen und Kulturen je nach Art der Fortbewegung der Verkehrsteilnehmer unterschiedliche Ausprägung erhalten. Weitere gebrauchsfunktionale Inhalte, wie die Straße als Ort von Handel und Gewerbe, entwickeln sich in Abhängigkeit von dieser Standardbentschen Designtypen nicht ausschließlich gedacht werden können. So wurde in der Antike die angenommene kosmische Ordnung als geometrischer Stadtplan interpretiert, analogisches und kanonisches Design fallen hier zusammen. 7
Aldo Rossi spricht von einer „naiven“ Konzeption des Funktionalismus, „derzufolge die Funktionen die Form und damit eindeutig Städtebau und Architektur bestimmen“. Auf diese Weise werde die Form ihrer komplexen Motivationen beraubt, „der Architektur kommt keine autonome Qualität mehr zu.“ (Rossi 1969/1973: 29)
8
Zur Unterscheidung von künstlichen Kodes und Kodes der dritten Art s.u. Kap. 2.2.3.1 (Keller/Lüdtke 1997: 415-420).
9
Zur Standardfunktion von Artefakten vgl. Kap. 2.2.3.3.
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funktion. Straßen als Verkehrswege bündeln Verkehrsströme, daher sind sie grundsätzlich öffentliche Räume mit einer im Vergleich zu anderen Räumen relativ hohen Durchgangsdichte und somit prädestiniert für die Ansiedlung öffentlicher oder halböffentlicher, darunter besonders kommerzieller Funktionen.10 Straßen- und Wegenetze in ihrer zeiträumlichen Kontinuität haben, kurz gesagt, eine „generative Wirkung“ (Frick 2006: 65), sie sind Katalysatoren für weitere infrastrukturelle Entwicklungen. Die symbolischen Inhalte von Straßen können sowohl ausdrucks- als auch inhaltsinduziert sein. So symbolisiert eine barocke, als Sichtachse angelegte Straße in ihrer Form, dem Zeichenausdruck, die absolutistische Macht. Dagegen können durch die Funktion des Handels geprägte Straßen (‚Einkaufsstraßen‘ als Straßentypen), aufbauuend auf diesem Zeicheninhalt, für ‚Lebendigkeit‘ stehen. Historische Stadtstraßen im Zentrum besitzen grundsätzlich einen höheren symbolischen Stellenwert als Neuplanungen an der Peripherie,11 da sich historische Bedeutungen von Orten über längere Zeit im kulturellen Gedächtnis erhalten und sogar weiter anreichern und an neue Gegebenheiten anpassen können.12 Anselm 10 Auf eine eingehende theoretische Auseinandersetzung mit dem Topos ‚Öffentlicher Raum‘ in der Stadt wird hier verzichtet, verwiesen sei auf u.a. auf Bahrdt 1961/1998 und Sennett 1977/1983. Bahrdt betrachtet die Polarität von Privatheit und Öffentlichkeit, die sich auch räumlich in der Trennung zwischen den öffentlichen Straßen und Plätzen einerseits und den abgeschlossenen privaten Wohnräumen andererseits manifestiert, als zentrales Merkmal des urbanen Lebens (Bahrdt 1961/1998: 117). Soziale Beziehungen im öffentlichen Raum der Stadt zeichnen sich laut Bahrdt durch unvollständige Integration aus, d.h. das Individuum tritt nur mit einem Teilaspekt seiner Persönlichkeit in Kontakt mit anderen ein, andere ‚private‘ Eigenschaften, wie z.B. Familienstand, Religionszugehörigkeit etc. werden nicht thematisiert oder bleiben verborgen. Verhalten in der Öffentlichkeit ist ferner durch die Einhaltung von Distanzregeln, durch Stilisierung, also die Einhaltung bestimmter Formen und durch Repräsentation des Selbst über Gesten und Kleidung geprägt (Bahrdt 1961/1998: 90ff), Häussermann/Siebel 2004: 55ff). Allerdings löst sich die Polarität zwischen Öffentlichkeit und Privatheit zunehmend auf (Bahrdt 1961/1998: 140ff), Privates wird im öffentlichen Raum verhandelt, während die Rolle öffentlicher Räume wie Geschäftsstraßen vermehrt von nur noch halböffentlichen Räumen wie Shopping Malls übernommen wird (Häussermann/Siebel 2004: 64ff, siehe auch Sennett 1977/1983). 11 Vorausgesetzt, der Ort des Zentrums ist über längere Zeit stabil geblieben. 12 Wolfgang Wildgen geht davon aus, dass Bedeutungen von Orten nicht nur von Generation zu Generation überliefert werden, sondern auch in gewisser Weise in den Orten selber bzw. in der Semiosphäre (im Sinne Lotmans gespeichert) sind (Wildgen 2003: 47). Orte haben einen bestimmten Überlieferungswert, der äquivalente Funktionen
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Strauss weist darauf hin, dass Straßen im Stadtzentrum sich vor allem durch eine Lageveränderung oder Differenzierung des Zentrums in ihren ökonomischen und symbolischen Funktionen entscheidend wandeln können. Allerdings sei auch zu beobachten, dass in Zentrumsstraßen über lange Zeit eine bemerkenswerte Anziehungskraft für die gleichen Typen von Gewerbe, Kunden, Besuchern und Vergnügungssuchenden erhalten bleibt. „Streets acquire and keep reputations. They evoke images in the minds of those who know these reputations; and presumably these images help attract and repel clients and visitors.“ (Strauss 1961: 62) Es lassen sich zwei mögliche Richtungen einer semiotischen Betrachtung unterscheiden. Einerseits stehen bestimmte Straßenformen für ihre zeitgenössischen Nutzer für ihre aktuelle Gebrauchsfunktion (z.B. die Straßen im Mittelalter für die Ansiedlung von Handwerk und Kleingewerbe), aber auch für (intentionale) symbolische Inhalte wie den Machtanspruch und Prunk eines absoluten Herrschers. Ferner kann das Straßenbild umfassende soziale und kulturelle Indikationen liefern, wie z.B. (aus einer kritischen theoretischen Perspektive) die Ungerechtigkeit einer Gesellschaftsordnung verkörpern (vgl. Engels 1845/1947) oder, wie im 20. Jahrhundert Beispiel für die „Unwirtlichkeit der Städte“ (vgl. Mitscherlich 1965) werden.13 Andererseits stehen Straßen bei der Betrachtung auf einer historischen Metaebene für die Epoche ihrer Entstehung: enge, verwinkelte Straßen können auf ihren mittelalterlichen Ursprung verweisen, breite Boulevards mit stuckverzierter Randbebauung auf das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert. Dieser zweiten Form der Semiotisierung geht notwendig eine Typisierung von Straßenformen und/oder -inhalten in Bezug auf eine Entstehungsepoche voraus. Die Darstellung epochentypischer Straßenformen und -inhalte in Kapitel 1.1 bis 1.7 greift auf grundlegende Werke zur Stadt- und Straßengeschichte zurück, eine umfassende Stadtgeschichte wird jedoch nicht angestrebt. Die beschriebenen konkreten Formen, die Straßenräume mit ihrer Randbebauung, sind in europäischen Städten heute noch sicht- und erfahrbar, auch wenn die Funktionen der noch erhaltenen Straßenräume des Mittelalters, der Renaissance und des Barocks sich den aktuellen Erfordernissen angepasst haben und frühere symbolische Inhalte nicht über mehrere historische Epochen und selbst über kulturelle Umwälzungen hinaus weiter bestehen lässt. Beispiele sind u.a. die Umwandlung der Hagia Sophia von einer christlichbyzantinischen Kirche zur islamischen Moschee nach der Besetzung Konstantinopels durch die Osmanen im 15. Jahrhundert, das als römischer Tempel erbaute Pantheon, das um 600 n.Chr. zur Kirche wurde, und der Bau des Palastes der Republik auf dem ehemaligen Platz des Berliner Stadtschlosses. 13 So unterschiedlich sich diese Signifikationsbeziehungen (im Fall der barocken Achse tritt eine kommunikative Bedeutung hinzu) auch darstellen: es handelt sich immer um Exemplifikationsrelationen (zum Begriff der Exemplifikation siehe Kap. 2.2.3.3).
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mehr vorhanden sind. Die Straßen des späten 19. Jahrhunderts wirken in vielen europäischen Metropolen (Paris, Berlin, Wien, Barcelona u.a.) noch über 100 Jahre später als wesentliche Elemente des Stadtbilds. Diese Bilder sind Teil des kulturellen Gedächtnisses im heutigen Europa, von den Einzelnen erworben in der eigenen Reiseerfahrung oder durch Vermittlung in den Medien, in Kunst und Literatur. Die Konzepte von Großstadtstraßen der heutigen Stadtbewohner haben sich auch auf dem Hintergrund dieses Wissens entwickelt.14 Einen zusammenfassenden Überblick zur Form- und Inhaltsentwicklung von Stadtstraßen gibt die Tabelle 1 am Ende von Kapitel 1.7. Ebenso sind die heutigen Interpretationen des empirischen Untersuchungsobjekts, der Potsdamer Straße als einer einzelnen Großstadtstraße, nicht unabhängig von dem sich in ihnen manifestierendem Wissen über die historische Entwicklung der Straße oder von eigenen früheren Eindrücken zu analysieren. Die Historie der Potsdamer Straße von ihrer Entstehung im 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart wird in Kapitel 1.8 überblicksartig nachgezeichnet.
1.1 D IE
ERSTEN
S TRASSEN
Es kann angenommen werden, dass die frühen, von Menschen auf ihren nomadischen Wanderungen genutzten Wege teilweise Tierpfaden folgten. Die ersten befestigten Wege entstanden mit zunehmender Sesshaftigkeit der Menschen und Herausbildung der Landwirtschaft im Europa der Jungsteinzeit. Die Konzentration in Siedlungen verstärkte die Nutzung bestimmter einzelner Wege und machte deren Befestigung notwendig. Georg Simmel spricht von dem „Wunder des Weges“ als spezifisch menschlicher Leistung, der es gelingt, „die Bewegung zu einem festen Gebilde, das von ihr ausgeht und in das sie eingeht, gerinnen zu lassen“ (Simmel 1909/1957). Besonders der Ausbau des Handels, der eine gleichmäßigere Verteilung von Rohstoffen in den unterschiedlichen Regionen Europas sicherte, war von besonderer Bedeutung für die Entstehung von Straßen. Neben den Handelsrouten der natürlichen Wasserwege entstand so ein sich stetig erweiterndes Netz von Kunst-
14 Karlheinz Stierle weist darauf hin, dass die Erfahrung der Stadt als semiotische Welt eng mit der ordnenden, diskursiven Darstellung der Stadt, also der Externalisierung der kognitiven Inhalte in Text, Bild etc. verknüpft ist: „Die komplexe Stadterfahrung setzt Darstellung voraus.“ (Stierle 1993: 46).
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straßen,15 das auch das Hinterland der Flüsse erschließen konnte. Das Straßennetz der frühen mesopotamischen Städte,16 wie z.B. jenes im ca. 5000 vor Chr. entstandenen Ur, ähnelte mit schmalen, verwinkelten Gassen, die sowohl Schutz vor der Sonne boten als auch Angreifern die Orientierung erschwerten, dem der heutigen nordafrikanischen Städte. Es gab jedoch auch eine oder mehrere ‚breite Straßen‘, die wahrscheinlich für religiöse Prozessionen oder Aufmärsche geschaffen worden waren und außerdem für abendliche Spaziergänge genutzt wurden. Die Anlage dieser Hauptstraßen folgte häufig den Himmelsrichtungen, was auf eine sakrale Bedeutung schließen lässt. In Babylon wurde um 600 v. Chr. unter Nebukadnezar eine zum Teil 16 Meter breite gepflasterte Prozessionsstraße gebaut. Im Allgemeinen waren die Stadtstraßen jedoch nur leicht geschottert oder es handelte sich um Erdwege. Frühe Beispiele einer axialen Stadtanlage mit dem Schnittpunkt der beiden Hauptstraßen im Zentrum finden sich schon im Ägypten der 12. Dynastie um 1900 v. Chr. Die ägyptische Hieroglyphe für Stadt zeigt ein Kreuz in einem geschlossenen Kreis und verweist damit auf zwei konstituierende Elemente von Stadt: ein gegen das Umland abgeschlossenes Gebiet und eine den Austausch ermöglichende Wegkreuzung. Der orthogonale oder Rasterplan kann zeit- und kulturübergreifend als Modell der idealen Stadtanlage gelten. Er symbolisiert nicht nur eine städtische Ordnung, sondern projiziert eine angenommene kosmologische Ordnung auf die Stadt und macht sie so zum Inbild des Universums. Orthogonale Planungen werden in der Geschichte des Städtebaus besonders bei Neugründungen oder utopischen Entwürfen immer wieder eingesetzt (vgl. die folgenden Unterkapitel) (Hitzer 1971: 7, 11, Lay 1992/1994: 19ff, Mumford 1961/1963: 86f, Sennett 1990/1991: 69, Eaton 2001/2003: 26ff).
1.2 S TADTSTRASSEN
IN DER
ANTIKE
Die Städte im antiken Griechenland gingen teilweise aus Ansiedlungen unterhalb von Herrenburgen hervor. Hier bildeten die Straßen – außerhalb der geordneten Tempelbezirke und der Agorá als zentralem Ort – ein engmaschiges, schwer übersehbares, dem Gelände angepasstes Netz. Dagegen entstanden die neu gegründeten
15 Im Straßenbauwesen wird fachsprachlich zwischen Kunststraßen als befestigten Verkehrswegen und nicht befestigten anderen Wegen unterschieden (Hitzer 1971: 7). 16 Die Entstehung der ersten Städte und der Schrift ist zur gleichen Zeit und im gleichen geographischen Raum anzusetzen. Die ältesten Funde von Schriftzeugnissen stammen aus dem mesopotamischen Uruk, sie werden in das 4. Jahrtausend v. Chr. datiert.
40 | DIE STRASSE, DIE DINGE UND DIE Z EICHEN
Kolonialstädte im hellenistischen Griechenland nach genauen Plänen. Vorbild für alle Neuplanungen wurde der Wiederaufbau von Milet ab 479 n.Chr., der dem Stadtplaner Hippodamos zugeschrieben wird. Hippodamos entwarf für die Stadt einen Rasterplan, der auf die topographischen Gegebenheiten keine Rücksicht nahm. Die Stadtanlagen dieser Neugründungen verkörperten mit Prachtstraßen und repräsentativen Bauwerken bereits die politische Macht der jeweiligen Herrscher. Die Form des Rasterplans wurde von den Römern übernommen und bildete später in den barocken Neugründungen in Europa und in den Kolonialstädten Nord- und Südamerikas das Grundmuster der Stadtanlage (Hitzer 1971: 19, Lay 1992/1994: 19ff, Whitfield 2005/2006: 12). Die römischen Städte entstanden in ihrer Mehrzahl aus einem „castrum“, einem Militärlager. Grundmuster der Planung bildete die centuratio, deren Prinzip auch die rasterförmige Parzellierung der neu eroberten Gebiete leitete. Der Schnittpunkt der zwei Hauptachsen cardo maximus (Nord-Süd) und decumanus maximus (OstWest) der Kolonie sollten sich idealerweise mit dem der Hauptachsen der Stadt decken (Benevolo 1982/1983: 256).17 Durch das Kreuz der Hauptachsen ergab sich eine Vierteilung der Stadt.18 Die Hauptstraßen der römischen Städte unterstanden der öffentlichen Verwaltung, sie waren relativ breit, verfügten über Gehwege und waren schon früh gepflastert. Die zur Straße liegenden Räume wurden als tabernae an Händler, Handwerker, Geschäftsleute und Gastwirte vermietet. Diese Hauptstraßen waren zentrale Schauplätze des öffentlichen Lebens, besonders auch, weil hier tagsüber der Fahrzeugverkehr untersagt war. Rom selber verfügte nie über eine strenge orthogonale Straßenordnung. Im römischen Stadtgebiet wurden drei Straßentypen nach möglicher Nutzung unterschieden: die schmalen itinera, die nur von Fußgängern genutzt werden konnten, die actus, die Platz für einen Wagen boten und die viae, die bis zu 6,50 breit waren, und in denen zwei oder mehr Wagen aneinander vorbei fahren konnten (Hitzer 1971: 68f, Benevolo 1982/1983: 228).
17 Ob diese Quartierung etruskischen Ursprungs ist, wie vielfach behauptet wird (z.B. Eaton 2001/2003: 34) ist strittig, Müller 1961 geht von früheren, allgemein indogermanischen Wurzeln aus. Zur sakral-kosmologischen Bedeutung der Centuratio vgl. auch Lagopoulos 1997: 910f. Auch Vitruv empfiehlt in den „Zehn Büchern über Architektur“ der römischen Tradition gemäß ein rasterförmiges Straßennetz. Die Straßenachsen sollten allerdings leicht gegen die acht Hauptwinde gedreht sein, um schädliche Winde aus der Stadt fernzuhalten (Vitruvius 1492/1964: 58ff). 18 Die Bezeichnungen Stadtviertel im Deutschen, quartier im Französischen, quarter im Englischen etc. gehen auf diese Form der Teilung in Bezirke zurück.
STADTSTRASSEN IN IHRER HISTORISCHEN E NTWICKLUNG
1.3 S TADTSTRASSEN
IM
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M ITTELALTER
Nach dem Zerfall des Römischen Reiches und infolge der Zerstörungen der Völkerwanderung ging das städtische Leben erheblich zurück. Erst um die Jahrtausendwende erlebte es mit der wieder erstarkenden Wirtschaft einen neuen Aufschwung, allerdings unter anderen ökonomischen, sozialen und städtebaulichen Vorzeichen als im Römischen Reich. Am Rande von Burgen oder Klöstern entstanden Siedlungen, in denen den abhängigen Bauern, Handwerkern und später Verwaltungsbeamten von den weltlichen oder geistlichen Grundherren Wohnplatz zugewiesen wurde. Hier ließen sich in der Folge auch Händler nieder, die zwar Abgaben zahlen mussten, aber nicht dem Grundherren unterworfen waren. Die sich aus diesen Dörfern oder Dorfgruppen bildenden Stadtanlagen waren in ihrer Bebauung und Straßenführung häufig der Landschaft angepasst, ihre Anlage beruhte eher auf Zufällen als auf bewussten Entscheidungen. Das Straßennetz war unregelmäßig, bildete jedoch ein einheitliches funktionales System mit einer deutlichen Hierarchie von Haupt- und Nebenstraßen. Die Straßen waren im Verhältnis zur Höhe der Randbebauung schmal, die Relation von Höhe zu Breite betrug häufig nur 0,5 (Curdes 1993: 124). Die Plätze wirkten nicht als unabhängiger Raum, sondern waren mit den einmündenden Straßen eng verbunden. Die meisten größeren Straßen wiesen eine hohe Polyfunktionalität auf: sie waren Orte für den Verkehr, das Verweilen, den Handel und für Versammlungen, insgesamt dienten sie eher als Verbindungswege für Fußgänger denn als Fahrbahnen für Wagen. Werkstätten und Läden lagen in den Räumen zur Straße, verkauft wurde durch die Fenster oder Türen. Während die Häuser im alten Rom nach innen zu einem Atrium gewandt waren, öffneten sich die mittelalterlichen Häuser mit ihren oft individuell ausgestalteten Fassaden zur Straße und trugen so zu Funktion und Schönheit der Stadt bei. Benevolo spricht von „a gift to the street“ (Benevolo 1993/1999: 61), Lichtenberger sieht hier den „Beginn des Fassadenkultes“ (Lichtenberger 2002: 24). Verschiedene Verordnungen setzten Vorgaben zum Aussehen der Fassade. Insgesamt waren öffentlicher und privater Bereich weniger getrennt als in den antiken Städten (Hitzer 1971: 185ff, Benevolo 1982/1983: 328ff, Benevolo 1993/1999: 61f, Mumford 1961/1963: 350f). Die Städte, die aus Siedlungen unterhalb von Klöstern oder Burgen entstanden, werden oft als einzig wirklicher mittelalterlicher Stadttyp angesehen. Daneben können jedoch zwei weitere Typen der mittelalterlichen Stadtanlage identifiziert werden: einerseits solche, die aus römischen Städten hervorgingen und im Zentrum den Rasterplan beibehielten (Beispiel: Köln) und andererseits die neu gegründeten Kolonisationsstädte, die ebenfalls nach einem orthogonalem Plan mit einem zentralen Platz oder einer zentralen Achse für den Markt und öffentliche Versammlungen angelegt waren (z.B. Bern und Freiburg im süddeutschen Raum und
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die im Zuge der Ostbesiedlungen gegründeten Städte wie Neubrandenburg oder Posen) (Mumford 1961/1963: 350f, Hitzer 1971: 187, Müller/Korda 1999: 24f). Die Ähnlichkeit der Anlage vieler mittelalterlicher Städte, die den Eindruck erweckt, sie beruhe auf einer zugrunde liegenden einheitlichen Stadtplanungstheorie, ist laut Mumford (1961/1963: 351) auf eine „völlige Übereinstimmung“ hinsichtlich der städtischen Aufgaben zurückzuführen. Hier haben also ähnliche Funktionen oder Inhalte durch ihre raumkonstituierende Selbstorganisation ähnliche Formen geschaffen. Die sehr komplexe Stadtstruktur der mittelalterlichen Städte resultierte aus dem Gleichgewicht der verschiedenen städtischen Machtträger, wie dem Bischof, der zivilen Stadtregierung, der religiösen Orden und der Zünfte. Daraus ergaben sich häufig mehrere Zentren in einer Stadt, die jeweils für die geistige, politische und wirtschaftliche Macht standen. Die Stadtmitte wies die höchste Anziehungskraft und auch mit Kirche und Rathaus die höchsten Gebäude auf. Parallel dazu war auch das Zentrum Wohnort der wohlhabenden Bevölkerung, während ärmeren Schichten am Stadtrand siedelten. Da die Kosten für die Pflasterung von den Anwohnern getragen werden mussten, erhielten zuerst die Hauptstraßen mit ihren besser gestellten Anwohnern ein Steinpflaster (ab dem 13. Jahrhundert). Die übrigen Straßen blieben noch bis ins 19. Jahrhundert kaum befestigte Erdwege, die bei Trockenheit staubig und bei Regen voller Matsch waren. Besonders gepflegt wurden die Straßen an großen Festtagen, wenn viel Verkehr auf der Straße herrschte. Allgemein herrschten in hohem Maße unhygienische Zustände, die auch Ursache für den Ausbruch von Seuchen wie der Pest waren. Jegliches Abwasser wurde auf die Straße geschüttet, Haustiere suchten dort ihr Futter. Vorschriften zur Eindämmung des Schmutzes auf den Straßen wirkten nur langsam (Hitzer 1971: 188ff, Benevolo 1982/1983: 352f und 1993/1999: 61f). Insgesamt basiert die Formung der mittelalterlichen Stadt in einem höheren Maße als die der Städte früherer und späterer Epochen auf einem „Kode der dritten Art“ (vgl. Kap. 2.2.3.1, Keller/Lüdtke 1997: 415-420). Die Stadtanlagen und damit die Straßenformen entwickelten sich aus den Bedürfnissen der politischen und sozialen Machtverhältnisse und entlang der topographischen Gegebenheiten, ohne dass eine einheitliche planerische Ordnung genaue Regeln vorgab.
1.4 S TADTSTRASSEN
DER
R ENAISSANCE
Die Renaissance wird in der Kunst- und Architekturgeschichte im Allgemeinen als Zeitalter des künstlerischen und wissenschaftlichen Auf- und Umbruchs beschrieben. Im Bereich des Städtebaus beschränkte sich die ‚neue Ordnung‘ jedoch zunächst auf den Bau einzelner Monumente, während sich das Stadtbild als Ganzes nur langsam wandelte. Siegfried Gideon nennt die Renaissance eine „vorbereitende
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Periode“ (Giedion 1964/1976: 63). Lewis Mumford stellt fest, dass es keine „Renaissancestadt“ im eigentlichen Sinne gibt; sieht jedoch durch die neue Ordnung der Renaissance hervorgebrachte „Öffnungen und Klärungen, welche die Struktur der mittelalterlichen Stadt wunderbar umgestalteten“ (Mumford 1961/1963: 406). Die engen, gekrümmten Straßen der mittelalterlichen Städte wurden ab dem 15. Jahrhundert von Stadtplanern teilweise durch neue, gerade Straßen und offene, rechteckige Plätze ersetzt, angestrebt wurde jedoch kein radikaler Wandel des Stadtbilds, sondern nur behutsame Veränderungen im Einklang mit den bestehenden Strukturen. Auf der städtebaulichen Ebene wurde die gerade Straße (z.B. die Strada Nuova in Genua) zum Symbol der Umgestaltungen der Renaissance. Auch in der Architektur der einzelnen Gebäude fand eine Formalisierung und Geometrisierung der Gesamtform und der Einzelelemente statt, wobei auf die relativ normierte Formensprache der Antike zurückgegriffen wurde (Benevolo 1993/1999: 104ff, Mumford 1961/1963: 406). Leon Battista Albertis „De re aedificatoria“ (Zehn Bücher über die Baukunst) von 1452 (Alberti 1452/1991) wurde zum maßgeblichen und normativen Text für Architektur und Stadtgestaltung der Renaissance. Alberti gibt keine Anleitung zur Planung neuer (idealer) Städte, sondern er schlägt eine Brücke zwischen den Formen der bestehenden mittelalterlichen Stadtanlagen und den Wirkungen der neuen Baukultur. Die Bebauung der Stadt soll an Topographie und Klima angepasst sein, ihre Räume sollen teils durch regelmäßige, teils durch unregelmäßige Formen charakterisiert sein (Benevolo 1993/1999: 109ff). Alberti unterscheidet zwischen Militärstraßen, die ausreichend breit sein müssen, um den Durchzug eines Heeres zu erlauben, sowie den nichtmilitärischen Straßen, z.B. den Seitengassen einer Stadt und den Hauptstraßen, die eher Plätzen gleichen und einem bestimmten öffentlichen Zwecke wie Wagenrennen dienen. Während die Militärstraße außerhalb der Stadt von geradem Verlauf sein soll, ist sie in der Stadt unregelmäßig und leicht gekrümmt anzulegen. Dadurch würden beim Spazierengehen ständig neue Gebäudeansichten möglich, auch sollte diese Straße über genügend Breite verfügen, damit jedes Haus genügend Tageslicht erhält und die Luft zirkulieren kann. Von den nichtmilitärischen Straßen könnten auch einige sehr labyrinthisch verlaufen und einige Sackgassen sein, kleinere Straßen könnten außerdem den Zugang zu einzelnen Häusern erleichtern (Alberti 1452/1991: 199ff). Wegweisend für die weitere städtebauliche Entwicklung waren die Pläne für Idealstädte, wie sie beispielsweise von Albrecht Dürer und Vincenzo Scamozzo vorgelegt wurden und welche eine strenge geometrische Ordnung in Verbindung zu einer neuen sozialen Ordnung der Stadt setzten. Ebenso wie die künstlerischen Darstellungen, die das in der Renaissance wiederentdeckte perspektivische Verfahren
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für eine Überhöhung der Raumwirkung nutzten,19 entfalteten diese Planungen ihre modellhafte Wirkung überwiegend erst im Barock. Bereits im Rom des 15. und 16. Jahrhunderts wurden allerdings auf Anordnung der Päpste neue, monumentale Hauptstraßen in das mittelalterliche Gassennetz geschlagen. Diese dienten als Verbindung zwischen den sieben Hauptkirchen und sakralen Stätten und sollten die wachsenden Pilgerströme aufnehmen. Die weiten Sichtverbindungen wurden an Schnittpunkten durch Obelisken und Säulen gegliedert und perspektivisch betont, sie können als Vorwegnahme der barocken Sichtachsen betrachtet werden (Benevolo 1993/1999: 104ff, 150ff, Girouard 1985/1987: 119, Lässig/Linke/Rietdorf 1971: 10ff, Lichtenberger 2002: 30ff, Müller/Korda 1999: 26f). Das Mittel der perspektivischen Darstellung wurde eingesetzt, um zu einem besseren Verständnis von räumlichen Verhältnissen zu gelangen. Aus dieser deskriptiven Funktion der Perspektive entwickelte sich auch eine präskriptive: die künstlerische Darstellung von Idealstädten, in denen der Blick entlang gerader Straßen in eine scheinbar grenzenlose Ferne geleitet wird, wurde zum Modell der Planung städtischer Räume in der Spätrenaissance und im Barock.
1.5 S TADTSTRASSEN
IM
B AROCK (17.-18. J AHRHUNDERT )
Im Barock bildete sich der ästhetische Blick auf die Stadt weiter aus. Die Verschiebung der politischen Machtverhältnisse von den Städten, die ihre Unabhängigkeit verloren, hin zur zentralstaatlichen Herrschaft in der Hauptstadt ermöglichte jetzt auch Eingriffe der absolutistischen Zentralmacht in die städtische Ordnung. Die eher zufällige Anlage der mittelalterlichen Stadt wurde abgelöst von der rigiden Ordnung der barocken Planung. Die Maximen konnten vor allem in den Neuplanungen der Residenzstädte verwirklicht werden, Beispiele sind Versailles, Karlsruhe oder Potsdam. Der barocke Plan war durch die Verwendung gerader Linien und regelmäßiger Blöcke gekennzeichnet, teilweise wurden auch diagonale, radiale Straßen eingefügt. Die diagonalen Achsen liefen meist sternförmig auf einen zentralen Platz, ein Tor oder das Schloss, den Herrschersitz zu. Während die mittelalterlichen Stadtanlagen sich den Anforderungen des jeweiligen Stadtlebens flexibel
19 Ein Beispiel ist die „Prospettiva di Città ideale“, der Werkstatt von Piero della Francesca zugeschrieben, vom Ende des 15. Jahrhunderts (u.a. Gemäldegalerie Berlin). Françoise Choay beschreibt die Organisation der Renaissance-Stadt als „infiziert von der des Raumes der Malerei“, sie ist eine „Antwort auf eine Analyse des Sehens“. Durch ihre Selbst-Ästhetisierung erhält die Stadt eine spielerische Dimension, sie erlebt sich selbst aus einer Distanz heraus (Choay 1972/1976: 51).
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angepasst hatten, mussten sich im Barock die städtischen Funktionen der äußeren Form unterordnen. Allerdings spielte auch der zunehmende Fahrverkehr mit Wagen eine entscheidende Rolle beim Bau neuer, breiter Avenuen, der prototypischen Straßenform des Barocks. Der Veränderung der Wahrnehmung durch die beschleunigte Fortbewegung in den Kutschen trug auch die einheitliche Fassadengestaltung der Randbebauung Rechnung, zudem wurde durch die Betonung der Horizontalen in den Fassaden die Zugrichtung auf einen Fluchtpunkt noch verstärkt. Das Verhältnis von Höhe der Randbebauung (üblicherweise zwei- bis dreigeschossig) zur Breite der Straße lag in den Straßen der Renaissance und des Barock bei 1:1 bis 1:2 (Curdes 1993: 124). Die Avenuen wurden auch als Paradestrecken für militärische Aufmärsche und andere Formen der barocken Repräsentation geplant. Für Lewis Mumford spiegelt sich in der Form der barocken Ordnung das höfische Zeremoniell, weiterhin steht der barocke Plan symbolisch für die militärische Eroberung des Raumes. Die soziale Stellung der Straßennutzer ließ sich nun an der Art ihrer Fortbewegung erkennen: während die ärmeren Bevölkerungsschichten zu Fuß gingen, fuhren die wohlhabenden im Wagen an ihnen vorbei (Mumford 1961/1963: 424-456). Zwar machten die langen, breiten Straßen ein entferntes Ziel im Wagen schneller erreichbar, für Fußgänger wurden sie jedoch zur nur unter Gefahren überquerbaren Grenze. Lange vor Einführung des Kraftverkehrs bildete sich hier bereits eine gewisse Entmischung der Funktionen der Straße heraus, die dann im 19. Jahrhundert mit der flächendeckenden Einführung von Bürgersteigen in den Großstädten festgeschrieben wurde.20 Insgesamt kann für die Straßen des Barock eine Verschiebung der Bedeutung weg von einem gebrauchsfunktionalen Inhalt, wie er im Mittelalter vorherrschte, hin zu einer ästhetischen und die Macht symbolisierenden Funktion konstatiert werden. Straßensystem und -formen entstanden nicht mehr evolutionär wie im Mittelalter, sondern der barocken Stadtanlage lagen präzise intentionale Pläne zugrunde, sie basierte auf einem „künstlichen“ kulturellen Kode.
20 Beispielsweise wurde eine Trennung von Fußweg und Fahrweg bereits im 16. Jahrhundert durch Palladio empfohlen (Palladio 1570/1993: 212). Die Konkurrenz zwischen Fußgänger und Straßenverkehr im 19. Jahrhundert beschreibt Walter Benjamin: „Der Bürgersteig, der dem Fußgänger vorbehalten ist, läuft am Fahrdamm entlang. So hat der Stadtbewohner unterwegs bei seinen alltäglichsten Geschäften, [...] ununterbrochen das Bild des Konkurrenten vor Augen, der im Wagen ihn überholt. – Die Bürgersteige wurden gewiss im Interesse derer angelegt, die zu Wagen oder zu Pferde waren.“ (Benjamin 1991: 555)
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1.6 S TADTSTRASSEN
IM
19. J AHRHUNDERT
Die Geschichte Europas im 19. Jahrhundert ist geprägt durch die tiefgreifenden Veränderungen im Gefolge der industriellen Revolution. Die Mechanisierung der Produktionsmethoden ermöglichte eine steigende industrielle Produktion. Neue Straßen und Kanäle wurden gebaut, ab 1830 entstanden die ersten Eisenbahnlinien. Mit einem allgemein starken Bevölkerungsanstieg ging auch ein rasches Wachstum der Städte einher, so hatte London hatte um 1851 bereits 2,5 Millionen Einwohner. Während in den früheren Jahrhunderten der absolute Fürst oberster Bauherr war, wurden seit Ende des 18. Jahrhunderts die Eingriffsmöglichkeiten der öffentlichen Verwaltung in Bauprojekte immer geringer. Privateigentum und Privatinitiative wurden gestärkt. Die private Bautätigkeit und Bodenspekulation entfalteten bald eine „fast unkontrollierbare Dynamik“ (Benevolo 1993/1999: 191) und führten beispielsweise auch zur Entstehung der Stadtrandslums in den englischen Industriegroßstädten, in denen Menschen in katastrophaler Raumenge unter vollkommen unzureichenden hygienischen Bedingungen lebten (Benevolo 1993/1999: 184ff). Der spekulative Bodenplan betrachtete die einzelnen Grundstücke, Blöcke und Straßen nur unter dem Aspekt ihres Marktwertes und als rein abstrakte Einheiten. Der Wert eines Grundstückes berechnete sich nach der Länge der Straßenfront, Produkt dieser spekulativen Raumplanung sind z.B. die Berliner Mietskasernen mit ihren häufig drei oder vier Hinterhöfen.21 Die Erweiterungen der alten Stadtkerne wurden meist auf der Basis eines Rasterplans vollzogen, Beispiele sind u.a. der Berliner Hobrecht-Plan von 1862, in dem allerdings das strenge Raster durch die Anlage von Ring- und Diagonalstraßen aufgelockert wurde sowie der Erweiterungsplan von Barcelona von Cerda. Als weitreichendstes europäisches Projekt zur Modernisierung der städtischen Infrastruktur gilt die Umgestaltung von Paris durch George Eugène Haussmann um 1860. Unter anderem entstanden dabei neue innerstädtische Boulevards durch Brechung weiter Schneisen in den alten Stadtkörper. Durch breite Straßen sollte auch die Möglichkeit zum Barrikadenbau reduziert werden, von den Umbauten besonders betroffen waren daher die Viertel, die 1848 Zentren des Aufstandes waren. Die ‚Grands Boulevards‘ wurden Vorbild für andere europäische Prachtstraßen und ließen den Boulevard zur prototypischen Straßenform des ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts werden. Der Boulevard, der in seiner Raumform auf die barocken Avenuen zurückgeht, kann als Mischform der Raumtypen Straße und Platz betrachtet werden: die lineare Form ist typisch für die Straße, während die relativ geschlossene Bebauung, die Grünanlagen
21 Als größte Mietkaserne galt „Meyers Hof“ in der Berliner Ackerstraße mit 6 Hinterhöfen (http://www.luise-berlin.de/lexikon/mitte/m/meyers_hof.htm [03.12.2011]).
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und die Funktion als Ort der sozialen Begegnung auf Merkmale des Raumtyps Platz verweist (Mumford 1961/1963: 490ff, Benevolo 1993/1999: 196ff, Giedion 1964/ 1976: 444ff). Während in den Bebauungsplänen des 19. Jahrhunderts in vielen Städten für die Straßen ein generelles Höhen-Breiten-Verhältnis von 1:1 festgelegt wurde, erreichten die neuen Prachtstraßen ein Vielfaches dieser Breite: so ist die Wien die Ringstraße 57 Meter breit, die Champs-Elysées sogar 80 Meter (Curdes 1993: 124). Insgesamt ist der Begriff der europäischen Stadtstraße im 19. Jahrhundert in drei sehr unterschiedlichen Ausprägungen im kulturellen Gedächtnis verankert:22 zum einen als Slumstraße, wie sie z.B. von Engels23 und Dickens für die englischen Industriestädte und von Heinrich Zille für Berlin dargestellt wurde, ferner als Ort des politischen Aufstandes, wie in den Pariser Revolten von 1848 und 1871 (literarisch dokumentiert z.B. in Flauberts „Education sentimentale“). Bis heute wirkungsmächtig ist jedoch vor allem das Bild der Großstadtstraße als Konsumort und gesellschaftliche Bühne, wie es u.a. von Walter Benjamin im Passagenwerk (Benjamin 1991) beschrieben wurde. Dieser erst Ende des 19. Jahrhunderts mit den großen Stadtumgestaltungen entstandene Straßentyp prägt weiterhin das Stadtbild in vielen europäischen Großstädten, in seiner idealen Form vereinigt er die Nutzungsvielfalt und Öffentlichkeit der mittelalterlichen Straßen mit der Repräsentativität und Ästhetisierung der barocken Stadtanlagen. Seine bis in die Gegenwart wirkende und selbst in neueren Planungen noch maßstabsetzende Prototypizität mag unter anderem durch ihre von Anbeginn an breite Medialisierung zu erklären sein: als sprachlich beschriebener und ästhetisch dargestellter Großstadtraum in der frühen Literatur und Kunst der Moderne.
1.7 G ROSSSTADTSTRASSEN
IM
20. J AHRHUNDERT
Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert und in den folgenden zwei Jahrzehnten bricht das Formenrepertoire der Kunst radikal mit traditionellen Kunstvorstellungen, ähnliches vollzieht sich im Bereich der Architektur und im Städtebau. Das Streben nach neuen, andersartigen architektonischen Formen war dabei mit der Suche nach neuen, dem Menschen gemäßen Lebensformen verbunden und wies häufig utopische Züge auf. Gleichzeitig kam es nach dem Ersten Weltkrieg wieder zu verstärktem Engagement der öffentlichen Hand im Städtebau, z.B. bei den Genossenschaftswohnungsprojekten im Berlin der 20er Jahre. Hier nahm die öffent-
liche Stadtplanung die neuen Impulse auf, Architekten wie Bruno Taut konnten groß angelegte Siedlungen entwerfen. Für die Bewegung des ‚Neuen Bauens‘ steht in Deutschland besonders das von Walter Gropius gegründete Bauhaus (Benevolo 1993/1999: 224ff). Dabei rückte jedoch die Beschäftigung mit der Straße als traditionellem Raum des städtischen sozialen Lebens in den Hintergrund. Einerseits wurde sie, z.B. in der Gartenstadtbewegung, als überkommene, nicht mehr zeitgemäße Raumform kritisiert, andererseits utopisch überhöht wie bei Soria y Mata, der bereits 1882 die Vision einer Straßenstadt entwarf, die Cadiz und Sankt Petersburg, Brüssel und Peking verbinden und alle Funktionen der Stadt bandförmig an der Straße bündeln sollte (Rykwert 1978: 15). Le Corbusiers Polemiken gegen die „rue corridor“, 1925 und 1929 veröffentlicht (Le Corbusier 1925: 160, Le Corbusier 1929/1967: 113ff, Le Corbusier 1929/ 1964: 159ff) zeigten paradigmatisch die radikale Abkehr der Moderne von den geschlossenen Räumen der traditionellen europäischen Stadt. Le Corbusier beschreibt die Stadtstraße mit geschlossener Bebauung als Rinne und engen Spalt, ewig im Halbdunkel, die die anliegenden Häuser verpestet, dem Passanten den Atem nimmt und ihn der ständigen Gefahr durch den Verkehr aussetzt. Als Gegenbild entwirft er die Vision einer „‚rue‘ contemporaine“24 (Le Corbusier 1929/1967: 113), in der der Fußgänger sich fern der großen Autostraßen auf riesigen grünen Flächen unter Bäumen bewegt, während in der Ferne die Kristallkörper der neuen Hochhäuser, die Tausende von Bewohnern aufnehmen können, glänzen. Im „Plan Voisin“ von 1925 für Paris (Le Corbusier 1925/1967: 110f) schlägt Le Corbusier vor, die alte Bebauung nördlich der Ile de Cité am rechten Seine-Ufer auf etwas zwei Quadratmeilen abzureißen und durch 18 Wolkenkratzer inmitten einer Parklandschaft, die von einer Autobahn durchzogen ist, zu ersetzen. An den Ideen Le Corbusiers orientierte sich auch Ludwig Hilberseimer, der 1928 einen ähnlich radikalen Plan für eine Neubebauung der Berliner Friedrichstraße vorlegte (Eaton 2001/2003: 175f). Le Corbusier war auch einer der Initiatoren der CIAM (Congrès Internationaux d’Architecture Moderne), die von 1928 bis 1959 zehn Kongresse durchführte. Aus dem vierten Kongress 1934 ging die Charta von Athen hervor, die maßgeblich von Le Corbusier gestaltet wurde. Als städtische Hauptfunktionen werden Arbeiten, Wohnen, Verkehr und Freizeit benannt. Daraus leitet die Charta die Forderung nach einer Zonierung der Stadt entsprechend dieser Funktionen ab. Für den Ausbau der Städte wurde eine punktförmige, weiträumige Hochhausbebauung vorgesehen. Die Thesen der Charta von Athen waren richtungweisend für die Städteplanung in der 24 Dies kann bei Le Corbusier nur noch eine Straße in Anführungsstrichen sein, da sie keine der Eigenschaften der traditionellen alten Straße teilt.
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Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg bis in die 70er Jahre. Besonders die durch Kriegszerstörungen freigewordenen Flächen boten die Möglichkeit, ohne Rücksicht auf schon vorhandene Bebauung die neuen Maximen zu verwirklichen. Als Berliner Beispiele sind u.a. das zur Bauausstellung 1957 entstandene Hansaviertel, das Kulturforum an der Potsdamer Straße (s.u. Kap. 1.8) sowie die später entstandenen Satellitenstädte wie die Gropiusstadt zu nennen. Die bauliche Struktur der ‚Neuen Stadt‘ unterscheidet sich fundamental von der der Stadt vor dem Ersten Weltkrieg. Die Blockrandbebauung der Straße wird aufgelöst, die einzelnen, um die Fahrbahn in größerer Entfernung verteilten Gebäude können kein Raumgefühl mehr herstellen. Vergleicht man die Schwarzpläne der neuen Siedlungen mit denen der traditionellen Stadt kann man von einer Negativpositiv-Umkehrung sprechen. Während in der Stadt des 19. Jahrhunderts noch die Gebäude den Grund darstellten und die Straßen und Plätze die (positiven) Figuren bildeten, die aus der Masse des Grundes herausgeschnitten waren, ergibt sich jetzt das konträre Bild: die einzelnen verstreuten Gebäude sind die positiven Figuren auf dem Grund des unbegrenzten Raumes (Rowe/Koetter 1978/1997: 88ff, Ellis 1978: 115).25 Damit verwirklicht sich Le Corbusiers Schlachtruf: „Il faut tuer la ruecorridor“ (Le Corbusier 1929/1964 : 161). Mit dem traditionellen Stadtelement der Korridorstraße verschwindet auch zumindest ein Teil der Polyfunktionalität der Stadtstraße: da die Straße keine durch Bebauung definierten Ränder mehr hat, die in direktem Kontakt mit dem Straßenraum Platz für kleinere Läden, Cafés etc. bieten, ist sie nur Verbindung zwischen zwei Orten für den Autoverkehr. Straßen‚wand‘ und Hauswand sind nicht mehr identisch. Supermärkte, Schnellgaststätten etc. können in ihren Funktionen kaum mehr der Straße zugeordnet werden, sondern nur den durch Parkplätze von der Straße getrennten Gebäuden.26 Ausgehend von dem Leitbild der ‚verkehrsgerechten Stadt‘ wurde eine Trennung der Verkehrswege nach den unterschiedlichen (und unterschiedlich schnellen) Verkehrsarten angestrebt. So entstanden in Deutschland seit den 60er Jahren einer25 Eine Veränderung der grundlegenden baulichen Strukturen der Stadt hat Camillo Sitte bereits 1901 in „Der Städtebau nach seinen künstlerischen Grundsätzen“ konstatiert und kritisiert: „Beim modernen Städtebau kehrt sich das Verhältnis zwischen verbauter und leerer Grundfläche gerade um. Früher war der leere Raum (Straßen und Plätze) ein geschlossenes Ganze von auf Wirkung berechneter Form; heute werden die Bauparzellen als regelmäßig geschlossene Figuren ausgeteilt, was dazwischen übrigbleibt, ist Straße oder Platz.“ (Sitte 1901/1983: 97) 26 Marshall spricht von einer „dissembly of the street“. Die traditionelle Stadtstraße hatte drei Rollen in sich vereinigt: die Straße als Verkehrsweg, als öffentlicher Raum und als durch Hausfassaden definierter und gestalteter Raum. Diese Verbindung wurde im Städtebau der Moderne aufgelöst, die Straße hörte auf zu existieren (Marshall 2005: 6f).
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seits die dem motorisierten Verkehr vorbehaltenen Stadtautobahnen und Schnellstraßen, andererseits wurden schon in den 50er Jahren – vor allem im Zuge des Wiederaufbaus zerstörter Stadtkerne – Fußgängerzonen geschaffen, in denen die Menschen ungestört vom Autoverkehr einkaufen und flanieren konnten. Die Straße differenzierte sich weiter aus, wo man früher zwischen Nebenstraßen und Hauptstraßen unterscheiden konnte, traten weitere Formen hinzu. Kritik an der funktionalistischen Orientierung der Stadtplanung, welche auf deren Folgen wie urbane Monotonie und Zerstörung gewachsener Stadtstrukturen hinwies, regte sich allerdings schon seit den frühen 60er Jahren. Für den deutschen Diskurs stehen Jobst Wolf Siedler („Die gemordete Stadt“, 1964) und Alexander Mitscherlich („Die Unwirtlichkeit der Städte“, 1965). Mit der Straße als paradigmatischem Stadtraum hat sich die amerikanische Publizistin Jane Jacobs beschäftigt. In dem 1961 erschienenen „Tod und Leben großer amerikanischer Städte“ (Jacobs 1961/1976) plädiert sie für eine lebendige Stadtstraße, die auf mannigfaltige Weise von ihren Bewohnern genutzt werden kann. Jane Jacobs Ratschläge für die Gestaltung interessanter, multifunktionaler Straßen (kleinteilige, vielfältige Nutzungen, Schaffung optischer Grenzen, Setzung guter optischer Akzente) (Jacobs 1961/1976: 192ff) werden noch heute breit rezipiert und finden z.B. Anwendung in den Stadtentwürfen des ‚New Urbanism‘.27 Vorgeworfen wird Jacobs, dass sie, nicht anders als die von ihr kritisierten Stadtplaner der Moderne, den Fehler des Gestaltdeterminismus begehe und soziale, kulturelle und ökonomische Faktoren, die ebenso wie die physische Form zu Lebendigkeit oder Monotonie einer Straße beitragen können, ignoriere (Moughtin 1992: 130f). Eine Rehabilitierung der Straße forderten auch die britischen Architekten Peter und Alison Smithson und die Gruppe Team 10. Der soziale Zusammenhalt, wie er in der traditionellen englischen Byelaw Street zu finden ist, müsste ein Ziel zukünftiger Planung von Wohngebieten sein. Allerdings hoben die Smithsons die Straße in die dritte Dimension: als direkt den Wohnungen eines mehrstöckigen Hauses vorgelagerte ‚Street in the air‘ (Smithson/Smithson 1967: 22 und Smithson/Smithson 1968: 77) sollte sie ähnlich identitätsstiftend wie die herkömmlichen Nachbarschaftsstraßen sein. Die ‚Street decks‘ konnten sich jedoch in England nicht durchsetzen, einige der Gebäude wurden schon in 90er Jahren wieder abgerissen (Moughtin 1992: 129f, Smithson/Smithson 1967: 15ff).
27 So berufen sich profilierte Vertreter des New Urbanism wie Duany, Plater-Zyberk und Speck auf sie (vgl. Duany/Plater-Zyberk/Speck 2001). Zum New Urbanism s.u. Auch das Gestaltungsgutachten zur Potsdamer Straße (Planungsbüro TOPOS 2003) greift einige Aspekte von Jacobs‘ Gestaltungsvorschlägen auf.
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Diese kritischen Stimmen fanden zunächst kein größeres Echo. Eine grundlegende Abkehr von den Prinzipien der Charta von Athen erfolgte im europäischen Städtebau erst ab der Mitte der 70er Jahre, u.a. ausgelöst durch die Ölkrise und die damit verbundene Einsicht in die Problematik des ‚urban sprawl‘. Die Stadtzentren mit ihrer dichten, historischen Bausubstanz rückten wieder in den Fokus des Interesses der Stadtplaner.28 Die ‚Kahlschlagsanierung‘ der 60er und frühen 70er Jahre wurde durch groß angelegte Projekte zur Altbausanierung abgelöst, Wohnstraßen verkehrsberuhigt und Hinterhöfe entkernt. Exemplarische Berliner Beispiele dieser ersten Sanierungswelle sind das Gebiet um den Chamissoplatz in Kreuzberg und die Schöneberger Crellestraße im damaligen Westteil der Stadt sowie das Gebiet um den Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg in Ost-Berlin. Einzelne europäische Altstädte wurden nach 1975 vollständig unter Denkmalschutz gestellt, so u.a. die Zentren von Rothenburg ob der Tauber in Deutschland und von Venedig, Siena und Bologna in Italien. Allerdings führte die Aufwertung der historischen Innenstädte dort, wo sie nicht durch staatliche Maßnahmen wie Mieterschutzgesetze, Mietobergrenzen etc. abgefedert wurde, häufig zu einer Verdrängung der alteingesessenen Bevölkerungsschichten, die sich gestiegene Mieten nicht mehr leisten konnten. Eine ‚Gentrifizierung‘ bestimmter zentraler Stadtviertel setzte ein, während andere ebenfalls zentrale, aber durch bauliche oder infrastrukturelle Gegebenheiten benachteiligte Gebiete nicht von der Aufwertung profitieren konnten und hier eher eine Abwärtsspirale ihren Anfang nahm. Berliner Beispiele für Gentrifizierung sind die Altbaugebiete von Mitte, große Teile von Prenzlauer Berg und Teile von Kreuzberg, während sich z.B. in Moabit und in Teilen Neuköllns die soziale Lage der Bevölkerung seit den 80er Jahren negativ entwickelt hat.29 Eine extreme Stadtflucht mit nachfolgendem dramatischem Verfall der Innenstädte wie in manchen amerikanischen Großstädten, z.B. Detroit lässt sich für europäische Städte nicht konstatieren, aber auch in Europa stehen zu Beginn des 21.
28 Exemplarisch für die veränderte Auseinandersetzung mit traditionellen Stadträumen ist z.B. Manfred Sacks Schrift: „Lebensraum Straße“, die 1982 vom Deutschen Nationalkomitee für Denkmalschutz herausgegeben wurde (Sack 1982). 29 Allerdings darf gerade für Berlin die häufig sehr kleinteilige soziale, kulturelle und ökonomische Gliederung nicht übersehen werden, die sich durch einen kompletten Wechsel des Straßenbildes von einer zur nächsten Parallelstraße oder einer kleineren Straße zur Hauptstraße auszeichnet (Beispiel Potsdamer Straße / Winterfeldtplatz). Der Begriff der sozialen Segregation sollte hier folglich nur vorsichtig benutzt werden.
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Jahrhunderts boomende Innenstädte (z.B. in London) schrumpfenden Stadtzentren wie in manchen ostdeutschen Städten (Leipzig) gegenüber.30 Die postmoderne Architektur31 der 80er Jahre besinnt sich teilweise ebenfalls wieder auf die traditionellen Blockstrukturen, exemplarisch können einige Projekte der IBA 1985 in Berlin genannt werden, die Altbausanierung mit ergänzenden Neubauten verknüpfte.32 Kleinteilige, multifunktionale Straßen werden auch in den Projekten des ‚New Urbanism‘ (z.B. der vom Disney-Konzern in Florida verwirklichten Privatstadt Celebration) angestrebt. Vorbild ist die traditionelle amerikanische Main Street, allerdings ist die ‚Vielfalt‘ hier bis ins kleinste Detail geplant und inszeniert, um den erwünschten Gesamteindruck einer perfekten, ordentlichen und sozial homogenen Stadt zu herzustellen. Nachdem die Straße als Handelsort und öffentlicher Raum seit den 60er Jahren besonders in den USA und in der Folge auch in europäischen Städten vielfach in die (nur noch eingeschränkt öffentlichen) Innenräume der Shopping Malls verlagert wurde, zeichnete sich seit den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Trendwende ab. So entwarf Jon Jerde weltweit als ‚Event Cities‘ geplante Outdoor Malls, darunter 1993 den 500m langen, nicht überdachten Universal City Walk in Hollywood als Boulevard zum Flanieren zwischen Geschäften, Restaurants, Bars, Hotels und Büros (Lichtenberger 2002: 111f). „Shopping is returning to city centers that are, in turn, becoming ‚mallified‘“ wird im „Harvard Design School Guide to shop30 Zum Thema ‚Schrumpfende Städte‘ siehe u.a. http://www.shrinkingcities.com [28.12. 2011] und Oswalt 2004-2005. Inwieweit die wirtschaftlichen Krisen seit 2008 auch in den bis dahin prosperierenden Metropolenzentren Europas zu einem längeren Wachstumsstillstand oder sogar zu einem anhaltendem Abschwung führen, bleibt abzuwarten. 31 Die postmoderne Architektur soll hier nicht im Detail behandelt werden. Laut Dreyer (2003: 3261) zeichnet sich die postmoderne Architektur durch eine ‚Re-Semiotisierung‘ aus, die u.a. durch die Wiedereinführung historischer und typologischer Formen (oft als ironisches Zitat) und bewusst inszenierte Arrangements erreicht wird. Einer der Leittexte der Postmoderne, Venturis „Learning from Las Vegas“ propagiert eine Rückbesinnung auf das Ornament im Bauen, auf den „dekorierten Schuppen“, um der Architektur neue symbolische Kraft zu geben (Venturi/Scott/Brown 1978/1997). 32 Neben diesen städtebaulichen Projekten hat die Postmoderne allerdings auch eine große Zahl spektakulärer Einzelbauwerke hervorgebracht, die auf ihre Umgebung ausstrahlen und so die Attraktivität der Stadtzentren steigern sollten, darunter viele Museumsneubauten wie die von James Stirling in Stuttgart und Richard Meier in Frankfurt (Köhler 1996: 241f). Als Fortsetzung der Entwicklung hin zu einer verstärkten ‚Inszenierung‘ von Stadträumen kann z.B. der Bau des Guggenheim-Museums in Bilbao von Frank Gehry betrachtet werden, auch wenn dieses nicht mehr der Postmoderne im engeren Sinne zuzurechnen ist.
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ping“ festgestellt (Herman 2001: 470).33 Auch die 42nd Street in New York, von ihrem einstigen Ruhm als Theatermeile seit den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zum Rotlichtviertel abgesunken, wurde von einer Entwicklungsgesellschaft ab den 90er Jahren unter maßgeblicher Beteiligung der Disney Corporation in einen sicheren, sauberen, familienfreundlichen ‚Entertainment District‘ verwandelt, in dem jetzt nach dem Musical-Besuch im disneyeigenen, restaurierten New Amsterdam Theater gleich nebenan die entsprechende Disney Merchandise erstanden werden kann (Mcmorrough 2001).34 „Die Straße ist tot – eine Entdeckung, die zeitlich zusammenfällt mit den hektischen Versuchen ihrer Wiederbelebung“ proklamierte Rem Koolhaas 1996 (Koolhaas 1996: 23). Koolhaas’ Vollzugsmeldung von Le Corbusiers Forderung (s.o.) trifft in ihrer Pauschalität allerdings kaum die heutige Wirklichkeit der europäischen Großstädte. Vielmehr kann man von einer weiteren Ausdifferenzierung der Aufgaben (die auch mit einer sozialen Ausdifferenzierung einhergehen kann) sprechen, welche die ‚alten‘ großen Geschäftsstraßen mit kleineren Geschäftsstraßen sowie mit Shopping Malls koexistieren, aber auch konkurrieren lässt. Und selbst wenn die Wiederbelebungsversuche der (ehemals) ‚großen Straßen‘ oft artifiziell wirken und nur begrenzt erfolgreich sind, so zeigen sie doch ein wieder erstarkendes Interesse auch an den ‚Großstadtstraßen‘ im engeren Sinne. In London widmet sich das Projekt „High Street London“35 den traditionellen Londoner Geschäftsstraßen. Einer Neubelebung der Berliner Radialstraßen als Thema für eine mögliche Internationale Bauausstellung 2020 verschreibt sich das Projekt ‚Radikal Radial!‘. Ziel ist es, die Potentiale der radialen Ausfallstraßen, zu denen auch die Potsdamer Straße als Abschnitt der Bundestraße 1 zählt, zu erforschen und zu entwickeln. Die Radialen sollen nicht mehr allein als autogerechte Transiträume erfahrbar sein, sondern wieder zu „einzigartigen“, ökonomisch starken, lebendigen und „nachhaltigen“ „Kraftlinien der Großstadt“ werden (Planungsbüro Gruppe DASS, Machleidt + Partner, Think Berlin 2010: 4ff). 33 Seit 2006 sollen in den USA keine überdachten Shopping Malls mehr gebaut worden sein. Vgl. http://einestages.spiegel.de/static/topicalbumbackground/4995/verrottet_wegen _geschaeftsaufgabe.html , 24.9.2009 [28.12.2011]. 34 Im Gegensatz zum City Walk wurde die 42nd Street jedoch nicht in eine Fußgängerzone umgewandelt, vielmehr war es Anliegen der Entwickler, das Image einer „very real street“ (die Entwicklerin Cora Cahan 1997, zitiert nach Mcmorrough 2001: 578) zu transportieren. Mcmorrough (2001: 582f) weist auch darauf hin, dass sich die Geschichte der 42nd Street schon vor dem Engagement Disneys durch das Streben nach Wiederherstellung einer goldenen Vergangenheit auszeichnete, die immer mehr Mythos als Realität gewesen war. 35 http://www.designforlondon.gov.uk/what-we-do/#/high-street-london [19.01.2011].
- enge, gekrümmte Straßen - geschlossene Bebauung
unregelmäßig, der Topographie angepasst Handel, soziale Kommunikation, Verkehr
Gerade, auch breite Straßen
Rasterplan,Straßenkreuz mit Nordsüdausrichtung Verkehr, Paraden und Umzüge
aus dem Wagen heraus intentionale Planung, künstlicher Kode
Alberti, Palladio, Six- Haussmann, Hobrecht tus
Axial, Rasterplan
- gerade Straßen - geschlossene Bebauung - wichtige Gebäude als Solitäre Straßenoberfläche: Pflasterung Rasterplan, Radiale, Ringstraße
19. Jahrhundert
- gerade Straßen - geschlossene Bebauung, aber auch Solitäre Straßenoberfläche: Pflasterung
Renaissance / Barock
Tabelle 1: Diachronie der europäisch-nordamerikanischen Straßenformen und -funktionen
Howard (Gartenstadt), Le Corbusier
intentionale Planung öffentlicher Planungsbehörden von den 20er Jahren bis in die 80er Jahre; später zunehmend private Finanzierung mit gewissen Planungsvorgaben, künstliche Kodes
Differenzierung in Straßen für den motorisierten und den Fußgängerverkehr, Funktionalismus, Individualverkehr
- offene Bebauung - Gebäude als Figur - Regelmäßige gerade und gekrümmte Formen - Straßenbelag: Asphalt Ab den 1980er Jahre: wieder Schließung der Bebauung, Blockbebauung Differenzierung nach Verkehrsbedeutung (von Wohnstraße bis Stadtautobahn)
Straße der Moderne (ab 20er Jahre des 20. Jh.)
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1.8 D IE P OTSDAMER S TRASSE : HISTORISCHE E NTWICKLUNG UND HEUTIGE S ITUATION Die historische Entwicklung der Potsdamer Straße als Teil der früheren Potsdamer Chaussee folgt einem ähnlichen Grundmuster wie die anderer Berliner Geschäftsstraßen und Hauptverkehrsachsen. Beispielhaft seien die Schönhauser Allee, die Prenzlauer Allee und der Straßenzug Mehringdamm – Tempelhofer Damm genannt, die ebenso wie die Potsdamer Chaussee als radiale Ausfallstraßen den historischen Berliner Stadtkern teilweise schon seit dem Mittelalter mit dem Berliner Umland verbanden. Im 19. Jahrhundert entwickelten sich diese Ausfallstraßen zu Hauptgeschäftsstraßen, entlang ihrem Verlauf etablierten sich häufig die Bezirkszentren.36 Heute bildet die Potsdamer Straße in Berlin einen Teilabschnitt des Straßenzugs der Bundesstraße 1.37 Innerhalb Berlins ist die B 1 43 km lang, sie ändert 19-mal ihren Namen und verläuft durch 6 Stadtbezirke von Steglitz-Zehlendorf im Südwesten bis Marzahn-Hellersdorf am östlichen Stadtrand. Die zentrale Lage der Potsdamer Straße mit direkter Anbindung an das historische und politische Zentrums Berlins weist ihr jedoch eine gewisse Sonderstellung unter den anderen großen radialen Geschäftsstraßen Berlins zu. In ihrer Geschichte seit dem 18. Jahrhundert und in ihrer Architektur, von den Königskolonnaden am Kleistpark bis zum Kollhoff-Hochhaus am neu bebauten Potsdamer Platz, können Berliner Geschichte und städtebauliche Genese in kleinem Maßstab nachvollzogen werden. Dass am Schicksal der Potsdamer Straße über die engere bezirkslokale Ebene hinaus bis heute berlinweit Anteil genommen wird, erklärt sich möglicherweise auch aus dieser spezifischen kulturellen und politischen Vergangenheit.38 Offenbar verweist der Name ‚Potsdamer Straße‘ trotz der momentanen, wenig glanzvollen Situation der Straße noch auf einen historischen Bedeutungsreichtum, der ihr Bild bis heute zumindest in einzelnen Aspekten prägt. In diesem Unterkapitel wird ein knapper Form ein chronologischer Überblick über die wechselvolle Geschichte der Straße vom 18. Jahrhundert bis heute gegeben, ergänzt durch zwei Exkurse zum kulturellen Leben im Umkreis der Potsdamer Straße im Kaiserreich und der Weimarer Republik sowie zu Städtebau und
36 Dieses Entwicklungsmuster der Ausfallstraßen ist auch in anderen europäischen Großstädten nachzuweisen, vgl. Lichtenberger 2002: 255, Lichtenberger 1963: 308. 37 Bis 1933 ‚Fernstraße 1‘ Aachen bis Königsberg, 1934 bis 1945 ‚Reichsstraße 1‘. 38 Vgl. z.B. die umfassende Berichterstattung in der Berliner Lokalpresse im Winter 2007/2008 zur beabsichtigten Einrichtung eines ‚Laufhauses‘ für Prostituierte an der Ecke Kurfürstenstraße.
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Architektur entlang des Straßenverlaufs.39 Die Bestandsaufnahme stützt sich auf eine Vielzahl von Quellen mit unterschiedlicher Schwerpunktsetzung sowie, was die aktuelle Situation betrifft, auf die eigene Anschauung.40 Eine semiotische Analyse von Straßenform und Bedeutungen der Potsdamer Straße soll in diesem Unterkapitel noch nicht geleistet werden. 1.8.1 Von der Landstraße zur Stadtstraße Ausgehend vom Octogon, dem späteren Leipziger Platz, verband die Potsdamer Chaussee seit dem 18. Jahrhundert Berlin mit Potsdam. Bereits früh war eine beträchtliche Zunahme des Verkehrs zwischen den beiden Residenzstädten zu verzeichnen, 1793 wurde die Straße zur ersten preußischen Chaussee ausgebaut. Das alte Potsdamer Tor, das am Potsdamer Platz die Berliner Stadtgrenze markierte, wurde 1824 durch die zwei von Karl Friedrich Schinkel gestalteten Torhäuser ersetzt. Seit 1831 trägt das Teilstück der ehemaligen Potsdamer Chaussee nördlich des heutigen Kleistparks den Namen Potsdamer Straße. Mit der Einweihung der ersten Eisenbahnstrecke Preußens von Berlin nach Potsdam 1838 parallel zur Potsdamer Chaussee nahm auch die Siedlungsaktivität entlang der Eisenbahnlinie bzw. der Potsdamer Chaussee zu. Der Frachtverkehr auf der Chaussee wurde in der Folge zunehmend von der Eisenbahn übernommen, die Nutzung der Potsdamer Straße und der weiteren Abschnitte der ehemaligen Potsdamer Chaussee als Nahverkehrsader verstärkte sich. Die Straße wurde darüber hinaus zur Ausflugsstrecke in die Berliner Vororte bis zum Wannsee; auch im nördlichen Teil bis zum Dorf Alt-Schöneberg, einem bei den Berlinern beliebten „Belustigungsort“ (Rumpf 1833 zit. nach Zwaka 1987: 22) säumten Gartenlokale die Straße. Ein weiterer Anziehungspunkt war der bereits im 16. Jahrhundert angelegte ehemalige kurfürstliche Garten, der im 18. Jahrhundert zum Botanischen Garten als wissenschaftlicher Forschungsstätte ausgebaut wurde und in dem Adalbert von Chamisso von 1819 bis kurz vor seinem Tode 1838 als Kustos wirkte. 1861 wurde die Stadtgrenze Berlins südwärts bis zur Grunewaldstraße verschoben, die Potsdamer Straße lag jetzt vollständig auf Berliner Gebiet. Der
39 Die Geschichte des Potsdamer Platzes wird dabei nur kursorisch gestreift. Das neue Potsdamer-Platz-Areal wird im Kap. 1.8.5, besonders in Hinsicht auf den Verlauf der Neuen und Alten Potsdamer Straße, kurz beschrieben. 40 Zur Erstellung dieses Kapitels wurden folgende Publikationen genutzt: Nägele/Markert 2006, Pitz/Hofmann/Tomisch 1984, Zimmer 1990, Zwaka 1987, Reichhardt/Schäche 2001, Jäkl 1987, Bauer 1996, Barthel 1987. Wörtliche Zitate und zusätzliche Quellen werden separat gekennzeichnet.
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Hobrecht-Plan der 1860er Jahre beschleunigte die Besiedlung zwischen dem damals noch selbstständigen Schöneberg und Berlin.41 Viele der in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts entlang der Potsdamer Straße entstandenen Villen, die wohlhabenden Berlinern als Wohnsitz oder als Sommerresidenzen dienten, wichen ab 1860 nach und nach der geschlossenen Mietskasernenbebauung des Wilhelminischen Rings. Noch erhalten sind drei Villen auf dem Hof des Tagesspiegelgeländes, darunter die Villa des wilhelminischen Historienmalers Anton von Werner (siehe Exkurs unten). Ausgenommen von der Verdichtung der Bebauung war das locker bebaute Tiergartenviertel zwischen Potsdamer Platz und Landwehrkanal, benannt nach dem im Norden angrenzenden Tiergarten, dem ehemaligen Jagdrevier und von Lenné um 1840 nach dem Vorbild der englischen Landschaftsgärten umgestalteten Volkspark. Exkurs: Kunst und Kultur im Kaiserreich und in der Weimarer Republik Die nicht weit vom alten Berliner Stadtzentrum entfernte und doch noch ländlich ruhige Gegend südlich des Potsdamer Tores wurde schon in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu einem bevorzugten Wohngebiet des gehobenen Berliner Bürgertums.42 So lebten Jacob und Wilhelm Grimm von 1847 bis zu ihrem Tode in einem Haus an der Linkstraße nahe dem Potsdamer Platz, Theodor Fontane hatte seine Wohnung seit 1872 am nördlichen Ende der Potsdamer Straße. Weitere Anwohner waren der Maler Adolf Menzel, der in seinen Bildern eine realistische und ungeschönte Darstellung der Industrialisierung und der großstädtischen Entwicklung Berlins lieferte sowie der Hofmaler und konservative Chronist der politischen Ereignisse des Kaiserreichs Anton von Werner. Die Potsdamer Straße war auch Ort zahlreicher, häufig von Frauen geführter literarischer Salons. In dem Salon von Ernst und Hedwig Dohm verkehrten in den 1870er Jahren Salon u.a. Ferdinand Lassalle, Franz Liszt, Theodor Fontane und Fanny Lewald. Hedwig Dohm, eine der frühen deutschen Frauenrechtlerinnen, setzte sich in ihren zahlreichen Publikationen für gleiche Bildungschancen für Mädchen, die freie Berufswahl von Frauen und das Frauenwahlrecht ein. Für die Frauenemanzipation stritt auch der 1904 in der Potsdamer Straße gegründete Lyceumklub. 41 Der „Bebauungsplan der Umgebungen Berlins“ wurde von dem Bauingenieur und späteren Berliner Stadtbaurat James Hobrecht 1862 vorgelegt. Er sah für Berlin, Charlottenburg und fünf umgebende Gemeinden zwei Ringstraßen sowie vom Zentrum Berlins ausgehende Radialstraßen vor; die dazwischenliegenden Flächen sollten durch ein rasterförmiges Straßennetz erschlossen werden. Das Weichbild Berlin wird heute noch von Hobrechts Planung geprägt. Hobrecht war auch Anwohner der Straße Am Karlsbad, einer Seitenstraße der Potsdamer Straße am Landwehrkanal. 42 Ausführungen in diesem Exkurs überwiegend nach Nägele/Markert 2006: 57ff, 288ff.
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Die Villenkolonie des ‚Tiergartenviertels‘, nördlich des Landwehrkanals und westlich der Potsdamer Straße gelegen, hatte sich bereits vor 1850 um die von Stüler entworfene St.-Matthäus-Kirche entwickelt und wurde danach weiter ausgebaut. Viele prominente Politiker, Wissenschaftler, Künstler und Unternehmer ließen hier freistehende Villen errichten oder nahmen ihre Wohnung in einer der Stadtvillen (Plewnia/Mauter/Földenyi 1995: 28f). Diese Nutzung eines zentrumsnahen Abschnitts als Villenviertel war einzigartig für eine Berliner Ausfallstraße. In der Victoriastraße im Tiergartenviertel führten seit 1898 Bruno und Paul Cassirer eine Kunsthandlung nebst Kunstverlag, wo sie das Berliner Publikum mit der Kunst der Moderne, wie Cézanne, Liebermann, Beckmann, Kokoschka, Barlach und Chagall bekannt machten. Eng mit Paul Cassirer arbeitete Herwarth Walden zusammen, der sich in seiner Galerie und Verlag ‚Der Sturm‘ in der Potsdamer Straße für die Kunst und Künstler des Expressionismus, Kubismus und Futurismus, darunter Nolde, Kirchner und Kandinsky engagierte. Das Gebiet um die Potsdamer Straße war, vor allem nach dem Ersten Weltkrieg, auch ein Zentrum des Berliner Verlagswesens. Der S.-Fischer Verlag, der unter anderem Thomas Mann, Hermann Hesse, Arthur Schnitzler und Alfred Döblin zu seinen Autoren zählte, hatte sein Stammhaus seit den 1890er Jahren in der Bülowstraße; 1936 musste es auf Druck der Nationalsozialisten hin aufgegeben werden. Ernst Rowohlt eröffnete 1919 seinen Verlag an der Potsdamer Straße 123B, hier wurden u.a. Werke von Robert Musil, Ringelnatz, Else Lasker-Schüler und Walter Benjamin publiziert. Auch die Berliner Redaktion der Frankfurter Zeitung befand sich an der oberen Potsdamer Straße, hier waren Siegfried Kracauer von 1930 bis 1933 als Feuilletonleiter und Joseph Roth von 1923 bis 1925 als Berliner Feuilletonkorrespondent tätig. Roth, der kurzzeitig ebenfalls in der Potsdamer Straße wohnte, berichtete in seinen Reportagen auch aus der Umgebung um die Potsdamer Straße, z.B. in „Unter dem Bülowbogen“. Eng mit der Potsdamer Straße verknüpft ist auch die Biographie Walter Benjamins, der am Magdeburger Platz geboren wurde und als Kind mit seiner Familie in der Kurfürstenstraße lebte. Über diese Orte seiner Kindheit schrieb Benjamin u.a. in „Berliner Kindheit um 1900“. Ein Ort der populären Kultur war der 1910 eröffnete Sportpalast südlich der Kreuzung Potsdamer Straße/Bülowstraße. Hier fanden Eisrevuen, Eiskunstlauf, Boxkämpfe und besonders das jährliche Sechstagerennen statt; in den 20er Jahren wurde der Sportpalast auch für einige Jahre als Großkino genutzt. In der zweiten Hälfte der 20er Jahre nahm die Zahl der politischen Veranstaltungen erheblich zu, Vertreter der unterschiedlichsten politischen Lager, darunter Ernst Thälmann, Clara Zetkin, Hindenburg, Scheidemann und auch später auch Hitler traten hier auf.
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1.8.2 Die Potsdamer Straße 1900-1945 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte der Bereich um die Potsdamer Chaussee bis nach Steglitz großstädtischen Charakter angenommen und war fast komplett geschlossen bebaut. Verdichtung, zunehmende Verkehrsbelastung und Luftverschmutzung waren auch ursächlich dafür, dass der Botanische Garten 1907 bis 1910 nach Dahlem umzog. Auf seinem Terrain wurde der Heinrich-von-Kleist-Park43 angelegt, die Verbindung zum Straßenraum der Potsdamer Straße stellten die 1911 von der Königsbrücke am Alexanderplatz zum Kleistpark umgesetzten spätbarocken Königskolonnaden her. Im nördlichen Teil der Potsdamer Straße, ausgehend vom Potsdamer Platz zum Landwehrkanal entstanden seit Beginn des 20. Jahrhunderts zunehmend Vergnügungsetablissements, wie Bars, Clubs und Restaurants. Hier siedelten sich auch wichtige Verlage und Galerien an (siehe oben Exkurs in Kap. 1.8.1). Im Abschnitt zwischen Landwehrkanal und Grunewaldstraße bildete sich früh ein einheitlich dicht bebautes städtisches Wohngebiet aus, Mietkasernen herrschten vor. Das Gebiet war durch Nutzungsmischung von Wohnen, Handel, Dienstleistungen und Gewerbe gekennzeichnet. Neben der zentralen Lage und steigendem Verkehrsaufkommen begünstigte auch die zunehmende Anonymität des sozialen Lebens die Entwicklung der Prostitution seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Der Bereich an der Kreuzung Potsdamer Straße/Bülowstraße, der ‚Bülowbogen‘, wurde zum Zentrum des Vergnügungsgewerbes im Westen Berlins. Mit dem Bau des Sportpalasts 1910 erhielt die südliche Potsdamer Straße einen weiteren Anziehungspunkt. In der Zeit zwischen dem Ersten und Zweiten Weltkrieg kamen nur relativ wenige ergänzende Neubauten hinzu, u.a. das Kathreiner-Hochhaus von Bruno Paul, heute von der BVG genutzt. Die verstärkte Ansiedlung von Handels- und Dienstleistungsunternehmen wie Spezialgeschäften, Arztpraxen, Anwaltsbüros, Vereinen und Verbänden hatte bereits vor dem Ersten Weltkrieg begonnen und führte zur Verdrängung der Wohnbevölkerung. Auch das Tiergartenviertel war von der Tertiärisierung betroffen. Schon vor dem Ersten Weltkrieg hatten im Tiergartenviertel einige diplomatische Vertretungen ihren Standort, 1930 waren es bereits 30. Allerdings lag der ‚Zug nach Westen‘ auch im Trend der Zeit: Besonders wohlhabende Anwohner hatten dem ‚alten Westen‘ schon seit Beginn des 20. Jahrhunderts den Rücken gekehrt und sich im westlichen Schöneberg, Charlottenburg, im Westend oder in den Grunewalder und Südberliner Villenvierteln niedergelassen.
43 Im Folgenden wird auch die im Berliner Sprachgebrauch gebräuchlichere Kurzform ‚Kleistpark‘ verwendet.
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Mitte der 20er Jahre hatte die Potsdamer Straße das höchste Verkehrsaufkommen aller Berliner Ausfallstraßen, seit 1934 war sie Teil der Reichsstraße 1. Der Potsdamer Platz war spätestens zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum bekanntesten Platz Berlins geworden. In den 20er Jahren galt er als verkehrsreichster Platz Europas. Mehr Straßenkreuzung als raumbildender Platz, entwickelte er sich seit den 1890er Jahren mit großen Hotels, Tanz-Cafés, Restaurants und Filmpalästen zum Zentrum des großstädtischen Amüsements und zog auch Touristen an. Der Mythos ‚Potsdamer Platz‘ als Sinnbild des schnellen, geschäftigen, vergnügungssüchtigen metropolitanen Lebens speist sich aus dieser Zeit vom Fin de Siècle bis in die 20er Jahre. In der Potsdamer Straße selbst machte sich dagegen die politische Instabilität der Weimarer Republik schon früh bemerkbar. Der Nutzungswandel der Potsdamer Straße und die Abwanderung des liberalen Bürgertums schafften neue Räume, die von rechten Kräften und später auch von den Nationalsozialisten besetzt wurden. Seit den 20er Jahren befanden sich im Bereich der Potsdamer Straße viele Einrichtungen nationalsozialistischer Organisationen, so war 1926 in der Potsdamer Straße 35 die SA gegründet worden, in der Lützowstraße saß die Leitung der Berliner NSDAP (Baudisch/Cullen 1991: 87). Am Kleistpark entstanden großflächige Verwaltungsgebäude im NS-Stil, u.a. für die Bauleitung der Reichsautobahnen, die nach dem Zweiten Weltkrieg bis 2008 von den Berliner Verkehrsbetrieben (BVG) genutzt wurden. Die Rede Josef Goebbels’ im Sportpalast am 18.2.1943, mit der die Deutschen auf den „totalen Krieg“ eingeschworen werden sollten, kann als ein Tiefpunkt in der politischen Geschichte der Potsdamer Straße gelten. Im Kammergericht am Kleistpark, in dem der ‚Volksgerichtshof‘ nach der Zerstörung seines Sitzes in der Bellevuestraße tagte, sprach Rudolf Freisler die Todesurteile gegen die Attentäter des 20. Juli. Der Ausbau des Tiergartenviertels zum Diplomatenviertel wurde vorangetrieben, ab 1938 entstanden die Japanische und die neue Italienische Botschaft (Jirku 1999: 10f). Die nach Ideen Hitlers von Albert Speer geplante ‚Nord-Süd-Achse‘ für die neue Hauptstadt ‚Germania‘ sollte östlich parallel zur Potsdamer Straße verlaufen, welche dadurch ihre Bedeutung weitgehend verloren hätte. Die Planung sah eine 7 Kilometer lange und über 100 Meter breite Prachtstraße vom Nordbahnhof bis zum Südbahnhof vor; den zentralen Punkt bildete der ‚Große Platz‘ mit der ‚Großen Halle‘ für über 150.000 Menschen. Abrissarbeiten, u.a. im Umkreis der Matthäikirche, fanden bereits ab 1938 statt, um Platz für die Randbebauung des ‚Runden Platzes‘ zu schaffen. Weitere Baumaßnahmen kamen jedoch mit Beginn des Zweiten Weltkriegs weitgehend zum Erliegen. Als einziges der projektierten Gebäude konnte das ‚Haus des Fremdenverkehrs‘ bis Frühjahr 1941 im Rohbau fertiggestellt werden, es wurde in den 60er Jahren gesprengt (Reichhardt/Schäche 2001).
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1.8.3 Die Potsdamer Straße im alten West-Berlin 1945-1989 Der Potsdamer Platz und der anschließende nördliche Teil der Potsdamer Straße erlitten besonders 1944 und 1945 durch Bombardements schwerste Zerstörungen. Viele der noch bestehenden Gebäude auf der West-Berliner Seite wurden bereits in den 50er Jahren abgerissen. Erhalten blieben nur das Hotel Esplanade und das Weinhaus Huth, die beide in den 90er Jahren in die Neubebauung des PotsdamerPlatz-Viertels integriert wurden. Auf der Ostberliner Seite fiel nach dem Mauerbau 1961 u.a. das von Erich Mendelsohn gebaute Columbushaus der Spitzhacke zum Opfer. Wie viele andere Straßen (West-)Berlins wurden auch Teile der Potsdamer Straße im Hinblick auf ein tatsächliches oder nur prognostiziertes erhöhtes Verkehrsaufkommen in den 60er Jahren ‚autogerecht‘ ausgebaut. Im nördlichen Teil hatte die Potsdamer Straße mit dem Mauerbau 1961 ihre Verbindungsfunktion Richtung Osten verloren. Während vor dem Mauerbau der Potsdamer Platz ein Zentrum des Schwarzhandels war, wurde er danach bis zum Fall der Mauer 1989 zum Niemandsland, das nur durch einige Souvenirbuden für Touristen und Aussichtsplattformen, welche einen Blick über die Mauer ermöglichten, belebt wurde. Zur Anbindung der Potsdamer Straße Richtung Norden wurde 1962 die Entlastungsstraße durch den Tiergarten angelegt. Die Potsdamer Straße nördlich der Potsdamer Brücke wurde im Zuge der Entstehung des Kulturforums nach Plänen von Hans Scharoun Richtung Westen verlegt (siehe unten 1.8.5). Die Planung einer Nord-Süd-Stadtautobahn, der Westtangente, wurde erst 1981 endgültig aufgegeben. Die ‚Potse‘ der 60er bis 80er Jahre: Zuwanderer, Milieu, Alternativkultur „Dead End Street“: so beschreiben Benny Härlin und Michael Sontheimer die Potsdamer Straße nach 1961, als sie durch den Mauerbau zur Sackgasse geworden war (Härlin/Sontheimer 1983: 24). Härlins und Sontheimers 1983 erschienene „Sittenbilder“ (Untertitel) schildern das Lebensgefühl der Potsdamer Straße in einer Zeit, in der sie zwar topographisch am Rande West-Berlins lag, in ihrer „unübersichtlichen […] und faszinierenden Vielfalt von Szenen, Lebensformen und -erfahrungen“ (ebd: 7) jedoch auf begrenztem Raum viele der damaligen West-Berliner Gegebenheiten, Stimmungen, Probleme, politischen und kulturellen Aktivitäten spiegelte. In der Potsdamer Straße vom Kleistpark bis zum Landwehrkanal fanden sich große Bankhäuser und Bordelle, teure Einrichtungshäuser und Spielhöllen, Kunsthandlungen, Behörden und besetzte Häuser. Auch wenn die Verbindungsfunktion der Potsdamer Straße Richtung Osten nach dem Mauerbau nicht mehr bestand, so blieb die Funktion als Verkehrsader (jetzt Richtung Norden) doch erhalten, ebenso ihre Funktion als Geschäftsstraße und Vergnügungsmeile. Maßgeblich prägend für das Bild der Potsdamer Straße im alten
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West-Berlin waren vor allem drei Aspekte: das Rotlichtmilieu, der Zuzug von Migranten seit Ende der 60er Jahre und die Orte der Subkultur in den 70er und 80er Jahren. Besonders der Abschnitt zwischen Kurfürsten- und Winterfeldtstraße hatte sich schon kurz nach 1945 zu einem Zentrum der Prostitution in Berlin entwickelt, Stundenhotels, Bars und Spiel-Casinos prägten hier das Bild. Auch bundesweit war die ‚Potse‘44 der Inbegriff des Berliner Nachtlebens (Härlin/Sontheimer 1983: 92). Seit Ende der 70er Jahre florierte der Drogenhandel im Gebiet um die Potsdamer Straße, er konnte in den 90er Jahren durch massive polizeiliche Repression an andere Orte verdrängt werden. Die stark sanierungsbedürftigen Altbauten in der Potsdamer Straße und ihrer Umgebung boten für viele der seit den 60er Jahren als ‚Gastarbeiter‘ nach Berlin gekommenen Migranten billigen Wohnraum. In der Folge wurden entlang der Straße eine Vielzahl vor allem türkischer Geschäfte eröffnet, 1986 wurden zwischen Kleistpark und Landwehrkanal 44 von Migranten geführte Betriebe gezählt (Barthel/Carstensen/Edel 1987: 48f). Über Tiergarten und Schöneberg hinaus bekannt war der Gemüsehändler an der Ecke Kurfürstenstraße als eines der großen türkischen Einzelhandelsgeschäfte der Stadt. Entscheidende Veränderungen im bereits fragilen sozialen Gefüge brachten die umfangreichen Abriss- und Sanierungsmaßnahmen von den 70ern bis in die 80er Jahre (‚Kahlschlagsanierung‘). 1973 wurde der Sportpalast abgerissen, der noch bis zu seiner Schließung erfolgreicher Veranstaltungsort u.a. für große Jazz- und Rockkonzerte gewesen war. Die Bars und Bordelle in der Potsdamer Straße verschwanden aus dem Straßenbild, aber ebenfalls die kleinen Läden in den Seitenstraßen. Die eng bebauten Hinterhöfe wurden entkernt und damit auch die Nutzungsmischung (Werkstätten etc.) reduziert. Es entstanden überwiegend Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus (neu errichtet oder in sanierten Altbauten), welche vornehmlich von Einkommensschwachen und Migrantenfamilien bezogen wurden, sodass die soziale Mischung der Mieter verloren ging. Ein Beispiel für diese Entwicklung ist der auf dem ehemaligen Gelände des Sportpalastes mit einem 10geschössige Riegel über die Pallasstraße und einer Zeilenbebauung an der Potsdamer Straße entstandene Wohnkomplex ‚Wohnen am Kleistpark‘, spöttisch ‚Sozialpalast‘ genannt. Als Vorzeigeprojekt des sozialen Wohnungsbaus geplant, entwickelte sich die Anlage durch ungünstige Vergabepolitik des Wohnungsamtes bald zum sozialen Brennpunkt; Vandalismus, Kriminalität und Leerstand waren die Folge. Die Sanierungen spielten sich zwar mit wenigen Ausnahmen nicht direkt an 44 Umgangssprachliche Bezeichnung der Berliner für die Potsdamer Straße. Neu ist offenbar die Bezeichnung ‚der Potse‘ (= der Potsdamer Platz) für das Potsdamer-Platz-Areal, siehe z.B. „Kamps eröffnet Fisch-Lokal am Potse“, BZ vom 28.05.2008, http://www.bzberlin.de/archiv/kamps-eroeffnet-fisch-lokal-am-potse-article83818.html [28..12.2011].
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der Potsdamer Straße ab, jedoch hatte der Kaufkraftverlust der Anwohner der Umgebung auch Auswirkungen auf Handel und Gewerbe in der Potsdamer Straße. In Reaktion auf die Sanierungsmaßnahmen entwickelten sich die Potsdamer Straße und ihre Umgebung in den frühen 80er Jahren zu einem zentralen Ort der Berliner Hausbesetzerbewegung.45 In leerstehenden Wohnungen, Häusern und Läden entstanden alternative Projekte, davon viele aus dem Umfeld der Frauenbewegung.46 Günstige Mieten machten die Potsdamer Straße auch für Studenten und Künstler attraktiv. Das 1972 eröffneten Quartier Latin wurde zu einem der wichtigsten Berliner Veranstaltungsorte für Jazzmusik. Im K.O.B. im besetzten Haus Potsdamer Straße 157/159 traten u.a. Nick Cave und Peter Brötzmann auf. 1981 erreichte die Anzahl der besetzten Häuser in Berlin mit 169 einen Höhepunkt Klitscher 2001. Bei einer Demonstration gegen die Räumung von acht besetzten Häusern durch den Berliner Senat im September 1981 eskalierten die Auseinandersetzungen zwischen Hausbesetzern und der Berliner Polizei. Ein Demonstrant, Klaus-Jürgen Rattay, wurde tödlich verletzt, als er von der Polizei auf die nicht gesperrte Potsdamer Straße abgedrängt und von einem Bus überfahren wurde. 1.8.4 Die Potsdamer Straße heute
47
Nach dem Fall der Mauer und dem Zusammenbruch der DDR wurde durch die Neue Potsdamer Straße die Verbindung zum Potsdamer und Leipziger Platz und damit Richtung Osten wiederhergestellt. Die Erwartungen der Geschäftsleute der Potsdamer Straße auf eine deutliche wirtschaftliche Belebung in Folge der neuen Zentralität der Straße erfüllten sich jedoch nicht, auch die Fertigstellung des Potsdamer-Platz-Areals 2000 hatte keinen positiven Effekt. Besonders im oberen Teil der Straße zwischen Kurfürstenstraße und Landwehrkanal stehen weiterhin Läden leer, alteingesessene Geschäfte wie die juristische Fachbuchhandlung Struppe & Winkler haben die Potsdamer Straße in den letzten zehn Jahren verlassen. Wenn die Läden wieder vermietet wurden, sind vielfach Wettbüros und Billigläden an die Stelle von Buchhandlungen, Galerien oder Fotofachlabors getreten. Besonders in
45 Auch Benny Härlin, Koautor des Buches über die Potsdamer Straße, Autor der Tageszeitung und späterer Europaabgeordneter der Grüner lebte in einem der besetzten Häuser. 46 Z.B. das Haus Potsdamer Straße 139, in dem sich heute noch der Frauentreffpunkt Begine befindet. 47 Dieses Unterkapitel gibt zuerst einen kurzen Überblick über die Situation in der Potsdamer Straße von den 1990er Jahren bis zum Ende des Untersuchungszeitraums der empirischen Studie 2008. Abschließend werden in einem Nachtrag neue Entwicklungen bis 2011 dargestellt.
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den Seitenstraßen konnten sich jedoch in den letzten Jahren auch neue Unternehmen, vielfach aus der Medienbranche, ansiedeln, darunter auch bekannte Firmen wie die Filmproduktion X-Films. Ferner finden sich in den Seitenstraßen seit 2007 einige neue kommerzielle Galerien. Im Bereich des U-Bahnhofes Kurfürstenstraße war seit 2007 wieder eine Zunahme der Straßenprostitution zu verzeichnen, die zuvor seit Mitte der 80er Jahre in westliche Seitenstraßen der Potsdamer Straße verdrängt worden war. Ein Antrag auf Baugenehmigung zur Einrichtung eines Großbordells als ‚Laufhaus‘ für Prostituierte an der Ecke Potsdamer Straße/Kurfürstenstraße wurde im Februar 2008 vom zuständigen Bezirksamt ablehnt, nachdem es zu massiven Protesten der Anwohner gekommen war.48 Die hohe Verkehrsbelastung der Potsdamer Straße als Süd-Ost bzw. Süd-Nord-Verbindung hat sich in ihrem gesamten Verlauf erhalten. Der nördliche Teil der Potsdamer Straße zwischen Kurfürstenstraße und Landwehrkanal liegt im Bereich des Quartiersmanagementsgebiets Tiergarten-Süd (Magdeburger Platz), der südliche Abschnitt ist dem Quartiersmanagement Schöneberg-Nord (Bülowstraße/Wohnen am Kleistpark) zugeordnet.49 Auftrag der im Rahmen des BundLänder-Programms Programms ‚Soziale Stadt‘ agierenden Quartiersmanager ist es, in Stadtteilen mit spezifischen sozialen Problemen wie Arbeitslosigkeit, Abhängigkeit der Bewohner von staatlichen Transferleistungen50 sowie Wohn- und Gewerberaumleerstand die Lebensbedingungen der Bewohner zu verbessern, die wirtschaft-
48 Diese Entscheidung wurde vom Berliner Verwaltungsgericht im Mai 2010 bestätigt (vgl. http://www.tiergarten-sued.de/Pressespiegel-Kurfuerstenstrasse.5146.0.html [28.12. 2011]). Ein Laufhaus ist ein Bordell, in dem Prostituierte ein Zimmer angemietet haben und auf Freier warten. 49 Der südliche Abschnitt der Potsdamer Straße bis zur Kurfürstenstraße gehört zum Berliner Bezirk Tempelhof-Schöneberg (Ortsteil Schöneberg), der nördliche bis zum Potsdamer Platz zum Bezirk Mitte (Ortsteil Tiergarten). 50 Lt. Sozialstrukturatlas 2008 (Meinlschmidt 2009: 280ff) gehören alle östlich der Potsdamer Straße gelegenen planungsräumlichen Einheiten auf einer Skala von 1 (günstigste Sozialstruktur) bis 7 (ungünstigste Sozialstruktur) zur Schicht Nr. 7. Die Gebiete westlich der Potsdamer Straße vom Landwehrkanal bis zur Pallasstraße verfügen über einen etwas günstigeren Sozialstatus der Schicht 6, das Gebiet südlich der Pallasstraße gehört sogar zur Schicht 3. Im Gegensatz zur großräumigen Konzentration stark belasteter Gebiete in den Berliner Bezirken Wedding und Neukölln handelt es sich bei den Gebieten im Umfeld der Potsdamer Straße um relativ kleinräumige sozialstrukturell schwache Inseln, die direkt angrenzenden Planungsräume weisen alle einen höheren Sozialindex auf. Berücksichtigt werden muss auch, dass deutliche soziale Mikrodifferenzierungen innerhalb der Planungsräume in der Schichtzuordnung nicht sichtbar werden.
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liche Situation zu stabilisieren und die Identifikation mit dem Quartier zu erhöhen.51 Neben dem Quartiersmanagement arbeiteten in den letzten Jahren besonders zwei Initiativen von lokalen Geschäftsleuten und Gewerbetreibenden daran, die Attraktivität der Potsdamer Straße als Gewerbestandort zu erhöhen. Die Interessengemeinschaft (IG) Potsdamer Straße ist ein eher lockerer Zusammenschluss von Gewerbetreibenden entlang der Potsdamer Straße, der Arbeitskreis ‚m-street‘ versteht sich als Forum der rund um die Potsdamer Straße ansässigen Medienunternehmen. Ziel dieser zeitweilig sehr aktiven Initiative ist die Etablierung und der Ausbau eines Netzwerks für den Medienstandort Potsdamer Straße, in dem für die über 350 in diesem Bereich vertretenen Medienfirmen neue Kooperationsmöglichkeiten entstehen und Synergieeffekte genutzt werden sollen.52 Den südlichen Abschnitt der Potsdamer Straße vom U-Bahnhof Kleistpark bis zur Pallasstraße dominieren heute Verwaltungsgebäude und Wohnbebauung der 70er Jahre mit langen ungegliederten Fassaden, die Ladenräume im Erdgeschoss werden durch eine geringe Zahl von Fachgeschäften genutzt. Eine breitere Nutzungsmischung findet sich zwischen Pallas- und Bülowstraße: Neben migrantischen Läden und Imbissstuben hat hier die Buchhandlung Schropp ihren Sitz. Geschäfte und Dienstleistungseinrichtungen für den täglichen Bedarf (Supermarkt, Post, Bank etc.) konzentrieren sich überwiegend im mittleren Abschnitt zwischen den U-Bahnhöfen und Straßenkreuzungen Bülow- und Kurfürstenstraße. Nördlich der Kurfürstenstraße bis zur Lützowstraße zeigt sich ein vielfältiges Bild: einigen noch verbliebenen alteingesessenen Betrieben (Fleischerei Staroske, Werbetechnik) stehen Wettbüros, Schnäppchenmärkte und Imbissläden gegenüber, aber es haben sich in den letzten 10 Jahren auch einige neue, ambitioniert geführte Lokale und Geschäfte angesiedelt wie die Joseph-Roth-Diele und das Devotionaliengeschäft Ave Maria. Manche der leerstehenden Ladengeschäfte und Büroräume werden durch Galerien temporär oder längerfristig genutzt. In den Seitenstraßen finden sich einige weitere, bereits zu West-Berliner Zeiten beliebte Bars, die den nach der Wende begonnenen und immer noch anhaltenden ‚Zug nach Osten‘ der Berliner Ausgehszene überlebt haben. Das Varietétheater Wintergarten in den Räumen des ehemaligen Quartier Latin ist vor allem ein Anziehungspunkt für Touristen. Zwischen Lützowstraße und Landwehrkanal nimmt die Nutzungsdichte wieder ab, 51 Insgesamt existieren 2010 in Berlin 34 Quartiersmanagementgebiete, davon liegt die Mehrzahl in den Innenstadtbezirken im ehemaligen Westteil der Stadt. 27 der 34 Gebiete sind der Kategorie „starke“ oder „mittlere Intervention“ zugeordnet. Zu letzterer Kategorie zählen auch beide QM-Gebiete an der Potsdamer Straße. Informationen zum Programm Soziale Stadt und dem Verfahren des Quartiersmanagements siehe unter http://www.quartiersmanagement-berlin.de [17.12.2011]. 52 Zur Website des Netzwerks siehe http://www.medienportal-berlin.de [28.12.2011]
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Bürogebäude und große Wohnkomplexe herrschen vor. Das Kulturforum nördlich des Landwehrkanals mit seinen Museen, Konzerthäusern und Bibliotheken bildet nicht nur baulich einen starken Kontrast zu den südlichen Abschnitten. Die Neue Potsdamer Straße als Erschließungsstraße zu Daimler-Quartier und Sony-Center ist bereits Element des Potsdamer-Platz-Areals (zu Kulturforum und Potsdamer-PlatzAreal s.u. 1.8.5). Nachtrag: Die Entwicklung der Potsdamer Straße bis 2011 Ende 2009 hat der Tagespiegel sein Stammhaus in der Potsdamer Straße verlassen, der Auszug der Zentrale der Berliner Verkehrsbetriebe (BVG) aus ihrem Gebäude am Kleistpark fand bereits Ende 2008 statt. Die Buchhandlung Schropp ist Ende 2008 nach Charlottenburg verzogen. Nach kurzer Schließungszeit ab Januar 2009 wurde das Wintergarten-Varieté Anfang 2010 wiedereröffnet. Während sich in den Jahren zuvor bereits verschiedene kleinere Galererien in den Seitenstraßen niedergelassen hatten, ist seit 2009 auch die Potsdamer Straße selbst wieder zum Galeriestandort geworden, u.a. mit dem Zuzug der in Berlin bereits über viele Jahre etablierten Galerie Klosterfelde und der Übernahme eines Hinterhoffabrikgebäudes durch das ‚Freie Museum Berlin‘.53 Auch das ehemalige Areal des Tagesspiegel wird wenigstens teilweise wieder genutzt: die frühere Druckerei dient seit 2011 zwei großen internationalen Galerien, darunter der Galerie Nolan Judin, als Ausstellungsfläche; außerdem verkauft hier Andreas Murkudis in seinem ‚Concept Store‘ schöne und vor allem teure Dinge. In die Villen auf dem Hof sind ebenfalls mehrere Galerien eingezogen (Nägele/Markert 2011: 411f). Im Zuge des Berliner Tourismusbooms entstanden einige neue Hotels an der Potsdamer Straße, darunter das Hotel Lindemann’s an der Ecke Goebenstraße sowie das ‚B&B Hotel Berlin-Potsdamer Platz‘54 in der Potsdamer Straße 90/Ecke Lützowstraße. Die soziale Lage im Umfeld der Potsdamer Straße hat sich zumindest in dem Gebiet nördlich der Kurfürstenstraße leicht verbessert, das QM-Gebiet ‚Magdeburger Platz/Tiergarten Süd‘ wurde 2011 von einem Gebiet mittlerer Intervention zu einem ‚Präventionsgebiet‘ (mit nur noch leicht negativer Abweichung vom Berliner Durchschnitt) hochgestuft. Insgesamt bietet sich ein uneinheitliches Bild. Wenigen Veränderungen südlich der Bülowstraße stehen Aufwertungstendenzen im nördlichen Teil entgegen, hier 53 Zur neuen Galerieszene in der Potsdamer Straße siehe z.B. „Eine Achse für die Kunst“, Tagesspiegel 11.08.2009, siehe auch Kap. 4.4.1. 54 Wie andere alteingessene Hotels werben auch diese beiden mit der Nähe zum Potsdamer Platz, die Potsdamer Straße wird nur als Adressenbestandteil genannt.
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führen u.a. neue Baugruppenprojekte wie an der parallel verlaufenden Flottwellstraße zu ersten Verdrängungsängsten.55 Ob sich ein Gleichgewicht zwischen neu angesiedelten ‚Kreativen‘ und Alteingessenen einstellt oder ob sich Gentrifizierungsentwicklungen fortsetzen, wird sich in den nächsten Jahren zeigen. 1.8.5 Architektur und Städtebau in der Potsdamer Straße Ein Spaziergang durch die Potsdamer Straße von Süd nach Nord ist auch ein Streifzug durch die Berliner Baugeschichte: er beginnt an den spätbarocken Königskolonnaden am Kleistpark und findet seinen Abschluss bei der Investorenarchitektur des frühen 21. Jahrhunderts am Potsdamer Platz. Vom U-Bahnhof Kleistpark bis zum Landwehrkanal ist die Potsdamer Straße wie bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts durch eine geschlossene Randbebauung charakterisiert. Neben den wilhelminischen Mietshäusern finden sich Bauten der 20er und 30er Jahre sowie Geschäftshäuser und Wohnbebauung der Nachkriegszeit, überwiegend aus den 70er und 80er Jahren. Besonders südlich der Pallasstraße und nördlich der Lützowstraße sind große Parzelleneinteilungen mit langen, ungegliederten Fassaden anzutreffen. Nördlich des Landwehrkanals öffnet sich der geschlossene Straßenraum zur ‚Stadtlandschaft‘ des von Scharoun geplanten Kulturforums, bevor die am Leitbild der europäischen Stadt orientierte Blockrandbebauung des Daimler-Quartiers und Sony-Centers in der Neuen Potsdamer Straße die Straße zu ihrem Endpunkt am Potsdamer Platz führt (Planungsbüro TOPOS 2003: 15). Der traditionelle geschlossene Straßenraum im Süden Architekturhistorisch und kulturell bedeutende Bauwerke in der Potsdamer Straße sind im südlichen Abschnitt die spätbarocken Königskolonnaden, die 1911 von der Königsbrücke am Alexanderplatz zum Eingang des Kleistparks versetzt wurden, sowie das nördlich an den Kleistpark anschließende 1929/30 von Bruno Paul erbaute, denkmalgeschützte ‚Kathreinerhaus‘, das als erstes Berliner Hochhaus gilt. Die Wohnanlage an der Pallasstraße (Architekt: Jürgen Sawade, s.a. oben 1.8.3) steht exemplarisch für den Anspruch und die problematische spätere Entwicklung der Großprojekte des sozialen Wohnungsbaus der 70er Jahre. Eine markante Zäsur für die Potsdamer Straße bildet der 1901 von Bruno Möhring im Jugendstil erbaute
55 Vgl. den Artikel „Neue Potse“, Berliner Zeitung vom 26.03.2001. http://www.berlinerzeitung.de/archiv/wandelt-sich-der-schmuddelkiez-rund-um-die-potsdamer-strasse-zumkulturstandort--moeglich--aber-noch-ist-es-ein-weiter-weg-neue--potse-,10810590, 10778886.html [28.12.2011].
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U-Bahnhof Bülowstraße mit der die Potsdamer Straße überquerenden Hochbahnbrücke. Der belebte Kreuzungsbereich am U-Bahnhof Kurfürstenstraße als einer der zentralen Orte der Potsdamer Straße ist durch u.a. in der Bauhöhe sehr heterogene Nachkriegsbebauung (Woolworth-Filiale, ehemaliges Wegert-Haus) geprägt. Im Abschnitt zwischen Kurfürsten- und Lützowstraße ist neben einigen schön restaurierten Gründerzeithäusern das Gebäude des ehemaligen Tagesspiegelstammhauses zu nennen, welches mit seinem, auch nach dem Wegzug des Tagesspiegels 2009 noch erhaltenem, expressivem Namenszug auf dem Dach weithin sichtbar ist. Den Abschnitt zwischen Lützowstraße und Landwehrkanal dominiert auf der Ostseite der 15-geschossige langgestreckte Wohnkomplex des Studentenwohnheims (1969 bis 1971 nach Plänen von Sigrid Kressmann-Zschach erbaut) (Planungsbüro TOPOS 2003: 15, Zimmer 1990: 44ff). Die offene Stadtlandschaft Hans Scharouns Planung für ein kulturelles Zentrum auf dem im Zweiten Weltkrieg fast vollständig zerstörten Areal nördlich des Landwehrkanals war ursprünglich als Teil eines ‚geistigen Bandes‘ von der Museumsinsel Richtung Westen konzipiert. Durch den Mauerbau 1961 wurde jedoch eine weitere gemeinsame Planung östlicher und westlicher Kultureinrichtungen endgültig verhindert. Daher wurde entschieden, die 1961 bereits im Bau befindliche Philharmonie durch weitere Gebäude zu einem ‚Kulturforum‘ zu ergänzen; die Gesamtplanung wurde ebenfalls Scharoun übertragen. Nachdem die Verbindung der Potsdamer Straße Richtung Nordosten durch den Mauerbau gekappt worden war, wurde 1962 die Entlastungsstraße durch den Tiergarten angelegt, die nun den Nord-Süd-Verkehr aufnehmen sollte. Die Potsdamer Straße mit der Potsdamer Brücke wurde im Zuge der Entstehung des Kulturforums Richtung Westen verlegt und mehrspurig ausgebaut. Die Verlegung hatte auch verkehrstechnische Gründe, da auf der Ostseite des Kulturforums, entlang der Grenze zu Ostberlin die sogenannte ‚Westtangente‘ als Nord-Süd-Stadtautobahn entstehen sollte. Der übriggebliebene Abschnitt des früheren Verlaufs der Potsdamer Straße wurde später durch die Staatsbibliothek überbaut und so zur doppelten Sackgasse. Erster fertiggestellter Bau war die Philharmonie (Scharoun) nördlich der nach beträchtlichen Kriegsschäden wieder aufgebauten St.-Matthäus-Kirche, es folgten die Neue Nationalgalerie von Mies van der Rohe am Landwehrkanal und die Scharounsche Staatsbibliothek (1962-78). In den 70er und 80er Jahren kamen das von Scharoun geplante Musikinstrumentenmuseum und der mit der Philharmonie verbundene Kammermusiksaal hinzu, weiterhin das Kunstgewerbemuseum. In den 90er Jahren folgten Kupferstichkabinett und Kunstbibliothek, als letztes großes Projekt wurde 1998 die Gemäldegalerie (Entwurf: Hilmer & Sattler und Albrecht) eröffnet.
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Scharouns städtebaulicher Entwurf war der Idee einer ‚Stadtlandschaft‘ verpflichtet, in der die einzelnen baulichen Elemente als Solitäre in einer freien rhythmischen, ‚natürlichen‘ Ordnung zueinander in Beziehung stehen sollten; das rigorose orthogonale Raster des historischen Stadtgrundrisses sollte überwunden werden. Scharouns Gesamtplanung und die Architektur der Einzelbauten kann auch als Auseinandersetzung mit der NS-Baupolitik verstanden werden. So wurde die Staatsbibliothek über der geplanten Trasse der Speerschen Nord-Süd-Achse errichtet, auch die Philharmonie widersetzte sich in ihrer dynamischen Asymmetrie allen Ansprüchen einer Repräsentationszwecken dienenden Herrschaftsarchitektur. Während besonders Scharouns Entwürfe der Philharmonie und Staatsbibliothek sowie Mies’ Nationalgalerie als herausragende Beispiele der Nachkriegsarchitektur in Deutschland gelten und bis heute ihre Faszination bewahrt haben, wurde das städtebauliche Konzept des Kulturforums mit seinen offenen, wenig Zusammenhalt entwickelnden und zusätzlich durch die verkehrsreiche Potsdamer Straße zerschnittenen Räumen von Beginn an kontrovers diskutiert. Ein Masterplan zur Weiterentwicklung des Kulturforums, der die Defizite der stadträumlichen Gestaltung mindern soll und auch die neu entstandene städtebauliche Situation nach Fertigstellung des Potsdamer-Platz-Areals berücksichtigt, wurde 2006 vom Berliner Abgeordnetenhaus verabschiedet. Ein bereits 1998 prämiertes Freiraumkonzept wird seit 2009 überarbeitet und soll ab 2011 umgesetzt werden Jirku 1999, Arndt 2004, Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin 2011. Leitbild europäische Stadt und Urban Entertainment Center am Potsdamer Platz Auf dem bis 1989 durch Mauer und Grenzanlagen zerschnittenen und brachliegenden Gebiet des Potsdamer Platz entstand ab 1993 die damals größte Baustelle Europas. Der ‚neue‘ Potsdamer Platz wurde als neues, Ost und West verbindenden Unterzentrum Berlins mit einer breiten Nutzungsmischung aus Wohnen, Arbeiten, Konsum und Unterhaltung geplant. Sein urbaner Charakter sollte durch raumbildende Abfolge von Straßen und Plätzen, geometrischen Plan und geschlossene Blockränder, der Berliner Bautradition entsprechend, hergestellt werden. Historische Denkmäler wie das Weinhaus Huth und das Hotel Esplanade sollten erhalten und das Reststück der Alten Potsdamer Straße integriert werden. Grundlage der Gesamtplanung wurde der Entwurf von Hilmer & Sattler, der von einem verdichteten, europäischen Stadtmodell geprägt war und auf Solitäre verzichtete.56 Die
56 Diese Entscheidung wurde von Beginn an kontrovers diskutiert. Der Entwurf galt als ‚kleinster gemeinsamer Nenner‘, das Jurymitglied Rem Koolhaas kritisierte ihn als exemplarisch für den seiner Meinung nach reaktionären und provinziellen Stadtbegriff
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auf diesem Entwurf aufbauende Realisierungsplanung des Büros Renzo Piano / Christoph Kohlbecker fügte als neuen öffentlich-urbanen Schwerpunkt am Ende der Alten Potsdamer Straße eine Piazza hinzu, die mit einer offenen Bebauung den architektonischen Übergang zum Kulturforum und der Staatsbibliothek schaffen sollte. Weiterhin wurde südlich des Weinhauses Huth eine überdachte Passage geplant (der Entwurf von Hilmer & Sattler hatte noch eine offene Einkaufsstraße vorgesehen). Die Bauarbeiten auf dem von der Daimler-Benz-AG bereits 1990 erworbenen 68.000 qm großen Grundstücks begannen Oktober 1993. Aus der parallel zu dem Wettbewerb für das Daimler-Gelände ausgeschriebenen Konkurrenz für das von Sony erworbene nördliche Teilstück ging der deutsch-amerikanische Architekt Helmut Jahn als Sieger hervor. Jahn entwarf ein Ensemble mit Glasfassaden, das einen dreieckigen Block bildete, mit einer an ein Zirkuszelt erinnernden Dachkonstruktion. Teile des alten Hotels Esplanade wurden in den Gebäudekomplex integriert.57 1998 wurde die ‚Daimler-City‘ inklusive der Einkaufspassage eröffnet, das Sony-Center folgte im Jahr 2000. Das Lenné-Dreieck östlich des Sony-Centers wurde durch den Investor Beisheim mit dem Beisheim-Center bebaut, die Bebauung des Leipziger Platz ist z.Z. immer noch nicht vollständig geschlossen (von Rauch/Visscher 2002). Die ‚Neue Potsdamer Straße‘ verläuft zwischen den Komplexen der DaimlerCity und des Sony Centers, sie ist eine stark befahrene Schneise, die Kürze des Verlaufs lässt kein ‚Straßengefühl‘ aufkommen. Die Fassaden auf beiden Seiten sind relativ monoton. Auf der Daimler-Seite finden sich u.a. einige Restaurants, auf der Seite des Sony-Centers der Eingang zum Filmhaus, genutzt durch das die Deutsche Film- und Fernsehakademie (dffb) und das Kino Arsenal sowie die Durchgänge ins Innere des Sony-Centers. Der östliche Eingang zur Straße am Potsdamer Platz wird von zwei Hochhäusern flankiert, dem von Backsteinexpressionismus und Art Déco inspirierten ‚Wolkenkratzer‘ von Hans Kollhoff und dem gläsernen Turmhaus der Deutschen Bahn von Helmut Jahn. Bei der ‚Alten Potsdamer Straße‘, die vom Potsdamer Platz vorbei am Weinhaus Huth bis zum Musicaltheater führt und dort an der Rückseite der Staatsbibliothek als Sackgasse endet, handelt es sich um das noch erhaltene Teilstück der Potsdamer der Berliner Bauverwaltung (unter Senatsbaudirektor Hans Stimmann) (Koolhaas: Berlin, the massacre of ideas. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 16.10.1991). 57 Auch diese Wettbewerbsentscheidung wurde meist negativ bewertet, Jahns Entwurf wurde als introvertierte und nach außen protzige „Investorenarchitektur“ mit einseitiger Nutzung kritisiert. Der Stadtsoziologe Werner Sewing fällt ein milderes Urteil: das SonyCenter sei ein „fast öffentlicher Raum“, gegenüber dem konsumorientierten DaimlerAreal „fast asketisch“ (Sewing 2002: 52).
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Straße in ihrem ursprünglichen Verlauf (s.o. zum Kulturforum), der alte Baumbestand wurde teilweise erhalten. Hier befinden sich heute die Zugänge zur parallel verlaufenden Shopping Mall der ‚Potsdamer Platz Arkaden‘. Straße und Mall gehen jedoch kaum eine Verbindung ein, die Arkaden präsentieren sich mit Ausnahme einer gläsernen Eingangsfront an der Stirnseite introvertiert, auf die innenliegenden Geschäfte wird nur durch große Werbeschrift, jedoch nicht durch Schaufenster hingewiesen. Aller Kritik aus Fachkreisen zum Trotz hat sich das Potsdamer-PlatzAreal sowohl bei Berlin-Touristen als auch Einheimischen, die sich laut einer Werbebeilage am Potsdamer Platz „selbst als Tourist fühlen dürfen“, als sehr erfolgreich erwiesen (vgl. Sewing 2002: 57).
2
Objekt-Zeichen und Umwelt-Interpretationen: die theoretischen Grundlagen
In diesem Kapitel werden die theoretischen Grundlagen zur Analyse einer konkreten urbanen Umwelt als semiotischer Raum für die in ihr handelnden Interpreten erarbeitet. In der Einleitung wurden drei Dimensionen der Interpretation städtischer Umwelten postuliert: die konkreten materiellen Objekte der Umwelt, der die Objekte semiotisierende Interpret sowie der in der Interpretation potentiell zum Tragen kommende raumzeitliche Kontext. Diese Dimensionen werden in diesem Kapitel vor allem aus einer semiotischen, aber ergänzend auch aus einer kognitionstheoretischen Perspektive erkundet. Einer Einführung in die für den Untersuchungsgegenstand grundlegenden zeichentheoretische Begriffe folgt die Ausarbeitung eines Modells der Interpretation von Objekten als Zeichen. In den beiden abschließenden Unterkapiteln 2.3 und 2.4 wird in Grundlagen der Umweltkognition eingeführt sowie über die Darstellung von Tendenzen der Stadtsemiotik wieder zum Thema der Stadtstraße und ihrer Elemente zurückgeleitet.
2.1 Z EICHEN
UND I NTERPRETATION : ZEICHENTHEORETISCHE G RUNDBEGRIFFE
Die semiotische Beschäftigung mit Objekten der täglichen Wahrnehmung erfordert eine Erweiterung des klassischen Zeichenbegriffs. Konkrete Objekte als Zeichen können nicht auf die Bestimmung des Zeichens als ‚Etwas, das für etwas steht‘ (‚Aliquid stat pro aliquo‘) reduziert werden; in die Begriffsbildung einbezogen werden müssen vielmehr auch Gesichtspunkte, die das Handeln mit Zeichen berücksichtigen. Als Ausgangspunkt der theoretischen Überlegungen soll daher
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Charles Morris’ Aussage zur relationalen Natur des Zeichens herangezogen werden:1 „Etwas ist nur dann ein Zeichen, wenn es von einem Interpreten als Zeichen von etwas angesehen wird. [...] Die Semiotik befasst sich nicht mit der Untersuchung einer besonderen Art von Gegenständen, sondern mit gewöhnlichen Gegenständen, insoweit (und nur insoweit) sie an der Semiose teilhaben.“ (Morris 1938/1972: 21)
Morris nimmt Bezug auf mehrere semiotische Schlüsselbegriffe: das Zeichen, den Interpreten und (implizit) die Interpretation, ferner auf die Gegenstände (ich werde von ‚Objekten‘ sprechen) und die Semiose, d.h. den Zeichenprozess. Zeichen, Interpret, Interpretation und Semiose sowie weitere zeichentheoretische Grundbegriffe werden in diesem Unterkapitel behandelt. Der spezifischen Semiotik von nichtsprachlichen Objekten,2 die als Zeichen interpretiert werden, ist Kapitel 2.2 gewidmet. Zeichen entstehen im Prozess der Interpretation. Interpretation wird hier verstanden als Zuordnung einer Bedeutung (im Folgenden auch technisch als Inhalt bezeichnet) zu einem Phänomen, das dadurch zum Zeichen, genauer zum Zeichenausdruck wird. Als Zeichen fungieren können eine sprachliche Äußerung, ein Verkehrszeichen, ein Werbeplakat, ein Gebrauchsgegenstand wie eine Tasse, ein Kunstwerk, die gelbe Blattfärbung eines Baumes: insgesamt potentiell alle sinnlich wahrnehmbaren Gegenstände und Ereignisse unserer Umwelt, denen wir eine Bedeutung zuschreiben.3 Jede Art von Zeichenbenutzung, d.h. Zeichenproduktion und Zeichenrezeption, können als interpretative Handlungen aufgefasst werden.
1
Morris orientiert sich hier an Charles S. Peirces Zeichendefinition, die beinahe gleich lautet (Peirce 1931-1958: CP 2.308, zu Peirces triadischem Zeichenmodell s.u. Kap. 2.1.2).
2
Als sprachliche Zeichen werden hier mit Roland Posner die Elemente der Systeme der natürlichen Sprachen aufgefasst, sowohl in ihren mündlichen als auch in ihren schriftlichen Manifestationen. Unter dem Begriff der nichtsprachlichen Phänomene bzw. Zeichen werden sowohl außersprachliche Phänomene bzw. Zeichen (Bilder, Artefakte etc.) als auch die parasprachlichen Merkmale von sprachlichen Zeichen, wie die typographischen Eigenschaften bei Schriftzeichen zusammengefasst (vgl. Posner 1985: 237ff).
3
Damit wird Interpretation hier im weiteren, erkenntnistheoretischen Sinne verstanden (vgl. Lenk 1996, Schalk 2000: 12ff, Abel 2004 u.ö.) und nicht im eingeschränkten Sinne einer methodischen, regelgeleiteten Auslegung sprachlicher oder bildlicher Texte (Unterscheidung bei Spree 1995: 45ff).
O BJEKT -Z EICHEN UND U MWELT -I NTERPRETATIONEN
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Wenn wir mit Morris davon ausgehen, dass die Existenz von Zeichen immer einen Interpretationsprozess voraussetzt, ist es nicht hinreichend, zu bestimmen, was ein Zeichen ausmacht, woraus es sich konstituiert und auf welche Weise Ausdruck und Inhalt im Zeichen verknüpft sind. Vielmehr müssen auch die Bedingungen der Zeichenproduktion und -rezeption betrachtet werden, d.h. es ist erforderlich, den Zeichenbegriff sowohl strukturorientiert als auch prozessual zu definieren. Die Dialektik von zugrunde liegender abstrakter semiotischer Struktur auf der einen und konkretem Prozess des Zeichengebrauchs auf der anderen Seite (Saussures Unterscheidung von „langue“ vs. „parole“) wird bereits im klassischen Strukturalismus als zentral betrachtet. Untersuchungsgegenstand der Semiologie sollte jedoch nach Saussure allein die langue, die Struktur, sein (Saussure 1916/1967: 23f). Zur Explikation des Zeichenbegriffes seien daher zwei Fragen4 gestellt, welche auf die zwei unterschiedlichen semiotischen Paradigmen der Konzeption des Zeichens verweisen: 1. Was ist ein Zeichen? 2. Wann ist etwas ein Zeichen? Frage 1 nimmt Bezug auf den Untersuchungsansatz der strukturalistisch ausgerichteten Semiotik. Frage 2 steht ursprünglich für einen prozessualen, interpretationsorientierten Ansatz. Dieser Ansatz wird jedoch in Kapitel 2.1.2 zusammengeführt mit einem dyadischen, d.h. zweistelligem, strukturalistisch orientierten Konzept des Zeichens. 2.1.1 Was ist ein Zeichen? In der auf Ferdinand de Saussure zurückgehenden strukturalistischen Tradition wird das Zeichen als abstrakte zweiseitige Einheit definiert, in der ein Signifikant (der Zeichenausdruck) mit einem Signifikat (dem Zeicheninhalt) durch einen Kode verknüpft ist. Sowohl Zeichenausdruck als auch Zeicheninhalt werden von Saussure nicht als materielle, sondern als mentale Einheiten gedacht (Saussure 1916/1967: 77ff).5 Als Kode soll hier sowohl die Zuordnungsvorschrift verstanden werden, die
4
Die Form der Fragen nimmt Bezug auf Nelson Goodmans Vorschlag, zur Bestimmung des Ästhetischen die Frage „Was ist Kunst?“ durch die Frage „Wann ist Kunst?“ zu ersetzen (Goodman 1978/1984: 57).
5
Gegenstand der von Saussure begründeten sémiologie, der Wissenschaft von den Zeichensystemen, ist die Sprache als das „wichtigste“ und „charakteristischste“ Zeichen-
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die Elemente zweier strukturierter Systeme, d.h. die Elemente des Ausdruckssystems (oder Systems von Signifikanten) und die des Inhaltssystems (oder Systems von Signifikaten) korreliert als auch beiden korrelierten Systeme selbst (vgl. Eco 1976/1987: 61ff, Prieto 1966/1972: 39).6 Die Elemente eines Kodes stellen keine autonomen, positiven Größen dar, sondern konstituieren sich nur relationaldifferentiell als Werte innerhalb des Zeichensystems. Semiotisch relevant sind in der strukturalistischen Betrachtung nicht die Zeichen selbst, sondern nur die Differenzen zwischen den Zeichen: in der Sprache bezieht „jeder Begriff seinen Wert durch die Opposition zu anderen Begriffen.“7 (Saussure 1916/1972: 125f) Saussure vergleicht die Zeichen der Sprache mit den Figuren eines Schachspiels, deren Wert sich (überwiegend) in ihren unterschiedlichen Bewegungsmöglichkeiten definiert (Saussure 1916/1972: 125f, 129f und 163f). Ihre äußere Form spielt keine Rolle. Geht z.B. ein Turm verloren, kann er durch eine Münze ersetzt werden, die die gleichen Züge wie der Turm vornehmen (und sich eben dadurch z.B. von dem Läufer unterscheiden) kann. Dieses von Saussure eingeführte dyadische Zeichen- und Kodemodell wird von dem dänischen Sprachwissenschaftler Louis Hjelmslev modifiziert (Hjelmslev 1943/1974).8 Hjelmslev dynamisiert Saussures Modell, indem er den Begriff den Zeichens vermeidet. Er spricht stattdessen von der „Zeichenfunktion“, die durch die beiden Funktionsterme „Ausdruck“ und „Inhalt“ (entsprechend Saussures Signifikant und Signifikat) gebildet wird (Hjelmslev 1943/1974: 52). Ausdruck und Inhalt können nicht entkoppelt werden, sie setzen sich gegenseitig voraus,9 oder, in der Formulierung von Roland Barthes: „Sowohl der Signifikant wie das Signifikat [sind] Glied und Beziehung zugleich.“ (Barthes 1964/1983: 41) Hjelmslev differenziert auf Ausdrucks- und Inhaltsebene weiter in jeweils drei Unterebenen. Diese bezeichnet er als Form, Substanz und Materie, d.h. es ergeben sich die Ebenen der Ausdrucksform, -substanz und -materie auf der einen und der system (Saussure 1916/1967: 19, 80). Entsprechend wird der Signifikant von Saussure als (mentales) „Lautbild“ konzipiert, das Signifikat als mit diesem durch „psychologische Assoziation“ verbundene „Vorstellung“ (Saussure 1916/1967: 79) . 6
Zur Genese des Kodebegriffes im Spannungsfeld zwischen den beiden Ursprungsbedeutungen Zuordnungsregel und Zeichensystem vgl. Nöth 2000: 217.
7
Übersetzung nach Nöth 2000: 205.
8
Die folgenden Ausführungen stellen eine verkürzte Deutung von Hjelmslevs Modell dar, vgl. auch Eco 1976/1987: 81, Trabant 1981: 152f.
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Das Zeichen ist für Hjelmslev nicht Zeichen als Ausdruck für einen Inhalt (aliquid stat pro aliquo), vielmehr ist es Zeichen für eine Inhaltssubstanz und Zeichen für eine Ausdruckssubstanz, es weist wie ein Januskopf in zwei Richtungen (Hjelmslev 1943/1974: 60f).
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Inhaltsform, -substanz und -materie auf der anderen Seite. Dabei bildet die Materie die semiotisch noch nicht strukturierte materielle Basis, die „amorphe Masse“ der noch nicht geformten Welt. Erst durch die Ausdrucksformen und den mit diesen durch die Zeichenfunktion verknüpften Inhaltsformen wird die Materie im Interpretationsprozess in die Ausdruckssubstanzen, die konkreten Zeichenausdrücke, sowie die Inhaltssubstanzen, die konkreten Inhaltseinheiten, gegliedert. Ausdrucksform und Inhaltsform sind für Hjelmslev reine, abstrakte Formen ohne Substanz. Hjelmslev vergleicht die Form mit einem Netz, das durch seinen Schatten eine Oberfläche unterteilt: „Kraft der Inhaltsform und der Ausdrucksform […] existieren die Inhaltssubstanz und die Ausdruckssubstanz, die dadurch entstehen, daß die Form auf die Materie10 projiziert wird, so wie ein ausgespanntes Netz seine Schatten auf eine ungeteilte Fläche niederwirft.“ (Hjelmslev 1943/1974: 60)
Mit Hilfe der Inhaltsformen gliedern die Einzelsprachen einen Wirklichkeitsbereich (die Materie) auf unterschiedliche Weise: während beispielsweise das Deutsche sprachlich zwischen /Holz/ und /Wald/ unterscheidet, also mit Hilfe von zwei Ausdrucks- und den zugeordneten Inhaltsformen zwei Inhaltssubstanzen konstituiert, kann das englische /wood/ (eine Ausdrucksform mit der korrespondierenden Inhaltsform), aus der Sicht eines deutschen Sprechers gedacht, sowohl für die Inhaltssubstanz als auch stehen (Hjelmslev 1943/1974: 57). 11 Hjelmslevs Gliederung der Ebene der Materie in Ausdruck und Inhalt soll hier jedoch nicht übernommen werden. Die Ausdrucksmaterie ist bei Hjelmslev sprachlich gedacht, eine Anwendung auf nichtsprachliche Gegenstände daher problematisch. Vielmehr wird mit Eco nur von einer Materie als der noch nicht semiotisch strukturierten materiellen Basis der Erkenntnis ausgegangen (Eco 1984/1985: 74f, siehe Abb. 1). Die Materie ist das, was „das Zeichen motiviert“ (Eco 1984/1985: 74), sie ist das „Reale“, das uns jedoch nur vermittelt über die semiotischkonzeptionelle Strukturierung zugänglich ist. Strukturierung der Materie und Ausdrucks- und Inhaltsbildung gehen dabei Hand in Hand: „Die Materie, die segmentiert wird, um etwas auszudrücken, drückt andere Segmentationen dieser Materie aus“ (Eco 1984/1985: 75). So kann z.B. ein Segment der Materie wie ein 10 Die zitierte deutsche Übersetzung verwendet „Sinn“ für Hjelmslevs „purport“ oder „matière“, dies wurde korrigiert, um die Konsistenz der Terminologie zu erhalten. 11 Die Begriffe ‚Ausdruck‘ und ‚Inhalt‘ stehen in dieser Arbeit immer auch für die jeweils in einem konkreten Interpretationsprozess aktualisierte Ausdrucks- oder Inhaltssubstanz und nicht allein für die abstrakte Form. Geht es nur um die Form oder die Substanz werden diese spezifisch durch diese Begriffe oder andere Umschreibungen benannt .
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graphisches Verkehrszeichen ein anderes Segment der Materie wie die Handlungsanweisung „Anhalten“ ausdrücken. 12 Abbildung 1: Hjelmslevs Modell der Zeichenfunktion
Quelle: modifiziert nach Eco 1984/1985: 75.
Substanz und Form können immer nur relational im Bezug auf ein spezifisches System (z.B. das Sprachsystem) verstanden werden: „Was unter einem Gesichtspunkt ‚Substanz‘ ist, wird unter einem anderen Gesichtspunkt ‚Form‘, was damit zusammenhängt, daß Funktive nur Endpunkte und Schnittpunkte für Funktionen bedeuten.“ (Hjelmslev 1943/1974: 80) Nicht-linguistische Wissenschaften segmentieren die Materie wieder in jeweils spezifische, nicht-sprachliche Formen.13
12 Hjelmslevs Zeichenmodell kann auch kognitivistisch gedeutet werden: Das Wirklichkeitskontinuum (Hjelmslevs Materie) wird in der Kognition mittels genetisch angelegter und durch Kultur und Sprache geprägte Schemata strukturiert (vgl. Eco 1997/2000: 294). Diese Schemata können mit Hjelmslev als Formen aufgefasst werden. Sie legen sowohl die als Ausdruck fungierenden Einheiten (seien es Lautfolgen, geschriebene Wörter oder Alltagsgegenstände, d.h. sprachliche oder nichtsprachliche Gegenstände) als auch die zugeordneten Inhalte fest (Hjelmslevs Ausdrucks- und Inhaltssubstanzen). Aus kognitivistischer Sicht kann die Ausdruckssubstanz als sensorischer Stimulus, die Inhaltssubstanz als mentales (Individual-) Konzept betrachtet werden (vgl. Kap. 2.3). 13 Für Hjelmslev sind nur die Ausdrucksformen und Inhaltsformen Untersuchungsgegenstand der von ihm begründeten linguistischen Theorie der Glossematik. Zuständig für die
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Hjelmslev spricht hier implizit die Perspektivität jeglicher Interpretation an, die uns in Kapitel 2.2.3.4 noch genauer beschäftigen soll. Die Materie, die materielle Basis des Zeichens, kann selbst wieder semiotisiert (als geformte Substanz bestimmt) werden, so kann z.B. die Typographie eines Ladenschildes zum Ausdruck des Inhalts: ‚stammt aus den 70er Jahren‘ werden. Die strukturalistische Tradition der Semiotik ist unter die objektbezogenen Ansätze der Zeichentheorie einzuordnen (Posner 1996: 1658). Der objektbezogene Ansatz beschäftigt sich mit organismusexternen Gegenständen (Zeichen, Signalen etc.). Kommunikation und Signifikation werden ausgehend von den externalisierten Repräsentationen untersucht. Dagegen interessiert sich der subjektbezogene Ansatz für die organismusinternen Vorgänge und Einstellungen wie Glauben und Intendieren, die in der Interpretation wirken und Signifikation und Kommunikation erst ermöglichen. Mit der Frage „Wann ist etwas ein Zeichen?“ werden im folgenden Unterkapitel beide Aspekte angesprochen: die strukturalistische Auffassung des Zeichens als Einheit von Ausdruck und Inhalt wird integriert in ein prozessuales interpretativkognitives Signifikations- und Kommunikationsmodell. Ein wichtiger Vertreter dieser ‚stukturalistisch-kognitiven Semiotik‘ ist Luis J. Prieto, die Ausführungen in Kapitel 2.1.2 bauen überwiegend auf seiner Theorie auf. 2.1.2 Wann ist etwas ein Zeichen? Die Äußerung eines Satzes, das Montieren eines Ladenschildes, das Lesen eines Verkehrszeichens oder das Deuten eines Gesichtsausdruckes: alle diese Handlungen sind Beispiele für den Gebrauch von Zeichen, sei es als Zeichenproduktion oder Zeicheninterpretation. Das Schild ‚Bäckerei‘ an einem Geschäft zeigt einem Interpreten den konkreten materiellen Zeichenträger |Bäckerei| (als schriftsprachliches Wort). Dieser Zeichenträger ist ein Ausdrucksexemplar (oder Ausdruckstoken). Er entspricht Hjelmslevs
Untersuchung der Substanz seien andere Wissenschaften, wie beispielsweise die Physik (Hjelmslev 1943/1974: 78). Diese Einschränkung des semiotischen Untersuchungsfeldes kann in dieser Arbeit nicht übernommen werden. Wie wir im Kap. 2.2 sehen werden, können bei der Konstitution von konkreten Objekten als Zeichen auch Aspekte der Ausdruckssubstanz, d.h. Eigenschaften des individuellen Objekts, zu wichtigen Trägern von Bedeutung werden. Die hjelmslevsche Zeichenkonzeption wird hier, trotz ihrer von Hjelmslev selbst gesetzten Grenzen, bewusst als Grundlage gewählt, weil im Hjelmslevschen Modell die Ebene der Substanz als die in der Interpretation geformte konkrete Materialität des Zeichens anders als bei Saussure nicht vollkommen ausgeklammert wird.
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Ausdruckssubstanz. Grundlage dieser konkreten Realisierung |Bäckerei| ist ein orthographisches Muster des Wortes, der abstrakte Ausdruckstyp /Bäckerei/ (entspricht Hjelmslevs Ausdrucksform). Dieses wird vom Interpreten erkannt und durch Nutzung des Kodes der deutschen Sprache mit dem abstrakten Inhaltstyp (der Inhaltsform bei Hjelmslev) verknüpft. Durch Einbeziehung des räumlichen Kontextes (der Anbringung des Schildes über dem Schaufenster) wird der konkrete Inhalt vom Interpreten erschlossen (als Inhaltsexemplar oder -token, entspricht Hjelmslevs Inhaltssubstanz).14 Anzumerken ist hier, dass Exemplar und Token im Folgenden terminologisch unterschieden werden: Der Begriff Exemplar wird verwendet, wenn die Zugehörigkeit zu einem Typ im Mittelpunkt steht. Wird jedoch ein singuläres Objekt überwiegend unter dem Gesichtspunkt seiner spezifischen individuellen Eigenschaften betrachtet, spreche ich von Token.15 Es tritt hier ein Zeichennutzer (im Folgenden Interpret genannt) in einen Interpretationsprozess ein, indem er ein ‚Etwas‘, d.h. einen sinnlich wahrnehmbaren Sachverhalt oder ein Objekt16 (Hjelmslevs Ausdrucksmaterie, oder genauer: bereits einen Ausschnitt der Materie), mit Hilfe eines Kontextes als Zeichenträger (im Sinne von Hjelmslevs Ausdruckssubstanz) konstituiert und ihn mit einem konkreten Inhalt (im Sinne von Inhaltssubstanz) verknüpft. Wenn dem Zeichenträger ein Inhalt zugeordnet wird, findet eine Semiose statt. 17 14 Der Begriff des Typs als virtuelles Ergebnis einer Objektkategorisierung wird in Kap. 2.2 noch genauer expliziert. Deutlich darauf hingewiesen muss jedoch schon an dieser Stelle, dass mit der Postulierung einer Ausdrucksform/eines Typs immer schon eine ihr korrespondierende Inhaltsform vorausgesetzt ist (vgl. Hjelmslevs Janusköpfigkeit des Zeichens), aus der dann pragmatisch das Inhaltsexemplar abgeleitet wird. 15 Diese Differenzierung zwischen in der semiotischen Theorie meist synonym gebrauchten Begriffen wird gewählt, um die Individualität von Objekten des städtischen Raums, welche oft über die Eigenschaft, Exemplare eines Typs zu sein hinausgeht, angemessen darstellen zu können. Vgl. auch Peirces Unterscheidung zwischen token und instance (bzw. sinsign und replica), die der hier gemachten Unterscheidung Token – Exemplar entspricht (Peirce 1931-1958: CP 4.537, Peirce 1998: 291). Exemplar soll somit immer auf die Zeichenform bezogen sein, Token auf die Substanz (vgl. auch Posner 1986: 1048). 16 Der Objektbegriff wird in Kap. 2 behandelt. In der theoretischen Grundlegung nutze ich hier überwiegend Prietos Begriff des ‚Sachverhalts‘ (fait), vgl. Prieto 1966/1972: 23f, 1975: 15f. 17 Der von Charles S. Peirce geprägte Begriff der semiosis (Peirce 1931-1958: CP 5.484), im Deutschen üblicherweise als Semiose oder als Zeichenprozess übersetzt, kann auch als Interpretationsprozess aufgefasst werden (Kappner 2004: 156). Kappner nimmt an, dass Peirce den noch unverbrauchten Begriff der Semiose dem Begriff der Interpretation
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Für Charles S. Peirce (Peirce 1931-1958: CP 5.472, 5.484) stellt die Semiose den Prozess dar, durch den das Zeichen auf seinen Interpreten einen kognitive Wirkung („cognitive effect“) ausübt. Diese kognitive Wirkung wird von Peirce als der Interpretant des Zeichens bezeichnet.18 Peirces triadisches Zeichenkonzept19 ist nicht maßgebliche Grundlage der theoretischen Modellbildung in dieser Arbeit. Wichtig ist jedoch Peirces Begriff der unbegrenzten Semiose: der Interpretant ist für Peirce ein weiteres Zeichen, das wieder zum Ausdruck eines neuen Zeichens werden und potentiell einen Prozess unbegrenzter Semiose in Gang setzen kann (CP 2.303, 2.92). Anzeichen und Signale – Signifikation und Kommunikation Voraussetzung für die Konstitution eines Sachverhalts als Zeichenträger durch einen Interpreten ist demnach, dass a ) der Sachverhalt als ein Exemplar [x] des Typs kategorisiert wird20 (o d e r, wenn es sich wie im obigen Beispiel um einen konkreten sprachlichen (welcher bei Peirce nicht vorkommt) vorzieht, um vorzeitige Bedeutungsfixierungen des Begriffs, z.B. eine Einschränkung auf literarische Interpretation, zu vermeiden. Die Begriffe Zeichenprozess und Interpretationsprozess beziehen sich auf den gleichen Prozess, die Semiose, beschreiben ihn jedoch aus zwei Perspektiven, zum einen als vom Zeichen ausgehenden Akt, zum zweiten als Handlung des interpretierenden Geistes, d.h. objektbzw. subjektbezogen (Fisch 1986: 329). 18 Der Interpretant kann kognitivistisch als mentale Repräsentation gedeutet werden, die Reihe und Verflechtung der Interpretanten in der Semiose entspricht dem Modell der konzeptuellen Netzwerke wie Schemata oder Scenes (vgl. Nöth 2000: 234, s.a. Eco zur kulturellen Einheit als Interpretantenkette, als komplexe mentale Repräsentation in Kap. 2.2.2). 19 Drittes Korrelat in Peirces triadischer Zeichenkonzeption neben dem Zeichenträger (auch als Repräsentamen bezeichnet) und dem Interpretanten ist das Objekt, es ist das, was durch das Zeichen repräsentiert wird. Peirce unterscheidet zwischen unmittelbarem und dynamischem Objekt, das dynamische Objekt entspricht in etwa der hier verwendeten Definition des Referenten (s.u. in diesem Unterkapitel). Der peircesche Begriff des Objekts darf nicht dem Objektbegriff Prietos (s.u. Kap. 2.2.1) verwechselt werden. 20 Die Auswahl und Kategorisierung des Zeichenträgers wird bei der semiotischen Betrachtung von sprachlichen Zeichen und sprachlicher Interpretation meist nicht thematisiert und implizit als gegeben vorausgesetzt. Bei der Untersuchung von nichtsprachlichen Zeichen ist der Kategorisierungsvorgang als elementarer Bestandteil der Interpretation jedoch unbedingt zu berücksichtigen (vgl. auch Kap. 2.2.2 und 2.2.3.1 zum ObjektZeichen). Weiterhin ist zu betonen, dass auch der Ausdruck strenggenommen nicht einem
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Ausdruck handelt, der Ausdruck |x| als Exemplar des Typs /x/ kategorisiert wird) u n d b) dieser Typ (bzw. /x/) mit einem Typ verknüpft wird (sei es durch die Anwendung eines konventionellen Kodes oder eines Erfahrungsschemas) und daraus ein anderer konkreter Sachverhalt abgeleitet werden kann (vgl. Prieto 1975a: 15).21 [x] ist der konkrete Ausdruck (die Ausdrucksubstanz), der konkrete Inhalt (die Inhaltssubstanz). Wenn ein Sachverhalt [x] von einem Empfänger als Zeichenträger konstituiert und mit einem Inhalt verknüpft wird, soll dieser Zeichenprozess Signifikation heißen. Es handelt sich hier um einen grundlegenden, jeglichem Zeichenhandeln zugrunde liegenden Prozess. Ein konventioneller Kode (zum Begriff der Konvention siehe Kap. 2.2.3.1) muss nicht beteiligt sein. Sachverhalte können in unterschiedlicher Weise als Zeichen fungieren, je nachdem, ob sie absichtlich oder nicht absichtlich als Zeichen produziert wurden. Dazu ein Beispiel: Bemerkt A auf dem Bürgersteig einer Stadtstraße eine weggeworfene Zigarettenschachtel, so erkennt sie dieses Objekt [x] als (wenn es sehr zerknüllt wäre, würde sie es möglicherweise nur als kategorisieren). Folgende Interpretationen von A sind, bei Berücksichtigung zweier unterschiedlicher Annahmen, möglich: a) Der Sachverhalt [x] als Anzeichen: Wenn A den Kontext (den Fundort etc.) einbezieht, kann sie schließen, dass wahrscheinlich ein Raucher S die Schachtel weggeworfen hat, weil sie leer war (Inhalt ). In diesem Fall handelt es sich für sie (als die Empfängerin) bei [x] um ein Anzeichen, ein nicht-intentional produziertes Zeichen (Prieto 1975a: 15). Der Sachverhalt [x] wurde nur von A als Zeichenausdruck gedeutet. Sie kann zwar davon ausgehen, dass ein ‚objektiv gegebenen‘ materiellen Zeichen entspricht, sondern selbst schon eine kognitive Repräsentation darstellt, die im Wahrnehmungsprozess vom Interpreten konstituiert wird. Sowohl Ausdruckstyp und Ausdrucksexemplar als auch Inhaltstyp und -exemplar sind folglich als mentale Größen anzusehen. 21 Prieto benutzt nicht den Begriff ‚Zeichen‘ oder ‚Zeichenträger‘, sondern spricht von ‚Index‘. Ich werde im Folgenden von Zeichenträger oder Ausdrucksexemplar etc. sprechen, und den Begriff Index nur für das indexikalische Zeichen im Sinne von Peirce verwenden (vgl. Kap. 2.2.3.1) In seinen Schriften „Nachrichten und Signale“ (1966/1972) und „Pertinence und pratique“ (1975) spricht Prieto ferner noch nicht von ‚Typen‘, sondern von ‚Klassen‘ und modelliert seine Theorie in der Sprache der Mengenlogik. Diese Begrifflichkeit wird hier nicht übernommen, da sie die Zugänglichkeit seines Ansatzes beträchtlich erschwert.
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Zeichenproduzent (der Sender) S existiert, dieser ihr jedoch sicher nicht intentional den Sachverhalt übermitteln wollte, dass (d.h., dass er Raucher ist und dass er die Schachtel weggeworfen hat). Wenn ein Sachverhalt zum Zeichenträger für einen Interpreten wird, ohne dass er für diesen Zweck hergestellt wurde, ist er ein Anzeichen. Anzeichen können einerseits einen natürlichen Ursprungs haben (die dunklen Wolken am Himmel sind Anzeichen für möglicherweise bald einsetzenden Regen, der staubige Boden zeigt, dass es lange trocken war). Sie können jedoch auch nicht-intentional von Menschen produziert sein. So verweist z.B. ein bestimmtes Mienenspiel auf Langeweile oder ein bestimmter Habitus (Kleidung, Sprechweise etc.) auf die Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht, ohne dass diese Verweisung von dem Sender beabsichtigt sein muss. b) Der Sachverhalt [x] als Signal: Eine weitere mögliche Annahme von A wäre, dass diese Schachtel als Zeichen, z.B. einer Schnitzeljagd, vereinbart und bewusst an diese Stelle gelegt wurde (Inhalt ). Kennt A eine Gruppe von Menschen, von denen sie weiß, dass sie scheinbar unauffällige Alltagsobjekte nutzen, um sich gegenseitig im Stadtraum geheime Nachrichten zu hinterlassen, so kann sie auch diesen Sachverhalt als möglich annehmen. Sie identifiziert die Zigarettenschachtel als intentional produziertes Zeichenausdrucksexemplar eines Senders oder einer Gruppe von Sendern, als Signal (Prieto 1975a: 16). Für Prieto handelt es sich nur dann um Signale, wenn die Zeichen ausdrücklich zu dem Zweck produziert wurden, als Zeichen für einen spezifischen Inhalt zu fungieren und wenn vom Empfänger auch erkannt wird, dass sie intentional zu diesem Zweck produziert wurden (Prieto 1966/1972: 51, Prieto 1975a: 16). Der vom Sender intendierte Inhalt eines Signals wird als Botschaft bezeichnet. Wenn ein Ausdrucksexemplar [x]22 von einem Sender erzeugt wird, um eine Botschaft an einen Empfänger zu übermitteln und wenn diese Absicht von dem Empfänger auch erkannt wird, ist dieses Ausdrucksexemplar ein Signal. Es liegt ein Zeichenprozess der Kommunikation vor. Jedem Kommunikationsprozess liegt ein Signifikationsprozess zugrunde, da jedes Signal qua Definition auch Zeichenträger für einen Interpreten ist. Als Signale fungieren können mündliche oder schriftliche verbale Zeichen, Bilder, nichtfigürliche graphische Zeichen wie Verkehrszeichen, aber auch Gesten oder Töne, wie z.B. in der Musik. Signale können verwendet werden, um auf konkrete Tatbestände der Welt zu verweisen. Genauer gesagt, die Botschaft eines Signals kann sich auf bestimmte materielle oder mentale Objekte beziehen, diese sind die Referenten der Botschaft und damit auch des Signals (Prieto 1989, 1991 zit. nach Blanke 2003: 57, 192). Die Äußerung ‚Die 22 Bzw. |x|, wenn es sich um eine sprachliche Äußerung handelt.
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Nationalgalerie am Kulturforum hat montags geschlossen‘ verweist auf die von Mies van der Rohe gebaute Nationalgalerie an der Potsdamer Straße, das Objekt [Nationalgalerie] ist der Referent. Der Referent darf weder mit dem Inhaltstyp noch mit dem Inhaltsexemplar eines Zeichens verwechselt werden, er ist das Objekt, über das man in einem spezifischen Kommunikationsakt durch das Signal Wissen erlangt (Blanke 2003: 57). Hervorzuheben ist, dass Kommunikation auch dann vorliegt, wenn die vom Sender intendierte Botschaft nicht mit der Empfängerinterpretation übereinstimmt, sondern differiert. In der hier verwendeten Definition werden Signifikation und Kommunikation an die Begriffe des Zeichens bzw. des Signals gekoppelt. Wird ein Objekt von einem Empfänger als Zeichen mit einem Inhalt konstituiert, liegt Signifikation vor. Das Zeichen ist immer mindestens ein Anzeichen. Wird ein Zeichen von einem Sender intentional produziert und von dem Empfänger zusätzlich als intentional geäußertes interpretiert, handelt es sich um Kommunikation, das Zeichen ist Signal. Sowohl Signifikation als auch Kommunikation werden hier prozesshaft verstanden (vgl. auch Barthes 1964/1983: 41, der die Signifikation als ‚Akt‘ auffasst, dessen Produkt das Zeichen ist). Ich wähle diese weite Begriffsbestimmung der Signifikation als grundlegender Form des Zeichenprozesses,23 um die Art der Semiosen beschreiben 23 Der in dieser Arbeit angewendete weite Signifikationsbegriff entspricht dem von Morris: „Signifizieren“ bzw. „Signifikation haben“ heißt „als ein Zeichen in einem Prozess von Semiose fungieren“ (Morris 1946/1973: 422). Vgl. ähnlich auch Nöth (2000: 228), Krampen (1981: 111 und 1981: 376) in Erweiterung von Prietos Signifikationsbegriff sowie Agrest (1978: 219f). Damit unterscheidet sich hier dargestellte Typologie der Zeichenprozesse sowohl von Umbertos Ecos als auch von Roland Posners Differenzierungen. Eco definiert Signifikation nicht in Bezug auf einen Zeichenprozess, sondern in Bezug auf ein Zeichensystem. Signifikation ist die Relation zwischen den Elementen der beiden Ebenen eines Kodes. Ein Signifikationssystem liegt dann vor, „wenn eine sozial konventionalisierte Möglichkeit zur Erzeugung von Zeichen-Funktionen“ (im Sinne von Hjelmslev, s.o.) gegeben ist (Eco 1976/1987: 23). Für Eco stellt Signifikation die grundlegende Zeichenfunktion dar, Zeichen signifizieren ihren Inhalt, der eine kulturelle Einheit (s.u. Kap. 2.2.2) darstellt (Eco 1976/1987: 99). Es handelt sich folglich immer um konventionell kodierte Zuordnungen. Im Kommunikationsprozess werden unter Nutzung des zugrunde gelegten Signifikationssystems konkrete Äußerungen für praktische Zwecke erzeugt (Eco 1976/1987: 23). – Roland Posner (1992: 9) stellt der Kommunikation als intentionalem Zeichenprozess unter Beteiligung eines Senders und eines Empfängers (basiert nicht notwendig auf einem Kode) die nicht-intentionalen Prozesse der Signifikation und der Indikation gegenüber. Bei der Signifikation ist immer ein Kode beteiligt, es muss jedoch
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zu können, die bei der Interpretation von nicht-intentionalen objekthaften Zeichen, also Anzeichen, anhand schwacher, wenig konventionalisierter Kodes zum Tragen kommen.24 Aus dieser weiten Bestimmung folgt auch, dass in der Signifikation alle drei Dimensionen der Semiose wirksam werden können: die syntaktische, die semantische und die pragmatische.
keinen Sender geben, bei der Indikation handelt es sich um einen nicht kodierten Zeichenprozess mit oder ohne Sender. – Prieto fasst den Begriff der Signifikation ebenfalls enger, für ihn untersucht die Semiologie der Signifikation nur solche nichtintentionalen Zeichen, bei denen die Ausdrucks-Inhalts-Relation durch eine soziale Konvention bestimmt ist, damit ist sein Signifikationsbegriff dem Posners analog. „Nous croyons pouvoir définir la ‚signification’ […] comme la relation qu’il y a entre un indice et son indiqué lorsque cette relation n’est pas naturelle mais a été instituée par un groupe social.“ (Prieto 1975b: 129) Dagegen ist Prietos Begriff der Indikation, wie er in Prieto 1975a: 15 definiert ist, meinem Signifikationsbegriff analog. Auf die Problematik der Differenzierung zwischen „natürlichen“ und kodierten Semiosen weist z.B. Eco hin (Eco 1976/1987: 39f). Zur damit verknüpften Bestimmung des Kodebegriffs siehe Kap. 2.2.3.1. – Interessant ist auch die Konzeption von Volli (Volli 2000/2002: 7ff), der die Opposition Signifikation - Kommunikation (als kein Sender vs. Sender) auflöst, und Signifikation ebenfalls als Kommunikation ansieht. Volli unterscheidet zwischen: a) „eigentlicher Kommunikation“: Kommunikation wird verstanden über einen Kode und kommunikative Leistung wird erbracht von dem Sender und b) Kommunikation als „Bedeutung“ (oder Signifikation): wird verstanden über Regeln und Abduktion, die kommunikative Leistung wird erbracht von dem Empfänger. 24 Auch eine Unterscheidung zwischen kodeloser Indikation und durch (kulturelle) Kodes geleiteter Signifikation, wie sie Roland Posner vornimmt (1992: 9, s.o.), wäre bei der Anwendung auf objektbezogene Zeichenprozesse (besonders solchen in einer städtischen, von sozialen Tatbeständen geprägten Umwelt) nur beschränkt sinnvoll. Handelt es sich z.B. bei dem Schluss von einer hohen Anzahl von Billigläden in einem Gebiet auf eine niedrige Kaufkraft der Wohnbevölkerung um eine kulturell kodierte oder eine kodelose Semiose? Bei dem Inhalt handelt es sich um einen sozialen Tatbestand, allerdings ist das Wissen, dass arme Menschen preiswerte Waren kaufen, eher als (wenn auch vielleicht konventionalisiertes) Erfahrungswissen oder sogar allein als inferenzbasiert zu bewerten.
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Die Dimensionen der Semiose: Syntaktik, Semantik, Pragmatik Zeichenäußerungen können aus sehr unterschiedlichen Perspektiven betrachtet werde, je nachdem ob man die interne Ordnung und Strukturierung ihrer Elemente, die angewendeten Kodes oder die Beziehung zwischen Zeichen und Produzent bzw. Interpret in den Vordergrund rückt. Aus dieser Gliederung ergibt sich die auf Charles Morris (Morris 1938/1972) zurückgehende Unterscheidung von drei Subdisziplinen der Semiotik: Syntaktik, Semantik und Pragmatik, die jeweils eigene Theorien entwickeln. Die Syntaktik untersucht die Ausdrucksseite der Zeichen; sie beschäftigt sich mit den Relationen zwischen den Zeichenausdrücken und der Kombination einzelner Zeichenausdrücke zu komplexen Zeichen (vgl. auch Posner/Robering 1997: 14ff). Untersuchungsgegenstand der Semantik ist die kontextunabhängige Bedeutung von Zeichen, d.h. die Beziehung zwischen Ausdrucksform und Inhaltsform. Die Semantik beschäftigt sich mit der Struktur von Kodes und entwickelt Kodetheorien. Die Pragmatik untersucht die Verwendung und Wirkung von Zeichen, d.h. die kontextabhängige Bedeutung. Sie beschäftigt sich mit Senderintentionen und Empfängerinterpretation.25 Die syntaktische Dimension soll in dieser Arbeit schwerpunktmäßig durch die Analyse der Straße als Syntagma und komplexes Objekt vertreten sein (s. Kap. 2.2.4 und 4.3.3). Die Unterscheidung zwischen Paradigma und Syntagma stellt die dritte wichtige Dichotomie der strukturalistischen Semiotik neben den Oppositionen Ausdruck vs. Inhalt und Struktur vs. Prozess dar. Paradigma und Syntagma sind die beiden grundlegenden Relationen zwischen Elementen eines Zeichensystems (Saussure 1916/1967: 147 ff, Hjelmslev 1943/1974: 13, Barthes 1964/1983: 49ff). Die Elemente werden im Zeichengebrauch in einer zeitlichen Kette oder in einer räumlichen Anordnung kombiniert (syntagmatische Relation) und sie sind nach bestimmten Regeln austauschbar bzw. assoziativ (paradigmatische Relation). In Kapitel 2.2.4 und 3 werde ich diskutieren, inwieweit auch Objektkonfigurationen wie Straßen als Syntagmen konzipiert und welche paradigmatischen Elemente ggf. bestimmt werden können. Die Grenzziehung zwischen pragmatischer und semantischer Analyse erweist sich besonders bei der Anwendung auf zeichenhafte Objekte als problematisch (vgl.
25 Die semantische und pragmatische Dimension kann man parallelisieren mit Posners Unterscheidung in objekt- und subjektbezogene Ansätze (s.o.), jedoch sind die Begriffe nicht äquivalent: festgestellt werden kann, dass objektbezogene Ansätze vorwiegend mit semantischen Theorien arbeiten, subjektbezogene mit pragmatischen (Posner 1996: 1658f).
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Kap. 2.2.3.1).26 Anders als viele sprachliche Ausdrücke (z.B. das Wort /Hund/), mit denen wir, auch unabhängig von einem Kontext, durch den Kode vorgegebene, relativ eindeutige und nur durch eine geringe Zahl von Merkmalen definierte Konzepte verbinden, signifizieren konkrete Objekte auf unterschiedlichen Ebenen, sei es durch ihre Gebrauchsfunktion, eine symbolische Bedeutung oder ihre Materialität. Welche Zeichenebenen oder -aspekte einer konkreten Objekt-Interpretation zugrunde gelegt werden, ist pragmatisch bedingt: abhängig von dem Interpretationskontext werden die relevanten Aspekte ausgewählt. Kontext und Relevanz – zwei Schlüsselbegriffe der Pragmatik Das Zigarettenschachtelbeispiel zeigte, dass wir die Objekte unserer Umwelt immer nur in Beziehung zu ihrer Umgebung, in einem bestimmten Kontext wahrnehmen und interpretieren. Die leere Zigarettenschachtel fand A auf der Straße und nicht zu Hause auf dem Küchentisch (wo sie ihr z.B., sofern sie Raucherin wäre, anzeigen könnte: ‚die Zigaretten sind alle, wir müssen neue kaufen‘). Wenn wir die Phänomene um uns herum wahrnehmen und interpretieren, seien es die Nachrichten im Radio, den Autolärm auf der Straße, die laut zwitschernden Vögel auf den Bäumen, so verbinden wir die Radionachrichten mit dem Wissen, das wir sonst über das Thema besitzen, wir vergleichen die laute Straße mit ruhigeren und merken, dass die Vögel vor einigen Wochen, als es noch Winter war, kaum zu hören waren. Wir interpretieren nie nur etwas, sondern wir interpretieren dieses etwas in seinem aktuellen räumlichen und zeitlichen Zusammenhang und in Beziehung zu unseren Annahmen (unserem Wissen, unseren Erwartungen und Einstellungen), die wir bezüglich dieses Sachverhalts haben. Interpretation ist immer in einen Kontext eingebettet. Kontext 27 wird hier als Sammelbegriff für alle Tatbestände bzw. deren mentale Repräsentationen verstanden, die in der Interpretation wirksam werden können.28 26 Semiotiker wie Umberto Eco (in Eco 1976/1987) und Luis Prieto (s.o) haben auf unterschiedliche Weise versucht, beide Perspektiven zu integrieren, um zu einem besseren Verständnis von Interpretationsprozessen zu gelangen. 27 Während der Kontextbegriff in der linguistischen Pragmatik eine zentrale Rolle innehat, scheint er in der Semiotik nur eine Randposition einzunehmen. So wird ‚Kontext‘ in Nöths Handbuch der Semiotik (Nöth 2000) nicht als zentraler Begriff behandelt, die Kontextgebundenheit der Interpretation nichtsprachlicher Zeichen wird nicht thematisiert. Auch im Handbuch der Semiotik (Posner/Robering/Sebeok 1997 u.ö.) wird der Begriff nur im Pragmatik-Artikel (Posner 1997) eingeführt, auch die Unterscheidung Kontext/ Kotext wird z.B. nicht umfassend problematisiert. 28 Damit handelt es sich bei allen Kontextformen nicht um objektive Größen, sondern um deren kognitive Repräsentationen durch den Interpreten. Der Kontextbegriff ist also wie
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Dies ist zum einen die konkrete materielle zeiträumliche Umgebung des interpretierten Objekts, der Kotext. Der Kotext eines Wortes in einer sprachlichen Äußerung ist der Satz oder der Text, dessen Teil es ist (vgl. auch Eco 1990/1992: 353 f). Bei dem Kotext eines städtischen Objekts handelt es sich um seine (als solche wahrgenommene) stabile Einbettung primär in den städtischen Raum, d.h. um die angrenzenden Gebäude, Geschäfte, Straßen etc., ggf. aber auch in eine erweiterte regionale und überregionale Umwelt.29 Individuelles Wissen und Einstellungen des Interpreten sollen als Wissenskontext bezeichnet werden. Dritte Komponente ist schließlich der jeweils aktuelle situative Kontext zum Zeitpunkt der Interpretation, die Situation (Differenzierung angelehnt an Bussmann 2008: 368). Formelhaft dargestellt heißt das: Kontext = Kotext + Wissenkontext + Situation.30 Ein Sachverhalt kann immer nur aus einer bestimmten Perspektive erkannt und als Zeichen konstituiert werden (zum Begriff der Perspektivität vgl. ausführlicher Kap. 2.2.3.4). Ein oder mehrere Aspekte (Eigenschaften) des Objekts werden in der Interpretation als Zeichenträger ausgewählt und mit einem Sinn verknüpft. Diese Aspekte sind die relevanten Aspekte des Objekts. Im o.g. Beispiel waren z.B. die Eigenschaften relevant, die die Identifizierung des Objekts als ‚weggeworfene Zigarettenschachtel‘ ermöglichten. Nicht relevant war (d.h. nicht zur Interpretation herangezogen wurde), ob es sich um eine 19er-Zigarettenschachtel oder eine 20erZigarettenschachtel handelte. In dem Satz: |Der BAum ist grün| ist die Tatsache, dass das A in Baum entgegen der deutschen Orthographie großgeschrieben wurde, normalerweise nicht relevant für das Verstehen der diskursiven Botschaft: . Hier muss unterschieden werden zwischen dem strukturalistischen Relevanzbegriff und der pragmatischen Konzeption von Relevanz, wie sie Sperber/ Wilson formuliert haben (1995). Der strukturalistische Relevanzbegriff31 baut auf der Typ-Token-Unterscheidung auf und ist objektbezogen: relevant sind die Eigenschaften eines Objektes (sei es, dass es intentional als Zeichen produziert wurde wie bei Sperber und Wilson kognitiv angelegt (Sperber/Wilson 1995: 15f). Eine heuristische Unterscheidung in die drei Kontextformen wurde jedoch für eine Präzisierung der Analyse als sinnvoll erachtet. Allerdings sollten die Kontextformen nicht ausschließlich gedacht werden, sondern es müssen immer Schnittmengen angenommen werden. 29 Wenn Aussagen auf den Kotext bezogen sind, wird im Folgenden daher auch von kotextuell und Kotextualisierung gesprochen. 30 Die Modellierung einer Großstadtstraße als semiotischer Raum in Kapitel 3 und die empirische Untersuchung in Kapitel 4 werden vor allem die Wirkung der Kotexte im Interpretationsprozess betrachten, Wissenkontexte und situative Kontexte werden dagegen nur peripher thematisiert. 31 Für Umberto Eco ist Relevanz ein „Schlüsselbegriff“ der strukturalistischen Semiotik (Eco 1990/1992: 179).
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sprachliche Zeichen oder nicht), die seinen Typ konstituieren und durch die es als Typ kategorisiert werden und von anderen Typen unterschieden werden kann. Diese relevanten Eigenschaften sind seine distinktiven Merkmale.32 Varianten (Token) eines Objekts umfassen immer sowohl (distinktive) Merkmale als auch (nichtdistinktive) weitere Eigenschaften. Welche Eigenschaften als distinktiv, also als Merkmale bestimmt werden, ist vom zugrunde liegenden Kategorisierungsschema (oder Kode) abhängig (Blanke 2003: 78f, s.a. Kap. 2.2.2 zu Prietos kontextuellem Relevanzbegriff). Die nichtdistinktiven Eigenschaften werden auch als nichtkodierte Eigenschaften bezeichnet (Posner 1973: 690).33 Im Folgenden wird in Anlehnung an Prieto (s. Kap. 2.2.2) überwiegend nur zwischen Merkmalen (als notwendig distinktiven Eigenschaften) und Eigenschaften allgemein unterschieden. Karl Bühler hat dieses Prinzip der abstraktiven Relevanz so formuliert: „Mit den Zeichen, die eine Bedeutung tragen, ist es [...] so bestellt, daß das Sinnending, dies wahrnehmbare Etwas hic et nunc, nicht mit der ganzen Fülle seiner konkreten Eigenschaften in die semantische Funktion eingehen muss. Vielmehr kann es sein, daß nur dies oder jenes abstrakte Moment für seinen Beruf, als Zeichen zu fungieren, relevant wird. Das ist in einfacher Weise das Prinzip der abstraktiven Relevanz.“ (Bühler 1934/1982: 44)
Dagegen definieren Sperber und Wilson Relevanz aus einer pragmatisch-subjektbezogen Perspektive: eine Annahme (und damit auch das Objekt, dessen Wahrnehmung und Interpretation Grundlage dieser Annahme ist)34 ist für ein Individuum dann relevant, wenn sie einen positiven kognitiven Effekt hat, das heißt zu neuen wahren Annahmen auf dem Hintergrund eines oder mehrerer spezifischer Kontexte
32 Welcher Typ konstituiert wird, ist abhängig vom gewählten Kode und kann nur pragmatisch, im Interpretationsprozess, entschieden werden. Dass der traditionelle strukturalistische Relevanzbegriff, wie er auf die Prager Schule zurückgeht, eher starr anmutet, liegt daran, dass dort Relevanz in Bezug auf die Distinktivität einzelner (abstrakter) Elemente, d.h. Typen, eines spezifischen Kodes bestimmt wird, und dieser Kode kontextunabhängig als gesetzt erscheint. Bühlers Relevanzkonzeption ist offener angelegt. Auch Prieto weist darauf hin, dass Relevanz nur im Zusammenhang mit Signifikation bestimmt werden kann (Prieto 1975a: 107). 33 Bei der Rede von nichtdistinktiven/nichtkodierten Eigenschaften sollte m.E. immer explizit gemacht werden, welcher Kode als der ein Objekt kodierendes vorausgesetzt wird. Leider wird dies in der semiotischen Literatur häufig unterlassen. 34 Sperber und Wilson sprechen nicht von Objekten, sondern von „phenomena“ als wahrnehmbaren Objekten oder Ereignissen (1995: 40, 153).
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führt (1995: 265).35 Relevanz ist nicht dem Objekt oder einem seiner Aspekte immanent gegeben, sondern wird erst durch ein Subjekt an das Objekt herangetragen, Relevanz ist immer Relevanz für jemanden in einem Kontext. Sperber und Wilson gehen davon aus, dass menschliche Kognition grundsätzlich auf die Maximierung von Relevanz gerichtet ist (ebd.: 260). Sie beschäftigen sich überwiegend mit individuellen Relevanzkonstitutionen in jeweils aktuellen Kommunikationssituationen. In welcher Weise und auf welchem Hintergrund Relevanzsysteme in Subjekten ausgebildet und Relevanzen auch für nicht-kommunikative Objekte der Umwelt festgelegt werden, wird von ihnen nicht näher betrachtet.36 35 Sperber und Wilson definieren den Begriff des positiven kognitiven Effekts in drei Schritten, ausgehend vom Begriff des kontextuellen Effekts: 1. Ein kontextueller Effekt ist eine zusätzliche Annahme, die aus einer Verbindung von neuer Information P und alter Information C, genauer durch Kontextualisierung von P durch C, abgeleitet wird. Ein kognitiver Effekt ist ein kontextueller Effekt im kognitiven System eines Individuums. Ein positiver kognitiver Effekt ist ein kognitiver Effekt, der in positiver Weise (d.h. indem er nicht zu falschen Annahmen führt) zur Erfüllung kognitiver Funktionen oder Ziele beiträgt (Sperber/Wilson 1995: 108, 265). 36 Sperber und Wilson stellen nur beiläufig in einem kurzen Absatz fest, dass mit der Aufmerksamkeit auf nicht-kommunikative Phänomene allein Relevanzhoffnungen („hopes of relevance“) verbunden sein könnten (während Kommunikationsakte automatisch die Annahme ihrer eigenen Relevanz vermittelten). Diese Hoffnungen seien jedoch deswegen als vernünftig und berechtigt anzusehen, weil Subjekte über gewisse angeborene oder in der Erfahrung entwickelte Interpretationsmethoden („heuristics“) verfügten, welche sie in die Lage versetzten, relevante Phänomene auszuwählen (Sperber/Wilson 2005: 156). Die Ursachen (z.B. sozial konstituierte Schemata etc.) spezifischer Relevanzsetzungen werden von Sperber und Wilson in dieser Bemerkung noch nicht angesprochen. Ferner suggeriert diese Aussage, potentiell relevante Objekte würden quasi ‚intuitiv‘ ausgewählt und erst anschließend auf faktische Relevanz überprüft. Die Ergebnisse der empirischen Analyse in dieser Arbeit weisen dagegen darauf hin, dass die Relevanz eines Objekts (als Ausdruck), die nicht allein oder dominant sensorische Relevanz ist, durch den (bereits vom Interpreten als relevant gesetzten) Inhalt motiviert ist (s.a. Kap. 3.4.5 und 4.5). Der Begriff der Relevanzhoffnung für diese Fälle ist also zumindest unglücklich gewählt. Es ließe sich fragen, ob Sperber und Wilsons ‚kognitiver Effekt‘ in einem Interpreten als Bedingung der Relevanzsetzung nicht dem entspricht, was hier ‚Inhalt‘ genannt wird, d.h., ob wir bei der Aufmerksamkeit und (relativen) Relevanzsetzung in Bezug auf jegliche nicht-kommunikative Phänomene (und nicht nur sensorisch sehr saliente) nicht sehr ähnlich vorgehen wie bei der Relevanzsetzung von kommunikativen Äußerungen. Vgl. auch Peirces Definition des Interpretanten als „cognitive effect“ des Zeichens (siehe Kap. 2.1.2 Anfang).
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Der Begriff der Relevanz wird in dieser Arbeit eher locker verwendet, er ist dem breiter angelegten Prietos (s.u. Kap. 2.2.2) näher als dem stärker eingeschränkten und formalisierten Sperber-Wilsons. Die untersuchten Stadtvorstellungen als stabilisierte, jedoch noch flexible Bilder aktueller und früherer Erfahrungen erfüllen für ihre Einzelelemente nicht zwingend Sperber-Wilsons Relevanzkriterium der Einführung einer ‚neuen Information‘. Ferner kann auch die Bedingung, dass nur ‚richtige‘ Annahmen zu Relevanzsetzungen führen, für solche, vielfach auf ‚Hörensagen‘ etc. beruhenden Zuschreibungen nicht sinnvoll aufrecht erhalten werden. Ergänzend soll hier auf die phänomenologische Relevanztheorie des Soziologen Alfred Schütz verwiesen werden (u.a. Schütz 1970/1971, Schütz 2004). Schütz nimmt individuelle subjektive Relevanzsysteme an, die auf der Basis von Wissensbeständen, welche wiederum Sedimentierungen früherer Erfahrungen darstellen, das aktuelle Denken und Handeln leiten (Schütz 1970/1971: 109). Da individuelle Erfahrungen jedoch auch immer in einem sozialen Rahmen situiert sind, sind die Relevanzstrukturen als bereits intersubjektive, sozialisierte zu begreifen: „Die als gegeben hingenommene Welt ist nicht meine private Welt, ebensowenig sind es meistenteils die Relevanzsysteme. Das Wissen ist schon sozialisiertes Wissen, und so sind es auch die Relevanzsysteme, und ist es die als gegeben hingenommene Welt.“ (Schütz 1970/1971: 110) Semiotisch formuliert heißt das: Relevanzsetzungen stützen sich auf bereits sozial kodierte Relationen, auf zeichenhafte Beziehungen zwischen wahrgenommenen Objekten und den mit ihnen konventionell oder durch Erfahrungswissen verbundenen Inhalten.37 Mit dem Relevanzbegriff in seinem Bezug auf materielle Objekte werden wir uns in Kapitel 2.2 noch näher beschäftigen.
2.2 O BJEKT-Z EICHEN
UND
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Zentral für die theoretischen Überlegungen dieser Arbeit ist der Begriff des Objekts als Zeichen oder kurz, des Objekt-Zeichens. Die potentielle Zeichenhaftigkeit von Objekten hat die Semiotik spätestens seit den 60er Jahren beschäftigt, jedoch wurde die Spezifik der Objekt-Zeichen nicht immer genügend berücksichtigt. Allgemein sind die Ansätze der semiotischen Objekttheorie eher system- als interpretationsorientiert ausgerichtet, sie beschäftigen sich überwiegend mit Objekttypen und weniger mit Objekttoken.
37 Für eine vergleichende Diskussion von Sperber-Wilsons Relevance Theory und Schütz’ Relevanztheorie siehe Straßheim 2010.
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Die Probleme der semiotischen Analyse von nichtsprachlichen Zeichen und speziell konkreten singulären Objekten der alltäglichen Wahrnehmung, die als Zeichen fungieren, ergeben sich vornehmlich aus der (manchmal nur impliziten, oft vielleicht sogar unbewussten) Anwendung des sprachlichen Modells.38 Eigenschaften sprachlicher Zeichen werden auf die Zeichenhaftigkeit von Objekten übertragen und das konkrete Objekt als Signifikant wird durch die sprachliche abstrakte Benennung ersetzt. Wie Eco deutlich macht, ist die Gleichsetzung von Zeichen und sprachlichen Zeichen Endpunkt einer Entwicklung der Zeichentheorie seit der Antike,39 die mit Saussures Cours befestigt und so auch implizite Grundlage des strukturalistischen Gedankens wurde (Eco 1984/1985: 48ff). 40 Ferner zeigt sich in der saussureschen Bestimmung der langue als idealer Schatz einer Sprachgemeinschaft und in der Nichteinbeziehung der parole in die theoretische Betrachtung eine reduktionistische Sicht auf Sprache, die die Analogiebildung zusätzlich erschwert (vgl. Bourdieu 1980/1987: 62). Ein wichtiger Unterschied zwischen Wörtern der gesprochenen oder, noch deutlicher, der geschriebenen Sprache und Objekten unserer täglichen Erfahrung besteht darin, dass wir letztere auf andere Weise individuieren als erstere. Objekte der sinnlichen Wahrnehmung sind für uns in vielen Fällen singuläre Objekte, mit bestimmten singulären materiellen Eigenschaften, die sie von anderen Objekten des gleichen oder ähnlichen Typs unterscheiden. „Dinge müssen daher zuallererst als stoffliche Qualitäten verstanden werden. Mit wenigen Ausnahmen unterscheidet die Form eines Gegenstandes diesen von jedem anderen Objekt. Die Erwartung an 38 „Eine der größten Behinderungen bei semiotischen Untersuchungen in Vergangenheit und Gegenwart war die Interpretation der verschiedenen Zeichen auf der Grundlage des linguistischen Modells und damit der Versuch, etwas den Klangparametern, dem Modell der doppelten Gliederung usw. metaphorisch Ähnliches auf diese Zeichen anzuwenden.“ (Eco 1976/1987: 235, s.a. Kap. 2.2.4.2 zum Problem der Postulierung elementarer Elemente in Objektsystemen) 39 So unterschieden Stoiker noch zwischen dem nicht-sprachlichen semeion (als Anzeichen, Indikator, Symptom) und dem semainon (als sprachlichem Zeichen) (Eco 1984/1985: 48ff). 40 Eine Semiotik, die sich als Theorie jeglicher Formen von Zeichen begreift, sollte ‚Zeichen‘ vielmehr als eine ‚Familie‘ von Gegenständen aufzufassen, deren unterschiedliche Ausformungen über ‚Familienähnlichkeiten‘ im Sinne von Wittgenstein verfügen (Wittgenstein 1953/1967: Abs. 66ff). Auch Hahn plädiert dafür, Objektbedeutungen als eigenen Bereich von Bedeutung aufzufassen, der eigenen Regeln folgt. Die Anwendung des sprachlichen Modells auf Objektsysteme lasse diese notwendig defizitär erscheinen, da nur ihre im Vergleich zur Sprache fehlenden Eigenschaften identifiziert und nicht ihre eigenen Charakteristika berücksichtigt würden (Hahn 2005: 140).
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einen bekannten […] Gegenstand bezieht sich auch immer auf ein gegenüber anderen Objekten differierendes Erscheinungsbild.“ (Hahn 2005: 26) Mein Lieblingsbecher ist dieser kleine blaue; das Haus, das ich aus meinem Fenster sehe, ist das grüne Eckhaus mit den ein Tigermuster bildenden Kacheln. Dass bei Ikea hunderte exakte Reproduktionen des Bechers stehen und in der ganzen Stadt tausende von mehrgeschossigen Wohnhäusern zu finden sind, ist für mich in dieser Betrachtungsweise nicht wichtig. Dagegen ist das ‚und‘ im ersten Satz auf einer Buchseite typographisch exakt so geformt wie das im dritten Satz, die Rede von anderen ‚unds‘ mit ähnlichen Eigenschaften wäre sinnlos. Dieses ‚und‘ kann ich nicht in dem Sinne perspektivisch sehen, in dem mir die abgeplatzte Stelle an dem Becher auffällt oder die Regenstreifen auf dem Haus.41 Selbstverständlich gehen die Objekte nicht ganz im Materiellen auf, sie sind auch immer (und oft vorwiegend) Objekte für einen bestimmten Gebrauch, aber die Objekte stimulieren einen ganzheitlichen, ‚aisthetischen‘ Blick im ursprünglichen Sinne des Wortes. Abstufungen reichen von fast reiner Funktionalität (z.B. bei Werkzeugen) zu fast reiner ästhetischer Materialität. Signifikant werden Objekte jedoch nicht nur in ihrer Gebrauchsfunktion und ihren spezifischen materiellen Eigenschaften. Sie sind darüber hinaus immer auch eingebettet in den raumzeitlichen Kontext einer schon vorgängigen sozial konstituierten Wirklichkeit und verweisen auf Sachverhalte ihrer Umwelt. Alltägliche Objekte sind Individuen, die wir als Teil einer spezifischen Ordnung wahrnehmen; sie können durch sprachliche Begriffe immer nur annähernd und nur perspektivisch beschrieben werden können. Diese Perspektivität der äußeren Form und des Inhalts generiert notwendig Mehrdeutigkeit. Für Lorraine Daston sind Objekte „good to think with“: „Thinking with things is very different from thinking with words, for the relationship between sign and signified is never arbitrary − nor self-evident.“ (Daston 2004: 20) In diesem Unterkapitel soll zunächst der Objektbegriff allgemein geklärt und unterschiedliche Positionen der Objektsemiotik dargestellt und diskutiert werden. Ausgehend von den objektinterpretativen Ansätzen von Barthes und Prieto wird anschließend ein Modell des Objekts als Zeichen entworfen, das geeignet ist, die Prozesse in der Interpretation von konkreten urbanen Objekten zu beschreiben. 41 Dagegen nutzen ästhetische Texte, wie solche der Konkreten Poesie, auch die Ausdruckssubstanz der Schrift, wie z.B. unterschiedliche typographische Formungen, um ästhetische Botschaften zu übermitteln. In in konkreten lautsprachlichen Äußerungen erlangen die ebenfalls der Ausdruckssubstanz zuzurechnenden parasprachlichen Elemente (Betonung, Lautstärke, emotionale Tönung etc.) für einen Interpreten oft eine höhere Wichtigkeit zur Erschließung der gesamten kommunikativen Botschaft als die diskursive Botschaft selbst.
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Dabei werden drei Gesichtspunkte semiotischer Prozesse in den Vordergrund gestellt, deren Untersuchung zu einem genaueren Verständnis der Interpretation von konkreten Objekt-Zeichen unabdingbar ist und die spezifisch für Objekt-Zeichen expliziert und vom sprachlichen Modell abgesetzt werden müssen. Es handelt sich um die Relation zwischen Kodeanwendung und Inferenzprozessen in der Objektinterpretation, ferner um die Interpretation von Objekten als Typen und Token (verknüpft mit dem Begriff der Perspektivität) und schließlich um die Konstitution einer Ordnung der Objekte, sei diese materiell-produktiv als Gestaltung des Stadtraums oder mental-interpretativ als Vorstellung. 2.2.1 Zum Objektbegriff Der Begriff Objekt bzw. die deutsche Entlehnung Gegenstand bezeichnet das, was dem Menschen gegenübersteht oder sich ihm, widerständig, entgegenstellt, es ist das, was wir wahrnehmen und womit wir handeln.42 Wir neigen dazu, eher vom Menschen hergestellte Dinge als ‚Gegenstände‘ anzusehen als ‚natürliche‘ Entitäten,43 die Alltagssprache kennt vor allem ‚Dinge‘ und ‚Sachen‘. Gegenstände sind handhabbar im wörtlichen Sinne, wir können sie in die Hand nehmen oder im Raum bewegen, ‚Immobilien‘ wie Gebäude entsprechen weniger dem alltagssprachlichen Begriff des Gegenstands oder Objekts.44 Objekte/Gegenstände sind über eine gewisse Zeit stabil; Geräusche, Gerüche und auch Nahrungsmittel erscheinen uns daher weniger ‚objekthaft‘. Für Thomas von Aquin stellt sich das Objekt als bewegende Ursache im Akt des passiven Vermögens (der Erkenntnis) und als Ziel und Zweck im Akt des aktiven
42 Der Begriff des ‚Objekts‘ (von lateinisch obiecere: ‚sich entgegenstellen‘) wird im Deutschen wohl überwiegend als Fremdwort empfunden, in der deutschen Alltagssprache ist er oft verbunden mit uneindeutigen Gegenständen, wie in ‚seltsames Objekt‘, ‚UFO‘ etc. Das deutsche ‚Gegenstand‘ ist seit dem 16. Jahrhundert als Lehnübertragung von ‚Objekt‘ nachgewiesen (Kluge/Seebold 2002: 338). 43 Vgl. z.B. Fritz Mauthners sprachkritische Auseinandersetzung mit dem Begriff ‚Gegenstand‘ (Mauthner 1923: 547ff): „Ein Veilchen nennen wir nie ‚Gegenstand‘.“ Zur Problematik des Begriffes des ‚Natürlichen‘ s.a. Kap.2.2.3.1. Auch Menschen können selbstverständlich Objekte der Wahrnehmung, des Denkens und des Handelns sein. Nicht berücksichtigt werden sollen hier jedoch der Verwendungen wie z.B. in ‚Lustobjekt‘ etc., die ungleiche Machtverhältnisse zwischen Subjekten beschreiben. 44 Vergleiche aber dagegen aber ‚Objekt‘ z.B. als Terminus der Immobilienbranche: in der juristischen und der Wirtschaftssprache bezeichnet ‚Objekt‘ eine Sache, die Gegenstand eines Vertrags oder Geschäfts werden kann.
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Vermögens (des Handelns) dar (Kobusch 1984: Sp. 1028). Hier findet sich bereits die Unterscheidung zwischen dem Objekt als Gegenstand der Erkenntnis und als hergestelltem bzw. Gebrauchsgegenstand. In der neuzeitlichen Philosophie seit Descartes bezeichnet der Begriff ‚Objekt‘ den Erkenntnisgegenstand, auf den sich das Subjekt bezieht (Mesch 1996: 364). Unterschieden wird z.B. bei Locke und Leibniz zwischen den äußeren Objekten der sinnlichen Wahrnehmung und den inneren Objekten als Gegenständen der Reflexion. Der in dieser Arbeit verwendete Objektbegriff entspricht Luis Prietos Begriff des „materiellen Objektes“: Prieto definiert ein materielles Objekt als „ein räumlich und/oder zeitlich bestimmtes Fragment der materiellen Wirklichkeit, das von einem Subjekt als ein solches – also ein räumlich und/oder zeitlich bestimmtes Fragment der materiellen Wirklichkeit – erkannt wird.“ (Prieto 1995: 69). 45
Prietos Objektbegriff kann als gemäßigt realistisch bezeichnet werden. Er geht davon aus, dass Objekte auf eine gewisse Weise existieren (sie sind Fragmente der Wirklichkeit), jedoch müssen sie, um „materielles Objekt“ zu werden von einem Subjekt aus der Wirklichkeit herausgeschnitten, von anderen Objekten differenziert und als Entität konzipiert werden.46 Objekte sind immer nur Objekte für jemanden. Von diesem erkenntnistheoretischen Objektbegriff müssen die engeren Konzeptionen des Objekts als Gebrauchsobjekt unterschieden werden. Diese stellen die Materialität, Funktionalität und Herstellung des Objektes durch den Menschen in den Mittelpunkt. Die Bestimmung des Objekts als funktionales und Konsumobjekt zieht sich vor allem durch die strukturalistische Semiotik der 60er Jahre (vgl. z.B. Barthes 1957/1964: 76ff über den Citroën D.S., Eco 1972b, siehe unten Kap. 2.2.2, Baudrillard 1968/1991). So nennt Abraham Moles in seiner „Théorie des objets“ (Moles 1972) die Widerständigkeit gegenüber dem Subjekt, den materiellen Charakter und die Dauerhaftigkeit als charakteristische Eigenschaften des Objekts (1972: 25). Moles definiert ein Objekt als „un élément du monde extérieur fabriqué par l’homme et que celui-ci peut prendre ou manipuler“, es ist „indépendant et mobile“ (1972: 28). Die „objets“ umfassen für ihn demnach nur die Artefakte und nicht die ‚natürlichen‘ Dinge.
45 Übersetzung nach Blanke 2003: 38, zu Prietos Objekttheorie siehe Kap. 2.2.2. 46 Die Definition zeigt, dass Prieto fiktive Objekte (wie Einhörner oder Superman) nicht als materielle Objekte ansieht. Diese sind für ihn mentale Objekte (siehe Kap. 2.2.2).
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Roland Posner definiert das Artefakt umfassend als „Ergebnis intentionalen Verhaltens“47 (Posner 1992: 19ff, 2003: 51, Scholz 2002: 224ff). Für Oliver Scholz sind (menschliche) Artefakte „von Menschen entworfene, hergestellte oder bearbeitete Dinge, die eine Funktion haben oder erfüllen“ (2002: 226).48 Ich beziehe mich in Kapitel 2.2.3.2 auf Scholz’ engeren Begriff des Artefakts. In der urbanen Umwelt überwiegen eindeutig die Artefakte gegenüber den ‚natürlichen‘ Dingen. Ein Anliegen dieser Arbeit ist es zu zeigen, dass auch die Artefakte nicht vollständig in ihrer Gebrauchsfunktion aufgehen. Artefakte werden nicht nur benutzt, sondern sie weisen als Individuen auch Spuren ihres Gebrauchs auf und die Art und Weise des Gebrauchs kann selbst zeichenhaft werden. 2.2.2 Semiotische Konzeptionen des Objekts Ein einheitlicher Terminus für potentiell zeichenhafte materielle Gegenstände im weiteren und Artefakte im engeren Sinne existiert in der Semiotik nicht. In seiner Übersicht zu Positionen zur Semiotik von Objekten verwendet Krampen den Begriff „object semiology“ (z.B. Krampen 1979: 6), jedoch nicht ‚object sign‘ oder einen analogen Term. Für Krampen beschäftigt sich die Objektsemiotik mit der Frage, wie Objekte Bedeutung erlangen und unter bestimmten Bedingungen zu Zeichen in der menschlichen Kommunikation werden können (Krampen 1986: 635). Roland Barthes spricht von „signifikanten Objektsystemen“ (Barthes 1964/ 1988: 187), dem „Code der Objekte“ (1963/1988: 196) sowie von „objets-signes“ (im Deutschen als „Zeichen-Objekte“ übersetzt, siehe Barthes 1963/1988: 190) und Gebrauchsobjekten als „Funktions-Zeichen“ (Barthes 1964/1983: 35).49 Umberto Eco stellt fest, dass Gegenstände als Zeichen „in der modernen Semiotik zu einem der wichtigsten Kapitel“ werden. Er nennt diese „Objektzeichen“ oder, wie Barthes auch, „Funktions-Zeichen“ (Eco 1973/1977: 43, s.u. Kap. 2.2.2). Explizit kommt der Begriff des „Objektzeichens“ („objet-signe“) auch bei Baudrillard vor
47 Dabei spielt es keine Rolle, ob das Ergebnis dieses intentionalen Verhaltens selbst beabsichtigt ist oder nicht, Posner spricht z.B. auch Fußabdrücken Artefaktstatus zu. Posner thematisiert auch die Problematik der Grenzziehung zwischen natürlichen Dingen und Artefakten: aus der obigen Definition folgt, dass auch Tiere und Pflanzen, die durch Züchtung entstanden sind, zu den Artefakten gezählt werden müssen (Posner 1992: 19). 48 Die Grenzziehung zwischen Artefakten und ‚natürlichen‘ Objekten ist nicht eindeutig (ebenso wenig wie Differenzierung zwischen natürlichen und kulturellen Kodes, s.a. Kap. 2.2.3.1 und Fußnote 89). Zu dieser Problematik vgl. Scholz 2002: 225f, Sperber 2007. 49 Gegenstände, Gesten etc. sind für Barthes „semiologische“ Zeichen, die von den sprachlichen Zeichen zu unterscheiden sind (Barthes 1964/1983: 35).
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(Baudrillard 1968/1991: 244ff). Für Baudrillard verwandeln sich Objekte dann in „Objektzeichen“, wenn keine persönliche, menschliche Beziehung zu dem Einzelobjekt in seiner Materialität mehr aufgebaut wird, sondern das Objekt seinen Sinn nur noch als Konsumgegenstand und damit nur in der Differenz oder Gleichheit zu anderen Objekten findet; verbraucht („consommé“) wird es nicht als (singulärer) Gegenstand, sondern nur in seinem relationalen Status.50 Der Zeichenstatus der ‚materiellen Kultur‘ wird auch in der Archäologie und Ethnologie zentral thematisiert. Den Begriff des Objektzeichens nutzen z.B. Hahn und Burmeister (Hahn 2005, Hahn 2003, Burmeister/Müller-Scheessel 2006, s.a. Nöth 2000: 350).51 Objektzeichen sind für Hahn alle Dinge (wobei er NichtArtefakte einschließt), die eine Bedeutung vermitteln können, welche jedoch kontextabhängig ist und weniger eindeutig als die von sprachlichen Zeichen vermittelten Inhalte bestimmt werden kann (Hahn 2003, Hahn 2005: 20, 113ff).52 Die geringe Verbreitung des Begriffes des Objekt-Zeichens verweist sicher auf die insgesamt nur periphere Beschäftigung mit zeichenhaften Objekten in der semiotischen Forschung.53 Ich werde in dieser Arbeit bewusst mit dem Begriff arbeiten (in seinem weiten Sinne, d.h. nicht auf konventionalisierte Gebrauchsgegenstände beschränkt), da mit seiner Hilfe eine deutliche Abgrenzung zum Begriff des sprachlichen Zeichens geschaffen und die sehr spezifische Zeichen50 Die dagegen durch eine „reale Beziehung“ mit dem Menschen verknüpften Objekte (wie sie sich z.B. durch eine lange praktische Nutzung ergibt) bezeichnet Baudrillard als „Objektsymbole“ (Baudrillard 1968/1991: 244). 51 Hans Peter Hahns „Materielle Kultur“ (2005) kann wohl als die z.Z. umfassendste Darstellung zur Objekttheorie in deutscher Sprache gelten und enthält auch eine Fülle weiterführender Hinweise zu aktueller internationaler Literatur. Sie ist daher nicht nur für Ethnologen, sondern für alle objekttheoretisch Interessierten empfehlenswert. Hahns Anliegen ist es vor allem, die Spezifik der Wahrnehmung und Bedeutungsproduktion von Objekten aufzuzeigen, wobei er auch semiotische Ansätze wie Barthes’ Objektsemiotik maßgeblich berücksichtigt und kritisch diskutiert. 52 Weiterhin wird ‚Objektzeichen‘ auch als ‚Zeichen einer Objektsprache‘, d.h. als Zeichen einer sich auf außersprachliche Gegenstaände beziehenden Sprache, verwendet (und damit als Gegensatz zu ‚Metazeichen‘ als ‚Zeichen einer Metasprache‘). Diese aus der Logik stammende Verwendung findet sich auch in der Informatik in Bezug auf Programmiersprachen. 53 Wendy Leeds-Hurwitz (1993: 130) konstatiert: „Objects have been minimally touched by semiotic theory over the past 30 years and widely ignored before that.“ Ihr anregendes, der Semiotik von Objekten gewidmetes Kapitel (1993: 127ff) zitiert daher auch überwiegend Erkenntnisse der anthropologischen Forschung, interpretiert sie jedoch semiotisch.
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haftigkeit von Gegenständen ausgedrückt werden kann. Es wird die Schreibweise Objekt-Zeichen gewählt, um einerseits auf die nur potentielle, stark kontextgebundene Zeichenhaftigkeit von Objekten hinzuweisen, andererseits um den Unterschied zu anderen Verwendungsweisen des Begriffs Objektzeichen kenntlich zu machen. Ich definiere ein Objekt-Zeichen als materielles Objekt (s.o. Kap. 2.2.1), das nicht ausschließlich oder nicht vornehmlich zum Zweck der Kommunikation produziert wurde und das in einer bestimmten Hinsicht als Zeichenausdruck für einen Interpreten fungiert oder fungieren kann. Potentielle Objekt-Zeichen wären somit Gebrauchsgegenstände wie Kleidung, Möbel und Häuser aber auch ‚natürliche‘ Dinge wie Bäume. Materielle Objekte, die ausschließlich oder überwiegend zum Zweck der Kommunikation produziert wurden, wie sprachliche Zeichen und Bildzeichen, nenne ich Kommunikations-Zeichen. Dabei muss beachtet werden, dass ein konkretes Objekt, wie z.B. ein als Kommunikations-Zeichen produziertes Ladenschild, von einem Interpreten nicht nur als Signal aufgefasst werden kann (anhand der Schrift, die den Namen des Ladens denotiert), sondern auch als Anzeichen, wenn für ihn z.B. die Typographie der Schrift auf die Entstehungszeit des Schildes verweist. Die Begriffe des Kommunikations- und des Objekt-Zeichens sind aus Sicht der Zeichenproduktion formuliert, während die Begriffe Signal und Anzeichen auch (jedoch nicht nur) die Empfängerinterpretation berücksichtigen.54 Auch wenn Objekte als Zeichen nie zu zentralen Gegenständen der Semiotik werden konnten, reichen einzelne Forschungsbemühungen doch bis in die 50er Jahre des 20. Jahrhunderts zurück. Einen Überblick über die unterschiedlichen Positionen der Objektsemiotik gibt Martin Krampen in mehreren Arbeiten (Krampen 1979, 1986, 1995). Er unterscheidet zwischen jenen Positionen, die Objekte als Zeichen betrachten (Barthes, Baudrillard, Maldonado), dem konträren Ansatz Prietos, der Zeichen als Werkzeuge konzipiert,55 Theorien, die die Objektpragmatik in den Vordergrund stellen (Jakob und Thure von Uexküll) und den am linguistischen Modell orientierten Ansätzen (Moles, Rossi-Landi). Krampen favorisiert Prietos Modell, der Zeichen als spezielle Typen von Werkzeugen in einer speziellen instrumentalen Handlung, dem Kommunikationsakt, betrachtet (Krampen 1979: 6ff). Ferner beschäftigt er sich mit Gibsons Konzept der Affordanz (siehe Kap. 2.3.2), das für ihn einen weiteren vielversprechenden theoretischen Ausgangspunkt für zukünftige Analysen in der Objektsemiotik darstellt (Krampen 1995). Hier soll eine vereinfachte Typisierung gewählt werden: ich unterscheide zwischen den objektbezogenen und den subjektbezogenen Ansätzen der Objektsemiotik (vgl. auch Kap. 2.1.1). 54 Zu den Begriffen Anzeichen und Signal s.o. Kap. 2.1.2. 55 Zur Auseinandersetzung mit Krampens Typisierung vgl. Sonesson 1989: 133ff.
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Der objektbezogene Ansatz der Objektsemiotik geht von den Gegenständen aus. Er versucht Objektkodes aufzuspüren und Objektsyntagmen zu modellieren. Er interessiert sich vornehmlich für Gebrauchs- und Konsumobjekte, die er als sozialen Konventionen unterliegenden Typen untersucht. Ein Vertreter dieses objektorientierten Ansatzes in der Semiotik ist Umberto Eco. Auf Grund seiner strukturalistischen Einstellung würde man Roland Barthes üblicherweise wohl ebenfalls dieser Position zurechnen. Allerdings zeigt er in einer Anzahl von Schriften, dass er auch pragmatische Aspekte einbezieht; diese werden jedoch leider nicht weiter ausgearbeitet. Der subjektbezogene Ansatz ist erkenntnistheoretisch fundiert, er fragt nach der kognitiven Konstitution und Interpretation von Objekten durch das Subjekt. Er interessiert sich auch für die Interpretation von konkreten Objekten (Token) in einem spezifischen Kontext. Für diesen subjektbezogenen Ansatz steht Luis Prieto.56 Im Folgenden werden die Positionen Umberto Ecos, Roland Barthes und Luis J. Prietos im Spannungsfeld zwischen konventionalistischem und kognitivistischinterpretationistischem Ansatz der Objektsemiotik exemplarisch dargestellt und kurz diskutiert. Umberto Eco: Objekt und Konvention Als ein Vertreter der konventionalistischen Richtung der Semiotik kann der frühe bis mittlere Umberto Eco (von „La struttura assente“, Eco 1972b bis „Theory of semiotics“, Eco 1976/1987) genannt werden. Aufgabe der semiotischen Forschung ist für Eco die Untersuchung kultureller Prozesse als Kommunikationsprozesse. Zeichen sind in Ecos Kultursemiotik nur solche als Zeichen interpretierte Objekte, deren Ausdruck und Inhalt (als Form) auf Grund einer sozialen Konvention verbunden sind (Eco 1976/1987: 38). Allerdings erweitert Eco den Begriff der sozialen oder kulturellen Konvention auch auf solche konventionalisierten Erfahrungssche-
56 In seiner Einführung in Grundbegriffe der Semiotik widmet auch Volli (Volli 2000/2002: 221ff) ein Kapitel der Semiotik der Gegenstände. Er unterscheidet unter den aktuellen semiotischen Tendenzen zwischen den kognitivistisch geprägtenen Ansätzen des späten Eco (mit Verweis auf Eco 1997/2000) und von Violi sowie dem generativen Ansatz der französischen Schule (u.a. bei Greimas und Floch). Allerdings bleiben, jedenfalls in seiner Interpretation, in beiden Ansätzen allein Objekttypen im Fokus der Betrachtung, sei es bei Eco und Violi in einer kognitivistischen Erklärung des Gebrauchshandelns an Objekten, sei es bei Greimas und Floch in der Deutung der Gegenstände als Aktanten in einem narrativen, jeweils ein Werteuniversum sichtbar machenden Programm. Objekttoken werden nicht thematisiert.
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mata, die bei der Interpretation ‚natürlicher Zeichen‘57 angewendet werden (z.B. Rauch für Feuer oder die ein Schiff umkreisenden Möwen für nahendes Land). Demnach können bei entsprechender kultureller Kodierung auch Sachverhalte natürlichen Ursprungs zu Zeichen im o.g. Sinn werden (Eco 1976/1987: 40, s.a. ebd. 296, ferner Eco 1972: 299). Eine als solche etikettierte eigenständige Objektsemiotik hat Umberto Eco nicht entwickelt. Seine Betrachtungen und Fragen zur Semiotik der Architektur (Eco 1972b: 295ff) schließen jedoch tentativ auch alle anderen Artefakte ein, die entworfen wurden, damit sie „eine Funktion übernehmen“ können, „die mit dem gesellschaftlichen Leben verbunden ist“ (ebd.: 295). Ich werde bei der Wiedergabe der Ecoschen Theorie allgemein von ‚Gebrauchsobjekten‘58 bzw. ‚Objekten‘ sprechen und den Terminus ‚architektonische Objekte‘ nur dann verwenden, wenn Eco sich ausschließlich auf diese bezieht. „Das Gebrauchsobjekt ist unter dem Gesichtspunkt der Kommunikation der Signifikant desjenigen exakt und konventionell denotierten Signifikats, das seine Funktion ist“ (ebd.: 306). Diese Definition markiert deutlich Ecos von ihm selbst als „rigoros“ charakterisierten semiotischen Ansatz. Zum einen zeigt sie, dass Eco aus einer objektbezogenen Perspektive argumentiert, pragmatische Aspekte werden noch nicht einbezogen. Das Objekt wird unter dem „Gesichtspunkt der Kommunikation“ betrachtet, d.h. als intentional produziertes Zeichen. Das Objekt funktioniert nicht nur, sondern es teilt seine Funktion mit. Dies geschieht ausgehend von der Form, die einerseits bestimmte Funktion ermöglichen und anregen muss, andererseits ist es jedoch notwendig, dass die Form auf bekannten Kodierungen aufbaut.59 Denotation, d.h. primäre Bedeutung60 des Objekts ist seine Gebrauchsfunktion, diese ist konventionell, d.h. durch einen zugrunde gelegten Kode, bestimmt. Bezüge auf konkrete individuelle Objekte werden zunächst ausgeschlossen, die architektonischen (und anderen) Objekte sind nichts weiter als „signifikante Formen“ (ebd.: 306), sie sind reine Ausdrucksformen im Hjelmslevschen Sinne ohne Betrachtung ihrer Substanz. Zentral für Ecos Architektur- und Objektsemiotik ist eine Erweiterung des Funktionsbegriffes. Eco unterscheidet zwischen erster Funktion, die denotiert wird (der Funktion im engeren Sinne als Gebrauchsfunktion) und der zweiten Funktion, 57 S.a. oben Kap. 2.1.2 zur Bestimmung des Signifikationsbegriffs. 58 Der Begriff des „oggetto d’uso“ wird auch von Eco benutzt, siehe Eco 1968/2002: 202. 59 Eco (1972b: 309) führt als anekdotisches Beispiel die im italienischen Mezzogiorno in neuen Häusern eingebauten Toilettenbecken an, die von der Landbevölkerung, der die übliche Nutzung von Wasserklosetts unbekannt war, als Spülbecken für Oliven genutzt wurden. 60 Zum Begriff der Denotation und seiner Anwendung in dieser Arbeit vgl. Kap. 2.2.3.2.
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die konnotiert wird (der symbolischen Funktion) (ebd.: 312ff). Die erste Funktion eines Hauses wäre z.B. das Wohnen, die zweiten, mit der ersten Funktion verknüpften Funktionen wären Bedeutungen wie „Sicherheit“, „Schutz“, „Geborgenheit“. Ähnlich würde ein Bahnhofsgebäude die erste Funktion „Ankunfts- und Abfahrtsort von Zügen“ denotieren und etwas wie „Ferne“, „Reise“ konnotieren. Die Bezeichnung „erste“ bzw. „zweite“ Funktion stellt keine Wertung dar, sondern zeigt nur an, dass die zweite konnotative Funktion auf der ersten, denotativen aufbaut (ebd.: 312) Dieses Schichtenmodell der Bedeutung erweist sich auch als nützlich in der Analyse der historischen Bedeutungsentwicklung architektonischer und anderer Objekte. Mit seiner Hilfe können die „Phasenverschiebungen“ (ebd.: 315) zwischen erster und zweiter Funktion bei bestimmten Gebrauchsobjekten im Lauf der Geschichte veranschaulicht werden. So können über die Zeit erste Funktionen verloren gehen (z.B. bei den ägyptischen Pyramiden oder, um in der näheren räumlichen und zeitlichen Umgebung zu bleiben, bei vielen Fabriketagen in Berlin), sie werden ersetzt durch neue erste Funktionen (z.B. durch den Ausbau der ehemaligen Fabriketagen zu Lofts) oder durch zusätzliche zweite Funktionen (wie bei den Pyramiden, die nun für die Größe des Alten Ägyptens etc. stehen). Zu beobachten ist allgemein, dass verloren gegangene erste Funktionen oft durch zweite, symbolische Funktionen aufgefüllt werden, welche bei neuerlicher Belebung der ersten Funktionen wieder verdrängt werden; dies hat Stephanie Grüger exemplarisch für den Reichstag gezeigt (Grüger 2003). Kennzeichnend für Ecos Ansatz ist, dass er überwiegend einen Kode von Gebäudetypen oder Gebäudenutzung meint, wenn er von einem architektonischen Kode (Eco 1972b: 297f) spricht.61 Dies mag aus Sicht einer über die Bautypologie hinausgehenden Architekturtheorie verwundern,62 ist jedoch aus Ecos Sicht folgerichtig: da er eine spezifische feste Ausdrucksform annimmt, die eine Inhaltsform, nämlich die Gebrauchsfunktion denotiert, ist hier kein Platz für weitere von der Ausdruckssubstanz motivierte Inhalte (z.B. stilistische Merkmale, Raumwirkung
61 Auf weitere architektonische Kodes geht Eco erst im vierten Kapitel seiner Darstellung der Architektursemiotik ein (Eco 1972: 326). Allerdings beschränkt er sich hier ebenfalls auf Typen architektonischer Elemente, soziale Typen und Raumtypen. Auf architektonische Formen oder Stile bezogene und diesen Bedeutung zuweisende ‚Ausdruckssysteme‘ wie sie z.B. Bonta postuliert (Bonta 1977/1982: 103ff)) berücksichtigt er nur beiläufig: In einer „Stadt mit römischem Grundriss“ (Eco 1972b: 330) könne man beispielsweise einen stilistischen (oder historischen) Kode erkennen. 62 Juan Pablo Bonta bezieht z.B. in seinem auch semiotische Aspekte berücksichtigenden Werk „Über Interpretation von Architektur“ Stilmerkmale wie Ornament und Fassadengliederung als Ausdruckssysteme in die Betrachtung ein (Bonta 1977/1982: 103ff).
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etc.)63 Eco geht es um Typen und nicht um Token, ihn interessieren nicht individuelle Gebäude in einer konkreten Straße. Wenn er in seinen Beispielen konkrete einzelne Monumente, wie den Parthenon, heranzieht, so können diese auf Grund ihres Bekanntheitsgrad bereits als Typ aufgefasst werden (zu Individuen als Typen s.a. Kap. 2.3.2). Ecos Theorie des architektonischen Zeichens kann demnach dort gewinnbringend eingesetzt werden, wo Objekttypen bzw. herausragende singuläre Objekte aus diachronem Blickwinkel untersucht werden. Dies ist z.B. der Fall, wenn man die historische Genese von Straßen (als Raumtypen) und ihren Funktionen betrachtet oder auch einzelne Phänomene wie die Umnutzung von leer stehenden Ladengeschäften und Fabriketagen in den Blick nimmt. Ein weiterer zentraler Begriff der Ecoschen Semiotik ist der der kulturellen Einheit. Dieser wird von Eco zuerst in „Einführung in die Semiotik“ (Eco 1972b) verwendet und in „Semiotik“ (Eco 1976/1987) präzisiert. Ausgehend von der Kritik an dem „metaphysischen Referenten“ (z.B. im dreistelligen Zeichenmodell von Ogden und Richards) plädiert Eco für den Verzicht auf den Begriff des Referenten (siehe Kap. 2.1.2) als den von einem Signifikanten bezeichneten realen Gegenstand. Ein Signifikant wie /Straße/ verweist nicht auf einen konkreten, sinnlich wahrnehmbaren Gegenstand, sondern auf eine Klasse von Gegenständen, d.h. eine abstrakte Einheit,64 nämlich (Eco 1976/1987): 99). Daher konzipiert Eco das Signifikat eines Signifikanten als „kulturelle Einheit“. Die kulturelle Einheit ist ein aus einem umfassenden kulturellen System herausgeschnittenes Segment (Eco 1976/1987: 100). Kulturelle Einheiten umfassen nicht nur sprachliche Entitäten, sie können auch durch Buchillustrationen, Definitionen, die Bedeutung rituellen Verhalten und musikalische Zeichen ausgedrückt werden (Eco 1976/1987: 106). Die kulturelle Einheit konstituiert sich aus der Kette der Interpretanten eines Signifikanten. Eco nutzt hier den peirceschen Begriff (s.o. Kap 2.1.2), um die Prozesshaftigkeit der kulturellen Bedeutungszuschreibungen deutlich zu machen. Der Interpretant lässt sich nur durch ein weiteres Zeichen benennen, dessen Interpretant wieder ein Zeichen ist usw. Jeder Begriff einer Kultur wird durch weitere Begriffe umschrieben (bzw. bildlich oder durch ein spezifisches Verhalten dargestellt), die wieder kulturelle Einheiten darstellen und wieder Signifikant einer 63 Allerdings argumentiert Eco hier nicht einheitlich: in einigen seiner Beispiele entwickelt er die zweite Funktion nicht aus der ersten Funktion, sondern aus Merkmalen der Ausdruckssubstanz (z.B. Tiroler Wiege). Insgesamt ist sein Modell auf den ersten Blick einleuchtend, jedoch im Detail ungenau und spezifizierungsbedürftig. 64 Ecos Konzeption des Inhalts ähnelt der Prietos (siehe Kap. 2. 1.2), allerdings fehlt bei diesem die Voraussetzung der kulturellen Konventionalität der Zuordnung.
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weiteren kulturellen Einheit werden können etc. (Eco 1976/1987: 101ff). So kann der Inhalt des Ausdrucks /Straße/ als kulturelle Einheit angesehen werden, als deren denotativer Interpretant heute z.B. die Definition: linearer, durch Häuser begrenzter Raum,65 in dem sich Autos und Fußgänger fortbewegen, bestimmt werden könnte. Ein auf dem denotativen Interpretanten aufbauender konnotativer Interpretant (siehe Kap. 2.2.3.2) wäre z.B. durch Autos verursachter Lärm. Ein denotativer Interpretant der kulturellen Einheit wäre , als weitere Interpretanten könnten u.a. , oder (für Deutschland) hinzukommen.66 Kulturelle Einheiten sind nicht im eigentlichen Sinne sichtbar und fassbar, aber durch ihre Anwendung und Aktualisierung in der Kommunikation werden sie intersubjektiv handhabbar und beschreibbar (Eco 1976/1987: 105f). Ohne Zweifel stellt der Begriff der kulturellen Einheit einen nützlichen Operator in der semiotischen Analyse dar, kritisch anzumerken ist jedoch die ausgeprägte Sprach- und Textorientierung des Konzepts.67 Auch wenn Eco Verhaltenskonventionen als Beispiele für kulturelle Einheiten nennt, so beschreibt er sie doch überwiegend als sprachliches Konzept, er spricht von ‚Definition‘. Die Materialität und Kontextbezogenheit konkreter Objekte der Wahrnehmung sind im Begriff der kulturellen Einheit nicht mitgedacht, Objekte als kulturelle Einheiten sind hier allein konventionalisierte, dekontextualisierte Objekttypen. Der Begriff der kulturellen Einheit impliziert ferner eine rein kulturellkonventionell induzierte Strukturierung der Erfahrungswelt (der hjelmlevschen Materie). Inwieweit auch genetisch verankerte kognitive Strukturierungen einen Einfluss auf die Konstitution unserer Wahrnehmungs- und Denkinhalte haben, wird nicht thematisiert. Bei der Erarbeitung eines Modells für Objekt-Zeichens (siehe Kap. 2.2.3) wird nicht Ecos konventionalistischer Ansatz, sondern Prietos kognitive Semiotik den Ausgangspunkt bilden, da diese durch die Einbeziehung der Objektkategorisierung und Relevanzsetzung besser geeignet ist, Interpretationen konkreter Objekte zu be65 Zum stadtmorphologischen Begriff des linearen Raumes siehe Curdes 1993: 122ff. 66 Als Interpretanten einer kulturellen Einheit betrachtet Eco nicht nur die Gesamtheit ihrer Denotationen und Konnotationen, sondern auch die aus ihr abgeleiteten faktenbezogenen Urteile und komplexen Diskurse (Eco 1976/1987: 104f). 67 Heydrich (2000) kritisiert das Konzept als „bloßes Label ohne inhaltliche Füllung“ (Heydrich 2000: 89). Bei Eco sieht er nur den Verweis von Repräsentationen auf weitere Repräsentationen, von Texten auf andere Texte ohne die Einbettung in lebensweltliche Praxen und Erfahrungen. Ecos Semiotik sei „die Welt weitgehend abhanden gekommen“ (ebd.: 89).
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schreiben. Ecos Begriff der kulturellen Einheit wird immer dort eingesetzt, wo umfassende, deutlich kulturell geprägte Typkonzepte wie thematisiert werden (siehe Kap. 3.1.2 und 3.2.1). Tendenzen diachroner Phasenverschiebung zwischen erster und zweiter Funktion von Objekt-Zeichen werden bei der Analyse des Korpus in Kapitel 4 identifiziert. Roland Barthes: Das Objekt zwischen Kode und Kontext Als klassischer Text der Objektsemiotik kann Roland Barthes’ „Sémantique de l’objet“ gelten (Barthes 1964/1988). Objekte signifizieren für Barthes im starken Sinne: sie sind nicht nur in der Lage, einzelne Informationen in der Kommunikation übermitteln, sondern sie bilden „strukturierte Zeichensysteme“ (Barthes 1964/1988: 188).68 Barthes geht zunächst vom „Alltagsbegriff“ des (von ihm als Artefakt verstandenen) Objekts aus: es ist „etwas, das zu etwas dient“; ein Objekt geht auf den ersten Blick vollständig in seinem Verwendungszweck, seiner Funktion auf. Jedoch ist diese Funktion immer schon in einem sozialen Rahmen verortet und kodiert, es gibt „immer einen Sinn […], der die Verwendung des Objekts übersteigt“ (ebd.: 189). Barthes gibt das Beispiel des Regenmantels, der die Funktion hat, gegen Regen zu schützen, aber damit auch schon „Regen“ signifiziert.69 Trotzdem bleibt die Funktionalität des Objekts auch hinter dieser zusätzlichen Sinngebung immer erhalten: „Das Objekt, das uns einen Sinn suggeriert, bleibt hingegen in unseren Augen immer ein funktionelles Objekt: Das Objekt erscheint immer funktionell, und zwar unmittelbar in dem Augenblick, in dem wir es als Zeichen lesen. Wir denken, daß der Regenmantel zum Schutz gegen Regen dient, selbst wenn wir ihn als Zeichen für eine Wetterlage lesen.“ (Barthes 1964/1988: 197)
Neben der Bestimmung dieser drei Signifikationsphasen des Objekts weist Barthes’ Text auch auf andere wesentliche semiotische Eigenschaften von Objekten hin, die in späteren Arbeiten, z.B. bei Eco, nicht thematisiert werden. Barthes unterscheidet zwischen denjenigen Objekten, die als ganzes auf ein einziges Signifikat verweisen, z.B. das christliche Kreuz, und solchen, die metonymisch, d.h. in einer Teil-GanzesRelation, nur durch eines (oder mehrerer) ihrer Eigenschaften bedeuten. Die 68 Barthes knüpft den Begriff der Signifikation an die Existenz eines Kodes, vgl. dagegen meine davon abweichende Definition in Kap. 2.1.2. 69 Barthes Konzeption der Objektfunktionen ist differenzierter angelegt als Ecos Postulat, ein Objekt denotiere seinen Gebrauch. Bei Barthes ist die Gebrauchsfunktion noch integraler, nicht abtrennbarer Bestandteil des Objekts, erst auf der Ebene der Semantisierung der Funktion wird das Objekt zum Zeichen seines Gebrauchs.
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metonymische Signifikation stellt für ihn eine weitverbreitete Art der Objektbedeutung dar (zur Metonymizität von Objekt-Zeichen siehe ausführlicher Kap. 2.2.4.3) (ebd.: 193). Weiterhin betont Barthes, dass die Bedeutung von Objekten sich auch aus ihrer Zusammenstellung, ihrem Nebeneinander ergibt. Die Objekte bilden ein Syntagma.70 Der Sinn der Objekte (oder einzelner Aspekte der Objekte), z.B. der einzelnen Möbel in einem Zimmer, ihrer Materialien und ihrer Form, wird auf das Syntagma, die gesamte Anordnung, ‚ausgedehnt‘: als Gesamtbedeutung ergibt sich z.B. ein bestimmter ‚Stil‘ des Zimmers (ebd.: 194f). Eine spezifische Eigenschaft von Objekten ist schließlich ihre Polysemie, ihre Mehrdeutigkeit. Das Signifikat der Objekte ist stark empfängerabhängig, also pragmatisch bestimmt und weniger durch den Sender (bzw. einen starken Kode71) determiniert. Dabei können sich auch bei einem einzigen Interpreten situationsabhängig sehr unterschiedliche Lesarten ergeben. Selbst individuelle, rein subjektive Deutungen sind möglich (ebd.: 195). Objekte liegen ferner an der Schnittstelle zweier sie definierender Koordinaten: zum einen der symbolischen Koordinate (sie verweisen immer auf ein Signifikat), zum anderen der „taxonomischen“ Koordinate, d.h., sie sind immer den klassifikatorischen Schemata einer Sprache und Gesellschaft unterworfen, die sie kategorisiert, in Ober- und Unterkategorien einteilt usf. (ebd.: 191f, vgl. auch Barthes 1967/1985: 94f). In diesen „raschen, gedrängten Überlegungen“ (Barthes 1964/1988: 187), spricht Barthes wichtige Probleme der Objektsemiotik an, die in thematisch verwandten Arbeiten der Folgejahre (z.B. bei Eco s.o.) nicht berücksichtigt wurden. Zwei benannte Gesichtspunkte scheinen mir besonders wichtig: zum einen die metonymische Verschiebung des Signifikanten und damit die Aspektualität von Objekten, zum anderen die ausgeprägte pragmatische Komponente in der Darstellung der Objektinterpretation, die sowohl die Empfängerbedeutung akzentuiert als auch die Einbettung in syntagmatische Kontexte berücksichtigt. Genau diese beiden Aspekte wird Luis Prieto beinahe drei Jahrzehnte später ins Zentrum seiner auf den ersten Blick andersartigen ausgerichteten, kognitiv-semiotischen Objekttheorie stellen. Luis Prieto: Objektkategorisierung und Relevanz Luis Prieto entwickelte in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts eine Semiotik der Kommunikation, deren Grundannahme darin besteht, dass der Gebrauch von kommunikativen Zeichen (Sprachzeichen, Gesten etc.) dem Gebrauch von Werkzeugen vergleichbar ist. Kommunikation stellt somit nur eine spezielle Form jeglichen instrumentellen Handelns dar (Prieto 1966/1972). Dieser Ansatz der Paralle70 S.o. Kap. 2.1.2. 71 Zur Unterscheidung von starken und schwachen Kodes siehe Kap. 2.2.3.1.
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lisierung von sprachlichen Zeichen72 und Objekt-Zeichen, der die Sprache nicht von vornherein als bevorzugtes Zeichensystem und exemplarisches semiotisches Modell behandelt, macht Prietos Theorie für eine Arbeit wie diese interessant. Bereits Prietos Zeichenkonzeption in „Nachrichten und Signale“ (Prieto 1966/1972, s.a. Kap. 2.1.2) bezieht außerdem einen Kategorisierungsprozess in die Konstitution des Sachverhalts als Zeichen ein. Spätere Arbeiten von Prieto (1975a, 1989, 1991und 1995) beschäftigen sich mehr und mehr mit der semiotischen Formulierung erkenntnistheoretischer Probleme, darunter besonders mit Fragen der ästhetischen Wahrnehmung und der Interpretation von Objekten.73 Sie können im weiten Sinn einer „kognitiven Semiotik“ zugerechnet werden (Blanke 2003: 37f).74 Prieto setzt in seiner Modellierung bereits auf der untersten Ebene der Objektkonstitution an: seine Definition eines materiellen Objekts als ein Fragment der materiellen Wirklichkeit, das von einem Subjekt als ein solches erkannt wird (Prieto 1995: 69, zitiert nach Blanke 2003: 38) wurde bereits in Kapitel 2.2.1 im Wortlaut wiedergegeben. Jedes materielle Objekt hat eine extensionale Identität, die dadurch hergestellt wird, dass es vom Subjekt als Eins, als Individuum bestimmt wird. Damit sind auch alle Zeichen materielle Objekte (Prieto 1991: 89). Unterschieden werden kann zwischen rein räumlichen Objekten (eine Tür, ein Auto, ein Hund, ein Werbeplakat) und zeitlich-räumlichen Objekten, den Ereignissen (eine Demonstration, eine Filmvorführung, ein Leben) (Prieto 1991: 74ff).75
72 Zum Begriff des sprachlichen Zeichens s.o. Kap. 2.1 Einleitung. 73 Prieto 1989 und 1995 lagen mir leider nicht vor, die Zitate und Inhalte aus beiden werden nach Blanke 2003 wiedergegeben. 74 Die Dissertation von Börries Blanke zur Bildinterpretation (Blanke 2003) liefert eine Zusammenfassung und pragmatisch orientierte Weiterentwicklung der Prietoschen Objektsemiotik. Auf Blankes Arbeit wird vor allem bei der Darstellung des Prietoschen Ansatzes in Kap. 2.1.2 und 2.2.2, aber auch der der pragmatischen Relevanztheorie SperberWilsons in Kap. 2.2.3.1 ergänzend zu den Primärtexten zurückgegriffen. 75 Für Prieto unterscheiden sich diese beiden Formen materieller Objekte dadurch, dass man die räumlichen Objekte nicht teilweise versäumen kann, indem man zu früh oder zu spät kommt. Zwar ist auch für ihn jegliche materielle Realität nur räumlich und zeitlich denkbar, jedoch nur bei den zeitlich-räumlichen Objekten (im Gegensatz zu nur räumlichen Objekten) stellt die zeitliche Begrenztheit, die ‚Dauer‘ eine wesentliche objektkonstituierende Eigenschaft dar. Eine historisch gedachte Zeitlichkeit der räumlichen Objekte, die sich u.a. in wechselnden Gebrauchsformen und deren Spuren sowie natürlicher Abnutzung manifestieren würde, ist bei Prieto dagegen nicht berücksichtigt. Dagegen betrachtet Hahn z.B. „die Beobachtung, dass Dinge einen Lebenslauf haben, dass sie ver-
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Materielle Objekte werden immer unter einer bestimmten intensionalen Identität erkannt, d.h. ihm werden vom wahrnehmenden Subjekt bestimmte Eigenschaften zugesprochen. Die Gesamtheit dieser Eigenschaften bildet den Typ, mit dem das Objekt kategorisiert wird (Prieto 1991: 73f).76 Der Typ ist ein mentales Objekt. Ein einzelnes Element aus der einem Typ entsprechenden Klasse von Objekten stellt ein Exemplar dieses Typs dar, ein Individuum.77 Die Kategorisierung eines Objekts wird definiert als die Zuordnung eines Objekts zu einem Typ, dabei werden bestimmte Eigenschaften des Objekts als Realisationen der Merkmale des Typs erkannt (Blanke 2003: 41). Konkrete materielle Objekte besitzen Eigenschaften, Typen dagegen Merkmale (Blanke 2003: 32). Die Eigenschaften des Objekts, die den Merkmalen des Typs entsprechen, sind die relevanten Eigenschaften des Objekts in Bezug auf diesen Typ (Blanke 2003: 41). So ist die exakte Pfostenhöhe eines Stopp-Schilds für den Autofahrer, der es beachten muss, nicht relevant, jedoch kann z.B. eine Norm der Verkehrsverwaltung existieren, die nur bestimmte Pfostenhöhen zulässt (und diese damit für diesen Typ Pfosten als relevant bestimmt). Auch in Luis Prietos Werk hat der Relevanzbegriff einen herausragenden Stellenwert (Blanke 2003: 78). Prieto erweitert Bühlers Definition der abstraktiven Relevanz (vgl. Kap. 2.1.2) um pragmatisch-kontextuelle Aspekte. Aus Bühlers Definition folgt für Prieto, dass die Kategorisierung eines Objekts nicht in ihm selbst gegründet sein kann, sondern durch das wahrnehmende Subjekt hergestellt wird, indem dieses in der Interpretation perspektivisch eine Objekteigenschaft auswählt. Das Objekt ist für jemanden in einer Hinsicht relevant. Für Prieto besteht dieser Gesichtspunkt („point de vue“, 1975a: 146) in der Korrelation dieses Objekts mit einer bestimmten Praxis (1975a: 151). Es handelt sich hier um einen weiten Begriff von „Praxis“, der alle „Interpretationspraxen“ mit einschließt. So kann im obigen Beispiel des Verkehrszeichens die Höhe des Pfostens für den Hersteller der Pfosten durchaus relevant sein (wenn die Pfosten nicht vertragsgemäß produziert sind, muss er sie durch fehlerfreie ersetzen), während für den zum Halten geschieden lange Lebensspannen durchlaufen“ als einen „zentralen Aspekt der Wahrnehmung materieller Kultur“ (Hahn 2005: 40). 76 In „Pertinence et pratique“ spricht Prieto noch nicht von „Typ“, sondern benutzt den Begriff „concept“: ein Objekt unter einer bestimmten Identität zu erkennen, heißt es als Element der Extension eines Konzepts zu betrachten, die Extension eines Konzepts ist nichts anderes als eine Klasse (1975a: 81,146). Typ kann somit als Typkonzept (siehe Kap. 2.3.3) verstanden werden. Anders als Blanke unterscheide ich nicht zwischen sensorischem und enzyklopädischem Typ (Blanke 2003: 34f), sondern gehe davon aus, dass im Typ sowohl sensorische als auch enzyklopädische Informationen enkodiert sind. 77 Vgl. auch Kap. 2.1.2.
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zwungenen Autofahrer die genaue Länge (oder auch Farbe) des Pfostens unwichtig und quasi nicht sichtbar ist (solange die Lesbarkeit des Schildes gewährleistet ist). Welche Kategorisierung, welcher Inhalt gewählt wird, ist einerseits abhängig vom zugrunde liegenden (bzw. zugrunde gelegten) Kode und damit dem System der Typen, andererseits vom Kontext. Prieto spricht von einer „doppelten Relevanz“ des Inhalts (als Inhaltssubstanz), der kodebezogenen und der kontextuellen (Prieto 1975b: 169-177, Blanke 2003: 84).78 79 Die Kategorisierung ist aber auch nicht vollkommen subjektiv und relativ: Einem Wahrnehmungsobjekt kann unter normalen Bedingungen eine bestimmte Eigenschaft x1 zugeschrieben werden oder eine andere y1, aber ihm kann nicht die konträre Eigenschaft x2 oder y2 zugeschrieben werden (Prieto 1975a: 163). Das Objekt kann auf unterschiedliche Weise kategorisiert werden, z.B. kann man ein und dasselbe konkrete Gebäude als Wohnhaus, als Jugendstilhaus, als saniertes Haus beschreiben etc., aber die Kategorisierung ist abhängig von dem Objekt, sie ist von ihm „imprägniert“80: man kann dieses Gebäude (in einer ‚realistischen‘ Einstellung) nicht als Bahnhof oder als japanisches Teehaus sehen.
78 Da Objekt-Zeichen oft nur schwach kodiert sind, ist die Auswahl des Kodes stärker kontextabhängig als beispielsweise bei sprachlichen Zeichen, es besteht eine Interdependenz zwischen Kontext und Kodewahl, s.u. Kap. 2.2.3.1. 79 Der Kognitionswissenschaftler Joachim Hoffmann spricht von der funktionalen Äquivalenz von Reizstrukturen, die zweifach bestimmt ist: zum einen durch den Verhaltensakt, für den die Äquivalenz gilt, zum anderen durch Eigenschaften der „Reizquelle“, des Objekts, auf denen die Äquivalenz beruht. Indem die funktionale Äquivalenz in perzeptive Invarianten (Typen) kodiert wird, werden beide Determinanten integriert (Hoffmann 1994: 440f). Dies entspricht mit einer leichten Verschiebung der Perspektive den Annahmen Prietos. Vergleichbar äußert sich auch Ernst Gombrich in seinen Überlegungen zur Ikonizität: Ähnlichkeit zwischen zwei Gegenständen wird nicht durch Gegenüberstellung irgendwelcher äußeren Merkmale hergestellt, sondern durch Abgleich speziell der Merkmale, die zur Erfüllung der für den Interpreten wesentlichen Funktion des Gegenstandes notwendig sind (Gombrich 1951/1973: 21ff ). 80 Hans Lenk bezeichnet mit „Imprägnieren“ den Prozess der Einprägung der Außenwelt in den Erkenntnisvorgang. Die imprägnierte Interpretation stellt somit eine Spezialform der Interpretation dar, als „Realerkenntnis“, im Gegensatz zur Interpretation von Phantasien (Lenk 1996). Hier könnte man ergänzen, dass auch Phantasien (oder fiktionale Welten) immer in gewisser Weise auf diese Welt bezogen sind und auf den durch die Welterfahrung geprägten Schemata aufbauen, vgl. z.B. Eco (1994: 101ff) und Goodman: „Das uns bekannte Welterzeugen geht stets von bereits vorhandenen Welten aus; das Erschaffen ist ein Umschaffen.“ (Goodman 1978/1984: 19)
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Wichtig ist ferner, dass in Abhängigkeit von der jeweiligen Perspektive ein Objekt immer sowohl als Bestandteil eines zusammengesetzten Objekts oder als eigenständiges Objekt betrachtet werden kann (Prieto 1991: 61). Blanke unterscheidet zwischen strukturellen und qualitativen Eigenschaften eines Objekts: strukturelle Eigenschaften beziehen sich auf die topologischen und chronologischen Relationen zwischen einem zusammengesetzten Objekt und seinen Bestandteilen sowie der Bestandteile untereinander, qualitative Eigenschaften auf die Eigenschaften der Bestandteile unabhängig von ihren Relationen untereinander. Ein Stoppschild hat die strukturelle Eigenschaft, dass der Schriftzug STOP auf einem Untergrund zu lesen ist, der Schriftzug selber hat die qualitative Eigenschaft weiß zu sein. Die Bestandteile von zusammengesetzten Objekten können in einer Relation der Supraordination (Überordnung), Koordination (Nebenordnung) und Subordination (Unterordnung) zueinander stehen (Blanke 2003: 45f). Ähnlich wie Alfred Schütz betont auch Prieto, dass Perspektivensetzung und Relevanzbestimmung nicht allein aus individuellen mentalen Prozessen erklärt werden können. Vielmehr ist das objekterkennende Subjekt immer schon in eine soziale Gruppe eingebunden, welche über bestimmte Kodes und Weltsichten verfügt und damit Perspektiven vorgibt (Prieto 1975a: 148f). Ein sozial ‚neutrale’ Erkenntnis der materiellen Realität kann es nicht geben (ebd.: 149, [Herv. i. Orig.]). Mit der Perspektivität der Objekte werden wir uns in Kapitel 2.2.3.4 noch näher beschäftigen. 2.2.3 Signifikante Objekte Dieses Unterkapitel beschäftigt sich mit den Mechanismen, welche einzelne Objekte oder einzelne ihrer Teilaspekte zu signifikanten Objekten, d.h. zu Zeichen werden lassen. Es betrachtet, welche Schlussprozesse bei der Interpretation von Objekten zum Tragen kommen und welche Bedeutungsschichten wirksam werden können. Objekte werden als perspektivische Wahrnehmungseinheiten bestimmt und damit die Grundlagen für ein Modell eines Objekts als Zeichen gelegt, das sowohl dessen Materialität als konkreter, individueller Gegenstand als auch seine Konventionalität und Typizität als funktionales Artefakt berücksichtigt. 2.2.3.1 Objekt-Zeichen zwischen Kode und Inferenz Die Modellierung von Zeichen- und Interpretationsprozessen ist eine grundlegende Aufgabe jeglicher semiotischer Untersuchung. Diese Arbeit beschäftigt sich mit einem städtischen Raum in der Interpretation der Stadtbewohner. Wie schon in der Einleitung betont, agieren in der urbanen Interpretation eine Vielzahl von Kodes
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miteinander, die Anwendung von Kodes kann folglich nur innerhalb einzelner Interpretationsprozesse überprüft werden.81 Interessant ist weniger die Strukturierung einzelner Kodes, sondern ihre Interaktion in der Semiose untereinander. Das zu erarbeitende Modell muss in der Lage sein, Interpretationsprozesse und die in sie integrierten Kodierungsmechanismen zu beschreiben. Kognition und Kodierung greifen also ineinander (auch wenn sie aus heuristischen Gründen teilweise getrennt analysiert werden müssen). Grundsätzlichen gehen die aktuelle Semiotik und Kognitionswissenschaft davon aus, dass Interpretationsprozesse sowohl kodebezogene Signifikationsprozesse als auch kontextabhängige Inferenzprozesse, d.h. Schlussfolgerungsprozesse, umfassen (vgl. Eco 1984/1985: 61, 72f, Posner 1997: 229, Dölling 1998a: 9, Sperber/Wilson 2005). Interpretation ist formelhaft gefasst also Dekodierung + Inferenz. In welchem Verhältnis stehen jedoch Dekodierung und Inferenz im Prozess der Interpretation zueinander? Diese Frage wird in der konventionalistisch ausgerichteten Semiotik und in der interpretativ orientierten sprachphilosophischen Pragmatik unterschiedlich beantwortet. Während die Semiotik Signifikation und Kommunikation überwiegend durch Anwendung der Kodetheorie analysiert (z.B. Eco 1972b), leugnet die Pragmatik (z.B. Grice, Sperber und Wilson) zwar nicht die Beteiligung von Kodierungsmechanismen an der Interpretation, die dekodierten Signale stellen für sie jedoch nur eine gleichberechtigte Prämisse neben weiteren kontextuellen Annahmen im Inferenzprozess dar. Sperber und Wilson betrachten z.B. den Kodierungs-Dekodierungsprozess als einem Inferenzprozess untergeordnet (Sperber/Wilson 1995: 27). Ich vertrete hier eine vermittelnde Position, indem ich annehme, dass auch oberhalb der basalen Dekodierungsebene Kodes im weiteren Sinn (Kodes des Weltwissens) wirken, die kontextabhängig im Inferenzprozess aktualisiert werden und einen wesentlichen Anteil an der Bedeutungskonstitution haben. Kodeprozesse als kognitive Mechanismen Sperber und Wilson (1995: 65) verstehen die Dekodierungsprozesse, die Ausgangspunkt der Inferenzen sind, mit Jerry A. Fodor als kognitive Inputprozesse (vgl. auch Blanke 2003: 35ff). Nach Fodor werden, vereinfacht dargestellt, auf der Ebene der Inputmodule sensorische Reize in modalitätsneutrale Invarianten, in Konzepte umgewandelt (Sperber/Wilson 1995: 72, zur elementaren Rolle der Konzepte in der Objekt- und Umweltwahrnehmung siehe unten Kap. 2.3). Diese Konzepte werden dann auf der Ebene der zentralen Systeme mit Hilfe von Inferenzprozessen weiter 81 Diese Aussage kann natürlich generalisierend auf nicht-urbane Umwelten übertragen werden. Allerdings zeichnen sich urbane Räume durch eine deutlich höhere Dichte von artefakthaften Objekt-Zeichen sowie Kommunikations-Zeichen aus.
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verarbeitet. Hervorgehoben werden muss, dass Fodor sowohl den Wahrnehmungsals auch den Sprachmechanismus als Input-Systeme auffasst, beide Systeme operieren für ihn auf der gleichen, basalen Ebene (Fodor 1983: 44ff). Die Prozesse der Inputmodule finden weitgehend unbewusst statt und sind in hohem Maße automatisiert (Fodor 1983: 53f, Sperber/Wilson 1995: 177): Wir können uns nicht aussuchen, den [Tisch] nicht als (oder
etc.) zu sehen oder mit dem Wort /Tisch/ nicht den Inhalt zu verbinden. Nach Sperber und Wilson und Fodor können wir somit Dekodierungsprozesse in der Objektkategorisierung und im Sprachverstehen annehmen. Beschränkt man jedoch Kodierungen auf diese basalen Ebenen, werden damit die vielfältigen kulturellen Korrelationssysteme aus dem Begriff des Kodes ausgeschlossen. 82 Ich werde daher den Kodebegriff weiter fassen: der Sprachkode und der Objekterkennungskode sollen als Basiskodes definiert werden, während die auf der Ebene der zentralen Systeme im Zuge des Inferenzprozesses aktivierten Zuordnungen des Weltwissens als enzyklopädische Kodes bezeichnet werden.83 Die enzyklopädischen 82 Fodors Theorie der Modularität des Geistes lässt nur eine bottom-up-Verarbeitung der Objekterkennung und des Sprachverarbeitung zu. Dagegen gehen interaktive Modelle der Sprachverarbeitung davon aus, dass die sprachbezogenen Komponenten mit den Komponenten des Weltwissens in den zentralen Systemen während des gesamten Verarbeitungsprozesses interagieren. Ein Zusammenwirken von bottom-up- und top-downProzessen bei Objektwahrnehmung und Sprachverstehen konnte auch experimentell nachgewesen werden (Schwarz 1996a: 140ff, Anderson 2005/2007: 85ff). Eine interessante neuere Sicht findet sich bei Cundall (2006): Cundall nimmt keine strikte Trennung von modularen Prozessen und Prozessen der zentralen Systeme an, sondern geht von einem Kontinuum kognitiver Prozesse aus. Soziale Kognitionen wie Theory-ofmind-Annahmen, d.h. Annahmen über die Absichten, Wünsche und Überzeugungen anderer, nehmen für ihn eine Mittelposition ein. Sie besitzen modulare Merkmale, wie die schnelle und quasi automatische Verarbeitung, sind aber nicht vollständig modular (z.B. interagieren sie in größerem Maße als Sprache und Objekterkennung mit anderen Wissensbeständen, wie dem Wissen über stabile persönliche Eigenschaften des anderen oder über den situationalen Kontext). 83 Diese Vorgehensweise unterscheidet sich nur terminologisch von Sperber-Wilsons Modell: Sperber-Wilsons Definition eines „enzyklopädischen Eintrags“ als Teil des Konzepts kann m.E. ohne Schwierigkeiten als kodierte Inhaltsbedeutung verstanden werden: „The encyclopaedic entry contains information about the extension and/or denotation of the concept: that is, about the objects, events and properties which instantiate it.“ (1995: 86) Sperber und Wilson führen hier eine deutlich semiotische Funktion in die inferentielle Ebene der zentralen Systeme ein, allerdings ohne diese als solche zu benennen. Die Differenzierung Basiskode – enzyklopädischer Kode deckt sich auch weit-
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Kodes umfassen z.B. kulturelle und soziale Erfahrungsschemata,84 historische Kodes (Zuordnung von Objekten zu historischen Tatbeständen wie Entstehungszeit etc.) und ästhetische Kodes. Auch auf kausale Beziehungen in der Natur bezogene Erfahrungsschemata werden als enzyklopädische Kodes aufgefasst. Es kann angenommen werden, dass es sich bei den Basiskodes um starke Kodes handelt, während die enzyklopädischen Kodes sich in ihrer jeweiligen Verbindlichkeit sehr unterscheiden. Betont werden muss, dass es sich bei den als solchen bezeichneten enzyklopädischen Kodes nicht um statische Ausdrucks-Inhalts-Zuordnungen handelt, sondern um flexible Relationen, die sich mit neuen Erfahrungen und Wissenszuwachs der Interpreten wandeln können.85 Die Postulierung von Erfahrungsschemata als Kodes dient auch der Vereinfachung der Terminologie: statt beispielsweise von ‚auf Erfahrungen im sozialen Raum basierenden Zuordnungsschemata‘ zu sprechen, ist von ‚Kodes der sozialen Kategorisierung‘ die Rede (siehe Kap. 3.4.2 sowie 4). Inferenz soll mit Sperber und Wilson (1995: 37) als nicht notwendig deduktiv verstanden werden. Die Prämissen, d.h. die aus den aktuellen Wahrnehmungsprozessen resultierenden Konzepte sowie die weiteren aus dem Langzeitgedächtnis herangezogenen Einheiten, machen die Schlussfolgerungen wahrscheinlich, jedoch nicht notwendig. Charles S. Peirce hat für diese Form des hypothetischen Schlussverfahrens den Begriff der Abduktion geprägt: „Die überraschende Tatsache C wird beobachtet; aber wenn A wahr wäre, würde C eine Selbstverständlichkeit sein; folglich besteht Grund zu vermuten, dass A wahr ist. Wenn A aber wahr wäre, wäre C eine natürliche Folge. Folglich gibt es Grund zu der Annahme, daß A wahr ist.“ (Peirce 1931-1958: CP 5.189, Übersetzung in Peirce 1991: 129) In der Abduktion gehend mit Ecos Unterscheidung zwischen dem Kode als Zuordnungsvorschrift und der „Enzyklopädie“ als erweiterter Kompetenz der Interpretation (Eco 1976/1987: 164). Eco 1984/1985 führt die Begriffe des Kodes und der Enzyklopädie unter Bezug auf Barthes Kodekonzept (Barthes 1970/1976: 21) wieder zusammen: Der Kode ist die Enzyklopädie und deshalb auch kontrollierende Regel, aber er ist „nicht nur eine Regel, die schließt, sondern auch eine Regel, die öffnet“. Er ist „eine Matrix, die unendliche Vorkommnisse möglich macht.“ (Eco 1984/1985: 275f) 84 Sperber und Wilson erwähnen explizit Begriffe wie Schema, Frame, Prototyp und Skript als Modellierungen von enzyklopädischen Einträgen (1995: 87f). 85 Enzyklopädische Kodes müssen nicht über Konventionalität im Rahmen einer größeren sozialen Gruppe verfügen, sondern können auch nur individuell oder in einer kleiner Gruppe geteilt sein. Der Begriff umfasst demnach sowohl sehr schwache (siehe das Beispiel zu abduktiven Schlussverfahren im nächsten Absatz) als auch starke Kodierungen (Rauch steht für Feuer). S.u. in diesem Unterkapitel zur Unterscheidung zwischen starken und schwachen Kodes.
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wird von einem erklärungsbedürftigen Resultat C auf eine hypothetische Regel A und mittels dieser weiterhin auf einen Fall B geschlossen, um C zu erklären. Wenn ich z.B. morgens von [lautem Poltern im Erdgeschoss] (= Resultat C) geweckt werde, schließe ich, dass (= Fall B), da ich aus der Erfahrung weiß, dass (= hypothetische Regel C).86 Die hypothetische Regel kann auch als Erfahrungsschema und somit als (schwach) enzyklopädisch kodierte Zuordnung aufgefasst werden. Allgemein kann jede Konstitution eines Objekts als Zeichen, d.h. als Element eines Kodes, als abduktiver Prozess beschrieben werden: „Die Abduktion ist daher das versuchsweise und risikoreiche Aufspüren eines Systems von Signifikationsregeln, die es dem Zeichen erlauben, seine Bedeutung zu erlangen.“ (Eco 1984/1985: 68, zur Anwendung der Abduktion in der Wahrnehmungssemiose) Abduktive Mechanismen stellen Grundvoraussetzungen jeglicher Semiose dar, sie wirken auch bei kodierten Zeichenprozessen.87 Ein weiteres Beispiel für die Anwendung einer abduktiven Regel ist die in Kapitel 2.1.2 beschriebene Interpretation des Zigarettenschachtelfunds. Inferenzprozesse werden von pragmatischen Prinzipien geleitet. Das Relevanzprinzip der Interpretation wurde bereits im Kapitel 2.1.2 eingeführt: eine Annahme (oder ein Objekt) ist für ein Individuum dann relevant, wenn sie (es) einen positiven kognitiven Effekt hat (Sperber und Wilson 1995: 265). Als weitere pragmatische Prinzipien sind besonders die von Paul Grice formulierte Kooperationsprinzip der Kommunikation und die konversationellen Maximen (Grice 1975/1993) hervorzuheben. Diese beschreiben allerdings nur die Interpretation in kommunikativen Prozessen.88 Dagegen bezieht Sperber und Wilsons Relevanztheorie die Objekt86 Im Einzelfall kann sich dieser Schluss natürlich als unrichtig erweisen, z.B. könnte ein ähnlicher Lärm durch Bauarbeiter, die gerade Baumaschinen auf den Hof schaffen, verursacht werden. 87 Hier scheint ein Widerspruch zur Postulierung einer automatischen Anwendung der Basiskodes vorzuliegen. Für Eco handelt es sich jedoch in diesem Fall um eine überkodierte Form der Abduktion: Wenn ein Gesetz (oder eben der Kode) automatisch oder quasi-automatisch gegeben ist, dann betrifft der Schluss nur die Entscheidung (deren Notwendigkeit jedoch einen absoluten Automatismus des Prozesses ausschließt), das Resultat als Fall der Regel anzusehen (Eco 1984/1985: 69f). Auch Peirce geht davon aus, dass in der Bildung von Wahrnehmungsurteilen (d.h. in der Objektkategorisierung) bereits abduktive Mechanismen wirken: Wahrnehmungsurteile seien allerdings „an extreme case of abductive inference“ (CP 5.185, s.a. unten Kap. 2.2.3.6). 88 Kennzeichnend für die pragmatische Forschung ist eine schwerpunktmäßige Beschäftigung mit kommunikativen, d.h. intentionalen Zeichenprozessen (vgl. Posner 1997:
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konstitution in ihr Relevanzmodell ein und ist damit auch auf die Interpretation von nicht-intentionalen Zeichen anwendbar. Bisher haben wir zwar über Kodes und deren Rolle in der Kognition gesprochen, jedoch noch nicht den Begriff der Konventionalität näher thematisiert. Eine Konvention stellt nach David Lewis (Lewis 1969/1975: 79) eine Verhaltensregularität von Mitgliedern einer Gruppe in wiederholt auftretenden Situationen dar, bei der das Verhaltensmuster einer allgemeinen Erwartung der Gruppe entspricht. Auch wenn die semiotische Kodetheorie sich in überwiegendem Maße mit konventionellen Kodes beschäftigt, geht die Gleichung Kode = Konvention nicht auf. Nicht in allen Kodes beruht die Zuordnung von Inhalt und Ausdruck auf einer Konvention. Von den beiden Basiskodes lässt sich der Sprachkode ohne Zweifel den konventionellen Kodes zurechnen, die Konventionalität des Objekterkennungskodes (kurz Erkennungskode) ist weniger eindeutig. Unterschieden werden kann heuristisch (vgl. Blanke 2003: 31, Posner 2003: 42) zwischen a) natürlichen Kodes: dazu gehört z.B. der genetische Kode, aber auch genetisch verankerte Wahrnehmungsschemata wie die Gestaltgesetze,89 b) kulturellen Kodes: alle vom Menschen instaurierten Kodes90 und c) individuellen Kodes: diese werden nur auf der Ebene eines Individuums bzw. einer sehr kleinen Gruppe angewendet. Konventionalität kommt nur den kulturellen Kodes zu. Man kann davon ausgehen, dass konkrete menschliche Interpretationsprozesse immer mit allen drei Kodeformen operieren. Ein umfassendes Verständnis von semiotischen Prozessen kann 228, Blanke 2003: 122). Eine allgemeine Pragmatik, die nicht nur die intentionale Kommunikation, sondern auch das Verstehen nicht-intentionaler Zeichen thematisiert, wäre noch ein Desiderat und m.E. geeignet, die pragmatische Theorie auf eine breitere und umfassend anwendbare Grundlage zu stellen. 89 Die Differenzierung von natürlichen und kulturellen Kodes kann sicher nicht eindeutig formuliert werden und stellt sich im Zuge neuer Forschungsentwicklung, z.B. in der Gentechnik, zunehmend schwieriger dar (zu zoosemiotischen Kodes vgl. z.B. Sebeok 1976/1979: 79ff). 90 Der Begriff des kulturellen Kodes fasst die von Keller/Lüdtke als „künstliche Kodes“ und „Kodes der dritten Art“ bezeichneten Kodetypen zusammen (Keller/Lüdtke 1997: 415420). Künstliche Kodes wurden von Menschen intentional geschaffen wurden, z.B. Flaggenkode, Verkehrszeichen etc. Diese sind schriftlich fixiert. Kodes der „dritten Art“ stellen nichtintendierte Ergebnisse menschlichen Handelns und spontane Ordnungen dar: Beispiele sind die natürlichen Sprachen, Kleidung, Wohnungseinrichtung, Nahrungsverhalten etc.
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nur erreicht werden, wenn die Analyse kultureller Zeichenprozesse und Kodes berücksichtigt, dass diese auf natürlichen, genetisch verankerten Kodes aufbauen und durch Individuen aktualisiert werden (Blanke 2003: 31). Nach ihrer sozialen Verbindlichkeit wird ferner zwischen starken und schwachen Kodes differenziert.91 Starke Kodes zeichnen sich in einer Gesellschaft durch hohe Verbindlichkeit aus, sie sind diachron stabil (Enninger 1983: 30ff) und werden intentional in der Kommunikation eingesetzt. Beispiele sind die natürlichen Sprachen sowie alle künstlichen Kodes wie der Morsekode und der Kode der Verkehrszeichen. Im städtischen Straßenraum finden sich starke Kodes beispielsweise in allen Schrift integrierenden Zeichen, in verhaltensregelnden Zeichen wie den Verkehrszeichen und in Werbezeichen. Schwache Kodes sind dagegen wenig verbindlich und diachron weniger stabil. Zu den schwachen Kodes zählen viele kulturelle Kodes, wie der Kode der Kleidung, der Mahlzeiten etc. Bei der Interpretation von schwach kodierten Zeichenausdrücken wird die kodierte Information meist durch kontextabhängige Inferenzen ergänzt. Dagegen spielen bei der Interpretation starker Kodes pragmatische Inferenzen eine geringere Rolle, sind aber auf keinen Fall zu vernachlässigen (s.o.). 92 Oben wurde Interpretation als Kodierung + Inferenz definiert. Zu betonen ist, dass Kodierungen immer auf der Grundlage von abstrakten Typen vollzogen werden, Inferenzen jedoch konkrete Kontexte und folglich auch Token nutzen. So 91 Diese Unterscheidung soll hier nur in Bezug auf kulturelle Kodes gemacht werden. Die Anwendung natürlicher Kodes unterliegt durch ihre genetische Verankerung ebenfalls nicht dem Willen einzelner, aber natürliche Kodes sind nicht verbindlich in einem sozialen Sinne. 92 Starke und schwache Kodes bilden laut Eco nur Endpunkte eines „semiosischen Kontinuums“ (Eco 1985: 66), das von einer strikten Kodierung (wie z.B. im Kode der Verkehrszeichen) bis zu sehr offenen Formen reicht (wie sie für viele kulturelle Kodes bestimmend sind). Weiterhin kann man davon ausgehen, dass schwache Kodes eher analog als digital kodiert sind, d.h. dass die Elemente nicht diskret, sondern kontinuierlich im Raum angeordnet sind. Daraus folgt unter anderem, dass eine deutliche Differenzierung zwischen kodierten und nichtkodierten Ebenen der Zeichenmaterie erschwert wird: eine kleine Unregelmäßigkeit in der Typographie eines gedruckten Textes werde ich als zufällig und nicht signifikant auffassen, während jeder auch noch so flüchtige Pinselstrich in einem Gemälde vielfältige Bedeutung erlangen kann. Im städtischen Raum haben wir es seltener mit intentionalen analogen Zeichen zu tun (ein Beispiel wären Werbeplakate), jedoch häufig mit nicht-intentionalen analogen Aspekten von Objekten. Die eigentliche intentional kodierte Bedeutung kann in den Hintergrund treten, wenn in einem bestimmten Kontext ein Aspekt die Ausdrucksmaterie stärker relevant wird und zum Zeichenträger eines Zeichenprozesses wird.
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kann ich z.B. eine bestimmte Schriftgestalt als typische 50er-Jahre-Typographie bestimmen, wenn ich als Graphikerin mit solchen graphischen Kodes vertraut bin. Wenn ich dann im Straßenraum ein konkretes Ladenschild mit ähnlicher Schrift sehe, kann ich unter Nutzung dieser kodierten Zuordnung und der Einbeziehung des räumliches Kontextes inferieren, dass das dazugehörige Geschäft schon in den 50er Jahren existierte. Index, Ikon und Symbol: Drei grundlegende Zeichentypen zwischen Kognition und Konvention Zeichen können nach der Art der in der Interpretation angewendeten Zuordnung zwischen Zeichenausdruck und Zeicheninhalt typisiert werden. Die Unterscheidung in Index, Ikon und Symbol wurde von Charles S. Peirce eingeführt, der damit die drei Formen der Relation Zeichenträger – Objekt in seinem triadischen Zeichenmodell beschrieb (s.o. Kap. 2.1.2).93 Zeichen, bei denen Ausdruck und Inhalt durch eine konventionelle Zuordnung verbunden werden, wie dies z.B. für die meisten Ausdrücke der natürlichen Sprachen der Fall ist, werden als Symbole bezeichnet. Hier werden im Interpretationsprozess regelbasierte Schlüsse gezogen, es liegt ein konventioneller Kode zugrunde. Zeichen, bei denen zwischen Ausdruck und Inhalt eine Ähnlichkeitsrelation besteht, heißen Ikons.94 Als Ikon werden im Allgemeinen beispielsweise Fotografien, Piktogramme, figürliche Kunstwerke etc. interpretiert, im weiteren Sinne kann man auch Diagramme und lautmalerische Ausdrücke wie ‚miauen‘ zu den Ikons zählen. Ikons werden mit Hilfe von Schlüssen interpretiert, die auf erkannten Ähnlichkeitsrelationen beruhen. Zeichen, deren Ausdruck und 93 Peirces Typologie ist auf der Unterscheidung von Beziehungen zwischen Zeichenträger und realem bezeichnetem Objekt, dem Referenten, aufgebaut. Dagegen sind hier immer Relationen zwischen kognitiven Repräsentationen gemeint, wenn von Kausal-, Ähnlichkeits- und konventionellen Relationen zwischen Ausdruck und Inhalt die Rede ist (zur kognitiven Deutung von Ausdruck und Inhalt vgl. Kap. 2.1.1, Fußnote 12). Die Darstellung in diesem Absatz geht daher auch nicht direkt auf Peirces Begriffsdefinitionen zurück, sondern ist angelehnt an Keller 1995: 114ff, ähnlich auch bei Bierwisch 1978: 42ff. 94 Zur Kritik am Ähnlichkeits- bzw. Ikonizitätsbegriff vgl. Eco 1976/1987: 254ff, Goodman 1968/1995, Kap. I.1, Überblicksdarstellung bei Blanke 2003: 14ff. Das Zuschreiben von Ähnlichkeit soll hier verstanden werden als das Erkennen von Übereinstimmungen bestimmter, für die Objektwahrnehmung relevanter Struktureigenschaften wie der Umrisslinie oder einer Isomorphie (vgl. Sachs-Hombach 2002: 22, Bierwisch 1978: 43). Das Erkennen von Ähnlichkeits- bzw. Äquivalenzrelationen (und folglich auch von Differenzen) ist ein grundlegender Bestandteil des Wahrnehmungs- und Interpretationsprozesses, s.a. Kap. 2.3.2.
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Inhalt in einer kausalen Relation stehen, nennt man indexikalische Zeichen oder Indices. Als Indices können z.B. ‚Autolärm‘ für ‚große Straße in der Nähe‘ und, als klassisches Beispiel, ‚Rauch‘ für ‚Feuer‘ gelten. Bei der Interpretation von Indices werden kausale Schlüsse eingesetzt. Als wichtiges Merkmal von Indizes benennt Peirce ihre Eigenschaft, sich immer auf konkrete Individuen oder konkrete Umweltkonstellationen beziehen (Peirce 1931-1958: CP 2.305). Im Unterschied zu Symbolen können Indices nicht auf einen Objekttyp, sondern nur auf ein konkretes Exemplar eines Typs verweisen. Während sprachliche und andere konventionelle Zeichen meist als Symbole interpretiert werden und Bilder überwiegend als Ikons, werden konkrete Objekte oft kausal, als Ursachen oder Folgen bestimmter Sachverhalte und damit als Indices gedeutet. Hier wird bereits deutlich, dass eine Semiotik der konkreten Objekte den indexikalischen Zeichenrelationen besondere Aufmerksamkeit schenken sollte. Kein als Zeichen interpretiertes Objekt ist inhärent Index, Ikon oder Symbol; potentiell kann jedes Objekt unter einer oder mehrerer dieser Perspektiven interpretiert werden. Es handelt sich strikt genommen nicht um die Klassifikation eines Objekt-Zeichen als Entität, sondern um eine Klassifikation der Aspekte des Objekts, die in der Interpretation zugrunde gelegt werden (vgl. auch Sebeok 1976/1979: 41). Ein Straßenschild signifiziert als sprachlich-konventionelles Symbol den Namen einer Straße, es ist anderen Straßenschildern der Stadt in seiner Form ikonisch ähnlich, und es weist durch Standort und Richtungsangabe als Index auf die Straße, deren Namen darauf geprägt ist. Dieses Beispiel zeigt auch, dass der Begriff des Index nicht mit dem des Anzeichens (s. Kap. 2.1.2) synonym ist: Anzeichen als nicht intentionale Zeichen werden immer indexikalisch interpretiert, sind folglich immer Indices. Indexikalisch wirkende Zeichen können jedoch auch intentional zum Zweck der Kommunikation produziert, d.h. als Signale verwendet werden.95 Kennzeichnend für die strukturalistische Semiotik seit Saussure ist die bevorzugte Beschäftigung mit dem System der natürlichen Sprachen. Sprache als arbiträres und konventionelles Zeichensystem wird von Saussure als „charakteristischstes System von allen“ und angemessenes „Musterbeispiel […] der gesamten Semeologie“ (Saussure 1916/1967: 80) betrachtet. Ein Zeichen ist nach Saussure dann arbiträr, wenn keine innere Beziehung zwischen Signifikant und Signifikat besteht, z.B. ist die Lautfolge /Tisch/ weder durch eine Ähnlichkeitsbeziehung noch durch eine kausale Beziehung mit dem Inhalt verbunden, die Verknüpfung wird hier allein durch einen konventionellen Kode hergestellt. Allerdings ist arbiträr nicht synonym mit konventionell. Arbitrarität bezeichnet eine bestimmte interne Relation zwischen Ausdruck und Inhalt eines Zeichens, während die Kon95 Als Signale werden Indices z.B. in ostensiven Handlungen eingesetzt wie beim Hochhalten eines Bierglases im Lokal für ‚Ich möchte noch ein Bier‘.
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vention die im sozialen Handeln generierte Ursache für diese spezifische Zuordnung ist (vgl. auch Blanke 2003: 105f).96 Oft werden Arbitrarität und Motiviertheit als Gegensatzpaar konzipiert (z.B. Saussure 1916/1967: 79, vgl. auch Nöth 2000: 338). Motiviert nennt Saussure diejenigen Zeichen, bei denen eine „natürliche Beziehung“ zwischen Signifikant und Signifikat besteht (1916/1967: 80). Ikonische Zeichen und Indices wären demnach unter die motivierten Zeichen einzuordnen, Symbole unter die nicht-motivierten. 97 Sowohl Arbitrarität als auch Motiviertheit können nur relativ und ideell gedacht werden. Wenn Saussure Arbitrarität als allgemeines Prinzip der Zeichenkonstitution ansieht (1916/1967: 79, auch Nöth 2000: 341), so betrachtet er nur den semanti-
96 Eine Privatsprache (im Sinne von Wittgenstein) wäre nicht konventionell, könnte (oder besser müsste) jedoch arbiträr sein. Laut Roland Barthes (Barthes 1964/1983: 43) sollten konventionelle Zuordnungen nicht grundsätzlich als arbiträr, sondern nur als nichtmotiviert bezeichnet werden. Als Sprecherin der deutschen Sprache steht es mir eben nicht frei, einen Tisch ‚Stuhl‘ zu nennen, literarisch hat dies z.B. Peter Bichsel in seiner Erzählung: „Ein Tisch ist ein Tisch“, Suhrkamp 1995, formuliert. Arbitrarität billigt Barthes nur solchen Zeichensystemen zu (ein Beispiel wäre die Mode), deren AusdrucksInhalts-Korrelationen auf einer einseitigen Entscheidung beruhen, die somit nicht ‚spontane Ordnungen‘ (s.o. Kap. 2.2.3.1) darstellen. Arbitrarität kann begrifflich dem Untersuchungsbereich der Semantik zugeordnet werden, während Konventionalität auch pragmatische Aspekte umfasst. 97 Auch die Klassifizierung arbiträr/motiviert ist aspektbezogen, jedoch wird hier ein weiterer semiotischer Mechanismus besonders deutlich. Beispielsweise zeigt ein Verkehrsschild für Radwege die Abbildung (das Ikon) eines Fahrrads und ist damit motiviert. Dass das Fahrrad eine bestimmte Form hat und weiß auf blauem Grund dargestellt wird, ist allein den Vorschriften der Straßenverkehrsordnung geschuldet und somit arbiträr (jedoch nur in semantischer Perspektive, in pragmatischer Betrachtung ist die Ausdruckssubstanz motiviert durch die Straßenverkehrsordnung). Hier zeigt sich, dass jede konkrete Zeichenäußerung, die motivierte Zeichen anwendet, auch arbiträre Elemente einschließt (diese müssen jedoch nicht notwendig konventionell sein). Dies lässt sich wieder aus dem Verhältnis von Exemplaren und Typen erklären: In bestimmten Situationen hergestellte Zeichenexemplare basieren auf Typen (dies wäre im obigen Beispiel ein ikonisches Schema eines Fahrrads), aber die Zeichenträger in ihrer sinnlichen Erscheinung (auch z.B. bei ikonischen Zeichen) enthalten immer Elemente, die nicht durch den Typ festgelegt sind (vgl. Blanke 2003: 105). Z.B. prägt immer eine bestimmte (arbiträre) Stilkonvention oder auch ein individueller Stil die (motivierte) ikonische Darstellung.
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schen Aspekt des semiotischen Prozesse.98 Die Grundfrage jeder Interpretationshandlung und damit jeglichen Verstehens lautet jedoch vielmehr: durch was ist das von mir beobachtete Phänomen motiviert? Aus einer pragmatischen Sicht sind Interpretationsfragen Motivationsfragen, d.h. Fragen nach der Ursache und dem Ziel, sowohl in der Interpretation von nicht-kommunikativen materiellen Objekten als auch in der sprachlichen Kommunikation.99 Dass wir dabei (pragmatisch) motivierte Formenkomplexe oft nur mit Hilfe arbiträrer (nicht-motivierter) Elemente produzieren und verstehen können, stellt eine der Paradoxien der Sprache und der Erkenntnis dar. Ich gehe davon aus, dass Objekt-Zeichen im Vergleich zu sprachlichen Zeichen als stärker motiviert und weniger arbiträr anzusehen sind. Die Ausdruckssubstanz und damit die typunabhängigen (d.h nicht im Objekttyp kodierten) Eigenschaften können in weit größerem Maße Relevanz erhalten, als die bei sprachlichen Zeichen der Fall ist. Aus ihr können perspektivisch sehr unterschiedliche, durch einzelne Aspekte motivierte Inhalte entwickelt werden. Die Perspektivität von Objekt-Zeichen wird in Kapitel 2.2.3.4 behandelt. Auch bei der Produktion von materiellen Objekten ist die Verbindung zwischen Ausdruck und Inhalt stärker motiviert als bei intrinsischen, d.h. intentional allein zum Zweck der Kommunikation geschaffenen Zeichen: Material (Elemente) und Konstruktion (Struktur) müssen physikalischtechnisch geeignet sein, die Standardfunktion zu ermöglichen. Ein Tisch, an dem gegessen werden soll, ist z.B. schwerlich aus dünnem Papier herzustellen (vgl. jedoch z.B. Papier als traditionelles Material beim Bau japanischer Häuser). 2.2.3.2 Denotation und Konnotation von Objekten Die potentiell unendlichen Anschlussmöglichkeiten der Semiose hat Peirces Modell deutlich gemacht. Im Interpretationsprozess entstehen Interpretantenketten, die nur durch die Zwänge der Praxis beschränkt sind (vgl. Peirce 1931-1958: CP 5.491). Auch die strukturalistische Semiotik hat sich mit solchen Bedeutungsketten oder Bedeutungsschichten beschäftigt. Der primären, denotativen Bedeutung eines Zeichens können sekundäre, konnotative Bedeutungen hinzugefügt werden. Ein umfassendes Modell der konnotativen Bedeutung wurde von Louis Hjelmslev ausgearbeitet und später von Roland Barthes und Umberto Eco (s.o. Kap. 2.2.2) neu interpretiert.
98 In der Grammatik (d.h. aus einer syntaktischen Perspektive) erkennt Saussure dagegen eine „relative Motiviertheit“ der Konstruktionen an, z.B. in der Pluralbildung, in bestimmten morphologischen Schemata etc. (1916/1967: 156ff). 99 Auch sprachliche Äußerungen können als Index von Etwas gedeutet werden, z.B. der Intentionen des Senders.
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Das denotative Zeichen als Einheit aus Ausdruck und Inhalt stellt für Louis Hjelmslev das Grundmodell des Zeichens dar (siehe Kap. 2.1.1). Hjelmslev definiert ein konnotatives Zeichen als ein Zeichen, dessen Ausdrucksebene durch Ausdrucks- und Inhaltsebene eines denotatives Zeichen gebildet wird (Hjelmslev 1974: 114ff, siehe Abb. 2). Ein sprachlicher Ausdruck (Ausdruck1) denotiert seinen primären Inhalt (Inhalt1) und kann, indem die Einheit von Ausdruck1 und Inhalt1 zu einem neuen Ausdruck (Ausdruck2) wird, weitere Inhalte (Inhalt2) konnotieren. Eine schriftliche Äußerung wie |Das Auto fährt schnell| denotiert den Inhalt und konnotiert z.B.: . Eine bestimmte dialektale Färbung der Äußerung konnotiert den Dialekt des Sprechers. Konnotiert werden kann auch ein sprachlicher Stil, eine bestimmte Stimmung etc. Auch Ecos Darstellung der Konnotation beruft sich auf Hjelmslev (s.a. oben Kap. 2.2.2). Wie aus seinen Beispielen (z.B. in Eco 1976/1987: 82f) hervorgeht, versteht Eco unter Konnotationen jedoch, anders als Hjelmslev, vor allem die Konnotationen der Inhaltsseite, d.h. sekundäre Bedeutungen, die sich aus der Inhaltsebene des Zeichens herleiten. Der Ausdruck /Haus/ denotiert z.B. den Inhalt mit der Funktion des Wohnens und kann ausgehend von diesem Inhalt etc. konnotieren.100 Abbildung 2: Modell des konnotativen Zeichens nach Hjelmslev
Konnotatives Zeichen Denotatives Zeichen
Ausdruck 2
Ausdruck 1
Inhalt 2
Inhalt 1
Die Anwendung der Begriffe Denotation und Konnotation auf Objekt-Zeichen ist nicht unproblematisch. Der Begriff der Denotation (sei es in seiner intensionalen oder extensionalen Ausdeutung) wurde in der Philosophie und in der Semantik fast
100 Die offensichtliche Differenz zu Hjelmslevs Konnotationsbegriff, die am deutlichsten in den von ihm angeführten Beispielen wird, macht Eco nirgendwo explizit. Sekundäre Bedeutungen der Ausdrucksebene thematisiert er nur in seinen Ausführungen zum ästhetischen Zeichen (Eco 1976/1987: 356f). Hier gebraucht er jedoch nicht den Begriff der Konnotation, sondern spricht von durch die Ausdrucksseite motivierten „Überkodierungen“.
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ausschließlich auf sprachliche Ausdrücke angewendet (vgl. Eco 1997/2000: 453ff), und verleitet bei der Analyse von Objekten dazu, diese in sprachliche Zeichen zu übersetzen und so objekt-zeichen-spezifische materielle Eigenschaften zu vernachlässigen. Der Begriff der Konnotation in seiner allgemeinsten Definition als sekundäre Bedeutung ist ohne Zweifel ein nützlicher Terminus, besonders in der Analyse von kulturell determinierten Zeichen, die Definition muss jedoch spezifisch für Objekt-Zeichen formuliert und von anderen Begriffsbestimmungen (z.B. Ecos) abgegrenzt werden. In dieser Arbeit wird auf die hjelmslevsche Begriffsbestimmung des denotativen und konnotativen Zeichens und die daran anknüpfende von Roland Barthes zurückgegriffen (Barthes 1964/1983: 75ff, 1961/1990: 13ff, 1964/1990: 39) und diese ergänzt durch Ledruts Bestimmung der Objektdenotation als Ergebnis der Objektkategorisierung (Ledrut 1973/1986: 117). Als Denotation bezeichne ich 1. den primären, kontextunabhängigen Inhaltstyp (Inhaltsform) eines Kommunikations-Zeichens (eines Signals). Signale im städtischen Raum sind z.B. Ladenschilder, Verkehrszeichen und Werbeplakate. 101 2. den primären Inhaltstyp eines materiellen Objekts, das nicht in erster Linie Kommunikationsobjekt ist. Dieses ist der Typ, unter dem es kategorisiert wurde (vgl. Kap. 2.2.2). 102 Denotation einer [Straßenlaterne] wäre mithin , einer [Bäckerei] und eines [Stromkastens] . Soll zwischen beiden Formen der Denotation unterschieden werden, spreche ich von Signaldenotation bzw. kategorialer Denotation oder einfach Kategorisierung.103 Unter Konnotationen verstehe ich diejenigen sekundären Inhalte eines ObjektZeichen oder eines Kommunikations-Zeichens, die aus seiner Inhaltsebene (d.h. aufbauend auf dem denotativen Inhalt) oder seiner Ausdrucksebene oder beiden entwickelt werden. Diese Inhalte werden häufig kontextabhängig konstituiert. Als
griff des Typ- und Tokenkonzepts vgl. Kap. 2.3.2). Die bei Präsentation des realen Objekts (eines Apfels) aktivierten Sprachproduktionen unterscheiden sich von denen, die bei der Präsentation des das Objekt beschreibenden Lexems aktiviert wurden: beim realen Objekt werden vor allem Eigenschaften des (konkreten) Objekts (außer der Farbe) wie z.B. ‚saftig‘ sowie bildhafte Assoziationen genannt, bei der Präsentation des Worts ‚Apfel‘ dominieren kategoriale (z.B. Nennung der übergeordneten Kategorie ‚Obst‘) und kontextuelle Zuordnungen (‚Apfelbaum‘) sowie Farbeigenschaften (Jakovidou 2004: 62ff). 103 Es kann angenommen werden, dass städtische Kommunikations-Zeichen, z.B. das Verkehrszeichen STOP sowohl als (1.) kategorisiert (auf Grund seiner spezifischen Größe, Material und Anbringung im Straßenraum) als auch als (2.) gelesen werden. Kategoriale und Signal-Denotation wirken hier zusammen, wobei der Kontext notwendig einbezogen wird (vgl. auch Kap. 3.4.4 zur Ortsindexikalität). Einmal kommen hier die normierten Vorschriften der Straßenverkehrsordnung oder anderer Institutionen zum Tragen (ein 10 cm großes gemaltes Stoppschild aus Pappe an einer Litfaßsäule fasse ich nicht als Verkehrszeichen auf). Grundsätzlich findet sich eine doppelte Kodierung bzw. Dekodierung zudem bei allen Kommunikations-Zeichen, also auch in sprachlichen Äußerungen: den kommunikativ-denotativen Inhalt eines geschriebenen oder gesprochenen Satzes (von Prieto als signifikative Indikation bezeichnet) kann ich erst dann verstehen, wenn ich ihn überhaupt als kommunikative Äußerung aufgefasst habe und nicht als kontingentes Geräusch (als notifikative Indikation im Sinne von Prieto, Prieto 1966/1972: 33ff). Da vermutet wird, dass die Kommunikations-Zeichen in den Vorstellungsbildern nur eine untergeordnete Rolle spielen, soll dieses Zeichenphänomen hier nicht weiter analysiert werden. Der Einfachheit halber wird angenommen, dass der Inhalt von Kommunikations-Zeichen aus ihrer Denotation und ggf. einer weiteren ausdrucks- oder inhaltsinduzierten Konnotation resultiert.
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Konnotationen werden auch die emotional-evaluativen Inhalte aufgefasst, wie atmosphärische Wirkungen, ästhetische Bewertungen etc.104 Die Bezeichnung primär bzw. sekundär sagt nichts über die Relevanz der Inhalte für den Interpreten in einem spezifischen Kontext aus. Ähnlich wie der Tonfall einer sprachlichen Äußerung oft mehr über ihren Sinn oder über den emotionalen Zustand des Sprechers verrät als der eigentliche Wortlaut, kann z.B. der Erhaltungszustand der Wohn- und Geschäftshäuser eines Stadtraums dem Interpreten Informationen über soziale Tatbestände liefern, die für ihn weit wichtiger sein können als der (auf die überwiegende Zahl der städtischen Gebäude zutreffende) Tatbestand, dass hier Menschen wohnen bzw. Geschäfte betreiben. 2.2.3.3 Objekttyp und Gebrauchsfunktion Die Gebrauchsfunktion eines Objektes wäre in diesem Verständnis eine seiner möglichen Konnotationen. Allerdings trägt dies nicht dem Umstand Rechnung, dass die Gebrauchsfunktion eng an die Typbestimmung gekoppelt ist: wenn ich ein Objekt als Bäckerei kategorisiere, werde ich meist automatisch die Bedeutung herstellen. Ähnliches trifft auf alle intentional für eine bestimmte Funktion produzierten materiellen Objekte, also alle Artefakte (vgl. Kap. 2.2.1) zu, die Verschränkung von Objektkategorisierung und Funktionsbestimmung ist hier sehr eng.105 Daher soll zusätzlich der Begriff der Standardfunktion für die konventionalisierte Funktion von Artefakten eingeführt werden.106 Im Gegensatz zu Eco (Eco 1972b: 312ff, vgl. auch Kap. 2.2.2) betrachte ich die Standardfunktion nicht als das von dem Objekttyp107 denotierte Signifikat, sondern als Merkmal des Typs. Sie wird mit diesem zusammen aktualisiert. Dies trifft sich auch mit der Auffassung Prietos, der davon ausgeht, dass die Auswahl der intensionalen Identität (des Typs) eines 104 Die Auffassung von emotionalen Wirkungen als Inhalten beruft sich auf Peirce, der Gefühle nicht nur als mögliche, sondern sogar als notwendige Interpretanten (Wirkungen) jeglicher Art von Zeichen ansah, die der Bildung weiterer signifikativer Interpretanten vorausgehen (Peirce 1931-1958: CP 5.475). 105 Vgl. auch Scholz 2002: 23 zum „Verstehen“ von Artefakten. Das Erfassen der Funktion des Artefakts ist für ihn zentral für sein Verstehen. Zur wichtigen Rolle der funktionalen Äquivalenz bei der Ausbildung von mentalen Konzepten vgl. weiterhin Hoffmann 1996: 96ff . Siehe ferner Violi, für den zu den essentiellen, nicht auslöschbaren Eigenschaften eines Objekts auch die funktionalen gehören (Violi 1997, Kap. 7.2, zitiert nach Eco 1997/2000: 271). 106 Zum Begriff der Standardfunktion bei Artefakten vgl. auch Posner 1992: 19ff. 107 Eco spricht zwar allgemein von der Funktion von „Gebrauchsobjekten“, meint dabei jedoch keine konkreten Objektexemplare, sondern immer (abstrakte) Objekttypen.
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Objektes aus einem System von Objekten an die jeweilige intendierte Praxis gekoppelt ist (vgl. Kap. 2.2.2). Im Falle eines Artefaktes ist die praktische Verwendung quasi intrinsisch angelegt, sie ist Merkmal des Typs. Ähnlich kann auch Roland Barthes’ Feststellung, das Objekt sei immer funktionell (Barthes 1964/1988: 196, s.a. Kap. 2.2.2) gelesen werden: das Artefakt und seine Funktion sind eins (und nicht letztere das Signifikat des ersteren). Damit wird die Gebrauchsfunktion vom Signifikat des Typs zurück in den Typ selbst verschoben. Die Funktionsbestimmung ist Teil der möglichen Konstituierung des Objekts als Signifikant für einen weiterführenden Signifikationsprozess. 108 Die [Sitzbank] als Exemplar bedeutet auf eine andere Weise , als z.B. der Satz /Hier kannst du dich hinsetzen/ in einem Buch.109 Bei der Betrachtung der Bank erkenne ich ihre Form und ihre Funktion und kategorisiere sie so als . Ihre Indexikalität (s.o. Kap. 2.2.3.1) ist in ihr quasi inkorporiert. Hier kommt der von Nelson Goodman geprägte Begriff der Exemplifikation ins Spiel (Goodman 1968/1995: 59ff, Goodman 1981: 14ff). Exemplifikation stellt für Goodman eine Form der nicht-denotierenden Referenz dar,110 sie liegt dann vor, „wenn ein Beispiel auf eine seiner eigenen Eigenschaften verweist“ (Goodman 1981: 14). Es handelt sich bei Exemplifikation und Denotation um entgegengesetzte Richtungen der Referenz: während bei der Denotation ein sprachlicher Ausdruck auf einen Gegenstand angewendet wird, verweist bei der Exemplifikation der Gegenstand auf seine Bezeichnung oder die mit der Bezeichnung verbundene Eigenschaft, z.B. eine Stoffprobe verweist auf Farbe, Muster und Web108 Ähnlich verfährt auch Roland Barthes (Barthes 1964/1983: 35f), wenn er von „Semantisierung des Gebrauchs“ spricht: die Gebrauchsgegenstände werden nicht nur verwendet, sondern werden darüber hinaus zu Zeichen des Gebrauchs. 109 Vgl. dagegen die Aufschrift „Drink me“ auf der Flasche in Lewis Carrolls Alice in Wonderland, die Alice als Aufforderung versteht, den Inhalt dieser Flasche auszutrinken. Hier handelt es sich um ein Beispiel eines ortsindexikalischen Kommunikations-Zeichens. Der Begriff der Ortsindexikalität wird in Kap. 3.4.4 definiert. 110 Goodmans Denotationsbegriff ist entsprechend seiner Zeichenphilosophie nominalistisch angelegt als „Anwendung eines Wortes oder Bildes oder einer anderen Bezeichnung auf ein oder mehrere Dinge“ (Goodman 1981: 11) und daher anders gefasst als der hier verwendete. Exemplifikation verstehe ich nicht-nominalistisch als Verweis eines Objekts (als Typ oder Token aufgefasst) auf seine Merkmale (die Merkmale des Objekts als Typ) bzw. auf seine Eigenschaften (Eigenschaften des Objekts als Token) (für einen Empfänger). Diese Eigenschaften können vom Interpreten sprachlich in gewissen Grenzen beschrieben werden, generell gehe ich jedoch mit Bierwisch (1999: 73) davon aus, dass nicht alles, was Kognition ausmacht, auch verbalisiert werden kann (als Beispiele führt Bierwisch die Wiedererkennung von Individuen an).
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art des Stoffes (Goodman 1981: 14). Exemplifikatorische Relationen spielen eine maßgebliche Rolle in indexikalischen Zeichenprozessen, sie stellen laut Elgin die verbindenden Glieder in indexikalischen Verweisungsketten dar (Elgin 1996: 184ff, vgl. auch Goodman/Elgin 1988/1989: 62). So kann ein bestimmter Schwung der Schrift auf einem Ladenschild das Merkmal exemplifizieren und indexikalisch signifizieren. In der Exemplifikationsrelation bei Objekt-Zeichen zeigt sich besonders deutlich die grundsätzlich für alle Zeichen geltende potentielle Reversibilität von Ausdruck und Inhalt (Eco 1976/1987: 47f, 106). Die leeren Schaufenster in einer Straße stehen für (exemplifizieren) , aber gleichzeitig kann auch die Äußerung des Begriffes /Leerstand/ das Bild der leerstehenden Läden in dieser Straße aufrufen. Ein Objekt denotiert seine Funktion somit nicht (jedenfalls nicht in direkter Weise, sie ist ihm nicht äußerlich), sondern es exemplifiziert sie.111 Diese Exemplifikation kann situationsbezogen und ausdruckstokenbezogen (z.B. aus der individuellen Form ablesbar) und/oder konventionalisiert und ausdruckstypbezogen (bei standardisierten Artefakten) sein. Ich kategorisiere ein Objekt als Tisch (und stelle damit gleichzeitig fest, dass ich auf diesem Objekt etwas ablegen kann). Die Eigenschaft ‚Funktion, etwas darauf abzulegen‘ ist ein Merkmal des Typs . Artefakte exemplifizieren ihre Funktion meist in doppelter Weise: als Merkmal ihres Typs (in Form der Standardfunktion) und zusätzlich durch die spezifischen Eigenschaften ihrer Ausdruckssubstanz (hier können feine Funktionsdifferenzierungen exemplifiziert werden).112
111 Ähnlich hat dies auch Sven Hesselgren in seiner Auseinandersetzung mit Ecos Architekturtheorie (1973: 426) formuliert: für Hesselgren fungiert ein Gebrauchsgegenstand wie ein Löffel nicht als Symbol seiner Funktion, in diesem Fall des Essens, da er nicht an Stelle des Essens steht. Vielmehr drückt die Erscheinung eines Löffels seinen Zweck oder Funktion aus („gives expression to“). Zur Exemplifikation von praktischen Funktionen in der Architektur vgl. Baumbergers Ausführungen in seiner auf Goodmans Theorie basierenden Symboltheorie der Architektur (Baumberger 2010: 179ff). 112 Dass die Exemplifikation durch die Ausdruckssubstanz nicht immer hinreichend für die Bestimmung der Gebrauchsfunktion ist, zeigt das von Eco angeführte anekdotische Beispiel über die Nutzung von Toilettenbecken zum Olivenwaschen in Süditalien, siehe Kap. 2.2.2. Ebenso begegnen wir manchmal Artefakten (z.B. ‚Design-Objekten‘), aus deren für uns ungewohnter Form die Funktion nicht deutlich ersichtlich ist und deren Benennung (als Typ) erst durch eine Warenbeschriftung etc. kommuniziert und dadurch auch auf eine Gebrauchsfunktion hingewiesen wird.
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Etwas anders verhält es sich mit Objekten, die nicht zu den Artefakten gezählt werden können, z.B. ein größerer Stein im Wald: hier kategorisiere ich das Objekt als . Aus seiner konkreten Form leite ich zusätzlich ab, dass er sich auch zum Sitzen eignet, füge der Kategorisierung als Typ also die Kategorisierung Typ hinzu.113 Im ersten Fall wähle ich bei der Kategorisierung die Eigenschaften aus, die das Objekt zum Typ werden lassen, im zweiten diejenigen, die es als Sitzgelegenheit geeignet erscheinen lassen. Die funktionale Interpretation ist hier abhängig von Eigenschaften der Ausdrucksmaterie (eine bestimmte Höhe, Breite, Formung), die z.B. auch ein Baumstumpf erfüllen könnte. Die Exemplifikation ist überwiegend tokenbezogen.114 Es handelt sich nicht um eine Standardfunktion im o.g. Sinne, sondern um eine kontextuelle Funktion. Gebrauchsfunktionen, die nicht im Artefakttyp kodiert sind, sondern situationsabhängig aktualisiert werden, sollen kontextuelle Funktionen heißen. Auch Artefakte können für zusätzliche Gebrauchsfunktionen genutzt werden, die nicht ihrer Standardfunktion entsprechen. Standardfunktion eines Briefkastens ist z.B. die Aufnahme von Briefen zur Weiterbeförderung durch die Post, während seine Nutzung als Untergrund zum Aufkleben von Suchanzeigen, Stickers etc. eine kontextuelle Funktion darstellt. Mögliche kontextuelle Funktionen sollen zu den Konnotationen zählen. Artefakte denotieren durch ihre Ausdrucksform ihren Typ (der maßgeblich durch das Merkmal der Standardfunktion bestimmt ist), sie können durch ihre Ausdruckssubstanz weitere kontextuelle Funktionen exemplifizieren.115 Die meisten 113 Auch hier ist die Gebrauchsfunktion Merkmal des Typs, unter dem das Objekt kategorisiert wird. Es handelt sich jedoch nicht um ein Artefakt mit einer konventionalisierten Gebrauchsfunktion, daher kann man auch nicht von Standardfunktion sprechen. 114 Eine ausschließlich tokenbezogene Exemplifikation kann auch bei nicht-Artefakten meist nicht angenommen werden. So gehört ein Exemplar des Typs potentiell sicher zu den Dingen, die (bestimmte Form und Größe vorausgesetzt) zum Sitzen für Menschen geeignet sind, ein Exemplar des Typs jedoch nicht (es sei denn im Märchen). 115 Kontextuelle Funktionen können konventionalisiert (und im Fortgang institutionalisiert) werden und Teil der Standardfunktion werden, so z.B. wenn städtische Orte, die längere Zeit inoffiziell auf eine bestimmte Weise genutzt werden, für diese Bedürfnisse spezifisch ausgebaut werden (z. B Ausbau von größeren gepflasterten Flächen für Skater, Verstetigung von ‚Zwischennutzungen‘). Andererseits kann jedoch angenommen werden, dass einmal fest im Typ verankerte Standardfunktionen auch dann als Typmerkmal erhalten bleiben, wenn das konkrete Objekt die Funktion schon lange nicht mehr erfüllt. In Kirchenbauten, die nicht mehr als solche genutzt werden, ist die Funktion des
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Artefakte können als polyfunktional aufgefasst werden, in dem Sinne, dass sie außer einer ggf. vorhandenen Standardfunktion auch noch weitere kontextuelle Funktionen ermöglichen. Betont werden muss, dass durch die Bestimmung der Gebrauchsfunktion als Merkmal des Typs keineswegs einem undifferenzierten Funktionalismus das Wort geredet werden soll. Das Gegenteil ist der Fall: durch die Verlagerung der Funktion in den Typ, d.h. auf eine Ebene mit anderen den Typ charakterisierenden Merkmalen, wird erst der Weg zu einer nicht-funktionalistischen Interpretation frei, die ihren Ausgangspunkt nun beispielsweise in Aspekten der konkreten Ausdrucksmaterie nehmen kann. Interpretiert wird das, was in einer gegebenen Situation relevant ist: das kann die konventionalisierte Gebrauchsfunktion sein, aber die Gebrauchsfunktion (und der Typ als Ganzes) ist nicht notwendig die primäre Basis jeder Interpretation von Objekten. 2.2.3.4 Zur Perspektivität der Objektinterpretation Wir haben gerade festgestellt, dass der primäre Inhalt (die Denotation) von nichtkommunikativen materiellen Objekten durch den Typ gebildet wird, unter dem sie kategorisiert werden. Der Typ entspricht somit der untersten Ebene der Inhaltsseite. Aus dem Typ können weitere Inhalte entwickelt werden. Es kann sich z.B. um bestimmte Aspekte des Inhalts handeln, wie oder der Anblick einer Fleischerei kann einen Interpreten daran erinnern, dass in Berlin kaum noch eigenständige Fleischereien anzutreffen sind. Es ist allerdings auch möglich, dass die Interpretation mit der Kategorisierung abbricht, wenn das Objekt nicht als genügend relevant aufgefasst wird. Wie verhält es sich nun mit den aus der Ausdrucksebene, d.h. der materiellen Substanz, entwickelten Inhalten? Genauso wie nie der konzeptionelle Reichtum eines Typs als Ganzes Grundlage der weiteren Interpretation sein kann, ist auch die perzeptuelle Fülle eines materiellen Objekts nie vollständig zu erfassen und weiter zu verarbeiten (siehe Kap. 2.3). Wir wählen nur einzelne sensorische Aspekte eines Wahrnehmungsphänomens aus, die für uns in unserer allgemeinen Einstellung, im situationellen Kontext und im materiellen Kotext relevant sind. Ein Haus kann uns in einem Moment durch seinen üppigen Stuck auffallen (den wir als Jugendstil identifizieren), an einem anderen Tag eilen wir achtlos vorüber, weil wie den Bus nicht verpassen wollen und überlegen vielleicht nur kurz beim Anblick des Zeitungsladens im Erdgeschoss, ob noch Zeit bleibt, eine Zeitung zu kaufen. Prieto hat deutlich gemacht, dass in Abhängigkeit von der jeweiligen Perspektive ein Gottesdienstes (und die damit verbundenen Konnotationen) noch virtuell präsent. Genau genommen müsste man folglich zwischen virtuellen und aktuellen Standardfunktionen unterscheiden.
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Objekt immer sowohl als Bestandteil eines zusammengesetzten Objekts oder als eigenständiges Objekt betrachtbar ist und dass Interpretation und Relevanzsetzung generell nur perspektivisch gedacht werden können (s.o. Kap. 2.2.2). Auch Umberto Eco (1976/1987: 53) und Nelson Goodman116 haben auf die Perspektivität der Wahrnehmung und Interpretation hingewiesen, dagegen ist in der streng strukturalistischen Semiotik mit ihrem objektbezogenen Ansatz die perspektivische Auswahl, d.h. die Zuordnung eines Objekts zu einem Kode, bereits implizit vorausgesetzt und kaum Gegenstand der theoretischen Auseinandersetzung und Modellbildung.117 Perspektivität soll hier im umfassenden, erkenntnistheoretischen Sinn verstanden werden, also nicht auf den raumkognitiven oder visuellen Bereich beschränkt. Mit Wilhelm Köller wird davon ausgegangen, dass Perspektivität als „Grundphänomen aller faktischen Wahrnehmungsformen und aller kulturell entwickelten Zeichen“ (Köller 2004: 879) betrachtet werden muss. Perspektivität stellt sich für Köller als „grundlegende semiotische Kategorie“ dar, die auf alle Zeichenprozesse einwirkt. Während Köller drei Subkategorien der perspektivischen Erkenntnis unterscheidet,118 werde ich etwas lockerer nur zwischen a) dem Objektaspekt als der perspektivisch aus einem Objektausdruck oder -inhalt herausgeschnittene Einheit, die wieder zum Zeichenausdruck werden kann sowie b) der Perspektive als räumlicher und kognitiver Position, von der aus das Subjekt ein Objekt konstituiert, differenzieren. Der Objektaspekt kann aus der Inhalts- oder Ausdrucksseite ausgewählt werden, dementsprechend handelt es sich um einen Inhalts- oder Ausdrucksaspekt. Als Ausdrucksaspekte ausgewählt werden können einzelne Bestand116 „[...] der Gegenstand vor mir ist ein Mann, ein Schwarm von Atomen, ein Zellkomplex, ein Fiedler, ein Verrückter und vieles mehr.“ (Goodman 1968/1995: 17f) 117 Die Perspektivität des Zeichens kommt allerdings bei Bühlers „abstraktiver Relevanz“ (Kap. 2.1.2) und bei Barthes „metonymischer Signifikation“ (Kap. 2.2.2) ins Spiel sowie in der Semiotik des ästhetischen Zeichens (siehe Kap. 2.2.3.5). Der Begriff der Perspektivität spielt ferner in der Semiotik der Raumkognition, die mit Begriffen wie dem „egozentrischen Raum“ die Raumkonstitution und deren Repräsentation in der Sprache durch das Subjekt beschreibt, eine Rolle (vgl. z.B. Nöth 2000: 282ff, Wenz 1997). Auf den eher geringen Stellenwert des Begriffs in der Semiotik weist die Tatsache hin, dass in Nöths Handbuch (Nöth 2000) über das Sachregister nur auf vier sehr kurze Abschnitte zu den Begriffen Perspektivität, Perspektive etc. verwiesen wird. Im Handbuch der Semiotik (Posner/Robering/Sebeok 1997 u.ö.) wird der Begriff Perspektive etc. ebenfalls nur im Sinne geometrischer Projektionsverfahren bzw. deren Anwendung in der Kunst verwendet. 118 Den objektorientierten Aspekt, den subjektorientierten Sehepunkt und die strukturorientierte, Objekt- und Subjektseite verbindende Perspektive (Köller 2004: 9).
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teile des Objekts, z.B. die Eingangstür eines Hauses. Diese werden dann zum Subelement des komplexen Objekts [Haus] als übergeordnetem Objekt. Weiterhin können Eigenschaften des Objekts zu semiotisierten Ausdrucksaspekten werden, wie das Alter eines Hauses. Aspekte des Inhalts sind Merkmale eines Inhaltstyps oder -tokens. Ein Merkmal des Inhaltstyps ist z.B. . Eine konnotative Interpretation, die von diesem Inhaltsaspekt ausgeht, könnte z.B. die Zugänglichkeit von Kultureinrichtungen generell thematisieren. Während die Interpretation von Objekten polyperspektivisch ist (aus subjektbezogener Sicht), ist das Objekt selber polyaspektiv (aus objektbezogener Sicht). Von der Perspektivität als generellem Phänomen und der konkreten Perspektive soll außerdem die Perspektivierung als der Prozess der Perspektivensetzung unterschieden werden. Die Perspektivierung eines Objekts als Einheit, als zusammengesetztes Objekt oder als Element eines übergeordneten Objekts wird als strukturelle Perspektivierung bezeichnet, die Auswahl von bestimmten Ausdrucksund Inhaltsaspekten des Objekts und seiner Elemente und deren Semiotisierung als qualitative Perspektivierung.119 Mögliche strukturelle und qualitative Perspektivierungen von städtischen Räumen werden in Kapitel 3 beschrieben. In Auseinandersetzung mit Nietzsches Perspektivismus hat auch Volker Gerhardt aus philosophischer Sicht die unabdingbare Wechselbeziehung zwischen Perspektivität und Bedeutungskonstitution hervorgehoben: im perspektivischen Denken kommen letztlich keine physischen Dinge vor, sondern nur Interpretationen von Dingen (Gerhardt 1989: 268).120 Indem eine Perspektive eingenommen wird,
119 Hier lehne ich mich terminologisch an Blanke an, der von strukturellen und qualitativen Eigenschaften von Objekten spricht (s.o. Kap. 2.2.2). Blanke versteht unter qualitativen Eigenschaften allerdings nur den Ausdruck der einzelnen Elemente ohne die Verknüpfung zu einem Inhalt. Die Rede von Perspektivierungen setzt jedoch stärker als die Rede von (objektiven) Eigenschaften immer schon eine Interpretation voraus, und sei es nur die Interpretation als Zuordnung zu einer Objektkategorie. 120 Die unterschiedlichen perspektivischen Ansichten einer Stadt hat Leibniz in seiner Monadenlehre zur Veranschaulichung seines Perspektivitätsbegriff genutzt: „Und wie eine und dieselbe Stadt, von verschiedenen Seiten betrachtet, immer wieder anders und gleichsam perspektivisch vervielfältigt erscheint, so gibt es vermöge der unendlichen Vielheit der einfachen Substanzen gleichsam ebenso viele Welten, die indes nichts anderes sind als – gemäß den verschiedenen Gesichtspunkten jeder Monade – perspektivische Ansichten einer einzigen.“ (Leibniz 1996: 613) Hier wird deutlich, dass Leibniz noch von einer gegebenen Welt ausgeht; für Nietzsche dagegen gibt es die eine „wahre Welt“ nicht mehr (vgl. Gerhardt 1989: 263).
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entsteht schon eine Bedeutung, und Bedeutungen können allein aus einer bestimmten Perspektive erkannt werden. Interpretationsprozesse setzen somit nicht erst auf der Ebene der Zuordnung eines Ausdrucks zu einem Inhalt ein, sondern werden bereits bei der (perspektivischen) Auswahl eines Objekts oder Objektaspekts als Zeichenträger wirksam. 2.2.3.5 Objekttoken und Aisthezität Oben wurde konstatiert, dass die Semiotik sich wenig mit dem Topos der Perspektivität der Interpretation beschäftigt hat. Wenn sich die Semiotik als Kodetheorie begreift, ist dies auch konsequent: sobald ein Zeichen als Element eines Kodes X aufgefasst wird, ist schon eine Perspektive vorausgesetzt, die Auswahl einen Zeichenträgers muss nicht mehr thematisiert werden. Eine bestimmte Art von (kommunikativen) Zeichen sperrt sich jedoch besonders gegen diese Form der Reduktion von Zeichenprozessen. Dies sind die allgemein als ästhetische Zeichen bezeichneten Werke der bildenden Kunst, der Literatur (hier besonders der Lyrik), der Musik und anderer Kunstformen.121 Im Unterschied zum Zeichensystem der Sprache (jedenfalls in ihrer semantischen Auffassung) ist in der ästhetischen Botschaft die Ausdruckssubstanz nicht arbiträr. In der ästhetischen Botschaft, z.B. in einem Text der konkreten Poesie, signifizieren zwar |HAUS| und |Haus| beide den Inhaltstyp , jedoch kann die Darstellung in Majuskeln eine zusätzliche Bedeutungsschicht implizieren. Umberto Eco (1972: 147ff, 1987: 348ff) bestimmt als ein wesentliches Merkmal der ästhetischen Botschaft ihre Mehrdeutigkeit. Sie ist mehrdeutig in dem Sinne, dass eine Mehrdeutigkeit auf der Ausdrucksebene eine Mehrdeutigkeit auf der Inhaltsebene nach sich ziehen muss. Direkt mit dem Merkmal der Mehrdeutigkeit verknüpft sind nach Eco folgende Eigenschaften: a) Die Signifikanten erhalten nur aus der kontextuellen Wechselwirkung passende Signifikate. b) Die Zeichenmaterie erscheint nicht willkürlich in Bezug auf die Bedeutungen und die kontextuellen Beziehung der Signifikanten: „in der ästhetischen Botschaft bekommt auch die Ausdruckssubstanz eine Form“. c) In der Botschaft können folgende Informationsebenen unterschieden werden: die physikalische Ebene der Ausdrucksubstanz, aus der die Signifikanten gemacht sind; die Ebene der differentiellen Elemente im Paradigma der Ausdrucksebene; die Ebene der denotierten Signifikate; die Ebene der verschiede-
121 Vorauszuschicken ist, dass der Begriff des Ästhetischen hier nicht im normativen Sinne (ästhetisch vs. unästhetisch, schön vs. hässlich) verstanden werden soll.
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nen konnotierten Signifikate sowie die Ebene der vom Empfänger erwarteten Kodes wie z.B. ein stilistischen Subkode.122 Ein kurzer Exkurs: Betrachten wir das Haus gegenüber. Es ist ein Wohnhaus, das erkennen wir an seiner Bauweise, an den Wohnungen, in die wir abends hineinblicken können, an der Art der Klingelschilder. Damit haben wir seinen Objekttyp festgesetzt, seinen primären Inhalt bestimmt. In seiner Grundfunktion unterscheidet es sich nicht von den anderen Häusern in der Straße. Was es jedoch von den anderen Gebäuden unterscheidbar macht, ist seine spezifische Materialität. Nach der Architektursprache zu urteilen, könnte es (als einziges der Häuser in der Straße) in den 80er Jahren entstanden sein, darauf weisen z.B. die Balkone mit quadratischem Grundriss und der mit Kacheln in einem sehr auffälligen, gelb-braunen Streifenmuster verkleidete Sockel hin. Die Fassade ist hellgrün gestrichen, ein Balkon im Erdgeschoss ist zur Gänze durch ein Netz verschlossen. Einige Wohnungen sind immer dunkel, ihre Fenster sind leer ohne Gardinen.
Alle beschriebenen Sachverhalte beziehen sich nur auf dieses eine Haus. Es sind Ausdrucksaspekte des Objekts, unterschiedliche Aspekte der Ausdruckmaterie, die auf sehr unterschiedliche Dinge verweisen können, wenn wir sie beachten: auf die Entstehungszeit des Hauses (und gleichzeitig den architektonischen Stil der Zeit), auf eine Katze, die (wahrscheinlich) in dem Haus gehalten wird, auf Wohnungsleerstand und seine möglichen Ursachen wie eine Diskrepanz zwischen Mietpreis und Attraktivität der Wohnungen. In ähnlicher Weise werden wir die Gebäude in unserer Nachbarschaft häufig wahrnehmen, wir überlegen, wann sie gebaut wurden, welche Menschen dort leben und welche Arten von Wohnungen es dort gibt. Wir werden das Haus oder einige seiner Teile als schön oder hässlich empfinden. Offensichtlich signifizieren konkrete materielle Objekte potentiell weit mehr als ihren Typ und ihre Funktion, und dies scheint besonders für materielle Objekte des öffentlichen Raumes zuzutreffen.123 Wie obiges (allerdings subjektives) Beispiel zeigt, werden die sekundären Inhalte zu einem wesentlichen Teil aus der Ausdrucksmaterie entwickelt. Die Zeichenmaterie ist hier nicht willkürlich in Bezug 122 Ecos Klassifikation der Informationsebenen ist an Max Bense, Aesthetica orientiert (Eco 1972: 150). 123 Auch private, äußerlich rein funktionale Objekte können einen großen Bedeutungsreichtum erlangen, z.B. als Erinnerungsstücke, jedoch sind hier oft individuelle Kodes im Spiel. Dagegen können die unterschiedlichen ‚Kodes des öffentlichen Raums‘, die im Kap. 3.4 näher betrachtet werden sollen, als kulturelle Kodes konzipiert werden.
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auf den Zeicheninhalt, sie wird zur Ausdruckssubstanz geformt (z.B. [spezifische Farbe und Anordnung der Kacheln]), der der Inhalt () zugewiesen wird. Materielle Objekte der städtischen Umwelt teilen mithin mindestens eine gemeinsame Eigenschaft mit ästhetischen Zeichen. Auch Eigenschaften a) und c) können bei urbanen Objekten identifiziert werden. Unterschieden werden soll zwischen der aisthetischen124 und der ästhetischen Interpretation.125 Aisthetisch nenne ich jede Interpretation, die ihren Ursprung in Aspekten der Ausdrucksmaterie eines Objekts (und nicht in einem Ausdruckstyp) hat (also auch die ästhetische). Folgt man Martin Seel, zeichnet sich jedoch allein die ästhetische Wahrnehmung dadurch aus, dass der Vollzug dieser Wahrnehmung im Mittelpunkt steht und dieser Vollzug gleichzeitig ihr Zweck ist: Sie ist vollzugsorientiert und selbstbezüglich (Seel 1996: 46ff). In der ästhetischen Wahrnehmung werden die praktischen Seiten abgetrennt (sie ist, mit Kant gesprochen, „ohne alles Interesse“126), dagegen kann die nur aisthetische Interpretation durchaus auf praktische Inhalte verweisen, wie auf eine kontextuelle Gebrauchsfunktion des Objekts.127 Ein ästhetisches Zeichen wäre in diesem Sinne ein materielles Objekt, das von einem Interpreten in einer ästhetischen Einstellung wahrgenommen und interpretiert wird. Ihm wird nach MukaĜovský eine „ästhetische Funktion“ zugeschrieben. Prinzipiell kann jedes Objekt als ästhetisch aufgefasst werden: „ein beliebiger Gegenstand oder ein beliebiges Geschehen kann Träger der ästhetischen Funktion werden“ (MukaĜovský 1966/1970: 12). Objekt-Zeichen und ästhetische Zeichen können (in einer objektbezogenen Sicht) auf einem Kontinuum eingetragen werden, dessen äußerste Pole ideal durch die rein funktionalen Objekt-Zeichen auf der einen und die rein ästhetischen Zeichen auf der anderen Seite konstituiert werden. Je nach Betrachtungsweise kann ein und dasselbe Objekt unterschiedliche Positionen auf der Achse erhalten.
124 Angelehnt an die ursprüngliche Bedeutung von griechisch „aisthesis“ als „sinnliche Wahrnehmung“. 125 Zur Abgrenzung des Aisthetischen vom Ästhetischen bei Martin Seel siehe Seel 1996: 36ff. 126 Vgl. Kant 1790/1913: 204ff. Kants Begriff des Ästhetischen ist jedoch nicht mit dem hier verwendeten deckungsgleich. 127 Streng genommen wäre natürlich jede Objektkategorisierung als aisthetisch zu betrachten, da sie notwendig von einer Ausdrucksseite ausgehen muss. Grundsätzlich nehme ich an, dass der aisthetische Modus eine wesentliche Voraussetzung der adäquaten Interpretation von Umwelt ist, man daher auch nicht sinnvoll von einer speziellen „aisthetischen Einstellung“ analog zur „ästhetischen Einstellung“ sprechen kann.
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In der aisthetischen Interpretation können urbane Objekt-Zeichen durch ihre Zeichenmaterie z.B. Sachverhalte wie Entstehungszeit und Erhaltungszustand signifizieren. Hier handelt es sich ebenfalls um Exemplifikationsrelationen, die Objekte verweisen auf ihre Eigenschaften. Auf diesen Inhalten können dann weitere, häufig metonymische Interpretationen aufbauen, wie beispielsweise im städtischen Raum Annahmen über die soziale Identität der Bewohner (zur Metonymizität von ObjektZeichen allgemein siehe ausführlicher Kapitel 2.2.4.3, zur Darstellung metonymischer Interpretationen im Modell der Vorstellung Großstadtstraße X siehe Kap. 3.5). Oben wurde vom Begriff der Perspektivität zur Diskussion über die Relation zwischen Objekt-Zeichen und ästhetischen Zeichen hin übergeleitet, indem darauf hingewiesen wurde, dass in der ästhetischen Botschaft auch die Zeichenmaterie zum Ausgangspunkt der Interpretation wird. Wie schon durch die Einführung des Aspektbegriffs angedeutet, handelt es sich bei der Zeichenmaterie eines aisthetisch aufgefassten Objektes nicht um eine homogene Einheit, die nur aus einer Perspektive zu betrachten wäre. Auch Roland Posner geht davon aus, dass die Auswahl des Zeichenträgers, d.h. des für einen Interpreten relevanten Teiles der Zeichenmaterie, eine zentrale Rolle im Interpretationsprozess spielt. Voraussetzung zur Auswahl eines Zeichenträgers ist die Rezeptionsbereitschaft des Empfängers, d.h. die Fähigkeit zur Aufnahme sensorischer Informationen und Beherrschung einer gewissen Anzahl von Kodes. Im ersten Schritt der Konstitution des Zeichenträgers wird die passende Aufnahmemodalität (visuell, auditiv, etc.) gewählt und darauf aufbauend im zweiten Schritt das geeignete Dekodierungssystem (Posner 1973: 689). Allerdings muss festgestellt werden, dass diese hier als konsekutiv geschilderten Handlungen beinahe parallel ablaufen. Aufmerksamkeit auf ‚Etwas‘ und Kodeauswahl gehen Hand in Hand. Eco spricht in Bezug auf die ästhetische Botschaft von der „Logik der Signifikanten“: „Wenn man eine Einheit als relevant und als Einheit anerkennt, dann bedeutet das, daß man sie schon in Bezug auf einen Kode gesehen hat – und folglich schon als sinnerfüllt.“ (Eco 1972b: 161) In der aisthetischen und noch deutlicher in der ästhetischen Interpretation kommen nun Kodes zum Tragen, die nicht in einem ;automatischen‘ Vorgang 128 auf den denotativen Inhalt der Botschaft bzw. auf Typ und Funktion des Objekts fokussieren, sondern andere Aspekte der Zeichenmaterie zum Ausgangspunkt machen. Es findet eine Desautomatisierung von Deutungsgewohnheiten statt. Die Verfremdung oder Desautomatisierung stellte für die russischen Formalisten ein wesentliches Prinzip des poetischen Verfahrens dar (Nöth 2000: 95). Desautomatisierung bzw. Automatisierung ist m.E. immer nur graduell und prozessual zu verstehen, eine reine automatisierte, de128 Vgl. Fodors Annahme, dass die Prozesse der Inputmodule stark automatisiert sind (Kap. 2.2.3.1).
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notativ-funktionale bzw. eine reine desautomatisierte, ästhetische Interpretation ist höchstens idealtypisch vorstellbar. Je länger jemand mit den Objekten der eigenen Umwelt vertraut ist, desto öfter wird sich eine Automatisierung der Wahrnehmung einstellen, dagegen werden die in der Wahrnehmungserfahrung ‚neuen‘ Objekte häufiger als schon bekannte einem aisthetischen oder ästhetischen Blick unterzogen.129 2.2.3.6 Exkurs: Semiotik und Objektkognition Während die semiotische Forschung darin übereinstimmt, dass kommunikative Prozesse immer Semiosen sind, besteht keine einheitliche Meinung darüber, wo die untere Schwelle von Zeichenprozessen anzusiedeln ist. Kann man Wahrnehmung bereits als semiotischen oder semioseanalogen Prozess betrachten? Mit der Herausbildung der Kognitionswissenschaft im Zuge der KI-Forschung seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts ist auch in der Semiotik die Frage nach der kognitiven Fundierung von Zeichenprozessen stärker in den Mittelpunkt gerückt. Die Begriffe der Kognitionswissenschaft werden semiotisch gedeutet, so werden kognitive Repräsentationen als Zeichen und kognitive Prozesse als Semiosen interpretiert (Dölling 1998b, Nöth 2000: 230f). Eine Einbeziehung kognitiver Aspekte in semiotische Modellierungen findet sich bereits bei Charles Sanders Peirce. Für Peirce übt das Zeichen in der Semiose auf seinen Interpreten einen kognitiven Effekt (Wirkung) aus (Peirce 1931-1958: CP 5.474). Dieser kognitive Effekt („cognition produced in the mind“, CP 1.372) ist der Interpretant des Zeichens (vgl. Kap. 2.1.2). Der Interpretant selbst kann nicht nur als ein Inhalt für ein Zeichenausdruck, sondern auch (in zweierlei Hinsicht) als Zeichenausdruck für einen Inhalt fungieren: zum einen als Repräsentation für einen Gegenstand in der Welt im Sinne eines Konzeptes, zum anderen als Ausdruck für einen weiteren Interpretanten im Prozess der unendlichen Semiose. „Every thought or cognitive representation is of the nature of sign.“ (CP 8.191) Mit Hilfe von Peirces Zeichenmodell können auch Prozesse der Wahrnehmung selbst beschrieben werden (Roesler 2000: 116ff). Zeichen(-Ausdruck) im Wahrnehmungsprozess ist das individuelle Perzept, das als noch uninterpretierter Reiz verstanden werden 129 Italo Calvino hat diese Automatisierung der Wahrnehmung literarisch veranschaulicht: In der fiktiven Stadt Fillide bewundert der neu angekommene Reisende die ästhetische Vielfalt der Brücken, der Fensterformen und der Pflastermuster. Nach längerem Aufenthalt „verblasst“ die Stadt jedoch für ihn, er unterscheidet nicht mehr wie früher zwischen doppelbögigen maurischen und lanzettförmigen Fenstern, sondern nur noch zwischen Sonne und Schatten; seine Aufmerksamkeit ist nur noch auf den Zweck gerichtet, wie auf die Bank, wo der Korb abgestellt werden kann (Calvino 1972/1985: 105-106).
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kann, Interpretant (oder Inhalt) ist das Wahrnehmungsurteil, d.h. der (allgemeine) Objekttyp, unter dem das Perzept kategorisiert wurde.130 Für Alexander Roesler kann Wahrnehmung mit Peirce als abduktives,131 kontinuierliches und unbewusstes Schlussfolgern in Zeichen verstanden werden (CP 5.185, CP 5.186, CP 8.65, Roesler 2000: 125ff). Diese Auffassung vermittelt zwischen einer Repräsentationstheorie der Wahrnehmung, wie sie in der Kognitionswissenschaft vorherrscht (s.u. Kap. 2.3.) und der Theorie der direkten oder unmittelbaren Wahrnehmung, die beispielsweise von John Searle vertreten wird. Einerseits ist der Zugang zu den Dingen der äußeren Welt nur über Perzept und Wahrnehmungsurteil, also über Zeichen möglich, andererseits ist die Wahrnehmung in dem Sinne unmittelbar, dass sich sowohl Perzept als auch Wahrnehmungsurteil immer aufdrängen: es ist uns weder möglich, keine Reize der Umwelt aufzunehmen, noch aufgenommene Reize nicht zu kategorisieren und zu interpretieren.132 Auch Umberto Eco bezieht sich auf Peirce, wenn er fragt, in welcher Weise Wahrnehmung als zeichenbasierte Interpretation von Sinnesdaten aufgefasst werden kann. Er geht davon aus, dass das Feld der Sinnesreize den Signifikanten eines möglichen Signifikats bildet, über welches der Wahrnehmende bereits vor dem Wahrnehmungsereignis verfügt (Eco 1976/1987: 222f). Damit können auch die Vorstellungen oder Begriffe,133 die das Wahrnehmungsurteil134 konstituieren, als zeichenhaft verstanden werden. Ebenso wie Peirce betrachtet er Wahrnehmung als abduktiven Prozess, dieser ist „aktuelle Wahrnehmung und Namensgebung in einem“ (Eco 1973/1977: 134). Während Eco in seinen Texten der 1970er und 80er Jahre die Fähigkeit, in der Wahrnehmung Objekte als Exemplare eines Typs zu erkennen noch als notwendige Voraussetzung, aber nicht als Gegenstand semiotischer Forschung versteht (Eco 1976/1987: 270, Eco 1997/2000: 520f), plädiert er in neueren Arbeiten ausdrücklich 130 Die Begriffe Perzept („percept“) und Wahrnehmungsurteil („perceptual judgment“) wurden von Peirce in seinen Schriften zur Wahrnehmung verwendet (z.B. CP 5.54). Allerdings hat Peirce sein triadisches Zeichenmodell nie explizit auf Wahrnehmungsprozesse angewendet (Roesler 2000: 118, ausführlich zu Peirces Wahrnehmungssemiotik vgl. Roesler 1999). 131 Zum Begriff der Abduktion vgl. Kap. 2.2.3.1. 132 Bereits Helmholtz hatte die Sinnesempfindungen als Zeichen der Einwirkungen durch das Wahrnehmungsobjekt aufgefasst, vgl. von Helmholtz 1867/1896: 586. 133 „Vorstellung“ und „Begriff“ werden von Eco an dieser Stelle nicht expliziert. Anzunehmen ist, dass er die auf Kant zurückgehende Unterscheidung von anschaulichen, individuellen Vorstellungen und abstrakten, allgemeinen Begriffen zu Grunde legt. Allgemein könnte man hier sicher von „Konzepten“ sprechen (siehe 2.3.1). 134 Eco spricht von „Wahrnehmungsresultat“ (Eco 1979/1987: 223).
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dafür, bereits diese Auswahl und die Kategorisierung des Perzepts als semiotische Tätigkeit aufzufassen (Eco 1997/2000: 148f). In der Wahrnehmungssemiose steht nicht Etwas (eine vorgegebene Einheit) für Etwas anderes, d.h. es handelt sich nicht um eine einfache kodierte Verbindung, vielmehr wird in einem Schlussprozess ein Wahrnehmungsurteil über Etwas ausgesprochen, wobei dieses Etwas im Wahrnehmungsurteil mit konstituiert wird. Der Wahrnehmungsschluss kann so als ein Prozess primärer Semiose aufgefasst werden (Eco 1997/2000: 150).135 Grundvoraussetzung jeglicher Semiose ist dabei das Fixieren der Aufmerksamkeit auf Etwas in der Außenwelt, von Eco als „Primäre Indexikalität“ bezeichnet (1997/2000: 24ff). Ecos pragmatischer Definition der semiotischen Schwelle möchte ich hier folgen: die Konstitution eines Objekts als Objekt X in einem abstrakten Sinne ist noch nicht als semiotisch anzusehen, erst die Auswahl und Konstitution eines Objekts (aus einer unendlichen Zahl von anderen Objekten) in einer Umwelt kann als Zeichenhandlung verstanden werden. Eco entwirft hier eine „kognitive Semantik“ (Eco 1997/2000: 12), die das Ziel hat, in seine kultursemiotische Theorie kognitive Aspekte einzubeziehen. Sein Ansatz beruht auf der Annahme, „daß sowohl unsere kognitiven Schemata als auch das Signifikat und die Bezugnahme Gegenstände von Vereinbarung sind“ (1997/2000: 13), wobei er gleichzeitig davon ausgeht, dass das Kontinuum der Erfahrung nicht völlig amorph ist (vgl. die Ausführungen zu Hjelmslev in Kap. 2.1.2), sondern „Resistenzlinien“ anbietet, die die Interpretationsmöglichkeiten einschränken (Eco 1997/2000: 13, 292ff). Ecos Ausführungen belegen das Interesse der Semiotik an einer Verknüpfung ihrer klassischen Theorien mit neuen erkenntnistheoretischen Positionen. Der ebenfalls kognitiv ausgerichtete Ansatz Luis Prietos wurde bereits in Kapitel 2.2.2 vorgestellt.
135 Vgl. Eco 1984/1985: 62, wo Eco die Schlussfolgerung als Grundmerkmal der Semiose bestimmt.
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2.2.4 Die Ordnung der Objekte „Ordnung ist die notwendige Vorbedingung für alles, was der Menschengeist verstehen möchte. Den Plan einer Stadt oder eines Gebäudes, einen Satz zusammenhängender Werkzeuge, eine Warenauslage oder auch die Darlegung von Tatsachen und Gedanken in Worten, ein Gemälde, ein Musikstück – alles das nennen wir geordnet, wenn ein Beschauer oder Zuhörer die Gesamtstruktur erfassen und ihre Verzweigungen im einzelnen verfolgen kann. Ordnung lenkt die Aufmerksamkeit auf Gleichheiten und Ungleichheiten, auf Zusammengehörigkeit und Unabhängigkeit. Sobald alles Überflüssige ausgeschaltet und nichts Unentbehrliches ausgelassen ist, klären sich die Beziehungen zwischen dem Ganzen und seinen Teilen. Man erkennt die Rangordnung der Strukturteile: Einige sind die wichtigen und einflußreichen, andere sind nebensächlich und abhängiger.“ (Arnheim 1971/1996: 9)
Unsere Umwelt, so chaotisch sie manchmal auch scheinen mag, nehmen wir dennoch als eine nach bestimmten konstanten Regeln geordnete wahr. Diese Regeln umfassen z.B. universelle physikalische Gesetzmäßigkeiten wie das Gravitationsgesetz oder kulturelle Normen wie eine spezifische Form der Stadtanlage. Auch wenn wir uns reflexiv der Relativität und Flexibilität der kulturellen Ordnungen stärker bewusst sind, werden wir in der Alltagseinstellung sowohl natürliche als auch soziale Regelhaftigkeiten meist gleichsam fraglos als gegeben akzeptieren. So wie wir in der Natur eine bestimmte räumliche und zeitliche Ordnung annehmen, so bilden für uns auch die vom Menschen geschaffenen Gegenstände ein geordnetes Ganzes. Jede Einheit (die wieder Teil einer größeren Entität ist) besteht aus einer Anzahl von Elementen einer gewissen Art, die auf eine bestimmte Weise zusammengefügt sind. In der Sprache sind dies die Phoneme, Morpheme, Wörter etc., die in der konkreten sprachlichen Äußerung kombiniert werden. Den urbanen Raum erleben wir als Aneinanderreihung von Gebäuden und anderen Objekten nach bestimmten Mustern; je nach Art der Gebäude und Form ihrer Kombination identifizieren wir Geschäftsstraßen, Wohnstraßen, Plätze und Boulevards. In Kapitel 1 wurden bereits Einzelelemente und Ordnungsmuster städtischer Straßen in ihrem historische Wandel beschrieben. 2.2.4.1 Objektkomplexe als Syntagmen? Im Kapitel 2.1.1 wurden die paradigmatischen und syntagmatischen Relationen als die beiden elementaren Beziehungen zwischen Elementen eines Systems eingeführt. Es wurde auch darauf hingewiesen, dass „System“ nicht als zwei Mengen verknüpfender Kode, sondern als die Menge der Elemente der Ausdrucksseite oder der Inhaltsseite aufgefasst werden muss. Eco nennt diese Systeme S-Kodes (Eco 1976/1987: 64f). Er definiert sie als Strukturen, die aus einer endlichen Zahl von oppositionell strukturierten, paradigmatischen Elementen bestehen und von Kombinationsregeln beherrscht werden, die syntagmatische Ketten dieser Elemente
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generieren können.136 Dabei muss beachtet werden, dass eine isolierte Kette noch nicht als Syntagma eines bestimmten Systems erkannt werden kann, erst im Vergleich mit anderen Ketten und ihren Elementen können Regelhaftigkeiten der Zusammensetzung festgestellt werden. Dass zum System Stadtstraße Elemente wie Häuser, Fahrbahn und Verkehrszeichen gehören, kann aus der Betrachtung einer einzigen Straße nicht mit Sicherheit geschlossen werden. Syntagmatische und paradigmatische Relationen können auf allen Ebenen von semiotischen Systemen angenommen werden, im sprachlichen System z.B. von der Ebene der Phoneme bis zur Ebene der Lexeme (Posner/Robering 1997: 21). Diese Arbeit stellt die Untersuchung von Paradigmen und Syntagmen der Ausdrucksebene137 in ihren Mittelpunkt, welche jedoch für Objektsysteme auf Grund der engen, nicht arbiträren Verbindung von Ausdruck und Inhalt bei Artefakten nicht autonom betrachtet werden können. Wie in Kapitel 2.2.3.3 gezeigt wurde, denotieren Objekt-Zeichen ihre Gebrauchsfunktionen und weitere sekundäre Bedeutungen nicht, sondern exemplifizieren sie; die Funktion oder eine sekundäre Bedeutung als Inhalt ist im Allgemeinen bereits integrales Element des Ausdrucks. Auf welche Weise können konkrete Objektkonfigurationen wie eine Stadtstraße als Syntagmen aufgefasst werden?138 Diese Frage kann aus zwei Perspektiven beantwortet werden. Eine mögliche Antwort ist die aus der Sicht der Rezeption von städtischen und anderen Umwelten unter Verweis sowohl auf die endliche Kapazität
136 Ecos S-Code oder System umfasst sowohl die paradigmatischen Elemente als auch die sie verknüpfenden syntagmatischen Relationen. Damit stimmt Ecos Definition mit klassischen Definitionen des Systembegriffs überein, nach denen ein System als eine „Menge von Objekten mit Relationen zwischen den Objekten und ihren Attributen“ aufgefasst wird (Hall/Fegan 1956: 18, zit. nach Nöth 2000: 208). 137 Inwieweit paradigmatische Strukturen nicht nur für die Ausdrucksebene eines Kodes, sondern auch für die Inhaltsebene postuliert werden sollten, äußert sich die die semiotische Literatur uneinheitlich. Hjelmslev (1974: 112) und Prieto (1975a: 44) sprechen z.B. von einem Paradigma der Inhaltsebene, während Eco der Suche nach elementaren Einheiten des Inhalts, d.h. nach semantischen Grundelementen, kritisch gegenübersteht (Eco 1973/1977: 94ff). Auch für Morris abstrahiert die Syntaktik „von der Signifikation der von ihr untersuchten Zeichen und von ihren Verwendungen und Wirkungen“ (Morris 1946/1973: 423). 138 Eine Explikation ist hier erforderlich, da konkrete Objektkonfigurationen wie die theoretisch aus einer nicht endlichen Zahl von Elementen bestehende und aus potentiell unendlich vielen Perspektiven zu betrachtende Stadtstraße auf den ersten Blick nicht Ecos Definition eines Systems als S-Kode erfüllen.
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als auch auf die Intentionalität139 des menschlichen Geistes: Objektkonfigurationen der Umwelt wie z.B. Straßen werden in der Kognition ‚verdichtet‘, d.h. die nach einer Perspektive als zeichenhaft aufgefassten und damit relevanten Objekte werden als Einzelelemente ausgewählt und zu einem mehr oder weniger kohärenten Syntagma strukturiert. Wenn Roland Barthes von den „Lektüren der Stadt“ spricht, hat er genau solche durch die Individuen konstituierten mentalen Syntagmen im Sinn (Barthes 1967/1988: 208). Rein spekulativ sind Relevanzbestimmung und Ordnung der Elemente arbiträr, allerdings realiter in hohem Maße durch generelle kognitive Strukturen sowie Wissen und Einstellungen des Interpreten determiniert (siehe unten Kap. 2.3.2 zu mentalen Ordnungsschemata). Eine Straße werden wir im Allgemeinen als linearen Raum wahrnehmen, dessen Wände durch Gebäude gebildet sind. In einer spezifischen Betrachtungsweise könnte sie sich uns jedoch auch als Spalier von Verkehrszeichen oder Papierkörben oder als sich vorwärtsbewegende Menschenmenge darstellen140 (oder möglicherweise als Anordnung von Dingen, die mit P anfangen).141 Wir verfügen zum einen über ein allgemeines Typenschema von einer Großstadtstraße (), zum anderen entwickeln wir aus der Wahrnehmungserfahrung Schemata von einzelnen konkreten, uns bekannten Straßen ( usw.). Paradigmatische und syntagmatische Beziehungen manifestieren sich demnach nicht nur im Gebrauch von konventionellen Kodes wie der Sprache. Vielmehr stellen wir in der Kognition schon eine (paradigmatische und syntagmatische) Strukturierung der Umwelt her. Welche generellen Prinzipien die kognitive Konstitution von Objekten und Umwelt leiten, wird in Kapitel 2.3 in einem Überblick dargestellt.
139 Der von Franz Brentano in die neuzeitliche Philosophie eingeführte Begriff der Intentionalität bezeichnet das grundsätzliche Vermögen psychischer Zustände, sich auf einen Inhalt (ein Objekt oder Sachverhalt) zu beziehen. Intentionalität ist auch ein zentraler Begriff der Phänomenologie, z.B. bei Husserl und Merleau-Ponty. Dagegen beschreibt der Begriff der Intention im Sinne einer bewussten Absicht nur einen sehr spezifischen mentalen Zustand eines Individuums (vgl. z.B. die Verwendung von „Intention“ bei Grice 1975/1993 sowie Posner 1996). Intentionalität und das Besitzen einer Intention in diesem engeren Sinne dürfen nicht verwechselt werden. 140 Vgl. zum Beispiel die Straßenbilder von Ernst Ludwig Kirchner, die die Häuserwände ausblenden und die Straße vollkommen auf die wogende Masse reduzieren. 141 Noch einmal betont werden muss jedoch, dass jeder dieser Syntagmenbildungen eine materielle Basis zugrunde liegt, dass sie im Sinne von Hans Lenk durch die Wirklichkeit „imprägniert“ sind (siehe Kap. 2.2.2).
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Eine weitere Antwort auf die Frage nach der Angemessenheit der Postulierung eines Systems ‚Großstadtstraße’ lässt sich aus der Sicht der Produktion von Stadtraum formulieren: städtische Räume sind nach bestimmten Regeln (z.B. gebrauchspraktisch entwickelten Standards wie an das Klima angepasste Bauweise, kulturellen Konventionen, behördlichen Bauordnungen etc.), die auch interdependent sein können, aus spezifischen Elementen konstruiert. Auch hier wird von bestimmten Systemen ausgegangen, z.B. dem System der Straße als Geschäftsstandort oder der Straße als Verkehrsraum. Einzelne Objekte (eine Gebäudeform, eine Gewerbeart, ein Verkehrszeichen) werden dementsprechend paradigmatisch ausgewählt und nach syntagmatischen Regeln in die Konstellation eingepasst. Auf einer höheren Ebene können neu geschaffene Viertel (neue Systeme) in die ursprüngliche Stadtstruktur integriert werden (z.B. Potsdamer Platz).142 Strukturbildungen finden mithin sowohl auf der Interpretations- als auch auf der Produktionsebene statt. Makrostrukturen auf der Produktionsebene (z.B. die Ansiedlung bestimmter Gewerbetypen) entstehen häufig evolutionär und nicht durch übergeordnete Planung.143 Auf der anderen Seite können die in der Interpretation konstituierten Strukturen deutlich von intentional geplanten Strukturen abweichen.144 Kurz gesagt, wir produzieren komplexe Objekte nach bestimmten syntagmatischen Regeln unter der Verwendung paradigmatisch ausgewählter Elemente, und wir interpretieren komplexe Objekte, indem wir sie als syntagmatische Strukturen relevanter Elemente erfassen.
142 Gerade die Potsdamer Straße ist in ihrem nördlichen Bereich ein prägnantes Beispiel für die Schaffung von zwei vollständig neuen Systemen, dem System ‚Kulturforum‘ und dem System ‚Potsdamer Platz‘. Bei der Produktion von letzterem wurde ein neues System (der neue ‚Potsdamer Platz‘) auf dem ungefähren Ort eines alten (des alten Potsdamer Platzes) errichtet. Semiotisch interessant ist auch die Einfügung des alten Esplanade-Hotels: als fast einziges ursprüngliches Element des alten Syntagmas wurde das Esplanade in das neue Syntagma transponiert, dies konnte aber nur mit Hilfe einer Ortsverschiebung erreicht werden. Hier stellt sich noch die Frage der Relevanz des topographischen Ortes, der Einordnung des Subsystems in das System der Stadt. 143 Die nichtgeplante, selbstorganisierende Entstehung von Agglomerationen von Unternehmen wird in der Evolutionsökonomik untersucht (vgl. z.B. Brenner/Fornahl 2003). 144 So wirkt das Kulturforum auf seine heutigen Interpreten nicht als die von Scharoun geplante, dynamische Stadtlandschaft sondern als öder, leerer Raum. Ebenso ist es fraglich, ob der Entwurf der Daimler–City am Potsdamer Platz, der nach Renzo Piano die kompakte europäische Stadt evozieren sollte, diese Wirkung auf die Interpreten ausübt.
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2.2.4.2 Die Analyse und Synthese von komplexen (Objekt-) Zeichen: Theorie und Praxis Die von Saussure eingeführte Dichotomie Paradigma vs. Syntagma (Saussure 1916/1967: 147ff) wurde in der strukturalistischen Semiotik besonders von Roman Jakobson und Barthes in ihrer angewandten Analyse von Zeichensystemen operationalisiert.145 Für Barthes wird ein Syntagma dadurch charakterisiert, „daß es gebildet ist aus einer Substanz, die zerlegt werden muss“ [Herv. i. Orig.] (Barthes 1964/ 1983: 54). Daraus ergibt sich eine zentrale Frage des Strukturalismus: auf welche Weise können in komplexen Zeichen elementare paradigmatische Einheiten isoliert werden? Als Methode zur Zerlegung von sprachlichen Texten wurde von Hjelmslev die Kommutationsprobe vorgeschlagen (Hjelmslev 1943/1974: 73). Dabei wird auf der Ausdrucksebene ein Austausch eines Elements vorgenommen und beobachtet, ob daraus eine Veränderung auf der Inhaltsebene folgt. In sprachlichen Texten gelangt man so zu kleinsten signifikativen, d.h bedeutungstragenden Einheiten (Monemen) und kleinsten distinktiven (nur noch bedeutungsunterscheidenden) Einheiten (Phonemen), die linguistische Theorie spricht daher von der ‚doppelten Gliederung‘ der Sprache (Nöth 2000: 333f).146 Als problematischer erweist sich die Bestimmung von elementaren Einheiten in nichtsprachlichen Zeichensystemen, wie Kleidung, Film, Kunst und Architektur. Diese Systeme zeichnen sich u.a. dadurch aus, dass einige ihrer bedeutungstragenden Elemente, wie Formen, Farben und Proportionen nicht wie in der Sprache diskrete Einheiten bilden, sondern kontinuierlicher Art sind.147 Versuche, auch in solchen Systemen kleinste Einheiten zu ermitteln, wie z.B. die von Eco vorgenommene Analyse einer griechischen Säule (Eco 1972a), waren selten und wurden vielfach kritisch bewertet.148 Elementare Einheiten in einem System können also identifiziert werden, indem man von einem „objektiv gegebenen“ komplexen Zeichen (bzw. Objekt als Zeichen) ausgeht und analytisch durch Kommutationsproben seine Grundelemente herausarbeitet. Diese Herangehensweise in ihrer strikten Form kann jedoch für diese Arbeit auf Grund der Komplexität des Untersuchungsgegenstands und der
145 Vgl. Jakobsons Theorie von Metapher und Metonymie (Jakobson 1956/1979) und Barthes’ Analyse der Texte von Modezeitschriften (Barthes 1967/1985). 146 Mit der Identifizierung kleinster elementarer Einheiten haben sich u.a. besonders die Linguisten der Prager Schule (im Bereich der Phonologie) und Luis Prieto (am Beispiel von Verkehrszeichen, vgl. Prieto 1966/1972) beschäftigt. 147 Vgl. Barthes 1964/1983: 54 und 57, Nöth 2000: 332f, Enninger 1983: 39. 148 Vgl. z.B. Dorfles 1971: 94ff, Dreyer 2003: 3238 sowie Eco selbst (1976/1987: 345f Fußnote).
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anderen oben formulierten Einschränkungen nicht als praktikabel angesehen werden.149 Geht man jedoch vom Prinzip der Relevanzbestimmung und Verdichtung in der Kognition aus, können auch in komplexen Objektsystemen die für die Interpreten bedeutungstragenden Elemente herausgearbeitet werden. Roland Barthes schlägt vor, nichtsprachliche Systeme dadurch zugänglich zu machen, dass der Semiotiker sprachliche Metatexte einsetzt, die die Objektsysteme „schreiben“, wie z.B. eine Modezeitschrift die Mode einer Saison in sprachlichen Texten darstellt (Barthes 1964/1983: 55). Indem ich die Probanden und die Zeitungstexte über die Straße und andere Straßen sprechen lasse, verfahre ich analog: Objekte und ihre Bedeutung werden kommunikativ beschrieben und so als Elemente des Metasystems Straße X identifiziert.150
149 Einzelne Fragen des Leitfadens, wie diejenige nach Wünschen für die Zukunft der Potsdamer Straße können jedoch dazu eingesetzt werden, paradigmatische Elemente zu ermitteln, die zu Bedeutungsänderungen führen; damit wird eine Kommutationsprobe in einem eingeschränkten Bereich möglich (s.u. Kap. 4.3). Ferner kann man in manchen Strategien zur Aufwertung städtischer Räume reale ‚Kommutationsproben der Praxis‘ entdecken: dort zeigt sich, dass die Akteure grundsätzlich davon ausgehen, dass durch Hinzufügung oder Veränderung einzelner Elemente in einem Stadtraum eine grundlegende Veränderung der Gesamtbedeutung und -wirkung herbeigeführt oder zumindest angestoßen werden kann. Ein Beispiel sind z.B. die Bestrebungen, Medienunternehmen im Bereich Potsdamer Straße anzusiedeln und dadurch das Image der Straße zu verbessern (Kap. 4.3.7.3). Generell kann die gemeinsame diachrone Beobachtung von physischen Veränderungen in einem Objekt-Komplex und von Veränderungen seiner Gesamtbedeutung zu Aufschlüssen über elementare Einheiten führen (Barthes 1964/1983: 55f). 150 Eine semiotische Analyse von konkreten Objektsystemen ‚an sich‘ ist im Grunde genommen nicht möglich, Objektkonstitution und Signifikation können nur über ihre Repräsentation in der Kommunikation bzw. über die Beobachtung der Objektpraxis beschrieben werden. Auch bei einer möglichst „objektiven“ Systembeschreibung des Forschers handelt es sich um eine Repräsentation des Systems und nicht um das System selbst. Roland Barthes merkt ferner an, dass bei der Analyse von Objektsystemen anhand sprachlicher Texte beachtet werden muss, dass sprachliche Einheiten und Einheiten des Objektsystems nicht unbedingt zusammenfallen, sondern ein Objekt oft z.B. nur durch eine komplexere sprachliche Äußerung beschrieben werden kann Barthes 1964/1983: 57, Barthes 1964/1988, Barthes 1964/1988: 194).
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Wurden auf diese Weise paradigmatische Elemente analytisch bestimmt, kann nun ihre Synthese, d.h. ihr Verhältnis untereinander in dem komplexen Syntagma und dessen Regeln untersucht werden.151 Die semiotische Theorie beschreibt die syntagmatischen Relationen zwischen Elementen eines Zeichenkomplexes als Relationen der Kontiguität. Kontiguität kann sehr generell definiert werden als Nachbarschaft in Raum oder Zeit, umfasst aber auch die Kombinationsregeln, denen die Elemente unterworfen sind oder Abhängigkeitsrelationen zwischen zwei Elementen wie die des grammatikalischen Numerus in der Sprache. Die Anordnung von Elementen eines Syntagmas muss nicht notwendig zeitlich oder räumlich linear sein wie in der gesprochenen oder geschriebenen Sprache, sondern kann auch eine mehrdimensionale Form annehmen (z.B. im Film, in der Anordnung von Möbeln etc.) (Posner/Robering 1997: 18). Während im Syntagma die Elemente immer gleichzeitig und gemeinsam vorhanden sind (sie werden in praesentia kombiniert), kann jeweils nur eine Einheit einer paradigmatischen Menge eine Füllstellen der Zeichenkette besetzen (es handelt sich um eine Relation in absentia). Zwischen den Elementen eines Paradigmas existiert eine Beziehung der partiellen Äquivalenz (Posner/Robering 1997: 17ff).152 Die Zeichen eines Paradigmas müssen sich nicht notwendig in ihren semantischen Eigenschaften, d.h. in den ihnen zugeordneten Inhalten ähneln, sondern können z.B. auch Gemeinsamkeiten auf der syntaktischen Ebene und der Ebene der Ausdruckssubstanz aufweisen (Posner/Robering 1997: 18). So kann im Stadtraum ein einzelnes mittelgroßes Wohnhaus nach dem Abriss durch eine Kirche oder sogar einen kleinen Park ersetzt werden, jedoch nicht durch einen Bahnhof. Hier liegt ein syntaktisches Paradigma vor, die Füllstelle verfügt nur über eine bestimmte räumliche Ausdehnung. Andererseits empfinden wir wahrscheinlich ein einzelnes Wohnhaus der 50er Jahre in einer sonst durchgehend mit Jugendstilwohnhäusern bebauten Straße als Fremdkörper, als ‚aus der Reihe fallend‘, in diesem Fall handelt sich um ein Paradigma auf der Ebene der Ausdruckssubstanz. Das letzte Beispiel verweist bereits auf einen weiteren Mechanismus. Roman Jakobson geht davon aus, dass in ästhetischen Texten das Äquivalenzprinzip nicht nur auf der vertikalen paradigmatischen Achse zum Tragen kommt, sondern vielmehr zusätzlich auf die Achse der Kombination, die horizontale syntagmatische 151 Man spricht hier von dem synthetisch ausgerichtete Ansatz der Untersuchung von Zeichenkomplexen, vgl. Posner 1986: 1050. 152 Wenn in der Semiotik manchmal von einer ‚oppositionellen Beziehung‘ zwischen Elementen eines Paradigmas gesprochen wird, so ist keine antonymische Relation gemeint, sondern es wird sowohl auf die notwendige Alternativität der Selektion als auch auf die Differenz (die eben nur eine teilweise ist) zwischen den Elementen hingewiesen (vgl. auch Barthes 1964/1983: 60f).
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Achse, projiziert wird (Jakobson 1960: 358). In sprachlichen Texten kann es sich um Ähnlichkeiten zweier syntagmatisch benachbarter Elemente auf der Ebene der Phoneme (z.B. bei der Alliteration), der Silben, der Wörter oder von syntaktischen Strukturen handeln. Solche Äquivalenzprinzipien der Kombination auf der Ausdrucksseite bestimmen auch maßgeblich die Gestaltung von Werken der bildenden Kunst, der Musik und des Städtebaus (vgl. Kap. 1). Geht man nicht von der Produzenten- sondern von der Rezipientenseite aus, können in einer ästhetischen Einstellung Elemente, die gegen das Äquivalenzprinzip verstoßen, als unharmonisch und die Einheit des Syntagmas störend wahrgenommen werden.153 Interessant ist jedoch auch die Frage nach Rekurrenzen auf der Inhaltsseite. So lassen sich semantisch äquivalente Wiederholungen beispielsweise auch in städtischen Strukturbildungen wie in der Ansiedlung von bestimmten Formen von Handel und in der Formung von sozialen Räumen nachweisen.154 Es handelt sich hier um funktionale Konzentrationen (wie z.B. bei gewerblichen Clusterbildungen155) und soziale Verdichtungen, die auf infrastrukturelle und ökonomische Zweckmäßigkeit bzw. sozialen Ab- oder Ausgrenzungen zurückzuführen sind. In der Auswertung des Textkorpus (siehe Kap. 4) wird sich zeigen, dass solche funktionalen und sozialen Äquivalenzreihungen auch in den Vorstellungsbildern, d.h. auf der Interpretationsebene, sehr deutlich sichtbar sind. 2.2.4.3 Die Metonymizität von Objekt-Zeichen Als Metonymien werden in der traditionellen Rhetorik und Literaturwissenschaft solche sprachlichen Figuren (Tropen) bezeichnet, in denen die Beziehung zwischen der Ursprungs- und der Zielbedeutung auf Relationen wie: Behälter für Inhalt (‚Ich trinke noch ein Glas‘), Produzent für Werk (‚Kant lesen‘, ‚einen Porsche fahren‘) oder Teil für Ganzes beruht.156 Als grundlegendes Prinzip der metonymischen Beziehung hat Roman Jakobson die Kontiguitätsrelation, d.h. eine zeitliche oder 153 Dies zeigt sich auch in den Interviewaussagen, siehe Kap. 4.3.1. 154 Hier bilden nicht mehr ästhetische Produktionsprinzipien den Hintergrund, auch wenn generell semantische Rekurrenzen ebenfalls als ästhetisches Stilmittel dienen können, z.B. in der Rhetorik in der Figur der Tautologie. 155 Cluster wird hier im weiten Sinne als lokale Konzentration von Wirtschaftsunternehmen einer Branche definiert (Kulke 2008: 42, 163). Eine direkte Interaktion der Unternehmen untereinander (enger Clusterbegriff, vgl. Brenner/Fornahl 2003: 135) wird nicht vorausgesetzt. 156 Teil-Ganzes-Relationen, die in der Rhetorik traditionell als Synekdoche bezeichnet werden, werden hier ebenfalls als Metonymien aufgefasst. Vgl. Koch 1999: 154, der darauf hinweist, dass Pars-pro-Toto- und räumliche Relationen kaum differenziert werden können.
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räumliche Nachbarschaft (s.o. Kap. 2.2.4.2) bestimmt. Dagegen baut die Metapher auf einer Relation der Similarität, d.h. der Ähnlichkeit oder Vergleichbarkeit auf (Jakobson 1956/1979). Während jedoch das Phänomen der Metapher seit dem Altertum im wissenschaftlichen Diskurs von Poetik, Philosophie und Sprachwissenschaft immer eine zentrale Rolle innehatte, hat die Metonymie geringere Beachtung gefunden.157 In der aktuellen, kognitiv orientierten Linguistik kann dagegen ein wieder zunehmendes Interesse an der Metonymie konstatiert werden. Sie wird nicht mehr allein als sprachliche Figur, sondern als fundamentales kognitives Phänomen betrachtet, das grundlegend für Denkprozesse jeder Art ist (vgl. Panther/Radden 1999: 2).158 Die Herstellung metonymischer Relationen basiert auf Erfahrungen in der Umwelt, sie ist systematischen Prinzipien unterworfen und strukturiert Gedanken und Handlungen (Radden/Kövecses 1999: 18, Koch 1999: 145).159 In Kapitel 2.2.2 wurde mit Prieto darauf hingewiesen, dass, je nach eingenommener Perspektive, ein Objekt entweder als eigenständige Entität oder als aus unterschiedlichen Teilen zusammengefügt oder als Element eines zusammengesetzten Objekts betrachtet werden kann. Ferner wurden unter Bezug auf Barthes die metonymischen Prozesse in der Bedeutungskonstitution von Objekten hervorgehoben. Zwischen beiden auf den ersten Blick voneinander unabhängigen Sachverhalten kann ein Zusammenhang hergestellt werden: oben in diesem Kapitel wurde angenommen, dass Objekte sich als Teile von Syntagmen oder eben (mit Prieto) auch selber als Syntagmen konzipieren lassen. Wenn wir nun davon ausgehen, dass Objekte metonymisch signifizieren, so verweisen sie als Element eines Objekts auf dieses übergeordnete Objekt und damit auf das Syntagma, dessen Teil sie sind. Diesen Mechanismus der Interpretation nutzen beispielsweise auch Piktogramme: eine graphische Darstellung eines Kleiderbügels zeigt eine Garderobe an, ein Besteck ein Restaurant. Solche metonymischen Verknüpfungen sind wesentlicher Bestandteil der alltäglichen Umweltwahrnehmung. Selbst wenn wir die Objekte unserer Umwelt nur kategorisierend interpretieren, so verweisen sie doch häufig nicht allein auf ihren 157 Koch bezeichnet sie als „parent pauvre“ der Metapher: sie wurde als weniger interessant, weniger abstrakt empfunden, sie erfordert weniger intellektuelle Anstrengung (Koch 1999: 139). Ähnlich bereits bei Jakobson 1956/1979: 138. 158 Barcelona vermutet sogar, dass die Metonymie grundlegender für Sprache und Kognition ist als die Metapher (Barcelona 2000: 4). 159 Anders als die traditionelle Linguistik beschreibt die neuere Kognitionswissenschaft Kontiguität nicht mehr als Relation zwischen Elementen der realen Welt, sondern als Relation auf der konzeptuellen Ebene, genauer zwischen Konzepten in einem kognitiven Modell, einem Frame (Radden/Kövecses 1999: 19, s.a. unten Kap. 2.3.2).
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Typ, sondern darüber hinaus auf die Einbettung ihres Typs in einem bestimmten materiellen Kontext, den Kotext. Dieser Kotext muss nicht aktuell sichtbar sein, er kann sich aus Annahmen des Interpreten über eine bestimmte Kultur oder eine historische Epoche konstituieren und kotextuelle Objekte einbeziehen, die längst nicht mehr existieren. Objekt-Zeichen erhalten ebenso wie sprachliche Zeichen ihre pragmatische Bedeutung u.a. durch ihre bestimmte Stellung in einem Syntagma, anders als sprachliche Zeichen können sie jedoch metonymisch (und damit auch indexikalisch) auf dieses Syntagma verweisen.160 Sie können zum Zeichen für ihren Kotext werden, und zwar sowohl als Token als auch als Typ. Wer weiß, dass sich die Königskolonnaden (als singuläres Objekt) an der Potsdamer Straße befinden, für den können sie auch auf die Potsdamer Straße (exemplifizierend) verweisen, und wer die Vielzahl der von Migranten geführten Läden (Typ) bemerkt, für den werden sie ein Anzeichen für eine vorwiegend durch Migranten geprägte Wohnbevölkerung des gesamten Viertels sein. Diese Art der Bezugnahme, als Ortsindexikalität bezeichnet, wird uns in Kapitel 3.4.4 noch näher beschäftigen. 2.2.5 Ein interpretationsorientiertes Modell für Objekt-Zeichen In den ersten Abschnitten dieses Kapitels wurde versucht, die theoretische Basis für ein interpretationsorientiertes Modell für Objekt-Zeichen zu legen. Zusammenfassend kann festgehalten werden: 1. Objekt-Zeichen ist das materielle Objekt, das in einer bestimmten Hinsicht als Zeichenausdruck für einen Interpreten fungiert oder potentiell fungieren kann. 2. In der Interpretation von Objekten wirken sowohl kodebezogene Signifikationsprozesse als auch kontextabhängige Inferenzprozesse. Unterschieden werden muss zwischen dem Basiskode als Kategorisierungskode und den übergeordneten, jedoch mit dem Basiskode interagierenden enzyklopädischen Kodes.
160 Das Wort [auch] in diesem Satz kann nur unter sehr spezifischen Umständen als metonymisches Zeichen für diesen Satz fungieren, z.B. in einem Registereintrag. Insgesamt sind (als solche interpretierte) Teil-Ganzes-Beziehungen, also metonymische Relationen, immer auch indexikalische Relationen (Keller 1995: 120). Dagegen sollte nicht jede indexikalische Verknüpfung als metonymisch aufgefasst werden: ein Fleck auf dem Teppich verweist auf verschüttete Flüssigkeit und eine dialektale Färbung der Sprache auf eine regionale Herkunft, aber sie stehen nur in sehr spezifischen Fällen metonymisch für sie.
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3. Bei der Interpretation konkreter Objekte wird häufig eine kausale Relation hergestellt, d.h., sie fungieren als indexikalische Zeichen. 4. Primärer Inhalt von materiellen Objekten ist ihr Typ, mit dem sie kategorisiert werden. Handelt es sich um ein Artefakt und liegt damit eine Standardfunktion vor, ist diese Standardfunktion ein Merkmal des Typs. Objekte exemplifizieren ihre Standardfunktion und durch ihre Ausdrucksmaterie ggf. weitere kontextuelle Funktionen. 5. Die Objektinterpretation ist immer perspektivisch (als Interpretation von Objektaspekten). Im Unterschied zu sprachlichen Zeichen kann die tokenspezifische Ausdruckssubstanz stärker relevant werden. Wird ein Aspekt der Ausdruckssubstanz zum Zeichenträger, handelt es sich um aisthetische Interpretation. 6. Urbane Objektkomplexe können in zweierlei Hinsicht als Objektsyntagmen konzipiert werden: zum einen aus der Interpretenperspektive im Sinne der Konstitution einer überwiegend kohärenten, strukturierten mentalen Vorstellung, zum zweiten aus der Produzentenperspektive, d.h. wenn man annimmt, dass bei der materiellen Konstruktion von städtischen Räumen spezifische Elemente nach bestimmten Regularitäten kombiniert werden. 7. Urbane Objekte können metonymisch auf ihren Kotext verweisen. Diese Bestimmungen sollen bei der Erstellung des Interpretationsmodells für Objekt-Zeichen berücksichtigt werden. Fundamental ist, dass das Modell von der primären Konstitution und Kategorisierung des Objekts ausgeht und die Auswahl einzelner Objektaspekte als Zeichenausdruck einbezieht. Das auf Hjelmslev zurückgehende und von Eco und Barthes neu interpretierte Schichtenmodell der Bedeutung (Kap. 2.2.3.2), das erst auf der Ebene der Inhaltsform, also der sprachlichen Benennung des Objekts ansetzt, ist folglich zu modifizieren und zu erweitern. Ich schlage folgende Struktur vor (siehe Abb. 3): Auf der Basis- oder 0-Ebene konstituiert der Interpret ein materielles Objekt, d.h., er grenzt es als Erkenntnisobjekt von seiner Umgebung ab. Es handelt sich nicht um ein Objekt „an sich“, sondern immer um ein Objekt „für einen Interpreten“ (siehe Prietos Definition des materiellen Objekts). Das Objekt wird kategorisiert, indem es einem Objekttyp zugeordnet wird (vgl. Kap. 2.2.2 und 2.2.3.3). Es kann angenommen werden, dass diese Kategorisierung quasi automatisch erfolgt (als Input-Prozess, vgl. Kap. 2.2.3.1), selbst wenn der Objekttyp in dieser konkreten Situation für den Interpreten nicht besonders relevant ist. Bei den Objekten der Straße handelt es sich häufig um Individuen, die zum Teil auch einen Namen tragen, z.B. das Café X, den Laden Y usw. Ist das Objekt dem Interpreten gut bekannt, wird er es wahrscheinlich zuerst als oder kategorisieren, die Zuordnung zu einem Objekttyp ist dann
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bereits im Inhalt oder enthalten, z.B. umfasst der Inhalt den Inhalt Objekttyp /Supermarkt/. Diese unterste Stufe der Interpretation entspricht der Wahrnehmungssemiose bei Peirce (s.o. Kap. 2.2.3.6). Eco nennt sie „perzeptive Präsemiose“ oder „primäre Semiose“ (Eco 1997/2000: 150). Ich werde im Folgenden von Kategorisierung sprechen (s.o. Kap. 2.2.3.2). Handelt es sich bei dem Objekt X um ein Kommunikations-Zeichen und wird es als Signal erkannt, kann davon ausgegangen werden, dass der Signalprozess (die Dekodierung des sprachlichen oder bildhaften Signals) gleichzeitig mit der Kategorisierung auf der Ebene 0 und in gleicher Weise automatisch als Inputprozess abläuft. Ein Verkehrszeichen wird als kategorisiert (= kategoriale Denotation) und gleichzeitig seinem Ausdruck sein kommunikativer Inhalt, z.B. (= Signaldenotation) zugeordnet (s.o. Kap. 2.2.3.2). Auf der linken Seite der Graphik werden Interpretationsschritte beschrieben, die auf Eigenschaften des konkreten Objekts, d.h. der Ausdrucksebene des ObjektZeichens, aufbauen. Die rechte Seite stellt Semioseketten dar, die sich aus der Zuordnung zu einem Objektinhalt (dem Typ oder einem anderen Inhalt, s.o.) ergeben, d.h., hier werden nicht externe sensorische Reize interpretiert, sondern mentale Konzepte. Sie ist konzeptionell ausgerichtet, sie baut auf der Inhaltsebene auf. Welche Aspekte in der konkreten Interpretation ausgewählt werden, ist kontextabhängig. Interpretationsergebnisse können das Wissen erweitern und Einstellungen verändern und damit wieder in den Wissenskontext des Interpreten zurückfließen und diesen erweitern.
Abbildung 3: Interpretationsorientiertes Modell für Objekt-Zeichen
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Ausgehend von dieser Modellierung sollen weiterhin zwei Formen der Interpretation von städtischem Raum unterschieden werden: eine digitale und eine analoge (siehe Tab. 2).161 Die digitale Interpretation ist auf einzelne Objekte gerichtet, sie ist gebrauchsfunktional-inhaltlich und typorientiert ausgerichtet (Läden, Verkehrsschilder, einzelne Gebäude als Ganzes etc.) Es werden starke Kodes angewendet. Allerdings bleibt hier die Interpretation häufig nicht bei der ersten Objektkategorisierung stehen. Vielmehr können sich weitere Semioseketten anschließen, die über die funktionale Typisierung hinausreichen und metonymisch auf den Kontext übertragen werden (Konnotationen auf der Inhaltsebene). Aus digitalen Interpretationen auf einer niedrigeren Ebene können analoge Interpretationen der höheren Ebene werden, die Objekttypen der einen Ebene werden zu Objekteigenschaften der höheren Perspektivierungsebene. Die analoge Interpretation ist auf die Beschaffenheit der Objekte gerichtet, auf ihre individuellen Eigenschaften, sie ist tokenorientiert und aisthetisch. Es kommen schwache Kodes zum Tragen. Es entstehen Konnotationen der Ausdrucksebene. Ihr zuzuordnen ist die ästhetische und stilbezogene Interpretation, die Interpretation von Spuren des Gebrauchs und der Abnutzung, von atmosphärischen Eindrücken. Die rechte Seite des Modells stellt mögliche digital ausgerichtete Interpretationsketten dar. Das Objekt X (z.B. eine Bäckerei) wird konstituiert und kategorisiert (Ebene 0) und ein Aspekt (Asp1) des Objektinhalts, des Typs, ausgewählt (INH1). Dabei kann es sich um ein Merkmal, z.B. die Standardfunktion (Produktion und Verkauf von Backwaren) handeln, aber auch um den Objekttyp als Entität. Dieser Aspekt wird auf Ebene 1 zum Ausdruck (A (1) INH1 Asp1) eines neuen Zeichens mit dem Inhalt (I (1) INH1 Asp1). Der Inhalt I (1) INH1 Asp1 kann ggf. auf Ebene 2 wieder zum Ausdruck A (2) INH1 Asp1 mit einem Inhalt werden etc. Die kursiv und in Klammern gesetzte Ziffer hinter A bzw. I bezeichnet immer die Interpretationsstufe. Die linke Seite des Modells stellt mögliche analog ausgerichtete Interpretationsketten dar. Auch hier wird das konkrete Objekt X konstituiert und kategorisiert (Ebene 0), es wird jedoch ein Aspekt des Objektausdrucks (AUSAsp1) ausgewählt. Dabei kann es sich um eine Eigenschaft des materiellen Objekts, z.B. eine ansprechende Schaufenstergestaltung oder einen alten Türgriff handeln, aber auch um den sensorischen Eindruck als Ganzes. Dieser Aspekt (AUSAsp1) wird auf Ebene 1 zum Ausdruck (A (1) AUSAsp1) eines neuen Zeichens mit dem Inhalt (I 161 Zur Unterscheidung von digitaler und analoger Kodierung vgl. Nöth 2000: 218 und Chandler 2007: Artikel Sign. Siehe ferner auch Wilden 1987: 224ff, für den Kontinuität und Diskontinuität und damit analoge und digitale Kodierung die beiden fundamentalen Kategorien der menschlichen Erfahrungswelt darstellen.
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(1) AUSAsp1). Der Inhalt I (1) AUSAsp1 kann ggf. auf Ebene 2 wieder zum Ausdruck (A (2) AUSAsp1) mit einem Inhalt werden usf. Tabelle 2: Analoge versus digitale Interpretation Analoge Interpretation
Digitale Interpretation
Fokus
Einzelobjekt oder Objektkomplex in seiner Materialität, Gesamteindruck eines städtischen Raumes
Kategoriale Denotation als Kategorisierungsergebnis, Gebrauchsfunktion, auf Kategorisierung und Gebrauchsfunktion aufbauende symbolische Inhalte
Die Struktur der analogen Interpretation unterscheidet sich von der digitalen darin, dass in der Wahrnehmung immer potentiell ein weiterer Ausdrucksaspekt aus dem ausgewählten Ausdrucksaspekt selektiert werden kann usf. Zwar besteht auch auf der digitalen Seite eine weitere Selektionsmöglichkeit aus den Inhaltsaspekten, diese stellen sich jedoch wieder als mentale (metonymische) Inhalte dar, während in der analogen Interpretation der sensorische Reiz die Basis für die weitere Aspektauswahl liefert. Wenn hier von analoger Interpretation die Rede ist, muss natürlich darauf hingewiesen werden, dass die analoge Interpretation beim Übergang von I (1) AUSAsp1 zu A (2) AUSAsp1 wieder digital und konzeptionell wird. Wird dagegen aus dem Ausdrucksaspekt1 in weiterer Ausdrucksaspekt2 ausgewählt, bleibt sie vorerst analog. Die kursiv und in Klammern gesetzte Ziffer hinter A bzw. I bezeichnet auch hier die Interpretationsstufe. Die Teilung in zwei Zweige behauptet keine reale Trennung zwischen zwei Interpretationssträngen, sondern stellt ein rein heuristisches Mittel dar. Durch die getrennte Darstellung soll die Parallelität von wahrnehmungsinduzierter Interpretation und konzeptioneller Interpretation hervorgehoben werden. Während die strukturalistische Objektsemiotik (z.B. Eco, vgl. Kap. 2.2.2) vorwiegend nur die
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digitalen Prozesse betrachtet, die auf der rechten Seite des Modells dargestellt sind, möchte ich durch Einbeziehung der „analogen“ Interpretation zu einer erweiterten, stärker holistisch angelegten Analyse der Interpretationsprozesse von städtischen Räumen gelangen. In Kap. 2.2.3.5 wurde mit Umberto Eco darauf hingewiesen, dass die Auswahl von einem Objektaspekt als Basis der Interpretation und die Zuordnung eines Inhalts nicht als zwei zeitlich nacheinander folgende Schritte aufgefasst werden können, sondern bereits die Aufmerksamkeit auf einen Aspekt (sei es ein Ausdrucks- oder Inhaltsaspekt) mit einer Kodierung und folglich einer Bedeutungskonstitution Hand in Hand geht. Die Graphik ist demnach nicht als streng konsekutives von unten nach oben aufgebautes Ablaufdiagramm zu lesen, sondern stellt dar, welche Ausdrucks-Inhalts-Zuordnungen im Interpretationsprozess verknüpft sind, ohne eine zeitliche Reihenfolge zu behaupten. Jedoch kommt auch eine auf die Eigenschaften der Objekte ausgerichtete Interpretation nicht ohne kategoriale Bestimmungen aus (auch der [abblätternde Putz] muss als solcher interpretiert werden). Allerdings steht hier eben nicht der Tatbestand Putz, sondern seine wahrgenommene Eigenschaft im Vordergrund. Beiden potentiellen Interpretationssträngen ist gemeinsam, dass die kategorialen Zuordnungen bzw. erkannten Eigenschaften häufig nicht nur als Basis der Interpretation des gerade fokussierten Einzelobjektes genutzt werden. Vielmehr werden Kategorien und Eigenschaften metonymisch auf übergeordnete Einheiten übertragen werden, von denen das Objekt ein Teilelement darstellt. Um eine Straße als „heruntergekommen“ zu interpretieren, müssen nicht alle Häuser der Straße heruntergekommen aussehen, vielmehr genügt ein geringerer Anteil negativ beurteilter Objekte (die nicht durch eine entsprechende Anzahl positiv beurteilter Objekte ausgeglichen werden), um solche Wertung auszulösen. Durch die Metonymizität der Interpretation wird eine ständige Bewegung zwischen den unterschiedlichen Ebenen eines komplexen Objektes ausgelöst: Inhalte eines Objektes können auf das übergeordnete Objekt übertragen werden und umgekehrt. Dieser Mechanismus kann auch mit Hilfe des Kotextbegriffes beschrieben werden: die Interpretation eines Objektes wird auf einen bestimmten konstituierten räumlichen oder zeitlichen Kotext des Objekts übertragen. Digitale und analogische Interpretation sind fast immer verschränkt. Da die digitale Interpretation mit starken Kodes arbeitet, ist sie stärker intersubjektiv vergleichbar, die analoge Interpretation ist durch die Nutzung schwächerer Kodes dagegen eher an Einstellungen, Weltwissen und kulturelle Prägung gebunden. Das Ergebnis analoger Interpretation ist oft eher eine Wirkung, z.B. atmosphärischer Art, als Signifikation im eigentlichen, semiotischen Sinne. Zu fragen ist, ob auch der analogen Interpretation immer eine Objektkategorisierung vorausgeht. Auf einer quasi-automatischen, vorbewussten Ebene kann dies wahrscheinlich bejaht werden (vgl. Fodor, Kap. 2.2.3.1). Allerdings können die
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Wahrnehmung und Interpretation der Objekteigenschaften für den Interpreten über größere Relevanz verfügen als der Objekttyp bzw. die Objektfunktion. Das Modell dient in dieser Form als erweiterungsfähiges Grundgerüst, in dem die in den Interviews identifizierten Interpretationsprozesse dargestellt werden können. Ferner bildet es das Modell für die Grundlagenelemente des übergeordneten Modells der Vorstellung , das im Kapitel 3 entwickelt wird.
2.3 WAHRNEHMUNG
UND
R EPRÄSENTATION
VON
U MWELT
Die Straße, in der wir wohnen, das Haus von Freunden, der Supermarkt, in dem wir einkaufen, der Park um die Ecke, die Küste, an der wir letztes Jahr unseren Urlaub verbracht haben: dies alles sind Räume, in denen wir uns aufhalten, uns bewegen, die wir als unsere Umwelt wahrnehmen. Abhängig davon, wie oft wir diese Räume aufsuchen und was wir dort tun, werden uns nur wenige einzelne oder viele unterschiedliche Eigenschaften dieser Umwelten bewusst. Aus diesen Wahrnehmungen heraus und beeinflusst von unseren Einstellungen, Absichten und unserem Wissen entwickeln wir Vorstellungen, ‚Bilder‘ der Räume und der Objekte der Wirklichkeit, die scharf und detailreich oder verschwommen und wenig differenziert sein können, die scheinbar objektiv nur Tatsachen abbilden oder die durch sehr persönliche Emotionen geprägt sind. Die einzelnen Elemente dieser Vorstellungen können miteinander harmonieren oder starke Kontraste bilden. Die ‚Grenzen‘ dieser Vorstellungen sind meist nicht eindeutig definiert, auch werden manchmal diese, manchmal jene Elemente und Eigenschaften besonders hervorgehoben. Die Elemente unterliegen jedoch immer einer bestimmten Ordnung, die auf räumliche, zeitliche oder kausale Relationen der ‚realen‘ Umwelt verweist. Die Vorstellungen eines spezifischen Raums können individuell sehr unterschiedlich sein. Bestimmte basale Strukturen sind jedoch genetisch verankert und abhängig von allgemeinen sensorischen Kompetenzen und den Funktionsweisen der höheren kognitiven Prozesse. Das Kapitel 2.3 führt in knapper Form in einige für die Umweltwahrnehmung relevante wahrnehmungs- und kognitionspsychologische Grundbegriffe und Modelle ein.162 Der in der Arbeit verwendete Begriff der Vorstellung wird definiert und vom Begriff des Images abgegrenzt.
162 Es handelt sich hier notwendigerweise um eine stark verkürzte Darstellung, dabei wird das sehr breite Spektrum kognitionswissenschaftlicher Theorien wird auf eine symboltheoretische Perspektive verengt.
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2.3.1 Wahrnehmung von Umwelt und Objekten Unter Wahrnehmung versteht man im Allgemeinen die Aufnahme und Verarbeitung von Information durch einen Organismus auf Grund von sensorischen Reizen (Stimuli) aus der Umwelt.163 Dabei kann „Wahrnehmung“ sowohl den Prozess selbst als auch das Prozessergebnis bezeichnen. Die Trennlinie zwischen Empfindung als dem noch unverarbeiteten Rohmaterial der Erfahrung, der Wahrnehmung im engeren Sinne als Erkennen eines Objekts164 und der weiteren kognitiven Verarbeitung ist unscharf. In der aktuellen Forschung wird die Unterscheidung meistens nicht mehr aufrechterhalten oder hat nur noch heuristischen Wert (Guski 2000: 8f, Mausfeld 1996: 785). In dieser Arbeit wird Wahrnehmung als der die sensorische Tätigkeit einschließende Teil des umfassenden kognitiven Prozesses konzipiert, eine scharfe Grenze zur interpretativen Weiterverarbeitung wird bewusst nicht gezogen. Der kognitive Prozess in seiner Gesamtheit soll hier als ‚Wahrnehmung und Interpretation‘ bezeichnet werden. Das aktuelle Paradigma der perzeptuell-kognitiven Informationsverarbeitung betrachtet Wahrnehmung als einen Prozess, in dem der proximale Reiz, d.h. die auf die Rezeptoren in den Sinnesorganen treffende Energie, über mehrere Verarbeitungsstufen in eine abstrakte mentale Repräsentation umgewandelt wird (Mausfeld 1996: 783, Mack 1999: 211). Diese Repräsentation ist auf den distalen Reiz, das physikalische Wahrnehmungsobjekt bezogen. In diesem Sinne sind Wahrnehmung und Kognition generell immer auf Etwas gerichtet, ihnen kommt Intentionalität zu (s.o. Kap. 2.2.4.1).
163 Insofern ist Wahrnehmung immer Umweltwahrnehmung. Die experimentelle Wahrnehmungspsychologie arbeitet jedoch weitgehend mit Versuchsanordnungen, die auf einer kontextfreien Wahrnehmung von einzelnen Objekten basieren. Dagegen setzt die Umweltpsychologie explizit auf die ganzheitliche Beschäftigung mit der MenschUmwelt-Relation, wie sie sich u.a. in der Wahrnehmung darstellt. Die antagonistische Gegenüberstellung von Objekt- und Umweltwahrnehmung lässt sich jedoch auflösen, wenn Wahrnehmung nicht im Kontext psychologischer Versuchsanordnungen, sondern als Wahrnehmung der alltäglichen Umwelt thematisiert wird: wir nehmen einzelne Objekte immer in einer spezifischen Umwelt wahr, und jede spezifische Umwelt ist aus Elementen zusammengesetzt, die Objektcharakter haben. In diesem Sinne ist auch das in Kap. 2.2.5 vorgeschlagene Modellierung von Objekten als Zeichen immer auf die Interpretation von Objekten in einer Umwelt, in einem spezifischen Kontext bezogen. 164 Wohl auch in der Alltagsbedeutung des Begriffs, vgl. Goldstein: „Für die meisten Menschen ist Wahrnehmung zuallererst das Erkennen von Gegenständen.“ (Goldstein 2002: 183)
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Wahrnehmen ist kein passives Abbilden der Außenwelt, sondern ein konstruktiver Prozess. In der Wahrnehmung wirken sowohl Selektionsmechanismen, die aus der Fülle der sensorischen Informationen der Umwelt die jeweils für den Wahrnehmenden relevanten herausfiltern, als auch Produktionsmechanismen, die unvollständige Reize zu einem vollständigen ‚Objektbild‘ ergänzen. Die Wahrnehmung hat weiterhin organisierende und gestaltende Funktion: die Umwelt wird als schon gestalthafte und geordnete erfahren.165 Ferner werden aus den selegierten Informationen einige Teile als besonders wichtig akzentuiert. Schließlich tendiert die Wahrnehmung zur Fixation: während des Abgleichs der Wahrnehmung mit der Erwartung besteht die Tendenz, die Erwartungen habituell zu bekräftigen (Städtler 1998: 1190ff, Miller 1998: 67f). Welche Elemente der Umwelt als relevant wahrgenommen und akzentuiert werden, ist wenigstens partiell abhängig von Wissen, Einstellungen und Motivationen des Wahrnehmenden. 2.3.2 Die Welt im Kopf? Wahrnehmung als Ordnung und Schematisierung: Mentale Repräsentationen, Konzepte, Schemata Der Begriff der mentalen Repräsentation (auch als kognitive oder interne Repräsentation bezeichnet) kann als Schlüsselbegriff der kognitiven Psychologie bzw. der Kognitionswissenschaften überhaupt gelten. Das symboltheoretische Paradigma der Kognitionswissenschaften (auch RTM, Representational Theory of Mind), geht davon aus, dass kognitive Prozesse wie Wahrnehmen, Denken und Sprechen als Berechnungen über Symbole,166 d.h. mental gespeicherte Informationseinheiten beschrieben werden können. Diese Symbole stehen für Etwas, sie sind interne Repräsentationen entweder für Gegebenheiten der Außenwelt, wie z.B. Dinge, Menschen, Situationen, Orte oder für innere Zustände. Von der Mehrzahl der Forscher werden multimodale Repräsentationsformate angenommen.167 Propositionale Repräsentationen sind abstrakt, sie weisen eine satzartige Struktur auf und eignen sich zur Darstellung abstrakter Sachverhalte und Ideen. Analoge Reprä-
165 Hier wirken u.a. die Gestaltgesetze der Wahrnehmung, wie die Figur-Grund-Trennung oder das Gesetz der Nähe. 166 Symbol ist hier im weiten Sinne und nicht allein als konventionelles Zeichen (wie bei Peirce, s.o. Kap. 2.2.3.1) zu verstehen. 167 Vgl. Paivio 1986, Kosslyn 1980. Dagegen wird z.B. von Zenon W. Pylyshyn nur ein einziges, propositional-abstraktes Repräsentationsformat für alle Arten von Informationen postuliert (z.B. 1973). Zur sogenannten Imagery-Debatte vgl. z.B. Kosslyn 1980, Kosslyn/Pomerantz 1992.
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sentationen sind dagegen quasi-bildhaft organisiert, sie ähneln der Wahrnehmungserfahrung beim Sehen, Hören etc. des jeweiligen Gegenstands und können daher räumliche Relationen und sensorische Eigenschaften abbilden (Dölling 1998b, Schwarz 1996a: 95ff, Kosslyn/Pomerantz 1992: 261f, 272).168 Die elementaren Einheiten der Repräsentation von Wissen werden im Allgemeinen als Konzepte bezeichnet (Schwarz 1996a: 87f, Laurence/Margolis 1999: 4ff). Konzepte sind Wissensbausteine, sie basieren auf Erfahrungen, die im Umgang mit der Welt gemacht werden. Fundamental für die Strukturierung von Information sind die Prinzipien der Identität und Äquivalenz. Mit Hilfe des Identitätsprinzips kann ein Objekt zu unterschiedlichen Zeitpunkten und an verschiedenen Orten als ein und dieselbe Entität erkannt werden. Das Äquivalenzprinzip macht es möglich, zwei Entitäten auf Grund gemeinsamer Eigenschaften als Exemplare einer Klasse zu erkennen. Um ein Tier als Hund erkennen zu können, benötige ich eine mentale Beschreibung, das Konzept eines Hundes, das ich z.B. durch die direkte Erfahrung verschiedener Hunde oder durch eine mediale Repräsentation gebildet habe.169 Hier handelt es sich um ein kategoriales oder Typkonzept.170 Kategoriale Konzepte ermöglichen die ökonomische Organisation der Informationen durch Einordnung in Klassen anhand bestimmter Merkmale und die Identifizierung einzelner Objekte als 168 Eine konträre Position zur Repräsentationstheorie der Wahrnehmung wird von J. J. Gibson vertreten. Für Gibson stellt Wahrnehmung eine Aktivität dar, die Informationen direkt aus den Umweltreizen extrahiert. Die Annahme einer vermittelnden mentalen Verarbeitung wird in der Theorie der direkten Wahrnehmung abgelehnt. Mit dem Begriff der Affordanzen (affordances) beschreibt Gibson die Handlungsangebote, die die Umwelt für ihre Teilnehmer macht: die offene Tür lädt ein, sie zu durchschreiten, der Stuhl sich hinzusetzen etc. Auch diese Angebote werden nach Gibsons Ansicht direkt aufgenommen, vorangegangene Erfahrungen mit diesen Gegenständen und daraus entwickelte mentale Konzepte spielen keine Rolle (Gibson 1979/1982). Gibsons Theorie der Affordanz wurde von Vertretern der Repräsentationstheorie, u.a. von Fodor und Pylyshyn, scharf angegriffen (Fodor/Pylyshyn 1981). 169 In welcher Weise die Konzeptstruktur modelliert werden kann, ist umstritten. Die neuere Forschung nimmt an, dass kategoriale Konzepte durch „beste“, d.h. möglichst typische Beispiele, Prototypen genannt, definiert sind, die mit den anderen Mitgliedern der Kategorie durch einzelne gleiche Merkmale, durch Familienähnlichkeit verbunden sind. Die Grenzen zwischen Kategorien sind unscharf (Schwarz 1996a: 89f, Kleiber 1990/1993: 33f). Allerdings können nicht alle Formen von Konzepten mit Hilfe der Prototypentheorie erklärt werden, anzunehmen ist, dass weitere Strukturtypen existieren und dass unterschiedliche Konzeptarten auch unterschiedlich strukturiert sind (Margolis/Laurence 2006). 170 Zur Typ-/Token-Begrifflichkeit vgl. auch Kap. 2.1.2.
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Mitglieder dieser Klassen (Kategorisierung). Die Fähigkeit zur Kategorisierung, d.h. zur Anwendung von Konzepten (Laurence/Margolis 1999: 11) ist eine elementare Eigenschaft der Kognition. Sie kann nicht nur beim Menschen, sondern bei vielen höheren Lebewesen angenommen werden und setzt nicht notwendig den Gebrauch von Sprache voraus (Anderson 2005/2007: 432). Auf Grund von Konzepten können Inferenzen, Schlussfolgerungen, z.B. über nicht wahrnehmbare Eigenschaften von Objekten gezogen werden (Schwarz 1996a: 87f, Schwarz/Chur 1996b: 25ff, Jackendoff 1983: 77ff, Smith 1989: 501, s.a. Kap. 2.2.3.1). Neben sensorischen Merkmalen wie der allgemeinen visuellen Gestalt des Objekts sind in mentalen Konzepten insbesondere funktionale Merkmale kodiert. Ein Objekt wird also nicht nur auf Grund seiner spezifischen Form, sondern auch auf Grund seiner Gebrauchsmöglichkeiten als Exemplar eines Typs kategorisiert (Hoffmann 1994, vgl. auch Kleiber 1990/1993: 60ff).171 Neben diesen kategorialen Konzepten verfügen wir noch über Individual- oder Tokenkonzepte. Diese repräsentieren Informationen über konkrete Objekte, Situationen oder Personen, z.B. Menschen, die wir kennen, unser Auto, eine Straße in unserer Stadt (Schwarz/Chur 1996b: 25). Mit der Hilfe von Token-Konzepten werden Entitäten als Individuen in der ‚realen‘ Welt konstituiert. Als Tokenkonzept soll jedes Konzept eines individuellen Objekts oder einer Person verstanden werden, das es erlaubt, diese auch bei ggf. sich ändernden Merkmalen zu identifizieren.172 Über ein Tokenkonzept eines spezifischen Objekts können einzelne 171 Dieser Konzeptbegriff ist auch kompatibel mit dem in Kap. 2.2.3.1 beschriebenen von Sperber und Wilson (Sperber/Wilson 1995: 86) und dem Typ bei Prieto (Kap. 2.2.2). 172 Monika Schwarz (Schwarz/Chur 1996b: 25) nennt das in Tokenkonzepten repräsentierte Wissen „individuell-episodisch“, es sei an subjektives Erleben gebunden. Abweichend von dieser Auffassung wird in dieser Arbeit die direkte subjektive Erfahrung nicht als notwendige Bedingung für die Konstitution von Tokenkonzepten betrachtet. Ferner ist nicht plausibel, warum Konzepte über Individuen allein individuellepisodisch entstehen sollen. Wissen über Individuen kann sehr wohl kulturell konventionalisiert sein, wie z.B. Wissen über bekannte Bauwerke (den Reichstag in Berlin, den Eiffelturm), Städte (New York, Paris) oder Personen (Barack Obama, Marilyn Monroe). Analytisch genauer wäre eine Unterscheidung zwischen ‚sozial-kategorialem‘ Wissen und ‚subjektiv-kategorialem‘ Wissen (das jedoch ohne sozial-kategorialen Anteil nicht vorstellbar ist, vgl. z.B. Wittgensteins Überlegungen über die Möglichkeit einer Privatsprache, 1967: § 256ff) sowie zwischen ‚sozial-partikularem‘ (intersubjektiv verfügbarem Wissen über Individuen, z.B. über bekannte Personen, Bauwerke etc., dieses existiert natürlich nur für eine relativ geringe Zahl von Individuen) und ‚subjektiv-partikularem‘ Wissen (Wissen von Einzelnen über ein Individuum). Schwarz fasst unter individuell-episodischem Wissen den letztgenannten Typ, Ecos ‚physio-
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Individuen, kleinere Gruppen oder die Mehrzahl der Angehörigen einer Kultur verfügen, es kann sowohl aus dem direkten Erleben als auch auf Grund medialer Vermittlung konstituiert werden.173 Tokenkonzepte von Objekten, die über einen großen, medial vermittelten Bekanntheitsgrad verfügen, seien hier als stereotypisierte Tokenkonzepte bezeichnet (s.a. unten. Kap. 2.3.3). 174 Mit Konzepten von Individuen hat sich auch Umberto Eco beschäftigt. Er nimmt an, dass bei der Repräsentation von individuellen Objekten oder Personen Typ und Token zusammenfallen: auch wenn wir den Freund A mit einem neuen Haarschnitt sehen (als ‚A-Token‘), können wir ihn als Freund A (‚A-Typ‘) erkennen. Diese Form des Individualkonzepts bezeichnet er als physiognomischen Typ. Von den physiognomischen Typen unterscheidet er die formalen Individuen. Zu diesen zählt er literarische Werke, Kunstwerke, architektonische Werke und andere Werke des Geistes. Bei diesen betreffe die Individualität nicht die Substanz,
gnomischer Typus‘ ähnelt diesem ebenfalls, das episodische Element ist bei ihm jedoch einem situationsunabhängigen Wissensbestand gewichen. Besonders interessant im Rahmen dieser Arbeit ist jedoch das ‚sozial-partikulare Wissen‘. Zu fragen ist, ob das ‚sozial-partikulare‘ Wissen nicht als kategorialisiertes Wissen über Individuen konzipiert werden kann. Auf Individuen bezogene konventionalisierte Images (s.u. Kap. 2.3.3) können sicher dem ‚sozial-partikularen‘ Wissen zugerechnet werden, während auf Individuen bezogene Vorstellungen eher auf der subjektiv-partikularen Seite angesiedelt sind. 173 Token-Konzepte werden in dieser Arbeit (s.a. oben Kap. 2.1.2.) nicht nur als Instanzen von Typkonzepten, d.h. als reine Wahrnehmungsmuster von individuellen Objekten verstanden, welche im Abgleich mit dem Typkonzept bei der Kategorisierung des Objekts als ‚Objekt X‘ zum Tragen kommen (wie dies z.B. bei Jackendoff 1983 anklingt). Vielmehr werden sie als eigenständige Konzepte für Individuen mit eigener Identität aufgefasst, die Merkmale besitzen, die in dem kategorialen Typ, dem sie zugeordnet werden, nicht vorkommen. Experimentelle Untersuchungen zur Kategorisierung von Individuen haben gezeigt, dass Individuen weder auf ihren Objekttyp reduziert werden noch vollständig unabhängig von ihm begriffen werden können (Blok/Newman/Rips 2005). 174 Eine Mittelposition zwischen Typ- und Tokenkonzepten nehmen Konzeptformen ein, die in ‚On-line computation‘ von Prototypen entstehen und auf der Ad-hoc-Verallgemeinerung von Merkmalen von Individuen beruhen. Als Beispiel nennt Smith ein Konzept wie ‚die Leute aus meinem Block‘ (Smith 1989: 508). Zur strukturellen Ähnlichkeit von Typ- und Tokenkonzepten vgl. auch Millikan 1998.
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sondern nur die Form von Ausdruck und Inhalt (Eco 1997/2000).175 Anschließend an Eco ließe sich fragen, ob nicht auch Personen des öffentlichen Lebens oder kulturelle Ikone allgemein (wie große Städte, Bauwerke etc.) eher als formale Individuen denn als physiognomische Typen aufgefasst werden können. Hier scheint der Umfang der medialen Darstellung eine Rolle zu spielen. Komplexe, strukturierte Einheiten mentaler Konzepte werden in der kognitiven Forschung als Schemata bezeichnet. Schemata repräsentieren Wissen über einen Realitätsbereich, über bestimmte alltagstypische Situationen, Ereignisse, Handlungen. Schemata werden als Netzwerke modelliert, die Slots (Füllstellen) aufweisen, die in der Interpretation mit konkreten Werten (Fillers) besetzt werden. Ein Haltestellen-Schema weist z.B. Slots wie ‚Verkehrsweg‘, ‚Haltestellenschild‘, ‚Warten‘, ‚öffentliches Verkehrsmittel‘, ‚Fahrplan‘, ‚Wartehäuschen‘ auf.176 Als spezielle Formen von Schemata werden teilweise Frames (Rahmen), Skripts (enthalten Handelsanweisungen) und Scenarios (räumlich organisierte Schemata) unterschieden (Schwarz 1996a: 91ff). Um die verwendete Terminologie möglichst übersichtlich zu halten, wird im Folgenden nicht von Schemata, sondern nur von komplexen Konzepten gesprochen. So setze ich z.B. voraus, dass die Anwohner einer konkreten Straße X über ein (komplexes) Tokenkonzept dieser Straße verfügen, das sich aus Subkonzepten konstituiert (siehe Kap. 3.2). 2.3.3 Umwelt(en) und Umweltrepräsentationen Mentale Repräsentationen ermöglichen uns, Objekte und Handlungsmöglichkeiten zu erkennen, unsere Umwelt zu erschließen und zu bewerten. Nicht nur allgemeine Kategorien wie ‚Hund‘, ‚Bus‘, ‚Straße‘ oder konkrete einzelne Objekte werden als Konzepte repräsentiert, sondern auch Umweltausschnitte wie unser Wohnhaus, unsere Straße, unsere Stadt. Bevor Formen und Strukturen von Umweltrepräsentationen im Allgemeinen und städtischen Repräsentationen im Besonderen beschrieben werden, soll kurz der hier verwendete Umweltbegriff geklärt werden.
175 Hier wäre einzuwenden, dass bei Werken der Kunst und Architektur die Individualität ebenfalls an die Substanz gebunden ist, jedenfalls solange man an dem Begriff des Originals festhält. 176 Wenn Peter erzählt, er habe morgens eine halbe Stunde auf den Bus gewartet und sei dabei ganz nass geworden, so kann ich durch die Anwendung des Haltestellen-Schemas und des Regen-Schemas schließen, dass er an einer Straße an einer Bushaltestelle (wahrscheinlich ohne Wartehäuschen) im Regen stand, auch ohne dass Haltestelle, Straße, Wartehäuschen und Regen in seiner Erzählung explizit vorkommen.
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Der Umweltbegriff In Anlehnung an Jakob von Uexküll wird Umwelt hier im konstruktivistischen Sinne verstanden.177 Für Uexküll ist Umwelt keine objektive Gegebenheit, vielmehr schafft sich jedes Lebewesen, abhängig von seinem sensorischen, kognitiven und physiologischen Apparat, seine spezifische Umwelt. Damit gibt es nicht eine, sondern viele Umwelten. Umwelten sind „Merkwelten“, die wahrgenommen werden, und „Wirkwelten“, in denen und mit denen gehandelt wird: „So viele Leistungen ein Tier ausführen kann, so viel Gegenstände vermag es in seiner Umwelt zu unterscheiden.“ (von Uexküll 1940/1956: 68). Die Umwelt ist für ein Lebewesen nicht interesselos betrachteter Raum, sondern immer schon bedeutungsvoll: „Jede Umwelt bildet eine in sich geschlossene Einheit, die in all ihren Teilen durch die Bedeutung für das Subjekt beherrscht wird.“ (von Uexküll 1940/1956: 109) Menschen können sich als Subjekte auf einzelne Objekte beziehen, aber sie können nicht Subjekt einer Umwelt, sondern nur ihr Teilhaber sein. „One does not, indeed cannot, observe the environment, one explores it. If the observation is the object, then the exploration is the environment.“ (Ittelson 1973: 13) Während die Beobachtung eines Objekts von einem statischen Ort aus durchgeführt werden kann, ist Erforschung eines Raumes notwendig an Bewegung gebunden. Umwelten können nur in der Bewegung adäquat erfahren werden (Mack 1999: 20). Umwelten zeichnen sich nach Ittelson durch spezifische Eigenschaften aus, die sie von Einzelobjekten unterscheiden (Ittelson 1973: 13-15, Ittelson/Proshansky/ Rilin et al. 1974/1977: 140ff): 1. Umwelten haben keine objektiv vorgegebenen Grenzen in Raum und Zeit.178 2. Umwelten sind multimodal, sie werden mit allen Sinnen wahrgenommen. 3. Die Umwelt bietet mehr Informationen an, als verarbeitet werden können. Periphere wie auch zentrale Informationen sind immer vorhanden, sowohl im körperbezogenen, sensorischen Sinne, das Sichtfeld betreffend, als auch im kognitiven Sinne, d.h. auf die Aufmerksamkeit bezogen. 4. Umweltwahrnehmung erfordert immer Handlung. Die Umwelt bietet die Bühne für mögliche Handlungen, ihre Form beeinflusst die Art der Handlung und die Handlung kann wiederum die Umwelt manipulieren. 177 Jakob von Uexküll (1864-1944) gilt als Begründer einer subjektorientierten Umweltlehre, er führte als erster den Begriff der Umwelt als systemische Einheit zwischen Subjekt und Außenwelt in die Wissenschaft ein. 178 Dass wir Umwelten wie beispielsweise Stadträumen jedoch in unserer Vorstellung Grenzen zuweisen, die oft allerdings vage und unscharf sind, hat Kevin Lynch herausgearbeitet (s.u. in diesem Unterkapitel).
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5. Umwelten vermitteln symbolische Bedeutungen. Diese können kognitiver Art (z.B. Funktionsbedeutungen), affektiver oder ästhetischer Art sein. Eine Form der affektiven Reaktion auf eine Umwelt ist die Zuschreibung bestimmter atmosphärischer Merkmale, wie lebendig, trist, bedrückend.179 Ferner werden Umwelten häufig ästhetische Qualitäten zugeschrieben. Symbolische Bedeutungen resultieren vordergründig aus den sozial bestimmten Zwecken und den Aktivitäten, die sich in den Umwelten vollziehen. 6. Die Umwelt zeigt sich uns als systematisch geordnetes, kohärentes und damit auch voraussagbares Ganzes. Diese von Ittelson postulierten Eigenschaften von Umwelten manifestieren sich auch in den Vorstellungen, die Teilnehmer einer Umwelt entwickeln. Ittelson geht davon aus, dass die Umwelt immer als eine Anordnung von Vorstellungsbildern erkannt wird. Diese konzeptionell organisierte, kognitive Umwelt variiert zwischen Individuen und Gruppen, sie ist abhängig von kultureller und sozialer Herkunft, Alter, Geschlecht und weiteren, auch individuellen Faktoren (Ittelson/Proshansky/ Rilin et al. 1974/1977: 28). Von den obengenannten Merkmalen von Umwelten stehen in dieser Arbeit die symbolischen Bedeutungen und die Organisation einer Umwelt als systematisches Ganzes im Mittelpunkt. Die in den Umweltvorstellungen kodierten spezifischen Elemente und symbolischen Bedeutungen sowie ihre Strukturierung können als Resultat der kognitiven und handlungsorientierten Auseinandersetzung mit der Umwelt verstanden werden. Wie können die symbolischen Bedeutungen einer städtischen Umwelt, wie einer Straße modelliert werden? Welche Formen der Umweltrepräsentation kann man unterscheiden? Welche Elemente enthalten sie? Mit diesen Fragen beschäftigt sich der folgende Abschnitt. Umweltrepräsentationen: Kognitive Karten, Vorstellungen, Images Als klassische Untersuchung zum ‚Bild‘ und zur mentalen Repräsentation von Städten gilt Kevin Lynchs „The Image of the City“ (1960), das die nachfolgenden Forschungen zur Raumkognition maßgeblich beeinflusste (Lynch 1960/1975). Basierend auf der Auswertung von qualitativen Interviews und von den durch die Probanden angefertigten Karten des Untersuchungsgebiets arbeitete der Stadtplaner und Architekt Lynch fünf grundlegende Strukturelemente der mentalen Stadtbilder180 heraus: (bauliche) Merkzeichen (landmarks), Wege (paths), Plätze und 179 Zum Begriff der Atmosphäre vgl. Kap. 3.4.7. 180 In der Stadtforschung werden unter den Begriff des ‚Stadtbildes‘ neben der kognitiven Vorstellung von Städten (z.B. bei Lynch) auch der konkrete gebaute Stadtraum europäischer Altstädte (in diesem Sinn in dieser Arbeit z.B. in Kap. 1) sowie medial
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andere Knotenpunkte (nodes), abgegrenzte Bereiche (districts) und Grenzlinien (edges). Lynch ging von der Hypothese aus, dass eine größere Anzahl prägekräftiger Elemente eine gute Lesbarkeit (legibility) oder Vorstellbarkeit (imageability) der Stadt sicherstellen, welche die Orientierung erleichtert und eine Identifikation der Bewohner mit einer bestimmten Stadtstruktur ermöglicht. Diese gute Lesbarkeit und Vorstellbarkeit sah Lynch als maßgebliche Faktoren für die Qualität einer Stadt an (Lynch 1960/1975: 12ff, 60ff).181 Lynchs Untersuchung zum Stadtbild wurde auch in der Stadtsemiotik, z.B. von Ledrut und Gottdiener rezipiert.182 Lynch hatte Vorstellungen von drei US-amerikanischen Großstädten (Boston, Los Angeles, Jersey City) vor allem unter dem Aspekt des ‚Wo‘ untersucht 183, das heißt die Orientierung in der Gesamtstadt in den Mittelpunkt gestellt. Mit diesem Ansatz, der sich mit orientierungsbezogenen Umweltrepräsentationen beschäftigt, ist das Konzept der Kognitiven Karte (mental map) verknüpft. Schneider definiert eine kognitive Karte als mentale Repräsentation der Umwelt in ihrer räumlichen Dimensionen (Schneider 1996c: 268). Kognitive Karten werden im Prozess des Kognitiven Kartierens (mental mapping) erstellt, der die regelhafte Aufnahme, Enkodierung, Speicherung, Abrufung und Dekodierung (z.B. in der Form von Zeichnungen oder verbalen Beschreibungen) von raumbezogenen Informationen, wie räumlichen Relationen und Distanzen umfasst. Kognitive Karten liefern kein genaues ‚Abbild‘ der Umwelt, sondern sind durch Auswahl, Akzentuierung und Verzerrung gekennzeichnet. Als kognitive Karten werden neben den internen Repräsentationen auch ihre externalisierten Darstellungen, wie graphische Skizzen und Modelle oder sprachliche Beschreibungen, bezeichnet; zur Abgrenzung spricht man hier von externen kognitiven Karten (Schneider 1996c: 268f).184 vermittelte graphische Bilder von Städten gefasst. Parallelen und Differenzen zwischen diesen unterschiedlichen Bedeutungsausprägungen diskutiert Martina Löw (Löw 2008: 141ff). 181 Lynchs normatives Konzept der „lesbaren Stadt“ beeinflusste u.a. auch die Stadtplanungen des New Urbanism in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts (vgl. Ford 1999, Duany/Plater-Zyberk/Speck 2001). Zur Bewegung des New Urbanism siehe Kap. 1.7. 182 Vgl. Gottdiener/Lagopoulos 1986: 6, Ledrut 1973a: 27, weiterhin Barthes 1967/1988: 199. Kritisch angemerkt wird vor allem, dass Lynchs Forschung sich auf die denotative Ebene beschränke und konnotative Bedeutungen ignoriere. 183 Die Unterscheidung zwischen Whereness und Whatness stammt von den Geographen Roger M. Downs und David Stea (Downs/Stea 1977: 41ff, 54f). In ihrem Buch „Maps in Mind“ präzisieren und erweitern sie den Begriff der kognitiven Karte (Downs/Stea 1977). 184 Exemplarisch nennen Downs und Stea folgende Formen externalisierter und interner kognitiver Karten: „eine Faustskizze, die den Weg zu unserem Haus zeigt; eine Auf-
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Von diesem orientierungsbezogenen Ansatz kann man die Forschungen zu bedeutungsbezogenen Repräsentationen unterscheiden (Schneider 1996c: 263ff). Die Umwelt wird aus der Perspektive des ‚Was‘ thematisiert. Im Vordergrund steht die Beschäftigung mit Bedeutungen der Umwelt im weiteren Sinne, wobei der Bedeutungsbegriff sowohl gebrauchsfunktionale als auch affektiv-symbolische Aspekte umfasst. Die vorliegende Arbeit ist dem bedeutungsbezogenen Ansatz zuzurechnen, im Vordergrund steht die Untersuchung einer konkreten Straße als semiotischer Raum. Die Orientierung im (Stadt-)Raum wird auf Grund der Beschränkung auf die Untersuchung eines begrenzten linearen städtischen Teilraum nur peripher thematisiert. Allgemein muss berücksichtigt werden, dass es sich bei der Unterscheidung von orientierungsbezogener vs. bedeutungsbezogener Repräsentation um eine analytische Trennung handelt, die in der empirischen Forschung nicht stringent beibehalten werden kann. Auch oberflächlich rein räumlich erscheinende Relationen sind immer schon durch Bedeutungen ‚affiziert‘: Wege in einer interessanten Straße erscheinen kürzer als in einer eintönigen;185 negativ konnotierte Bereiche werden teilweise bei der Wegfindung durch die Stadt gemieden (‚No-go-Areas‘), die Wahl des Wohnorts wird oft weniger durch topologisch-praktische Tatbestände wie die Entfernung zur Arbeitsstelle determiniert als durch den Wunsch nach einer Nachbarschaft, deren Lebensstil dem eigenen entspricht (vgl. z.B. Häussermann/Siebel 2004: 158f). Andererseits bilden sich Umweltbedeutungen immer in räumlichen Kontexten. Reale topologische Anordnungen wie z.B. einen Stadtraum teilende Bahnstrecken können Bedeutungen beeinflussen: der Stadtraum wird nicht mehr als eine Bedeutungseinheit wahrgenommen, sondern es werden zwei unterschiedliche ‚Viertel‘ mit unterschiedlichen Merkmalen konstituiert.186 listung der innerstädtischen Gebiete, die man besser meidet, weil es dort gefährlich ist; ein Bild, das ein Kind von seinem Haus und Wohngebiet malt; die Vorstellung, die man hat, wenn man mit der U-Bahn die Stadt durchqueren will oder eine Reisebroschüre, welche jene Orte beschreibt, die einen Besuch lohnen“ (Downs/Stea 1977/1982: 24). Eine auf die Kartenmetapher der räumlichen Repräsentation verzichtende Unterscheidung zwischen räumlichem Kartenwissen, das durch das Studium von Landkarten, Grundrissen etc. erworben wird, und Straßenwissen, welches aus der direkten Raumerfahrung in der Bewegung resultiert, findet sich bei Engelkamp (Engelkamp 1990: 223ff). 185 Diese Intuition wird durch empirische Studien bestätigt, z.B. in Herman/Miller/Shiraki 1995. 186 Diese unvermeidliche Überlagerung von kognitiver räumlicher Strukturierung und Bedeutungszuweisung in den subjektiven Stadtbildern räumte auch Lynch in einer späteren kritischen Auseinandersetzung mit „The Image of the City“ ein: „Meaning
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Bedeutungsbezogenen Umweltrepräsentationen werden im angelsächsischen Raum überwiegend und teilweise auch in der deutschsprachigen Forschung als ‚Images‘ bezeichnet. 187 Pocock definiert ‚environmental images‘ als „learned and stable conceptions of environment […], mental models [ …], which can be thought as summarising individuals’ environmental knowledge, evaluations and preferences and as having implications for their behaviour“ (Pocock 1978: 3). Das Image ist das Resultat aus direkter sensorischer Interaktion mit der Umwelt, ihrer Interpretation unter Bezugnahme auf Einstellungen und Wertesystem des Beobachters und Anpassung an schon vorhandene Informationen im Gedächtnis. Gedächtnisinhalte, die aus indirekten Quellen wie z.B. medialen Beschreibungen stammen, können dabei einen gleichwertigen Einfluss auf das Image ausüben wie andere Elemente (Pocock 1978: 19). In der deutschsprachigen umweltpsychologischen und anthropogeographischen Literatur wird das englische ‚image‘ zumeist mit ‚Vorstellungsbild‘ übersetzt. Abweichend davon sollen hier bedeutungsbezogene mentale Umweltrepräsentationen technisch als Vorstellungen bezeichnet werden. Eine stadträumliche Vorstellung wird als ganzheitliche, komplexe, strukturierte mentale Repräsentation eines städtischen Teilraumes definiert. Die Verwendung des Terms ‚Vorstellung‘ unterstreicht, dass es sich nicht nur um bildhafte (analoge) mentale Repräsentationen handelt (s.o.), sondern dass auch propositionale Elemente wie Wertungen, emotionale Reaktionen und verknüpftes Weltwissen Bestandteile von Vorstellungen sind. Außerhalb des Kontexts von definitorischen Klärungen, Thesensetzungen etc. wird im Folgenden jedoch auch lockerer von ‚Vorstellungsbildern‘ oder kurz ‚Bildern‘ gesprochen. Angenommen wird, dass es sich bei Vorstellungen um komplexe Tokenkonzepte handelt, die als ‚Tokenscenes‘, d.h als raumzeitliche Anordnung einzelner Elemente organisiert sein können. Der Begriff des Images soll einer besonderen, konventionalisierten und medial verbreiteten Form der Vorstellung vorbehalten werden (s.u.). Die Beschäftigung mit Vorstellungen, also dem ‚Was-Aspekt‘ der Umweltrepräsentation, ist insgesamt theoretisch weniger entwickelt und empirisch weniger erschlossen als die Erforschung von orientierungsbezogenen Repräsentationen (Moore 1979, Schneider 1996c: 278). Weitgehende Übereinstimmung besteht jedoch bezüglich der konstitutiven Komponenten einer bedeutungsbezogenen always crept in, in every sketch and comment. People could not help connecting their surroundings with the rest of their lives“ und fährt fort: „But wherever possible, those meanings were brushed off the replies, because we thought that a study of meaning would be far more complicated than a study of mere identity.“ (Lynch 1984: 158) 187 Eine frühe Untersuchung zu bedeutungsbezogenen ‚urban imageries‘ ist Anselm Strauss’ „The Image of the American City“ (Strauss 1961).
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Repräsentation. Wie schon aus Pococks Definition des Image (s.o.) deutlich wird, unterscheidet man im Allgemeinen analytisch zwischen kognitiven, emotionalevaluativen und Verhaltenskomponenten (Schneider 1996c: 278ff, (Pocock 1978: 3).188 Der kognitive Aspekt der Vorstellungen umfasst die Beschreibung und Klassifikation der Objekte der Umwelt und die Konstitution einer relationalen Ordnung der Elemente.189 Damit schließt er auch orientierungsbezogene Elemente ein, die z.B. mit Hilfe der lynchschen Klassifikation der städtischen Elemente analysiert werden können. In externalisierten Vorstellungen städtischer Räume (z.B. in Interviews) werden einzelne Objekte genannt, ihre Eigenschaften beschrieben und ihre räumlichen Relationen untereinander dargestellt. Objektfunktionen können hier explizit beschrieben werden oder nur implizit aus dem Typ des genannten Objekts hervorgehen. Empirische Studien zeigen, dass Menschen sich zuallererst auf Grund einer wichtigen oder auffälligen Nutzung an Gebäude erinnern, dann auf Grund ihrer Sichtbarkeit im Stadtbild und erst an dritter Stelle auf Grund ihrer physischen Form oder architektonischen Eigenschaften (Umrisslinie, Größe, Form) (Appleyard 1969, Moore 1979: 37f). Eine besondere ästhetische Gestaltung allein, also ohne Verknüpfung mit einer auffälligen Funktion, scheint auf die Bildprägekraft von Gebäuden wenig Einfluss zu haben (Harrison 1972: 404, Sieverts 1966: 710, Weiss 1995: 106). Pocock (1978: 52) zitiert Smith: „Architectural evaluation is a minority sport.“190 Die Umwelt wird nicht als zufällige Anordnung von Objekten erfahren,
188 Diese Unterscheidung orientiert sich an der klassischen Dreigliederung der Allgemeinen Psychologie in die Untersuchungsfelder Kognition, Emotion und (Verhaltens-)Motivation (vgl. Nöth 1994: 6). 189 Pocock spricht nicht von kognitiven, sondern von designativen, d.h. bezeichnenden Aspekten (Pocock 1978: 30, 48ff). 190 P.F. Smith (1974): „Human rights in architecture“, in: The Planner, 953-5. Allerdings muss differenziert werden zwischen alltagsorientierten Vorstellungen der Stadtbewohner und den Vorstellungen der Touristen, die Orte oder Gebäude wegen ihrer architektonischen Qualität oder historischen Bedeutung aufsuchen. Eine andere Rangordnung der wichtigsten Vorstellungselemente würde sich wahrscheinlich auch für Städte mit einem herausragenden Stadtbild ergeben, wie z.B. Florenz, Rom oder auch New York. Berücksichtigt werden muss ferner das Ausmaß der medialen Darstellung der Stadt, die die Stadtvorstellungen entscheidend mitprägt. Weitere Determinanten sind Bildungshintergrund und Interesse der Interpreten. Ästhetische Gestaltungsaspekte haben für Kunst- und Architekturinteressierte einen höheren Stellenwert in der Wahrnehmung als für den ‚Durchschnittsbewohner‘, der eher funktionale Aspekte in den Vordergrund stellt (Krampen 1979: 242f, Weiss 1995: 106). Zur sozialen und bildungs-
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vielmehr werden räumliche, zeitliche oder kausale Verbindungen zwischen den Elementen und Ereignissen hergestellt (vgl. Kap. 2.2.4). „The complex set of interrelationships which characterizes any particular environment is gradually brought into order and harmony.” (Ittelson 1973: 17) Ein Beispiel dafür ist die Zusammenfassung von Raumausschnitten zu größeren Raumeinheiten. Die Umwelt wird von ihren Teilnehmern als offenes System konstruiert, das in seinen Grundstrukturen auch über ständige Veränderungen der einzelnen Elemente hinweg Stabilität bewahrt (vgl. Ittelson 1973: 17f). Umweltvorstellungen beschränken sich nicht auf geistige Listen oder räumlich organisierte Modelle von Objekten. Ergänzend zur kognitiven Komponente kann man von einer symbolische Komponente der Umweltvorstellungen ausgehen (s.a. oben zu Ittelsons Umweltbegriff): diese baut auf der kognitiven Objektklassifikation und -deskription auf, aber erschöpft sich nicht in ihr, sondern erschließt weitere abgeleitete Bedeutungen. Diese symbolische Schicht kann auf historische oder soziale Sachverhalte verweisen (dieses Haus steht für seine wilhelminische Entstehungszeit oder der Schnäppchenladen für eine bestimmte soziale Zusammensetzung der Anwohner einer Wohngegend). Ähnlich wie Jakob von Uexküll hat auch Ulric Neisser auf die Bedeutungswirkung der menschlichen Umwelt hingewiesen: „In der normalen Umgebung sind die meisten wahrnehmbaren Objekte und Ereignisse bedeutungsvoll. Sie bieten verschiedene Handlungsmöglichkeiten, enthalten Implikationen darüber, was geschehen ist oder geschehen wird, gehören in einen größeren, zusammenhängenden Kontext, haben eine Identität, die ihre einfachen physikalischen Eigenschaften überschreitet.“ (Neisser 1976/1979: 62)
Natürliche, vom Menschen nicht geformte Umwelten werden von ihren Teilnehmern gebrauchsfunktional genutzt: Pflanzen dienen als Nahrung, Wasser zum Trinken, Höhlen gewähren Schutz. In der von Menschen gestalteten Umwelt191 treten zu diesen funktionalen Bedeutungen immer auch soziale und historische Verweise hinzu. Diese Sozialität und Historizität der Mensch-Umwelt-Beziehung betont Graumann. Die Umwelt vermittelt soziale Werte und Bedeutungen, die in der Sozialisation erlernt und ständig angepasst werden (Graumann 1996: 100). Nasar bezogenen Determiniertheit der ästhetischen Kompetenz, d.h. des Verfügens über ausdifferenzierte ästhetische Kodes, s.a. Bourdieu 1970/1974: 169ff). 191 Bei dieser Gegenüberstellung wird von einem idealisierten Naturbegriff ausgegangen. De facto sind die meisten oberflächlich natürlichen Umwelten bereits in einer bestimmten Weise menschlichem Einfluss unterworfen und somit als sozial und historisch geprägt anzusehen.
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verweist auf die Ergebnisse mehrerer Studien, welche zeigen, dass Menschen den sozialen Status der Bewohner eines Viertels anhand von Zeichen der physischen Umwelt sowohl präzise als auch intersubjektiv in hohem Maße übereinstimmend beurteilen können. Wohnviertel der Oberschicht („upper-class“) und der Unterschicht („lower-class“) werden in der Wahrnehmung deutlich unterschieden und erstere präferiert (Nasar 1998: 76f). Historisch perspektiviert ist die Umwelt nach Graumann sowohl auf der Subjekt- als auch auf der Objektseite: die Erfahrungen und die Biographie des Subjekts sind untrennbar mit bestimmten Umwelten verknüpft, aber die Objekte der Umwelt werden auch zum Zeichen ihres Alters, ihres Gebrauchs und ihrer Geschichtlichkeit (Graumann 1996: 100). Manche Stadtbewohner besitzen ein umfangreiches Wissen über die Geschichte einzelner Straßen und Stadtviertel; Strauss nimmt an, dass diese die Straßen auf andere Weise wahrnehmen als jemand, der ihre Vergangenheit nicht kennt (Strauss 1961: 62). Neisser weist auf den grundsätzlichen Tatbestand hin, dass Bedeutungen uns oft bewusst werden, „ohne daß wir die physikalischen Details beachten, die sie uns deutlich machen“ (Neisser 1976/1979: 62), d.h., in der Wahrnehmung werden eine Vielzahl von Einzelstimuli quasi unbewusst kombiniert und aus der Zusammenschau eine Bedeutung erschlossen.192 Städtische Erfahrung im Speziellen umfasst laut Graumann: „a considerable range of phenomena and above all meanings: from the physical structures symbolizing history and culture, power and beauty, and last but not least, epochs and anecdotes of our own biography, through the social climate of belonging or non-belonging, of being an insider or staying outside, of being ‚somebody‘ or ‚nobody‘, of communal responsibility or indifference, down to the little pleasures and annoyances of everyday life: in commuting, shopping, childcare, petcare and leisure activities.“ (Graumann 2002: 109)
Oft verknüpft mit symbolischen Anteilen sind emotional-evaluative Aspekte der Vorstellungen wie Werturteile, Präferenzen, Einstellungen und Gefühle. Bewertungen wie ‚angenehm‘, ‚öde‘, vergleichende Urteile wie ‚ist lebendiger als …‘, Aussagen wie ‚hier gefällt es mir‘ sind hier einzuordnen. Emotional-evaluative Inhalte beziehen sich häufig auf Atmosphären und sind oft nicht eindeutig einzelnen Objekten zuzuordnen. Ästhetische Urteile sind ebenfalls dem emotional-evaluativen Vorstellungsaspekt zuzurechnen.193 Untersuchungen von Nasar in zwei US-ameri192 Vgl. auch Leibniz’ „petites perceptions“ als Vielzahl unterschwelliger Wahrnehmungen, die erst in ihrer ‚Zusammenschau‘ eine Wirkung und damit auch Bedeutung erhalten (Leibniz 1704/1996:102f). 193 Die emotional-wertenden Aspekte von Vorstellungen werden in manchen umweltpsychologischen Veröffentlichungen (z.B. Schneider 1996c: 283 und Nasar 1998: 6f)
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kanischen Mittelstädten zeigen, dass folgende Umweltmerkmale besonders positiv bewertet wurden (sie sind „likable features“): Natürlichkeit der Umgebung (Grün, Wasser etc.), gute Instandhaltung und Pflege, Offenheit (weiter Blick, Aussicht etc.), angenommene historische Bedeutung eines Ortes194 sowie, teilweise mit den anderen Merkmale verknüpft, Geordnetheit und Kohärenz (Nasar 1998: 62).195 In einer gemeinsamen physischen und kulturellen Umwelt stimmen die Bewertungen von Objekten intersubjektiv in vielen Bereichen überein, sie können jedoch auch sehr individuelle Züge tragen (Nasar 1998: 4). Der Verhaltensaspekt umfasst reale und potentielle Handlungsmöglichkeiten der Umwelt, wie Wegeverhalten und Nutzung bestimmter Räume. Verhaltensaspekte werden in dieser Arbeit im Rahmen der Analyse der kognitiv-funktionalen oder auch evaluativen Aspekte der Vorstellungen berücksichtigt und daher nicht gesondert thematisiert. Der Begriff des Images soll hier für eine spezifische Form von Vorstellungen verwendet werden. Während eine stadträumliche Vorstellung generell als mentale Repräsentation eines städtischen Teilraumes definiert ist und damit auch subjektive, auf direktem Erleben beruhende Elemente einschließt, bezeichnet städtisches Image im Folgenden eine kollektive, intersubjektiv ausgehandelte Vorstellung einer Stadt
als Konnotationen bezeichnet. Der semiotische Begriff der Konnotation, wie er auch in dieser Arbeit verwendet wird, ist weiter gefasst und schließt auch die symbolischen Bedeutungen ein (vgl. Kap. 2.2.3.2). 194 Nasar nimmt an, dass historische Orte positiv bewertet werden, weil historischer Inhalt die Vorstellbarkeit (Lesbarkeit) eines Gebäudes oder eines Viertels erhöht, d.h. eine Ordnung und Struktur erkennbar macht. Ferner können schematisch positive Bewertungen vergangener Epochen wie ‚die gute alte Zeit‘ auch auf historische Gebäude übertragen werden (Nasar 1998: 72). Diese positiven Konnotationen historischer Orte macht sich besonders das Stadtmarketing zunutze und verstärkt sie teilweise in gezielten Werbekampagnen. 195 Nasar merkt an, dass die bevorzugten Elemente auch die Verknüpfung mit einem wahrgenommen sozialen Status reflektieren können: gutbürgerliche Stadtviertel zeichnen sich vermehrt durch Bäume und Grünflächen, gepflegte Straßen und historische Bebauung aus. Ferner sollten solche Urteile immer auch in einem kontextuellen Rahmen betrachtet werden. Naturelemente werden wahrscheinlich dort als besonders angenehm empfunden, wo sie mit dichter Bebauung kontrastieren (während sie in den grünen Suburbs nicht markant sind), ein weites Panorama ist besonders in einer Umgebung attraktiv, die sonst wenig weite Blicke bietet (Nasar 1998: 76ff). Eine weitere Studie Nasars, die Umweltpräferenzen japanischer und US-amerikanischer Studenten vergleicht, weist auf eine eher geringe Kulturabhängigkeit der Urteile hin (Nasar 1984).
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oder eines Teilraums.196 Es handelt sich um ein stereotypisiertes Token-Konzept. Zum kollektiven und konventionalisierten Image des Berliner Stadtzentrums, wie es z.B. in Reiseführern vermittelt wird, gehören Elemente wie das Brandenburger Tor, der Reichstag, der Potsdamer Platz. Anzunehmen ist, dass diese Elemente auch in den meisten individuellen Vorstellungen zum Berliner Zentrum zu finden sind, insofern kann man das Image auch als Schnittmenge einer großen Zahl individueller Vorstellungen betrachten. Daraus folgt auch, dass Images prägnanter, aber weniger detailreich als subjektiv geprägte Vorstellungen sind. Becker und Keim sprechen von einer „Nivellierung der Vorstellungsbilder vieler zu einem ‚typischen‘“ (Becker/Keim 1978: 112). Images sind sekundär über Medien oder über die interpersonale Kommunikation vermittelt. Sie haben eine normative Komponente und wirken verstärkend und stabilisierend auf die individuellen Vorstellungen, negative Images der eigenen Lebensumwelt können aber auch Abwehr und antagonistische Reaktionen hervorrufen.197 Images werden im Rahmen des Stadtmarketing auch bewusst zur Werbung eingesetzt, variiert und zur Marke zugespitzt (Branding).198 Unterschieden werden soll daher zwischen dem Darstellungsimage, einem über Medien (Zeitung, Fernsehen etc.) und Literatur (z.B. in Reiseführern) vermittelten Bild der Stadt bzw. eines Teilraumes, das nicht eindeutig der Werbung dient, und dem Werbeimage, einem spezifisch zum Zweck der Werbung für einen Stadtraum bzw. für die in ihm angesiedelten Firmen, Institutionen etc. produzierten, positive Aspekte betonenden Leitbild (Typisierung angelehnt an Krüger/Pieper/Schäfer 1989: 12f).199 Die Produzenten von Darstellungsimages beschreiben ihren Gegen196 Rühl bezeichnet ‚Imageǥ als „multidisziplinären Omnibusbegriff“ (Rühl 1993: 55). Im Unterschied zur englischen Sprache, wo das semantische Spektrum des Begriffs ‚Image’ von ‚Bild’ und ‚Abbild’ bis zu ‚Vorstellungsbild’ oder ‚Vorstellung’ reicht, versteht man im deutschen Sprachraum unter Image meist eine kollektive Vorstellung, die mehr oder weniger durch Medien geleitet ist. Zur Begriffsverwendung von Image im deutschsprachigen Raum vgl. z.B. Stegmann 1997. Ich wähle den Begriff des städtischen Images, da ich davon ausgehe, dass die räumliche Organisation in diesem stereotypisierten Bildern nur eine untergeordnete Rolle spielt. 197 Der Konfrontation mit dem negativen Images des eigenen Wohnumfelds wird oft mit Entlastungsstrategien wie Ignorieren, Herunterspielen oder Kompensation durch Hervorhebung positiver Aspekte begegnet. In der Psychologie spricht man hier von kognitiver Dissonanz (vgl. z.B. Weiss 1995: 102). 198 Zur stetig wachsenden Industrie der Stadtimageproduktion vgl. z.B. Holcomb 2001. 199 Eine
terminologische
Grenze
zwischen
Vorstellung,
Darstellungsimage
und
Werbeimage kann nur unter Berücksichtigung des Kontexts gezogen werden. Eine kurze literarische Skizze eines Stadtraums im Rahmen eines Romans wäre wohl noch unter die Vorstellungen (des Autors) zu rechnen, derselbe Text in einem Reiseführer
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stand, die Produzenten von Werbeimages versuchen, das Verhalten der Rezipienten der Images zu verändern (vgl. Holcomb 2001: 34). Stadtvorstellungen bzw. Images lassen sich weiterhin nach der Beziehung des Interpreten zum repräsentierten Objekt typisieren. Repräsentationen von dem Interpreten vertrauten Räumen werden als Eigenbild bezeichnet, Repräsentationen von ihm wenig bekannten Räumen als Fremdbild bzw. Fremdimage (vgl. z. B Stegmann 1997: 20). Die meisten Menschen verfügen heute über eine Vielzahl von mehr oder weniger stereotypen Bildern von Orten, die sie nicht aus eigener Anschauung kennen, über die sie aber durch Fernsehen, Film, Presse oder Internet bildhaftes oder propositionales Wissen erworben haben.200 Die hier gewählten Terminologie macht bereits deutlich, dass in den Repräsentationen der den Bewohnern gut bekannten Viertel, Subviertel etc. der subjektive Anteil stärker gewichtet ist als in den Repräsentationen weniger vertrauter Räume, in der Elemente des intersubjektiven und medial vermittelten Image vorherrschen. 201 Einer direkten Analyse sind diese Umweltvorstellungen als mentale Ereignisse oder Strukturen nicht zugänglich.202 Sie können jedoch, wie bereits in der Einleitung dargestellt, sprachlich als mündliche oder schriftliche Texte externalisiert werden oder sich in nichtsprachlichen Handlungen zeigen und als solche Gegenstand der Untersuchung werden. Den Zugang zu mentalen Repräsentationen über die Sprache problematisieren u.a. Engelkamp und Pechmann: „Teile des subjektiven zitiert könnte bereits als Darstellungsimage gelten und seine Wiedergabe in einer Broschüre des Tourismusvereins würde dazu dienen, ein bestimmtes Werbeimage der Stadt aufzubauen. 200 Zur „imagineered city“ (hergeleitet aus ‚imagined‘ und ‚engineered‘) im Stadtmarketing vgl. Holcomb 2001: 37ff. 201 Gebhardt unterscheidet drei Maßstabsebenen räumlicher Bindung in der Gesamtstadt: das Subviertel, das Stadtviertel, die gesamte Stadt (Gebhardt/Reuber/Schweizer 1995: 29). Je höher die Maßstabsebene, desto mehr ist die Interpretation durch kollektive, meist medial vermittelte Fremdimages geprägt, je niedriger die die Maßstabsebene, desto stärker herrschen subjektive Vorstellungen vor (Stegmann 1997: 16). Löw fragt, ob in der durch steigenden Bildkonsum geprägten Gegenwart sich die Differenz zwischen dem Blick des Einheimischen auf seine Stadt und dem des Touristen nicht auflöst (Löw 2008: 169), dies ist zumindest für die Stadtzentren großer Städte wahrscheinlich zu bejahen. 202 Bestimmte mentale Zustände und Prozesse wie positive oder negative Emotionen können bereits durch bildgebende Verfahren der Gehirnaktivitäten sichtbar gemacht oder durch Messung anderer physiologischer Reaktionen verfolgt werden (Vaitl 2006: 18f). Spezifische Details mentaler Inhalte werden mit Hilfe dieser Methoden jedoch nicht zugänglich.
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Erlebens finden in Sprache ihren Ausdruck. Es erscheint deshalb angemessen, statt des subjektiven Erlebens sprachliche Ausdrücke oder Texte als ‚eingefrorenes‘ Abbild subjektiven Erlebens zu analysieren.“ Dieses Vorgehen ist auch insofern zu begründen, als die sprachliche Struktur in einem gewissen Ausmaß die Struktur unseres subjektiven Erlebens reflektiert (Engelkamp/Pechmann 1993: 9). Problematisch sei jedoch, dass der Zugang über Sprache nur bewusste Inhalte erfasse und Sprache ferner nur bestimmte Aspekte des Erlebens adäquat zum Ausdruck bringen könne (Engelkamp/Pechmann 1993: 14). Um der Problematik der Übersetzung von mentalen Repräsentationen in Sprache auszuweichen, unterscheidet diese Arbeit nicht zwischen der sprachlich beschriebenen oder graphisch dargestellten Vorstellung und einem ‚eigentlichen‘, vielleicht nicht artikulierten mentalen Vorstellungsbild. Wenn im Folgenden von Vorstellung im Sinne einer empirisch untersuchten Vorstellung gesprochen wird, ist immer die kommunikative Beschreibung der Vorstellung gemeint.203 In einer semiotischen Herangehensweise können die den sprachlichen Beschreibungen unterliegenden latenten Bedeutungsmuster als Konnotationen jedoch zumindest tentativ erschlossen werden. So betrachtet z.B. Raymond Ledrut die Rede über die Stadt als ein komplexes denotatives Zeichen. Dessen Signifikanten und Signifikate bilden selbst wieder die Ausdrucksebene eines konnotativen Zeichens, welches das latente, globale ‚Bild‘ der Stadt ausdrückt (Ledrut 1973a: 20, s.a. unten Kap. 2.4.2).
2.4 S TADT
UND Z EICHEN : T ENDENZEN DER STADTSEMIOTISCHEN F ORSCHUNG
„Der menschliche Raum im Allgemeinen […] ist immer signifikant gewesen“: so formuliert Roland Barthes die These, die jeder semiotischen Beschäftigung mit der menschlich beeinflussten Umwelt und damit auch mit der Stadt zugrunde liegt (Barthes 1967/1988: 199). Die semiotische Forschung, vor allem in ihrer europäischen, strukturalistischen Variante, hat sich seit den späten 60er Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Topos der Stadt auseinandergesetzt. Besonders in den 70er Jahren entstanden eine Vielzahl an Veröffentlichungen. Seit Mitte der 80er Jahre sind jedoch, trotz der Konjunktur des Stadtthemas in den medialen und wissenschaftlichen Diskursen, deutlich weniger originär semiotische Publikationen zur Stadt zu registrieren.
203 Siehe auch Stegmann (Stegmann 1997: 18). Vgl. auch Wittgenstein: „Das Vorstellungsbild ist das Bild, das beschrieben wird, wenn Einer seine Vorstellung beschreibt.“ (Wittgenstein 1953/1967: §367)
172 | DIE STRASSE, DIE DINGE UND DIE Z EICHEN
Einzelne Tendenzen zu unterscheiden und zu systematisieren erscheint im Feld der Stadtsemiotik problematischer als im Bereich der Architektursemiotik.204 Die Unübersichtlichkeit des stadtsemiotischen Forschungsfeldes ist zurückzuführen auf die Komplexität und fast unbegrenzte Multiperspektivität des Untersuchungsgegenstandes: Untersucht werden u.a. die Organisation des gebauten Raumes (Hammad 2006, Choay 1972/1976, Boudon 1981), Repräsentationen der Stadt in Literatur und Kunst (Hauser 1990, Stierle 1993), einzelne Monumente oder Gebäude im Stadtkontext (Krampen 1979, Wildgen 2003), das Vorstellungsbild einer Stadt im Vergleich zu anderen Städten (Ledrut 1973a, s.u.), Systeme von Verkehrszeichen und anderen urbanen kommunikativen Symbolen (Kiefer 1970, Krampen 1983).205 Methodisch werden semiotische Modelle von Hjelmslev (vgl. z.B. Eco 1972: 301ff), Greimas (vgl. Greimas 1966/1971, Boudon 1977/1986, Ledrut 1973a) oder Peirce (vgl. Bense 1968/1971, Kiefer 1970) herangezogen. Gemeinsam ist allen diesen Ansätzen, dass sie sich mit Strukturen und Bedeutungen von städtischen Phänomenen beschäftigen; von ‚der Stadtsemiotik‘ als Untersuchungsgebiet mit einheitlichem Gegenstand und spezifischen Methoden kann jedoch nicht gesprochen werden. Viele Arbeiten (z.B. Barthes 1967/1988, s.u. und Boudon 1977/ 1986) reflektieren eher die Möglichkeiten und Grenzen einer semiotischen Betrachtung der Stadt, als dass sie modell- und theoriebildend wirken und operationalisierbare Theorien entwickeln. Als Überblicksdarstellungen des stadtsemiotischen Feldes sind Krampen 1979 und Hauser 1996 zu nennen. Prinzipiell ist zu konstatieren, dass sich die Gegenstandsfelder der Stadtsemiotik, der Semiotik des Raumes und der Architektursemiotik überlagern. So beschäftigen sich raumsemiotische Arbeiten häufig mit urbanen Räumen (Greimas 1986, Wenz 1997), sich als stadtsemiotisch bezeichnende Publikationen untersuchen in der empirischen Analyse nur einzelne Gebäude bzw. Gebäudetypen (Krampen 1979: Part 2) oder die Stadtsemiotik wird als Spezialgebiet der Architektursemiotik aufgefasst (Nöth 2000: 447f, Dreyer 2003: 3237).206 Im Folgenden wird heuristisch zwischen zwei Hauptrichtungen der Stadtsemiotik unterschieden, die sich auch in den oben genannten Texten zum Teil wiederfinden. Zum einen handelt es sich um die Richtung, die den gebauten Raum der Stadt als System untersucht. Neben dieser Position sollen ferner die Auf204 Vgl. die Systematisierung der architektursemiotischen Modelle in Dreyer 2003 und Nöth 2000: 446f. 205 Randviir (2000: 48) identifiziert beispielweise allein sieben unterschiedliche Ansätze, die sich mit dem räumlichen Aspekt der Semiotik der Stadt beschäftigen. 206 Die Stadtsemiotik wird weder im Handbuch der Semiotik (Posner/Robering/Sebeok 1997, Posner/Robering/Sebeok 1998 und Posner/Robering/Sebeok 2003) noch bei Nöth 2000 als eigenständige Subdisziplin thematisiert.
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fassungen der Stadt als Text näher betrachtet und dabei schlaglichtartig einige Studien und Ansätze behandelt werden, denen diese Arbeit in einzelnen Aspekten Anregungen verdankt. Die Richtungen der stadtsemiotischen Forschung können nicht als antagonistische Ansätze, sondern nur als Abschnitte auf einem Spektrum ihrer Perspektiven auf die Stadt beschrieben werden (siehe Abb. 4): Als linker Pol (A) des Spektrums der Forschungsgegenstände fungieren die Einzelsysteme der Stadt, wobei das System des gebauten Raumes einen herausragenden Platz einnimmt, als rechter Pol (B) der Topos der Stadt als ganzheitliche, komplexe, zeichenhafte Umwelt. Tendenziell sind die dem Pol A näheren Ansätze eher objektbezogen, sie fragen nach der kontextunabhängigen Bedeutung städtischer Systeme. Dagegen sind die Pol B näheren eher subjektbezogen, sie beschäftigen sich mit den kontextabhängigen Interpretationen der Stadtbewohner, suchen jedoch auch nach intersubjektiven Mustern.207 Abbildung 4: Spektrum der stadtsemiotischen Topoi
2.4.1 Die Stadt als räumliches System Als früher Vorläufer jener Richtung der Stadtsemiotik, die den gebauten Raum als System untersucht, kann Claude Lévi-Strauss’ Analyse der räumlichen Strukturen eines Bororo-Dorfes in Zentralbrasilien gelten (Lévi-Strauss 1955/1982: 206ff). Im Bororo-Dorf wird der Kreis der Hütten durch eine imaginäre Ost-West-Achse geteilt, die die Bevölkerung in zwei matrilineare Gruppen trennt. Jede Hälfte ist weiter in vier Clans und diese wiederum in jeweils drei Ränge gegliedert. Heirat ist nur zwischen den zwei Gruppen, nicht innerhalb der eigenen Gruppe möglich, es darf nur eine Person des gleichen Rangs geheiratet werden. Das Zentrum des Dorfes bildet das Männerhaus, zu dem Frauen keinen Zutritt haben und in dem kultische Zeremonien stattfinden, das aber auch als alltäglicher sozialer Treffpunkt fungiert (Lévi-Strauss 1955/1982: 206ff). Lévi-Strauss beschreibt hier, wie sich räumliche
207 Zu den Begriffen ‚objekt-‘ und ‚subjektbezogen‘ vgl. Kap 2.1.2 und 2.2.2.
174 | DIE STRASSE, DIE DINGE UND DIE Z EICHEN
Organisation des Dorfes und soziale Ordnung gegenseitig spiegeln; diese Verbindung ist so machtvoll, dass die Veränderung der räumlichen Struktur durch christliche Missionare zu einem Niedergang der sozialen und religiösen Traditionen der Bororo führt (Lévi-Strauss 1955/1982: 210 ff). Die Auffassung der Stadt als räumliches System leitet sich her aus einer strukturalistisch orientierten Architektursemiotik, die Architektur als Sprache begreift (vgl. Dreyer 2003: 3247f). Sie ist auf der linken Seite des Spektrums der Topoi der Stadtsemiotik zu verorten. Die Stadt wird hier mit ihrem gebauten Raum gleichgesetzt: Städte werden als komplexe architektonische Gebilde aufgefasst und ihre baulichen Elemente als räumliche Signifikanten mit spezifischen, stabilen gebrauchsfunktionalen oder sozio-kulturellen Signifikaten konstituiert.208 Diese Elemente und ihre räumliche Anordnungen unterliegen klaren paradigmatischen und syntagmatischen Relationen. Oppositionen wie Zentrum – Peripherie, sakral – profan, öffentlich – privat werden bestimmt. Semiotikerinnen und Semiotiker, die sich mit der Symbolik des gebauten Raums der Stadt beschäftigen, wie z.B. Françoise Choay, erkennen jedoch an, dass eindeutige Interdependenzen von räumlichen Siedlungsstrukturen und sozialen Relationen oder kulturellen Bedeutungen für die Großstädte des 20. und 21. Jahrhunderts nicht mehr vorausgesetzt werden können. Während das Bororo-Dorf oder die antike und mittelalterliche Stadt noch reine Systeme darstellen, handelt es sich bei den dynamischen modernen Großstädten um gemischte Systeme (Choay 1972/1976: 44ff). In diesen verliert der gebaute Raum an symbolischer Kraft und es muss auf flexiblere Ergänzungssysteme wie graphische und schriftliche Zeichen zurückgegriffen werden, um die Lesbarkeit der Stadt zu erhalten.209 Choay konstatiert eine Hyposignifikanz der modernen Siedlungen, will dies jedoch nicht als Werturteil auffassen (Choay 1972/1976: 49).210 208 Analyseobjekt sind also nur die fixierten Elemente der Stadt, vgl. Rapoports Unterscheidung zwischen fixierten, semifixierten und nicht fixierten Elementen (Rapoport 1990b: 88ff), siehe Kap. 3.4.1. 209 Reine Systeme im Sinne Choays werden allein durch fixierte Elemente konstituiert, bei den gemischten Systemen treten semifixierte Elemente hinzu. 210 Die Diskussion um die Hyposignifikanz der modernen Stadt zeigt anschaulich, wie notwendig eine explizite Bestimmung des jeweiligen Untersuchungsgegenstands, d.h. des spezifischen analysierten urbanen Systems ist. So findet sich bei Bense ein zu Choay analoges Argument, jedoch unter Umkehrung des Bezugssystems. Da Bense nur die schriftlichen und graphischen, kommunikativen Zeichen der Stadt als semiotisch betrachtet (und nicht den gebauten Raum, wie ihn Choay analysiert), erkennt er im Gegensatz zu Choay eine „zunehmende Semiotisierung unserer äußeren Welt“ (Bense 1968/1971: 100). Als Vertreter einer holistischen Sicht auf die Stadt, für den der ge-
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Die Raumstrukturen der Stadt sind auch Gegenstand der von Bill Hillier in den 80er Jahren entwickelten Theorie der Space Syntax (Hillier/Hanson/Peponis 1983/1984, Hillier 1996). Diese hoch formalisierte Methode zur syntaktischen Analyse der gebauten Umwelt geht davon aus, dass die Art der räumlichen Konfigurationen (der Innenräume von Gebäuden oder der Außenräume der Stadt) die Nutzungsintensität, Aneignungsmöglichkeiten und Interaktion in diesen Räumen entscheidend beeinflussen. Grundannahme ist, dass basale Strukturen von Raum identifiziert werden können, die mit beobachtbaren Verhaltensmustern verbunden sind, welche wiederum soziale Funktionen schaffen (Peponis/Wineman 2002: 272). Grundlegende syntaktische Maßeinheit ist die Tiefe (depth) eines Raumes: Räume, die von vielen anderen Räumen mit nur wenigen „syntaktischen“ Schritten und wenigen Richtungswechseln erreicht werden, verfügen über eine geringe Tiefe. Je geringer die mittlere Tiefe eines Raumes ist, desto stärker integriert ist er. Integration ist die zweite wichtige Maßeinheit, sie macht Aussagen über die syntaktische Zugänglichkeit oder Zentralität eines Raumes.211 Abschließend sei noch auf eine radikal reduzierte Sicht der Stadt als System verwiesen, die in der Stadtsemiotik jedoch in dieser rigiden Form nicht zur Anwendung kommt. Sie findet sich in Saussures Analogie zwischen Stadt und Sprache bzw. zwischen Straße und Wörtern: „Der Sprachmechanismus beruht völlig auf Identitäten und Differenzen […] Wenn eine Straße abgerissen, dann wieder aufgebaut wird, dann sagen wir, daß es dieselbe Straße ist, obwohl materiell vielleicht nichts mehr von der früheren Straße überdauert. Warum kann man eine Straße von Grund auf neu aufbauen, ohne daß sie aufhörte, dieselbe zu sein? Weil die Größe, die sie darstellt, nicht rein materiell ist; sie ist auf bestimmte Bedingungen gegründet,
baute Raum nur eines der vielfältigen signifikanten urbanen Systeme darstellt (s.u.), verwirft Ledrut zwangsläufig Choays Begriffe einer Desemantisierung oder Hyposignifikanz der modernen Stadt. Städte unterscheiden sich für ihn nicht im Grad, sondern in der Art und Weise ihrer Signifikanz, nämlich darin welche semiotischen Systeme sie nutzen (Ledrut 1973b: 8). 211 Diese sich nicht explizit als semiotisch verstehende und in der Semiotik auch wenig rezipierte Theorie (keine Erwähnung im Handbuch der Semiotik, Posner/Robering/Sebeok 1997, Posner/Robering/Sebeok 1998 und Posner/Robering/Sebeok 2003 oder in Nöth 2000) wird hier erwähnt, weil sie ein differenziertes Instrumentarium zur Untersuchung von Zentralität bzw. Randlage von städtischen Räumen bietet, das auch für eine Analyse der räumlichen Zugänglichkeit des Bereichs Potsdamer Straße sinnvoll einsetzbar wäre. Ein Zusammenhang zwischen der ‚Insel‘-Lage der Potsdamer Straße und sozialen und ökonomischen Problemen im Gebiet wird auch in den Interviews thematisiert (siehe Kap. 4.3.3.5).
176 | DIE STRASSE, DIE DINGE UND DIE Z EICHEN denen ihre zufällige Materie fremd ist, z.B. auf ihre Lage in bezug auf andere; [...] Jedesmal wenn dieselben Bedingungen vorhanden sind, erhält man dieselben Größen. Und doch sind diese Größen nicht abstrakt, da eine Straße […] nicht außerhalb der materiellen Realisierung gedacht werden [kann].“ (Saussure 1916/1967: 129) 212
Nicht die materielle Gegebenheit als Token, ihre architektonische Form und ihre Nutzung konstituieren hier die Identität der Straße, sondern allein ihr differentieller Wert in einem abstrakten topologischen System der Stadt. Auch die Stadt wird so auf den Stadtplan oder die Vogelflugperspektive reduziert. 213 2.4.2 Die Stadt als Text Auf die Begrenztheit eines Modells, das das komplexe Phänomen Stadt nur auf ein einziges Bedeutungssystem reduziert und nicht den sich überlagernden und ständig wandelnden Bedeutungen und den subjektiven Interpretationen der Stadtbewohner Rechnung trägt, hat Roland Barthes reagiert, indem er in seinem Aufsatz „Sémiologie et urbanisme“ vorschlägt, die Stadt als „écriture“, „discours“ oder als „texte“214 zu betrachten (Barthes 1967/1994). Barthes legt dabei einen konstruktivistisch orientierten, erweiterten Textbegriff zugrunde, der nicht nur sprachliche Äußerungen, sondern jegliche interpretierbare Phänomene der Stadt umfasst und nicht nur metaphorisch verstanden werden will.215 212 Vgl. auch Trabant 1976. Ein Beispiel für die elementare identitätskonstituierende Rolle grundlegender räumlicher Strukturen findet sich in den von Lévi-Strauss untersuchten Bororo-Dörfern, die nach ca. 30 Jahren, wenn der Boden um sie herum erschöpft ist, abgetragen und nach dem gleichen Plan an anderer Stelle wieder neu aufgebaut werden: „Was das Dorf ausmacht, ist also weder seine Erde noch seine Hütten, sondern eine bestimmte Struktur, […] die jedes Dorf reproduziert.“ (Lévi-Strauss 1955/1982: 224f) 213 Zur Straße als Element des Systems Stadt s.u. Kap. 3.3. 214 Barthes benutzt ferner den Begriff der „langage“ (langage sonst bei Barthes als Oberbegriff der menschlichen Sprache, langue und parole umfassend, siehe z.B.Barthes 1964/1983: 28, hier aber offensichtlich weiter gefasst). Die Metapher der Lesbarkeit der Stadt findet sich bereits in Victor Hugos „Notre Dame de Paris“, sie wird später u.a. durch Franz Hessel, der das Flanieren als „Lektüre der Straße“ beschreibt (Hessel 1929/1984: 145) und von Walter Benjamin im Passagenwerk (Benjamin 1991) aufgegriffen. Zur „Lesbarkeit der Stadt“ am Beispiel Paris’ vergleiche auch Stierle 1993. 215 Barthes’ Begriff des Textes ist weiter gefasst als der semiotische Textbegriff. Die Kultursemiotik definiert einen Text als komplex aufgebaute, konkrete, kommunikative, semantisch kohärente, begrenzte und kodierte Zeichenmanifestation, die sprachlich oder nichtsprachlich konstituiert sein kann (Lotman 1972: 83ff, Johansen 1989, vgl. auch
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„Die Stadt ist eine Schrift; jemand der sich in der Stadt bewegt, das heißt der Benutzer der Städte (was wir alle sind) ist eine Art Leser, der je nach seinen Verpflichtungen und seinen Fortbewegungen Fragmente der Äußerung entnimmt und sie insgeheim aktualisiert.“ (Barthes 1967/1988: 206).
Die Stadt zeigt sich uns nicht als Kode mit stabilen Relationen zwischen Signifikanten und Signifikaten, sie ist weniger langue als parole. Ihre Signifikation sollte daher primär auf der Ebene der paradigmatischen und syntagmatischen und damit kontextuellen Relationen ihrer Ausdruckselemente, ihrer Signifikanten untersucht werden (Barthes 1967/1988: 204): „Der Satz des Diskurses gibt zumindest am Anfang das beste Modell für die semantische Untersuchung der Stadt an.“ (Barthes 1967/1988: 206). Die Signifikate der Stadt sind kaum definitiv bestimmbar, sie bilden den Ausgangspunkt weiterer potentiell endloser konnotativer Semiosen. Gesammelt werden sollen nicht eine Vielzahl von funktionellen Einzelanalysen, sondern die mannigfaltigen Lektüren der Stadt, in denen sich die unterschiedlichen Interessen und Einstellungen ihrer Leser, der Stadtbewohner, manifestieren (Barthes 1967/1988: 208). Barthes plädiert hier deutlich für eine Einbeziehung pragmatischer Aspekte in die semiotische Beschäftigung mit der Stadt.216 Barthes‘ Empfehlungen zum methodischen Vorgehen bei der semiotischen Untersuchung der Stadt bilden auch den Ausgangspunkt für die Modellierung der städtischen Interpretationsprozesse in dieser Arbeit (siehe Einleitung und Kap. 3). Posner 2003: 51f). Für Barthes sind Texte jedoch keine statischen, stabilen Einheiten; dies zeigt sich auch in der Nutzung der Prozesshaftigkeit und Fluidität konnotierenden Begriffe der „écriture“ und des „discours“ (der Begriff „texte“ kommt in Barthes’ Aufsatz nur einmal vor). Texte werden in der Interpretation vom Leser mitproduziert, der sein jeweiliges Wissen, seine Bedürfnisse und seine Einstellungen an sie heranträgt (vgl. auch Barthes 1974/1988: 11 zum Text als „signifikante Praxis“, „Arbeit“ und „Spiel“). In diesem Sinne ist die Stadt nicht „objektives“ Artefakt und kohärenter Text, sondern die urbanen Texte konstituieren sich nur in den Interpretationen der Stadtbewohner. 216 In Ecos Kritik an Barthes‘ These des freien Spiels der Zeichen und ständigen Verschiebung der Signifikate zeigt sich deutlich die grundlegende Differenz der Perspektiven der Stadt als System und der Stadt als Text (Eco 1972b: 323). Eco argumentiert hier aus der Sicht der Stadt als System des intentional gebauten Raumes, in dem sich die Ideologien der Erbauer manifestieren. Diese Analyseperspektive kann sicher in Bezug auf Planstädte wie Brasilia sinnvoll eingesetzt werden, historisch gewachsene Städte mit ihrer plurikodalen Zeichenwelt können auf diese Weise jedoch kaum angemessen semiotisch beschrieben werden.
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An Barthes’ programmatische Schrift knüpfen zwei spätere stadtsemiotische Ansätze an, Raymond Ledruts „sémiologie anthropologique“ (Ledrut 1973b: 7)217 und Mark Gottdieners Social Semiotics (siehe Gottdiener 1986b u.a.). Wie Barthes betrachten auch Ledrut und Gottdiener die Stadt als polysemes, komplexes Gewebe unterschiedlicher Systeme, ihr Ansatz ist auf der rechten Seite des stadtsemiotischen thematischen Spektrums einzuordnen (siehe Abb. 4). Ledruts „Les images de la ville“ (Ledrut 1973a) ist eine der wenigen umfassenden empirischen Studien der stadtsemiotischen Forschung. Ledrut untersucht anhand von Interviews die Vorstellungen der Einwohner von Toulouse und Pau von ihrer jeweiligen Stadt. Bei diesen „images“ handelt es sich für ihn nicht um denotative Signifikate der materiellen Stadt [Toulouse] oder [Pau] oder des sprachlichen Ausdrucks /Toulouse/ oder /Pau/, sondern um den konnotativen Symbolkomplex, der erst auf einer zweiten Ebene aus der Relation Ausdruck (Stadt) und Inhalt (Bedeutungen der Stadt) entsteht. Das image findet sich meist nicht in expliziter Weise in den Diskursen über die Stadt, sondern ist als implizite, latente Struktur dieser Diskurse aufzufassen (Ledrut 1973a: 17f).218 Ledruts Modellierung der Werteordnungen der Stadt steht in der Tradition von Greimas’ „Sémantique structurale“ Greimas 1966/1971. Er unterscheidet die vier, jeweils in zwei oppositionellen Werten darstellbaren Dimensionen des Ethischen (Freiheit vs. Zwang), des Ästhetischen (schön vs. hässlich), des Existentiellen (Wohlgefühl vs. Unbehagen) und des Funktionalen (praktisch vs. unpraktisch). Aus der Analyse der beiden empirischen Studien destilliert er zwei Modelle der Stadtkonzeption: das konkrete Modell, das die Ordnungen des Ethischen und des Existentiellen in den Mittelpunkt stellt (er spricht von hedonistischer Struktur des Diskurses) und das vor allem im Milieu der Angestellten nachzuweisen ist sowie das abstrakte Modell, dessen Diskurse funktionalistisch ausgerichtet sind und das besonders von den Arbeitern vertreten wird (Ledrut 1973a: 367f). Der von Mark Gottdiener und Alexander Lagopoulos in den 80er Jahren entwickelte Ansatz der Soziosemiotik der Stadt benennt sowohl Ledrut als auch Barthes als wichtigen Einfluss (Gottdiener 1986b: 219). Anliegen der Soziosemiotik ist es, nicht nur Prozesse innerhalb des semiotischen Universums zu erforschen, sondern die materiellen, sozialen Mechanismen, die auf die semiotischen Prozesse 217 Die Beschreibung der Stadt als Text wird von Ledrut allerdings modifiziert: Es kann sich bei der Stadt nur um einen „Pseudo-Text“ handeln, da sie in ihrer Gesamtheit nicht Produkt einer kommunikativen Intention ist. Ebenso ist sie nicht Sprecher, sondern nur „Pseudo-Sprecher“ oder Sprachrohr ("porte-parole") der Gesellschaft, die sie baut und bewohnt (Ledrut 1973b: 6). 218 Ledrut spricht auch von „mythe“ und tatsächlich steht der Begriff des images als konnotatives System dem Mythosbegriff Barthes’ nahe (Barthes 1957/1964: 85ff).
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einwirken, in die Analyse einzubeziehen. In der Beschäftigung mit der Stadt versucht die Soziosemiotik mithin, den als zu beschränkt empfundenen Ansatz der Stadt als abstraktes System zu erweitern, indem sie die semiotischen Systeme der Stadt aus den sie generierenden sozialen Praxen heraus erklärt. Angenommen wird, dass die denotativen Kodes der Stadt sich aus den konnotativen Kodes (den Wertesystemen oder Ideologien) der jeweiligen übergeordneten Kultur und Gesellschaft ergeben, das System der Konnotationen folglich den Denotationen, den Gebrauchsfunktionen vorgängig ist (Gottdiener/Lagopoulos 1986: 5). Soziosemiotische Analysen219 arbeiten mit dem Hjelmslevschen Zeichenmodell (siehe Kap. 2.1.1); als Ausdruckssubstanz werden die materiellen räumlichen Objekte aufgefasst, die die Grundlage für die Konstitution der Ausdrucksformen, der morphologischen Elemente werden. Inhaltssubstanz bildet die nicht-kodierte Signifikation innerhalb des weiteren kulturellen Rahmens, Inhaltsform die kodifizierte, im Raum manifestierte Ideologie (Gottdiener/Lagopoulos 1986: 16ff). Diesseits der Unterscheidung zwischen der Stadt als räumlichem System und der Stadt als Text ist Krampens Konzeption der Stadt als Ansammlung von Objekten, die Bedeutung erlangen können, zu verorten. „The urban environment may be considered simply a collection of objects or tools.” (Krampen 1979: 6) Auch für Raymond Ledrut (Ledrut 1973/1986: 115) werden die urbanen Signifikanten durch die Dinge der Stadt konstituiert. Die Konzeption der Stadt als Objektkomplex liegt auch dieser Arbeit zugrunde. In der interpretationsorientierten Version, wie sie hier vertreten wird, kann sie dem Ansatz der Stadt als Text zugerechnet werden: die Stadt bzw. die Straße werden nicht als objektiv beschreibbare Phänomene, sondern als von den Interpreten in ihren Vorstellungen konstituierte und mit Bedeutung versehene komplexe Objekte aufgefasst (siehe Einleitung und Kap. 3); Stadt und Straße sind semiotische Räume.
219 Ein Beispiel der Leistungsfähigkeit des an Hjelmslev orientierten soziosemiotischen Modells ist Gottdieners Analyse einer Shopping Mall (Gottdiener 1986a).
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Die Straße, die Dinge und die Zeichen: zur Semiotik der Großstadtstraße
Kapitel 2 hat sich mit der Frage beschäftigt, wie die Dinge als einzelne Objekte und als in Umwelten eingebundene Elemente semiotisiert werden, wie sie zu ‚bedeutenden Dingen’ werden,. Umwelt wurde dabei in einem allgemeinen Sinne oder, vor allem in Kapitel 2.4, auf urbane Umwelten eingeschränkt verstanden. Dieses Kapitel wendet sich nun dem komplexen Objekt Großstadtstraße zu. Es stellt eine Verknüpfung zwischen den in Kapitel 2 dargestellten objektsemiotischen Modellen und wahrnehmungstheoretischen Grundlagen her und erarbeitet ein Analysemodell der Vorstellung einer konkreten Großstadtstraße. Dabei wird zuerst die Großstadtstraße als als Objekttyp betrachtet und der Begriff der Straße, der Stadtstraße und der Großstadtstraße kurz in seinen semantischen und etymologischen Aspekten dargestellt. Merkmale, die Stadtstraßen als spezifischen Typen zukommen, werden identifiziert. Die kognitive Vorstellung einer Stadtstraße als Typ oder Token wird semiotisch interpretiert, Perspektivierungsebenen beschrieben und eine Typologie der Objekt-Zeichen der Straße erstellt. Als zwei spezifische Signifikationsweisen von städtischen Objekten werden Exemplifikation und Ortsindexikalität benannt. Relevanzformen werden unterschieden und eine Relation zwischen der Ortsindexikalität von Objekten und Relevanzsetzungen postuliert. Ferner wird die Straße als ein syntagmatisch geordneter Raum bestimmt. Unter Berücksichtigung dieser Ergebnisse wird abschließend ein Modell der komplexen Vorstellung vorgeschlagen, das auch metonymische Verschränkungen zwischen einzelnen Perspektivierungsebenen berücksichtigt.
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3.1 S TRASSE , S TADTSTRASSE , G ROSSSTADTSTRASSE : B EGRIFFE , T YPEN UND M ERKMALE 3.1.1 Zum Lexem /Straße/ /Straße/ ist in der deutschen Sprache ein polysemes Lexem. In seiner allgemeinen Bedeutung bezeichnet es einen befestigten linearen Verkehrsweg. Soll der Ort des Verlaufs kenntlich gemacht werden, werden die sekundären, abgeleiteten Lexeme1 /Landstraße/ (über Land führend) und /Stadtstraße/ (Fahrweg mit angrenzendem Bürgersteig in der Stadt) genutzt. /Straße/ (in der Stadt) kann allein die Fahrbahn denotieren (‚die Straße hat viele Schlaglöcher‘), aber auch den gesamten linearen Raum zwischen den Häuserreihen einschließlich der Fassaden bezeichnen (‚dies ist eine schöne Straße‘, ‚in meiner Straße stehen viele Bäume‘).2 Im Unterschied zum Deutschen existieren in den meisten anderen europäischen Sprachen zwei eigenständige primäre Lexeme für die Inhalte und . Das Englische differenziert zwischen /road/ und /street/, das Französische zwischen /route/ und /rue/, das Spanische zwischen /calle/ und /carretera/ bzw. /camino/ etc.3 Mit Hjelmslev gesprochen (vgl. Kap. 2.1.1), wird in diesen Sprachen die Materie der unterschiedlichen Straßenformen je nach Ort ihres Verlaufs mit Hilfe von zwei Inhalts- und Ausdrucksformen in zwei Hauptinhaltssubstanzen vs. gegliedert, denen jeweils ein eigenes, morphologisch eigenständiges Lexem als Ausdruckssubstanz zugeordnet ist. Dagegen existiert im Deutschen nur eine Ausdrucksform (/Straße/), also auch nur eine (wieder morphologisch eigenständige) Ausdruckssubstanz. Dennoch kann wahrscheinlich davon ausgegangen werden, dass trotz einer gemeinsamen Ausdrucksform /Straße/ auch bei deutschen Sprechern die beiden unterschiedliche Inhaltsformen ( und ) mit teilweise übereinstimmenden Merkmalen existieren, die abhängig vom pragmatischen Kontext aktualisiert werden.4 Etymologisch ist /Straße/ ebenso wie z.B. englisch /street/ und italienisch /strada/ vom Spätlateinischen strata (via) abgeleitet (von lat. sternere = pflastern). Betont wird hier die Art der Straßenoberfläche, die sich von der Umgebung abhebt, ihre äußere Form. Französisch /route/ (von lateinisch /via rupta/, der durch den Wald etc. geschlagene Weg) und /rue/ (von lateinisch /ruga/: Runzel, Falte) verweisen ebenso auf die Konstruktion bzw. Form der Straße. Dagegen hat sich das englische /road/ wahrscheinlich aus dem angelsächsischen /ride/ entwickelt,5 das heißt die Funktion der Fortbewegung zwischen zwei Orten steht im Mittelpunkt (vgl. analog lateinisch und italienisch via aus lateinisch ire, französisch chemin und italienisch cammino aus lateinisch camminare, siehe Rykwert 1978: 15f, Speck 1950: 1).6 Die Vielfalt der Straßenformen und ihre Entstehungsgeschichte spiegelt sich in dem ausgedehnten lexikalischen Feld der Grundwörter in Straßennamen: Im Deutschen sind dies neben /Straße/ und /Gasse/ z.B. /Allee/, /Weg/, /Damm/, /Boulevard/, /Promenade/, /Ring/, /Graben/, /Wall/, /Ufer/, /Stiege/, /Steig/ und /Pfad/. Einen besonderen lexikalischen Reichtum weist das Italienische auf: von /vicolo/ und /scaletta/ über /vico/ und /via/ bis zum /corso/, vielleicht zurückzuführen auf die Mannigfaltigkeit der Straßenformen und -größen und die topo-
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Jüngste Ergebnisse in der Erforschung der Farbwahrnehmung und -differenzierung bei Sprechern unterschiedlicher Sprachen weisen darauf hin, dass sowohl universelle Prinzipien als auch sprach- oder kulturspezifische Faktoren die kognitive Gliederung des Farbenspektrums bestimmen (Regier/Kay 2009). Verallgemeinert man diese Ergebnisse, kann man folgern, dass sprachliche Kategorien einen gewissen Einfluss auf kognitive Differenzierungen haben können, jedoch keine Eins-zu-eins-Abbildungsrelation vorliegt. Hjelmslevs klassisches Beispiel der Gliederung des semantischen Feldes zwischen /Baum/, /Wald/ und /Holz/ und ihrer Entsprechungen in mehreren europäischen Sprachen (Hjelmslev 1943/1974: 55f) gibt in dieser Perspektive keinen eindeutigen Aufschluss über die kognitiven Gliederung der einzelnen Begriffe. So handelt es sich bei dem englischen /wood/ oder dem französischen /bois/ jeweils um polyseme Lexeme, die kontextabhängig unterschiedlichen Inhalten ( oder ) zugeordnet werden. Vgl. auch Westermayer 1997: 12f zu den von /Straße/ aufgerufenen Konzepten.
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Anders bei Speck 1950: 1, der ‚road’ von ‚raid’ (= roden) herleitet.
6
/Chaussée/ (franz., deutsch), /calle/ oder /calzada/ (span.) leiten sich aus dem lateinischen /via calceata/ bzw. / ... caucida/ her, dem mit Mörtel gebundenen oder aus Kalkstein gebautem Weg.
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graphischen Eigenheiten der italienischen Städte (Rudofsky 1969/1995: 150).7 Zum semantischen Feld gehören neben diesen forminduzierten Begriffen auch Nutzungspräzisierungen wie Geschäfts- oder Wohnstraße, Autobahn, Fußgängerzone, Spielstraße sowie Hierarchiebezeichnungen (Hauptstraße, Nebenstraße) und Bezeichnungen, die Hinweise auf Verkehrseinschränkungen (Sackgasse, Einbahnstraße) und Einschränkungen der öffentlichen Nutzung geben (Privatstraße).8 3.1.2 Die Stadtstraße als Typkonzept und kulturelle Einheit Die Wörterbuch- und Lexikondefinitionen von /Straße/ sowie die Straßenbezeichnungen in verschiedenen Sprachen und ihre etymologischen Wurzeln lassen zwei grundlegende Parameter der Beschreibung von Straßenmerkmalen erkennen: die äußere Form bzw. die Art der Herstellung einerseits und die Gebrauchsfunktion andererseits. Im Folgenden soll nur das Konzept (die Inhaltseinheit) näher betrachtet werden, der Begriff der Landstraße wird bewusst ausgenommen. Das Lexem /Stadtstraße/ als Ausdruck aktualisiert beim Interpreten die Inhaltseinheit . ist ein Typkonzept (zum Konzeptbegriff siehe Kap. 2.3.2), in ihm sind Merkmale verankert, die es den Interpreten erlauben, einen bestimmten Stadtraum als zu kategorisieren. Viele dieser Merkmale
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Eine ähnliche Vielfalt konstatiert Georges Perec (Perec 1989/1991: 68) für die englischen Straßenbezeichnungen im Vergleich zu den französischen. Hier mögen auch subjektive Eindrücke eine Rolle spielen, allerdings verzeichnet z.B. der Londoner Straßenatlas und index „A-Z“ (12. ed.) in seiner Abkürzungsübersicht die stattliche Anzahl von 34 Grundwörtern für Straßen und Plätze. Um eine Straße auf dem Stadtplan zu finden, benötigt man also nicht nur ihr Bestimmungswort, sondern immer auch das Grundwort. So tragen 43 Straßen das Bestimmungswort ‚Warwick‘ in ihrem Namen und werden durch 14 Grundwörter von ‚Avenue‘ über ‚Lane‘ bis ‚Row‘ differenziert, ‚Warwick Road‘ kommt am häufigsten vor. Generell kann man vermuten, dass Städte mit umfangreicher historischer Bausubstanz eine größere Vielfalt von Straßenbezeichnungen aufweisen und diese auch teilweise (Beispiel England) bei der Benennung neu angelegter Straßen weiter nutzen. Einen Überblick über Straßenformen und -benennungen gibt auch das umfassende frühe, erstmalig 1890 erschienene Handbuch zum Städtebau von Stübben (Stübben 1890/1980: 61ff).
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Einen Wortschatz der Straße, der straßenbezogene Aktivitäten, Redensarten und verwandte Begriffe enthält, hat z.B. Manfred Sack zusammengetragen (Sack 1982: 82f).
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sind kulturell kodiert, Umberto Eco würde ohne Zweifel als kulturelle Einheit beschreiben (s.o. Kap. 2.2.2). Als Typkonzept bildet die Basis der Objektkategorisierung und -interpretation von empirischen Straßen. Die den Typ beschreibenden Merkmale (vgl. 2.2.4.3.) werden in der individuellen Erfahrung von Straßen oder sekundär über Medien konstituiert und sind z.B. in Wörterbuch- oder Lexikoneinträgen schriftlich fixiert.9 Im Typ verankert sind Gestaltmerkmale und Funktionsmerkmale wie die Standardfunktion der Verkehrsleitung, weiterhin Verbindungen zu Subtypen wie , etc. Einige dieser Merkmale in ihrer historischen Entwicklung wurden bereits in Kapitel 1 aufgezeigt, grundlegende Bestimmungsmerkmale der Gestalt (des Ausdrucks) von Stadtstraßen und der Funktionen und Bedeutungen (des Inhalts von Stadtstraßen) werden in Kapitel 3.1.3 ausführlicher dargestellt. Ein Katalog der kaum überschaubaren vielfältigen Gestaltsund Funktionsmerkmale von Stadtstraßen kann in diesem Rahmen nicht erstellt werden.10 Geschäftsstraßen in Großstädten zeichnen sich im Vergleich zu jenen in kleineren Städten überwiegend durch einen größeren Straßendurchmesser, höhere Randbebauung, durch höheres Verkehrsaufkommen und erhöhte soziale Differenzierung der Nutzer aus. Im Zeitalter der medialen Globalisierung verfügt wahrscheinlich die Mehrzahl der Menschen weltweit über ein Konzept einer Stadtstraße. Die Straßen von Manhattan und Los Angeles gehören zur Standardszenerie der Hollywood-Blockbuster, und jeder, der über einen Internetanschluss verfügt, kann sich seit einiger Zeit per Google Street View11 durch die Hochhausstraßen von São Paulo oder die Wohnstraßen von Osaka bewegen. Ein universelles Element des Stadtstraßenkonzepts ist die Standardfunktion der Verkehrsleitung, weiterhin können die die Straße säumenden Häuser, die Läden zum Einkaufen sowie die die Straße befahrenden Zweiräder und Wagen als kulturübergreifende Grundelemente angenommen werden. Kulturspezifische Ausprägungen betreffen z.B. die Geschlossenheit oder Offenheit der Randbebauung, die Gestalt der Häuser, die Breite der Straße,
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Vgl. z.B. den Eintrag im Oxford English Dictionary für ‚street‘: „A road in a town or village (comparatively wide, as opposed to ‚lane‘ or ‚alley‘), running between two lines of houses; usually including the side-walks as well as the carriage way. Also, the road together with the adjacent houses.“ (Oxford English Dictionary, 2.ed., Vol. 16, 1989. Oxford: Clarendon Press. S. 874).
10 Verwiesen sei auf Rudofsky 1969/1995, Sack 1982, Fyfe 1998, Anderson 1978a, Moudon 1987, Krusche/Roost 2010. 11 http://maps.google.com/intl/de/help/maps/streetview/index.html [21.12.2011]
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spezifische Nutzungen oder die Belebtheit der Straßen.12 Neben den Gestaltmerkmalen und dem denotativen Inhalt der Verkehrsleitung sind in den kulturellen Einheiten und auch vielfältige Konnotationen als mögliche Interpretanten verankert. Diese gehen einerseits auf die Konnotationen von /Straße/ im Allgemeinen zurück, also noch vor einer Differenzierung in Land- oder Stadtstraße. /Straße/ kann Bewegung, das Voranschreiten zu einem Ziel und Ferne konnotieren. „Wir sind nicht auf der Straße um der Straße willen, wir sind auf der Straße, indem wir auf dem Weg zum Ziel sind.“ (Linschoten 1954: 244, [Herv. i. Orig.]) Straße steht für Fortschritt, aber auch für Ruhelosigkeit und Anonymität. Wenn Linschoten in seiner phänomenologischen Betrachtung der Straße als Symbol feststellt: „Die Straße bietet kein Obdach, nur Geleit“ (Linschoten 1954: 239), gilt dies auch für die städtische Straße. Die Straße ist kein Ort des Zur-Ruhe-Kommens, des Ankommens, des Sich-Niederlassens, die Menschen der Straße sind daher auch nicht nur an einer Stelle zu finden, sondern sie folgen den Straßen (siehe z.B. Fellinis „La Strada“). Die, die auf der Straße leben und/oder ihren Lebensunterhalt verdienen, sind im wörtlichen und metaphorischen Sinn ‚unbehaust‘. Wer ‚auf die Straße gesetzt‘ wird, verliert seine Wohnung oder seinen Arbeitsplatz. Besonders die Stadtstraße ist im Gegensatz zum privaten, geschützten Raum der Wohnung als öffentlicher Raum grundsätzlich ein Ort erhöhter Unsicherheit. Die Konnotation der Straße als unsicherer, unmoralischer Ort zeigt sich in zahlreichen, pejorativ besetzten deutschen Begriffen und Redewendungen: Straßenmädchen, Straßenjunge, Straßenkinder, Straßenhändler, Straßenköter etc.13 Die faszinierende Ambivalenz der Großstadtstraße wurde besonders in den Großstadtfilmen der 20er Jahre zelebriert, wo die Straße einerseits Ort der Bewegung, des Fortschritts, von Glanz und Konsum war, andererseits aber auch für Gefahr, Verführung und sozialen Abstieg stand.14 Die Konnotation der Großstadtstraße als Ort der moralisch-sittlichen Gefährdung hat in den heutigen Konzepten sicher nur noch einen geringen Stellenwert. Als unsicher gilt die Großstadtstraße heute durch die 12 Besucher Berlins aus südeuropäischen oder lateinamerikanischen Ländern äußern z.B. oft Verwunderung über die aus ihrer Sicht menschenleeren und leisen Straßen in Berlins Zentrum. Schumacher (1978: 134) und Wunderlich (1986: 217) weisen auf die unterschiedliche Konzeption des Straßenraums hin: während im Französischen die Stadtstraße als Behälterobjekt konzipiert wird (dans la rue), ist sie im US-amerikanischen Englisch nur zweidimensionales Band (on the street). Im britischen Englisch und im Deutschen sind beide Formen möglich. 13 Ob in anderen Kulturen, wo das Alltagsleben in höherem Maße auf der Straße stattfindet, Ähnliches gilt, wäre untersuchen. 14 Siehe z.B. „Die Straße“ (Grune 1923), „Sunrise“ (Murnau 1927), „Asphalt“ (May 1929). Vgl. auch Kosta 2001.
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Risiken des motorisierten Verkehrs, aber auch Straßenkriminalität kann Straßen zu ‚Angst-Räumen‘ werden lassen. Straßen werden als basale Struktureinheiten von Städten wahrgenommen.15 Stadträume werden im Alltag wahrscheinlich zuallererst als (oder etc.) kategorisiert, nicht als oder oder . Es handelt sich hier im Sinne der Prototypentheorie um eine Basisebene der Kategorisierung.16 Es ist zu vermuten, dass Geschäftsstraßen in Städten prototypisch für Stadtstraßen sind, d.h. sie bilden für die Interpreten besonders charakteristische Exemplare von Stadtstraßen.17 Eine Geschäftsstraße in einer Großstadt, die Potsdamer Straße in Berlin, bildet den Gegenstand der empirischen Untersuchung in Kapitel 4. 3.1.3 Allgemeine Merkmale von Stadtstraßen In Kapitel 2.2 haben wir uns mit dem Begriff des materiellen Objekts im Allgemeinen beschäftigt. Wie dort dargestellt, geht z.B. Prieto von einer erkenntnistheoretischen, subjektorientierten Konzeption des Objekts aus, während Abraham Moles einen engeren Objektbegriff angewendet, der nur Artefakte umfasst. Grundlegende Eigenschaften eines Objekts sind seine Widerständigkeit gegenüber dem Subjekt, der materielle Charakter und die Dauerhaftigkeit (Moles 1972: 25). Diese Charakteristiken zeichnen ohne Zweifel auch Stadtstraßen aus, sie sind jedoch nicht hinreichend zu einer genauen Beschreibung und zur Abgrenzung von anderen Objekttypen. Die in 2.2 postulierte potentielle Zeichenhaftigkeit von Objekten wird auch für Stadtstraßen und die sie konstituierenden Elemente angenommen, und daher zwischen Merkmalen des Ausdrucks (der äußeren Form) der Straße sowie Merkmalen des Inhalts (den Bedeutungen und Funktionen) unterschieden. Die folgende Aufstellung beansprucht keine Vollständigkeit, sie benennt vorwiegend
15 „Was kommt einem, wenn man eine Großstadt denkt, als erstes in den Sinn? Ihre Straßen.“ (Jacobs 1961/1976: 2) 16 Zur Prototypentheorie vgl. Kap. 2.3.2 und Kleiber 1990/1993: 31 ff und 59ff. 17 S.a. Einleitung. Vgl. ferner auch eine (mit 110 Teilnehmern jedoch kaum repräsentative) Umfrage in Internetforen (Westermayer 1997). In dieser nannten bei der Frage nach der typischsten Straße unter mehreren Straßenformen (Autobahn, Landstraße, städtische Hauptstraße, Spielstraße, Fußgängerzone) 70% der Autofahrer Autobahnen und Landstraßen als typischste Straßen, während 50% der Nicht-Autofahrer städtische Straßen (und darunter mit deutlichem Abstand die städtischen Hauptstraßen) als besonders typisch empfanden. Bei den absoluten Nennungen als typischste Straßenform waren ebenfalls die städtischen Hauptstraßen führend (Westermayer 1997: 12f).
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solche grundlegenden Merkmale, die städtischen Räumen und Objektkomplexen im Allgemeinen und Stadtstraßen im Besonderen zukommen und sie von anderen Objekttypen wie Haushaltsgegenständen, Möbeln etc. unterscheiden.18 Merkmale des Ausdrucks •
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Umraumbildung: Die Straße ist ein Umraumobjekt. Darin gleicht sie einem Zimmer, einem Haus, einem Platz, der Stadt, einem Park oder einer Landschaft.19 Anders als ein Zimmer oder ein Platz formt sie jedoch einen linear umgebenden Raum, daraus folgt, dass sie nur in der Bewegung adäquat wahrgenommen werden kann. Mit der spezifischen Wahrnehmung von Straßen im Vergleich zum Platz beschäftigt sich der Exkurs in Kapitel 3.1.4. Die Stadtstraße ist Objekt, aber ihre Form ist gleichzeitig durch Objekte definiert. Bei geschlossener Bebauung bilden die Häuserwände die Grenzen, bei offener Bebauung können neben Häusern auch Bäume, Büsche, Zäune, Mauern etc. die Straße als Raum definieren. Gleichzeitig markieren diese materiellen Begrenzungen meist auch die Trennlinie zwischen öffentlichem und nicht- oder semi-öffentlichem Raum. Der von dem Objekt Straße definierte Raum ist gleichzeitig Rahmen und Wahrnehmungsgrund für eine Vielzahl von Objekten, u.a. für die die Straße nutzenden Menschen (s.a. Merkmal Permanenz). Immobilität: Straßen sind relativ immobil, ihr Ort, d.h. ihr Verlauf im Raum, ist stabil. Im Gegensatz zu Alltagsgegenständen im engeren Sinne, die handhabbar und im Raum beweglich sind, gehört es zu den Charakteristika von Straßen
18 Linschoten beschreibt aus einer phänomenologischen Perspektive die Straße als „Medium des Verkehrs“, als Objekt sei sie inexistent (Linschoten 1954: 245, [Herv. E. Reblin]). Dieser Feststellung kann in Bezug auf Landstraßen wohl zugestimmt werden. Die in dieser Arbeit thematisierten Geschäftsstraßen in Großstädten zeichnen sich jedoch häufig durch sehr spezifische Eigenheiten aus, sie werden von ihren Interpreten als Einheit konzipiert und von anderen Stadtstraßen unterschieden, sie sind auch Aufenthalts- und nicht nur Durchgangsräume. In diesem Sinne sind sie durchaus als Objekte (der Wahrnehmung) aufzufassen. 19 Kriterium ist hier nicht eine eindeutig bestimmbare Raumbegrenzung (dies wäre bei einer Landschaft nicht möglich), sondern die Konstitution des Umraumobjekts als Einheit (siehe Kap. 2.2.1 zu Prietos Begriff des materiellen Objekts). Man könnte auch ‚raumbildende‘ Verkehrsmittel wie Autos, Flugzeuge etc. zu den Umraumobjekten rechnen, im Unterschied zu architektonischen Gebilden wie die Straße sind diese allerdings im Raum beweglich (siehe Merkmal Immobilität). Eine Mischform stellt z.B. das Wohnmobil dar, das als Umraumobjekt sowohl als Transportmittel (mobil) als auch, z.B. in einer Wagenburg oder einem ‚trailer park‘, als immobile Wohnung eingesetzt werden kann.
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(Stadtstraßen und Landstraßen), dass sie für einen längeren Zeitraum stabil in einem topologischen System verankert sind. Allerdings können Straßen durch Kriegszerstörungen, groß angelegte Stadtumbauten usw. verschwinden oder in ihrem Verlauf verändert werden. Es sind jedoch nur geringe Korrekturen des Verlaufs möglich, ohne die Identität der Straße zu zerstören: die Identität einer Straße resultiert aus ihrer relativen Lage im Straßennetz der Stadt. Beispiel einer geringfügigen Veränderung des Verlaufs ist der obere Teil der Potsdamer Straße, der Anfang der 60er Jahre beim Beginn des Baus des Kulturforums nach Westen verlegt wurde. Der ursprüngliche Straßenverlauf wurde teilweise durch die Staatsbibliothek überbaut und damit unterbrochen.20 Auch die Mehrzahl der den Straßenraum definierenden Objekte zeichnet sich durch Immobilität (im Kontext des Systems Straße) aus. Permanenz: Der gebaute Raum der Straße, als Einheit von Fahrstraße und angrenzenden Gebäuden, ist in seinen Grundstrukturen relativ dauerhaft, d.h. stabil in der Zeit. Aldo Rossi beschreibt diese Permanenz als „etwas Materielles und, insofern sie eine Gestalt ist, die überdauert, zugleich etwas Geistiges“ (Rossi 1969/1973: 40). Die Architektur vergangener Epochen zeigt sich nicht nur als noch anwesende historische Substanz, sondern sie macht auch Lebensund Gedankenwelt ihrer Entstehungszeit erfahrbar. Allerdings kann davon ausgegangen werden, dass die einzelnen Straßenobjekte einschließlich der die Straße definierenden Gebäude umfassenderen Veränderungen unterworfen sind als der Straßenverlauf. Historisch gewachsene Straßen weisen immer unterschiedliche Zeitschichten auf, sie bilden in gewisser Weise Freiluft-Museen der Architektur- und Stadtgeschichte. Preziosi weist darauf hin, dass die relative „Sende-Permanenz“ architektonischer Formationen es diesen ermöglicht, anderen, weniger konstanten, schneller „verklingenden“ semiotischen Manifestationen als Kontext zu dienen oder ihnen den „Grund“ zu liefern, auf dem sie wahrgenommen werden können (1979: 6, ähnlich auch Rossi 1969/1973: 40). Erst die Dauerhaftigkeit der gebauten Strukturen macht es möglich, die historische Dimension von Stadträumen wahrzunehmen, die sich in der materiellen Ausdruckssubstanz, in bestimmten historischen Stilen, Alters- und Abnutzungsspuren zeigt: „Permanenz im Städtebau kann deshalb in diesem Sinn als Vergangenheit, die wir heute erfahren, gedeutet werden.“ (Rossi 1969/1973: 42)21 Es kann von einer Dialektik von Dauer (der Gebäudematerie) und Flüch-
20 Weitere Beispiele siehe Kap. 1 (Achsenbildung im Barock, haussmannscher Umbau von Paris). 21 Vgl. z.B. Otto Friedrich Bollnow zum Aufeinandertreffen der vor-haussmannschen / nach-haussmannschen Straßenformen in Paris: „Noch heute gehört es zu den Reizen
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tigkeit (der wechselnden Stile, des sich verändernden Fassadenzustands) gesprochen werden.22 Singularität: Straßen sind singuläre Objekte. Im Gegensatz zu Konsumobjekten sind sie generell nicht reproduzierbar. In einem sehr weiten Sinne kann der historisch möglichst genaue Wiederaufbau alter Straßen nach Kriegszerstörungen wie in der Warschauer Altstadt und am Frankfurter Römerberg als Reproduktion angesehen werden. Hier muss angemerkt werden, dass von einer Reproduktion von Stadträumen schon deshalb nicht gesprochen werden kann, weil hier ein absoluter Neuzustand, wie bei einzelnen Konsumobjekten, kaum festzulegen und daher auch nicht zu reproduzieren ist.23 Das Merkmal der Singularität trifft auch auf viele untergeordnete Objekte der Straße zu (Gebäude, Läden). Multimodalität: Stadtstraßen sind Umwelten, sie werden mit allen Sinnen wahrgenommen. Neben dem in der Umweltwahrnehmung dominanten visuellen System sind immer auch das auditive, olfaktorische und taktile System beteiligt.24
dieser Stadt, das Nebeneinander der beiden Straßennetze zu verfolgen. Ein Gang um eine Straßenecke, und man lebt in einem anderen Jahrhundert“ (Bollnow 1963: 99). 22 Man stelle sich vor, die Bebauung einer Stadt würde alle 50 Jahre ausgetauscht, und dies schon seit ihrer Gründung vor 1000 Jahren. Könnte man dann von einer ‚alten‘ oder ‚historischen‘ Stadt sprechen? 23 Vgl. aber den Wiederaufbau von Warschau, bei dem die älteste urkundlich belegte Fassadengestalt rekonstruiert wurde. Zur Rekonstruktionsproblematik allgemein siehe auch die kontroverse Diskussion zum Wiederaufbau des Berliner Stadtschlosses. Ein neueres Projekt ist ‚Lyon Dubai City‘, in welchem nicht nur Einzelgebäude, sondern ganze Straßenzüge der Altstadt von Lyon in Dubai rekonstruiert werden sollen. (Diesen Hinweis verdanke ich Roland Posner. S.a. Spiegel Online vom 30.01.2008, http://www. spiegel.de/reise/fernweh/0,1518,531869,00.html [28.12.2011]). Zu einer andersartigen Auffassung der Identität von Siedlungsanlegen bei den durch Lévi-Strauss beschriebenen Bororo s.o. Kap. 2.4.1. 24 Projekte wie das World Soundscape Project oder das 1996 gegründete World Forum for Acoustic Ecology setzten sich mit der akustischen Umwelt auseinander und sammeln und archivieren Tondokumente, schwerpunktmäßig in urbanen Umgebungen. Eine Sammlung Berliner Soundscapes findet sich beispielsweise bei http://berlincast.com [12.11.2011].
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Merkmale des Inhalts Hier soll nur ein kurzer Überblick über grundlegende Inhaltsmerkmale von Stadtstraßen gegeben werden, die entweder auf Stadtstraßen als Ganzes zutreffen, oder auf eine Mehrzahl ihrer Objekte. Einzelne Inhaltskomplexe werden in Kapitel 3.4.2 typisiert. •
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Gebrauchsfunktion: Stadträume und ihre Objekte werden überwiegend benutzt, d.h. als ein Inhalt fungiert ihre Gebrauchsfunktion (siehe Kap. 2.2.3.3). Bei der großen Mehrzahl der Objekte der Straße handelt es sich um Artefakte, d.h. Gegenstände, die intentional für eine bestimmte Nutzung produziert wurden. Die Funktion ist hier bereits im Typ kodiert. Betrachtet man die Straße als Einheit, so verfügt sie neben ihrer bewegungsleitenden Funktion als Standardfunktion noch über eine Vielzahl weiterer Funktionen, sie ist polyfunktional. Gebrauchsfunktionen der Straße in ihrer historischen Entwicklung wurden in Kapitel 1 dargestellt. Bewegungsleitende Funktion:25 Straßen leiten die Bewegung durch die Stadt. Sie sind sowohl Durchgangsräume zu entfernteren Zielen als auch Erschließungsraum für die Nutzungen in ihren Randbereichen (Curdes 1993: 122). Sie geben Bewegungslinien vor, die oft nicht individuell veränderbar sind, schränken die Beweglichkeit also zugleich ein. Straßen ‚ziehen uns weiter‘, sie bieten im Sinne von Gibson Affordanzen, die uns auffordern, sie entlangzugehen (zum Begriff der Affordanzen vgl. Kap.2.3.2).26 Die Funktion als Bewegungskanal ist die Standardfunktion des Artefakts Straße. Sozial-kulturelle Signifikation: Stadtstraßen signifizieren neben ihren Gebrauchsfunktionen und ihrer Funktion als Bewegungskanal potentiell immer auch sozio-kulturelle Tatbestände (s. Kap. 2.3.3). Besonders Großstadtstraßen sind selten sozial homogene Räume, als Orte städtischer Konzentration manifestieren sich in ihnen soziale und ethnisch-kulturelle Differenzen. Es wird angenommen, dass Interpretationen von städtischen Räumen in der Mehrzahl der Fälle auch soziale Inhalte einschließen (vgl. unten Kap. 3.4.2). Öffentlichkeit: Großstadtstraßen sind überwiegend öffentliche Räume in dem Sinne, dass sie allen Stadtbewohnern frei zugänglich sind. Ihr öffentlicher Status ist eng verknüpft mit ihrer Funktion der Bewegungsleitung und der Vielfalt ihrer Gebrauchsfunktionen und symbolischen Inhalte. Werden einzelne Funktionen
25 Die Bewegungsleitung durch die Straße kann natürlich auch als eine ihrer Gebrauchsfunktion aufgefasst werden. Da sie jedoch maßgeblichen Einfluss auf die weiteren Arten des Gebrauchs und die Wahrnehmung der Straße hat, wird sie hier gesondert aufgeführt. 26 Auf dieser basalen motorisch-kognitiven Ebene kann Gibsons Begriff m.E. sinnvoll angewendet werden, auch wenn man seinen globalen Anti-Repräsentationalismus nicht teilt.
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(wie z.B. der motorisierte Verkehr) dominant und drängen andere zurück, wird auch die Öffentlichkeit eingeschränkt, der Straße fehlt dann „was an einem öffentlichen Platz wesentlich ist: daß er Personen miteinander vermischt und eine Vielzahl von Aktivitäten anzieht“ (Sennett 1977/1983: 26). Weil die Straße ein öffentlicher Raum ist, sind auch die Objekte der Straße für alle Nutzer sichtbare Objekte. Anders als Privaträume oder semi-öffentlichen Räume, die auf Grund sozialer Schranken oft nur von Mitgliedern spezifischer sozialer Schichten genutzt werden (z.B. Museen) wird die Straße von Angehörigen sehr unterschiedlicher sozialer Gruppen wahrgenommen und interpretiert. 27 3.1.4 Exkurs: Zu Unterschieden in der Wahrnehmung von Straße und Platz Straßen werden in der Bewegung erfahren. Daher wird sich auch die Wahrnehmung der Straße und ihrer Objekte von der Wahrnehmung eines Platzes,28 der die Bewegung anhält, unterscheiden. Die Straße ist nicht „statische Ordnung“, sondern „dynamischer Raum“ (Linschoten 1954: 245). Während ein Platz meist von einem Standpunkt aus zu überblicken ist, kann die Straße als linearer Raum nur in der Bewegung adäquat wahrgenommen werden. Die Straße lädt uns ein oder fordert uns auf, sie entlangzugehen (s.o. Kap. 3.1.2). Auf einer Straße stehenzubleiben und in Kontemplation des Straßenbildes zu versinken scheint ungewöhnlicher, als auf einem Platz innezuhalten: „Stehen hebt den Sinn der Straße auf“ (Linschoten 1954: 245). In ihrer Längenausdehnung ist die Straße für den Blick vorerst nicht deutlich begrenzt, sie wird im Gehen ständig erweitert. „Man könnte sagen, daß die Straßen sich selbst verlängern“ (Linschoten 1954: 245, s.a. Kruse 1974: 118f). Die Straßenwahrnehmung ist in höherem Maße von praktischen Einstellungen bestimmt als die Wahrnehmung eines Platzes. Wichtig ist, dass wir auf dem Weg durch diese Straße oder auf dieser Straße unser Ziel erreichen, unsere Wahrnehmung wird eher handlungsorientiert sein. Ein Platz wird dagegen eher als eine ästhetische Einheit wahrgenommen, er erhält eine ästhetische Funktion (MukaĜovský 1966/1970: 12, s.a. Kap. 2.2.3.5). Bei Boulevards als Mischform von Straße
27 Die historische Entwicklung des öffentlichen Raumes Stadtstraße wurde bereits in Kap. 1 thematisiert, siehe in der Einleitung zu Kap. 1 auch zum Begriff des öffentlichen Raumes. 28 Hier wird ein Idealtyp eines Platzes zugrunde gelegt, wie er in z.B. Berlin nicht sehr häufig anzutreffen ist. Als Berliner Beispiele können die gründerzeitlichen Schmuckplätze wie der Viktoria-Luise-Platz genannt werden, dagegen beschleunigen reine Verkehrsplätze wie der Ernst-Reuter-Platz und der Strausberger Platz eher die Bewegung als dass sie zum Aufenthalt einladen.
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und Platz ist die ästhetische Komponente stärker ausgeprägt als bei durchschnittlichen Geschäftsstraßen. Amos Rapoport nimmt für Straße und Platz unterschiedliche Wahrnehmungsformen an (Rapoport 1990a: 265). Er geht davon aus, dass Umwelten zwei grundlegende Reaktionen in jeweils unterschiedlichen Ausprägungen auslösen: Interesse (und damit Streben nach Erforschung) und Gefallen. Diese Reaktionen entwickeln sich abhängig von der Komplexität der Umwelt: Interesse an einer Umgebung steigt gleichförmig mit ihrer Komplexität an, allerdings ist eine obere Grenze anzunehmen, an der das Interesse in ein Gefühl der Überforderung (Reizüberflutung) umschlägt. Gefallenswerte können dagegen als umkehrte U-Kurve dargestellt werden: die meisten Menschen schätzen eine Umwelt, die weder sehr komplex noch sehr einfach strukturiert ist (vgl. auch Schneider 1996b: 301). Rapoport vermutet, dass auf statische Räume wie Plätze eher mit Gefallen, auf dynamische Räume wie Straßen eher mit Interesse reagiert wird. Während Interesse an „perzeptuelle Eigenschaften“ (Komplexität auf der Ausdrucksebene) gekoppelt ist, ist Gefallen stärker abhängig von „assoziativen Eigenschaften“ im Sinne einer Komplexität auf der Inhaltsebene, d.h. im Sinne von Mehrdeutigkeit. Bei diesen assoziativen Eigenschaften wird es sich, semiotisch formuliert, überwiegend um Konnotationen handeln.29 Es ergibt sich zusammengefasst folgendes Schema: • •
Straße: dynamisch – Interesse – perzeptuelle Eigenschaften – Anregung – Komplexität (Komplexität auf der Ausdrucksebene). Platz: statisch – Gefallen – assoziative Eigenschaften – emotionale Annäherung – Ambiguität (Komplexität auf der Inhaltsebene) (Rapoport 1990a: 263ff).30
Es wäre zu fragen, ob inhaltliche Komplexität (Ambiguität) bei der Wahrnehmung und Interpretation von Straßen nicht eine ähnlich wichtige Rolle spielt wie bei der Wahrnehmung von Plätzen, jedoch nur weniger bewusst ist. Sicher wird im Alltagsgebrauch der Straße und in der Dynamik des Gehens das kontemplative Moment weniger hervortreten (dagegen aber: der touristische Blick), aber die Elemente 29 Vgl. auch Walter Benjamins ähnlich angelegte (jedoch nicht analoge) Unterscheidung im Kunstwerk-Aufsatz zwischen der Rezeption in der Zerstreuung und in der Sammlung (Benjamin 1955/1963: 40f). 30 Bei geplanten Stadträumen mit Event-Charakter wie am Potsdamer Platz wird die Anziehungskraft erst durch das vorgegebene Image, also durch die assoziativen Eigenschaften, ermöglicht: ohne den Hinweis auf die Historizität und Tradition des Potsdamer Platzes (vorgegebene Assoziation), die sich in der Bebauung (perzeptuelle Eigenschaften) mit wenigen Ausnahmen (Haus Huth, Hotel Esplanade) nicht mehr wiederfinden, wäre die Attraktivität gerade für Touristen sicher geringer.
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werden ebenfalls auf einer assoziativen Ebene, wenn auch eher subliminal, wahrgenommen und wirken auf die Vorstellung der Straße ein.
3.2 D IE G ROSSSTADTSTRASSE ALS MULTIPERSPEKTIVISCHES WAHRNEHMUNGSOBJEKT UND STRUKTURIERTE V ORSTELLUNG In Kapitel 2.2 wurde dargelegt, in welcher Weise Objekte zu Zeichen für einen Interpreten werden können, welche Formen von Interpretationsprozessen wirken und wie Objektsyntagmen gebildet werden. Ausgangspunkt war Prietos subjektbezogene Definition des materiellen Objekts (Kap. 2.2.1). Allerdings wurde im Verlauf des Kapitels, z.B. bei der Explikation der Denotation und Konnotation von Objekt-Zeichen, teilweise zu einer objektbezogenen Darstellung gewechselt. Auch die diachrone Darstellung der städtebaulichen Entwicklung und Semiotisierung von Straßenräumen (Kap. 1) machte es notwendig, Straßen als Objekte zu beschreiben, die jedoch in den unterschiedlichen Epochen auf unterschiedliche Weise kodiert waren und damit unterschiedliche Vorstellungen hervorriefen. Wie schon an mehreren Stellen verdeutlicht, ist das Ziel dieser Arbeit keine ‚objektive‘ Katalogisierung von Zeichen der Straße, vielmehr sollen subjektive bzw. intersubjektive Semiotisierungen von Nutzern eines städtischen Raums untersucht werden. Allerdings können dabei weder die realen Grundlagen (die „Imprägnierung“31) der subjektiven Interpretationen negiert noch die Tatsache ignoriert werden, dass die komplexen subjektiven Schemata aus einzelnen repräsentionalen Elementen (Zeichen) bestehen, die, wenn sie in der Kommunikation sprachlich externalisiert werden, als solche beschreibbar und intersubjektiv vergleichbar sind. In dieser Arbeit wird daher eine objektbezogene Sicht der Straße als materielles Objekt mit einer subjektbezogenen Sicht, welche davon ausgeht, dass eine Stadtstraße X als räumliche Vorstellung repräsentiert wird, verbunden.32 In Kap. 2.3 wurde die Vorstellung eines spezifischen Stadtraumes als ein ganzheitliches, komplexes, strukturiertes Token-Konzept definiert, das sich wiederum aus Subkonzepten konstituiert. Folgende Annahmen werden den Ausführungen in diesem Kapitel zugrunde gelegt:
31 Lenk 1996, siehe Kap. 2.2.2 Fußnote 80. 32 Randviir (2000: 50) unterscheidet zwischen den „primären Quellen“ des Semiotischen (den Objekten der Stadt) und ihren „sekundären Beschreibungen“ (dies wären die kommunizierten Vorstellungen) .
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1. Eine empirische Stadtstraße ist ein städtisches materielles Objekt und ein Objektkomplex, der bei seinen Interpreten mental als räumliche Vorstellung repräsentiert wird. 2. Bei einer stadträumlichen Vorstellung handelt es sich um eine ganzheitliche, komplexe, strukturierte mentale Repräsentation (Konzept) eines städtischen Teilraumes.33 Sie konstituiert sich aus Konzepten von Objekten bzw. Objektkonfigurationen. In der Externalisierung der Vorstellungen in der Kommunikation werden die Objekte sprachlich benannt (als Exemplare eines Typs oder als individuelles Token kategorisiert). Die Nennung zeigt, dass der Interpret die Objekte als relevant erkennt. Hier setzt nun die „Logik der Signifikanten“ (s.o. Kap. 2.2.3.5) ein: „Wenn man eine Einheit als relevant und als Einheit anerkennt, dann bedeutet das, daß man sie schon in Bezug auf einen Kode gesehen hat – und folglich schon als sinnerfüllt“ (Eco 1972b: 161); Relevanzerkennung und Semiotisierung der Objekte gehen Hand in Hand.34 3. Die in den Vorstellungen benannten Objekte können als Zeichen (als ObjektZeichen) konzipiert werden: Ausdrucksebene (genauer gesagt Ausdruckssubstanz) ist das als solches konstituierte materielle Objekt (als Erkenntnisobjekt) bzw. der sensorische Stimulus, der auch nur eine mediale Repräsentation des Objekts sein kann, Inhaltsebene (-substanz) das mit ihm verbundene Konzept.35 4. Die Vorstellung ist perspektivisch angelegt. In der Interpretation wird immer eine spezifische strukturelle Perspektive mit einer spezifischen qualitativen Perspektive verknüpft. 3.2.1 Konstituierende Konzepte Bei der Vorstellung einer Großstadtstraße X handelt es sich demnach um ein komplexes Token-Konzept. Angenommen wird, dass es sowohl analoge als auch propositionale Kodierungen aufweist (vgl. Kap. 2.3). Das auf der Ebene der Kognition angesiedelte Token-Konzept kann z. B. sprachlich oder bildhaft anderen kommuniziert werden oder sich auch in nichtkommunikativen Handlungen zei-
33 Der Begriff der stadträumlichen Vorstellung wurde in Kap. 2.3.3. allgemein definiert. Für die semiotische Analyse wird er hier konkretisiert. 34 Zur Auffassung von wahrgenommenen Objekten und deren Vorstellungen als Zeichen bei Peirce s.a. oben Kap. 2.2.3.6 sowie Eco 1985/1987: 222ff. 35 In einer rein mentalistischen Auffassung können auch die Konzepte selbst als Zeichen, als Einheit von Ausdruck und Inhalt aufgefasst werden, wenn man die in den Konzepten kodierten sensorischen Merkmale als Zeichenausdruck ansetzt.
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gen.36 Einer semiotischen Untersuchung ist nur die Kommunikations- und Handlungsebene zugänglich. Wenn von Vorstellungen im Sinne von empirisch untersuchten Vorstellungen gesprochen wird, sind immer die kommunikative Beschreibungen der Vorstellungen gemeint (s.o. Kap. 2.3.3). Folgende Konzeptformen können an der Konstitution der Vorstellung beteiligt sein: 1. Repräsentationen (Konzepte) von Objekten bzw. Objektkonfigurationen der Straße, ihrem städtebaulichen Kontext und der Stadt. Dieses können sowohl Token-Konzepte37 als auch Token zusammenfassende Typ-Konzepte sein. Diese Konzepte können a. aus primären sinnlichen Raumerfahrungen resultieren. Repräsentationen aktualer Objekte können dabei potentiell in der Wahrnehmung ständig neu aktualisiert werden. Dies ist für Repräsentationen ehemals primär erfahrener, aber nicht mehr vorhandener (nicht aktualer) Objekte nicht möglich. b. aus sekundären Erfahrungen resultieren, die medial oder durch interpersonale Kommunikation vermittelt sind38 oder als Bild (einer möglichen Zukunft, literarische Imaginationen etc.) imaginiert werden. Sie können die in der direkten Erfahrung konstituierte Vorstellung ergänzen, verstärken, kontrastieren oder überhaupt erst eine Vorstellung schaffen. In sekundären, vermittelten Vorstellungen sind vermehrt auch Konzepte nicht aktualer Objekte zu erwarten. Die Tokenkonzepte können zur Grundlage für weiterführende Interpretationsprozesse, d.h. Ausdruck für weitere Inhalte werden. 36 Beobachtungen von Handelnden im Stadtraum werden in dieser Arbeit nicht systematisch vorgenommen und nicht ausgewertet. Beispiel für nichtkommunikatives Handeln, das auf bestimmte Wertungen schließen lässt, ist z.B. das Meiden bestimmter Stadträume (der Bereich als ‚No-go-Area‘), das schnelle Passieren einzelner Gebiete ohne Aufenthalt etc. 37 Allerdings ist anzunehmen, dass auch mit der Nennung eines Objekttokens wie [Fleischerei X] gleichzeitig implizit der Typ und damit auch die Standardfunktion kognitiv aktualisiert wird. Bei der Nennung von Token mit einem großen Bekanntheitsgrad wird noch eine weitere Interpretationsschicht dazwischengeschaltet: die Nennung der [Staatsbibliothek] verweist sowohl auf das stereotypisierte Konzept des individuellen Tokens (die von Scharoun gebaute Nationalbibliothek in Berlin) als auch auf die Zugehörigkeit zu einem bestimmten Typkonzept (Bibliothek) mit den entsprechenden gebrauchsfunktionalen Inhalten. S.a. unten Kap. 4.5. 38 Z.B. die Vorstellungen ‚berühmter Straßen‘ wie der Champs-Elysées oder der Fifth Avenue.
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2. Das Konzept als Typ und kulturelle Einheit (vgl. Kap. 3.1.2). Angenommen wird, dass das Typ-Konzept im Allgemeinen die Grundlage des Token-Konzepts bildet.39 Auch hier findet ein Abgleich der Elemente des Typ-Konzepts mit dem Token-Konzept statt. Die im Typkonzept verankerten Merkmale und Normen werden z.B. überprüft, bei positiver oder negativer Abweichung entstehen positive oder negative Urteile (siehe Kap. 3.4.2 zu den evaluativen Inhalten). Ferner konstituiert sich die Vorstellung auch in Vergleich und Abgrenzung zu Token-Konzepten von anderen empirischen Straßen (nicht notwendig in näherer räumlicher Umgebung oder der gleichen Stadt). Diese können aus der eigenen Erfahrung heraus entwickelt und/oder durch Medien oder interpersonal vermittelt sein. Hier werden Ähnlichkeiten und Unterschiede (auch in Relation zum Typ ) herausgearbeitet, das ‚Spezifische‘ der X-Straße bestimmt. Jedes dieser Subkonzepte ist selbst wieder komplex strukturiert. Anwohner werden über deutlich mehr und komplexere selbst erfahrene Subkonzepte verfügen, während z.B. bei Bewohnern anderer Stadtteile, die die Straße nur sporadisch als Verkehrsweg nutzen, ein Vorstellungsbild zu erwarten ist, das weniger detailreich ausgearbeitet ist. Eventuell kommen hier verstärkt medial vermittelte Konzepte zum Tragen.40 3.2.2 Die Großstadtstraße als Metasystem In Kapitel 2.2.4.1 wurde bereits gefragt, ob eine Großstadtstraße als ein S-Kode oder ein System beschrieben werden kann, wie es von Eco definiert wurde. Die Frage wurde positiv beantwortet, ohne allerdings charakteristische Eigenschaften eines solchen Systems Großstadtstraße zu benennen. Diese Spezifika sollen hier nun kurz herausgearbeitet werden, indem das System Straße mit dem System des sprachlichen Kodes verglichen wird. Ausgangspunkt ist die Annahme, dass die Gesamtheit der möglichen Elemente der Straße einen S-Kode als Metasystem bildet. Basis der natürlichen Sprachen
39 Natürlich verfügen nur Menschen über solch ein Konzept, die aus eigener Erfahrung oder durch mediale Abbildungen ein solches entwickeln konnten. Auf die kulturelle Relativität dieses Konzepts wurde bereits in Kap. 3.1 hingewiesen. 40 Vgl. Kap. 2.3.3.
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bilden zwei S-Kodes, das Ausdrucks- und das Inhaltssystem.41 Durch den sprachlichen Kode wird jeweils ein Element des Ausdruckssystems mit einem Element des Inhaltssystems korreliert. Die Elemente der Ausdrucksebene (Paradigma) werden zu einem ‚dichten‘ Syntagma organisiert. In komplexen Objektsystemen wie Großstadtstraßen kommt es dagegen zu einer Schichtung von S-Kodes. Die Straße und ihre Elemente bilden einen übergeordneten S-Kode als Ausdruckssystem, den man als Metasystem konzipieren kann. Weitere Metasysteme der Stadt wären z.B. Park, Bahnhof und Shopping Mall. Die möglichen Einzelelemente des Metasystems bilden ein Paradigma, sie werden in einer konkreten Straße (oder in der Vorstellung einer konkreten Straße) zu einem Syntagma organisiert. Kombinationsregeln der einzelnen Elemente ergeben sich u.a. aus Baurecht, Flächennutzungsplan und Straßenrecht.42 Auf dieser Ebene des Metasystems existiert kein einheitliches, durch einen spezifischen Kode zugeordnetes Inhaltssystem. Einzelne Elemente des Metasystems sind jedoch gleichzeitig Elemente anderer Ausdruckssysteme, und können in dieser Eigenschaft mit Elementen eines weiteren Inhaltssystems verknüpft, also Elemente eines Kodes sein (Beispiel: Verkehrszeichen).43 Die Syntagmenbildung auf der Ebene der Subsysteme ist im Gegensatz zum Metasystem häufig sehr lose, Roland Barthes spricht von „erratischen Systemen“ (Barthes 1964/1983: 57).44 41 Als Ausdruckssystem wird hier die Lexemebene angesetzt, die Phonemebene wird nicht berücksichtigt. 42 Die materielle Produktion von städtischen Syntagmen ist anders als die Produktion von sprachlichen Syntagmen durch Gesetze, Verordnungen etc. der staatlichen oder kommunalen Autoritäten reguliert und eingeschränkt. Ferner ist sie deutlich zeit-, material- und kostenaufwendiger. Ebenso kann nicht jeder zum Produzenten städtischer Elemente werden. Die Planung und Durchführung unterliegt bestimmten Fachleuten, einer „Entscheidungsgruppe“, das System ist überwiegend „fabrizierte Logotechnik“ (Barthes 1964/1983: 27) und nicht wie die natürliche Sprache als ‚spontane Ordnung‘ entstanden. 43 Hier ergibt sich keine monohierarchische Baumstruktur, sondern eine netzartige Struktur, da ein Element des Metasystems immer unterschiedlichen Subsystemen bzw. Kodes zugeordnet werden kann. Vgl. auch Christopher Alexanders Modell der Stadt als „semilattice“ (Halbgitter) in seinem klassischen Aufsatz „The city is not a tree“ (Alexander 1966) und Deleuze/Guattaris Rhizom als radikale Variante eines nicht-hierarchischen, fragmentarisierten Netzes (Deleuze/Guattari 1976/1977). Zur Enzyklopädie als rhizomartiges Netz siehe Eco 1984/1985: 126ff. Zur potentiellen Fähigkeit der Einzelsysteme, in der Wahrnehmung sowohl als Figur, als auch als Grund aufgefasst zu werden siehe Preziosi 1983: 1348. 44 Barthes führt das Beispiel der Verkehrszeichen an. In solchen erratischen Systemen sind die einzelnen „agierenden“ Zeichen durch nicht signifikante Räume, die Straßenabschnitte getrennt, sie könnten als „tote Syntagmen“ bezeichnet werden (Barthes 1964/1983:
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Diese Lockerheit auf der Ausdrucksebene führt jedoch nicht zu undeutlichen Inhalten, da die Elemente der unterschiedlichen Ausdruckssysteme gegenseitig als Kotext wirksam werden. Man könnte also einen indirekten Kode des Metasystems postulieren: die Inhalte des Metasystems ergeben sich metonymisch aus den kotextualisierten Inhalten der Elemente der Subsysteme. 3.2.3 Die Perspektivierung der Großstadtstraße Die Konstitution des Objekts [Straße X] als Vorstellung und seiner Subobjekte ist immer perspektivisch angelegt. Dabei gehen perspektivische Auswahl von Elementen und Relevanzsetzung Hand in Hand (vgl. Kap. 2.2.2 und 2.2.3.4). In Kapitel 2.2.3.4 wurden zwei grundlegende Formen der Perspektivierung unterschieden, die strukturelle und die qualitative. Bei der Anwendung auf stadträumliche Vorstellungen ergibt sich folgende Konkretisierung: 1. die strukturelle Perspektivierung. In der strukturellen Perspektivierung wird festgelegt, ob die Straße als ein einheitliches Objekt, als zusammengesetztes komplexes Objekt, oder als dem System Stadt untergeordnetes Objekt betrachtet wird. Anzunehmen ist, dass in einer Vorstellung meistens alle drei Ebenen der Perspektivierung nachzuweisen sind, je nach Interpret jedoch in unterschiedlicher Gewichtung. Im Prozess der strukturellen Perspektivierung wird das Objekt topologisch in untergeordnete Subelemente und größere Objektabschnitte gegliedert und deren Relationen untereinander und zum übergeordneten Objekt bestimmt (z.B. vertikale Anordnung der drei Ampellichter untereinander und in Beziehung zum Ampelkörper). Die strukturelle Perspektivierung wird im nächsten Kapitel 3.3 näher beschrieben. 2. die qualitative Perspektivierung: das Objekt und seine Elemente werden unter einem bestimmten Ausdrucks- oder Inhalts-Aspekt (z.B. Gebrauchsfunktion, Entstehungszeit, ästhetischen Kriterien) als Ausdruckssubstanz (für eine bestimmte Inhaltssubstanz) betrachtet (z.B. wird die rote Farbe des Ampellichts zum Zeichenausdruck für ). Dieser Aspekt entspricht dem an das
57). Wahrscheinlich wäre es generell angemessener, z.B. in Bezug auf Verkehrszeichen nur von einzelnen syntagmatischen Verknüpfungen (wie bei der Kombination Einbahnstraßenschild/Einfahrt-verboten-Schild an Anfang bzw. Ende einer Einbahnstraße) auszugehen und nicht ein vollständiges Syntagma zu postulieren. Dagegen kann die Randbebauung der Stadtstraße als das die Straße konstituierende Subsystem als Syntagma im engeren Sinne aufgefasst werden.
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Objekt herangetragenen Kode. Mit der qualitativen Perspektivierung beschäftigt sich das Kapitel 3.4. In der strukturellen Perspektivierung wird also ein Objekt als Entität konstituiert und ggf. in Relation zu seinen untergeordneten Elementen und zum übergeordneten Objekt bestimmt, in der qualitativen Perspektivierung wird ein bestimmter Kode an das Objekt herangetragen, d.h. es als paradigmatisches Element dieses S-Kodes ausgewählt. Der Begriff der strukturellen bzw. qualitativen Perspektivierung beschreibt den Prozess, in dem in der Interpretation spezifische Perspektiven eingenommen werden. Diese beiden Perspektivierungen werden notwendig verschränkt, die resultierende Perspektive kann dann z.B. ‚Straße als einheitliches Objekt‘/’Art der Bebauung‘ (z.B. bei der Interpretation ) sein. Im Folgenden wird gleichwertig von struktureller bzw. qualitativer Ebene der Interpretation bzw., beim Wechsel in eine objektorientierte Sicht, von strukturellen und qualitativen Eigenschaften gesprochen. Die aus einer bestimmten strukturell-qualitativen Perspektive ausgewählten Objekte können als Objekt-Zeichen mit einer Ausdrucks- und einer Inhaltsseite konzipiert werden.
3.3 D IE E BENEN DER STRUKTURELLEN P ERSPEKTIVIERUNG Welche strukturelle Perspektive ein Interpret in einem konkreten Interpretationsprozess einnimmt, ist durch den pragmatischen Kontext bestimmt. Bei den im Folgenden postulierten strukturellen Perspektivierungsarten handelt es sich um idealtypische Annahmen, in einer Interpretation (wie in der Beschreibung des Vorstellungsbildes) werden meist mehrere Formen verschränkt sein. Ich gehe jedoch davon aus, dass sie einzeln identifizierbar sind. Es sollen drei mögliche Arten der strukturellen Perspektivierung einer empirischen Straße unterschieden werden. Eine Straße kann als einheitliches, eigenständiges städtisches Objekt (Basisebene, Relation der Nebenordnung zu anderen Stadträumen), als aus vielen Elementen zusammengesetzter Objektkomplex (Objektkomplexebene, Relation der Überordnung zu ihren Objekten) oder als
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Element eines übergeordneten Objektsystems (Stadtelementebene, Relation der Unterordnung zur Stadt) aufgefasst werden.45 Wenn man unterschiedliche strukturelle Perspektivierungen annimmt, dann folgt daraus im Prinzip, dass Begriffe wie ‚Objektaspekt‘ nur relational definiert werden können. Auch die einzelnen Elemente eines Objektkomplexes wie einer Straße könnten dann als Objektaspekte der Straße aufgefasst werden. Um Unklarheiten zu vermeiden, beziehe ich den Begriff ‚Objektaspekt‘ in dieser Arbeit jedoch immer nur auf Eigenschaften oder Bestandteile eines Einzelobjekts oder auf globale Eigenschaften eines Objektkomplexes. 1. Die Straße als einheitliches Objekt (Basisebene) Die Perspektivierung einer empirischen Straße als Objektkomplex (Objektkomplexebene) und als Element des Systems Stadt (Stadtelementebene) setzt voraus, dass die Straße auch als Entität konstituiert wird. Daher bildet die Ebene der ‚Straße als einheitliches Objekt‘ immer die Grundlage der beiden anderen Perspektivierungen. In folgenden Kontexten wird diese Perspektivierung unabhängig von den beiden anderen gewählt: beispielsweise bei Ortsangaben: ‚Treffen wir uns doch in der Bergmannstraße‘, ‚Die Staatsoper liegt Unter den Linden‘, Beschreibungen von Wegstrecken: ‚Ich fahre immer über die Martin-Luther-Straße‘, Funktionsbeschreibungen: ‚Die Friedrichstraße war früher eine der wichtigsten Einkaufsstraßen Berlins‘, als Bildunterschrift, bei der Äußerung von subjektiven Vorlieben: ‚Die Crellestraße ist meine Lieblingsstraße‘, bei subjektiven Zuschreibungen von allgemeinen Eigenschaften: ‚Die Hauptstraße ist doch eine hässliche Straße‘ und in Werbeimages: ‚Kurfürstendamm – der Treffpunkt aller Berliner und Berlin-Besucher‘.46 In dieser Perspektivierung wird die Straße als relativ kohärente, wenig strukturierte Entität betrachtet. Einen hohen Stellenwert für die Konstitution als Einheit hat der Straßenname.47 Wenn einzelne Objekte genannt werden, haben sie den Status von Merkzeichen und repräsentieren die Straße als Ganzes oder sie
45 Ebenso wäre eine Benennung der Ebenen in Objektebene, Straßenebene und Stadtebene möglich, diese würde jedoch nicht die Relationalität der Perspektivierung (Objekte – Straße, Straße – Stadt) berücksichtigen. 46 Siehe http://www.kurfuerstendamm.de/berlin/strassen/kurfuerstendamm [28.12.2011]. 47 Dass ein einheitlicher Name jedoch nicht immer genügt, eine Straße in ihrem vollständigen Verlauf als Einheit zu betrachten, zeigt das Beispiel der Potsdamer Straße, deren oberer Abschnitt (das Kulturforum) meist nicht mehr als Teil der Potsdamer Straße angesehen wird (siehe Kap. 4.3.3). Fraglich ist auch, ob bei extrem langen Straßen (wie in den USA) überhaupt ein einheitliches Bild hergestellt werden kann.
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werden durch die Angabe des Straßennamens dieser Straße zugeordnet.48 Das Objekt [Straße X] kann in der Interpretation zum Zeichen mit einer Ausdrucks- und einer Inhaltsseite werden. Es handelt sich hier um ein Token-Konzept. Konzepte allgemein bekannter und berühmter Straßen, wie z.B. , etc., die durch die Verbreitung in den Medien, Stadtmarketing etc. konventionalisiert werden, können als stereotypisierte Token aufgefasst werden (siehe Kap. 2.3.3). Als Zeichenausdruck kann eine mediale Repräsentation (z.B. eine Fotografie in einem Reiseführer, die Straße auf einem Stadtplan49) oder die eigene sinnliche Anschauung fungieren, der zugeordnete Inhalt kann auf einer gebrauchsfunktionaler Art sein (z.B. ) oder auf einer übergeordneten konnotativen Ebene (z.B. , ) liegen. Weiterhin ist die Typisierung von Straßen als Haupt- oder Nebenstraßen ebenso dieser Perspektivierungsebene zuzuordnen wie ihre In-Konkurrenzsetzung zu anderen Stadträumen.50 Auf der Basisebene sind auch solche Inhalte anzusiedeln, die nicht einzelnen Objekten zuzuschreiben sind, sondern z.B. Atmosphären beschreiben (siehe 3.4.7) und sich auf einen Gesamteindruck einer größeren Einheit beziehen ( oder , oder , oder ). Die Straße exemplifiziert für den Interpreten die genannten Eigenschaften (siehe Kap. 2.2.3.3 und 3.4.4) Die Eigenschaften sind oft mit einer impliziten Wertung verbunden (zu den evaluativen Bedeutungen vgl. Kap. 3.4.2). Wie die oben angeführten Beispiele zeigen, kann diese Ebene der Perspektivierung durch eine gewisse Distanz zum Objekt gekennzeichnet sein. Es existiert nur ein generalisierendes, wenig komplexes Bild. Die Straße ist einheitliches Objekt, weder wird eine deutliche syntagmatische Ordnung hergestellt noch wird eine größere Zahl von paradigmatischen Elementen bestimmt. Diese Art der Interpretation wird z.B. bei Touristen im Reisebus, bei Lesern von Reiseführern, bei Stadtbewohnern, die in nicht im direkten Umfeld der Straße wohnen, bei Auto48 Mit einem Satz wie ‚Die Staatsoper liegt Unter den Linden‘ konstituiere ich jedoch nicht nur eine Straße als einheitliches Objekt, sondern benenne gleichzeitig eines ihrer Elemente, gehe somit schon über zu einer Perspektive der Straße als Objektkomplex. 49 Beide Formen der Repräsentationen können die die Straße als existierende Entität konstituieren. Die Fotografie, die notwendigerweise auch Objekte der Straße zeigt, geht jedoch schon über in eine Perspektive der Straße als Objektkomplex, die Kartendarstellung zeigt die Straße als Teil des Straßennetzes, ist also auch schon Beispiel für die Perspektive ‚Straße als Element des Systems Stadt‘. 50 Die Klassifizierung Haupt- oder Nebenstraße setzt die Straße jedoch ebenfalls bereits in direkte Opposition zu anderen Straßen der Stadt und vermittelt zwischen Basis- und Stadtelementebene.
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fahrern, für die die Straße nur Transitraum ist (hier kommt jedoch zusätzlich sicher die strukturelle Perspektivierung vom Typ 3, s.u. ins Spiel), überwiegen. Einzelne Objekte werden in diesen Situationen nur selten relevant (es sei denn, z.B. der Reiseleiter im Bus weist auf einzelne Objekte hin). Dagegen werden bei Interpreten, die über ein komplexes Vorstellungsbild der Straße verfügen, in der Basisebene die Einzelinterpretationen der Objektkomplexebene zu übergeordneten Inhalten der Straße gebündelt und verdichtet. 2. Die Straße als Objektkomplex (Objektkomplexebene) Zwar wird auch hier die Straße als Entität wahrgenommen,51 sie erscheint jedoch im Vorstellungsbild als aus einer Vielzahl von Elementen zusammengesetztes, komplexes, strukturiertes Gebilde. Die Straße wird zum geordneten Syntagma, eine größere Zahl von paradigmatischen einzelnen Objekten wird genannt und interpretiert. Einzelne Elemente können von einem Interpreten als zeichenhaft aufgefasst werden, d.h. eine Einheit aus Ausdruck und Inhalt bilden. Die Straße wird in Subeinheiten (Subsyntagmen) gegliedert. Solche Subeinheiten können Straßenabschnitte sein, deren Einzelelemente auf der Ausdrucks- oder auf der Inhaltsebene gemeinsame Merkmale aufweisen. Die Objektkomplexebene wird besonders in den Vorstellungsbildern jener Interpreten überwiegen, die die Straße gut kennen, da sie in ihrer Umgebung wohnen oder sich dort häufig aufhalten und sie zudem als Fußgänger oder Fahrradfahrer nutzen. Journalistische und literarische Straßenbeschreibungen arbeiten ebenfalls auf dieser Ebene. Diese maßstäblich untere Ebene der Perspektivierung steht im Zentrum der Analyse der Straße als semiotischer Raum. In Kapitel 3.4 wird eine Objekt- bzw. Zeichentypologie der möglichen paradigmatischen Elemente des Objektkomplexes Straße erstellt, die entsprechenden Kodes bestimmt und nach Regeln der syntagmatischen Ordnung gefragt.
51 Selbstverständlich können für einen Interpreten einzelne Objekte einer Straße zu Zeichen werden, ohne dass er ein Vorstellungsbild der Straße als Ganzes entwickelt. Mir fällt vielleicht in einem mir wenig bekannten Viertel in einer fremden Straße ein bestimmtes außergewöhnliches Geschäft, Gebäude etc. auf, das als Einzelobjekt für mich signifikant wird, jedoch werde ich es wahrscheinlich weder dieser bestimmten Straße zuordnen (sondern eher dem Viertel, als ‚da im X-viertel, in der Nähe von Y‘) noch überhaupt ein deutlicheres Bild dieser Straße entwickeln. Da diese Arbeit sich mit Vorstellungsbildern, d.h. komplexen Konzepten von Straßen beschäftigt (und nicht mit Konzepten von ortlosen Objekten), wird diese sicher nicht seltene Form der Interpretation in dem DreiEbenen-Schema der strukturellen Perspektivierung nicht berücksichtigt.
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3. Die Straße als Element des übergeordneten Objektsystems Stadt (Stadtelementebene) In dieser Perspektivierung wird die Straße (als Entität) räumlich-topographisch und symbolisch in ihrem übergeordneten stadträumlichen Kontext situiert. Die Straße stellt ein paradigmatisches Element im Syntagma der Stadt dar. Sie ist eine differentielle Einheit, die Straße X steht in Opposition zur Straße Y. 52 Ihre Identität wird definiert durch ihre Lage im Netz der Stadt: die Straße ist (z.B. für den Autofahrer) Verbindungsweg von A nach B; sie ist entweder eine Ausfallstraße, die aus dem Zentrum hinausführt oder eine Ringstraße, die einen Bogen um das Zentrum beschreibt; sie befindet sich an der Stadtperipherie oder im Zentrum. Topographische Lage, Gebrauchsfunktion und symbolische Bedeutung sind häufig eng verknüpft. Wichtige Geschäftsstraßen haben sich oft an den radialen Ausfallstraßen aus dem alten Stadtzentrum entwickelt.53 Straßen können metonymisch für einen Stadtteil (die Bergmannstraße für Kreuzberg 61, die Auguststraße für Mitte) oder für eine ganze Stadt (die ChampsÉlysées für Paris) stehen.
3.4 D IE G ROSSSTADTSTRASSE ALS O BJEKTKOMPLEX : QUALITATIVE P ERSPEKTIVIERUNG UND SYNTAGMATISCHE G LIEDERUNG Exkurs: Betrachte ich einen [Tisch] in einem Zimmer, stellt er sich mir als strukturierte Entität mit einer Vielzahl von Eigenschaften dar. Er kann sehr lang sein (, Kode der Funktion), seine Tischplatte kann zerkratzt sein, er wird (Kode54 der Abnutzung). Er kann z.B. durch seine Materialien wie Glas und Metall für mich ein (Kode der Gestaltung) sein. Der Tisch ist immer ein Ganzes mit einzelnen Bestandteilen, die für mich mehr (die Form der Tischplatte) oder weniger (ein kleiner Kratzer unter der Tischplatte) relevant sein, d.h. zum Zeichen werden können. Hier habe ich die strukturelle Perspektive ‚Tisch als komplexes Objekt‘ gewählt, d.h. ihn als Syntagma mit paradigmatischen Elementen konstituiert, die im Hinblick auf eine bestimmte qualitative Perspektive (oder mehrere) ausgewählt wurden und auch Einfluss auf die Interpretation des Tisches als Ganzes hatten. Wenn ich aber die Perspektive auf das [Zimmer] erweitere, in dem
52 Vgl. auch Kap. 2.4.1 zu Saussures Analogien Stadt – Sprache, Straße – Wort (Saussure 1916/1967: 121). 53 Siehe Kap. 1.8, Einleitung. 54 Zum zugrunde liegenden erweiterten Kodebegriff siehe Kap. 2.2.3.1.
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der Tisch steht, wird dieses zur fokussierten Entität und zum Syntagma, der Tisch wird zum paradigmatischen Element neben anderen. Wenn auch die anderen Möbelstücke Modernität exemplifizieren, dann zeigt sich mir der Raum ; vielleicht stehen auch an dem modernen Tisch alte Stühle und in der Ecke befindet sich ein Bauernschrank: der Raum wirkt (Kode der Wohnungseinrichtung). Neben dem Tisch stehen nur wenige andere Möbelstücke im Zimmer, das Zimmer wirkt auf mich (Kode der Objektdichte). Wenn noch ein Sofa im Raum steht, wird dieser zum , steht dort neben dem Tisch nur noch ein Geschirrschrank, ist es ein (Kode der Funktion). Die möglichen qualitativen Perspektivierungen auf der einen Ebene sind nicht identisch mit denen der übergeordneten, z.B. kann ein Einzelobjekt wie ein Stuhl nicht als oder kodiert werden. Allerdings können Semiotisierungen auf der Objektebene auf die übergeordnete Ebene übertragen werden, wenn anderen paradigmatischen Elementen des Syntagmas ähnliche Eigenschaften und damit ähnliche Inhalte zugeschrieben werden.
In Kapitel 3.2.3 wurde ausgeführt, dass empirische Stadtstraßen in drei verschiedenen strukturellen Perspektivierungen betrachtet werden können. Wenn ein Interpret eine bestimmte strukturelle Perspektive wählt, konstituiert er eine komplexe Entität als Syntagma, mit der Wahl einer qualitativen Perspektive legt er fest, welche Objekte und Objektaspekte er als zeichenhaft betrachtet, d.h. aus welchem Kode (oder aus welchen Kodes) er die paradigmatischen Elemente für dieses Syntagma entnimmt. Der Titel der Arbeit „Die Straße, Dinge und die Zeichen“ impliziert die strukturelle Perspektive, die in der theoretischen Analyse eingenommen wird:55 wenn ich eine Straße als von Objekt-Zeichen angefüllten, oder besser: vom Interpreten mit Objekt-Zeichen angefüllten Raum beschreibe, betrachte ich sie als komplexes Objekt. In diesem Unterkapitel sollen die qualitativen Perspektivierungen betrachtet werden, die in der strukturellen Perspektivierung ‚Straße als Objektkomplex‘ (Objektkomplexebene) möglich sind. Dabei wird keine Liste der möglichen einzelnen Objekte und ihrer zugeschriebenen Bedeutungen verfertigt, sondern eine Typologie dieser paradigmatischen Elemente erstellt, die als erste Grundlage für die Auswertung des Analysekorpus dient. Anschließend sollen mög-
55 Strukturelle Perspektiven können von empirischen Stadtbewohnern als Interpreten eingenommen werden, aber auch der Beobachter zweiter Ordnung muss, abhängig von seinem Forschungsinteresse, entscheiden, welche der strukturellen Perspektivierungen er in das Zentrum der Analyse stellt. Zum Begriff des Beobachters zweiter Ordnung vgl. Luhmann 1999: 1109ff. „Auch ein Beobachter zweiter Ordnung ist immer ein Beobachter erster Ordnung insofern, als er einen anderen Beobachter als sein Objekt herausgreifen muss, um durch ihn […] die Welt zu sehen.“ (Luhmann 1999 : 1117)
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liche syntagmatische Strukturierungen der Straße (auf der materiellen oder mentalen Ebene) kurz beschrieben werden. Zu den grundlegenden Aufgaben jeder wissenschaftlichen Theoriebildung gehört die Typisierung ihres Gegenstandsbereichs. In Kapitel 2.1 und 2.2 wurden bereits mehrere fundamentale typologische Unterscheidungen eingeführt, darunter die Unterscheidung nach Semiosetypen und die Klassifikation von Zeichen nach den bei ihrer Interpretation angewendeten Schlussprozessen (Ikon, Index, Symbol). Diese in der Semiotik allgemein anerkannten und häufig eingesetzten Typologien sind grundsätzlich auf Zeichen jeder Art anwendbar und sollen auch hier zum Tragen kommen. Zusätzlich erfordert jedoch die spezielle Themenstellung dieser Arbeit die Erarbeitung eigener, dem Gegenstand der städtischen Objekte angemessener Typologien. Eine Zeichentypologie, die besonders Artefakte als Zeichen berücksichtigt, wurde z.B. von Umberto Eco erarbeitet (Eco 1973/1977: 42ff). Im Folgenden werde ich ein typologisches System von städtischen Objekten und Zeichen vorschlagen, gegliedert in Aspekte der Ausdrucksebene und Aspekte der Inhaltsebene. Weitere mögliche Klassifizierungen, die ebenfalls in der Korpusanalyse zum Tragen kommen sollen, werden weniger ausführlich dargestellt. Dem Begriff der Atmosphäre als einem Phänomen, das weder eindeutig der Objekt- noch der Bedeutungsseite zugeordnet werden kann, sowie den Leerstellen der Straße sind zwei kurze Exkurse gewidmet. Die qualitative Perspektivierung der Ebene ‚Straße als Element der Stadt‘ wird an dieser Stelle nicht näher in den Blick genommen, auch wenn sie sicher in den meisten Vorstellungsbildern nachzuweisen ist. Zwar enthält der Interviewleitfaden auch Fragen, die sich auf die Stadtelementebene beziehen und diese Aussagen werden selbstverständlich ausgewertet, der Schwerpunkt der theoretischen Analyse und der Modellbildung ist jedoch auf die Objektkomplexebene ausgerichtet. 56
56 Auch auf der Stadtelementebene wäre eine paradigmatisch-syntagmatische Analyse möglich, jedoch wäre hier der Fokus zum Syntagma Stadt verschoben, Straße wäre nur noch paradigmatisches Element. Die Basisebene lässt eine paradigmatisch-syntagmatische Analyse nicht zu, als Analysemodell ggf. geeignet wäre hier z.B. das semiotische Viereck (vgl. Greimas/Courtés 1979/1986: 29ff) oder das semantische Differential (vgl. Osgood/ Suci/Tannenbaum 1957).
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3.4.1 Typologie der potentiell als Zeichenausdruck fungierenden Objekte Ein grundlegendes typologisches Unterscheidungskriterium auf der Ausdrucksebene stellt die intentionale bzw. nicht-intentionale Produktion der Objekte dar. Diese Typologie wird im Detail ausgearbeitet und mit Beispielen illustriert. Ferner werden einige weitere typologische Merkmale der Ausdrucksebene kurz dargestellt. Objekte nach ihrer Produktionsintention Potentiell kann jedes Objekt oder jeder Objektaspekt in einer Straße für einen Interpreten zum Zeichen werden, d.h. als Zeichenausdruck für einen bestimmten Zeicheninhalt fungieren. Bitten wir jedoch einen Stadtbewohner, uns Zeichen der Straße zu nennen, wird die Aufzählung wahrscheinlich nur eine kleine Teilmenge der Straßenobjekte erfassen. Zeichen im Sinne eines Common-Sense-Begriffes sind Verkehrszeichen, Ladenschilder, Straßenschilder und Werbeplakate. Dagegen werden ein Haus, ein Döner-Imbiss, ein Straßenbaum eher selten als Zeichen charakterisiert werden. Offensichtlich gelten im Allgemeinen nur solche Objekte als Zeichen, die ausdrücklich als kommunikative Zeichen, als Signale (im Sinne von Prieto, vgl. Kap. 2.1.2) geschaffen wurden. Die intentionale Produktion eines Objekts als zur Kommunikation dienendes Zeichen stellt in dieser Common-SenseEinstellung das Kriterium für die Unterscheidung von Zeichen und Nicht-Zeichen dar. Auch wenn diese Arbeit einen erweiterten Zeichenbegriff anwendet und die Zeichenhaftigkeit eines Objekts nur an die Bedingung eines vorhandenen Interpretationsprozesses koppelt, also auch Anzeichen nicht nur in die Analyse einschließt, sondern sogar in ihr Zentrum stellt, so muss doch das Intentionalitätskriterium bei der Typisierung von Objekten und Objekten als Zeichen besonders berücksichtigt werden. Im Folgenden werden die potentiell zeichenhaften Objekte der Straße in solche Objekte unterschieden, die intentional hergestellt wurden und solche, bei denen keine intentionale Produktion vorliegt. Diese Typisierung orientiert sich an den von Eco aufgestellten Typologien nach dem Grad der Zeichenspezifität und nach der Intention des Senders (Eco 1973/1977: 42ff), erweitert diese jedoch um die ästhetischen Zeichen und schränkt den Begriff der natürlichen Zeichen stärker ein. A. Intentional hergestellte Objekte Diese Objekte wurden mit einer bestimmten Intention des Produzenten geschaffen. Hervorgehoben werden muss, dass zu dieser Gruppe nicht nur Objekte gehören, die spezifisch als Zeichen, sondern auch solche, die für andere Funktionen geschaffen wurden. Unterschieden wird zwischen Kommunikations-, Gebrauchs- und ästhetischen Objekten. Diese Typisierung bedeutet keine eineindeutige Zuordnung,
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Kommunikationsobjekte und Gebrauchsobjekte können gleichzeitig ästhetische Objekte sein, so kann z.B. Mode von ihren Trägern bewusst als ästhetisches Signal eingesetzt werden, das jedoch gleichzeitig gebrauchspraktisch vor Kälte schützt. In der Analyse soll jeweils von dem dominanten bzw. dem in den Texten herausgehobenen Aspekt ausgegangen werden. Weiterhin wird durch diese Bestimmung noch nichts über die mögliche Empfängerinterpretation ausgesagt. Produzentenintention und Rezipienteninterpretation können durchaus differieren. A1. Kommunikationsobjekte Als Kommunikationsobjekte werden die Objekte bezeichnet, die von Menschen als Kommunikations-Zeichen geschaffen wurden (vgl. Kap. 2.2.2).57 Damit sind es intrinsische Zeichen. Beispiele im städtischen Raum sind Verkehrszeichen, Ladenschilder, Straßenschilder, Werbeplakate und Werbeaufsteller, Haltestellenzeichen.58 Zum Tragen kommen überwiegend arbiträre symbolische, starke Kodes wie der sprachliche Kode oder der Kode der Verkehrszeichen. Daneben finden sich ikonische Kodes, z.B. bei Werbeplakaten, und gestalterische Kodes, wie z.B. bestimmte Typographien bei Ladenschildern. Diese Objekte werden vorwiegend als Signale aufgefasst, einzelne nichtintentionale Aspekte dieser Zeichen können jedoch als Anzeichen interpretiert werden, z.B. kann ein verblasstes Schild zum Anzeichen seines Alter werden (siehe unten Typologie der Inhalte). Urbane KommunikationsZeichen verfügen überwiegend über einfache Ortsindexikalität (s.u. Kap. 3.4.4), Ausnahmen sind u.a. Werbeplakate. A2. Gebrauchsobjekte Dies sind vorrangig für eine bestimmte Gebrauchsfunktion geschaffene Objekte, d.h. Artefakte mit einer Standardfunktion (siehe Kap. 2.2.3.3). Beispiele sind Gebäude, Läden, Restaurants, Straßenmöbel, die Straße selber mit Fahrbahn und Fußweg, Stromkästen, Briefkästen und Bänke. A3. Ästhetische Objekte Dies sind Objekte, bzw. Objektaspekte, die geschaffen wurden, um eine ästhetische Wirkung zu erzielen. Beispiele sind Kunstobjekte wie Skulpturen im Stadtraum, Gebäude mit architekturästhetischem Anspruch (keine Zweckbauten), Grünanlagen oder Objektaspekte wie ornamentaler Stuck. Ästhetische Intention und Gebrauchs57 Der Begriff der Kommunikation wird hier eng gefasst, gebrauchsfunktionale und ästhetische Objekte werden nicht als Kommunikationsobjekte betrachtet. Vgl. dagegen die in Kap. 2.2.2 dargestellte Position von Umberto Eco. 58 Eine differenzierte Typologie urbaner Kommunikations-Zeichen findet sich u.a. bei Kiefer (Kiefer 1970: 17).
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intention oder auch Kommunikationsintention können sich überlagern, z.B. bei architektonischen Objekten. B. Nicht intentional hergestellte Objekte und Objektaspekte (Anzeichenobjekte) Hier handelt es sich um Gegenstände oder Gegenstandsaspekte, an deren Entstehung Menschen entweder nicht beteiligt waren (natürliche Objekte) oder die zwar von Menschen produziert wurden, ohne dass jedoch eine Intention der Herstellung des Gegenstands als Zeichen vorlag (vgl. auch Eco 1976/1987: 39ff). Diese Objekte oder Objektaspekte können für einen Interpreten etwas signifizieren, sie kommunizieren jedoch nicht. Man kann davon ausgehen, dass alle intentional hergestellten Objekte auch über nicht intentionale Aspekte verfügen, dazu gehören u.a. Spuren der Abnutzung und weitere Nebenprodukte der Objektnutzung wie Lärm- und Abgasemission bei Autos etc. B1. Natürliche Phänomene Beispiele für natürliche Phänomenen, die im Stadtraum Bedeutung erlangen können, sind Licht und Schatten, Kälte und Wärme, Wind und das Wetter. Diese wurden Hermann Schmitz unter dem Begriff der Halbdinge zusammengefasst (Schmitz 1978: § 245). Halbdinge unterscheiden sich von materiellen Gegenständen im herkömmlichen Sinne dadurch, dass weder ihr Ort noch ihre Grenzen genau bestimmt werden können.59 Atmosphären (s.u. Kap. 3.4.7) werden u.a. durch Halbdinge erzeugt oder können auch selbst als Halbding aufgefasst werden (Hasse 2002c: 23). Weitere natürliche Objektaspekte sind z.B. jahreszeitliche Phänomene wie die Laubfärbung oder der Laubfall im Herbst. Natürliche Phänomene verweisen häufig auf einen Tages- oder jahreszeitlichen Rhythmus, sie können aber auch ästhetische Kodes aktivieren. Eine nicht eindeutig zu systematisierende Position zwischen intentional und nicht-intentional produzierten Objekten nimmt das Stadtgrün ein. Unter diesem Begriff werden Grünflächen wie Parks und kleinere Grünanlagen, aber auch Straßenbäume, begrünte Innenhöfe und Spielplätze zusammengefasst.60 Hier handelt es sich um naturhafte, aber durch die städtische Grünflächenplanung oder auch in Privatinitiative intentional positionierte Objekte. Sie bzw. ihre Teilelemente können daher einerseits den Gebrauchsobjekten und ästhetischen Objekten zugerechnet werden, unterliegen jedoch als lebende Organismen Prozessen wie Wachstum und Sterben und sind damit auch als natürlich aufzufassen. Straßenbäume und andere 59 Mit einer nicht eng gefassten Prietoschen Definition des materiellen Objekts sind sie jedoch kompatibel. 60 Vgl. z.B. Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin 2010.
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Formen des Stadtgrüns können ferner für Interpreten auch zu Indikatoren für die soziale Identität eines Viertels werden.61 B.2. Nicht-intentional vom Menschen produzierte Objekte oder Objektaspekte Zu dieser Gruppe gehören u.a. die durch Menschen beeinflussten Halbdinge wie Verkehrslärm oder Ruhe und nicht-intentionale Aspekte des Verhaltens der Straßennutzer, wie das nicht-kommunikative Tragen bestimmter Kleidung oder ein spezifischer Habitus.62 Verhalten und Stimmung der Menschen können auch das Entstehen einer freundlichen oder unangenehmen Atmosphäre beeinflussen. Durch Nichthandeln entstandene Objektaspekte wie Vernachlässigung und Ladenleerstand sowie Verschmutzung durch Müll etc. sind ebenfalls dieser Gruppe zuzuordnen. Dem Problem der Leerstellen der Straße und ihrem semiotischen Stellenwert ist ein kurzer Exkurs in Kapitel 3.4.8 gewidmet. Art der Bezugnahme ist hier häufig eine kausale, das Objekt oder ein Objektaspekt verweist indexikalisch auf seine Ursache oder seine Wirkung. Ausgangspunkt möglicher Semiosen ist eine Exemplifikation, der sich weitere Exemplifikationen anschließen können. Weiterhin sind solche Zeichenträger häufig Auslöser von Bewertungen (evaluativer Interpretationen) wie gut oder schlecht, angenehm oder unangenehm etc. Aktuale vs. nicht aktuale Objekte (Typ oder Token) Es wird zwischen den zum Zeitpunkt des Interviews bzw. des Presseartikels existierenden bzw. nicht mehr oder noch nicht existierenden Objekten oder Objektaspekten unterschieden (vgl. oben Kap. 3.2.1). Fixierte, semifixierte, nichtfixierte Objekttypen Diese Klassifikation folgt Rapoports Unterscheidung von fixierten, semifixierten und nichtfixierten Elementen der städtischen Umwelt (Rapoport 1990b: 88ff).63 Fixierte Objekte und Elemente sind alle gebauten architektonischen Strukturen, d.h. die Straße selbst und die angrenzenden Gebäude. Rapoport geht davon aus, dass 61 Laut Appleyard (1981: 66) wird die Bepflanzung mit Straßenbäumen oft als Zeichen für eine bürgerliche Wohngegend angesehen. Vgl. auch Rapoport (1977: 62, 317), der auf die Kulturgebundenheit solcher Urteile hinweist. Siehe ergänzend Kap. 2.3.3. 62 Vgl. Bourdieus Habitusbegriff. Bourdieu definiert den Habitus als System von inkorporierten, dauerhaften und übertragbaren Denk-, Gefühls- und Handlungsdispositionen, welches oft spezifisch für eine soziale Gruppe ist (Bourdieu 1980/1987: 98, 105). 63 Rapoport adaptiert hier Edward T. Halls Typologie des fixierten, semifixierten und informellen Raums (Hall 1966/1976: 107ff).
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diese Objekte und ihre Ordnung besonders in traditionellen Kulturen Bedeutung vermitteln. Fixierte Elemente wie die Architektur eines Mietshauses können nur in geringem Maße an die individuellen Bedürfnisse angepasst werden, sie sind durch Bebauungsplan, Bauordnungen, architektonische Kodes etc. reguliert. Allerdings kann die Wahl einer spezifischen Wohnung in einem spezifischen Haus bereits Lebensstil und sozialen Status der Bewohner signifizieren. Fixierte Objekte werden in der städtischen Umwelt notwendig durch semifixierte Objekte ergänzt. Zu diesen gehören Straßenmöbel, Werbezeichen, Schaufensterauslagen. Im Gegensatz zu den fixierten Objekten können sie schnell verändert und individuellen Erfordernissen angepasst werden. Ihre Ausdruckssubstanz ist wenigstens teilweise weniger reguliert und normiert als die der fixierten Objekte, daher sind sie nach Rapoport in der Lage, auch solche Bedeutungen flexibel zu übermitteln, die sich, wie z.B. sozialkulturelle Inhalte, schnell wandeln. Unter die semifixierten Elemente sollen hier auch Aspekte der Pflege oder Vernachlässigung des Stadtraums (Müll, heruntergekommene Fassaden etc.) gefasst werden. Nichtfixierte Objekte sind zum einen die Nutzer der Straße. Sie können als Personen durch räumliches Verhalten, Mimik, Gestik, Kleidung und weitere Aspekte des Habitus signifizieren oder auch kommunizieren. Weiterhin zählen Verkehrsmittel zu den nichtfixierten Objekten. Temporäre vs. permanente Objekte Nur zu bestimmten Tageszeiten und Perioden im Laufe des Jahres vorhandene Objekte oder Ereignisse und einmalige Ereignisse werden von ständig wahrnehmbaren Objekten unterschieden. Als temporäre Objekte werden auch die von Prieto zeiträumlich genannten Objekte (vgl. Kap. 2.2.2) verstanden. Temporäre Objekte sind u.a. regelmäßig oder unregelmäßig stattfindende Märkte, Feste und andere Veranstaltungen sowie jahreszeitliche Veränderungen des Straßenbildes wie Aufstellung von Tischen und Stühlen auf den Bürgersteigen im Sommer oder Adventsschmuck in den Schaufenstern im Winter. Individuelle Objekte (Objekttoken) vs. Objekttypen Unterschieden wird zwischen genannten Objekttoken und Objekttypen. 3.4.2 Typologie der Inhalte von städtischen Objekt-Zeichen In Kapitel 2.2 haben wir festgestellt, dass der primäre Inhalt von nicht zum Zweck der Kommunikation produzierten materiellen Objekten der Typ ist, mit dem sie kategorisiert werden. Auf die Kommunikations-Zeichen trifft dies nicht zu, primärer Inhalt ist bei diesen ihre sprachliche, graphische oder bildliche Denotation (Signaldenotation, siehe Kap. 2.2.3.2). Neben diesen denotativen, primären Inhalten haben auch sekundäre konnotative Inhalte einen Anteil an der städtischen Bedeutungs-
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konstitution. Konnotative Interpretationen der Inhaltsebene können auf der kategorialen oder der Signaldenotation aufbauen. Ferner können Interpretationen, die auf der Ausdrucksebene (bei einzelnen Ausdrucksaspekten) ansetzen, relativ unabhängig von der denotativen Bedeutung vorgenommen werden. Inhalt umfasst hier sowohl die kontextunabhängige sprachliche bzw. bildliche und kategoriale Denotation als auch die konnotative Bedeutung einschließlich Bewertungen und emotionaler Wirkungen (s. Kap. 2.2.3.2). Städtische Objekte können in der Interpretation einer Vielzahl unterschiedlicher Inhaltsfelder zugeordnet werden, die folgende Aufstellung erhebt daher keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Die Zuordnung eines Objektes zu einem Inhaltsfeld kann nie ausschließlich gedacht werden, da materielle Objekte sowohl polyaspektiv als auch die einzelnen Aspekte polysem sind . Inhaltsfelder werden durch Kodes erschlossen. Wird ein Gegenstand als ästhetisch interpretiert, wird vom Interpreten ein ästhetischer Kode angewendet, ein gebrauchsfunktionaler Inhalt wird durch einen gebrauchsfunktionalen Kode erschlossen. Die genutzten Kodes können von starken Kodes wie dem der natürlichen Sprache (als einem Basiskode) über weniger starke wie den gebrauchsfunktionalen funktionalen Kode bei Artefakten bis zu schwachen enzyklopädischen Kodes (wie dem historischen Kode) und sehr schwachen und subjektiven Kodes wie einem Kode emotionaler Wirkung reichen. Der Kode ist dem Objekt grundsätzlich nicht inhärent64, sondern wird vom Interpreten an es herangetragen. Folgende Inhaltsfelder sollen unterschieden werden: Gebrauchsfunktionale Inhalte Hier handelt es sich um Gebrauchsfunktionen, die die Objekte für die Interpreten potentiell oder faktisch erfüllen. Gebrauchsfunktionale Inhalte sind sowohl die bei der Produktion intendierte und im Objekttyp kodierte Standardfunktion des Artefakts als auch die kontextuellen Funktionen (vgl. Kap. 2.2.3.3).
64 Diese Redeweise wäre nur akzeptabel bei Anwendung auf intrinsische, intentionale Zeichen mit starken Kodes, wie den Verkehrszeichen, jedoch nicht in Bezug auf die polyaspektiven Objekte der Straße.
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Inhalte der sozialen und kulturellen Kategorisierung 65 Mit Hilfe sozialer und kulturbezogener Kodes werden die Objekte der Straße und deren Nutzer nach sozialen und ethnisch-kulturellen Merkmalen eingeordnet und mit Zuschreibungen wie ‚arm‘ oder ‚wohlhabend‘, ‚eigene Kultur‘ oder ‚fremde Kultur‘ , ‚Mehrheits-‘ oder ‚Subkultur‘, ‚Hochkultur‘ oder ‚Alternativkultur‘ belegt. Auch wenn kulturbezogene und soziale Kodes oft ineinander greifen und sowohl kulturelle Interpretationen soziale nach sich ziehen können, als auch soziale Kategorisierungen oft nur relativ zu einem kulturellen Hintergrund geleistet werden können, sollen sie hier und in den Auswertungskategorien doch unterschieden werden. Inhalte des sozialen Zusammenlebens Beschreibungen von sozialen Kontakten im öffentlichen Raum Straße, aber auch von Gefährdungen durch Kriminalität und Gewalt werden diesen Inhalten zugeordnet. Ästhetische Inhalte Als ästhetische Inhalte werden ästhetische Wirkungen von Objekten und Objektkomplexen aufgefasst, (vgl. Kap. 2.2.3.5). Eine ästhetische Wirkung beim Betrach-
65 Bei dem Begriff der Sozialen Kategorisierung handelt es sich um eines der Kernkonzepte der von Henri Tajfel entwickelten Sozialen Identitätstheorie (Social Identity Theory, SIT) (Tajfel/Turner 1986, Mummendey/Otten 2002: 100f). Ausgangspunkt der SIT ist, dass das Selbstkonzept von Personen nicht nur über individuelle Merkmale bestimmt ist (personale Identität), sondern auch über Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe (soziale Identität). In dem von der SIT entworfenen Modell werden vier theoretische Konzepte funktional verknüpft: soziale Kategorisierung, soziale Identität, sozialer Vergleich und soziale Distinktion. Tajfel (1986: 15f) definiert soziale Kategorisierungen als „cognitive tools that segment, classify and order the social environment, and thus enable the individual to undertake many forms of social action“. Von der sozialen Kategorisierung, die sich an objektiven oder nur angenommenen Merkmalen des sozialen Status orientiert, soll analog die kulturelle Kategorisierung unterschieden werden, die nach Merkmalen der Zugehörigkeit zu einer Kultur bzw. Ethnie klassifiziert. Angenommen wird, dass nicht nur konkrete Individuen sozialen bzw. ethnisch-kulturellen Kategorien zugeordnet werden, sondern auch die von ihnen genutzte Umwelt und Artefakte. „Jede soziale Identität ist nicht nur interpersonal-interaktiv eingebunden, sie ist immer auch ortsbezogen und dingbezogen.“ (Graumann 1999: 64)
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ter kann sich auch einstellen, wenn das Objekt nicht zu einem ästhetischen Zweck produziert wurde. 66 Regulierende Inhalte Den regulierenden Inhalten zugeordnet werden beispielsweise die Inhalte von Verkehrszeichen und sonstigen Gebots- oder Verbotszeichen, die die Nutzung von privaten Grundstücken regeln und die Grenze zum öffentlichen Raum markieren (wie ‚Privat‘, ‚Durchgang verboten‘, ‚Keine Hunde‘ etc.) Grundlage dieser Inhalte sind Gesetze, Verordnungen und Verwaltungsvorschriften, also regulierende Kodes. Es handelt sich hier um intrinsische, symbolische Zeichen und KommunikationsZeichen. Auch Hausmauern, Türen, Toren etc. kommen regulierende Funktionen als materielle Grenzziehungen zwischen privatem und öffentlichem Raum zu, sie symbolisieren ihre Inhalte jedoch nicht, sondern exemplifizieren als Index. Orientierende Inhalte Orientierende Inhalte werden vermittelt durch Straßenschilder, Wegweiser, Ladenschilder und Haltestellenzeichen, aber auch durch Uhren und Fahrpläne (zeitliche Orientierung) etc. Diese Zeichen kommunizieren Ortsnamen und Benennungen städtischer Objekte, zeigen Orte, Richtungen und Zeitpunkte an. Es handelt sich überwiegend um Kommunikations-Zeichen, jedoch können auch visuell saliente Objekt-Zeichen zu Merkzeichen werden, die die Orientierung in der Stadt erleichtern (siehe Kap. 2.3.3). Vgl. auch unten Kap. 3.4.4 zur Ortsindexikalität. Werbeinhalte Plakate, Leuchtreklamen, Lichtkästen, Schaufensterdekorationen, Beschilderungen67 etc. werben für Produkte, Dienstleistungen und kommerzielle oder nichtkommerzielle Unternehmen. Historische Inhalte Objekten der Straße oder der Straße in ihrer Gesamtheit werden historische Inhalte zugesprochen, wenn ihre historische Entstehung und Entwicklung thematisiert wird. 66 Vgl. z.B. August Endells zuerst 1908 erschienenen Essay „Die Schönheit der großen Stadt“ , in dem Endell die „landschaftliche Schönheit“ Berlins beschwört: die mit Licht, Schatten und Dunst täglich wechselnden Eindrücke der Straße vor seinem Haus, die „Wucht, die Leidenschaft“ der eisernen Brücke der Stettiner Bahn, die einsetzende Dämmerung am Bahnhof Friedrichstraße, wenn sich in den Fenstern der umgebenden Häuser das letzte Abendlicht spiegelt (Endell 1908/1984: 38ff), vgl. auch 3.4.1, B.1 zu den Halbdingen und 3.4.3. 67 Ladenschilder erfüllen sowohl orientierende als auch werbende Funktionen.
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Interpretationen können sich auf die einfache Opposition alt vs. neu beschränken, oder bei entsprechend spezialisiertem Weltwissen zu sehr differenzierten Unterscheidungen führen (‚später Jugendstil‘, ‚50er-Jahre-Bau‘ etc.). Naturbezogene Inhalte Naturbezogene Inhalte werden bei der Interpretation natürlicher Phänomene konstituiert, die selbstverständlich in allen Umwelten anzutreffen sind (siehe Kap. 3.4.1). So kann die Belaubung der Bäume für einen Interpreten auf die Jahreszeiten verweisen, die Wolken auf Regen, die niedrig stehende Sonne auf den Abend. Emotional-evaluative Inhalte Diese äußern sich in Bewertungen städtischer Objekte und verbinden sie mit emotionalen Zuständen wie Gefallen und Ablehnung. Die Interpretationen können in einem Positiv-Negativ-Spektrum (euphorisch – dysphorisch) dargestellt werden. In der Interpretation können evaluative Kodes mit ästhetischen Kodes (Wertung eines Phänomens als schön oder hässlich), gebrauchsfunktionalen Kodes (Wertung eines Objekts als praktisch oder unpraktisch), Kodes der sozialen Kategorisierung (Wertung bestimmter Phänomene als sozial erstrebenswert oder sozial nicht erstrebenswert) verschränkt werden. Zu emotional-evaluativen Aspekte von Umweltvorstellungen s.a. oben Kap. 2.3.3. 3.4.3 Weitere Typisierungen Eine weitere mögliche Typisierung betrifft die Relationen zwischen Zeichenausdruck und Zeicheninhalt der Objekt-Zeichen. Als ein Kriterium ist hier die Motiviertheit des Inhalts zu nennen: Werden Ausdruck und Inhalt im Interpretationsprozess durch Anwendung einer Konvention einander zugeordnet, handelt es sich um ein Symbol, werden Ausdruck und Inhalt als einander ähnlich bestimmt, um ein Ikon, oder wird zwischen Ausdruck und Inhalt eine Kausalität hergestellt, um einen Index (s. Kap. 2.2.3.1). Ferner wird die jeweilige Sinnesmodalität der Wahrnehmung als Unterscheidungskriterium herangezogen. 3.4.4 Wie signifizieren Straßen-Objekte? Exemplifikation und Ortsindexikalität Wie für materielle Objekte allgemein (vgl. Kap. 2.2.3.3) gilt auch für Stadträume und viele ihrer Objekte, dass zu ihren denotativen Bedeutungen (Typ, Inhalt als kommunikative Botschaft) exemplifizierende Inhalte hinzutreten. Straßen und ihre Elemente exemplifizieren für die Interpreten Eigenschaften, die sie (als Token) selbst besitzen, wie Lebendigkeit, Tristesse, Helligkeit, Lärmbelastung, Multikultu-
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ralität, Eleganz etc. Weiterhin exemplifizieren sie ihre Gebrauchsfunktion (über ihre Objekttypen).68 Allgemein ist die Semiotizität der nicht kommunikativen Objekte und Objektaspekte der Straße in beträchtlichem Maße sowohl an ihre Materialität und als auch ihren materiellen Kotext gebunden. Dies unterscheidet sie von sprachlichen oder bildhaften Ausdrücken: während diese oft verwendet werden, um auf mit diesen Ausdrücken nicht kopräsente Tatbestände der Welt zu referieren, ist solch ein Gebrauch von Objekt-Zeichen nur in sehr eingeschränktem Maße möglich. In Kapitel 2.2.4.3 wurde bereits darauf hingewiesen, dass Objekt-Zeichen anders als sprachliche Zeichen auch indexikalisch auf das Syntagma, dessen Element sie sind, verweisen können; sie können zum Zeichen für ihren Kotext werden. Diese spezifische Form der semiotischen Bezugnahme soll Ortsindexikalität heißen. Ortsindexikalität bezeichnet den stabilen indexikalischen Bezug des Inhalts von städtischen Kommunikations- und Objekt-Zeichen auf ihren städtischen Kotext für einen Interpreten.69 Ortsindexikalische Zeichen und Zeichenkomplexe sind 68 Goodmans Unterscheidung zwischen Exemplifikation als buchstäblicher Bezugnahme und Ausdruck als metaphorischer Bezugnahme soll hier nicht übernommen werden. Zum einen können Eigenschaften wie Lebendigkeit sowohl buchstäblich als auch metaphorisch aufgefasst werden, zum anderen impliziert der Begriff des ‚Ausdrucks‘ eine ästhetische Einstellung des Interpreten (Goodman/Elgin 1988/1989: 37), die auch ohne die Verwendung des Terminus ‚Ausdruck‘ thematisiert werden kann. Goodman räumt selber ein, dass die Unterscheidung zwischen Exemplifikation und Ausdruck weniger wichtig ist als „die Anerkennung der buchstäblichen Exemplifikation als einer bedeutenden Spielart der Bezugnahme, insbesondere in der Architektur“ (Goodman/Elgin 1988/1989: 60). 69 Das hier als Ortsindexikalität bezeichnete Phänomen hat – trotz seiner Omnipräsenz im Alltag – in der semiotischen Literatur bisher nur kursorische Erwähnung gefunden. Zu nennen ist der ähnlich gefasste Begriff der Toposensibilität bei Eco (Eco 1976/1987: 247ff). Bei den toposensiblen Zeichen wird die Natur der räumlichen Koordinaten auf der Ausdrucksebene motiviert durch die Natur der räumlichen Koordinaten auf der Inhaltsebene (Eco 1976/1987: 249). Allerdings schränkt Eco den Begriff auf eine Bewegung oder Abfolge anzeigende „vektorielle“ Zeichen wie den zeigenden Finger und den Richtungspfeil bei Verkehrszeichen ein, ein Stopp-Zeichen ist für ihn nicht toposensibel (Eco 1976/1987: 248). Seine Argumentation scheint hier nicht stringent. – Karl Bühler widmet der „dinglichen Anheftung“ eines Namens oder auch eines nichtsprachlichen Phänomens an ein konkretes Objekt in seiner „Sprachtheorie“ einen längeren Absatz. Diese künstlich angebrachten Marken bzw. natürlichen Male, die in „symphysischer“ Beziehung zu dem Objekt stehen, sind für ihn von besonderem sprachtheoretischen Interesse (Bühler 1934/1982: 159f). Allerdings sollten die Begriffe Marke oder Mal nicht
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charakterisiert durch unterschiedlich ausgeprägte räumliche Kopräsenz von Ausdrucksexemplar und verknüpftem Inhaltsexemplar. Sie unterscheiden sich damit von der Mehrzahl der sprachlichen (und besonders schriftlichen) Zeichenkomplexe. So verweist beispielsweise der Satz „Langsam durch belebte Straßen zu gehen, ist ein besonderes Vergnügen“ aus Franz Hessels „Ein Flaneur in Berlin“ (Hessel 1929/1984: 7) nicht auf den materiellen Kotext des Satzes, d.h. die Buchseite, das gesamte Buch oder den Ort des Buches, sondern auf vom Ort des typographischen Satzes vollkommen unabhängige Sachverhalte (das Gehen in Straßen, der Ort ist wahrscheinlich Berlin). Während in dem Buchtext Signifikationsort und signifizierter Ort70 also unabhängig voneinander sind, stehen sie bei den ortsindexikalischen Zeichen in einer engen räumlichen Beziehung. Das Merkmal der Ortsindexikalität bei städtischen Objekten ist verknüpft mit den Ausdrucksmerkmalen Immobilität und Permanenz. Ortsindexikalische Zeichen denotieren oder exemplifizieren einen Inhalt (die Schrift auf dem Ladenschild de-
für jegliche Merkmale eines Objektes, sondern nur für „sinnlich leicht isolierbare Sonderzeichen“ verwendet werden (Bühler 1934/1982: 160). – In vergleichbarer Weise klassifiziert Gerhard Braun in seiner Typologie möglicher Verbindungen zwischen Zeichen (bei ihm nur als intentionale Zeichen verstanden) und Objekten (Braun 1981: 153, 163) intentionale ortsindexikalischen Zeichen als einen Untertyp der Zeigzeichen, „das Zeigen wird durch die konkrete Nähe eines Zeichens mit dem zu bezeichnenden Gegenstand impliziert“ (Braun 1981: 163). – Bense beschreibt dieses Phänomen als Einverleibung der materiellen Umwelt durch die städtischen Zeichen; Zeichenträger und Ort werden Teil des Kontexts der Zeichen. „Die Straße demonstriert die angezeigte Richtung selbst; das Verhalten ist eine Entscheidung, durch welche die Bewegung dirigiert wird, und Straße, Richtungsweiser, Entscheidung und Bewegung bilden den Kontext. Aber der Kontext ist zugleich auch Kommunikationskanal seines Index.“ (Bense 1968/1971: 101) – Roland Harweg schlägt den Begriff der „Dauer-Deixis“ zur Beschreibung der Deixis von Beschriftungen, also intentionalen Symbolen (im peirceschen Sinne) vor. Im Unterschied zu der Aktdeixis der Sprechakte und augenblicksbezogenen Schreibakte (Briefe, Zeitungsnachrichten) handele es bei Beschriftungen um Resultatsdeixis. Die Deixis bezieht sich hier nicht auf Ort, Zeit und Person des Sprech- bzw. Schreibakts, sondern auf Ort und Zeit der Beschriftung (als Resultat eines Akts) (Harweg 1979). – Der Begriff der direkten Ortsindexikalität entspricht weiterhin ungefähr dem von J.D. Johansen (Johansen/Larsen 2002: 35f) eingeführten Begriff der Designation als Subtyp des indexikalischen Zeichens. Zur ortsbezogenen und nicht-ortsbezogenen Indexikalität von Inschriften als kommunikativen Zeichen siehe auch Wienold 1995. 70 Zur Unterscheidung zwischen Signifikationsort und signifiziertem Ort in einem Zeichenprozess vgl. Morris 1946/1973: 201f.
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notiert z.B. einen Namen) und beziehen diesen Inhalt auf den Ort des Zeichens oder seine nähere oder weitere raumzeitliche Umgebung, den Kotext.71 Es werden 3 Typen unterschieden: 1. die einfache Ortsindexikalität: Die einfache Ortsindexikalität ist überwiegend intentional produziert, ihre Basis sind Kommunikationsobjekte (intentionale Zeichen wie Ladenschilder, Straßenschilder, Verkehrszeichen). Ausdrucksexemplar und Referenzobjekt stehen in sehr engem, in einem Wahrnehmungsakt überblickbaren materiell-räumlichen Zusammenhang, oft ist der Signifikant dem Signifikat direkt ‚angeheftet‘. Ein Ladenschild nennt Namen des Eigentümers und Typ des jeweiligen Geschäfts, ein Straßenschild denotiert den Straßennamen und zeigt den Verlauf der Straße an, ein Verkehrszeichen denotiert für eine bestimmte Straßenkreuzung, die Backwaren in einem Schaufenster weisen exemplifizierend darauf hin, dass hier eine Bäckerei ist.72 Der Signifikationsort entspricht ungefähr dem signifizierten Ort.73 Objekte mit einfacher Ortsindexikalität sind normalerweise nicht charakteristisch für einen Stadtraum, sie besitzen keine erhöhte Relevanz in Bezug auf das Gesamtbild. So handelt es sich bei Verkehrszeichen und Bushaltestellen nicht um individuelle Zeichen, sie kommen tausendfach auch in anderen
71 Aus einer pragmatischen Sicht verweist prinzipiell jedes materielle Objekt auf seinen raumzeitlichen Ort, dieser Bezug ist bei nicht beweglichen (bzw. überwiegend nicht bewegten) Objekten stärker als bei mobilen. Der besondere Charakter der ortsindexikalischen Zeichen (als Objekt- oder Kommunikations-Zeichen) besteht darin, dass sie nicht nur in ihrer Ausdruckssubstanz auf den Ort verweisen (im Sinne von: ), sondern ihre denotative oder exemplifizierende Inhaltssubstanz auf den spezifischen Ort bezogen ist () und/oder der Raum, auf den sie Bezug nehmen, eine größere Ausdehnung hat als derjenige, den sie als materielles Objekt einnehmen (z.B. Bushaltestelle, Verkehrszeichen). 72 Eine gestaltete Schaufenster- oder Straßenauslage soll hier auch als komplexes ortsindexikalisches Kommunikations-Zeichen aufgefasst werden, auch wenn es sich bei ihren Einzelelementen, wie z.B. Früchten und Gemüse, nicht um Kommunikations-Zeichen handelt. 73 Der Interpretationsspielraum für einen Interpreten ist hier gering. Schilder etc. werden üblicherweise als auf den jeweiligen Ort der Anbringung bezogen verstanden, beim Herstellen dieser Bezüge spielen wahrscheinlich sowohl generelle Wahrnehmungserfahrungen als auch Kenntnisse von Konventionen eine Rolle.
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Straßen vor.74 Schilder von Arzt- und Rechtsanwaltspraxen sind zwar singuläre Zeichen, kommen als Typ ‚Praxisschild‘ jedoch mehrfach vor. Werbeplakate verfügen nur über eine kurze Permanenz75 und sind ebenfalls keine individuellen Objekte.76 Nur in Ausnahmefällen, wie bei besonders visuell salienten Objekten (z.B. der vielfach abgebildeten, charakteristischen Leuchtreklame des Piccadilly Circus in London) sind Objekte mit ursprünglich einfacher Ortsindexikalität als Elemente stadträumlicher Vorstellungen zu erwarten. 2. die stadträumliche Ortsindexikalität: die Grundmerkmale der Ortsindexikalität bleiben erhalten, jedoch ist hier der Ortsbezug meist auf einen größeren städtischen Kotext erweitert. Hier ist der indexikalische Bezug nicht intentional hergestellt, sondern nur vom Rezipienten, d.h. als Anzeichen interpretiert. Basis sind nicht Kommunikationsobjekte oder wenigstens nicht ihre denotativen Aspekte, vielmehr bildet häufig die Ausdruckssubstanz, d.h. einzelne Objektaspekte die Grundlage der Interpretation. Bedeutungsübertragungen bauen überwiegend auf Ketten von exemplifikatorischen Relationen auf. Eine heruntergekommene Hausfassade steht evtl. für geringe Mieten und damit Armut der Bewohner und darüber hinaus für die soziale Lage eines Quartiers, die Lebhaftigkeit einer Straße vielleicht für das gesamte Stadtzentrum.77 Auch Objekttypen können zu Zeichenausdrücken werden, so können z.B. Imbissläden als Cluster ortsindexikalisch wirken (als charakteristisch für einen Straßenabschnitt oder im Vergleich zu anderen Straßen). Der Signifikationsort ist Element des 74 Allerdings entwickelte sich z.B. die erste, 1924 errichtete Verkehrsampel Berlins am Potsdamer Platz auf Grund ihres damals noch vorhandenen Neuheitswerts und ihrer Einzigartigkeit rasch zu einem Wahrzeichen. 75 Auch wenn die Mehrzahl der Werbeflächen noch statisch ist, so hat die Werbung selbst mit dem Einzug digitaler Technologien einen zunehmend temporären und fluiden Charakter erhalten. An Infoscreens (z.B. auf U-Bahnhöfen) oder Videoboards in den Geschäftsstraßen der Stadt wechselt die Werbung im Minutenrhythmus, während klassische Werbeplakate nur alle zehn bis elf Tage ausgetauscht werden. Aber auch die Werbeflächen selber werden mobil, als Folie auf Bussen, Taxis und Bahnen oder in den öffentlichen Verkehrsmitteln selber als elektronische Monitore (vgl. z.B. die Website des Fachverbands Außenwerbung: http://www.faw-ev.de/de/faw/out-of-home-medien/index. html [28.12.2011]). 76 Dagegen kommt den allerdings immer mehr aus dem Straßenbild verschwindenden freistehenden Schaukästen, die als aus dem räumlichen Kontext des Geschäfts gelöste Schaufenster fungieren, sicher stärkere Individualität zu. 77 Offensichtlich handelt es sich hier um unterschiedliche Formen der Bezugnahme, eine Feinanalyse soll jedoch nicht vorgenommen werden.
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räumlich ausgedehnteren signifizierten Ortes. Neben diesen relativ einfach darstellbaren, exemplifikatorischen (und damit immer motivierten) metonymischen Übertragungen von Ausdrucks- oder Inhaltsaspekten einzelner oder weniger Objekte auf einen weiteren räumlichen Kotext78 sollen auch solche Relationen als stadträumlich ortsindexikalisch beschrieben werden, bei denen die Verbindung Objekt – Straße durch die mit diesen Objekten verknüpften Akteure hergestellt wird. Als Beispiel genannt sei ein Unternehmen (als Objekt), dessen Mitarbeiter als Kunden der lokalen Gastronomie für den Erhalt der ökonomischen Stabilität der Straße stehen können oder ein Restaurant, dessen Betreiber auch in lokalen Initiativen aktiv ist. Von den drei Formen des Ortsindexikalischen ist die stadträumliche Ortsindexikalität dem am nächsten, was Barthes als „Ausdehnung des Sinns“ bezeichnet hat: einzelne Objekte erweitern ihre Inhaltssphäre auf das ihnen übergeordnete Syntagma (Barthes 1964/1988: 194f, s.o. Kap. 2.2.2). 3. die konventionalisierte Ortsindexikalität: auch hier ist der Ortsbezug auf einen größeren Raum erweitert. Das ganze Objekt (und nicht nur einzelne seiner Aspekte) als Zeichenausdruck exemplifiziert seinen Ort (der Eiffelturm steht für Paris79), dabei tritt der spezifische Inhalt (z.B. eine Gebrauchsfunktion) in den Hintergrund, ohne dabei jedoch gänzlich unwichtig zu werden. Wesentlich ist, dass der Inhalt und/oder Ausdruck gegenüber anderen Inhalten bzw. Ausdrücken des Kotexts in gewisser Weise herausgehoben ist. Im Fall der konventionalisierten Ortsindexikalität ist die Beziehung zwischen dem Objekt-Zeichen (als Ausdruck) und dem übergeordneten räumlichen Objekt (als Inhalt) nicht nur eine der direkten, indexikalischen räumlichen Kontiguität, sondern zusätzlich in einer größeren Gruppe sozial kodiert und die Relation auf diese Weise stabilisiert. Die metonymische Übertragung ist konventionalisiert. Während jedes in irgendeiner Weise ortsindexikalische Objekt der Straße qua Definition seinen Inhalt auf seinen Ort bezieht, kann die Straße selbst (oder ein größerer Abschnitt bzw. ein anderer größerer städtischer Raum) zwar potentiell ebenfalls durch jedes Objekt exemplifiziert werde. Anzunehmen ist jedoch, dass eine inter78 An den „Nicht-Orten“, wie sie Marc Augé beschreibt (Augé 1992/1994), in den Verkehrsmitteln, Flughäfen, Bahnhöfen, großen Hotelketten, Freizeitparks, Einkaufszentren, ist die räumliche Ortsindexikalität stark reduziert. Wenn man sprachliche Zeichen nicht berücksichtigt, lässt sich z.B. auf internationalen Großflughäfen oft nur noch an der Art der zum Kauf angebotenen ‚landestypischen‘ Souvenirs (die dann nur noch über konventionalisierte Ortsindexikalität verfügen) ablesen, in welchem Teil der Welt man sich gerade befindet. 79 Vgl. Barthes/Martin 1964/1970: 77: „Der Eiffelturm ist durch Metonymie Paris geworden“.
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subjektive konventionalisierte Ortsindexikalität80 eines Objekts nur dann nachgewiesen werden kann, wenn das Ausdrucksmerkmal Individualität stark ausgeprägt ist und zudem eine erhöhte visuelle und ggf. auch funktionale Salienz81 vorliegt. Es handelt sich hier um notwendige, jedoch nicht um hinreichende Merkmale; ihr Vorhandensein führt nicht automatisch zu einer Konventionalisierung der ortsindexikalischen Beziehung, die auch in Fremdimages ihren Niederschlag findet. Eine präzise Unterscheidung zwischen stadträumlicher und konventionalisierter Ortsindexikalität ist oft nicht möglich. Zu fragen wäre, ob nur solchen Objekten bzw. Nutzungen konventionalisierte Ortsindexikalität zugeschrieben sollte, die auch als Elemente in der Mehrzahl der Fremdimages des Stadtraums nachzuweisen sind. Bei der Analyse des Untersuchungskorpus in Kapitel. 4 werden auch solche Objekte als konventionalisiert ortsindexikalisch klassifiziert, die in den Interviews von mindestens der Hälfte der Befragten als Elemente ihrer Vorstellungen genannt wurden. Ferner können bestimmte Objekte mit stadträumlicher Ortsindexikalität wie charakteristische Gewerbecluster z.B. durch Stadtmarketingstrategien konventionalisiert und zu Imageelementen werden. Ein Beispiel dafür ist die Vermarktung des Gebiets Potsdamer Straße als Medienstandort (siehe Kap. 4.3.7.3).
80 Während die einfache und in geringerem Maße auch noch die stadträumliche Ortsindexikalität sich aus der grundlegenden Indexikalität von Wahrnehmung und Interpretation erklärt, liegen hier stärkere konventionelle Anteile vor. Indexikalisch mit dem Ort verknüpft ist hier primär der Zeichenausdruck, im Gegensatz zur einfachen und stadträumlichen Ortsindexikalität muss keine weitere direkte Verknüpfung von Zeicheninhalt und Ort vorliegen. So ist z.B. für die Siegessäule in Berlin wohl nur wenigen derer, die sie als Berliner Wahrzeichen sehen, ihre ursprüngliche (außerdem nicht berlinbezogene) Funktion als Denkmal der ‚Einigungskriege‘ im 19. Jahrhundert bekannt. Allerdings zeichnet sich die Siegessäule wie viele andere Wahrzeichen durch hohe visuelle Salienz aus, sie ist eine von weitem sichtbare Landmarke. 81 Der zusätzliche Parameter der Salienz muss hier eingeführt werden, um z.B. sehr kleine oder aus anderen Gründen schwer wahrnehmbare Objekte aus dem Kreis der möglichen konventionalisierten ortsindexikalischen Zeichen auszuschließen.
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3.4.5 Zur praktischen, symbolischen und sensorischen Relevanz städtischer Objekte In Kapitel 3.2 wurde postuliert, dass die in stadträumlichen Vorstellungen genannten Elemente die für den Interpreten jeweils relevanten und damit auch zeichenhaften sind.82 Unterscheiden möchte ich im Folgenden zwischen drei Relevanzformen, der sensorischen, praktischen und symbolischen Relevanz: 83 •
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Als sensorische Relevanz wird eine deutlich erhöhte perzeptuelle Salienz eines Objekts in Relation zu den anderen in den Vorstellungen genannten Objekten bezeichnet.84 Sensorische Relevanz bezieht sich zunächst nur auf die Ausdruckssubstanz des Objekts. Diese Form der Relevanz kann durch Größe, Position im Stadtraum etc. besonders markanten Bauwerken zukommen, welche dann zu Orientierungspunkten und Merkzeichen werden können (siehe Kap. 2.3.3). Sensorische Relevanz kann jedoch nicht nur ein Gesamtobjekt, sondern auch einzelne Objektaspekte auszeichnen. Die sensorisch herausgehobenen Ausdrucksaspekte können wiederum semiotisiert werden, weitere Interpretationen sind meist konnotativer Art (im Sinne einer symbolischen Relevanz). Auch die ästhetische Urteile auslösenden Objekte oder Objektaspekte werden hier als sensorisch relevant betrachtet. Als praktisch relevant verstehe ich Objekte mit Gebrauchsfunktionen (als Standardfunktionen, siehe Kap. 2.2.3.3), welche für die Befragten oder mög-
82 Zum Relevanzbegriff vgl. Kap. 2.1.und 2.2. Sowohl Relevanz als auch Wichtigkeit etc. sind im Folgenden neutral zu verstehen: Auch ein negativ gewertetes Element kann durchaus relevant sein. 83 Vgl. auch die Unterscheidung von drei Relevanzformen, der thematischen Relevanz, der Interpretationsrelevanz und der Motivationsrelevanz aus einer phänomenologischen Sicht bei Alfred Schütz (Schütz 1970/1971: 50-86, 104ff). Eine weitere theoretische Vertiefung der Systematisierung der Relevanzformen und ihrer Interdependenz auf der Basis von Schütz’ Relevanztheorie wäre sicher lohnenswert, kann in diesem Rahmen aber nicht geleistet werden. In einer sehr vergröbernden Betrachtung kann die sensorische Relevanz mit Schütz’ thematischer Relevanz, die symbolische mit Schütz’ Auslegungsrelevanz und die praktische mit Schütz’ Motivationsrelevanz parallelisiert werden. 84 Eine relativ erhöhte sensorische Relevanz eines Objekts im Vergleich zu anderen Objekten des materiellen Kotextes ist natürlich fast immer Grundvoraussetzung der Aufmerksamkeit auf ein Objekt. Als sensorisch relevant sollen hier jedoch ausdrücklich nicht alle in den Korpustexten beschriebenen Objekte aufgefasst werden, sondern nur solche mit deutlich erhöhter Salienz gegenüber anderen genannten Objekten.
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liche andere Nutzer jeweils interessenbezogen „wichtig“ sind, da sie es ermöglichen, eine Handlung durchzuführen und ein Handlungsziel zu erreichen. Symbolische Relevanz kann Objekte oder Objektsaspekte auszeichnen, die konnotativ auf Tatbestände jenseits der praktischen Funktion verweisen, dies können sozial-kulturelle oder historische Bedeutungen sein.85
Die Begriffe der praktischen und symbolischen Relevanz beziehen sich auf einen Inhalt (als Inhaltssubstanz), der einem Ausdruck (als Ausdruckssubstanz) zugewiesen wird, während sensorische Relevanz nur durch die Ausdruckssubstanz motiviert ist. Praktische, symbolische und sensorische Relevanz sind nicht nur betrachterbedingt, sondern auch kotextabhängig und somit immer als relevant vor einem spezifischen Hintergrund zu verstehen. Ferner kann auch eine Interdependenz der verschiedenen Relevanzformen angenommen werden: so können Einzelobjekte mit überlokaler praktischer Relevanz auch symbolisch relevant werden. Relevant wird ein Element nicht allein wegen seines zugeschriebenen Inhalts, sondern auch durch Bezug dieses Inhalts auf die Straße oder, allgemeiner, den städtischen Kotext (zum Begriff der Ortsindexikalität s.o. Kap. 3.4.4). Vermutet wird, dass Objekte mit stadträumlicher oder auch konventionalisierter Ortsindexikalität durch den Rückbezug ihrer Bedeutungen auf den Ort über erhöhte Relevanz verfügen und daher in den Vorstellungsbildern häufiger genannt werden. Besonders die stadträumliche Ortsindexikalität wird überwiegend durch konnotative Inhalte hergestellt, d.h. die betreffenden Objekte werden symbolisch relevant. Diese Annahmen werden in der Analyse des Textkorpus in Kapitel 4 überprüft. Mögliche Relationen zwischen Relevanz und Ortsindexikalität werden in Abbildung 5 dargestellt.
85 Kontextuelle Funktionen (siehe Kap. 2.2.3.3) werden ebenfalls als symbolisch aufgefasst.
Abbildung 5: Mögliche Relationen zwischen Relevanzsetzung und Ortsindexikalität
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3.4.6 Die Straße als Syntagma Werden konkrete Stadtstraßen interpretativ als strukturierte Einheiten erkannt? Werden sie als strukturierte Einheiten in umfassenden Planungsprozessen oder in schrittweisem Wandel materiell produziert?86 Diese Frage wurde in Kapitel 2.2.4 aus einer knappen theoretischen Überlegung heraus bereits positiv beantwortet. In welcher Weise die Konstitution von Straßen als Syntagmen, die Bildung von Subsyntagmen und die Einordnung von Straßen in das übergeordnete Syntagma der Stadt konzipiert werden kann, wird hier kurz dargestellt.87 Geht man von der primären visuellen Wahrnehmung aus, wird eine Straße zuallererst durch das Band des Verkehrsweges und durch die den Verkehrsweg säumende Randbebauung als linearer, jedoch ihrer Längenausdehnung nach vorerst nicht deutlich begrenzter Raum konstituiert. Sind dem Nutzer der Straßenname sowie die Namen der in die Straße mündenden und der weiterführenden Straßen bekannt,88 wird in der Vorstellung ein Anfang und ein Ende der Straße X bestimmt.89 Bei Sackgassen ist eine Begrenzung auch baulich gegeben, ferner können Formänderungen wie Veränderung der Bebauungsstruktur, des Alters der Bebauung oder eine Verengung des Straßenquerschnitts auf eine Grenze der Straße X hinweisen. Manche historische Straßennamen verweisen auf (ehemals) in dieser Straße angesiedelte Funktionen wie z.B. mittelalterliche Zünfte. Da diese Funktionen überwiegend nicht mehr erhalten sind, können allerdings Funktions- und nominale Grenzen nicht mehr parallelisiert werden. Elemente der syntagmatischen Kette sind die den Straßenraum seitlich begrenzenden Objekte (Gebäude, Grünanlegen) und deren weitere Subelemente wie Geschäfte, Hauseingänge, Fassadenelemente etc. Die über dem Erdgeschoss ge-
86 Sicher können auch bei Landstraßen syntaktische Gliederungen nachgewiesen werden (Ortsdurchfahrten, Gliederungen durch Einmündungen, Kurven etc.), diese sind jedoch weniger dicht gestaffelt und weniger eindeutig. Zu fragen wäre auch, ob und in welcher Weise Landstraßen überhaupt als Einheiten konzipiert werden, man also Syntagmengrenzen festlegen könnte. 87 Literatur zur spezifischen kognitiven Strukturierung von Stadtstraßen ist rar, verwiesen sei auf Lynch 1960/1975: 63ff und Rapoport 1977: 149ff zur subjektiven Gliederung von städtischen Räumen allgemein. 88 Üblicherweise ändern Straßen nur an Straßenkreuzungen bzw. Einmündungen ihren Namen. 89 Zur Herstellung von Identität und Kontinuität durch Straßennamen siehe Lynch 1960/1975: 68.
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legenen Etagen intensivieren den Eindruck eines geschlossenen Raumes90 und wirken in Fassadengestaltung und -zustand als Ganzes, werden aber weniger in ihren Einzelelementen wahrgenommen (Rapoport 1990a: 282). Die Straße wird in der Bewegung horizontal, in der Ebene erfahren, die dritte Dimension ist für den sich im Straßenraum Bewegenden nicht taktil-motorisch, sondern nur visuell (und in seltenen Fällen auditiv) wahrnehmbar. Subsyntagmen einer Großstadtstraße sind ebenfalls baulich-materiell oder funktionell definiert. Einerseits werden Abschnitte materiell voneinander durch Teilungslinien wie Querstraßen, Eisenbahnlinien, Kanäle und Brücken, durch Plätze als Straßenerweiterungen, deutliche Krümmungen oder durch singuläre besonders markante Elemente (Merkzeichen), die als Grenzen wirken, negativ getrennt, andererseits Abschnitte als Bereiche positiv konstituiert (s. Kap. 2.3.3 zu den von Lynch beschriebenen Strukturelementen von Stadtbildern). Die Elemente dieser positiv konstituierten Subsyntagmen weisen gemeinsame Merkmale auf der Ausdrucksoder Inhaltsseite auf, sie werden als Äquivalenzreihen wahrgenommen (siehe Kap. 2.2.4.1). Gemeinsames Merkmal auf der materiellen Seite können das Alter und die Gestaltung der Randbebauung sein oder die Straßenbreite (vgl. Lynch 1960/1975: 65, 68). Auf der Inhaltsseite können einzelne Abschnitte durch die teilweise Cluster bildende Nutzungen der Randbebauung, der Randflächen oder des Straßenraums unterschieden werden: Wohnen, Handel und Dienstleistungen des täglichen oder speziellen Bedarfs, Büros, Freizeit, Kultur etc. (vgl. Lynch 1960/1975: 64, Rapoport 1977: 150). Weiterhin kann angenommen werden, dass besonders das Bild langer, heterogener Straßen auch mit Hilfe sozialer Kategorisierungen gegliedert wird. Trotz ihrer, abstrakt gesprochen, nur eindimensionalen Ausdehnung, verfügen Geschäftsstraßen meist über ein oder mehrere Zentren, d.h. Abschnitte, die sich durch eine hohe Dichte an unterschiedlichen Funktionen auszeichnen, sowie eine Peripherie, in der die Intensität der Nutzung abnimmt (vgl. z.B. Pred 1963: 239 sowie Strohmeier 2005 zur Wiener Neubaugasse).91 90 Das Gefühl räumlicher Geschlossenheit einer Stadtstraße ist u.a. abhängig von der Relation der Höhe der die Straße begrenzenden Gebäude zur Straßenbreite. Stadtplaner gehen davon aus, dass sich bei einem Verhältnis größer als ca. 1:2,5 kein Raumgefühl einstellen kann. Auch eine gleichmäßige Höhe der Gebäude trägt zu einer erhöhten Geschlossenheit bei (Caliandro 1978: 179, 184, Moughtin 1992: 141f; s.a. Kap. 1 zu typischen HöhenBreiten-Relationen in einzelnen städtebaulichen Epochen). 91 Auch im Berliner Verlauf der Bundesstraße 1 zumindest von der südwestlichen Stadtgrenze Berlins bis zum Potsdamer Platz kann man solche abschnittsweise an- und abschwellende Nutzungsintensität beobachten. Die Kernabschnitte liegen dabei meist in den historischen Zentren der um 1920 oder früher nach Berlin eingemeindeten ehemals eigenständigen Gemeinden.
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Räumliche Konfigurationen sind in der visuellen Wahrnehmung, solange diese nicht auf ein Hindernis trifft oder in der Entfernung unscharf und durch den Horizont begrenzt wird, simultan gegeben. Dagegen erfordert die sprachliche Beschreibung von Räumen eine Linearisierung der beschriebenen Raumelemente und eine Übersetzung in eine zeitliche Konsekutivität. Räume werden in der überwiegenden Zahl der Fälle in der Form der imaginären Wanderung beschrieben, das heißt, eine Wegstrecke durch den Raum (oder auch nur der Blickweg) und die jeweils passierten Elemente werden in ihrer Reihenfolge in den Texten ikonisch sprachlich nachgezeichnet (Linde/Labov 1975, Wenz 1997: 61ff). Es ist davon auszugehen, dass bei der Beschreibung von Straßen die sprachliche Linearisierung besonders deutlich nachzuweisen ist, da es sich bei Straßen um Konfigurationen handelt, in denen eine eindeutige gerichtete lineare Bewegung bereits durch die Raumform vorgegeben ist. Zu fragen wäre, ob eine vorherrschende Beschreibungsrichtung festgestellt werden kann bzw. durch welche Faktoren diese determiniert ist. Welcher Punkt wird als ‚Eingang‘ der Straße, welcher als ‚Ausgang‘ gewählt, kann man von einer ‚Richtung‘ des Syntagmas sprechen? 3.4.7 Atmosphäre als Wirkung von Objektkomplexen Städte und Straßen, Häuser und Wohnungen setzen sich für den Betrachter aus einzelnen Objekten zusammen, mit denen bestimmte Bedeutungen verknüpft sind, aber sie erzielen auch eine Wirkung als Gesamteinheit, in der die Rolle der Einzelelemente nicht eindeutig bestimmbar ist. Diese Wirkung wird im Allgemeinen als Atmosphäre bezeichnet, so definiert Martina Löw Atmosphäre als „Zusammenschau“ verschiedener Außenwirkungen (Löw 2001: 205). Ein Ort oder Raum kann eine heitere oder eine bedrückende Atmosphäre haben, warm und lebendig oder kalt und unwirtlich wirken. In diesem Sinne sind Atmosphären sowohl wahrgenommener Gegenstand (als Halbding, siehe oben Kap. 3.4.1) als auch subjektive Wirkung bzw. zugeschriebene Eigenschaft, Ausdruck und Inhalt gleichzeitig. Atmosphären wirken pragmatisch, für Gernot Böhme sind sie „die gemeinsame Wirklichkeit des Wahrnehmenden und des Wahrgenommenen (Böhme 1995: 34). Sie besitzen keine kontextunabhängige Bedeutung, da sie nur als Kontext existieren. Atmosphäre soll hier sehr vereinfacht als globale Eigenschaft oder Eigenschaftskonstellation aufgefasst werden, die für einen Interpreten von dem jeweiligen Raum exemplifiziert wird.92 In Atmosphären mischen sich menschengemachte und natürliche Phänomene. Atmosphären können auch durch eine spezifische architektonische Gestaltung von Außen- oder Innenräumen inten-
92 Vgl. auch Goodman 1968/1995: 88ff.
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tional hergestellt sein, so sollen Regierungsgebäude eine Atmosphäre der Macht verkörpern (Böhme 2006: 90 u.ö.). Atmosphären sind wie Halbdinge keiner syntagmatischen Gliederung unterworfen, man könnte eher sagen, sie legen sich über oder füllen ein räumliches Syntagma. 3.4.8 Exkurs: Leerstellen der Straße Die Opposition zwischen geschlossenem Baukörper (der Randbebauung) und umschlossenem, nach oben offenen Raum ist konstitutiv für Stadtstraßen und andere urbane Raumformen. Daher wird der umbaute Raum im Allgemeinen auch nicht als leer oder als Lücke aufgefasst, ihm fehlt es nicht an Etwas. Dagegen zeigen Leerstellen, wie sie hier aufgefasst werden, eine Abwesenheit, einen Mangel an.93 Straßen wurden in diesem Kapitel und auch in Kapitel 1 als Bänder beschrieben, als Ketten unterschiedlicher Elemente. Gerade das Beispiel der Potsdamer Straße in Berlin (siehe Kap. 1.8) zeigt aber, dass diese Metaphern modifiziert und ergänzt werden müssen, um der materiellen Struktur und mentalen Strukturierung von Straßenräumen gerecht zu werden. Betrachtet man den Ladenleerstand oder die blinden Fenster in nicht vermieteten Bürohäusern in der Potsdamer Straße der Gegenwart oder weiß man, dass an Stelle der heutigen offenen ‚Stadtlandschaft’ Scharouns sich früher die geschlossene wilhelminische Bebauung bis zum Potsdamer Platze hinzog, dann scheinen der Kette einige Glieder zu fehlen, das Band zerschnitten zu sein.94 Diese Eindrücke der Abwesenheit können jedoch nur entstehen auf dem Hintergrund eines möglichen Vollständigen, eines ‚idealen’ Konzepts einer Straße (als Typ oder als Token) und ihrer Elemente: einer Straße, deren Geschäfte florieren, deren Gebäude sichtbar genutzt und gut gepflegt sind. Rudolf Arnheim hat dies folgendermaßen formuliert: „Die Leere sehen, heißt etwas in eine Wahrnehmung aufnehmen, das in sie hineingehört; es heißt, die Ab-
93 Eine erweiterte Fassung dieses Exkurses war Grundlage eines Vortrags auf dem 12. Internationalen Kongress für Semiotik 2008 und erschien in schriftlicher Form 2009 in „Wolkenkuckucksheim“ (Reblin 2009). 94 Selbstverständlich können auch geringer Straßenverkehr, wenige Passanten, eine geringe Nutzungsvielfalt den Eindruck von Leere hervorrufen. Der Straßenverkehr ist in allen Abschnitten der Potsdamer Straße jedoch als sehr lebhaft zu bezeichnen, die Passantendichte ist je nach Abschnitt unterschiedlich, tagsüber im Allgemeinen jedoch eher hoch. Als Leerstellen werden in diesen Ausführungen nur über eine längeren Zeitraum stabile nicht genutzte Flächen thematisiert. Die Planungsgeschichte des Kulturforums wurde in Kap. 1.8.5 thematisiert, zur aktuellen städtebaulichen Debatte siehe Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin 2011.
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wesenheit des Fehlenden als eine Eigenschaft des Gegenwärtigen zu sehen.“ (Arnheim 1969/1972: 92) Leere Stellen können laut Arnheim wahrnehmungspsychologisch so definiert werden, dass das dort anwesende Reizmaterial als Grund für eine abwesende Figur gesehen wird (ebd.: 92). In einer Straße finden wir die Leerstellen jedoch nicht nur im baulich-materiellen Bereich, wie bei den Baulücken, d.h. den ungenutzten offenen Räumen, sondern auch bei den Nutzungslücken, den leerstehenden Ladenlokalen und Büros. Wenn man aber die Gebrauchsfunktion eines Gegenstandes als seine direkt anschauliche Eigenschaft betrachte,95 so verändere die Nichtnutzung seinen Eindruck, so Arnheim. Der Gegenstand wirke „verloren“ und „unvollständig“, wenn er nicht in Gebrauch sei (ebd.: 92). Andererseits eröffnet auch jede Leerstelle, jeder noch nicht ‚besetzte‘ Ort die Möglichkeit neuer Projektionen oder neuer Nutzungen; im flächenmäßig meist begrenzten Raum der Stadtzentren ist die Abwesenheit eines Alten immer Voraussetzung für die Anwesenheit eines Neuen.96 Lassen sich solche Leerstellen auch semiotisch fassen? Für Roland Barthes liegt ein Nullzeichen dann vor, wenn die Abwesenheit eines expliziten Signifikanten selbst wie ein Signifikant funktioniert. (Barthes 1964/1983: 64f).97 Juri Lotman bezeichnet das „bedeutungsvolle Fehlen“ eines Elements in einem ästhetischen Syntagma als Nullposition (Lotman 1972: 82). Lotman bringt damit eine pragmatische und intertextuelle Ebene ins Spiel: bei der Nullposition handelt es sich um ein Element, das vom Interpreten seiner bisherigen Erfahrung nach im Kontext dieser ästhetischen Botschaft erwartet, aber nicht vorgefunden wird. Durch dessen Abwesenheit wird im Text eine zusätzliche Bedeutung geschaffen. Dass ein Element fehlt, kann demnach nur aus dem Kotext erschlossen werden, d.h. mit Blick auf das jeweilige syntagmatische Schema. In der Terminologie der Schema- bzw. Frametheorie (siehe Kap. 2.3.2) könnte man diese Form der Leerstellen als nicht gefüllte Slots eines (Typ- oder Token-) Frames beschreiben. Daher soll hier auch nicht von Nullzeichen, sondern von Leerstellen gesprochen werden. Zu unterscheiden wäre noch zwischen den aktualen, momentan wahrnehmbaren Leerstellen im Raum und den virtuellen, materiell wieder geschlossenen oder in ihrer Funktion veränderten, aber in der individuellen oder kulturellen Erinnerung 95 Siehe auch oben in Kap. 2.2.3.3. 96 Vgl. z.B. Oswalt 2000: 60ff. Der Philosoph Richard Shusterman sieht Abwesenheit als „ein wesentliches, strukturierendes Prinzip der Ästhetik der Großstadt im Allgemeinen“ (Shusterman 1999: 22). Für ihn braucht die Großstadt, ebenso wie die Kunst und das Leben, „Flecken des Zufälligen […], Abwesenheiten des Geplanten und im voraus Bestimmten, Lücken, die wir deuten und mit Bedeutung ausfüllen können“ (ebd.: 27). 97 Zu Nullzeichen auf der phonologischen und morphologischen Ebene in der Sprache vgl. Jakobson 1939/1979.
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noch existierenden Abwesenheiten. Die Potsdamer Straße, exemplarisch für weite Teile des Berliner Stadtzentrums, ist reich an diesen virtuellen Leerstellen bzw. ihren nur noch im kulturellen Gedächtnis vorhandenen Füllelementen: Die Berliner Mauer, das Tiergartenviertel, der Sportpalast sind nur einige davon.
3.5 Z USAMMENFASSUNG UND M ODELL DER V ORSTELLUNG
„Daß eine Stadt ein Gewebe bildet, nicht aus gleichen Elementen, deren Funktionen sich inventarisieren lassen, sondern aus starken Elementen und neutralen Elementen [...]“ „Die Elemente erscheinen eher durch ihre eigene korrelative Position signifikant als durch ihren Inhalt.“ Roland Barthes (1967/1988: 202, 205)
Während in Kapitel 2.2 die Interpretation eines konkreten Objekts unter Berücksichtigung seiner Perspektivität modelliert wurde, hat sich Kapitel 3 mit der Einbettung der Objekte der Straße und ihrer Konzepte in das komplexe Tokenkonzept einer empirischen Straße bzw. in das komplexe Konzept beschäftigt. Als Grundlagen der Modellierung der Vorstellung wurden folgende Bestimmungen herausgearbeitet: 1. Eine empirische Stadtstraße ist ein städtisches materielles Objekt und ein Objektkomplex, der bei seinen Interpreten mental als räumliche Vorstellung repräsentiert wird. 2. Bei einer stadträumlichen Vorstellung handelt es sich um ein komplexes, strukturiertes Konzept eines städtischen Teilraumes. Sie konstituiert sich aus Konzepten von Objekten und Objektkonfigurationen. In der kommunikativen Externalisierung der Vorstellungen werden die Objekte sprachlich benannt und ihnen bestimmte Inhalte zugeschrieben. Die Nennung zeigt, dass der Interpret die Objekte als relevant erkennt, sie werden semiotisiert. 3. Damit können die Objekte als Zeichen (als Objekt-Zeichen) konzipiert werden: Ausdruckssubstanz ist das als solches konstituierte materielle Objekt bzw. der sensorische Stimulus, der auch nur eine mediale Repräsentation des Objekts sein kann, Inhaltssubstanz das mit ihm verbundene Konzept. 4. Folgende Konzeptformen können an der Konstitution der Vorstellung beteiligt sein: Repräsentationen (Konzepte) von Objekten bzw. Objektkonfigurationen der Straße, ihrem städtebaulichen Kontext und der Gesamtstadt sowie das Konzept als Typ. Neben Konzepten von aktualen Objekten können auch Konzepte nicht-aktualer Objekte vor-
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kommen. Ferner konstituiert sich die Vorstellung auch in Vergleich und Abgrenzung zu Token-Konzepten von anderen empirischen Straßen. Eine Großstadtstraße kann als Metasystem aufgefasst werden. Dessen Inhalte ergeben sich metonymisch aus den kotextualisierten Inhalten der Elemente der Subsysteme Die Vorstellung eines städtischen Raums ist perspektivisch angelegt. In der Interpretation wird immer eine spezifische strukturelle Perspektive mit einer spezifischen qualitativen Perspektive verknüpft. Es können drei mögliche Arten der strukturellen Perspektivierung einer empirischen Straße unterschieden werden: Die Straße als einheitliches, eigenständiges städtisches Objekt (Basisebene), als aus vielen Elementen zusammengesetzter Objektkomplex (Objektkomplexebene) oder als Element eines übergeordneten Objektsystems (Stadtelementebene) Mit der Wahl einer qualitativen Perspektive wird festgelegt, welche Objekte und/oder Objektaspekte zur Ausdruckssubstanz (für eine bestimmte Inhaltssubstanz) werden und damit gleichzeitig die an die Objekte herangetragenen Kodes bestimmt. Es können drei Relevanzformen städtischer Objekte unterschieden werden: die sensorische, praktische und symbolische Relevanz. Relevant kann ein Element nicht allein auf Grund seines zugeschriebenen Inhalts, sondern auch durch den ortsindexikalischen Bezug dieses Inhalts auf den übergeordneten städtischen Kotext werden.
Im Zusammenwirken der in den Interpretationen gebildeten Einzelkonzepte entsteht ein eher homogenes oder eher heterogenes, eher detailreiches oder detailarmes Gesamtkonzept. Dabei handelt es sich nicht um eine gleichgewichtige Aneinanderreihung von Einzelkonzepten auf einer Ebene, vielmehr sind in dem Gesamtkonzept mehrere Perspektivierungsebenen netzartig untereinander verknüpft. Neben den drei postulierten Hauptperspektivierungen ergeben sich auch innerhalb der Objektkomplexebene durch Konstitution von Subsyntagmen eine oder mehrere weitere Unterebenen. Hier muss betont werden, dass komplexe Vorstellungen von Stadträumen nicht als fixe, unveränderliche Schemata aufgefasst werden dürfen. Konzepte primär erfahrener Stadträume können einerseits in der Wahrnehmung ständig aktualisiert werden, andererseits können sowohl Gesamtkonzept als auch Subkonzepte sich durch neue sekundäre Erfahrungen oder Verschiebung von Interessen und Einstellungen des Interpreten verändern.98 Weiterhin sind Konzepte
98 So entwickeln Eltern, die sich um die Sicherheit ihrer kleinen Kinder sorgen, sicher einen anderen Blick auf die Stadt als Kinderlose.
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durch Reflexion unter Anwendung des bereits vorhandenen Weltwissens modifizierbar. Modell der Vorstellung Ergänzend zu dem in Kapitel 2.2.5 entwickelten Modell der Interpretation von Objekt-Zeichen und auf der Basis der Ausführungen in Kapitel 3.2. bis 3.4 schlage ich folgendes Modell der Vorstellung vor (Abb. 6), das die gegenseitige Kotextualisierung der Konzepte der untergeordneten Elemente und der Subsysteme und ihr Zusammenwirken im Gesamtkonzept darstellt. Am linken Rand sind die materiellen Grundlagen, d.h. die realen wahrgenommenen Objekte als hellgrau unterlegte Rechtecke dargestellt. Um die Übersichtlichkeit zu erhalten, wurde darauf verzichtet, die Beziehung zwischen realem Objekt und konstituierten Konzepten durch Pfeile kenntlich zu machen. Die Prinzipien der Bedeutungskonstitution von empirischen Einzelobjekten wurden bereits im Interpretationsmodell in Kapitel 2.2.5 verdeutlicht. Im mittleren Bereich sind die möglichen beteiligten Konzepte (in Ellipsenform) und die möglichen Verknüpfungen dargestellt. Die Übertragung von Merkmalen des Ausdrucks oder Inhalts zwischen einzelnen Konzepten werden durch Pfeile angezeigt. Auf der rechten Seite werden die drei Perspektivierungsebenen in Rechteckform dargestellt. Die untere Ebene der Objekte umfasst die in der Vorstellung genannten, für den Interpreten relevanten und damit zeichenhaften Objekte der Straße. Diese Objekte können als Einzelobjekte Bedeutung haben, ihre Ausdrucks- oder Inhaltsmerkmale können auch auf ein Konzept einer höheren Ebene, wie auf das eines Straßenabschnitts oder der Straße übertragen werden. Die Straße wird als Objektkomplex konstituiert, wenn der Interpret auch über ein Konzept verfügt. Auf der mittleren Ebene der Straße wirken sowohl der kulturell-kognitive Typ als auch medial vermittelte Tokenkonzepte der Straße X auf die Gesamtvorstellung ein. Außerdem werden hier Merkmale der Straße X mit Merkmalen anderer Straßen verglichen und die Grenzen der Straße X bestimmt. Es können eigene Konzepte für einzelne Straßenabschnitte gebildet werden. Die Token-Konzepte der übergeordneten Stadt und ggf. des Stadtviertels sind auf der oberen Ebene angesiedelt. In Verknüpfung der mittleren Ebene mit der oberen Ebene kann hier die Straße im städtischen Kotext situiert werden. Konzeptmerkmale können durch die Interpreten sowohl vom untergeordneten zum übergeordneten Objekt als auch in umgekehrter Richtung metonymisch übertragen werden. Unter anderem sind folgende spezifische ebenenübergreifende Konzeptbildungen in der Graphik wiedergegeben:
Abbildung 6: Modell der Vorstellung
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Die Konzepte mehrerer einzelner auf der Inhalt- oder Ausdrucksseite ähnlicher Objekte (Ebene [Objekte]) eines Straßenabschnitts können zur metonymischen und ortsindexikalischen Bildung eines Konzeptes für diesen Bereich führen, wie z. B (Ebene [Straßenabschnitt]). Medial vermittelte Konzepte oder die persönliche Erinnerungen an einen früheren Zustand der Straße können Informationen über nicht mehr vorhandene (nicht aktuale) Objekte geben, diese können dann in das Gesamtkonzept integriert werden. Ggf. kann das ‚Fehlen‘ eines früher vorhandenen Objekts als aktuale Leerstelle im Syntagma der Straße wahrgenommen werden. Bauwerke, die über eine lokale Ebene hinaus auch als Wahrzeichen der Gesamtstadt wirken, werden wahrscheinlich eher Bestandteil des Konzepts als des Konzepts . Dynamische Prozesse der Wandlung von Konzepten sind in der Graphik nicht berücksichtigt, ebenso wenig eine mögliche Rückwirkung veränderter Vorstellungen auf die reale Straße selbst.
4
Dinge und Zeichen der Potsdamer Straße: die empirische Studie
Dieses Kapitel untersucht die Vorstellungen und journalistischen Darstellungsimages der Potsdamer Straße in Berlin, wie sie sich in den Interviews mit Anliegern und Nutzern der Straße sowie in Artikeln der Lokalpresse manifestieren. Die in den beiden vorigen Kapiteln erarbeiteten Modelle und Typologien sollen in der Analyse angewendet und erprobt werden. Ziel ist es einerseits, Aufschluss über generelle Mechanismen städtischer Interpretationsprozesse zu erhalten, andererseits die Bedeutungen des konkreten Stadtraumes Potsdamer Straße zu erkunden. Für die empirische Studie wurden kommunizierte Bilder der Potsdamer Straße in den beiden Datenformen Interview und Zeitungsartikel erhoben. Die Analyse der Interviews als deutlich umfangreicherer Teil des Untersuchungskorpus bildet den Schwerpunkt der Auswertung. Dabei werden die Interviewäußerungen der Straßeninterpreten nicht nur als Analysematerial ‚benutzt‘, sondern die mannigfaltigen und lebendigen perspektivischen Sichten sollen in ausführlichen wörtlichen Zitaten auch in ihrem dokumentarischen Eigenwert sichtbar gemacht werden. Die Datenerhebung und -auswertung erfolgte nach den Methoden der qualitativen Sozialforschung. Auf Grund ihrer programmatischen Offenheit und Gegenstandsbezogenheit eignet sich die qualitative Methode besonders für eine Untersuchung, die sich mit komplexen und ganzheitlichen alltags- und lebensweltlichen Bedeutungen beschäftigt (vgl. Flick 2007: 27).1 Uwe Flick sieht in Vorstellungen 1
Eine quantitative Erhebung der relevanten Objekte der Straße und ihrer Strukturierungen (z.B. über Fragebögen) hätte in Teilbereichen sicher zu ähnlichen Ergebnissen geführt. Allerdings ermöglichen alltagskommunikative Instrumente wie Interviews den Probanden sehr viel umfassender, eigene Aussagen im Gespräch zu reflektieren, einzuschränken und zu gewichten sowie Relationen zwischen Inhalten herzustellen. Ferner können durch Nachfragen der Interviewerin Inhalte vertieft und unverständliche Äußerungen im Gespräch geklärt werden.
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von sozialen Umwelten einen zentralen Gegenstand der qualitativen Sozialforschung: „Demnach sind Ansatzpunkte der [qualitativen] Forschung die Vorstellungen von sozialen Ereignissen, von Gegenständen oder von Tatsachen, die in einem untersuchten Feld anzutreffen sind, und die Art und Weise, wie diese miteinander kommunizieren – konkurrieren, konfligieren, sich durchsetzen, geteilt und für wahr gehalten werden.“ (Flick 2007: 109)
Ausgehend von dem Modell der Objektinterpretation (siehe Kap. 2.2.5) und dem Modell der Vorstellung (siehe Kap. 3.5) werden folgende Leitfragen an die Texte des Korpus herangetragen: Welche Objekte bzw. Objektaspekte und Inhalte, d.h. paradigmatischen Elemente, lassen sich in den Vorstellungen der Potsdamer Straße nachweisen, sind also für die Interpreten besonders relevant? Welche strukturellen, d.h. syntagmatischen Einheiten werden gebildet? Welche Relationen zwischen der Semiotisierung einzelner Objekte bzw. Objektaspekte und der Interpretation größerer Einheiten der Straße oder der gesamten Straße lassen sich feststellen? Ergänzt werden diese Leitfragen durch spezifische Fragestellungen, wie jenen nach historischen Bedeutungsaspekten der Vorstellungen, nach einem übergeordneten Konzept der Potsdamer Straße, zum Typkonzept und zu Elementen eines möglichen Wunschbilds der Potsdamer Straße. Im Vergleich der analysierten Texte der beiden Textsorten des Korpus werden Unterschiede und Übereinstimmungen herausgearbeitet. Die Benennung der Analysekapitel 4.3 und 4.4 „Die gesprochene Straße“ und „Die geschriebene Straße“ nimmt Bezug auf Roland Barthes’ „geschriebene Mode“ der Modezeitschriften (Barthes 1964/1983: 55) und soll auch als Hinweis auf die medienbezogenen Differenzen zwischen Interview- und Zeitungstexten dienen.
4.1 D IE QUALITATIVE F ORSCHUNG : THEORETISCHE G RUNDLAGEN UND ZENTRALE M ERKMALE Bei dem Begriff der Qualitativen Forschung handelt es sich um einen Sammelbegriff, der ein breites Spektrum unterschiedlicher theoretischer und methodischer Ansätze zur Erforschung sozialer Wirklichkeit im weiten Sinne bezeichnet (von Kardorff 1995: 3, Flick/von Kardorff/Steinke 2000b: 18). Als empirische Forschungsmethode wird die Qualitative Forschung in einer Vielzahl von Fachdisziplinen von der Soziologie und Psychologie bis zu den Kultur- und Wirtschaftswissenschaften eingesetzt (Flick/von Kardorff/Steinke 2000b: 13). In Forschungsfeldern, die sich mit Vorstellungsbildern von Umwelten befassen, wie der Humangeographie oder der Umweltpsychologie, sind qualitative Instrumente
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ebenfalls fest etabliert (vgl. z.B. Heineberg 2003: 41f, Hellbrück/Fischer 1999: 90ff). Auch die semiotische Forschung nutzt qualitative Methoden zur Erhebung und Auswertung von empirischen Daten; eine frühe Studie, die neben quantitativen auch qualitative Elemente umfasst, ist Ledruts „Les image de la ville“ (Ledrut 1973a).2 Trotz ihrer methodischen Vielfalt lassen sich für die qualitative Forschung einige Grundannahmen benennen, die allen Ansätzen gemeinsam sind. Soziale Wirklichkeit wird als Ergebnis der in sozialer Interaktion hergestellten Bedeutungen verstanden. Dabei handelt es sich um einen ständigen Prozess, in dem ‚objektive‘ Lebensumstände von den Individuen subjektiv gedeutet werden. Aus dem alltagskommunikativen Charakter dieser Konstruktionsleistung ergeben sich auch methodologische Forderungen: Datenerhebung und Darstellung der Forschungsergebnisse sollen kommunikativ-dialogisch ausgerichtet sein, die Konstruktion der sozialen Realität soll vom Forscher rekonstruiert werden (Flick/von Kardorff/Steinke 2000b: 20ff). Maßgebliches soziologisch-theoretisches Fundament dieser Grundannahmen ist die von Herbert Blumer eingeführte, an George Herbert Mead anknüpfende Theorie des Symbolischen Interaktionismus (Blumer 1969/1973).3 Der Symbolische Interaktionismus lässt sich für Blumer durch drei Prämissen charakterisieren (Blumer 1969/1973: 81ff): 1. Menschen handeln gegenüber Dingen auf der Grundlage von Bedeutungen, die diese Dinge für sie besitzen; dabei werden die Dinge zu Symbolen. Als Dinge fungieren können physische Objekte (wie Bäume oder Stühle), soziale Objekte (z.B. einzelne Menschen, Gruppen von Menschen oder Institutionen) und abstrakte Objekte wie Ideen sowie Handlungen anderer Personen oder Situationen. 2. Die Bedeutungen ergeben sich weder aus dem Ding selbst (in einer streng realistischen Auffassung) noch werden sie allein individuell vom Subjekt konstituiert, vielmehr entstehen sie in der sozialen Interaktion.
2
Vgl. Ledrut 1973a: 34ff zur Erhebungsmethode, s.a. Kap. 2.4.2. Neuere Arbeiten sind beispielsweise Grüger 2003 und Petermann 2004. Zur Anwendung empirischer Methoden in der semiotischen Forschung existiert kaum Literatur: bei Nöth 2000 werden methodische Aspekte nicht angesprochen, im Kapitel zu Methoden der Semiotik im Handbuch (Posner/Robering/Sebeok 1997ff) werden qualitative Methoden nur am Rande im Beitrag von Balzer (Balzer 1997) thematisiert.
3
Weitere theoretische Grundlagenpositionen der qualitativen Forschung wie die Ethnomethodologie u.a. sollen hier nicht dargestellt werden, vgl. dazu z.B. Lamnek 2005: 35ff oder Flick/von Kardorff/Steinke 2000a: 106ff.
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3. Die Bedeutungen werden in einem interpretativen Prozess gehandhabt und abgeändert. Dieser Interpretationsprozess erfolgt in zwei Schritten: Zuerst macht sich der Handelnde in einem Indikationsprozess auf die Objekte aufmerksam (er „zeigt sie sich an“, hier handelt es sich um eine Kommunikation oder eine Interaktion mit sich selbst), dann wählt er abhängig von Situation und Ausrichtung Bedeutungen aus, prüft sie und formt sie ggf. um. Für den Symbolischen Interaktionismus sind Welten aus Objekten zusammengesetzt, welche wiederum Produkte sozialer Interaktion sind.4 Welche Bedeutung einem Objekt zugesprochen wird, ist abhängig von dem Interaktionskontext, in dem sie definiert wird, folglich können auch unterschiedliche Individuen und Gruppen sehr unterschiedliche Welten erzeugen. Auch im Wahrnehmungsprozess findet für den Symbolischen Interaktionismus bereits eine soziale Interaktion statt, da hier das Subjekt sich selbst etwas anzeigt, mit sich handelt. Wesentlich ist, dass menschliches Handeln nie rein reaktiv, als kausale Reaktion auf psychologische Faktoren oder sozial-kulturelle Regeln und Rollen zu denken ist, sondern die Umwelt durch den Menschen immer aktiv interpretierend bearbeitet wird (Blumer 1969/1973: 90ff).5 Als wissenschaftstheoretische Basis der qualitativen Forschung sind ferner Phänomenologie und Hermeneutik zu nennen.6 Die phänomenologische Forderung nach Absehung von einer durch theoretische Vorannahmen geprägten Weltsicht und nach vorurteilsfreier Herausarbeitung des Typischen, eines Wesens der Dinge wird auf die sozialwissenschaftliche Forschung übertragen, die die soziale Wirklichkeit möglichst unvoreingenommen erfassen soll (Lamnek 2005: 48ff). Die Hermeneutik bildet die zweite wichtige Metatheorie der qualitativen Forschung. Als Lehre von der Auslegung menschlicher Lebensäußerungen (d.h. von Texten im weitesten Sinne) geht es ihr vorrangig um ein Verstehen des Sinnes menschlicher Handlungen in ihrem sozialen und historischen Kontext und nicht um ein nach gesetzmäßigen kausalen Beziehungen suchendes Erklären, wie es in den Naturwissenschaften im 4
In diesem Sinne ist das in dieser Arbeit entworfene Modell der Großstadtstraße als Ob-
5
Der Symbolische Interaktionismus steht auch deutlich in der Tradition des amerikani-
jektkomplex ebenfalls mit dem Ansatz des Symbolischen Interaktionismus kompatibel. schen Pragmatismus. Der Einfluss von Peirce und James auf soziologische Autoren der Chicago School und folgende war allerdings gering, erst Dewey wurde umfassender rezipiert. So geht beispielsweise die Ablehnung eines behaviouristischen Reiz-ReaktionsSchemas im Symbolischen Interaktionismus auf Dewey zurück (Flick 2007: 83, Joas 1988: 422f). 6
Die phänomenologischen und hermeneutischen Traditionen können hier nur sehr knapp und oberflächlich behandelt werden, zur Vertiefung siehe die angegebene Literatur.
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Vordergrund steht (Lamnek 2005: 59ff, 243ff). Phänomenologischer und hermeneutischer Ansatz werden, trotz ihrer vordergründigen Divergenz, z.B. in der qualitativen Methode der Grounded Theory verknüpft (s.u. Kap. 4.2). Während einige Autoren im Feld der qualitativen Forschung sich weiterhin an den klassischen Gütekriterien der quantitativen Forschung orientieren,7 plädieren andere für die Aufstellung eigener Kernkriterien ohne Verwendung der klassischen Begriffe. Steinke entwickelt folgende Qualitätskriterien: qualitative Forschung sollte intersubjektiv nachvollziehbar sein, d.h. der Forschungsprozess einschließlich des theoretischen Vorverständnisses muss genau dokumentiert werden. Ferner muss das Vorgehen dem Gegenstand angemessen sein (Begründung der Methodenwahl). Bildung und Überprüfung von Theorien sollten empirisch verankert, d.h. in den Daten begründet sein. Die Grenzen des Geltungsbereichs sollten reflektiert werden (Limitation). Zwei weitere Kriterien, die Relevanz der Fragestellung und ethisches Verhalten gegenüber den Untersuchungsteilnehmern, gelten auch für quantitative Ansätze (Steinke 2000: 321ff, Steinke 2007: 180ff). Für die vorliegende Arbeit werden die Dokumentation des Forschungsprozesses und die Begründung der Wahl der Methode in Kapitel 4.1 und 4.2 geleistet, die Limitationen der Studie kommen in Kapitel 4.2. sowie im Fazit in Kapitel 5 zur Sprache. Die Relevanz der Fragestellung wurde in der Einleitung der Arbeit begründet. Zum Abschluss noch einige Bemerkungen zur Relation von Wirklichkeit, mentalen Inhalten, deren sprachlichen Repräsentationen in den Texten des Korpus sowie den im qualitativen Forschungsprozess produzierten Texten. In Kapitel 2.3.1 wurden Wahrnehmung und Konzeptbildung als selektierende, produzierende und organisierende Prozesse beschrieben, in denen Vorstellungen der Umwelt aktiv konstruiert werden. Diese Vorstellungen können in der Kommunikation als Texte externalisiert und diese wiederum zum Untersuchungsgegenstand der qualitativen Forschung werden. Texte werden in der qualitativen Forschung in drei Funktionsweisen genutzt: zum einen als Daten, auf denen die Erkenntnis sich gründet (z.B. den Interviews in ihrer mündlichen Form), zum zweiten als Basis der Interpretation (den Transkriptionen der Interviews) und schließlich als zentrales Medium der Darstellung der im Forschungsprozess gewonnenen Erkenntnisse (im wissenschaftlichen Analysetext). Dabei stellt sich sowohl die Frage nach der Art und Weise der Übersetzung von Wirklichkeit in Text (wie sie z.B. die Probanden in den Interviews vornehmen) als auch nach dem Rückschluss von Texten (z.B. von den transkribierten Interviewtexten) auf Wirklichkeit durch den Forscher (Flick 2007: 107). 7
So geht z.B. Lamnek noch von den klassischen Gütekriterien der Gültigkeit (Validität), Zuverlässigkeit (Reliabilität), Objektivität und Repräsentativität aus, überprüft und modifiziert diese jedoch in Hinblick auf ihre Anwendbarkeit für die qualitative Forschung (Lamnek 2005: 142ff).
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Nach Alfred Schütz können beide Ebenen dieser Übersetzungsleistungen als Konstruktionen aufgefasst werden: die Konstruktionen der Sozialwissenschaftler sind Konstruktionen zweiten Grades, das heißt Konstruktionen der Konstruktionen (ersten Grades) der Handelnden im sozialen Feld (Schütz 1971: 68). Damit gibt es auch nicht eine einzige Wirklichkeit, vielmehr werden in den unterschiedlichen Interpretationen „mannigfaltige Wirklichkeiten“ geformt (Schütz 1971: 269), wie z.B. die Welt des Alltags, der Wissenschaft etc.8 Unter anderem hat die Textsorte, in der städtische Vorstellungen und Images kommuniziert werden, Einfluss auf die jeweilige Form der Wirklichkeitskonstruktion. Daher müssen auch bei der Analyse der Interviews und Zeitungsartikel zur Potsdamer Straße die jeweils unterschiedlichen Merkmale der beiden Textsorten und ihre Wirkungen auf die Textinhalte berücksichtigt werden. So kann man davon ausgehen, dass beispielsweise in der alltagssprachlichen und in einer face-to-faceSituation entstandenen Textsorte Interview, anders als in den Pressetexten, auch inhaltlich redundante oder widersprüchliche Aussagen vorkommen, während in der Textsorte Zeitungsartikel, in welcher der Autor bzw. die Redaktion intentional eine spezifische Sichtweise eines Themas an eine anonyme Öffentlichkeit vermitteln will, spezielle journalistische Darstellungsformen die Auswahl der paradigmatischen Elemente der Straße beeinflussen. Die in dieser Studie genutzten qualitativen Erhebungs- und Auswertungsmethoden werden im Folgenden beschrieben und begründet. Die Einleitung von Kapitel 4.2 stellt die Schritte im Forschungsprozess überblicksartig dar, in den anschließenden Unterkapiteln wird das methodische Vorgehen von der Wahl der Erhebungsmethode bis zur Auswertung im Detail geschildert.
4.2 D IE E RHEBUNGS - UND AUSWERTUNGSMETHODIK Die Methode der Datenerhebung und -auswertung lehnt sich an die von Anselm Strauss und Barney Glaser entwickelte Grounded Theory an (Glaser/Strauss/Paul 1967/2005, Strauss/Corbin 1990/1996), folgt ihr jedoch aus forschungspragmatischen Gründen nicht in allen Teilaspekten und integriert auch Elemente der Inhaltsanalyse nach Mayring (Mayring 1983). Daher wird im Folgenden auch keine der beiden Methoden umfassend beschrieben, sondern es werden nur die im Auswertungsprozess jeweils eingesetzten Einzelwerkzeuge dargestellt. Bei der Grounded Theory, der gegenstandsbasierten Theorie, handelt es sich nicht allein um eine Methode zur Auswertung qualitativer Daten, sondern um eine
8
Vgl. auch Goodmans „Weisen der Welterzeugung“ (Goodman 1978/1984) .
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den gesamten sozialwissenschaftlichen Forschungsprozess von der Formulierung der Forschungsfrage über die Datensammlung bis zur schriftlichen Darstellung der Ergebnisse leitende „Kunstlehre“ (Böhm 2000: 475f). Ein wesentliches Merkmal ist die Zirkularität des Forschungsprozesses. Anders als in der quantitativen Forschung, in der ausgehend von theoretischen Vorüberlegungen Hypothesen entwickelt werden, die dann anhand empirischer Daten überprüft werden, wo der Forschungsprozess also linearen Charakter hat, werden in der Grounded Theory in einem zirkulären Prozess Daten im Feld erhoben und ausgewertet, vorläufige theoretische Konzepte entwickelt,9 unter Berücksichtigung dieser Entdeckungen neue Daten erhoben und ausgewertet, die Konzepte modifiziert usf. Die Theoriebildung erfolgt in einer Verknüpfung von induktiven und deduktiven Verfahren aus den Daten heraus. Am Anfang steht eine bestimmte Fragestellung, aber keine ausformulierte Theorie.10 Die Offenheit des Prozesses auch gegenüber unerwarteten Ergebnissen soll immer gewährleistet bleiben (Flick 2007: 122ff, Wiedemann 1995, Hildenbrand 2000, Strauss/Corbin 1990/1996: 119ff). Für die qualitative Forschung insgesamt gilt, dass weniger die Hypothesentestung, sondern die offene Exploration eines Forschungsbereiches und ggf. die anschließende Entwicklung von Hypothesen im Vordergrund stehen (Lamnek 2005: 89ff). missachtet Dieses spiralförmige, zwischen Datenerhebung und -analyse alternierende Vorgehen kennzeichnet auch den generellen Forschungsablauf der Untersuchung zur Potsdamer Straße.11 Einen Überblick über die einzelnen Schritte im Forschungs9
Das in diesem ersten Schritt des Prozesses genutzte Schlussverfahren lehnt sich an die peircesche Schlussform der Abduktion an (siehe Kap.2.2.3.1). Allerdings wurde dieses Verfahren bei Glaser und Strauss nie explizit benannt oder auf Peirce zurückgeführt (Hildenbrand 2000: 34), erst seit Ende der 1980er Jahre wird es auch unter ausdrücklichem Bezug auf Peirce in der Sozialforschung als methodisches Element beschrieben (Reichertz 2000: 276).
10 Ein bei Glaser und Strauss partiell vertretener rein induktiver Ansatz, nach dem die theoretische Literatur des Forschungsfeldes zunächst zu „ignorieren“ sei, um den Forscher nicht durch Vorurteile zu belasten (Glaser/Strauss/Paul 1967/2005: 47), wird z.B. von Kelle als naives Tabula-rasa-Konzept kritisiert, das die erkenntnistheoretische Einsicht in die immer schon durch vorgängiges Wissen geprägte Natur der Wahrnehmung und Kognition missachtet (Kelle/Kluge 1999). Allgemein kann die Grounded Theory als Methode verstanden werden, die phänomenologisch-induktive Elemente und hermeneutisch-zirkuläre Interpretationsverfahren integriert, sie kann als „induktiver Zugang zur Hermeneutik“ aufgefasst werden (Rennie 2005). 11 Weitere einzelne Elemente der Grounded Theory wie das Theoretische Sampling, welches Erkenntnisse aus bereits ausgewerteten Daten nutzt, um weitere Fälle auszuwählen wurden aus forschungspragmatischen Gründen jedoch nicht stringent angewendet
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prozess gibt die Abbildung 7. Bereits in einer frühen Phase der Arbeit zu Beginn der Erarbeitung der theoretischen Kapitel wurden zwei Testinterviews mit Anwohnern der Potsdamer Straße geführt, transkribiert und grob thematisch, noch ohne Nutzung einer Analysesoftware ausgewertet. Erkenntnisse aus diesen beiden Interviews, so z.B. über eine inhaltliche Strukturierung der Straße oder die Rolle der historischen Dimension flossen bereits in die Hypothesenbildung und Modellentwicklung sowie in die Erarbeitung der Typologie der städtischen Objekt-Zeichen im theoretischen Teil (Kap. 2 und 3) ein. Eine rein induktive Theoriebildung wurde jedoch zu keiner Zeit angestrebt, vielmehr bildeten semiotische Ansätze wie Prietos Kognitive Semiotik (siehe Kap. 2.2.2) sowie kognitionswissenschaftliche Konzepte die theoretische Basis für die Entwicklung der Grundstrukturen des Modells.
(siehe 4.2.1.2 zum Sampling). Auch die von Strauss und Corbin beschriebenen und aufeinander aufbauenden Techniken des Offenen, Axialen und Selektiven Codierens (siehe z.B. Strauss/Corbin 1990/1996) wurden nicht konsequent durchgeführt.
Abbildung 7: Darstellung des zirkulären Forschungsprozesses
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Im Frühjahr 2008 wurde unterstützt durch die Software ATLAS.ti (s.a. Kap. 4.2.1.3) eine detaillierte Codierung der Testinterviews durchgeführt. Ziel hierbei war es auch, sich mit der Software vertraut zu machen. Codieren im Sinne der qualitativen Forschung bezeichnet das Verfahren, bei dem einzelnen Textabschnitten (im Folgenden auch als Zitationen12 bezeichnet) Kategorien13 zugewiesen werden, die ihren Inhalt kennzeichnen. Auch die Entwicklung des Leitfadens nahm Erkenntnisse aus den Testinterviews sowie aus Überlegungen im theoretischen Teil auf, indem Kategorieentwürfe in einzelne Fragen übersetzt wurden (vgl. dazu auch Schmidt 1997: 550). Die bei der Auswertung der Testinterviews gefundenen Kategorien bildeten den vorläufigen Grundstock für die Kategorisierung der 20 im Sommer 2008 geführten Interviews des eigentlichen Analysekorpus. Am Material dieser 20 Texte wurde das vorläufige Kategoriensystem umfassend ergänzt und modifiziert und schließlich der Auswertungstext erstellt. Für die Auswertung der Zeitungsartikel wurde das überarbeitete Kategoriensystem zugrunde gelegt und wiederum bei der Arbeit mit dem Datenmaterial angepasst. 4.2.1 Die Interviews: Methode, Sampling und Auswertung 4.2.1.1 Qualitatives Leitfadeninterview als Methode Als Methode zur Erhebung von Elementen und Bedeutungen der Potsdamer Straße aus der Perspektive ihrer Anwohner und Nutzer wurden qualitative Leitfadeninterviews gewählt. Qualitative Interviews sind als Erhebungsinstrument in der Sozialforschung sehr verbreitet, sie bilden häufig die zentrale Datenbasis qualitativer Forschungsprojekte. Im Unterschied zu Befragungen im quantitativen Paradigma wie z.B. über Fragebogen erlauben sie, Bedeutungsmuster und -prozesse in offener Weise im Diskurs zu erkunden, dabei beziehen sie ihre theoretische Fundierung
12 Der Begriff Zitation (als Übersetzung des ATLAS.ti-Terms „quotation“) wurde zur Bezeichnung dieser codierten Textstellen gewählt, um eine Verwechslung mit Zitaten im üblichen Sinn zu vermeiden. Diese Textstellen können ein Wort, einen Satz oder einen Absatz umfassen, hier wurden überwiegend mehrere Sätze gewählt, um den Aussagekontext zu erhalten (vgl. auch Kuckartz/Dresing/Rädiker et al. 2007: 39f). 13 Den Inhalt eines Textabschnitts umschreibenden Begriffe werden in der qualitativen Forschung, z.B. bei Glaser und Strauss, auch als „Kodes“, bezeichnet. Um eine Verwechslung mit Kodes im semiotischen Sinne zu vermeiden, soll hier von „Kategorien“ gesprochen werden. Der Begriff des Codierens wird jedoch weiter verwendet, durch die abweichende Schreibung aber vom Kodieren im semiotischen Sinn unterschieden.
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auch aus Positionen der interpretativen Soziologie wie aus dem symbolischen Interaktionismus (s.o.) (Hopf 2000: 349f). Qualitative Interviews zeichnen sich grundsätzlich dadurch aus, dass die Formulierung der Fragen und der Ablauf des Interviews nicht oder nur wenig standardisiert sind. Der Interviewstil sollte neutral bis weich sein, die Fragen alltagssprachlich formuliert und der Kompetenz der Befragten angepasst sein, offene Fragen sollten den Vorrang haben. Der Interviewer bliebt in der Regel passiv, er greift erst mit weiteren Fragen ein, wenn dem Befragten zu einem Thema nichts mehr einfällt. Das Interview wird durch audiovisuelle Aufnahmegeräte protokolliert, um Informationen komplett auswerten zu können. Die Interviewdauer kann selbst bei Interviews zu einem Thema abhängig von Gesprächsbereitschaft und Artikulationskompetenz der Befragten erheblich differieren und ist nicht vorab planbar (Lamnek 2005: 352f, Helfferich 2004: 91ff). Bei der für die Erhebung gewählte Methode des leitfadengestützten Interviews handelt es sich, im Unterschied z.B. zum narrativen Interview, um eine teilstandardisierte Form. Der Interviewer orientiert sich an einem Leitfaden, der die Fragethemen vorgibt, jedoch flexibel gehandhabt wird, was die Formulierung der einzelnen Fragen und ihre Reihenfolge betrifft. Antwortvorgaben sind nicht vorhanden. Der Leitfaden hat eher die Funktion einer Gedächtnisstütze. Er soll so gestaltet sein, dass eine Beeinflussung der Interviewpartner möglichst vermieden wird, dass aber durch die Fragegestaltung die sehr spezifischen Sichtweisen der Probanden in Bezug auf das Thema in ihrer ganzen Breite erfasst werden können (Marotzki 2006: 114, Flick 2007: 195ff). 4.2.1.2 Auswahl der Probanden und Durchführung der Interviews Anders als die quantitative Methode zielt die qualitative Forschung nicht auf Repräsentativität der untersuchten Fälle, wie sie durch eine Zufallsauswahl erzielt wird. Große Fallzahlen sind meist ausgeschlossen. Vielmehr wird eine kleinere Anzahl möglichst unterschiedlicher Fälle ausgewählt, von denen angenommen wird, dass bei ihnen auch unterschiedliche und jeweils für die Gruppe, der sie zugeordnet werden, typische Deutungsmuster zu finden sind (Lamnek 2005: 352ff, 384ff). Für die Auswahl der Probanden an der Potsdamer Straße wurde ein Stichprobenplan erstellt und nach diesem ein ‚selektives‘ (oder ‚geschichtetes‘) Sampling anhand soziodemographischer Kriterien durchgeführt (vgl. Lamnek 2005: 191ff, Merkens 2000: 290ff). Personen aus folgenden Gruppen sollten in der Stichprobe vertreten sein: Anlieger aus jedem der einzelnen Abschnitte der Straße vom Kleistpark bis zum Potsdamer Platz, Anlieger unterschiedlicher Altersgruppen, Anlieger unterschiedlicher sozialer und ethnisch-kultureller Herkunft sowie mit unterschiedlichem Bezug zur Potsdamer Straße (Anwohner, Gewerbetreibende, dort Beschäftigte). Dieses Ziel wurde in den Grundzügen auch erreicht, auf Grund der unterschiedlichen Zugänglichkeit einzelner Personengruppen ergab sich jedoch eine in der
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sozio-demographischen Realität der Potsdamer Straße so nicht vorhandene Überrepräsentation von Personen mit höheren Bildungsabschlüssen und höherem sozialen Status. Auch Personen mittleren Alters von 40 bis 60 Jahren sind in der Stichprobe stärker als andere Altersgruppen vertreten. In Bezug auf das Merkmal der Abschnittszugehörigkeit konnten für zwei der Abschnitte (Kleistpark bis Goebenstraße und Lützowstraße bis Landwehrkanal) nur Anlieger interviewt werden, die mehreren Abschnitten zugeordnet waren.14 Als gegenwärtige oder frühere Anwohner bzw. Nutzer der Potsdamer Straße haben oder hatten alle Befragten einen ‚Nahblick‘ auf die Straße, sie kennen sie aus eigener alltäglicher Erfahrung. Es ist der Blick des Fußgängers oder des Fahrradfahrers, der auch Details wahrnehmen kann und für den die Straße nicht nur einheitlicher Transitraum, sondern differenzierter Objektkomplex ist (s.o. Kap. 3.3). In einem Datenbogen wurden soziodemographische Daten der Befragten15 und Besonderheiten (vorgelegte Fotografien s.u. etc.). Die für das Sampling relevanten Merkmale der Personen der Erhebungsgruppe sind im Anhang in Tabelle 9: Samplestruktur anonymisiert und nach Befragtencodes (P1 bis P20) dargestellt. Geführt und digital aufgezeichnet wurden zwischen Anfang Mai und Mitte Juli 2008 22 Interviews, davon wurden allerdings zwei wegen schlechter Aufnahmequalität, mangelnder sprachlicher Verständlichkeit und/oder fehlender inhaltlicher Relevanz nicht transkribiert und ausgewertet. 16 Die Interviews wurden überwiegend 14 Die ausgewählten Probanden waren der Autorin teilweise aus der Mitarbeit in Projekten im Kontext der Potsdamer Straße vorher bekannt, teilweise wurden sie als Gewerbetreibende bzw. Mitarbeiter von Betrieben der Potsdamer Straße direkt am Arbeitsplatz angesprochen. Vier Kontakte kamen durch Vermittlung anderer Personen zustande. Merkens (2000: 288f, 294 ) weist darauf hin, dass auch die Zugänglichkeit und Qualität der Informanten bei der Auswahl eine Rolle spielt, d.h. solche Personen ausgewählt werden, die reflektieren und sich artikulieren können sowie überhaupt bereit für ein Interview sind. Dieses Problem zeigte sich auch im Sampling für diese Untersuchung, da einige migrantische Anwohner auf Grund (jedenfalls in ihrer eigenen Wahrnehmung) nicht ausreichender Sprachkenntnisse oder auch vermeintlicher geringer Sachkenntnis nicht zu einem Interview bereit waren. Die Forderung einer maximaler Variation der Stichprobe (Merkens 2000: 291) konnte auch aus diesen Gründen nicht vollständig erfüllt werden. Erkennbare Differenzen der Bedeutungskonstitution zwischen unterschiedlichen soziodemographischen Gruppen sollen im Analysekapitel 4.3 jedoch gekennzeichnet und gewichtet werden. 15 Altersgruppe und Beruf, Zuordnung zu Abschnitt Potsdamer Straße, Bezug zur Potsdamer Straße (Wohnort/Arbeitsplatz etc.), mit der Potsdamer Straße bekannt seit … 16 Es handelte sich zum einen um ein Interview mit einer Jugendlichen, das interessante Aspekte aufwies, aber sehr kurz war und inhaltlich auch starke Überschneidungen zu P10
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in den Wohnungen oder Arbeitsräumen der Probanden geführt, ein Interview fand in einem Café und ein Interview auf Wunsch der Befragten in der Wohnung der Autorin statt. Die transkribierten und ausgewerteten Passagen der Interviews waren zwischen 34 min (P10) und 88 min (P14) lang, die mittlere Länge betrug 52 min. 17 Eingeleitet wurden alle Interviews jeweils durch die Frage: „Können Sie beschreiben, welchen Bezug Sie zur Potsdamer Straße haben?“, ggf. ergänzt durch: „Wie lange kennen Sie die Potsdamer Straße schon?“ Diese Fragen sollte erzählgenerierend, auch in Hinblick auf biographische Informationen, wirken und zum Thema hinleiten.18 Die folgende Frage bildete die eigentliche Eingangsfrage: „Wenn Sie ‚Potsdamer Straße‘ hören, woran denken Sie dann?“ Ziel dieser offenen Frage war es, bereits zu Beginn in möglichst wenig reaktiver Weise Aussagen über relevante Objekte, Inhalte und ggf. syntagmatische Strukturierungen der Vorstellungen erhalten. In den folgenden Fragen wurden von den Interviewpartnern genannte Aspekte vertieft und ggf. nicht genannte Elemente thematisiert. Das Basisschema des Leitfadens ist in Tabelle 8 im Anhang dokumentiert. Vier der Interviews wurden mit drei Mitarbeitern und Beauftragten der Quartiersmanagement-Bereiche Schöneberg-Nord und Tiergarten sowie einem im Bereich Schöneberg eingesetzten Polizeibeamten geführt (P13, P18, P19, P20). Dabei wurde der Leitfaden um Fragen zum Arbeitsgebiet der Befragten im Bereich Potsdamer Straße erweitert, d.h. das Interview um Elemente eines Experteninterviews ergänzt. Experteninterviews unterscheiden sich von anderen Formen des qualitativen Interviews dadurch, dass nicht die ganze Person mit ihren Orientierungen und Einstellungen Gegenstand der Analyse wird, sondern allein die Person in ihrer Eigenschaft als Experte oder Expertin (Meuser/Nagel 1991: 442).19 Aus der Frageaufwies. Weiterhin nicht ausgewertet wurde ein sprachlich schlecht verständliches Interview, in dem der Befragte zudem überwiegend die eigene Biographie thematisierte und zum eigentlichen Thema ‚Potsdamer Straße‘ nicht zurückgeführt werden konnte. 17 In der überwiegenden Zahl der Fälle wurde das Interview komplett ausgewertet und transkribiert. P14 spricht zu Beginn des Interviews ca. 50 min über ihre Erfahrungen im Bereich Potsdamer Straße in den letzten Kriegsmonaten 1945 und nach Kriegsende. Dieser Teil wurde nicht ausgewertet, ebenso wie einige kurze Gesprächspassagen mit persönlichen Themen in anderen Interviews. Bei einem Interview (P13) wurde die Aufzeichnung auf Grund eines Fehlers erst nach ca. 5 min begonnen, Äußerungen während dieser Zeitspanne wurden anhand eines Gedächtnisprotokoll rekonstruiert. 18 Zur Erstellung von Leitfäden und zur Interviewtechnik vgl. z.B. Helfferich 2004. 19 Es handelt sich demnach bei den Interviews P13, P18, P19 und P20 nicht um reine Experteninterviews, sondern um eine Mischform. In diesen Interviews wurde deutlich, dass einerseits die professionelle Rolle die Einstellungen zur Potsdamer Straße generell prägt, andererseits aber auch private Erfahrungen einen Einfluss haben. Zur Problematik
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stellung der Untersuchung zu den Vorstellungen der Potsdamer Straße ergibt sich, dass Experten nicht die zentrale Untersuchungsgruppe darstellen.20 Vielmehr wurden die Experteninterviews überwiegend explorativ mit dem Ziel geführt, kontextuelle Informationen über die sozialen und wirtschaftlichen Gegebenheiten der Potsdamer Straße zu gewinnen, zu welchen die Befragten in ihren jeweiligen unterschiedlichen Arbeitsfeldern privilegierten Zugang hatten. Weiterhin sollten in den Interviews P13, P18 und P19 Strategien der Imagearbeit erfragt werden.21 Die Eingangsfrage, die 5-Eigenschaftenfrage und die Frage nach der typischen bzw. idealen Großstadtstraße wurden auch allen Experten gestellt. Dabei entwickelten die Experten bereits in der Antwort auf die (auch nach biographischen Bezügen zur Potsdamer Straße fragenden) Einstiegsfrage eine ausführliche Beschreibung ihres Arbeitsgebiets, agierten somit bereits in ihrer Rolle als Experte. Spezifische Fragen zur Evaluation der Potsdamer Straße sowie die Fotofrage wurden weggelassen, die Kartenfrage (s.u.) nur einem Experten (P18) vorgelegt. Nach Abschluss des leitfadengestützten Teils wurden den Interviewpartnern Farbfotografien mit Motiven aus der Potsdamer Straße vorgelegt,22 zu denen sie sich äußern sollten (Fragen: Können Sie beschreiben, was Sie auf dem Foto sehen? Was fällt Ihnen zu dieser Fotografie ein?). Die sogenannte photo elicitation wird in der qualitativen Forschung genutzt, um neue Erzählungen oder Antworten zu stimulieren, die die Interviewaussagen ergänzen und ggf. neue Erkenntnisse generieren.23 der Unterscheidung zwischen der professionellen und privaten Person im Experteninterview vgl. Bogner/Menz 2009: 71f. 20 Bogner/Menz 2009: 93 definieren den Experten aus einer praxisorientierten Perspektive als Person, die durch Besitz oder Zuschreibung spezifischer Kompetenzen eine Funktion ausübt, welche sie befähigt, in ihrem Handlungsfeld ihre Orientierungen zumindest partiell durchzusetzen. Folgt man einem weiten Expertenbegriff, nach dem jeder Experte des eigenen Alltagslebens ist (vgl. Bogner/Menz 2009: 67), können allerdings alle Interviewten als ‚Experten der Potsdamer Straße‘ aufgefasst werden. 21 Beim Umgang mit dieser Frage zeigten sich auch die Grenzen und Probleme des Experteninterviews (vgl. auch Flick 2007: 218). Dem Thema Imagearbeit wurde teilweise eher ausgewichen, in einem Interview wurden Interessenkonflikte im Arbeitsfeld erst im informellen Gespräch nach Abschaltung des Aufzeichnungsgeräts thematisiert. 22 Es handelte sich um von der Autorin mit einer Kompaktdigitalkamera aufgenommene Fotografien im Format 13 x 18. Die Fotografien sind in Kap. 4.3.1.8 dokumentiert. 23 Vgl. z.B. Hurworth 2003: [Photo elicitation] „can challenge participants, provide nuances, trigger memories, lead to new perspectives and explanations, and help to avoid researcher misinterpretation“, s.a. Harper 2000: 414ff. Studien haben gezeigt, dass Reaktionen auf Farbfotos städtischer Szenen weitgehend denen auf die reale Umgebung vor Ort entsprechen (Nasar 1989: 38, Schneider 1996a: 223).
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Für die Untersuchung der Vorstellungen der Potsdamer Straße wurde diese Methode gewählt, da vermutet wurde, dass durch die auf den Fotos in ihrer konkreten Materialität dargestellten Einzelobjekte zusätzliche Aussagen zu spezifischen Objektaspekten gewonnen werden könnten.24 Den meisten Befragten wurden zwei Fotos gezeigt: eines (IF 1)25 zeigt das Haus Potsdamer Straße 164,26 einen zum Zeitpunkt der Aufnahme 2006 noch unsanierten Altbau im Abschnitt Bülowstraße, das andere (IF 2) einen Teil des belebten Abschnitts zwischen Kurfürsten- und Pohlstraße mit einer Vielzahl kleiner Gastronomiebetriebe. IF 1 wurde ausgewählt, da das auf dem Foto gezeigte Gebäude unterschiedliche historische Schichten zeigt – darunter eine ein alte Ladenschrift – und von Fassadenzustand über Ladenschilder bis zu den zugeklebten Schaufenstern eine Vielzahl von Objektaspekten zu identifizieren sind. IF 2 zeigt einen von der Mehrzahl der Befragten als typisch angesehenen Abschnitt. Einigen Befragten mit erhöhtem Fokus auf einen bestimmten Teil der Straße wurde zusätzlich oder alternativ noch ein Foto aus einem von ihnen wenig thematisierten Abschnitt vorgelegt, die Aussagen zu diesen Fotos wurden jedoch nicht im Detail ausgewertet. Um noch eine weitere Methode zu erproben und ggf. zusätzliche Ergebnisse zu erhalten, wurden P18 und P19 gebeten, 19 Fotos nach den Merkmalen ‚sehr charakteristisch für die Potsdamer Straße‘, ‚weniger charakteristisch‘ und ‚nicht charakteristisch‘ zu sortieren (card sorting task oder Sortiertechnik27) und ihre Wahl dabei kurz zu begründen. Die verbalen Äußerungen während dieses Auswahlprozesses wurden ausgewertet, die Einordnung in eine der drei Merkmalgruppen aufgrund der geringen Anzahl der Probanden jedoch nicht. 24 Erzielt werden sollten vorrangig also nicht generelle Aussagen zur Potsdamer Straße, sondern zu den jeweiligen Einzelobjekten oder Objektgruppen. Diese sollten Schlussfolgerungen ermöglichen über die Interpretation von Objektaspekten im Allgemeinen. Auffällig war jedoch, dass diese Interpretationen von den Befragten häufig selbstständig auf die gesamte Potsdamer Straße übertragen wurden (vgl. Kap. 4.3.1.8). 25 Die Fotos werden mit der Abkürzung IF und einer individuellen Nummer bezeichnet. 26 Aus der Denkmalliste Tempelhof-Schöneberg, Stand 24.09.2008: Potsdamer Straße 164, Mietwohnhaus mit Läden, 1865-66 von H. Heydrich und Fr. Schoenfelder; 1928 Aufstockung, Ladenportale und Fassadenüberformung von Erich Teschemacher. http://www. stadtentwicklung.berlin.de/denkmal/denkmalliste/downloads/denkmalliste_09_08.pdf [29.03.2009]. 27 Beim card sorting task handelt es sich um eine u.a. in der kognitiven Psychologie und der Linguistik angewendete Methode zur Erforschung des konzeptionellen Wissens von Individuen oder Gruppen. Unterschieden wird zwischen free sorting (die Kategorien, nach denen die Objekte – Karten mit Begriffen, Bilder u.a. – geordnet werden, werden vom Probanden gewählt) und der hier angewendeten Form des fixed sorting (Kategorien werden vom Forscher vorgegeben) (Ormerod/Bell 2008: 558ff, Städtler 1998: 1018f).
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Abschließend wurden die Interviewpartner gebeten, auf Transparentpapier, das über eine topographischen Karte der Potsdamer Straße (1:10.000) gelegt wurde, ‚ihren‘ Anfang und ‚ihr‘ Ende der Potsdamer Straße sowie den ihrer Meinung nach charakteristischsten Bereich zu kennzeichnen, zusätzlich für sie wichtige Orte und Objekte zu markieren und dabei ihre Auswahl zu kommentieren. Es entstand eine Mental Map (s.o. Kap. 2.3.3), die eingesetzt wurde, um die jeweilige individuelle Ausdehnung des räumlichen Konzepts ‚Potsdamer Straße‘ zu bestimmen (siehe Kap. 4.3.3) sowie ggf. ergänzende Aussagen zu einzelnen Objekten zu generieren.28 Alle in Zusammenhang mit der Fotofrage und der Erstellung der Mentalen Karte (im Folgenden auch als ‚Kartenfrage‘ bezeichneten) gemachten verbalen Äußerungen wurden ebenfalls aufgezeichnet und ausgewertet. 4.2.1.3 Transkription und Auswertung Transkriptionen der 20 Interviews wurden von Ende Juni bis Ende Juli 2008 von insgesamt drei Personen durchgeführt. Das Codieren der ersten Interviews wurde Mitte Juli 2008 begonnen, d.h. Ergebnisse bei der Auswertung konnten überwiegend nicht mehr in den Aufbau der Interviews einfließen. Für die Transkription wurde, angelehnt an die Empfehlungen von Kuckartz (Kuckartz/Dresing/Rädiker et al. 2007: 27f) ein für die Transkribenten einfach zu handhabendes Regelsystem gewählt, das auch eine gute Lesbarkeit des transkribierten Textes gewährleistete. Die als Audiodateien aufgezeichneten Interviews wurden vollständig und wörtlich transkribiert, Dialekte und andere Aussprachevarianten in Schriftdeutsch umgesetzt, Grammatik und Interpunktion leicht geglättet. 29 Die Transkriptionen wurden im Anschluss anhand der Audiodaten geprüft und die Texte, wenn nötig, korrigiert sowie anonymisiert, sofern dies nicht schon während des Transkriptionsprozesses erfolgt war. Bereits beim Lesen der Transkriptionen konnten unerwartete Schwerpunkte wie die wichtige Rolle der persönlichen Kontakte identifiziert werden sowie erste fallübergreifende Übereinstimmungen bei einzelnen Interviewtengruppen festgestellt werden. Die Auswertung der Interviewtexte wurde unterstützt durch die QDA-Software (Analyse-Software für qualitative Daten) ATLAS.ti (vgl. Muhr 2004, s.a. Kuckartz 2007 und Flick 2007: 451ff zum 28 Eine detaillierte Auswertung der erstellten Graphiken ergänzend zu der Bestimmung der Grenzen der Potsdamer Straße wurde jedoch nicht durchgeführt, auf eine Reproduktion der Karten wird daher verzichtet. 29 Parasprachliche Phänomene wie Lachen und Sprechpausen wurden vereinfacht transkribiert. Auf eine Nutzung differenzierter Transkriptionssysteme wurde verzichtet, da die Fragestellung eine Dokumentation und Interpretation z.B. subtiler psychologischer Reaktionen nicht erforderlich machte (vgl. auch Flick 2002: 379f zur Anpassung des Transkriptionssystems an die Fragestellung).
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Einsatz von Software in der qualitativen Forschung). Zuerst codiert wurden solche Transkriptionen, die früh eingegangen waren und als besonders interessant und facettenreich empfunden wurden. Als Codiergrundlage wurde das beim Auswerten der Testinterviews und unter Einbeziehung der Überlegungen im theoretischen Teil erstellte Kategoriensystem genutzt. Ausgangspunkt für die Entwicklung der Grundstruktur des Kategoriensystems war die Annahme einer stadträumlichen Vorstellung als komplexe, strukturierte mentale Repräsentation, die sich aus Objektkonzepten (Einheiten aus Ausdruck und Inhalt) und ihren Relationen untereinander konstituiert (vgl. Kap. 3.2). Berücksichtigt werden mussten zum einen die paradigmatischen Elemente der Straße, d.h. die Objekttoken und -typen und deren explizit zugeschriebenen oder implizit denotierten oder konnotierten Inhalte (Funktionen, Bedeutungen und Eigenschaften). Zum anderen, aus der Sicht des Syntagmas, mussten die Relationen zwischen den paradigmatischen Elementen, also räumliche Gliederungen, im Kategoriensystem abgebildet werden. Diesen Vorgaben folgend wurden Kategorien u.a. erstellt für: Einzelobjekte, Objekttypen, Objektaspekte (Eigenschaften und Bewertungen, d.h. Prädikate), Nutzungen, atmosphärische Eigenschaften (lebendig, öde), sozial-kulturelle Kategorisierungen, syntagmatische Eigenschaften (Mischung, Brüche etc.), räumliche Verortungen (z.B. einzelne Straßenabschnitte), zeitliche Kategorisierungen und das generellen Konzept . Während der Arbeit am Material wurden neue Kategorien (Objekte, Objekttypen, Nutzungen etc.) definiert sowie die vorläufigen Kategorien überarbeitet und differenziert. Durch die Bildung von (flexiblen) Kategorienfamilien entstanden übergeordnete Kategorien, z.B. für gebrauchsfunktionale Inhalte von Objekten oder Objekte mit historischem Inhalt. Ferner wurden ‚formale‘ Kategorien wie z.B. die Zuordnungen zu Leitfadenfragen, die die Unterscheidung in ‚freie‘ und durch Fragen stimulierte Antworten ermöglichten, eingesetzt. Unterstützt durch ATLAS.ti wurden die Textstellen zu einzelnen Kategorien oder Kategorienfamilien (Themenkomplexen) abgefragt, die gefundenen Stellen ausgedruckt, ausgewertet und der Analysetext (siehe Kap. 4.3) erstellt. Wenn erforderlich, wurden noch während dieses Prozesses Kategorien oder Familien modifiziert oder neue gebildet. Auf Grund der Vielzahl der Kategorien für Einzelobjekte erschien es sinnvoll, eine Dimensionalisierung der Daten, d.h. die Verknüpfung z.B. von Kategorien für Objekttoken oder -typen mit Eigenschaften bzw. Prädikaten (vgl. auch Strauss/ Corbin 1990/1996: 50ff), erst während der Auswertung der Textstellen im Kontext vorzunehmen. Dimensionalisierende Einzelkategorien (wie lebendig, ruhig etc.) wurden nur für generelle, meist atmosphärische Eigenschaften definiert. Einzelne mehrdeutige Aussagen oder Begriffe (z.B. „Plattenbauten“, „bunt“), wurden im Sinne von Mayring expliziert, d.h. versucht, unter Rückgriff auf Wörterbücher und andere Nachschlagewerke und unter Berücksichtigung des Kontextes den denotativen und konnotativen Inhalt zu klären (Mayring 1983: 77ff). Die Analyse von
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Einzelinterpretationen und eine Typenbildung der untersuchten Texte war kein vorrangiges Ziel dieser Arbeit.30 Perspektiven und Relevanzsetzungen sowie deren Verknüpfungen wurden vornehmlich ausgehend von den perspektivierten Objekten und nicht von den perspektivierenden Subjekten analysiert. Gefragt wurde weniger: ‚Wer interpretiert in welcher Weise?‘ (im Sinne einer soziologischen Herangehensweise), sondern ‚In welcher Weise wird was interpretiert?‘, d.h. es wurde nach möglichen allgemeinen Interpretationsmechanismen der Straßenobjekte gesucht. Zentral untersucht werden sollten nicht die einzelnen subjektiven Relevanzsetzungen, die auf (natürlich auch immer sozial bedingten) individuellen Wissenskontexten und Interessen aufbauen, sondern generelle zeiträumliche Kotextualisierungen der Objekte in den Interpretationen (zur Differenzierung zwischen Wissenskontexten und Kotexten s.o. Kap. 2.1.2 / Kontext und Relevanz). Dennoch sollten in einer kurzen Übersicht Korrelationen zwischen ausgewählten soziodemographischen Merkmalen der Probanden und bestimmten Ausprägungen der Vorstellungen (unterschiedlichen Relevanzbestimmungen) dargestellt werden (siehe Kap. 4.3.8). Die Analysesoftware bietet auch ein starkes Instrument zur Quantifizierung von Daten. Auch wenn die Zählung von Häufigkeiten vorwiegend im quantitativen Paradigma angewendet wird, kann eine Quantifizierung qualitativ erhobener Daten, in der zwischen Mehrheiten und Minderheiten unterschieden wird,31 sinnvoll sein. Entscheidend ist jedoch, dass eine gründliche qualitative Analyse des Materials vorangeht (Kuckartz/Dresing/Rädiker et al. 2007: 47, Mayring 1983: 19, Seale 1999: 119ff). Kategoriehäufigkeiten können mit Hilfe von QDA-Programmen ausgezählt, verglichen und (ohne Behauptung von Repräsentativität) in Bezug auf einzelne Interviewtengruppen gewichtet werden.32 Weiterhin können Texte durch 30 Die Typenbildung, d.h. die Gliederung des Untersuchungsbereichs (der Individuen, aber auch Institutionen etc.) in Gruppen nach bestimmten Merkmalen, z.B. Deutungsweisen oder Verhaltensformen, wird in der qualitativen Sozialforschung in vielen Studien als grundlegendes Element eingesetzt (vgl. z.B. Kluge 2000, zum Vorgehen bei einer detaillierten typologischen Analyse siehe Kuckartz 2007: 96ff). 31 Barton und Lazarsfeld bezeichnen solche Aussagen als „Quasi-Statistiken“ (Barton/ Lazarsfeld 1955/1979: 69ff). 32 Quantifizierung von Teilbereichen der Daten wird im Rahmen dieser Untersuchung auch deshalb als möglich erachtet, weil es sich bei vielen Bedeutungselementen, nämlich den Objekten der Straße (als Token, aber auch als Typ) um eindeutig definierte Einheiten handelt, denen zumindest auf der denotativen Ebene auch klar umrissene Konzepte entsprechen. Seipel betrachtet eine Quantifizierung qualitativer Daten dann als gewinnbringend und möglich, wenn die Quantifizierung in der Fragestellung der Untersuchung zu begründen ist und „wenn die zu quantifizierenden Einheiten klar definiert sind und
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Werkzeuge wie das Cooccurrence Tool in ATLAS.ti, das das gleichzeitige Auftreten verschiedener Kategorien ermittelt, erkundet werden. Diese Funktion war in dieser Erhebung besonders nützlich, da mit ihrer Hilfe z.B. Objekte und Inhalte auf einfache Weise einzelnen (syntagmatischen) Abschnitten der Straße zugeordnet wurden konnten. 4.2.2 Die Pressetexte: Auswahl und Auswertung Zum Untersuchungskorpus gehörten neben den Interviewtexten auch Artikel der lokalen Berliner Presse. Diese wurden mit herangezogen, um neben den subjektiven, individuellen Vorstellungen der Potsdamer Straße (Eigenbild oder Nahbild) auch einen Einblick in Darstellungsimages als Fremdbilder zu gewinnen, wie sie sich in den von Journalisten verfassten Artikeln zeigen.33 Die Perspektive des Journalisten, der die Straße beschreibt, ist von größerer Distanz gekennzeichnet als die eines Anwohners (die Straße ist für ihn nicht seine Alltagsumwelt). Selbst wenn er Anwohner wäre, würde er sein ‚Alltagsbild‘ bei der Erstellung eines Zeitungsartikels in bestimmter Weise zuspitzen, kondensieren und wahrscheinlich auch schematisieren, um den Erfordernissen, die üblicherweise an einen kürzeren lokalen Zeitungsbericht gestellt werden, zu genügen. In diesem Sinne ist der Inhalt der Zeitungsartikel auch deutlich nicht mit den subjektiven Vorstellungen der Journalisten gleichzusetzen. Durch die mediale Verbreitung der journalistischen Texte kann man von einer, im Unterschied zu den individuellen Aussagen, imageprägenden Wirkung dieser Texte ausgehen. In Anknüpfung an Kapitel 2.3.3 wird auch angenommen, dass diese Texte eine in größerem Umfang stereotype Elemente enthalten als die Interviewtexte.
nicht erst interpretativ erschlossen werden müssen“ (Seipel/Rieker 2003: 249). Da die Bedeutung der Straße definiert wird als die für die Befragten relevanten Objekte (als Typen und Token) sowie deren Prädikate und ihre Relationen untereinander, ist eine Quantifizierung dieser genannten Elemente nicht nur sinnvoll, sondern auch notwendig. Bei einer fehlenden Quantifizierung der Objekte würde z.B. der Eindruck erweckt, die Vorstellung der Potsdamer Straße wäre für die Befragten gleichwertig durch das Objekt Königskolonnaden wie durch das Objekt Tagesspiegel geprägt, obwohl einer Nennung der Königskolonnaden in einem einzigen Interview mehr als 30 Nennungen des Tagespiegels in den Interviews insgesamt gegenüber stehen. 33 Texte, die ein Werbeimage (vgl. Kap. 2.3.3) der Potsdamer Straße transportieren und eine breitere Außenwirkung über das Quartier hinaus haben sind für den Untersuchungszeitraum (bis Mitte 2008) kaum nachzuweisen (s.a. Kap. 4.3.7.2, Fußnote 107).
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Unabhängig vom Forschungsprozess entstandene, sogenannte akzidentale Dokumente wie Zeitungsartikel oder andere massenmediale Texte bilden einen weniger typischen Gegenstand qualitativer Forschung als in einem spezifischen Forschungskontext produzierte Texte wie Interviews (systematische Dokumente34) (Lamnek 2005: 492). Auch die Auswertungsmethoden unterscheiden sich: Akzidentale Texte werden häufig einer (quantitativen oder qualitativen) Inhaltsanalyse unterzogen, während an die Grounded Theory angelehnte Methoden seltener angewendet werden (Christmann 2006: 283, 285).35 Akzidentale Dokumente sind als „eigenständige Datenebene“ zu betrachten, in der eigene Wirklichkeitsversionen erzeugt werden (s.a. oben, Kap. 4.1). Daher sollten sie auch nicht zur Validierung von auf andere Weise erhobenen Daten, wie Interviewaussagen, dienen (Wolff 2000: 511, Flick 2007: 327).36 Akzidentale Dokumente stellen jedoch eine sinnvolle Ergänzung zu anderen Datensorten dar, sofern ihre Herstellungs- und Verwendungskontexte berücksichtigt werden (Flick 2007: 331). Beachtet werden muss u.a., dass nur ein eingeschränkter Personenkreis (Journalisten, Stadtforscher, Politiker, Mitglieder lokaler Initiativgruppen etc.) Texte in Medien, die über eine gewisse Reichweite verfügen, einer breiteren Öffentlichkeit zugänglich machen und so das Image beeinflussen kann.37 Gesichtet wurden in den Bezirksarchiven Tempelhof-Schöneberg und Mitte38 Zeitungsartikel der Berliner Lokalpresse mit Gesamtberliner Reichweite39 sowie 34 Begriffliche Unterscheidung in akzidentale und systematische Dokumente nach Atteslander 1975: 65ff, 72ff. 35 Vgl. jedoch z.B. Grüger 2003, die die Grounded Theory als Auswertungsmethode zur Analyse von Zeitungsaufsätzen nützt. 36 Ebenso können akzidentale Dokumente laut Flick kaum als nicht-reaktive Daten verstanden werden, da auch solche Texte von ihren Autoren immer in einer spezifischen, bereits interpretierenden Perspektive produziert wurden (Flick 2007: 330f). 37 In Zeiten des Web 2.0 ist es zwar jedem, der Zugang zum Internet besitzt, möglich, über Blogs etc. eigene Meinungen und Erfahrungen einer potentiell sehr großen Öffentlichkeit mitzuteilen. Inwieweit solche Bemühungen Einzelner Eingang in ein intersubjektives Image einzelner Stadträume findet, ist jedoch ungewiss (zu einer empirischen Untersuchung in diesem Bereich vgl. Göbbels 2009 [Text lag mir nicht vor]). Mit dem Geschehen rund um die Potsdamer Straße beschäftigt sich der „potseblog“ (http://potseblog. de) von Regine Wosnitza, seit Juli 2009 im Netz. 38 Archiv zur Geschichte von Tempelhof und Schöneberg, Hauptstr. 40-42, 10827 Berlin und Mitte Museum am Gesundbrunnen, Archiv, Pankstr. 47, 13357 Berlin. 39 Kostenlose Bezirkszeitungen und die Quartierszeitungen der beiden Quartiersmanagementgebiete wurden nicht einbezogen, da diese nur die Haushalte in der näheren Umgebung der Potsdamer Straße bzw. im jeweiligen Stadtbezirk erreichen.
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überregionaler Tageszeitungen von ca. 1960 bis Mitte 2008. Ferner wurde in elektronischen Archiven der Berliner Tageszeitungen „Der Tagesspiegel“, „Berliner Zeitung“, „Berliner Morgenpost“ und „taz“ (die tageszeitung) recherchiert. Nicht berücksichtigt wurden Kurzberichte zu Verkehrsunfällen, Polizeieinsätzen, Veranstaltungsankündigen etc. Einbezogen wurden ferner nur solche Texte, die sich entweder mit der gesamten Potsdamer Straße (vom Kleistpark bis Potsdamer Platz) oder mit Teilbereichen und ihren Objekten und Inhalten südlich des Landwehrkanals beschäftigen. Artikel, die nur den Potsdamer Platz und/oder das Kulturforum zum Thema hatten, wurden nicht ausgewertet, da diese als Einzelphänomene nicht im Zentrum des Forschungsinteresses standen. Für den Publikationszeitraum 1998 (Jahr der Eröffnung der ‚Daimler-City‘ inkl. Potsdamer Platz Arkaden am Potsdamer Platz) bis Ende 2007 mit einem Ausblick bis ins Jahr 2009 wurde eine grobe Themenübersicht erstellt (siehe Kap. 4.4.1). Ausgewählt für eine detaillierte Analyse in Kapitel 4.4.2 wurden vier Artikel, die im Unterschied zur Mehrzahl der Texte nicht nur einzelne Aspekte der Potsdamer Straße wie den Sozialpalast, die Prostitution etc. thematisieren, sondern versuchen, ein Gesamtbild zu zeichnen. Das Sampling erfolgte hier auf Grund theoretischer Überlegungen, ein Zeitungstext sollte ein ähnlich breites thematisches Spektrum abdecken wie ein Interview. Auf gewisse inhaltliche Schwerpunktsetzungen verzichten allerdings auch die Artikel nicht. Ein selektives Sampling, das ein breites Spektrum unterschiedlicher Merkmale berücksichtigte, war auf Grund der relativ kleinen Menge der Publikationen spezifisch zur Potsdamer Straße nicht möglich, es wurden allerdings Artikel aus vier unterschiedlichen Zeitungen und vier unterschiedlichen Jahren ausgewählt. Vier Artikel der Jahre 1999, 2000, 2002 und 2007 aus den Zeitungen bzw. Zeitschriften Tagesspiegel, Zitty, Berliner Zeitung und taz wurden auf Grundlage des für die Interviews entwickelten Kategoriensystems codiert und ausgewertet. Insgesamt ist die Analyse weniger detailliert angelegt als die der Interviews. Interpretationsmechanismen, die bereits in den Interviews analysiert wurden, werden nicht erneut näher beschrieben. Analysiert wurde vorrangig der referentielle Gehalt der Texte, eine umfassende Analyse der Textstrategien oder Stilmittel der Artikel konnte in diesem Zusammenhang nicht geleistet werden. Vergleiche zwischen den Inhalten der Interviews auf der einen und den Presseartikeln auf der anderen Seite sind angesichts der unterschiedlichen Charakteristika der beiden Textsorten nur annäherungsweise möglich und sollten vorsichtig formuliert werden. Gewisse Tendenzen unterschiedlicher Relevanzkonstruktion für den Stadtraum Potsdamer Straßen lassen sich jedoch feststellen und werden auch in der Analyse in Kapitel 4.4.2 benannt.
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4.3 D IE „ GESPROCHENE S TRASSE “: ANALYSE I NTERVIEWDATEN
DER
Die Gliederung der Interviewauswertung orientiert sich schwerpunktmäßig an den im Interviewmaterial vorgefundenen Objekten, Inhalten und Strukturbildungen. Sie folgt nur teilweise der in Kapitel 3.4 erstellten Typologie, die vorwiegend auf klassischen, in der semiotischen Theorie eingeführten Typisierungen von Zeichen im Allgemeinen und Objekt-Zeichen im Speziellen aufbaut. Damit wird zum einen der Tatsache Rechnung getragen, dass einzelne Ausdrucks- oder Inhaltstypen (z.B. die Kommunikationsobjekte als Ausdruck oder die regulierenden Inhalte) in den Texten nicht oder nur in sehr geringer Anzahl thematisiert werden, zum anderen hätte eine schematische Übernahme der Typenmatrix aus 3.4 zu einer Dekontextualisierung eng verknüpfter Bedeutungszusammenhänge geführt. Aus diesen Gründen folgt die Gliederung in groben Zügen der Struktur des Interviewleitfadens (der allerdings u.a. aus der Typologie heraus entwickelt wurde, s.o. Kap. 4.2) und damit auch annäherungsweise der Chronologie des Interviewablaufs. Ferner wird in der Ordnung des Auswertungskapitels sekundär auch die Gewichtung der Themen berücksichtigt. Die in Kapitel 3.4 unterschiedenen Inhaltsfelder wurden ebenfalls den im Material vorgefundenen Inhalten angepasst und neu strukturiert. Die neu entstandenen Gliederungen werden in der Textauswertung als Elementfelder bezeichnet, um eine Verwechslung zu verhindern und darauf hinzuweisen, dass sowohl Ausdrucks- als auch Inhaltselemente berücksichtigt werden. Die Bedeutungszuschreibungen werden in diesem Kapitel überwiegend im Präsens dargestellt und analysiert, auch wenn einige der genannten Objekte (z.B. Institutionen wie der Tagesspiegel und die BVG) zum Zeitpunkt des Abschlusses der Arbeit ihren Standort nicht mehr an der Potsdamer Straße haben. Die besonders in Kapitel 4.3.3, aber auch in anderen Unterkapiteln behandelten Abschnitte der Potsdamer Straße werden teilweise der Kürze halber nicht durch beide sie begrenzenden Querstraßen benannt (z.B. ‚Abschnitt Kurfürstenstraße–Lützowstraße‘), sondern nur durch die abschnittbegrenzende Querstraße im Norden (z.B. ‚Abschnitt Goebenstraße‘ steht für ‚Abschnitt Kleistpark – Goebenstraße‘). Einen Überblick gibt die Karte im Anhang. Die herausragende Rolle der Relevanzbestimmung als notwendige Voraussetzung jeder Konstitution von Objekten als Zeichen wurde in Kapitel 2 dargestellt. In Kapitel 3.4.5 wurden für die Interpretation von städtischen Räumen drei Relevanzformen unterschieden, die praktische, symbolische und sensorische Relevanz. Die Bestimmung der jeweiligen Relevanzform der genannten Elemente und Inhalte ist auch verbindendes Analysekriterium für die im Folgenden thematisch dargestellten Interviewäußerungen. Weiterhin wird dem Merkmal der Ortsindexikalität der einzelnen Elemente besondere Beachtung geschenkt. Ortsindexikalität wurde in Kapitel 3.4.4 definiert als stabiler indexikalischer Bezug des Inhalts von städtischen
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Objekt-Zeichen auf ihren städtischen Kotext für einen Interpreten. Auch die jeweils in den Aussagen angewendete strukturelle Perspektivierung des Objekts Potsdamer Straße wird in der Analyse kenntlich gemacht. Die Unterkapitel 4.3.1.1 bis 4.3.1.10 beschäftigen sich mit den in den Interviews genannten (und damit als relevant identifizierten) Objekttoken, -typen, Nutzungen und Objektaspekten. In 4.3.1.1 werden die am häufigsten genannten Objekttoken analysiert. Kapitel 4.3.1.2 bis 4.3.1.10 fasst die jeweils genannten Token, Typen und Aktivitäten zu Elementfeldern der Vorstellung zusammen, bei denen jeweils Objekttypen, Nutzungen oder spezifische Eigenschaften wie Historizität im Vordergrund stehen. Kapitel 4.3.2 zeigt, welche globalen Eigenschaften der Potsdamer Straße zugeschrieben werden, und Kapitel 4.3.3 beschreibt die Strukturierungen der Straße durch die Probanden. Kapitel 4.3.4 fragt nach dem generellen Konzept einer Großstadtstraße bei den Interviewten. In Kapitel bis 4.3.5 bis 4.3.6 wird die Potsdamer Straße wieder als Ganzes in den Blick genommen: sie wird in Bezug zu anderen Straßen gesetzt, ihr städtischer Kontext betrachtet und ihr Image in der Berliner Öffentlichkeit reflektiert. Kapitel 4.3.7 beschreibt die Wünsche der Befragten für die Potsdamer Straße und thematisiert Strategien der Imagearbeit, Kapitel 4.3.8 vergleicht die Vorstellungen der Befragten auf Basis einiger soziodemographischer Merkmale. In Kapitel 4.3.9 wird knapp auf die typologischen Merkmale eingegangen, die im Analysekapitel vorher nicht zum Tragen kamen; ferner werden solche in den Texten vorkommenden Begriffe betrachtet, die auf ein Interpretationshandeln hinweisen. Äußerungen von einzelnen Befragten werden in der Auswertung durch den jeweiligen Befragtencode (P1 bis P20) gekennzeichnet. Ausgewählte umfangreichere Unterkapitel in Kapitel 4.3.1, die besonders häufig genannte Elemente des Vorstellungsbilds beschreiben, sowie Kapitel 4.3.2 und 4.3.4 werden durch eine tabrllarische Zusammenfassung ergänzt, um eine besseren Übersichtlichkeit zu gewährleisten. In diesen Zusammenfassungen (grau unterlegte Kästen) werden folgende Zeichen verwendet: + / ++ verweist auf häufig bzw. sehr häufig genannte Objekte, O auf nicht oder wenig genannte, − auf als nicht vorhanden oder fehlend bezeichnete Elemente und ĺ auf weiterführende Inhalte. 4.3.1 Die Potsdamer Straße: relevante Elemente der Vorstellungen Die im Kapitel 4.3.1 analysierten Interviewäußerungen betrachten, sicher auch auf Grund der Fragevorgaben des Leitfadens, die Potsdamer Straße überwiegend aus der Perspektive der Straße als Objektkomplex (vgl. Kap. 3.3). Einzelne Objekte, Objekttypen, Objektaspekte und Inhalte werden genannt. Die Straße als Ganzes bildet jedoch immer den Hintergrund, da auf sie bezogen die Relevanz der Objekte
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gewichtet und Einzelinhalte auf die Gesamtstraße übertragen werden. In den Unterkapiteln 4.3.1.3, 4.3.1.5 und 4.3.1.7 werden teilweise Inhalte thematisiert, die auch der Gesamtstraße zukommen (Basisebene). Mit der Beschreibung der Potsdamer Straße als Verkehrsachse und Teilabschnitt der Bundesstraße 1 wird sie ferner als Element des übergeordneten Systems der Stadt in den Blick genommen (Stadtelementebene). 4.3.1.1 Relevante Objekttoken: der Tagesspiegel und andere Bei den Einzelobjekten führt das Verlagshaus des Tagesspiegel40 die Liste der Nennungen in den Interviews deutlich mit 34 Zitationen an. Auf den weiteren Plätzen, allerdings mit deutlichem Abstand, folgen die Wohnanlage Pallasseum (s.u. Kap. 4.3.1.2), der Landwehrkanal bzw. die ihn überquerende Brücke41 (s. Kap. 4.3.3.1), der Wintergarten, die Joseph-Roth-Diele (s. Kap. 4.3.1.2) und das BVGGebäude.
40 Die Tageszeitung „Der Tagesspiegel“ wurde 1945 gegründet und hatte seit 1954 ihr Stammhaus (bis 2003 mit Druckerei) in der Potsdamer Straße 87 (Nägele/Markert 2006: 299). Zwar stand sie Anfang 2007 nach verkauften Exemplaren nur an zweiter Stelle der Berliner Qualitätszeitungen nach der Berliner Zeitung, war jedoch in den letzten Jahren immer die meistzitierte Zeitung der deutschen Hauptstadt: (http://www.tagesspiegel.de/ medien-news/;art15532,2454646 vom 11.1.2008 [28.11.2011]). Zu berücksichtigen ist auch ihre starke Tradition als wichtigste seriöse Zeitung im ehemaligen West-Berlin. Im Dezember 2009, also nach Abschluss der Erhebungen für diese Arbeit, haben Verlag und Redaktion die Potsdamer Straße verlassen und sind zum Askanischen Platz / Anhalter Bahnhof umgezogen (s.o. Kap. 1.8.4 / Nachtrag). 41 Der Landwehrkanal bzw. die ihn überquerende Brücke wurde von den Interviewten überwiegend nicht als eigenständiges Objekt, sondern allein als die Bereiche im Norden und Süden trennende Grenze thematisiert. Daher wird er trotz seiner offensichtlichen Relevanz (19 Nennungen von 12 Personen) nicht unter den relevanten Objekttoken aufgeführt, sondern als die Straße strukturierende Einheit im Unterkapitel 4.3.2.5 behandelt.
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Tabelle 3: Meistgenannte Einzelobjekte der Potsdamer Straße
Objekt
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42
Anzahl der Nennungen
Anzahl der Personen, die Objekt nennen
1
Tagesspiegel
34
16
2
Pallasseum
23
11
3
Wintergarten
18
12
4
Joseph-Roth-Diele
14
7
5
BVG-Gebäude
13
8
6
Hochbahn Bülowstraße
12
8
7
Kleistpark
11
9
8
Magistrale
11
7
9
Potsdamer Straße 98
11
9
10
Schropp
11
8
11
Staatsbibliothek
11
8
12
Woolworth
9
8
Nur vier der Interviewten nennen den Tagesspiegel nicht. Der Tagesspiegel (siehe Abb. 8) scheint für die Mehrzahl ein „Wahrzeichen“ (P1) darzustellen, das auch Teil des überlokalen Images ist: „Ja, Potsdamer Straße – Tagesspiegel verbinde ich damit“ (P7) oder „Es [das Image] schwankt so zwischen Tagesspiegel und Prostitution“ (P12). In diesen allgemeinen Aussagen wird zwischen dem Gebäude und seiner Funktion als Sitz der Institution Tagesspiegel (Ausdruck und Inhalt) nicht unterschieden. Der Tagesspiegel als Zeitungsverlag steht für den kulturellen Aspekt des Images, er führte als einer der letzten die Tradition der Potsdamer Straße als Verlagsstandort (siehe Kap. 1.8) weiter. „Was jetzt letztendlich übriggeblieben ist [von dem Verlagsstandort Potsdamer Straße], sichtbar, ist der Tagesspiegel“ (P13). Seine Funktion als Verlag ist in diesem historischen Sinne bedeutungsvoll, weiterhin trägt er aktuell auch durch seine Berichterstattung, die wegen der lokalen Bindung öfters Themen der Straße behandelt, dazu bei, die Aufmerksamkeit für die Straße wach zu halten: „Ja, das liegt dann vielleicht am Tagesspiegel, der darüber
42 Nicht einbezogen in die Zählung wurden die Objekte, deren Nennung nur durch das Vorlegen von Fotos, auf denen sie abgebildet waren, ausgelöst wurden (s.o. Kap. 4.2.1.2 zur photo elicitation).
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schreibt“ (P7). Ferner ist er ein wichtiger Arbeitgeber im Bereich Potsdamer Straße: „200 Mitarbeiter, die auch den Lokalen den Mittagstisch bringen, nicht dass dann auch noch das Lokalsterben losgeht und das bisschen, was man hier so hat“ (P15). Abbildung 8: Tagesspiegel-Gebäude
Foto: E. Reblin
Das Vorstellungsbild der Straße wird aber nicht nur auf der Inhaltsebene durch die mit Konnotationen angereicherte Funktion des Tagesspiegel als wichtige Zeitung und Verlagsunternehmen in Berlin, sondern auch auf der Ausdrucksebene durch sein langgestrecktes Gebäude geprägt, das den Abschnitt zwischen Kurfürsten- und Lützowstraße visuell beherrscht: „Ja, also der Tagesspiegel war auch schon ein markantes Gebäude, mit dem Turm ...“ (P1) und dem „komischen Überbau“ (P4) mit dem Namen der Zeitung auf dem Dach. „Das sieht man ja von überall her. Und das ist schon eine gewisse Markanz“ (P1). Der geplante Wegzug des Verlags und mutmaßliche Abriss des „maroden“ Verlagsgebäudes (P19) wird von den Befragten äußerst bedauert (10 der Befragten thematisieren ihn). Die Straße sei dann noch mal „weniger im Blickpunkt“ (P7). Das werde eine „riesengroße Lücke reißen“, die Konsequenzen seien noch gar nicht abschätzbar, da „geht ja auch gutes Publikum ein und aus“ (P11, Geschäftsmann an der Potsdamer Straße). „Also dann weiß man echt nicht, ob das noch so der SahneAbschnitt [gemeint ist der Abschnitt zwischen Kurfürsten- und Lützowstraße] bleibt“ (P15). Der Tagesspiegel wirkt somit nicht nur positiv auf das Gesamtbild der Straße, sondern auch auf den speziellen Abschnitt, ohne ihn könnte dieser seine relative Attraktivität im Vergleich zu anderen Abschnitten verlieren. Allerdings könnte das durch Wegzug freiwerdende Gebäude, soweit es nicht abgerissen würde,
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auch neue Funktionen als Veranstaltungsort, z.B. für Familienfeiern der migrantischen Anwohner übernehmen: „dass man da den Bürgern öffentlichen Raum bieten könnte, damit die Leute sich organisieren können“ (P16). Anhand des in Kapitel 2.2.5 entwickelten Interpretationsmodells für ObjektZeichen werden die oben beschriebenen Interpretationen in Abbildung 9 schematisch dargestellt. Um die Übersichtlichkeit zu erhalten, wird das Modell dabei etwas vereinfacht und modifiziert. Die Null-Ebene der Interpretation, die Konstitution des Objekts Tagesspiegel wird ganz links dargestellt. Den Objektausdruck bildet das Gebäude des Tagesspiegels ([Tagesspiegel]), Inhalt ist seine Funktion als Sitz der Institution Tagesspiegel, verkürzt die Institution selbst (). Für die Interpretationen der Ebene 1 werden einzelne Aspekte der Ausdrucks- oder Inhaltsebene ausgewählt. Bei der Ausdrucksebene, dem Gebäude, ist dies die lange Straßenfront, die sich von der eher kleinteiligen Bebauung der unmittelbaren Umgebung abhebt sowie der Dachüberbau mit dem Firmennamen. Beide bewirken eine visuelle Markanz – sei es direkt auf dem Abschnitt zwischen Pohl- und Lützowstraße, sei es von weit her sichtbar im gesamten nördlichen Teil der Potsdamer Straße – die das Gebäude zu einem wichtigen Element der Vorstellung der Potsdamer Straße machen. Von möglichen auszuwählenden Aspekten der Inhaltsebene werden in der Graphik drei mit ihren weiterführenden Interpretationen dargestellt.43 Ein Aspekt des Inhalts ist das hergestellte Produkt, die Tageszeitung „Der Tagesspiegel“. Dieses konnotiert zum einen: (hier ist eine praktische Relevanz für das übergeordnete System der Gesamtstadt gegeben) und damit weiterführend metonymisch die Relevanz der die Zeitung produzierenden Institution für das Bild der Potsdamer Straße als Kulturstandort. Weiterhin denotiert /Tageszeitung/ ein Objekt mit spezifischer Funktion, nämlich der lokalen Berichterstattung, die auch den unmittelbaren lokalen Kontext, in diesem Fall die Potsdamer Straße, verstärkt thematisiert.44 Damit konnotiert dieser Inhalt weiterhin eine Erhöhung der Aufmerksamkeit für die Potsdamer Straße. Ein weiterer Aspekt der Institution ‚Tagesspiegel‘ als Inhalt ist die große Anzahl von Mitarbeitern, die beim Tagesspiegel beschäftigt sind. Für den Einzelhandel und die gastronomischen Betriebe der Potsdamer stehen diese für wichtige Kundschaft 43 Genaugenommen handelt es sich bei der Auswahl der Inhaltsaspekte um eine weitere Semiose, die in der Graphik jedoch nicht dargestellt wird. Der Inhalt wird zum Ausdrucksaspekt für einen weiteren Inhalt, z.B. , etc. 44 Dass häufig eher die negativen Seiten der Straße in den Mittelpunkt gestellt werden (siehe zum Themenüberblick der Presseartikel) ist den Mechanismen der journalistischen Berichterstattung geschuldet.
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ihrer Geschäfte, sie tragen zu einem Teil zur Stabilisierung der lokalen Ökonomie bei und besitzen damit hohe symbolische und praktische Relevanz für die Potsdamer Straße. Dritter möglicher Inhaltsaspekt ist die Standardfunktion des als (Zeitungs-) Verlag. Der Inhalt verweist für die Befragten, die über das spezifische Wissen verfügen, metonymisch auf die Tradition des Verlagsstandorts Potsdamer Straße und damit weiterhin auf die Kontinuität dieser kulturellen Bedeutung der Potsdamer Straße. Hier wird ein historischer Kode eingesetzt. Im Unterschied zu Ia von INHAsp1 spielt hier nicht nur die Geschichte des Tagesspiegels selbst als Verlag bzw. Zeitung eine Rolle, sondern er steht hier exemplarisch für andere, früher an diesem Standort bzw. in seiner Umgebung ansässige Verlage (siehe Kap. 1.8). Die Kotextualisierung ist hier nicht auf den gegenwärtigen, sondern auf einen vergangenen materiellen Kontext bezogen. Die beschriebenen Teilinterpretationsprozesse zeigen, dass die Relevanz der auf Ebene 1 als Ausdruckssubstanz ausgewählten Inhaltsaspekte sich aus den ihnen zugeschriebenen Inhaltssubstanzen bzw. deren weiterführenden konnotativen Inhalten ergibt. Relevant für einen Interpreten wird das Objekt bzw. der Objektaspekt, dessen Inhalt für ihn relevant ist. Allerdings gilt dies nicht für die sensorische Relevanz: hier drängt sich der Ausdruck (im Falle des Tagesspiegels das markante Gebäude) dem Interpreten relativ zu anderen Objekten sensorisch auf, das Objekt wird relevant auf Grund seines Ausdrucks. Das bauliche Objekt [Tagesspiegel] verfügt über sensorische Relevanz. Aus seiner herausgehobenen, praktischen Relevanz als große Berliner Tageszeitung resultiert auch eine hohe symbolische Relevanz. Der Tagesspiegel kann neben dem Wintergarten und dem Pallasseum als über einen längeren Zeitraum stabiles konventionalisiertes Element des Images der Potsdamer Straße betrachtet werden (s.a. Kap. 4.3.6 und 4.4). Diese drei Elemente wurden von mehr als der Hälfte der Befragten genannt, auch mindestens zwei der vier in Kapitel 4.4 ausgewerteten Zeitungsartikel erwähnen sie; nach der Definition in Kapitel 3.4.4 kann daher für sie konventionalisierte Ortsindexikalität angenommen werden. Darüber hinaus gilt für den Tagesspiegel, dass einzelne Inhaltsaspekte wieder zu stadträumlich ortsindexikalischen Zeichen werden, indem ihre Inhalte auf den engeren lokalen Kotext (die Potsdamer Straße) bezogen sind. Diese stadträumlich ortsindexikalischen Inhalte sind in der Graphik grau hinterlegt. Sowohl überlokale als auch lokale Bedeutung sind beim Objekt [Tagesspiegel] durch diese mehrfache Ortsindexikalität sehr ausgeprägt.
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Abbildung 9: Interpretationen des Objekttokens Der Tagesspiegel
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Analysiert man andere häufig genannte Objekte der Potsdamer Straße wie den Wintergarten oder die BVG am Kleistpark45 (allerdings liegen die Nennungen hier nur bei ca. 40-70% der Nennungen des Tagesspiegels), so liegen hier ebenfalls visuelle Salienz und eine herausgehobene, überlokale Funktion vor. Allerdings sind die stadträumlichen ortsindexikalischen Inhalte bei diesen Objekten weniger ausgeprägt. Beim Wintergarten (siehe Abb. 10) kann man eine Tradition von Institutionen der Unterhaltungskultur an dieser Adresse entdecken (Kino von 1913 bis 1968, Quartier Latin 1972 bis 1989), die Gäste des Wintergartens reisen jedoch überwiegend in Bussen im Rahmen von Pauschalarrangements an und tragen dadurch kaum zur Stärkung des lokalen Einzelhandels und der Gastronomie bei. Die Standardfunktionen der BVG (siehe Abb. 11) als Verkehrsbetriebe sind mit Berlin, jedoch nicht mit der Potsdamer Straße im Speziellen verknüpft. Allein die große Zahl der Mitarbeiter stellt einen ökonomischen Faktor dar, der allerdings durch die Randlage der BVG eher weniger in die Potsdamer Straße hineinwirkt. Eine Häufung ortsindexikalischer Inhalte wie beim Tagesspiegel ist hier also nicht festzustellen. Abbildung 10: Wintergarten-Variéte
Foto: E. Reblin
45 Zum nach dem Tagesspiegel zweithäufigst (23 Zitationen), jedoch nur von 11 Befragten genannten Pallasseum siehe Kap. 4.3.1.2.
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Abbildung 11: BVG-Gebäude
Foto: E. Reblin
Ergänzt werden muss, dass nicht nur der Tagesspiegel, sondern alle drei dieser in den Interviews häufig genannten und berlinweit bekannten Institutionen im Lauf der Jahre 2008 und 2009 ihre funktionale Präsenz an der Potsdamer Straße aufgegeben haben, der Wintergarten wurde allerdings nach einer einjährigen Schließungszeit im Februar 2010 wieder eröffnet. Inwieweit andere einzelne bedeutende Institutionen als Objekttoken in naher Zukunft diese Lücken füllen können, oder ob es eventuell gelingt, durch eine Ansiedlung von auch sichtbar das Bild der Straße prägenden Exemplaren ‚neuer‘ Objekttypen der Potsdamer Straße ein spezifisches Profil zu geben, bleibt abzuwarten.46 Durchschnittlich werden in den Interviews je 19 Objekttoken (21 bei Einbeziehung historischer, nicht mehr vorhandener Objekte) genannt, die Spannbreite reicht von 7 (P10) bis 29 (bzw. 34 bei Einbeziehung historischer Objekte) (P14 und P15).
46 Siehe Unterkapitel 4.3.12, in Frage kämen z.B. Galerien oder Medienbetriebe. Zur Entwicklung einer neuen Galerienszene im Bereich Potsdamer Straße von 2008 bis 2011 siehe Kap. 1.8.
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4.3.1.2 Relevante Objekttypen: von Altbauten bis Billigläden, von Cafés bis Parks Die gebaute Umwelt: Gebäude als Typen und Token Das Elementfeld ‚Gebaute Umwelt‘, das Gebäude als Typen und als Token umfasst, wurde in über 210 Zitationen angesprochen und ist damit das meistgenannte. Auf Gebäude als Objekttyp wurde ohne spezifische Aufforderung (wie z.B. in der Fotofrage) in 55 Zitationen referiert.47 Von diesen thematisieren 32 auch die historische Dimension der Gebäude (s.u.). Als weitere zugeschriebene Eigenschaften stehen ästhetische Bewertungen an vorderer Stelle, es gebe: „einzelne schöne Fassaden“ (P1), aber auch „hässliche Gebäude“, „die dieses Grau ausstrahlen“ (P14). Dabei spielt der Erhaltungszustand eine wichtige Rolle: „das ist ja kurz vor dem Zusammenfallen“ (P8), es sind „furchtbar heruntergekommene Häuser“ (P12), aber in manchen Abschnitten ist es auch „gepflegter“ (P17). Besondere Gebäudehöhen und Fassadenlängen werden von den Befragten für einzelne Abschnitte thematisiert (s. Kap. 4.3.3.2). Zur Thematisierung von Objektaspekten vgl. Kapitel 4.3.1.8. Eine funktionale Differenzierung nach Wohn- und Bürogebäuden findet kaum statt, sicherlich begründet in der Mischnutzung der meisten Gebäude an der Potsdamer Straße („Der Klassiker – oben Wohnhäuser, unten kleine Geschäfte ... So typisch eigentlich für die Potsdamer Straße, P8). Ausnahmen gibt es für den Abschnitt Kleistpark bis Goebenstraße. Wird auf Wohnnutzung referiert, bezieht sich dies auf ein größeres Gebiet: „Das ist ein richtiges typisches innerstädtisches Wohngebiet“ (P2), „Diese ruhigen kleinen Seitenstraßen und Wohnstraßen hier“ (P7). Auf die Architektur einzelner Gebäude oder größerer Komplexe wird explizit in weniger als 20 Zitationen eingegangen. „Architektur“ steht überwiegend für Architektur der Nachkriegszeit. So gefällt einer Befragten das Sony Center „wegen der Architektur“, überdies steht das gesamte Potsdamer-Platz-Areal für „moderne Architektur“ (P2). Auch die Architektur des Kulturforums wird positiv bewertet: „die Staatsbibliothek ist ein sehr schönes Gebäude und auch sehr zweckmäßig“ (P14), die städtebauliche Qualität des Areals dagegen negativ: „Wer sich da städtebaulich etwas auf die Fahne schreibt, […] da ist kein Leben, das ist tot“ (P20). Die Potsdamer Straße und Umgebung südlich des Landwehrkanals zeichne sich kaum durch architektonisch interessante Bebauung aus. Genannt werden von jeweils 47 Die Anzahl der genannten Typen (siehe auch zusammenfassende grau unterlegte Tabellen) kann generell nicht als ‚objektiver‘ Wert betrachtet werden, da die Typen und Subtypen als Kategorien im Kategoriensystem definiert wurden und auch andere Weisen der Zuordnung möglich gewesen wären. So wurden für die Kategorie ‚Gebäude‘ keine weiteren Subtypen gebildet; Begriffe wie Alt- und Neubau als wurden als historische Dimension der Kategorie ‚Gebäude‘ erfasst, jedoch nicht als eigenständige Kategorien.
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einem Befragten das Kathreiner-Hochhaus von Bruno Paul: „Dieses schöne alte Haus, 30er Jahre, 20er, 30er-Jahre-Stil, mit dem Turm, finde ich architektonisch sehr schön, sieht man viel zu schlecht, keine Distanz, um es zu betrachten, man geht so vorbei, die Straße nimmt einen so auf, und der Blick schweift nur hoch, wenn man darauf hingewiesen wird“ (P20). Außerdem erwähnt werden der ursprünglich von Josef P. Kleihues entworfene, in der Ausführung aber sehr veränderte Bau Ecke Bülowstraße (P7) sowie die Musterhäuser für die Internationale Bauausstellung 1987 in der Pohlstraße (P16). Das Studentenwohnheim von Kressmann-Zschach am oberen Ende dagegen „tut dem Auge weh“ (P18), „das ist auch eine Nachkriegssünde“. Einige stellen einen Zusammenhang zwischen bestimmten Formen der Wohnbebauung und sozialen Problemlagen her, z.B. beim ‚Sozialpalast‘ (Pallasseum), sei „Elend und Kriminalität vorprogrammiert“ (P8), „man sagt ja immer, die Architektur oder die Umgebung schlägt schon durch auf die Charaktere“ (P9) „oben an der Potsdamer Brücke diese Blöcke, die führen natürlich zu sozialen Unausgeglichenheiten“ (P16) (s.a. Kap. 4.3.1.9). Insgesamt werden über 40 Einzelgebäude in über 164 Nennungen thematisiert. Als besonders markante einzelne Bauwerke werden von den Interviewten das Tagesspiegelgebäude, das Pallasseum, der Bahnhof der Hochbahn Bülowstraße, das Kammergericht am Kleistpark, das Ensemble Potsdamer Straße 98 (jeweils mehrere Nennungen) sowie der Wintergarten, das BVG-Gebäude, das Eckhaus Lützowufer48, das ehemalige Wegert-Haus, das Commerzbankgebäude Ecke Bülowstraße und das Finanzamt (jeweils einmal) genannt. Diese finden sich auch unter den am häufigsten genannten Einzelgebäuden (siehe Tab. 4) wieder. 8 Objekte unter den 12 am häufigsten genannten Objekttoken (s.o. Kap. 4.3.1.1) können (wenn auch nicht ausschließlich) als Bauwerk kategorisiert werden. Während die in den Abschnitten des Kulturforums und Potsdamer Platzes liegenden Gebäude Staatsbibliothek, Philharmonie, Neue Nationalgalerie und Sony Center sich auf Platz 6 bis 10 der am häufigsten genannten Gebäude finden, werden sie jedoch nicht unter den markanten Gebäuden genannt.49 Dies kann darauf zurückzuführen sein, dass diese Abschnitte für die Mehrheit nicht mehr Teil ihres individuellen Vorstellungsbildes sind (siehe Kap. 4.3.3.1) und aus diesem Grund bei 48 Potsdamer Straße 58, ehemaliges Gebäude der Loeser & Wolff GmbH, 1928-29 von Albert Biebendt erbaut (Berlin, Landesdenkmalamt (2008), Denkmalliste Berlin. URL: http://www.stadtentwicklung.berlin.de/denkmal/denkmalliste/downloads/denkmalliste_09 _08.pdf [29.03.2009]. 49 Allerdings beziehen sich die Nennungen besonders bei den Bauten des Kulturforums oft sowohl auf das Gebäude als auch die mit ihm verknüpfte Funktion (Bibliothek, Museum, etc.), eine eindeutige Unterscheidung kann hier nicht vorgenommen werden. Im Kap. 4.3.3.2 wird auf die Elemente des Kulturforums näher eingegangen.
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der Frage nach besonders markanten Objekten der Potsdamer Straße nicht erwähnt werden. Für diese Annahme spricht, dass einzelne Gebäude des Kulturforums für Befragte durchaus als Orientierungspunkte und exemplifizierend für den Bereich genutzt werden: „Ab und zu gehen wir auch Richtung Philharmonie, Potsdamer Platz“ (P10). Hier dominiert die sensorische Relevanz. Die Benennung des Gebäudes durch den Jugendlichen zeigt jedoch auch ein Wissen über seine Funktion, eine symbolische Relevanz der Philharmonie als Kulturinstitution ist also im Hintergrund weiterhin gegeben. Tabelle 4: Meistgenannte Gebäude
Gebäude
Anzahl der Nennungen
Anzahl der Personen, die Objekt nennen
1
Tagesspiegel
34
16
2
Pallasseum
23
11
3
BVG-Gebäude
13
8
4
Hochbahn Bülowstraße
12
8
5
Potsdamer Straße 98
11
9
6
Staatsbibliothek
11
8
7
Woolworth
9
8
Weiterhin mag die spezifische städtebauliche Form des Kulturforums mit der nur aus Solitären bestehenden ‚Stadtlandschaft‘, in der keines der Gebäude gestalterisch oder funktional gegenüber dem anderen privilegiert ist, eine Ursache für die fehlende Nennung sein. Die Mehrzahl der am häufigsten genannten Einzelgebäude zeichnet sich sowohl durch visuelle Salienz und damit durch sensorische Relevanz als auch durch überlokal wichtige und herausgehobene Funktionen (praktische Relevanz) aus. Ausnahmen sind sowohl die Wohnanlage Pallasseum als auch das Altbauensemble Potsdamer Straße 98, bei welchen die für eine Stadtstraße konventionelle Funktion des Wohnens dominant ist. Das Pallasseum (siehe Abb. 12) und die Potsdamer Straße 98 (siehe Abb. 13) markieren zwei architektonisch, historisch und sozial konträre Pole der Wohnbebauung der Potsdamer Straße und können daher als symbolisch und sensorisch relevant angenommen werden. Das Pallasseum exemplifiziert eine in der Tradition der architektonische Moderne stehende Großwohnanlage des Sozialen Wohnungsbaus der 70er Jahre mit einer früher oder noch aktuell sozial problematischen Bewohnerstruktur (s.a. Kap.
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4.3.1.5): „Es ist der Fuß. Da wohnen ja, was weiß ich, 49 Nationen. […] Das ist auch glaube ich, das deutlichste Gebäude in der Straße, das markanteste“ (P1). „Dass da so ein Zehnerblock steht und ein Fünfer nebeneinander, ist schon was Einzigartiges“ (P10). „Natürlich, der Sozialpalast gehört zur Potsdamer Straße mit allen seinen negativen und positiven, obwohl ich weiß nicht, ob es da positive Eigenschaften gibt“ (P11). Das Pallasseum sei wahrscheinlich auch ein Element des Fremdimages der Potsdamer Straße (s.a. Kap. 4.3.6): „Ja, ich meine, ist klar, ob jetzt dieser Platten-..., nicht Plattenbau, sondern dieser Sozialbau, der da über die Straße rübergeht, ob der da jetzt wirklich der Potsdamer Straße überhaupt zugerechnet wird ... weiß ich nicht. – Man sieht ihn halt, fällt halt auf...“ (P4). „Oder da mit dem Sozialpalast ... Und auch für den Bürgermeister gilt das hier – Nordschöneberg – als kleiner sozialer Brennpunkt oder großer sozialer Brennpunkt“ (P8). Als Imageelement verfügte das Pallasseum damit nicht nur über lokale Relevanz, sondern auch über konventionalisierte Ortsindexikalität. Abbildung 12: Wohnanlage Pallasseum
Foto: E. Reblin
Dagegen steht der im 19. Jahrhundert errichtete und in den 1990er Jahren aufwendig historisierend sanierte Altbaukomplex Potsdamer Straße 98 mit Brunnen und Atelierhaus im Hof für das vergangene großbürgerlich-künstlerische Milieu der Potsdamer Straße sowie eine mögliche neue Bewohnerschicht: „Wenn man da rein geht, dann hat man richtig das Gefühl eines exklusiven Eingangs. Dunkelrote Farben im Hof, den man praktisch von der Straße einsehen kann, da ist ein Standbild“ (P9), „Potsdamer Straße 98, das ist dieses weiße Haus, da gibt es natürlich schon Ansätze, der Straße neue Glanzpunkte zu verschaffen“ (P16). In den Gründerzeitfassaden wie der beschriebenen scheint für die Interpreten auch etwas
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von der wilhelminischen Großbürgerlichkeit, Repräsentativität, und baulichen Großzügigkeit weiterzuleben, hier zeigt sich somit etwas von der nicht nur materiellen, sondern auch „geistigen“ Permanenz, von der Aldo Rossi spricht (s.o. Kap. 3.1.3). Konventionalisierte Ortsindexikalität kann für dieses Objekt nicht angenommen werden, der Komplex Potsdamer Straße 98 ist nicht Teil eines überlokalen Images der Potsdamer Straße. Abbildung 13: Ensemble Potsdamer Straße 98
Foto: E. Reblin
Die Interviewaussagen zeigen, dass bei der Wahrnehmung der gebauten Elemente analogen Interpretationen ein hoher Stellenwert zukommt. Da sie sowohl alle dem gleichen übergeordneten Objekttyp zuzurechnen sind als auch − durch ihre Anordnung in geschlossener Bebauung − kaum als deutlich von einander abgegrenzte einzelne Figuren wahrgenommen werden, wird Differenz überwiegend über ihre (aisthetischen) Objektaspekte konstituiert.
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Die zeitliche Dimension der gebauten Elemente: Erkennen und Bewerten Insgesamt wird in 50 Zitationen50 das Alter der Gebäude im Bereich Potsdamer Straße und Umgebung thematisiert. Dabei erfolgt die grundlegende Klassifikation nach der Opposition alt vs. neu. Einerseits steht die Potsdamer Straße für „alte Häuser“ (P12), andererseits aber auch für „diese ganzen neuen Plattenbauten“ (P7). Eine genauere Klassifikation des Gebäudealters wird nur in 12 Zitationen vorgenommen, mit Begriffen wie „Gründerzeitfassaden“, „Anfang des 20. Jahrhunderts“, „33er-Zeiten“, „50er-Jahre-Bauten“, „Nachkriegsarchitektur“. Altbauten werden grundsätzlich positiver evaluiert als Neubauten: „Da hat man schon eigentlich eine ganz angenehme Wohngegend, finde ich. Ruhe, Altbauten, Sonne“ (P15), „Und da am Kanal ist alles ziemlich schön….“ [Zwischenfrage I: „Schön heißt?“], „Es sind Altbauten, zur linken Seite sind Altbauten“ (P3). Allerdings spielt auch der Erhaltungszustand eine Rolle: „Das ist ein altes Haus, aber ist gemacht, sieht schön aus“ (P5), „Dieser tolle renovierte Altbau …“ (P7), „Es gibt zwischendurch schön sanierte Altbauten“ (P8). „So schöne alte Häuser sollen auch bleiben, aber wenn es vergammelt ist und wirklich nicht schön aussieht…“ (P5), „Die wenigen Altbauten hier, aber die fallen eben viel zu wenig auf, weil sie auch nicht gut renoviert sind oder irgendwie interessant wirken“ (P7). Die Nachkriegsbebauung, u.a. als „Neubau“, „Plattenbauten“,51 „Lückenbauten“ bezeichnet, wird dagegen überwiegend ästhetisch negativ konnotiert: „Diese hässlichen Eternitfassaden“ (P7), „So ein Ding hier, das ist doch hässlich wie die Nacht [Gebäude im Abschnitt Bülow- bis Kurfürstenstraße]“ (P8). Die Neubauten am Potsdamer Platz gehören dagegen für die meisten nicht zu ihrem Bild der Potsdamer Straße (vgl. Kap. 4.3.3). Wenn über die Gebäude des Potsdamer Platzes oder auch des Kulturforums gesprochen wird, fehlt erwartungsgemäß die Dichotomie Altbau vs. Neubau, da beide Komplexe mit Ausnahme sehr weniger Gebäude in der Nachkriegszeit entstanden sind. Weiterhin handelt es sich bei der Bebauung besonders des Kulturforums um architektonisch bedeutende Solitäre, während mit den Begriffen Alt- oder Neubau in der Alltagssprache meist
50 Einschließlich der Äußerungen zur Fotofrage, inklusive Einzelgebäude. 51 „Plattenbau“ wird in zwei Interviews in Opposition zu „Altbau“ gebraucht, also synonym zu „Neubau“. Mit dem fachsprachlich korrekt nur auf in Fertigbauweise gebaute Gebäude anzuwendenden Begriff wurde und wird in der Alltagssprache überwiegend auf die in der DDR entstandenen Großsiedlungen referiert, meist mit stark negativer Konnotation (‚die Platte‘). In den Interviewäußerungen wird der Begriff im weiteren Sinne auf alle in den 60er bis 70er Jahren entstandenen, architektonisch unattraktiven Neubauten angewendet und lässt so implizit eine negative Bewertung dieser Gebäude erkennen.
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nur auf größere Komplexe von baulich ähnlichen Wohn- bzw. Geschäftshäusern referiert wird. Neubauten von Wohngebäuden werden nicht nur häufig in ästhetischer Hinsicht negativ beurteilt, sie stehen auch für einen relativ niedrigen sozialen Status ihrer Bewohner: „Diese ganze Nachkriegsarchitektur, das ist nichts, das sind nicht einmal attraktive Wohnungen, kann ich mir vorstellen, […] da zieht keiner hin, der es sich leisten kann“ (P20). Bestimmte Typen von großzügig angelegten Altbauten verweisen dagegen auf (wenngleich vergangenes) „hochherrschaftliches Wohnen“ (P18). Auch bei sehr aufwendig sanierten Altbauten „sieht man dann gleich, dass das sich nur bestimmte Leute leisten können, dort einzuziehen“ (P8). Insgesamt bildet das Nebeneinander von Alt- und Neubauten für viele der Befragten „ein wildes Durcheinander“ (P7), die Lückenbauten bringen „eigentlich nur Unruhe ins Blickfeld“ (P20), sie stören die syntagmatische, bauliche Ordnung der Potsdamer Straße. Die bauliche Heterogenität macht die Straße aber für den Experten auch zu einem Parcours der Berliner Baugeschichte: „In dieser Straße haben wir […] in unseren Abschnitt [Tiergarten] zig Baudenkmale. […] Man kann also gut ablesen, in welchen Dekaden welches Haus sozusagen entstanden ist“ (P18).
Die gebaute Umwelt in Stichworten Elementfeld gebaute Umwelt (Typen + Token)
Objekttoken
> 210 Zitationen / alle Befragte Markante Bauwerke: ++ Tagesspiegelgebäude , Pallasseum, Bahnhof Hochbahn Bülowstraße, Kammergericht, Potsdamer Straße 98 O Gebäude des Kulturforums, Neue Potsdamer Straße Weitere häufig genannte Bauwerke: ++ Wintergarten, BVG-Gebäude, Staatsbibliothek
Hohe Relevanz der gebauten Elemente: • Einzelgebäude als charakteristische Objekttoken der Straße • Indikatoren für ökonomischen und sozialen Status eines Stadtraums (über Objektaspekte) • Indikatoren für Historizität des Stadtraums (über Objektaspekte)
Zum Idealbild einer Großstadtstraße gehört für zwei der Befragten auch eine wenigstens teilweise erhaltene historische Bebauung: eine Großstadtstraße sollte „die alte Bebauung erahnen lassen“ (P20). „Da ist auch viel Altes mit Neuem verbunden. Sei es jetzt die Häuser oder andere Sachen“ (P17). Die hohe Anzahl der Äußerungen zur zeitlichen Dimension der gebauten Umwelt der Straße zeigt deutlich die hohe indexikalische Wirkung baulicher Strukturen einschließlich ihrer veränderlichen Objektaspekte bei der Konstitution historischer Bedeutungen. Das Alter von Gebäuden wird auch von jenen Befragten thematisiert, die sonst kaum über historische Aspekte der Straße sprechen.
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Der Einzelhandel in der Potsdamer Straße Typen von Einzelhandelsbetrieben Während für Gebäude die Anzahl der Nennungen von Objekttoken die der Typen überstieg, verhält es sich für die Einzelhandelsgeschäfte umgekehrt: ca. 112 Nennungen von Gattungsnamen stehen 78 Nennungen von Einzelobjekten gegenüber. Diese besonders häufige Nennung des Typs Einzelhandelsgeschäft ohne Bezug auf spezielle Token (u.a. 25 Zitationen von Einzelhandelstypen bei Antworten auf die Fragen nach Wünschen für die Potsdamer Straße oder nach dem Idealtyp einer Großstadtstraße) kann daraus erklärt werden, dass es sich um besonders wichtige und den Charakter einer Straße bestimmende Bestandteile einer Straße handelt. Gebäude als eine Straße notwendig konstituierende Bestandteile stellen dagegen den blinden Fleck der Straßenwahrnehmung dar. Jede typische Stadtstraße wird durch Gebäude begrenzt, eine Großstadtstraße definiert sich jedoch in großem Maße durch Anzahl und Typ ihrer Einzelhandelsgeschäfte: „Typisch sind dann auch die Geschäfte. Die sind ja woanders auch typisch. Aber das ist ja so bei uns im Westen. Wo irgendwo viele Menschen sind, sind auch viele Geschäfte. Das war ja früher im Osten ganz anders“ (P9). Einzelhandelsgeschäfte sind zwar als fixierte Elemente zu betrachten (siehe Kap. 3.4.1), sie sind jedoch flexibler und schneller auswechselbar als die diachron sehr stabilen Gebäude.52 Die hohe Fluktuation im Einzelhandel der Potsdamer Straße wird auch von mehreren Befragten als typisch empfunden und beklagt: „Und dieses ständige Wechseln macht natürlich die Straße auch kaputt“ (P14). Unter den mit der Nennung von Einzelhandelstypen zusammen auftretenden Kategorien liegt die Kategorie ‚Leben‘ bei den absoluten Vorkommen weit vorne: eine Vielzahl von Einzelhandelsgeschäften in einer Straße konnotiert Lebendigkeit: [Interviewerin: „Lebendig heißt... ?“] „Na, es gibt hier viele Geschäfte, viele Läden, viele Leute“ (P6). Fehlen die Geschäfte, entsteht eine triste Atmosphäre: „Ansonsten ist das langweilig, weil da gibt es ja gar keine Geschäfte“ (P20). Unter den in der Potsdamer Straße relevanten Subtypen von Einzelhandelsgeschäften werden die unter den Kategorien ‚Fachgeschäfte‘, ‚Billigläden‘ und ‚Migrantische Geschäfte‘ zusammengefassten Begriffe am häufigsten genannt, mit größerem Abstand folgen ‚Kleine Läden‘. Die Expertin sieht die Potsdamer Straße auch historisch nicht als „klassische Einkaufsstraße“, sie habe von Anfang an einen 52 Sehr deutlich wird dieser Sachverhalt bei Betrachtung derjenigen Viertel im ehemaligen Ostteil Berlins, die seit den 90er Jahren einen Gentrifizierungsprozess durchlaufen haben. Die grundlegende Bausubstanz wurde dort (abgesehen von im Stadtbild natürlich ebenfalls sehr wirksamen, großflächigen Fassadensanierungsmaßnahmen) nur wenig verändert, zum entscheidenden Wandel des Bildes trugen die gewachsene Zahl sowie neue Formen von Einzelhandel und Gastronomie bei.
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Dienstleistungsaspekt mit vielen überörtlich wichtigen Fachgeschäften gehabt, daneben gebe es eine ausreichende Versorgung mit Waren des täglichen Bedarfs (P19). Wie zu erwarten nennt die Mehrheit der Befragten ‚Einkaufen’ als wichtige persönliche und allgemeine Nutzung. Insgesamt werden jedoch von vielen Befragten „interessante“ oder „attraktive“ Geschäfte in der Potsdamer Straße vermisst, auch die Vielfalt habe sich besonders innerhalb der letzten Jahre durch Wegzug von „hochwertigeren“ Fachgeschäften wie Struppe & Winkler verringert. Einige dieser alteingesessenen Fachgeschäfte existieren bzw. existierten zum Zeitpunkt des Interviews noch, aber man sieht „auch in der Potsdamer Straße, dass hier früher viele gut laufende Geschäfte gewesen sind, die aber einfach nicht mehr wettbewerbsfähig sind und die sich nicht mehr halten können“ (P8) Die Überreste einer Schrift erinnern an eine „Form von Fachgeschäft, was es nicht mehr gibt. Also, was man in anderen Städten trotzdem noch sieht, was erhalten blieb. Also in Paris und Wien …“ (P1). Relevant werden Fachgeschäfte für die Anwohner weniger im alltagspraktischen Sinn durch ihr Warensortiment, das durch seine hohe Spezialisierung kaum der täglichen Bedarfsdeckung dient, sondern durch ihre überlokale Wirkung. Fachgeschäfte stehen für ein höherpreisiges Angebot, das auch ökonomisch solvente Kunden in die Straße zieht: „Es müssen kleine Fachgeschäfte her, rechts und links der Straße, besondere Geschäfte. Versuchen, was Großes hierher zu holen. Dass hier Leben reinkommt“ (P11). Zudem stellen Fachgeschäfte im Unterschied zu Supermarktfilialen etc. besonders charakteristische Elemente eines Stadtraums dar, sie verfügen daher auch über symbolische Relevanz. Die türkischen Gemüsesupermärkte stellen mit ihren im Straßenraum effektvoll arrangierten Gemüse- und Obstauslagen einen weiteren markanten Einzelhandelssubtyp dar: „der untere Teil der Potsdamer Straße war dann eben voller türkischer Geschäfte“ (P4), die Potsdamer Straße steht für „viele türkische Märkte“ (P6). Sie machen nicht nur durch visuelle, sondern auch durch akustische Sinnesreize auf sich aufmerksam: „wo dann die bunten Sachen ... Eigentlich das Eingangstor ist dieser Gemüseladen an der Goebenstraße, da wird man auch lautstark darauf aufmerksam gemacht: Hier fängt Leben an“ (P20). Allerdings bemängelt eine Befragte die Qualität der Waren: „In türkischen Läden ist es nicht so frisch wie bei Lidl, Obst und Gemüse. Sieht zwar schön aus, aber am zweiten Tag kann man es in den Müll schmeißen“ (P5). Die in der Potsdamer Straße in größerer Anzahl vorhandenen Billigläden werden überwiegend von den nicht-migrantischen, ökonomisch besser gestellten Anwohnern genannt, sie bilden ein meist negativ gewertetes Element des Vorstellungsbildes: „Was leider auch typisch ist, sind Billigläden“ (P12) „Aber diese Eintagsfliegen von Läden und diese Billiggeschäfte, das gibt kein gutes Bild“ (P14). Allerdings seien sie für viele der Anwohner wichtige Einkaufsmöglichkeiten: „… aber wenn man sich die Bevölkerung anguckt, die benutzen ja die Billigläden. Insofern haben die auch eine Funktion, insofern spiegelt es natürlich so ein bisschen ...“ (P12) (zu den Billigläden und türkischen Märkten s.a. Kap. 4.3.1.5). Die
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Potsdamer Straße steht weiterhin für eine kleinteilige Einzelhandelsstruktur mit relativ wenigen Filialen großer Ketten: „Der Rest an Gewerbe, der noch da ist, der ist kleinteilig organisiert“ (P16). 13 der 20 Befragten nennen Einzelhandelsgeschäfte mit einem vielfältigen Angebot als wichtige Elemente einer Großstadtstraße. Eine Großstadtstraße soll „lebendig sein. Viele Einkaufsmöglichkeiten“ (P6), sie „muss interessante Läden haben“ (P7). P16 fasst seine Vorstellungen folgendermaßen zusammen: „Also, Läden. Lieber kleinteiliger als große Läden. Breite Spannweite im Angebot … Und das zeichnet eben jede Großstadt aus und jede Großstadtstraße, dass ihr Angebot vielfältiger ist. Eine große, breite Straße, an der nur bestimmte Typen von Gewerbe und Handelsunternehmen sind, das ist für mich keine Großstadtstraße, sondern da, wo das Leben pulsiert, wo möglichst viele Menschen sind, wo eine möglichst breite Streuung ist, das ist eine Großstadtstraße. Und das erfüllt die Potsdamer Straße erstaunlicherweise immer noch, oder vielleicht wieder, wir wissen es nicht.“ Die Interpretation von Objekttypen am Beispiel des Objekttyps
Neben Objekttoken als Elementen einer Straße (siehe z.B. das Objekt [Tagesspiegel]) können auch Typen von Objekten zu Auslösern von spezifischen Interpretationsprozessen werden. Dies wird dann der Fall sein, wenn die entsprechenden Typen in einer Straße durch eine größere Zahl von sichtbaren Token vertreten sind, d.h. eine erhöhte sensorische Relevanz aufweisen. In der Potsdamer Straße sind dies u.a. die Billigläden (s.o.). Ein Token wie [MacGeiz] denotiert den Typ und damit seine Standardfunktion, den Verkauf sehr preiswerter Produkte und konnotiert in einem zweiten Schritt den sozialen Status seiner Kunden, die auf Grund ihrer prekären ökonomischen Lage auf den Kauf solcher Produkte angewiesen sind.53 Bei einer größeren Anzahl von Token dieses Typs in einem begrenzten städtischen Kontext wird dieser Inhalt auf diesen Kontext ortsindexikalisch zurückbezogen zu Interpretationen wie: (siehe Abb. 14). Auf der Ausdrucksseite sind Billigläden selten visuell zurückhaltend gestaltet, vielmehr zeichnen sie sich oft durch buntgrelle Außenwerbung aus. Diese Gestaltung kann ästhetisch negativ gewertet werden, im Gesamtbild der Straße zu „optischem Lärm“ (P7) führen.
53 Mögliche weitere Konnotationen wie ‚Schnäppchenmentalität‘ sollen hier außer Acht gelassen werden.
Abbildung 14: Interpretationen des Objekttyps
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Die häufige Nennung des Typs ‚Billigladen‘ erklärt sich nicht aus einer praktischen Relevanz für die Befragten, nur einmal wurde von einer Nutzung der Billigläden berichtet: „Das ist vielleicht auch mein Hang zum Schrecklichen, also mir macht es auch manchmal Spaß, in Ein-Euro-Läden einzukaufen und einfach zu gucken, was es da für unglaubliches Zeug gibt“ (P12). Neben der visuellen Präsenz verfügen die Billigläden besonders für die Anwohner über eine hohe symbolische Relevanz: sie zeigen indexikalisch soziale Tatbestände für den näheren städtischen Kontext, die Wohnumgebung an. Einzelne Einzelhandelsbetriebe Von den 33 genannten aktuell bestehenden Einzelhandelsgeschäften sind die der Kategorie Fachgeschäfte zuzuordnenden am stärksten vertreten (8 Token). Bei der Relation Anzahl der Token: Anzahl der Nennungen liegt jedoch die Subkategorie Kaufhaus mit 1:10 weit vorn, gefolgt von den Sexshops (2:10), den Gemüsesupermärkten (2:7), den Supermärkten (3:9), erst danach folgen die Fachgeschäfte mit einer 8:22 Relation. Hier macht sich bemerkbar, dass der weiterhin im Vorstellungsbild der Potsdamer Straße prominent verankerte Typ der Fachgeschäfte nur noch durch eine (im Vergleich zu früheren Jahren) relativ geringe Zahl von Token vertreten ist. Die meisten Einzelnennungen entfallen auf die Buchhandlung Schropp, Woolworth und das LSD-Erotikkaufhaus. Weiter folgen der Bolle-Supermarkt sowie der Birlik-Supermarkt und das Ave Maria. Unter den ersten drei ist damit nur ein Fachgeschäft im engeren Sinne (Schropp) vertreten. Schropp steht hier wieder für die kulturelle und Buchhandelstradition der Straße: „Das war auch mit eine Adresse in der Potsdamer Straße berlinweit, über Berlin hinaus kannte man diese Adresse“ (P18). „Da gibt es so attraktive Läden wie Schropp, Karten“ (P20).54 Die seit langem an der Potsdamer Straße ansässige Filiale der Kaufhauskette Woolworth bildet durch ihre gegenüber der umgebenden Bebauung reduzierten Höhe und ihre Lage an der belebten Kreuzung Kurfürstenstraße nicht nur funktional, sondern auch durch ihre äußere Form einen markanten Punkt, „Woolworth ist auch wichtig“ (P12), „Wulle besteht auch schon seit Jahrzehnten.“ (P14). Dem LSD mit seiner ebenfalls dominanten Lage am U-Bahnhof Kurfürstenstraße und mit seiner von vielen der Befragten abgelehnten Nutzung kann Relevanz im negativen Sinne zugesprochen werden, es wird im Unterkap. 4.3.1.3 behandelt.
54 Die Buchhandlung Schropp ist Ende 2008 nach Charlottenburg umgezogen, s.a. Kap. 1.8.4.
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Der Einzelhandel in der Potsdamer Straße in Stichworten Elementfeld Einzelhandel (Typen + Token + > 190 Zitationen / alle Befragte Nutzungen) Objekttoken
Vielfältiger Einzelhandel als wichtiges Merkmal Art der Einzelhandelsbetriebe als charakteristisches Element einer Straße
Hohe Relevanz des Objekttyps Einzelhandelsgeschäft
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Trotz der Präsenz der zahlreichen migrantischen Läden im Bild der Potsdamer Straße werden nur drei in den Interviews als Einzeltoken, teilweise auch mit Namen genannt: der Birlik-Supermarkt Ecke Goebenstraße, der Gemüse-Supermarkt Ecke Kurfürstenstraße und der libanesische Harb-Laden. Der Birlik-Markt markiert den Beginn des belebteren Teils der Potsdamer Straße (siehe Kap. 4.3.3.2, Äußerung von P20), der Supermarkt Ecke Kurfürstenstraße die zentrale Kreuzung am UBahnhof, auch diese Lagen werden beide visuell besonders relevant.55 Bei dem Harb-Laden handelt es sich um ein seit langem an der Potsdamer Straße ansässiges Unternehmen: „Ein prima Laden, mit dem kommt man auch wunderbar aus, ne. Lebensmittel, von Wein über Konserven, Gewürze, viele, viele Gewürze, auch wie man es vom Orient her kennt. Also, ganz, ganz toll. Also, da kann man ruhig mal rein gehen … Und nette, gediegene Leute. Da gibt es nie Probleme mit, ne. Und die sind halt auch schon ewig da“ (P11). „Was eigentlich noch so ein alteingesessener besonderer Laden ist, finde ich, ist dieser Harb-Laden, dieser arabische. Wo glaube ich auch viele aus der ganzen Stadt einkaufen gehen“ (P15). Ferner befindet sich der Harb-Laden auf dem Abschnitt Lützowstraße, wo kaum migrantische Geschäfte ansässig sind, besitzt also für den unmittelbaren Kotext eine relative Relevanz (in allen drei Relevanzbereichen) und erreicht in der praktischen Relevanz auch den überlokalen Berliner Kotext. Die vier migrantischen Befragten nennen insgesamt nur wenige einzelne Einzelhandelsgeschäfte, welche alle Waren des täglichen Bedarfs verkaufen (Woolworth, Lidl, Schlecker). Hier muss man jedoch berücksichtigen, dass alle diese Befragten dem Abschnitten Bülowstraße bzw. Kurfürstenstraße zugeordnet sind, wo sich nur wenige Fachgeschäfte befinden bzw. befunden haben. Das gesamte Elementfeld Handel einschließlich der Nutzung Einkaufen steht mit über 190 Nennungen an zweiter Stelle der Elementfelder. Gastronomische Betriebe Das Elementfeld Gastronomie, d.h. Objekttypen, die unter dem Oberbegriff „Gastronomie“ zusammengefasst werden können wie ‚Cafés‘, ‚Kneipen‘, ‚Restaurants‘, ‚Imbisslokale‘ etc. sowie gastronomische Einzelbetriebe und gastronomische Nutzungen, wird über 95 mal genannt. Gastronomische Betriebe sind einerseits für viele ein prägendes Element ihres Bildes der Potsdamer Straße: „Ja, und Restaurants … Also es sind sehr viele mittags auch unterwegs und in den Restaurants, eine sichtbare Nutzung“ (P3), „Typisch sind dann natürlich die vielen […] Imbisse und diese kleinen Gaststätten“ (P2), „Wir haben mehrere Caféläden, da kann man Kaffee trinken gehen und Eis essen 55 Ein weiterer, jedoch nicht an einer prominenten Straßenkreuzung gelegener großer Gemüsesupermarkt im Abschnitt Bülowstraße wurde von den Befragten nicht erwähnt.
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gehen, finde ich wirklich ganz schön (P5)“, „Ich finde, es gibt viele gastronomische Sachen“ (P8). Besonders die auf den Bürgersteig hinausreichende Nutzung, die den bereits halböffentlichen Raum der Gaststätte noch stärker in die öffentliche Sphäre hinein erweitert, bewirkt eine lebendige Atmosphäre: „Es gibt auch viele Cafés hier und draußen gibt es viele Stühle, also Tische und Stühle. Die Leute sitzen immer draußen.[...] Vorher war es nicht so. [… ] Also, zum Beispiel vor zwei Jahren oder vor einem Jahr war es nicht so wie jetzt, vielleicht wegen des Wetters“ (P6). Andererseits klagen besonders die besser ausgebildeten und ökonomisch besser gestellten Interviewten über den Mangel an ansprechenden Cafés und Restaurants: „Es gibt keine schönen Kneipen“ (P3). „Was mich wundert ist, dass an und für sich relativ wenig gute Cafés oder Kneipen hier sind, wenn doch so viele Kulturschaffende hier sein sollen“ (P7). Es gebe „zu wenige anspruchsvollere gastronomische Unternehmen“ (P16). Statt für gepflegtere Straßencafés (P12) oder Cafés, „wo man einfach mal gut frühstücken gehen kann“ (P14), steht die Potsdamer Straße für Schnellimbisse und eine Döner-Monokultur: „Ich verstehe nicht, warum man hier 10 Restaurants braucht, die alle nur Döner verkaufen“ (P17). Andere Großstadtstraßen schneiden im Vergleich besser ab: an der Gneisenaustraße (in Berlin-Kreuzberg) gibt es „viele interessantere Läden und Cafés, wo man auch trotz der Breite der Straße und des massigen Verkehrs noch irgendwie angenehm sitzen kann oder sich ein Leben abspielen kann“ (P15), auch an der Maaßenstraße im westlichen Umfeld der Potsdamer Straße sind „schöne Cafés und wiederum andere Leute“ (P17). Hier zeigt sich, dass gastronomische Betriebe nicht nur für die Erfüllung bestimmter neutraler Gebrauchsfunktionen stehen. Sie spiegeln, noch deutlicher als Einzelhandelsgeschäfte, auch den sozialen Status ihrer real beobachteten oder nur vermuteten Nutzer: modern, originell und mit Sorgfalt gestaltete Cafés mit einem guten Speise- und Getränkeangebot stehen für ein anspruchsvolles Publikum mit spezifischem sozialem Status und Bildungshintergrund. So würde man „ein bisschen mehr Kultiviertheit“ als Erstes „an anderen Cafés und Restaurants mit einem anderen Publikum“ sehen. Den seit kurzem wieder in größerer Zahl im Umfeld der Potsdamer Straße vorhandenen Galerien, die Indikatoren für eine solche Entwicklung sein könnten, fehle dagegen die Sichtbarkeit, die der Straße zugewandte Cafés auszeichnet (P15). Im Umkehrschluss (s.o. Zitation P7) kann das Fehlen solcher Einrichtungen als Indiz für eine im Stadtteil nicht vorhandene oder unterrepräsentierte Bevölkerungsgruppe gelten. Es genügt folglich nicht, dass eine bestimmte Anzahl von gastronomischen Einrichtungen vorhanden ist, sondern in Subtyp (s.o.) und Ausdrucksform sollen sie den Erwartungen der anspruchsvolleren Gruppen entsprechen und nicht wie viele der türkischen Imbisslokale nur „einen Einheitslook“ und „spärliche Möblierung“ aufweisen, wo „nichts einlädt“, nichts ausstrahlt, die Imbisswerbung „einheitlich und austauschbar“ ist, selbst wenn man für wenig Geld dort gut essen kann (P20).
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Bestimmte Typen sowie die Dichte von gastronomischen Betrieben sind charakteristisch für die einzelnen Abschnitte. Vor allem mit zwei Abschnitten werden gastronomische Betriebe verknüpft: mit dem Abschnitt nördlich der Kurfürstenstraße und dem zwischen Pallas- und Bülowstraße. Allerdings sind die Cafés im erstgenannten Teil sowie in dessen Seitenstraßen „attraktiver“, „nicht auf hohem Niveau, aber deutlich sichtbar, dass es anders wirkt“ (P20). Besonders im Abschnitt zwischen Kurfürstenstraße und Pohlstraße, wo sich ein kleines Lokal neben dem anderen befindet, „tobt das Leben“ (P20). Dagegen sieht Richtung Pallasstraße „alles viel ramschiger aus“ (P15). 9 der 20 Befragten nennen gastronomische Einrichtungen, in der großen Mehrzahl Cafés, als essentielle Elemente einer Großstadtstraße. Cafés machen es möglich anzuhalten, sich niederzulassen und zu „gucken“ (P20), sie schaffen „Aufenthaltsqualität“ (P13, P19) in einer Straße. Einzelne Token: Joseph-Roth-Diele Von allen dem Objekttyp Gastronomie zuzuordnenden Einzelobjekten wird die Joseph-Roth-Diele (siehe Abb. 15) am häufigsten, nämlich insgesamt 18 mal von 7 Befragten genannt, unter allen Zitationen zu Einzelobjekten nimmt sie den 4. Platz ein. Sie ist sowohl ein wichtiges Element des Gesamtbildes als auch besonders des Abschnittes Lützowstraße: „Dann kommen wir zur Lützowstraße bis Kurfürstenstraße, da ist das erste Ende noch ziemlich langweilig, aber Joseph-Roth-Diele, so das wird jetzt so langsam“ (P12). Auffällig ist, dass über dieses Lokal kaum in neutraler Form gesprochen wird, vielmehr wird es von allen Genannten als sehr positives Element der Straße aufgefasst: „Das ist ein schönes Café ...“ (P3), „Da bin ich gerne öfter, auch mit Freunden manchmal“ (P9), „Und in der Roth-Diele ist das so, das ist ein zweites Zuhause, eine sehr nette Atmosphäre. Aber wie gesagt, dass man da mal zum Biertrinken reingehen kann oder zum Hören“ (P14). In seiner Straßenfront und dem kulturellen Anspruch, den das Lokal nicht nur durch die Namensgebung, sondern auch durch die in den Gasträumen präsentierten Referenzen an Joseph Roth (inklusive zur Lektüre ausliegende Roth-Romane) und seine Veranstaltungen zeigt, hebt es sich deutlich vom durchschnittlichen Erscheinungsbild der Straße ab. Weiterhin sind die Inhaber durch Mitarbeit in lokalen Initiativen wie der IG Potsdamer Straße auch in die sozialen Netzwerke der Potsdamer Straße eingebunden und tragen dazu bei, diese Netze noch zu erweitern: „Und über X, der dann auch das Corporate Design für die Josef-Roth-Diele hat machen lassen und total viele Leute kannte und auch Mitglied in der IG war, dann hat der mich mit so vielen Leuten bekannt gemacht. Und da kam dieses typische Kiezgefühl auf, also dass man so das Gefühl hatte, hier kennen sich ganz viele Leute, fast wie auf dem Dorf“ (P15).
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Abbildung 15: Joseph-Roth-Diele
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Sie stehen auch für ein bestimmtes Lebensgefühl: „ … ist so im Sinne von Lebenskünstlern, ja? Diese Truppe um die Joseph-Roth-Diele, das sind auch Leute, die sich das Leben schön machen“ (P16). Die Interpretation des Tokens Joseph-RothDiele wird in Abbildung 16 dargestellt (siehe Folgeseite).
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Abbildung 16: Interpretationen des Objekttokens Joseph-Roth-Diele
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Gastronomische Betriebe in der Potsdamer Straße in Stichworten Elementfeld gastronomische Nutzungen (Typen + Token)
Monotonie in der Gestaltung schöne Kneipen, anspruchsvolle gastronomische Unternehmen
Zum Tragen kommende Kodes
• • •
Gebrauchsfunktionale Kodes Evaluative Kodes Kodes der sozialen und kulturellen Kategorisierung
Art der Elemente
Fixierte Elemente, Objektaspekte: Semifixierte Elemente
Syntagmatische Aspekte
Lokalisierung überwiegend im Abschnitt Kurfürstenstraße – Lützowstraße, Pallasstraße − Bülowstraße
Objektaspekte
• • Relevanz •
Konzept Großstadtstraße
Gastronomische Betriebe als wesentliche Elemente •
Zusammenfassung
Gastronomische Betriebe allgemein: praktische Relevanz Bestimmte Subtypen (Schnellimbisse) und durch bestimmte Objektaspekte (s.o.) gekennzeichnete Betriebe: stadträumliche Ortsindexikalität ĺ symbolische Relevanz Dichte von gastronomischen Betrieben und den Bürgersteig einbeziehende Nutzung: sensorische Relevanz
•
Hohe Relevanz als Typ, jedoch sehr unterschiedliche Relevanz der Einzeltoken exemplifizieren sozialen Status der Anwohner und Nutzer
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Elemente des Stadtgrüns: Parks, Grünanlagen, Straßenbäume Mit Ausnahme einer Expertin sprechen alle Befragten das Elementfeld Stadtgrün, d.h. Parks, Straßenbäume, Grünflächen etc. an (> 60 Nennungen insgesamt). Der Objekttyp oder ein spezifischer Park werden von mehr als der Hälfte, Bäume als Elemente der Straße von der Hälfte der Befragten (10) thematisiert. Der Heinrich-von-Kleist-Park als meistgenanntes Einzelobjekt zum Thema liegt auf Platz 6/7 der Nennungen aller Einzelobjekte, fast die Hälfte der Befragten erwähnt ihn. Die Parks und Grünanlagen im Umkreis der Potsdamer Straße werden durchweg als wichtige und positive Elemente bewertet: „Der [Heinrich-von-Kleist-Park] ist schön, oder? Für meine Wahrnehmung“ (P3), „Der Kleistpark ist auch eigentlich … ein Ort, an den ich mich gerne erinnere“ (P4), „ ... wo sich die Leute ein bisschen erholen können. Das ist nicht schlecht.“ (P9). Der Nelly-Sachs-Park „ist einfach ein wunderschöner Ort“ (P12), „da sieht man auch mal Enten. Was ein bisschen seltsam ist“ (P17). Parks sind Orte für gemeinsame Freizeitaktivitäten: „Fußballturniere im Kleistpark“ (P10). Der direkt im Norden an Potsdamer Straße und Potsdamer Platz anschließende große Tiergarten-Park wird explizit von nur 6 Befragten erwähnt, davon sind 2 Anlieger der Abschnitte Kulturforum und Potsdamer Platz. Hier mag sich wieder die Trennung durch Kulturforum und große Straßen bemerkbar machen: „Dass der Tiergarten hier am Potsdamer Platz eigentlich auch so nah ist, das ist einem ja auch überhaupt nicht bewusst“ (P4). Die nur in einzelnen Abschnitten (s.a. Kap. 4.3.3) vorhandenen Straßenbäume lassen diese Bereiche deutlich angenehmer erscheinen: „Da ist halt die Öde, die weiter oben ist, weg“ (P15). „Ich finde die Potsdamer Straße sowieso in dem Teil [Abschnitt Lützowstraße] attraktiver als im südlichen Teil. Das hat was damit zu tun, wie die baulich sich darstellt – einmal viele Bäume, das gibt sehr viel her, finde ich“ (P18). „Hier im oberen Abschnitt kann man sagen, das ist immer noch eine grüne Straße“ (P16). Dementsprechend empfinden besonders die Anlieger der südlichen Abschnitte die Potsdamer Straße als zu wenig grün und wünschen sich mehr Bäume und Grünanlagen (P6, P7). Als kleine Oasen werden auch die vielfach von der Straße nicht sichtbaren begrünten Höfe empfunden, die von der Hälfte der Befragten thematisiert werden: „Das war wirklich wie zwei Welten. Guckt man nach vorne raus, dann ist da das anonyme Chaos. Und nach hinten hat man noch einmal einen schönen Baum oder ein paar Sträucher und so oder auch ein paar Vögel, die dann hin- und herfliegen“ (P9). „Was wir sehr schätzen, das sind die begrünten Innenhöfe, die fast parkähnliche Formen haben. Das ist sehr schön“ (P16). Bäume und Grünanlagen sind für beinahe die Hälfte (8) der Befragten auch wichtige Merkmale einer Großstadtstraße: „Schöne Blumen, Bäume“ (P5), „viel Grünflächen, schöne Parks“ (P8) sollte eine Großstadtstraße besitzen.
Fixierte Elemente, Objektaspekte: Semifixierte Elemente
Syntagmatische Aspekte
Vorhandensein oder Fehlen von Straßenbäumen als Gliederungskriterium der Straße •
Relevanz
• •
praktische Relevanz: Freizeitnutzung (Parks), Eindämmung von Lärm und Staub (Straßenbäume) sensorische Relevanz: ästhetisches Gefallen symbolische Relevanz: Stadtgrün als Rückzugsort
Konzept Großstadtstraße
Stadtgrün als wichtiges Merkmal
Zusammenfassung
Erhöhte Relevanz, wichtig für alle Befragtengruppen
Die Objekte der Stadtnatur verfügen besonders über praktische und sensorische Relevanz, als Parks bieten sie Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung und ästhetische Reize, als Straßenbäume verschönern sie das visuelle Bild der Straße und dämmen Verkehrslärm und Staub ein. Durch Natur geprägte Räume stehen auch für Rückzugsorte und harmonische, friedvolle Gegenwelten zu einem als chaotisch und bedrohlich empfundenen öffentlichen Raum der Straße und erhalten so symbolische Relevanz.56 Eine deutliche stadträumliche Ortsindexikalität lässt sich aus den
56 Zur Rolle natürlicher Elemente wie Pflanzen, Tiere und Parks in der Stadt vgl. z.B.Hellbrück/Fischer 1999: 487ff. Untersuchungen zeigen, dass die Betrachtung natürlicher Umgebungen stressreduzierend wirkt. Theorien wie die Biophilia-Hypothese, die von einer
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Äußerungen nicht ableiten. Eine konventionalisierte Ortsindexikalität kommt den genannten Parks ebenfalls nicht zu: Heinrich-von-Kleist-Park und Nelly-Sachs-Park sind über das Viertel hinaus wenig bekannt, der Tiergarten ist vom Bereich der südlichen Potsdamer Straße durch den Landwehrkanal getrennt und nicht mehr Teil des überlokalen Images der Potsdamer Straße. 4.3.1.3 Relevante Nutzungen: Prostitution, Kultur und Straßenverkehr Nutzungen von städtischen Räumen, können, je nach gewählter Perspektive, der Ausdrucks- oder Inhaltsseite zugerechnet werden. Unter der strukturellen Perspektive von „Straße als Einheit“ sind sie der Inhaltsseite zuzuordnen. Besonders die Nutzung Prostitution wird in den Interviews als Inhaltsmerkmal des stereotypisierten Tokens [Potsdamer Straße] aufgefasst und damit der Gesamtstraße zugeschrieben. Betrachtet man die Straße jedoch als Objektkomplex, können Nutzungen auch als Element der Ausdrucksseite aufgefasst werden, als konkrete Manifestationen der Nutzung in spezifischen Objekten. Die Potsdamer Straße als „Prostitutionsgegend“ Das Elementfeld Prostitution wird von 18 der 20 Befragten angesprochen. Insgesamt gibt es 69 Zitationen zum Thema Prostitution, Bordelle, LSD-Erotikkaufhaus oder zum geplanten ‚Laufhaus‘57. Die Eigenschaft der Potsdamer Straße als Bereich der Konzentration von Prostitution ist ein distinktives Merkmal der Potsdamer Straße: während andere nicht eindeutig im Objekttyp kodierte Nutzungsformen der Potsdamer Straße wie z.B. kulturelle Nutzungen (s.u.) auch einer Vielzahl anderer großer Straßen zukommen, trifft dies für die Nutzung Prostitution nicht zu. Damit kann die Prostitution als ein Schlüsselthema der Potsdamer Straße und ihres Umfelds gelten. Das Bild der Potsdamer Straße und ihres Umfelds als „Prostitutionsgegend“ (P3) resultiert jedoch weniger angeborenen emotionalen Bindung an die natürliche Umwelt ausgehen oder die SavanneHypothese, die die menschliche Präferenz für baumbestandene Graslandschaften aus dem Ursprung des Homo Sapiens in den afrikanischen Savannen herleiten, liefern hier evolutionstheoretische Erklärungsansätze (Hellbrück/Fischer 1999: 254f, 487f). Auf eine weitere mögliche symbolische Relevanz von Elementen des Stadtgrüns als Indikatoren eines bürgerlichen Viertels wurde in Kap. 2.3.3 und 3.4.1 hingewiesen. 57 Ein Antrag auf Baugenehmigung zur Einrichtung eines Großbordells als ‚Laufhaus‘ für Prostituierte an der Ecke Potsdamer / Kurfürstenstraße wurde im Februar 2008 vom zuständigen Bezirksamt ablehnt, nachdem es seit Ende 2007 zu massiven Protesten der Anwohner gekommen war. Diese Entscheidung wurde vom Berliner Verwaltungsgericht im Mai 2010 bestätigt (s. Kap. 1.8.4).
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aus der direkten aktuellen Wahrnehmung; nur ca. die Hälfte der Zitationen zum Thema bezieht sich auf den heutigen sichtbaren Zustand der Straße. Die Anzahl der in Verbindung mit der Nutzung Prostitution genannten aktuellen Objekttoken ist dementsprechend ebenfalls gering: außer dem LSD-Erotikkaufhaus (9 Nennungen), vor dessen Eingangsbereich besonders im Jahr 2007/2008 Prostituierte überwiegend aus Osteuropa ihre Dienste anboten, kann nur der Sexshop zwischen Pallas- und Bülowstraße im weiteren Sinne dazu gezählt werden. Auch der Objekttyp Bordell wird nur dreimal genannt. Vielmehr speist sich das Bild als Rotlichtviertel aus persönlichen Erinnerungen an die Potsdamer Straße der 80er Jahre und früher („Also vorher, wenn man Potsdamer Straße gehört hat, dachte man gleich an Nutten“, P6), aber auch aus dem konventionalisierten, überlokalen Image der Potsdamer Straße. Auch wenn seit Ende der 80er Jahre die Prostitution in die Seitenstraßen (überwiegend Straßenstrich in der Kurfürstenstraße) verdrängt wurde und in der Potsdamer Straße erst ca. 2007 und nur an der Straßenecke Kurfürstenstraße vor dem LSD wieder partiell sichtbar wurde, habe sich das „Stigma“ (P13) als „Bordellstraße“ (P1) über Berlin hinaus erhalten: „Es gibt auch Firmen, es gibt auch junge Unternehmen, auch aus der Medienbranche, die dann meinetwegen sich mit Partnern zusammentun, die von sonstwo kommen, Hamburg, München oder was auch immer, die dann von weitem schon rufen: ‚Also um Gottes willen nicht in die Potsdamer Straße‘“ (P13). „In der Verwandtschaft da ist das so, die meisten haben Erfahrungen gesammelt, als das hier noch ein echter Rotlicht-Bezirk war. Und dieses Image, das ist irgendwie festgenagelt. Auch wenn es gar nicht mehr stimmt“ (P16). Besonders präsent im Vergleich zu anderen Themen ist die Prostitution in den Antworten auf die Frage nach dem Image der Potsdamer Straße in den Medien oder bei der Berliner Bevölkerung im Allgemeinen. Dort wird sie von 13 der 20 Befragten erwähnt (vgl. Kap. 4.3.6), ca. ein Drittel aller Zitationen zur Nutzung Prostitution steht in Zusammenhang mit dem Fremdimage der Potsdamer Straße. Für den Mitarbeiter des Quartiersmanagements war und ist ‚Potsdamer Straße’ „das Synonym […] für unser Quartier und für bestimmte Erscheinungsformen“ (P18). Diese Feststellung kann bereits als semiotische Interpretation gelesen werden: |Potsdamer Straße| steht einerseits in einer metonymischen Beziehung für das städtische Umfeld der Straße, eine Relation, die auch für andere große Geschäftsstraßen (z.B. Schönhauser Allee) oder auch kleinere, in einem Quartier intensiv genutzte und typische Straßen zu beobachten ist (z.B. Bergmannstraße in BerlinKreuzberg). Andererseits steht sie für eine bestimmte traditionelle Nutzung an diesem Ort (Prostitution), die durch die historische Kontinuität den Status einer konventionalisierten Funktion dieses Tokens erhalten hat und damit in das Konzept integriert wurde. Auch wenn aktuell die Prostitution in der Potsdamer Straße nur noch eine geringe Rolle spielt, bleibt durch die Verschränkung dieser beiden Relationen die Gleichsetzung Potsdamer Straße = Prosti-
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tution erhalten, jedes nur temporäre Vorkommen der Nutzung bestätigt besonders für Außenstehende die Richtigkeit dieser Gleichsetzung. Der immer noch beobachtbare hohe Stellenwert des Inhalts kann auch aus dem Fehlen oder dem Verlust anderer positiv besetzter praktischer oder symbolischer Bedeutungen (wie ) erklärt werden. Die Bedeutung als (ehemaliges) identitätsstiftendes Merkmal wird auch in den Interviews deutlich: „Das Rotlichtmilieu verschwand ja da nach und nach. Dann hing es hier alles in der Luft. Es war Niemandsland sozusagen“ (P11). Zwei der Befragten erörtern eine mögliche Profilstärkung der Potsdamer Straße durch Neubelebung als Vergnügungsviertel: „Unter Umständen auch Bordelle oder Vergnügungsviertel. Wenn es da wieder vielleicht zurückfinden würde, wäre ja auch nicht schlecht für die Straße“ (P1). „Eigentlich ... würde so eine Stadt auch so eine Vergnügungsstraße brauchen, benötigen. Und da wäre der Platz wahrscheinlich gar nicht so schlecht. Mittendrin ist besser als außerhalb und anonym“ (P1). „Man könnte ja mal überlegen, ob man das Ganze hier in ein Vergnügungsviertel umnutzt. Einfach sagt: Wenn es jetzt hier so eine Insel ist, dann ist halt das, was anscheinend ganz viele abschreckt, das nehmen wir mal als Bonus, und jetzt mal richtig“ (P12). Die Prostitution wird von einem Teil der Befragten neutral bewertet und als inhärentes Merkmal der Potsdamer Straße und ihres Umfeldes betrachtet (s.o.): „Und in der Kurfürstenstraße noch der Straßenstrich, gibt es schon immer. Gab es schon immer. Wird es auch immer geben. Der stört im Grunde auch gar nicht“ (P11), „Wir brauchen es nicht zu verstecken. Das Rotlichtmilieu, dazu kann man stehen“ (P11). Andere, besonders Frauen, erleben die Prostitution und ihre Begleiterscheinungen als Angst einflößend: „Und es war unsicher, man hat Angst gehabt“ (P5). „Also, wegen dieses Erotikladens kommen sehr viele Frauen. Also, das gefällt mir nicht jetzt. Also, man fühlt sich nicht sicher hier abends“ (P6). „Danach kommt natürlich die Prostituiertenszene. Muss man auch aufpassen, dass man mit seiner professionellen Distanz nicht die Anwohner überfordert, indem man sagt: Ja, was ist denn da so schlimm dran? Für die ist es schlimm, für die ist es schlimm“ (P20). Der Mitarbeiter des Quartiersmanagements sieht in Prostitution und Drogenhandel „soziale Grundlasten“ des Viertels (P18). Die Nutzung Prostitution verfügt auf Grund ihrer vielfältigen Konnotationen prinzipiell über hohe symbolische Relevanz für einen Stadtraum.58 Durch die kon58 Zur Großstadt der Moderne als sexuell aufgeladener Raum in Literatur und im Film seit Ende des 19. Jahrhunderts siehe z.B. Löw 2008: 203ff; die moderne Großstadt ist in diesen Darstellungen sowohl Ort der Prostituierten als auch die verführende, verschlingende Hure selbst. Auch die Großstadt der Gegenwart kann als grundsätzlich sexualisierter Raum angesehen werden (Löw 2008: 207f), siehe ferner Barthes 1967/ 1988: 207 zur „erotischen Dimension“ der Stadt im weiten Sinne der Begegnung mit dem
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ventionalisierte Verknüpfung des Inhalts mit dem Image der Potsdamer Straße erhält die Nutzung zusätzlich starke ortsindexikalische Komponenten.
Prostitution in der Potsdamer Straße in Stichworten Elementfeld Prostitution (Typen + Token + Nutzung)
Evaluative Kodes Kodes der sozialen Kategorisierung Historische Kodes
Art der Elemente
• •
Fixierte Elemente, nichtfixierte Elemente Aktuale Elemente (Prostitution am LSD), nicht aktuale Elemente (Potsdamer Straße als ehemaliges Zentrum der Prostitution in Berlin West)
Syntagmatische Aspekte
Lokalisierung aktuell überwiegend an der Kreuzung Kurfürstenstraße und in der Kurfürstenstraße selbst
Relevanz
Zusammenfassung
• • •
Bordell
Aktuell eher niedrige sensorische Relevanz Hohe symbolische Relevanz Inhalt als Merkmal des Fremdimages der Potsdamer Straße
Inhalt geprägt durch historisches Bild und überlokales Image der Potsdamer Straße als Prostitutionsgebiet
Anderen. Der engen Verknüpfung von Großstadtmythos, Straße, Sexualität und Prostitution kann hier leider nicht vertieft nachgegangen werden.
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Kulturelle Nutzungen Das Elementfeld Kulturelle Nutzungen (Objekte und Objekttypen mit kulturellen Funktionen59 sowie kulturbezogene Aktivitäten) hat einen hohen Stellenwert in den Interviews. Kulturbezogene Aktivitäten im engeren Sinne wie Konzertbesuche werden (nach den Nutzungen Verkehr und Prostitution) am dritthäufigsten von allen Nutzungen genannt. Allerdings sind allein acht der genannten 28 Einzelobjekte mit kultureller Funktion in den Abschnitten Kulturforum oder Potsdamer Platz angesiedelt und demnach nicht mehr Teil des Vorstellungsbildes der „typischen“ Potsdamer Straße (siehe Kap. 4.3.3). Fünf weitere Objekte sind nicht mehr vorhanden, sechs sind bzw. waren nur temporäre Objekte (darunter das jährliche Kulturfest Magistrale, s.a. unten Kap. 4.3.1.6) oder kamen über das Planungsstadium nicht hinaus. Am häufigsten genannt wurden der Tagesspiegel und Wintergarten, die beide auch absolut die meisten Nennungen aller Objekttoken verzeichnen (siehe Kap. 4.3.1.1), danach folgen gleichauf die Staatsbibliothek, die Magistrale und die Buchhandlung Schropp. Unter den kulturbezogenen Objekttypen werden Galerien von 7 Befragten genannt, es folgen die nur im Bereich Potsdamer Platz vorhandenen Kinos sowie Museen. Für den Bereich der prototypischen Potsdamer Straße stellt das Thema Kultur aktuell eher ein Erinnerungsbild bzw. ein Wunschbild dar. „Was nicht mehr ist, ist Kultur. Früher war es, glaube ich, eher ein Kulturstandort“ (P3). „Hoffentlich entwickeln sich hier Galerien oder irgendwie so etwas. Man weiß es wirklich nicht, was kommen soll“ (P1) „Da müssen die New Yorker kommen. Die New Yorker Künstler, die das dort nicht mehr bezahlen können, die müssen alle hierher“ (P1). Die ca. seit 2007 im östlichen Teil der Kurfürstenstraße neu entstandenen kleinen kommerziellen Galerien werden nur von wenigen thematisiert, ebenso der temporäre Kunstraum Tmp. „Es gibt ja hier auch versteckt überall Galerien. Es gibt welche in der Kurfürstenstraße, es gibt welche am Lützowplatz“ (P15). Insgesamt seien die kulturellen Aktivitäten im Straßenbild wenig sichtbar, da sie sich in Hinterhöfen und Seitenstraßen abspielten: „Es gibt ziemlich viel Kunst und Kultur, das sind alles so Sachen im Verborgenen, […] alles so Sachen, die man nicht sieht, aber die auf Grund des, nicht nur der baulichen, auch dieser gewachsenen historischen Struktur da entstanden sind.“ (P13). Zu den Strategien zur Stärkung der
59 Als Objekte bzw. Objekttypen mit kulturellen Funktionen wurden codiert: Museen, Theater, Bibliotheken, Buchhandlungen, Verlage, Galerien sowie kulturelle Ereignisse wie Ausstellungen oder Feste. Hier nicht berücksichtigt wurde der Objekttyp Mediengewerbe, mit dem Referenzen auf die kleinen Medienbetriebe an der Potsdamer Straße codiert wurden. Die Potsdamer Straße als Medienstandort wird im Unterkapitel 4.3.7.3 behandelt.
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Kultur- und Medienlandschaft an der Potsdamer Straße vergleiche das Kap. 4.3.7.2 und 4.3.7.3.
Kulturelle Nutzung der Potsdamer Straße in Stichworten Elementfeld Kultur (Typen + Token + Nutzungen)
Gebrauchsfunktionale Kodes Kodes der sozialen und kulturellen Katego risierung (siehe Kap. 4.3.3.2 zum Kulturforum) Evaluative Kodes Historische Kodes
Zum Tragen kommende Kodes
• •
Galerie
Art der Elemente
Semifixierte Elemente, temporäre Elemente
Syntagmatische Aspekte
Lokalisierung kulturbezogener Objekte / Nutzungen überwiegend im Abschnitt Kulturforum •
Relevanz
• •
Zusammenfassung
Sensorische Relevanz südlich Landwehrkanal niedrig Praktische Relevanz für die Befragten der akademischen Mittelschicht Generelle hohe symbolische Relevanz kultureller Nutzungen in städtischen Räumen
Insgesamt relativ hohe Relevanz für die Befragten der akademischen Mittelschicht, niedrigere Relevanz für andere
Der deutliche Unterschied bei der Nennung kultureller Objekte oder Nutzungen zwischen den Befragten deutscher und nichtdeutscher Herkunft (durchschnittlich 8 Zitationen bei den Deutschen gegenüber je 1 Nennung bei den Migranten) ist wahrscheinlich eher alters- und bildungsbedingt (2 Probanden unter 21, die beiden anderen mit geringerem durchschnittlichen formalen Bildungsniveau als der Durchschnitt der ‚deutschen‘ Befragten) als kulturell zu erklären, s.a. Kap. 4.3.8.
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Kulturelle Nutzungen verfügen im Allgemeinen über hohe symbolische Relevanz für einen Stadtraum, verbessern das Image und ziehen Nutzer aus anderen Stadtteilen oder Touristen an, die ggf. wieder die lokale Ökonomie stärken.60 Von der Mehrheit der Anwohner im Einzugsgebiet der Potsdamer Straße werden Einrichtungen der „Hochkultur“ wie Museen, wahrscheinlich auf Grund kultureller und Bildungsbarrieren, nur selten besucht, eine praktische Relevanz im Sinne einer persönlichen Nutzung dieser Institutionen ist daher nur für eine Minderheit gegeben. Verkehrsader Potsdamer Straße Alle Befragten thematisieren die Potsdamer Straße als Verkehrsader oder den Autoverkehr in der Potsdamer Straße. Für die Kategorien ‚Verkehr‘ und ‚Nutzung Verkehrsader‘ existieren insgesamt 55 Zitationen. Für das gesamten Elementfeld Nutzung Verkehr, d.h. bei weiterer Einbeziehung sämtlicher Verkehrsmittel und Verkehrseinrichtungen, sind es über 90. Meistgenannte Objekttypen sind Bürgersteige, es folgen Busse, Busspuren, Parkplätze, Autos und Fahrradstreifen. Die Nutzung als Verkehrsader und die daraus resultierende Verkehrsbelastung kann als verbindendes Merkmal der ansonsten sehr heterogenen Abschnitte gelten (siehe Kap. 4.3.2). „Wie wird sie sonst genutzt? Vor allem als Verkehrsstraße“ (P15). Seit dem Fall der Mauer sei es wieder eine Durchgangsstraße zum Potsdamer Platz (P3). „Das ist eine der Schlagadern von Nord nach Süd … Ich weiß nicht, wie viele Autos hier täglich vorbeirollen“ (P7). Die hohe Verkehrsfrequenz wird von fast allen negativ bewertet. Neben Lärm und Luftbelastung mit hoher sensorischer Relevanz ist der Verkehr auch eine Gefahrenquelle besonders für alte Menschen und Kinder, die den gesamten Stadtteil belaste: „Es ist eben einfach eine Straße, […] wo der Verkehr einfach so durchrauscht. […] für die Verkehrsteilnehmer ist das Gebiet bedeutungslos. Und so gehen sie dann auch damit um“ (P18). Auch für Fremde werde die Straße dadurch unattraktiv: Für den Touristen sei da auf den ersten Blick „gar nix außer Verkehr“ (P1). Von einigen werden sichere Fahrradspuren gefordert. Andererseits gewinnt die Potsdamer Straße in ihrer Rolle als Teilabschnitt der Bundesstraße 1 sowohl überlokale praktische Bedeutung für das System der Gesamtstadt als auch darüber hinaus überregionale Bedeutung und damit auch 60 Der Stellenwert der Cultural Industries ist in Berlin allgemein hoch und in den letzten Jahren weiter gewachsen. 2006 betrug der Anteil der Kulturwirtschaft am Bruttoinlandsprodukt der Berliner Wirtschaft 13%, über 10% der Erwerbstätigen arbeiteten in der Kulturwirtschaft (Kulturwirtschaftsbericht Berlin 2008, http://www.berlin.de/imperia/md/ content/sen-wirtschaft/publikationen/kulturwirtschaft.pdf?start&ts=1232537878&file= kulturwirtschaft.pdf [28.12.2011]).
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symbolische Relevanz: „So gesehen ist es auch eine wichtige Straße. […] das verbindet schon die ganze Stadt. […]Wenn man sich vorstellt, das geht wirklich vom Stadtrand, Wannsee, Glienicker Brücke, das ist schon eine ganz schöne Strecke, das ist schon was (P8). Praktische Relevanz besitzt für die meisten Befragten die gute Anbindung an den öffentlichen Nahverkehr in der Potsdamer Straße: „Ich bin größtenteils hiergeblieben, weil ich eine gute Anbindung habe. Ich komme mit den Bussen weg, hab die U-Bahn hier, hab die Buslinie“ (P14). Der Geschäftsmann ist an guten Parkmöglichkeiten für die Kunden des Einzelhandels in der Potsdamer Straße interessiert (P11).
Der Verkehr in der Potsdamer Straße in Stichworten Elementfeld Verkehr (Typen + Token+ Nutzungen)
Fixierte Elemente, semifixierte Elemente, nichtfixierte Elemente
Objekttypen
• Syntagmatische Aspekte
Relevanz
Zusammenfassung
•
• • •
Nutzung als Verkehrsader: Merkmal der Potsdamer Straße als einheitliches Objekt Potsdamer Straße als Teil der B1 und damit als Element des übergeordneten Systems der Gesamtstadt Sensorische Relevanz Hohe praktische Relevanz Symbolische Relevanz: Potsdamer Straße als Teil der überregionalen Bundesstraße 1
Hohe Relevanz des Elementfeldes Verkehr, einerseits resultierend aus der Standardfunktion des Objekttyps Großstadtstraße, andererseits aus der Funktion der Potsdamer Straße als einer der Hauptverkehrsadern Berlins
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Weitere Nutzungen Das Elementfeld Freizeitnutzungen wird mehr als 60 mal genannt. Diesem Elementfeld zugerechnet wurden Objekttoken und -typen, denen Freizeitaktivitäten als Standardfunktionen zugeordnet werden können, sowie die Aktivitäten selbst.61 Erwähnt werden u.a. Objekte des Stadtgrüns (s.o. Kap. 4.3.1.2), Treffpunkte für Jugendliche sowie einige, teilweise berlinweit bekannte Orte des Nachtlebens wie die Bar Kumpelnest 3000: „Wenn gar nichts mehr geht, gehen wir ins Kumpelnest“ (P3). Das Flanieren oder Spazierengehen in den Straßen wird von beinahe der Hälfte der Befragten erwähnt und als wesentliches Nutzungsmerkmal einer idealen Großstadtstraße bestimmt (s.u. Kap. 4.3.4). Dagegen sei die aktuelle Potsdamer Straße gerade nicht eine „Meile […], die zum Schlendern einlädt“ (P7), dafür sei auch „die Strecke zu lang […] und es passiert zu wenig“ (P13). Man sehe „keine Leute, die verweilen, keine spannenden Leute, eigentlich nur Leute, die durchhetzen. Also, es ist keine Flaniermeile. Die Leute verschwinden auf dem kürzesten Weg in irgendwelchen Gebäuden, Büros“ (P20). Freizeitorte an der Potsdamer Straße wie Jugendeinrichtungen und Veranstaltungsräume werden von mehreren Befragten als nicht vorhanden, aber wünschenswert thematisiert (P10, P16, P17, s.a. Kap. 4.3.7.1): „Und hier ist nichts, finde ich, was Jugendliche machen können. Gar nichts. […] Also, es ist eigentlich hier schon langweilig“ (P17). Freizeitnutzungen generell kommt also eine erhöhte Relevanz zu, die sowohl praktischer Art als auch, wenn bestimmte Einrichtungen über den Kiez hinaus bekannt sind (s.o. Kumpelnest 3000), symbolischer Art sein können. Allerdings werden die Potsdamer Straße und Umgebung auf Grund der fehlenden Aufenthaltsqualität und des Fehlens von Freizeiteinrichtungen nicht als typische Freizeit- oder Ausgehgegend konzipiert. Der Inhaltsbereich Wohnen (umfasst den Objekttyp Wohnung und die Nutzung Wohnen) wird in 37 Zitationen thematisiert. Die Potsdamer Straße sei „ganz klar auch eine Wohngegend“ (P4), „eigentlich eine Wohn- und Geschäftsstraße“ (P8), wobei in den einzelnen Gebäuden eine Mischnutzung vorliege: „der Klassiker – oben Wohnhäuser, unten kleine Geschäfte“ (P8). Eine überwiegende Wohnnutzung gebe es dagegen in den „ruhigen kleinen Seitenstraßen“ (P7), auch mit „sehr
61 Es handelt sich hier um ein Elementfeld, das sich als konkrete umfassende Nutzung (z.B. als Thematisierung der generellen Freizeitmöglichkeiten der Potsdamer Straße) kaum in den Interviewdaten wiederfindet, sondern überwiegend als theoretisch-abstrakte Kategorienfamilie aus einer Anzahl recht heterogener Einzelcodes erstellt wurde. Als zum Elementfeld Freizeitnutzungen zugehörig wurden u.a. codiert: Spazierengehen, Erholung, Nachtleben, Straßenfeste, Treffpunkte für Jugendliche, Veranstaltungsräume, Parks, Spielplätze und Sportstätten.
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schönen Wohnungen, sehr groß, bezahlbar“ (P4).62 P7 sieht allerdings bei Betrachtung des Umfeldes „nichts Spannendes an Wohnqualität“ (P7). Die Wohnnutzung gehöre auch zu den Merkmalen einer idealen Großstadtstraße (P12). Die ebenfalls oft (25 mal) genannte Aktivität Einkaufen wurde bereits in Kap. 4.3.1.2 in Zusammenhang mit der Darstellung der Rolle der Einzelhandelsgeschäfte behandelt. 4.3.1.4 Historische Dimension und eigene Biographie: Themen der Historie der Potsdamer Straße und die Rolle der persönlichen Erinnerung Nach historischen Elementen und Bedeutungen der Potsdamer Straße wurde nicht direkt gefragt, nur nach einem „ersten Eindruck“ der Straße, d.h. nach persönlichen Erinnerungen. Dennoch werden in über 170 Zitationen (von über 1200) der Interviews Bezüge zur historischen Dimension der Straße im weiteren Sinne hergestellt. Davon sind rund 50 Referenzen auf das Alter von Gebäuden (siehe Kap. 4.3.1.2 / Die Gebaute Umwelt). Über 60 Zitationen von insgesamt 18 Befragten thematisieren historische Bedeutungen der Potsdamer Straße im Allgemeinen. 30 beschreiben frühere persönliche Eindrücke (s.u. in diesem Unterkapitel zur Rolle der persönlichen Erinnerungen). Einzelne historische Objekte werden in rund 40 Zitationen erwähnt. Dabei liegt das Quartier Latin mit Nennung durch 7 Befragte an erster Stelle gefolgt von der Berliner Mauer und der Buchhandlung Struppe & Winkler und dem Elektronik- und Fotomarkt Wegert (früher an der Ecke Kurfürsten- / Potsdamer Straße). Neun Interviewpartner weisen auf die Geschichtsträchtigkeit der Potsdamer Straße hin. „Und in diesem Zusammenhang ist einem natürlich schon aufgefallen, dass die Straße schon sehr geschichtsträchtig ist. Das hat man dann schon langsam bemerkt“ (P1). „Ich finde, die Straße lebt auch viel von der Geschichte“ (P8).Sie sei eine „Traditionsstraße“ (P13), eine „Geschichtsstraße“ (P14). Angesprochen werden die Potsdamer Straße als Wohnort Prominenter und Künstler im 19. und frühen 20. Jahrhundert (P8), „es war eine Upper-Class-Schicht, die hier gelebt hat“ (P18), und auch als Verlagsstandort (P8, P11, P13). Ein zweiter Topos ist die Kontinuität des Rotlicht- und Halbweltmilieus, das bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts an der Potsdamer Straße und ihrer Umgebung existierte (zur Prostitution siehe Kap. 4.3.1.3). Über die Hälfte der Befragten thematisieren hier eigene Erinnerungen oder historisches Wissen: „dass wir hier immer Vergnügungsecke waren“ (P14), die Potsdamer Straße zieht „immer wieder die Halbwelt an. […] Vielleicht ist es die Tradition, vielleicht ist es der Geruch oder was weiß ich“ (P9). 62 Zur Wohnnutzung als Unterscheidungsmerkmal zwischen einzelnen Abschnitten der Potsdamer Straße sowie zwischen Typen von Straßen vgl. Kap. 4.3.3.2 und 4.3.3.4.
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Einige berichten noch aus eigener Anschauung oder über Erzählungen aus zweiter Hand von der Vielzahl der Bordellbetriebe in der Nachkriegszeit bis in die 70er Jahre. Die Bordelle hätten sich jedoch „in die bürgerliche Gesellschaft eingeordnet“ (P14), es war „ein funktionierendes sauberes Rotlichtmilieu“ (P11), „die alten Potsdamer-Straßen-Leute […] sagen, es war alles recht geordnet“ (P1). Dagegen fehlt den Berichten über die Drogenszene der 80er bis 90er Jahre jeder nostalgische Klang: „Das war ein Eindruck von Elend, von Dantes Hölle“ (P9), „das waren mit die schlimmsten Zeiten, die wir erlebt haben“ (P11). Die Zeit des Nationalsozialismus, in der die Potsdamer Straße sowohl Schauplatz der Prozesse des Volksgerichtshofes im heutigen Kammergericht als auch des Aufrufs Goebbels zum „totalen Krieg“ war, wird explizit nur von einem Interviewten erwähnt. Die Potsdamer Straße war auch lange nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs von Kriegszerstörungen geprägt: „Der Potsdamer Platz, der dann völlig abgeräumt wurde“ (P14). „Hier hinten [südlich der Bülowstraße], das war ja ziemlich zerbombt“ (P7). Auch die deutsche Teilung mit der Berliner Mauer als materieller Manifestation hatte direkte Auswirkungen auf die Straße: „Natürlich da hinten war dann die Mauer, also es war relativ abgeschlossen, grau war der Eindruck, also nicht sehr schön, es hatte eher so Kiezcharakter, und trotzdem war es nicht so richtig Dead End, war es nicht.“ (P7). „Es war eine Straße Richtung Mauer im Prinzip“ (P3). Die Potsdamer Straße war auch in den Jahren nach dem Zweiten Weltkrieg noch ein Standort vieler traditionsreicher Fachgeschäfte: „Sie war eine Straße mit guten alten Geschäften, mit alten Läden“ (P14). Ferner steht die Potsdamer Straße für die Berliner Hausbesetzerbewegung und die Alternativkultur der 80er Jahre: das war die „Zeit der Hausbesetzerszene und der Krawalle“ (P6), sie war als „SubkulturStandort“ (P3) ein „Mythos“ mit „Stars wie David Bowie und Iggy Pop“ (P4). Neben der Berliner Mauer werden drei nicht mehr vorhandene Einzelobjekte häufiger erwähnt, alle können den oben genannten historischen Themen zugeordnet werden. Das Quartier Latin steht dabei als Jazzkonzertsaal exemplarisch für die anspruchsvolle Alternativkultur: „Das Quartier Latin hatte ja auch einen sehr guten Namen damals und war als […] Haus für gute Jazzmusik bekannt und hat auch das Stück zwischen Lützow- und Pohlstraße so ein bisschen geprägt“ (P14). „Man kam extra aus Westdeutschland, wenn da noch bestimmte Gruppen auftraten, die noch nicht so bekannt waren, aber schon ein Geheimtipp, dann kam man nach Berlin“ (P18). Die juristische Buchhandlung Struppe & Winkler, „ein alt eingesessenes Geschäft“ (P11), repräsentiert die Verlags- und Buchhandelstradition der Potsdamer Straße. Das Medien- und Elektronikkaufhaus Wegert, ansässig an der Ecke Kurfürstenstraße seit Ende der 60er Jahre und Vorläufer der großen Medienmärkte der späten 90er Jahre an der Ecke Kurfürstenstraße, „ein prosperierendes Geschäft hier an der Ecke mit einem Stammsitz“ (P18), steht ebenfalls in der Fachgeschäftstradition. Es kann wohl auch als Symbol für die Hoffnungen der Potsdamer Straße nach der Wende verstanden werden. Ein Grund für die relativ häufige Nennung mag
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auch der auffällig desolate bauliche Zustand des Gebäudes (immer noch meist als ‚ehemaliges Wegert-Haus‘ bezeichnet) sein sowie die heutige Nutzung als Erotikkaufhaus LSD und der 2007 geplante Umbau zum ‚Laufhaus‘ (s.o. Kap. 4.3.1.3 / Nutzung Prostitution). Diese vier Objekte zeichnen sich ferner dadurch aus, dass sie mindestens bis 1989 noch bestanden haben und daher auch im individuellen Gedächtnis der meisten Befragten noch verankert sind. Inwieweit die historische Bedeutung der Potsdamer Straße in der Gegenwart noch wirksam ist oder ob sie eingesetzt werden kann, um das Image der Potsdamer Straße zu stärken, darin sind die Befragten unterschiedlicher Meinung. Für einen, dessen Lokal sich auf die Historie der Potsdamer Straße bezieht, ist die Geschichte „die letzte Substanz, die die Straße hat“, es könnte auf der Potsdamer Straße eine „Geschichtsmeile“ entstehen, die auch Touristen anzieht (P1). Ähnlich bei einem historisch Interessierten: „Man sollte auf die Geschichte hinweisen, dann werden die Leute bestimmt neugieriger“ (P8). Viele Orte wie der Kleistpark seien nicht per se interessant, „der lebt eben nur von seiner Historie“ (P20). Für andere, deren Fachgeschäfte keinen inhaltlichen Bezug zur Potsdamer Straße haben, sind die historischen Ereignisse und Bedeutungen „inzwischen verblasst“ […] „Es guckt einen nicht so an hier“ (P7). Legt man nur generelle Verweise auf die Geschichte der Potsdamer Straße (ohne Berücksichtigung persönlicher Erinnerungen) und die Nennung historischer Einzelobjekte zugrunde, liegt die Zahl der Zitationen immer noch über 100. Hier zeigt sich die für die Mehrheit der Befragten63 hohe Relevanz der historischen Bedeutungen der Straße. Diese Relevanz ist symbolischer Natur, eine direkte praktische oder sensorische Relevanz ist naturgemäß nicht mehr gegeben. Während das Bild der heutigen Potsdamer Straße heterogen und unscharf scheint, vermitteln die (wenn auch in der Folge unterschiedlichen) historischen Identitäten klar umrissene Bilder der Straße. Ferner besitzen viele der im Bereich der Potsdamer Straße stattgefundenen Ereignisse für die Interviewten auch eine Bedeutung für die Gesamtberliner oder sogar deutsche Geschichte, als Beispiel werden der Mauerbau oder die Hausbesetzungen genannt:
63 Kaum thematisiert werden historische Bedeutungen und Objekte, die nicht aus persönlicher Erinnerung bekannt sind, bei den migrantischen Befragten bzw. den Befragten mit niedrigen Bildungsabschlüssen (nur 2 Zitationen von der o.g. Summe von 90). Allerdings gibt es auch bei den nicht-migrantischen Befragten Unterschiede in der Frequenz der Nennungen.
300 | DIE STRASSE, DIE DINGE UND DIE Z EICHEN „Da denke ich schon eher an die Geschichte oder an Berliner Geschichten, Sportpalast und bis hin zu dem Klaus-Jürgen Rattay oder wie der hieß, der bei der Demonstration ... Und Lummer und Otto Schily und die ganzen Musiker und Quartier Latin. Bis hin zu David Bowie, Hauptstraße und so. Das ist schon mit Berlin verbunden.“ (P15)
Abbildung 17: Die historische Dimension der Potsdamer Straße (Stand: Juli 2008)
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Durch die Verknüpfung der Potsdamer Straße mit der Berliner oder deutschen Geschichte ist sie nicht mehr eine unter vielen ähnlichen größeren Straßen, sondern wird zum herausgehobenen Kristallisationsort der Ereignisse eines größeres und damit auch wichtigeren Ganzen. Einen Überblick über die historischen Objekte und Inhalte der Potsdamer Straße gibt die Abbildung 17. Die Potsdamer Straße in der eigenen Biographie: die Rolle der persönlichen Erinnerungen Nach eigenen persönlichen Erinnerungen wurde im Leitfaden explizit gefragt. Bei einer 80-jährigen Befragten reichen die Erinnerungen bis in die letzten Jahre des Zweiten Weltkriegs zurück, als sie mit ihrer Familie in die Pohlstraße zog. Die Kriegshandlungen im Frühjahr 1945 und die großflächigen Bombenschäden sind in ihrem Erinnerungsbild noch sehr präsent. Als einzige hat sie auch noch deutliche Erinnerungen an eine prosperierende Potsdamer Straße in der Zeit des Wiederaufbaus in den 50er und 60er Jahren: „Die Potsdamer Straße hat sich dann langsam wieder gemausert zu einer eigentlichen, zu einer Boulevardstraße im kleineren Sinne. […] Sie war eine Straße mit guten alten Geschäften, mit alten Läden, die sich dann nachher wieder etabliert haben. Das lief auch alles“ (P14). Für andere sind frühe Erinnerungen das Rotlichtmilieu der 60er und 70er Jahre, das sie als Kinder und Jugendliche an der Potsdamer Straße wahrgenommen haben: „In jedem Hauseingang standen Dutzende von Frauen, wo man als Kind klar erkannte, was die da machen, auch wenn man das im Detail vielleicht noch nicht so wusste“ (P20). Gerade für Jugendliche hatte dies etwas „Verruchtes“, etwas „Aufregendes“ (P8). Das im öffentlichen Raum sehr sichtbare ‚Milieu‘ dieser Zeit hat in den Erinnerungen oft nostalgische Züge: „Da haben die Mädchen gesessen. Die haben sich auf den Stuhl gesetzt und gewartet. Das war im Krieg schon so“ (P14). „Ich habe die Potsdamer Straße eigentlich sehr vital erlebt, auch damals schon mit einer Prostitutionsszene hier. Allerdings nicht in diesen Auswirkungen, wie es sich später hier entwickelt hatte mit der Straßenprostitution, sondern es gab hier so Freudenhäuser oder Läusepensionen, wie sie damals auch genannt wurden. Das waren Einrichtungen in der Nachbarschaft, die sozusagen akzeptiert waren. Da gab es eigentlich feste Arbeitszeiten, man kannte die Damen, die sich im Sommer auch per Stuhl rausgestellt haben oder insgesamt auf der Potsdamer Straße standen. Mein erster Eindruck war ein sehr positiver, lebendiger, wobei ich persönlich ja auch wesentlich jünger war und sicherlich da so eine andere Toleranzschwelle hatte als andere.“ (P18)
Für mehrere der Befragten stammen die ersten Eindrücke der Potsdamer Straße aus den 80er Jahren. Für diesen Zeitraum herrschen negative Stimmen vor: Prostitution, Kriminalität und Drogenhandel prägen diese Bilder (P5, P6, P9, P15). Für einige
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war die Potsdamer Straße vor dem Fall der Mauer aber trotz ihrer peripheren Lage eine durchaus lebendige Straße, eine „Szene-, Kulturstraße“ (P3, P7). Insgesamt kann die sich in den Vorstellungen zeigende Evaluation der Potsdamer Straße von den frühen 1970er Jahren bis 2008 als zuerst fallende, nach einem Tiefpunkt Anfang der 90er Jahre wieder steigende, aber bald wieder stagnierende und für einige Befragten auch wieder leicht oder stärker fallende Kurve dargestellt werden. Entscheidend scheint dabei der Ausgangspunkt zu sein: alle, die die Potsdamer Straße schon seit den frühen 70er Jahren kennen, als Rotlichtmilieu und bürgerliches Leben noch ohne größere Konflikte koexistierten (s.o. und P11, s.a. Kap. 4.3.1.3), sehen eine vorwiegende Negativtendenz. Positiv hat sich das Bild der Potsdamer Straße dagegen vor allem für die verändert, für die der frühe Eindruck aus den 80er Jahren ein überwiegend negativer war: „es ist viel, viel schöner geworden“ (P5). Deutlich wird auch, dass für diejenigen, die über einen längeren Zeitraum aktiv (ehrenamtlich oder nur gering gefördert) in sozialen und kulturellen Projekten im Bereich Potsdamer Straße mitarbeiten, das Bild an Detailreichtum gewinnt und sich eher zum Positiven entwickelt (s.a. unten Kap. 4.3.1.7). Im Zuge dieses Engagements beschäftigen sie sich auch intensiver mit der Straße und ihrem Umfeld und können ihre sozialen Kontakte im Gebiet ausbauen, was positiveren Bewertungen führt: „Ich habe die Potsdamer Straße ganz lange ignoriert. […] Bin da zur Post gegangen, manchmal bei Bolle einkaufen, aber ansonsten hatte ich gar keinen Bezug zur Potsdamer Straße. Die hat mich auch nicht besonders angezogen. […] Das hat sich in den letzten drei Jahren verändert. […] Ich habe mich halt entschieden, im Mediennetzwerk mitzuarbeiten. Und dadurch habe ich die Potsdamer Straße eigentlich erst mal kennengelernt. Beziehungsweise genauer auch einfach geguckt, was es da gibt, Leute kennengelernt, die da zum Beispiel eine Kneipe haben oder einen Laden haben. […] Durch Leute, die ich da kennengelernt habe, ist mein Interesse an der Straße geweckt worden. […] Früher hätte ich gedacht: Lärm, alte Häuser, billige Läden. Und jetzt würde ich eher denken: der Geschäftsführer von Bolle, der sehr aktiv ist, Puschels Pub, .... es ist eine Institution, dann die verschiedenen Restaurants, die ich inzwischen kennengelernt habe und die Leute da. Da würde ich viel kleinteiliger gucken.“ (P12)
Während anfänglich die anonymen Institutionen nur über praktische Relevanz für diese Befragte verfügten und nicht ortsindexikalisch verankert waren, entstand durch die neuen persönlichen Kontakte mit den im Gebiet sehr engagierten Betreibern eine ortsindexikalische Einbindung auch der Läden und Lokale. Die distanzierte, typenbezogene symbolische Relevanz (alte Häuser, billige Läden) wird nun ergänzt (wenn auch nicht ersetzt) durch die symbolisch-sensorische Relevanz
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einzelner schöner Höfe und einzelner kleiner Gaststätten: „da sind ja echte Juwelen dabei. […] kleine Oasen einfach“ (P12).
Die historische Dimension in Stichworten
Elementfeld historische Dimension (Typen + Token)
> 170 Zitationen / alle Befragte Exkl. persönliche Erinnerungen und Hinweise auf das Alter von Gebäuden: >100 Zitationen / 18 Befragte
Historische Objekttoken
++ Quartier Latin, Berliner Mauer, Struppe & Winkler
Wohnort Prominenter und Künstler im 19. und frühen 20. Jahrhundert, Prostitution/Rotlichtmilieu, Kriegszerstörung, Alternativkultur
Objektaspekte
++ Historische Kategorisierung nach Baustilen: Altbauten vs. Neubauten (siehe Kap. 4.3.1.2 / Die gebaute Umwelt) + Verknüpfung von Objektaspekten mit historischen Kategorisierungen (siehe 4.3.1.2 / Die gebaute Umwelt)
Zum Tragen kommende Kodes
Historische Kodes •
Art der Elemente •
Fachgeschäfte, Verlage
Nicht-aktuale Elemente. Aktuale Elemente, die auf ihre Historizität verweisen Fixierte, semifixierte, nichtfixierte Elemente
Syntagmatische Aspekte
Lokalisierung historischer Objekte und Inhalte besonders im Abschnitt Kurfürsten- bis Lützowstraße (siehe Kap. 4.3.3.2)
Relevanz
• Hohe symbolische Relevanz der historischen Inhalte • Historische Bedeutungen der Potsdamer Straße als exemplarisch für Geschichte Gesamtberlins • Ggf. Nutzung historischer Bedeutungen für Imagearbeit in der Potsdamer Straße (Potsdamer Straße als „Geschichtsmeile“)
Zusammenfassung
Insgesamt hohe Relevanz für die Mehrheit der Befragten
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Eine jetzt am Potsdamer Platz Beschäftigte beschreibt ihre Erinnerung an die Potsdamer Straße als „ein bisschen sentimental“, „weil ich da jahrelang morgens und abends die gesamte Länge bis zum Potsdamer Platz mit dem Fahrrad gefahren bin, als ich studiert habe“ (P4). Auch wenn sie sich heute noch manchmal in der südlichen Potsdamer Straße und Umgebung aufhalte, weil dort Freunde wohnten, sei der südliche Teil „ein Stück weit Vergangenheit“ (P4). In der Gegenwart angesiedelt ist ihr Bild vom Potsdamer Platz, dagegen scheint es von dem meist auch im Präteritum beschriebenen Bild der südlichen Potsdamer Straße nur noch wenige, undeutliche Verbindungslinien zur heutigen Zeit zu geben. „Eigentlich ist mein Bild ziemlich schwammig“ (P4). Die frühere täglich erlebte praktische Relevanz („viel Einkaufen auf dem Weg hin und zurück“, P4) und die durch Auseinandersetzung mit dem Straßenbild entstandene symbolische Relevanz ist überwiegend nur noch eine ehemalige. Grundsätzlich sind die aktuellen Vorstellungen immer auch in ihrer Entwicklung aus früheren Eindrücken und den daraus sedimentierten Erinnerungen zu begreifen. Die hier angeführten Beispiele geben nur ein fragmentarisches Bild dieser Relationen, eine detaillierte Analyse kann hier leider nicht vorgenommen werden. 4.3.1.5 Multikulti und Diskrepanzen: soziale und ethnisch-kulturelle Identitäten der Potsdamer Straße Dem Elementfeld Soziale und ethnisch-kulturelle Identitäten wurden über 140 Zitationen zugeordnet, es liegt dabei an 4./5. Stelle aller Inhaltsbereiche. Davon entfallen nur ca. 15 Zitationen auf die Beantwortung der expliziten Frage: „Wie würden Sie die Menschen beschreiben, die Sie in der Potsdamer Straße sehen?“, die anderen Nennungen erfolgten spontan. Die Kategorien ‚Kulturelle Kategorisierung‘64 und ‚Soziale Kategorisierung‘ wurden dabei beinahe gleich oft vergeben. Fast alle Interviewten stellen beide Zuschreibungen her, die Anzahl der mit diesen Kategorien codierten Zitationen liegt pro Interview zwischen 4 und 19. Nur bei zwei Experteninterviews liegen die Nennungen auf Grund des eingeschränkten Fokus teilweise darunter. Das Vorstellungsbild der Potsdamer Straße ist deutlich durch die migrantischen Anwohner und die von ihnen betriebenen Einzelhandelsgeschäfte und gastronomischen Betriebe geprägt. „Ich würde sagen, nicht Multikulti, sondern – interkulturell hört sich auch blöd an – verschiedene Kulturen, das wäre vielleicht am besten“ (P3), „ Auch wenn ich das Wort blöd finde, aber die Potsdamer Straße ist schon eine multikulturelle Straße“ (P4), „Multikulti“ (P11). Sie ist „ ziemlich interkulturell, und immer ein bisschen ein Problemkiez gewesen“ (P3). Neben Eigen64 Der Kategorie ‚Kulturelle Kategorisierung‘ wurden auch Aussagen zur ethnischen Zugehörigkeit zugeordnet.
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schaften wie „multikulti“ wird häufig auch der Begriff der „Mischung“ verwendet: „Und es ist wirklich eine ganz bunte Mischung aus alt/jung, Ausländer/Inländer, wie auch immer man das bezeichnen möchte, Punk, schwarz, weiß, gelb, grün, ne, so. Anzug, völlig leger“ (P12), ein „Völkergemisch“ (P14). „Die Menschen. Ja. Hier ist alles Mögliche vertreten. Es ist schön. Also, ich finde es schön, dass man hier alles findet. Ob es jetzt auch einem gefällt oder nicht gefällt. Aber die Leute hier finde ich auch schon ein bisschen gewöhnungsbedürftig“ (P17). Es wird jedoch auch angemerkt, dies sei „eigentlich keine interessante Durchmischung“, vielmehr ein „desinteressiertes Nebeneinander von verschiedenen Leuten, die hier arbeiten, die hier wohnen“ (P7). Die Attribute ‚multikulti‘ und ‚interkulturell‘ werden überwiegend dem Gesamtobjekt ‚Potsdamer Straße’ zugeschrieben, der Begriff der ‚Mischung‘ eher auf die die Straße nutzenden Menschen bezogen. ‚Ausländer‘/‚ausländisch‘ und ‚(Im)Migranten‘ beschreiben Menschen, in geringerem Maße auch Einzelobjekte der Straße. Zuschreibungen einzelner Nationalitäten wie ‚türkisch‘, ‚arabisch‘ etc. kategorisieren einzelne Abschnitte, Gewerbebetriebe sowie Nutzer und Anwohner der Straße. Dabei steht die Kategorisierung ‚türkisch’ bzw. ‚Türken‘ an der Spitze der Nennungen. „Dann kommt der Teil vom Pallasseum bis zur Bülowstraße, der ist so in türkischer Hand“(P1). „Dann gibt es natürlich eine Menge Türken. Es gibt eben auch eine Menge türkisch-arabische Geschäfte. Ja, Türken, Araber“ (P4). „Dieser Harb-Laden, dieser arabische.“ (P15, s.a. oben Kap. 4.3.1.2 Einzelhandelsbetriebe). Das zusammenfassende Attribut ‚orientalisch’ wird von einer Befragten bevorzugt genutzt: „… hier sind wir jetzt in diesem orientalischen Teil“ (P7) (zum Abschnitt Bülowstraße), „viel Orient“ (P7) (zur 5-Eigenschaften-Frage). Neben den Hinweisen auf die arabischstämmige Bevölkerung, die überwiegend in den Seitenstraßen der nördlichen Potsdamer Straße lebe: „Das sind […] arabische Dörfer“ (P18), werden die in den letzten Jahren vermehrt neueröffneten indischen Läden von mehreren Befragten erwähnt, teilweise sie begrüßend, teilweise mit der Befürchtung, hier entstünde eine neue Monokultur: „Aber natürlich ist das etwas einseitig. Die Straße bräuchte andere Impulse“ (P16). Während in Zusammenhang mit der Zuschreibung ‚Multikulti’ etc. entweder keine oder positive Wertungen vorgenommen werden, finden sich beim Sprechen über ‚Ausländer‘ und auch ‚Immigranten‘ teilweise negative Evaluationen. Diese betreffen zum einen die relative Stärke der jeweiligen Gruppe und angenommene mangelnde Integrationsbereitschaft, zum anderen bestimmte Verhaltensweisen: „Wir haben einfach zu viele Ausländer hier. […] Die kapseln sich ab und die sind zu viel und das wird immer mehr, und immer mehr normale Deutsche ziehen weg“ (P11, Gewerbetreibender). „Es ist mir schon aufgefallen, dass hier die Ausländer ein bisschen anders sind als im Wedding. Also auch die Türken. […] Lauter, ein bisschen aggressiver, glaube ich“ (P17). „Diese ganzen Cafés, da sitzen nur Männer drin. Also für Frauen ist hier nix“ (P17, türkischstämmige Angestellte eines
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Gewerbebetriebes). Während besonders die Gewerbetreibenden dem migrantischen Bevölkerungsanteil kritisch gegenüberstehen, sind bei den Anwohnern mehr positive oder neutrale Wertungen zu finden: „Viele Ausländer, die ich mittlerweile überwiegend als positiv wahrnehme, weil ich das schön finde, wie die sich hier auf der Straße aufhalten und mit ihren Kindern die Plätze nutzen (P15). „Und für mich war eben dieses Stück Pohlstraße früher auch so Bronx, No-go-Area, und ich habe erst, als ich mein Büro hier hatte, gesehen, wie schön das ist und wie angenehm und dass man da überhaupt nie angepöbelt wird und dass alle sehr liebevoll und sittsam zusammen leben“ (P15). „Diese ausländischen Geschäfte, die machen das ja nicht kaputt“ [im Gegensatz zu Billigläden] (P14). Auch eine ideale Großstadtstraße sollte „vielseitig, international“ sein (P18). Soziale Kategorisierungen beziehen sich auf Anwohner und Nutzer der Potsdamer Straße und metonymisch auf die gesamte Potsdamer Straße und ihr Umfeld. „Das ist ein richtiges typisches innerstädtisches Wohngebiet. Ein bisschen die Grenze, na, verkommen nicht, aber doch sehr einfach“ (P2). Sie war immer „ein bisschen ein Problemkiez“ (P3), „ein kleiner sozialer Brennpunkt“ (P8). Sie ist „ein bisschen prollig“ […] Und die Arbeitslosigkeit ist hier auch hoch“ (P3). Es gibt „sehr viele Sozialhilfeempfänger“ (P11), „Arm ist auch ein Adjektiv“ (P16). Allerdings handele es sich bei der Bevölkerung und den Nutzern der Potsdamer Straße nicht um eine homogene soziale Gruppe: „Ich glaube, was typisch für die Potsdamer Straße ist, ist die Diskrepanz. Dass es einerseits ja auch in den Medienunternehmen ganz hochrangige Unternehmen gibt, die natürlich auch vom Lebensstandard, Lebensbedingungen wo ganz anders sind, und dann eben auch ein Teil der Bevölkerung, die arm sind, die sozial schwach sind. Irgendwo prallen immer so Diskrepanzen aufeinander“ (P12). Die einem bürgerlichen Milieu zuzurechnenden Anwohner seien jedoch im Straßenbild weniger sichtbar: „Wenn ich an der Potsdamer Straße sitze […] und Leute gucke, dann kommen da zwar auch die ganzen Leute aus den Seitenstraßen vorbei, auch die Akademiker und Künstler, die ich kenne. Die gehen aber in dem Bürgersteiggewusel auf der Potsdamer Straße unter in der Wahrnehmung“ (P15). Auch die im Wohnheim lebenden Studenten „tauchen irgendwie im Freizeitleben nicht so auf“ (P15). Insgesamt wohnten hier „zu wenig Intellektuelle, hier wohnen zu wenig Kulturträger, zu wenig Leute, die hier Impulse für diesen Kiez liefern“ (P16). Tagsüber werde die Potsdamer Straße und Umgebung zwar von den Angestellten der Medienbetriebe und Geschäftsleuten genutzt: „Die sind sehr auffällig, diese Medienmenschen. Wenn man mittags über die Straße geht, dann sind die überall zu sehen … Weil das sind die großen, schlaksigen Jungs, das sind die etwas extravagant wohlgekleideten jungen Damen, also die fallen in jedem Fall auf“ (P16), am Wochenende und abends wandele sich jedoch das Bild (vgl. auch Kap. 4.3.1.6).
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Die soziale Zugehörigkeit der einzelnen Passanten und Anwohner eines bestimmten Gebietes lässt sich anhand bestimmter Objektaspekte als Zeichen wie den mitgeführten Einkaufstüten der Discounter („Mit großen Tüten wird eingekauft“, P3) oder den mit Sperrmüll zugestellten Balkonen des Pallasseums ablesen: „ […] das lässt auf ein bisschen desolate Verhältnisse schließen“ (P4). Signifikante Typen gastronomischer Einrichtungen wurden bereits im Kapitel 4.3.1.2 beschrieben, weiterhin nennen die Interviewten die Billigläden als Indiz für geringe Kaufkraft der Anwohner: „Aber wenn man sich die Bevölkerung anguckt, die benutzen ja die Billigläden. Insofern haben die auch eine Funktion, insofern spiegelt es natürlich so ein bisschen“ (P12). Die Anwohner prägen das Bild der Straße, nicht allein durch ihre persönliche Präsenz, sondern durch das sich auf Grund ihrer Präferenzen in der Straße ansiedelnde Gewerbe: „Man sieht der Straße an, dass das ein armer Stadtbezirk ist. […] Man kann es sehr gut an der Konzentration von Billigmärkten und Billiganbietern ablesen, man kann das überhaupt an der Gewerbestruktur hier ablesen […]“ (P16) (s.o. Kap. 4.3.1.2 zum Einzelhandel). „Und natürlich, wenn man es vergleicht mit Schönhauser Allee, dann sieht man natürlich auch, dass die Bevölkerung eine ganz andere ist. Oder auch die Zielgruppe, die ist auch eine ganz andere. Und das macht sie natürlich auch in Berlin interessant. Dass also die Bevölkerung, die da lebt oder die Leute, die da hingehen, dass die natürlich auch das Umfeld, oder das Erscheinungsbild, sehr prägen. Und das ist am Ku’damm einfach ganz anders als in der Schönhauser Allee. Oder Hauptstraße, Schöneberg. Da wohnen einfach andere Menschen, und deshalb hat es ein anderes Erscheinungsbild.“ (P12)
Bemängelt wird, dass sich die im Umfeld der Potsdamer Straße vorhandene bürgerliche Wohnbevölkerung (s.o.) nicht in bestimmten, vom Mittelstand üblicherweise frequentierten Gewerbetypen sichtbar präsentiert. Eine Äußerung, in der über den einzigen Bioladen im Umfeld der Potsdamer Straße gesprochen wird, zeigt, dass auch in einem Kontext „fehlende“ Objekte und Objekttypen Rückschlüsse auf soziale Herkunft und Lebensstile der Anwohner und deren Identifizierung mit ihrem Wohnumfeld zulassen. 65 „Dann sollen die sich doch mal zeigen, dann sollen die doch auch mal etwas favorisieren. Ich meine, dieser eine klägliche Bioladen hier in der Seitenstraße – die sind zwar nett und gut, aber deckt das den Bedarf denn ab? Wo sind denn die ganzen umweltbewussten Intellek65 Vgl. auch Kap. 4.3.1.2, Einzelhandel. Der Subtyp Bioladen kann als bürgerliches Gegenbild zum Subtyp Billigladen betrachtet werden: er indiziert eine höhere Bildung und höhere Kaufkraft der Anwohner. Die Abbildung 14 kann bei entsprechender Umkehrung der sozialen Konnotationen auch die Interpretationsprozesse für den Subtyp illustrieren.
308 | DIE STRASSE, DIE DINGE UND DIE Z EICHEN tuellen, Kulturschaffenden? Die brauchen doch auch einen Lebensbereich. Gehen die alle in die Bergmannstraße zum Einkaufen?“ (P7)
Betrachtet man die Zuordnung zu Personengruppen unabhängig von Zuschreibungen der Schichtzugehörigkeit, wird die Kategorie der Touristen am häufigsten genannt. Drei Viertel der Befragten thematisieren sie. Danach folgen mit deutlichem Abstand die Gruppe der Kinder (genannt von 7) und der Jugendlichen (6). Touristen sind für die meisten jedoch nicht Teil ihres gegenwärtigen Bildes der gesamten Potsdamer Straße: „Definitiv keine Touristen. Sieht man ganz selten (P3). Sie werden überwiegend den Abschnitten Potsdamer Platz und Kulturforum zugeordnet: „Also die meisten Menschen, die hier [in der Neuen Potsdamer Straße] rumlaufen, sind fremd“ (P4), „Der Potsdamer Platz ist für mich nur Touristengegend“ (P17). Durch den stadträumlichen Bruch fänden nur wenige Touristen ihren Weg in die südliche Potsdamer Straße: „Dann ist da diese riesengroße Kreuzung und dieser Kanal. […] Die gehen da ja nicht weiter“ (P2). Einige der Befragten nehmen die Touristen jedoch auch noch in Abschnitten nördlich der Kurfürstenstraße wahr: „Touristen auch ein paar, die Jugendgruppen, die immer zur Jugendherberge gehen“ (P15), „Fein gekleidete Leute, viele Touristen“, die besonders abends den Weg vom U-Bahnhof Kurfürstenstraße Richtung Philharmonie oder Potsdamer Platz nehmen, „die Straße ist immer spannend“ (P16). Besonders die Geschäftsleute wünschen sich zur Belebung der Potsdamer Straße mehr Touristen: „Hotels wären hier eine echt gute Sache. […] Für Touristen ist das natürlich ideal“ (P1). „Man kann hier ja auch ein bisschen mehr Touristen reinholen. Dann profitieren die ja auch alle davon. Das verstehe ich nicht, weil der Potsdamer Platz hier so nahe dran ist und der Kudamm ist hier so nahe“ (P17). Zur Zeit sei jedoch die südliche Potsdamer Straße für Touristen wenig attraktiv: „Man muss es sich so vorstellen, wie wenn man hier als Tourist ist. […] Was ist da? Da ist so wenig, gell? Da ist gar nix außer Verkehr.[…] Da gibt es halt zu wenig Sachen, wo man stoppt“ (P1). Durch Hotels und ein insgesamt attraktiveres Angebot könnten mehr Touristen in die Potsdamer Straße gezogen werden, und damit wiederum zu einem weiteren Indikator für eine höhere Anziehungskraft der Straße werden. Insgesamt gebe es viele Kinder im Kiez, die besonders in den Seitenstraßen im öffentlichen Raum nicht zu übersehen seien: „[…] weil ich das schön finde, wie die [die migrantischen Anwohner] hier sich auf der Straße aufhalten und mit ihren Kindern die Plätze nutzen“ (P15). Die Gruppe der Kinder wird weiterhin in Zusammenhang mit ihrer Sicherheit bzw. Gefährdung an der Potsdamer Straße und mit der schulischen Situation erwähnt. Über die Gruppe der Jugendlichen sprechen einerseits die beiden jüngsten Befragten umfassender, indem sie die Freizeitgewohnheiten der Jugendlichen an der Potsdamer Straße thematisieren. Andererseits wird diese Gruppe auch zu der von den Jugendbanden im Umfeld der Potsdamer Straße ausgehenden Gewalt in Beziehung gesetzt. Während Kinder durch die
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städtische Umwelt gefährdet sind und ihr Aktionsradius auf schützende Bereiche wie Höfe eingeschränkt ist, werden die Jugendlichen von ihresgleichen und von Älteren als gefährdende Gruppe erlebt (s.a. Kap. 4.3.1.9). Die sozialräumliche Gliederung im Verlauf der Potsdamer Straße und in ihrem Umfeld wird von der Mehrzahl der Befragten angesprochen (vgl. auch Kap. 4.3.3.2 und 4.3.3.4). Besonders deutlich thematisiert wird sie von zwei Interviewten mit migrantischem Hintergrund: „Ich weiß nicht, es ist so, als ob hier drum herum eine Mauer ist und die Leute hier nicht dahin gehen und die nicht hier rein kommen. […] Da [im Bereich Hauptstraße] sind eher so die Penner und Studenten oder richtige Szeneleute. Und hier sind nur Ausländer. Das finde ich auch schade. […] so getrennt voneinander“ (P17). Für einen Interviewten steht der Bereich Potsdamer Straße im städtischen Gesamtkontext explizit für einen der „schwierigen Bezirke, alles genau in die Mitte Berlins gestellt und drumherum … So im Kern, Kreuzberg und Schöneberg und Wedding, das sind die schlimmen Bezirke“ (P10). Die große Anzahl der Äußerungen, in denen soziale oder ethnisch-kulturelle Kategorisierungen vorkommen, zeigt die hohe Relevanz dieses Themas. Nicht nur ist gegenüber dem Eigenen das kulturell und sozial Fremde markiert (siehe die Äußerungen der nicht-migrantischen Befragten der Mittelschicht z.B. P7, P11, P15, P16), sondern generell werden ein niedriger sozialer Status (gegenüber einem mittleren) und die ethnische Nicht-Zugehörigkeit zur (deutschstämmigen) Mehrheitsgesellschaft umfassender thematisiert (siehe die Äußerungen der migrantischen Befragten P10, P17). Anzunehmen ist, dass in städtischen Gebieten, deren Bewohner der Mehrheitsgesellschaft zuzurechnen sind, kulturelle Zuordnungen in den Vorstellungsbildern einen geringeren Stellenwert haben bzw. Differenzierungen kleinteiliger, z.B. entlang bestimmter Lebensstile einer sozialen Schicht verlaufen. Auch die Beschreibung der einzelnen Abschnitte der Potsdamer Straße sprechen für diese Annahme (siehe Kap. 4.3.3.2): der nicht eindeutig „fremde“ Abschnitt Kurfürsten- bis Lützowstraße erhält relativ weniger soziale und kulturelle Zuschreibungen (unter 25% aller Zitationen zum Abschnitt, unterschieden wird hier z.B. zwischen „Medienmenschen“ und „Touristen“), der Abschnitt Goeben- bis Bülowstraße deutlich mehr (ca. 40% der Zitationen). Im Abschnitt Goeben- bis Bülowstraße wird auch ein Einzelobjekt, die Wohnanlage Pallasseum von mehreren Befragten in sozial-kulturellen Kategorien charakterisiert (s.a. oben Kap. 4.3.1.2 zum gebauten Raum). Betrachtet man nur die ethnisch-kulturellen Kategorisierungen, liegt das Verhältnis der Abschnitte Kurfürsten- bis Lützowstraße vs. Goeben- bis Bülowstraße sogar bei 10% zu 30%. Symbolische und praktische Relevanz können hier nicht deutlich unterschieden werden, so liegt z.B. bei der Kategorisierung des Warenangebots der Einzelhandelsgeschäfte auch praktische Relevanz vor. Stadträumliche Ortsindexikalität kann in dem Sinne angenommen werden, dass die migrantischen Geschäfte und Passanten, die besonders im Abschnitt Bülowstraße
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präsent sind, über diesen Abschnitt hinaus die gesamte Potsdamer Straße zur „Multikultistraße“ machen.
Soziale und kulturelle Identitäten der Potsdamer Straße in Stichworten
Elementfeld soziale und ethnisch-kulturelle Identitäten
> 140 Zitationen / alle Befragten Darunter: > 80 Zitationen zu sozialen Identitäten / 19 Befragte > 80 Zitationen zu ethnisch-kulturellen Identitäten /19 Befragte
Objekttoken
+
Pallasseum, Harb-Laden
+
von Migranten geführte Gastronomie und Geschäfte, Billigläden
+
Habitus von Angehörigen einzelner sozialer Gruppen, Objektaspekte von Gebäuden
• •
Kodes der sozialen und kulturellen Kategorisierung Evaluative Kodes
Sozial-kulturelle Zuschreibungen / Gruppen
++ + + +
multikulti / ausländisch arm soziale und kulturelle Heterogenität Touristen
Art der Elemente
Fixierte, semifixierte Elemente, nichtfixierte Elemente
Objekttypen Objektaspekte Zum Tragen kommende Kodes
• Syntagmatische Aspekte
•
• Relevanz • Zusammenfassung
Sozial-kulturelle Zuschreibungen besonders für Abschnitt Goeben- bis Bülowstraße Deutliche sozialräumliche Trennung Potsdamer Straße westlicher Nahraum (Winterfeldtplatzkiez) hohe symbolische Relevanz, geringere praktische Relevanz (von Migranten geführte Gastronomie und Geschäfte) stadträumliche Ortsindexikalität der migrantischen Betriebe
hohe Relevanz für alle Befragten
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4.3.1.6 Nicht Alltägliches und Wiederkehrendes: temporäre Objekte Mit insgesamt 36 Nennungen zeigen temporäre Objekttoken und -typen wie Straßenfeste, Märkte, Ausstellungen etc. eine erhöhte Relevanz in den Vorstellungen, nur 2 Befragte thematisieren sie nicht.66 Im Leitfragen wurde nicht explizit nach ihnen gefragt. Von den temporären Objekttoken wird das seit 200367 jährlich stattfindende, vom QM Tiergarten initiierte Kunstfest ‚Magistrale‘ am häufigsten erwähnt (10 Zitationen von 7 Befragten) und liegt damit knapp hinter den 10 meistgenannten Objekten der Potsdamer Straße insgesamt. Die Magistrale wird von den meisten, die sie erwähnen, positiv beurteilt, sie sei eine „gute, interessante Aktion“, „sehr kreativ“ (P7), „eine ganz tolle Sache im Grunde genommen“ (P11). Einige entdecken jedoch bereits Abnutzungserscheinungen: sie habe sich „schon ein bisschen verschlechtert“, „alles, was sich dann so jedes Jahr wiederholt, kriegt dann auch so eine Routine und dann wird es ein bisschen langweiliger“ (P9), sie sei „nicht mehr gut genug organisiert“ (P11). Auch weitere, regelmäßige oder einmalige Veranstaltungen in der Potsdamer Straße und Umgebung werden als wichtig für das Quartier betrachtet wie der ‚Kiezfrühling‘, die Stummfilmnächte in der Pohlstraße oder das Laternenfest in der Kulmer Straße: „das hat die Straße über Wochen in so ein schönes Licht getaucht, dass ich jetzt auch da durchgehe und das ist mir einfach im Kopf“ (P12). Diese Veranstaltungen wirken offensichtlich über ihre eigene Dauer hinaus und können das Bild eines Stadtraumes zumindest für eine gewisse Zeit verändern, außerdem fördern sie die sozialen Kontakte der Anwohner und Beteiligten: „jedes einzelne Fest, […] bewirkt total viel, weil sich eben Leute kennenlernen und vernetzen“ (P15). Andere Projekte und Veranstaltungen wie der mit 200.000 EUR dotierte Wettbewerb für ein Kunstprojekt für die gesamte Potsdamer Straße, dessen Verwirklichung jedoch am Votum der Stadtentwicklungssenatorin scheiterte, werden jedoch als „Lachnummer“ und „Schildbürgerstreich“ (P7 zum Kunstprojekt) bewertet, für manche weniger ambitionierte Aktionen wie die Prämierung des gelungensten Weihnachtsbaumschmucks in der Straße gelte: „kleinbürgerlicher geht’s doch nicht mehr“, „wie soll man damit eine Stimmung verbessern“ (P9). Große Ausstellungen in den Museen des Kulturforums wie die 66 Als temporäre Objekttoken bzw. –typen wurden solche Objekte bzw. Ereignisse definiert, deren Anfang (und ggf. auch Ende ) intentional geplant ist, häufig handelt es sich um periodisch wiederkehrende Ereignisse. 67 Ein Ziel der Magistrale ist es, das künstlerische Potential im Umkreis der Potsdamer Straße zu präsentieren und auch über die engere lokale Ebene hinaus bekannt zu machen (siehe z.B. http://www.potse-kunstspotting.de/magistrale.php [28.12.2011]). In diesem Sinne kann die Magistrale auch als ein Element der Imagearbeit für den Bereich Potsdamer Straße betrachtet werden (siehe Kap. 4.3.7.2).
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Präsentation der Sammlung des New Yorker Museum of Modern Art im Jahr 2004 strahlen während ihrer Dauer auch in die Straße aus und helfen den ortsansässigen Geschäftsleuten (P1). Das Bild der Potsdamer Straße verändert sich nicht nur während einzelner geplanter temporärer Veranstaltungen. 20 Zitationen beschäftigen sich mit den Schwankungen des Alltagsbildes im Tages- und Jahresverlauf, ein ganzer Tag wird von P16 beschrieben: „Abends dagegen, oder sagen wir nach 16 Uhr, da sieht die Straße ganz anders aus, da sind die teilweise verschleierten Frauen der Migranten am Einkaufen mit zahllosen Kindern. Und dann bekommt die Straße ein völlig anderes Bild. Überhaupt – das fällt mir an der Potsdamer Straße auf – dass sie, verglichen mit anderen Straßen, kein homogenes Bild bietet. Das schwankt über den ganzen Tag. Das ist eindeutig zu sehen, morgens, wenn die Schulkinder unterwegs sind, dann ist das eine Sache. Wenn vormittags die Frauen zum Einkaufen gehen, dann sieht es natürlich wieder ganz anders aus. Dann kommen mittags die ganzen Medienmenschen, die sich den Bauch vollschlagen wollen. Und am Nachmittag kehrt dann sozusagen die Migrantenstraße zurück. Am Abend dagegen ist es wieder so, dass wirklich viele Leute unterwegs sind. Die Potsdamer Straße ist Durchgangsstraße von der U-Bahn, der U 1, bis zum Potsdamer Platz. Das nutzen viele Leute, die ins Kino oder in die Konzerte gehen, und dann ist natürlich wieder ganz anderes Publikum. Fein gekleidete Leute, viele Touristen, die Straße ist immer spannend.“ (P16)
Im Jahresverlauf sei die Straße im Sommer „lebendiger“ (P12), allerdings die Straßenprostitution auch spürbarer (P1). 4.3.1.7 „Fast wie auf dem Dorf“: soziale Kontakte als Identifikationsfaktoren Der Kategorie ‚Soziale Kontakte‘ wurde insgesamt 45 Zitationen zugewiesen. Eine entsprechende Frage war im Leitfaden nicht enthalten. Auffällig, aber nicht überraschend ist, dass für die 10 Anwohner der Potsdamer Straße die sozialen Kontakte zu anderen Anwohnern, Gewerbetreibenden etc. eine sehr hohe Relevanz in ihren Vorstellungen aufweisen (37 Zitationen, nur eine bzw. drei weniger als die Zitationen zu sozialen und kulturellen Kategorisierungen). Dagegen nennen die nur beruflich mit der Potsdamer Straße verbundenen diesen Inhalt seltener. Die hohe Zahl der Zitationen zeigt, dass Bedeutungen städtischer Räume für ihre Bewohner nie allein von den dort vorhandenen Artefakten ausgehen, sondern immer auch durch dort wirksame oder mögliche Kontakte zu anderen Menschen. Das gute Zusammenleben mit den Nachbarn einschließlich gemeinsam organisierter Aktivitäten thematisiert die Bewohnerin des Pallasseums: „…durch unsere Feste und so kommen wir mit vielen Mietern zusammen und wir grüßen, wenn jemand etwas braucht, da helfen wir uns gegenseitig“ (P5). „Wir machen
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Kinderfeste, Grillfeste, und da kommen die Mieter alle zusammen. Dann kennt man noch mehrere, und gegenseitig kennen sie sich auch“ (P5). Für den Jugendlichen ist die Potsdamer Straße „keine normale Straße“, da dort im Unterschied zu anderen Vierteln verstärkt „Jugendaktivitäten durchgeführt“ werden, „zum Beispiel Fußballspielen oder für die Schule lernen“. Für die Jugendlichen gebe es mehrere Jugendzentren: „dort treffe ich mich meistens mit meinen Freunden“ (P10). Wichtig sind weniger einzelne spezifische, stabile Objekte der Straße, sondern der Ort, der Treffpunkt der Gruppe ist, wird relevant: „Jeder hat sein eigenes Gebiet, wo sie sich treffen. Je nachdem, was die planen, was die machen wollen. Meistens ist das bei uns auf dem Hof“ (P10). Für zwei im Mediennetzwerk Engagierte bilden die engen sozialen Kontakte ein entscheidendes positives Merkmal des Umfelds Potsdamer Straße (jeweils 7 bzw. 9 Zitationen): „… ich hab mich halt entschieden, im Mediennetzwerk mitzuarbeiten. […] Durch Leute, die ich da kennengelernt habe, ist mein Interesse an der Straße geweckt worden“ (P12). Besonders wohl fühle sie sich an den Orten, wo sie Leute kenne (P12). „Es ist für mich wirklich bereichernd, mich auf das, was hier passiert, mich wirklich eingelassen zu haben. Und da jetzt mitzumischen. Weil ich merke, es erhöht total die Qualität meines Lebensumfeldes, und das hängt natürlich ganz viel mit den einzelnen Leuten zusammen, die ich da kennengelernt habe. Und da ist es schon erstaunlich, wer hier alles in so einem kleinen Sozialbiotop mitmischt und tut und macht und versucht. Das ist schon Klasse“ (P12). Ähnlich äußert sich auch P15: „Und X, der […] total viele Leute kannte und auch Mitglied in der IG war, dann hat der mich mit so vielen Leuten bekannt gemacht. Und da kam dieses typische Kiezgefühl auf, also dass man so das Gefühl hatte, hier kennen sich ganz viele Leute, fast wie auf dem Dorf. […] Und dann vor vier Jahren habe ich Y kennengelernt.[...] Ich meine, er kennt die Straße seit 20 Jahren und kennt so ungefähr die ganzen Leute hier, die ich sonst nicht unbedingt kennengelernt hätte. Und dann war das sozusagen Kiez total, dann war ich auch im Quartiersrat. Das sind also schon die sozialen Bezüge, die das Wohnen auch schön machen.“ (P15)
Für sie ist „familiär“ ein Hauptmerkmal der Potsdamer Straße (P15): „Diese sozialen Bindungen“, die in den unterschiedlichen Initiativen entstehen, „schaffen wirklich ein Netz, was hier auch eine angenehme Atmosphäre macht“ (P15). Auch für P16 ist der Bereich um die nördliche Potsdamer Straße ein „sehr intimer kleiner Stadtteil“, in dem sich „starke Nachbarschaftsnetzwerke und -verbindungen entwickelt haben“. Werden dagegen die Potsdamer Straße oder einzelne ihrer Abschnitte als anonyme Bereiche erlebt, in denen soziale Kommunikation erschwert ist, wirkt sich dies deutlich negativ auf das Gesamtbild bzw. das Bild des Abschnittes aus: „Man merkt, das sind eher Fremde […] Man hat nicht so einen Bezug. Also mir fehlt die
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Verbindung zu den Menschen, die auf der Straße herumlaufen“ (P4 zum Abschnitt Neue Potsdamer Straße). „Es ist so ein desinteressiertes Nebeneinander“ (P7, Geschäftsfrau). Einzelne Objekte wirkten nicht nur anonym, sondern man fühle sich dort als nicht zugehörig: „Und dann gibt es diese eine Kneipe da [gemeint ist das ‚Bratwurstwunder‘ auf dem Abschnitt Kurfürstenstraße] [… ]. Das ist auch so ein merkwürdiger Laden. Da bin ich auch schon ein paar Mal drin gewesen. Mich interessiert es ja auch. Ich will ja auch ein bisschen so wissen, wo ich also da schon manchmal denke, also es ist schon besser, man kommt mit den Leuten vielleicht nicht ins Gespräch. Da guckt man ein bisschen zu und haut dann wieder ab. Da ist man halt ein Fremder, ne?“ (P9: 75)
Eine Befragte kontrastiert die Abschnitte Bülow- bis Kurfürstenstraße und Kurfürsten- bis Lützowstraße: „Also das Stück zwischen Kurfürstenstraße und Bülowstraße. Das ist schon nicht mehr so belebt. [...] Warum ist das eigentlich so? Na gut, da sind die Banken, da sind weniger Kneipen und Restaurants. Die Post, Bolle. Ich glaube, Bolle ist inzwischen auch so ein Punkt geworden, ich habe jetzt auch von vielen gehört, wie gerne sie da einkaufen gehen, ich glaube, der hat das in den letzten Jahren geschafft ... Ich meine, inwieweit man nun einen Laden zum Identifikationspunkt werden lassen kann, das ist fraglich. Aber ich glaube, Bolle, das ist so was Persönliches in dem Ganzen. Bei Rossmann, Blume 2000 weiß ich nicht. Das sind alles recht unpersönliche ... Oder sie geben sich unpersönlich. Es ist natürlich, dass auf dem anderen Stück, wenn ich so drüber nachdenke, da ist Puschels Pub, der ist natürlich ganz engagiert, dann Kopfsache, der Friseur, ist sehr engagiert seit ein paar Jahren. Ja, bei Bolle ... also es kommt immer drauf an, was die Ladenbesitzer oder Kneipenbesitzer, wie sehr die bereit sind, für die Straße, auf der Straße zu wirken. Ich glaube, Zeeman, da habe ich es jetzt so beobachtet, dieser Textilladen, die [Mitarbeiterin] hat auch durchaus Kontakt zu Leuten und redet mit denen und so weiter. Und das ist vielleicht entscheidend.“ (P12)
Soziale Kontakte zu den mit einzelnen Objekten verbundenen Menschen heben die Objekte aus ihrem Status als anonyme Träger einer Funktion heraus und geben ihnen höhere symbolische Relevanz.68 Nähere persönliche Kontakte zu den Nachbarn im Viertel können auch ortsindexikalisch wirken: sind mir einige Anwohner sympathisch, so übertrage ich diese Eigenschaft metonymisch auf die Bewohner
68 Vgl. auch Hahn, der darauf hinweist, dass Objektbedeutungen eng verknüpft sind mit Beziehungen zu anderen Menschen und dass Objekte oft auf vertraute Menschen verweisen (Hahn 2005: 33).
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des Viertels: die Nachbarn A, B, C … sind nett ĺ im Viertel (der Straße etc.) wohnen nette Leute ĺ das Viertel ist angenehm, hat Lebensqualität usw. 4.3.1.8 Die Rolle der Objektaspekte Als Objektaspekte werden die Eigenschaften von Objekttoken und deren Subelementen definiert, die nicht dem Objekttyp inhärent sind, d.h. keine Merkmale des Typs bilden, und die nicht rein subjektiven evaluativen Charakter haben (wie z.B. ‚schön‘ und ‚hässlich‘, ‚angenehm‘ und ‚unangenehm‘ etc.). Unter die Kategorie Objektaspekte werden neben Fassadeneigenschaften (‚saniert‘, ‚heruntergekommen‘ etc.) der Pflegezustand der Straße (‚sauber‘, ‚schmutzig‘), die Gestaltung der Schilder, Schaufenster, Ladenräume und des Außenraums der Gewerbebetriebe, sowie das Warenangebot der Geschäfte gefasst. Insgesamt werden in über 150 Zitationen Objektaspekte benannt, ohne die Äußerungen zu den Fotofragen sind es noch über 110. Nur P10 nennt keine Objektaspekte außerhalb der Fotofrage. In diesem Unterkapitel werden die in den Interviews genannten Aspekte einzelner Objekte betrachtet sowie die Aspekte, die mehrere Objekte gleichen Typs in einem Abschnitt auszeichnen, wie z.B. bestimmte Fassadeneigenschaften von Gebäuden, die aber nicht als atmosphärische Eigenschaften im Sinne einer Wirkung von Objektkomplexen verstanden werden können. Globale atmosphärische Eigenschaften der Gesamtstraße bzw. einzelner Abschnitte, die als Objektaspekte der Gesamtstraße verstanden werden könnten, werden in Kapitel 4.3.2 bzw. in Kapitel 4.3.3.2 thematisiert. Aspekte der Ausdruckssubstanz von Einzelobjekten werden nur von einigen Befragten eigenständig, d.h. ohne Bezug auf die Beschreibungs- oder Fotofrage thematisiert. Wenn dies geschieht, wird der Erhaltungszustand eines Gebäudes beschrieben (z.B. des ehemaligen Wegert-Hauses, der Potsdamer Straße 98 oder Bahnhofs Bülowstraße, siehe Kap. 4.3.1.2, Die gebaute Umwelt) oder die Außenwirkung des Pallasseums: „Und die naja ... diese Sozialwohnungsbauten. Ich kenne die nicht von innen, ich weiß nicht, wie es sich anfühlt, dadrinnen zu leben. […] Ja, es sieht schon ein bisschen erschreckend aus, und sehr anonym. […] Also man sieht immer diese Balkone. Man sieht immer, was auf diesen Balkonen drauf steht: Bei vielen steht Sperrmüll drauf, also das lässt auf ein bisschen desolate Verhältnisse schließen. Es könnte halt auch anders aussehen. Diese [Satelliten-] Schüsseln ...“ (P4)
Hier verweist der Zustand der Balkone für die Interpretin auf die prekären sozialen Verhältnisse der Bewohner. Angesprochene Eigenschaften von Einzelhandelsgeschäften oder der Gastronomie betreffen weniger die äußere Form der Betriebe als vielmehr das Warenangebot oder die Kompetenzen und das Engagement der Betreiber: „Und dann habe
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ich hier noch den Blumenladen, der ist auch ganz gut, der ist hier. Da gibt es wunderschöne kleine Sträuße zu vier Euro. Die machen die fertig, kleine Biedermeier-Sträußchen, so richtig schön als Mitbringsel, oder als kleines Geschenk, was nicht so riesig groß ist“ (P14) (s.a. Kap. 4.3.1.2 Einzelhandel). Insgesamt erscheinen Objektaspekte in den Vorstellungsbildern eher in globaler Weise (s. Kap. 4.3.1.2 Die gebaute Umwelt), d.h. Objekte werden zu Gruppen oder nach Straßenabschnitten zusammengefasst: Alt-, Neubauten, heruntergekommene Fassaden, schön saniert etc. Der Fassadenzustand wird besonders für den Abschnitt Landwehrkanal umfassender thematisiert (s. Kap. 4.3.3.2). Auch Graffiti wurden nur auf Nachfrage bzw. nach Vorlage eines Fotos (IF 3, nicht abgebildet) und nur von den beiden Jugendlichen thematisiert: „Hier bei uns wird gar nicht mehr viel gesprüht. Im Gegensatz zu früher, da war es viel mehr. Jetzt kommen noch welche aus anderen Bezirken und sprühen hier, weil die merken, dass nicht mehr so viel gesprüht wird, da gibt es schöne freie Stellen noch, die sie sprühen können. In Schöneberg ist es sozusagen positiv geworden mit Graffiti.“ (P10)
Was für andere nur (indexikalische) Schmiererei darstellt, sind für die Jugendlichen lesbare symbolische Zeichen (im Sinne von Peirce), allerdings mit hohem indexikalischen Anteil.69 Überwiegend löst erst die Vorlage von Fotografien detaillierte Aussagen über einzelne Gebäude aus, die jedoch häufig wieder in den Gesamtkontext der Potsdamer Straße gestellt werden. Den meisten Befragten wurden zwei Fotos vorgelegt. Eines (IF 1, Abbildung 18) zeigte das Haus Potsdamer Straße 16470, einen zum Zeitpunkt der Aufnahme 2006 noch unsanierten Altbau im Abschnitt Bülowstraße. Das abgebildete Gebäude war einigen, jedoch nicht allen Befragten bekannt. Das 69 Prieto unterscheidet zwischen zwei Formen der Interpretation von Signalen: Erkenne ich das Signal allein als Anzeichen dafür, dass etwas kommuniziert werden soll, während mir der Kode, mit dem ich das Signal entschlüsseln könnte, nicht bekannt ist, handelt es sich für mich nur um eine notifikative Indikation (Prieto 1966/1972: 33f). Verfüge ich jedoch über den Kode, tritt die signifikative Indikation (ebd.: 36) hinzu, ich verstehe die Botschaft des Signals. Für die Jugendlichen liefern die Graffiti-Tags also signifikative Indikationen (vorwiegend über die Identität des Autors des Tags), für die Mehrzahl der Straßennutzer sind sie jedoch nur notifikativ. 70 Aus der Denkmalliste Tempelhof-Schöneberg, Stand 24.09.2008: Potsdamer Straße 164, Mietwohnhaus mit Läden, 1865-66 von H. Heydrich und Fr. Schoenfelder; 1928 Aufstockung, Ladenportale und Fassadenüberformung von Erich Teschemacher. URL: http:// www.stadtentwicklung.berlin.de/denkmal/denkmalliste/downloads/denkmalliste_09_08. pdf [29.03.2009].
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andere Foto zeigte einen größeren Teil des belebten Abschnitts zwischen Kurfürsten- und Pohlstraße mit einer Vielzahl kleiner Gastronomiebetriebe (IF 2). Diesen Teil der Potsdamer Straße kannten fast alle Befragten aus eigener Anschauung und nutzten teilweise auch Läden und Gastronomiebetriebe. Abbildung 18: IF 1 – Haus Potsdamer Straße 164
Foto: E. Reblin
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Für das Foto IF 1 werden überwiegend das Alter und Erhaltungszustand der Gebäude, die Spuren der alten Schrift sowie die teilweise leerstehenden Läden angesprochen. „Ja, das sieht irgendwie schlimm aus. Also es sind viele verschiedene ... ich glaube, drei verschiedene Jahrhunderte, weiß ich jetzt gar nicht genau.[...] keine Ahnung... 60er, 70er Jahre so etwas, und das noch älter wahrscheinlich. Das ist wahrscheinlich das Neueste. Obwohl das jetzt nicht untypisch ist. Also das Haus ist nicht untypisch. Es ist ein Mischmasch aus allem möglichen, und jeder hat seine Sachen da gelassen. Sieht schon irgendwie schlimm aus. […] Hm, eins, zwei, drei, vier, fünf, o das ist Wahnsinn!“ (P3)
Das Haus zeigt für die Befragte Spuren des 19.bis 21. Jahrhunderts: architektonisch ist es seiner Entstehungszeit, dem 19. Jahrhundert zuzuordnen, die Gestaltung der Schriftreste verweist auf das dort in den 60er Jahren des 20. Jahrhunderts vorhandene Radio-Fachgeschäft und die Beschilderung der Läden im Erdgeschoss zeigt an, dass sie in den letzten Jahren entstanden sein müssen. Die älteste Befragte erkennt in dem Haus noch das Überbleibsel aus der „Altschöneberger Zeit“: „Das muss noch eines der Bauern- und Gutshäuser gewesen sein. [… ]Das kann aufgestockt worden sein. […] Ende 18., Anfang 19. Jahrhundert kann das gewesen sein. Also so zur ausgehenden Rokoko-Zeit würde ich sagen. […] In die Zeit des Klassizismus rein, schätze ich mal“ (P14). Für eine Mehrzahl der Interviewpartner steht das Gebäude im negativen wie im positiven Sinne für die Entwicklung der Potsdamer Straße im Allgemeinen. Die Geschäftsleute heben besonders die Gewerbezeichen hervor: Die Schrift erweckt Reminiszenzen an die früheren Fachgeschäfte: „Das erinnert noch an diese alten, großen Radiogeschäfte, die unten mit rundlichen Scheiben oft und wo die alten Radios drin waren. Also das erinnert schon an diese Form noch von Fachgeschäft, was es nicht mehr gibt“ (P1). „Radio Brée, die hatten versucht, das sehen Sie ja heute noch an dieser beispielgebenden Reklame, das war ja damals ganz was besonderes, so eine Reklame draußen zu haben. Und da macht man sich nicht mal die Mühe, das abzumachen und dann kommen solche Billigkackläden rein. Entschuldigung“ (P11). „Typisch Potsdamer Straße, Laden zu, verklebt. Auch unterschiedliche Farben, unterschiedliche Logos, also völlig uneinheitlich, kein Straßenkonzept, an dem sich irgendjemand orientiert, weil jeder sein eigenes Ding macht“ (P7). Für eine weitere Probandin dagegen „stimmt dieses Foto so nicht mehr“ (P12). Nicht nur das abgebildete Haus sei inzwischen saniert, auch der sich in Form von zugeklebten Schaufenstern zeigende Leerstand an der Potsdamer Straße hätte abgenommen. Bei der Graphikerin lösen die Schriftspuren nostalgische Gefühle aus, sie hätten etwas „Historisches und Markantes“, das sei „Tradition“:
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„Erst mal freue ich mich, weil ich das Haus mit diesem alten Schriftzug mag, mit dem Radio Brée, erinnert gleich an Optiker Wunder, ich weiß nicht, ob er sein Wunder noch draußen hängen hat. Ich sag mal, im ersten Moment schon warme Gefühle, die sich vor allem an diesem Schriftzug festmachen. Und dann denke ich, na ja, das ist halt dieser etwas blödere Abschnitt der Potsdamer Straße, der irgendwie der Billigteil der Straße ist.“ (P15)
Für andere handelt es sich schlicht um ein altes Haus in einem schlechten Erhaltungszustand: „Dieses Haus nebenan ist alt, das ist auch alt. Alle abreißen und schöne Siedlungsecke mit großen Arkaden bauen“ (P5). Das architektonisch interessante und sanierte Nachbarhaus71 wird dagegen positiv beurteilt: „Das ist noch schöner. Das ist ein altes Haus [zeigt auf rechtes Haus auf dem Foto], aber ist gemacht, sieht schön aus. Ich habe nichts gegen schöne alte Häuser. Aber so, wie sieht das denn aus. Das und nebenan das Haus, dieses hier zum Beispiel, nebenan. Ist ganz alt. … So schöne alte Häuser sollen auch bleiben, aber wenn es vergammelt ist und wirklich nicht schön aussieht“ (P5). „Da sehen wir rechts ein schön renoviertes Haus. Sieht eher nach den 80er Jahren [1800 gemeint? E.R.] aus. Kaum renoviert, sieht sehr alt aus, schrecklich [das Haus Potsdamer Straße 164]“ (P10). Auch das in Foto IF2 (Abbildung 19) abgebildete Motiv wird als exemplarisch für die Potsdamer Straße angesehen, es werden ästhetische Wertungen mit sozialen verknüpft: „Das ist auch ähnlich wie die Potsdamer Straße, also dieses Unterschiedliche, Tele-Internet, Migranten, Kasles oder ähnlich, der Grill, türkisch, dieses Eis, ja ok. Burger King, zerrupft, zerstückelt und klein und unbedeutend. Wenig spektakulär auch. Also so ein Agglomerat von kleinen, ärmlichen Etablissements.“ (P7)
Die Vielfalt der Werbeschilder und Ladengestaltungen wirke „uneinheitlich“ und „chaotisch“. Die grauen Fassaden seien allerdings erst in der Naheinstellung der Fotografie wahrnehmbar: „Die sieht man ja nicht, wenn man durchfährt. […] Also, ne, kein Stuck, aber alte Häuser, und das Einzige, was wirklich auffällt, das stimmt, das sind immer diese Läden“ (P4). Jedoch mache die Konzentration der vielen kleinen Läden in diesem Abschnitt „das Eck auch ganz ordentlich“ (P1), die Straße ist in diesem Teil lebendig und es gibt keinen Leerstand. Für einige der Befragten stehen die Geschäfte für persönliche Kontakte und Erlebnisse:
71 Denkmalliste Tempelhof-Schöneberg, Stand 24.09.2008, a.a.O: Potsdamer Straße 162, Geschäftshaus, 1887-88 von Hans Grisebach erbaut.
320 | DIE STRASSE, DIE DINGE UND DIE Z EICHEN „Aber da stehen für mich die ganzen Personen im Vordergrund. Zu jedem einzelnen Laden sehe ich ein Gesicht, zu jedem Haus kann ich dir zehn Geschichten erzählen. [...] Also positiv, auf jeden Fall. Positiv, und trotzdem könnte es ja noch schöner sein. Aber dann ist das wirklich mit den Menschen und mit der Vertrautheit mit den Jahren, ist mir das lieb geworden.“ (P15)
Die unspektakulären Fassaden verschwinden für die meisten Befragten hinter den semifixierten bunten Objektaspekten der Werbung und der Ladenfronten. Die Imbissläden und Kneipen werden nur von einigen Interpreten auch praktisch genutzt: „Dieser Kardesler, der besteht ja auch schon lange. Der hat auch ganz gute Sachen. Vor allem schmeckt der Döner, der ist da immer ganz ordentlich“ (P14). In die Aussagen über die praktische Relevanz des Objekts schieben sich wieder wertende Aussagen zu einzelnen Aspekten, hier zu der Qualität des Angebots, es tritt als Konnotation eine symbolische Relevanz hinzu. Mehrheitlich steht diese Häuserfront metonymisch für die etwas grelle und chaotische Lebendigkeit der Potsdamer Straße. Die Wahrnehmung und Interpretation von Objektaspekten ist analog und damit auch aisthetisch ausgerichtet (s.o. Kap. 2.2.3.5 und 2.2.5). Die Nennung von Objektaspekten zeigt, dass das Objekt nicht nur als Exemplar eines Typs betrachtet, sondern auch seine Substanz, d.h. seine sinnlichen, akzidentellen Eigenschaften, als relevant bestimmt wird. Damit kommt den genannten Objektaspekten eine erhöhte sensorische Relevanz zu, die oft mit einer ästhetischen Bewertung verknüpft ist. Objektaspekte erhalten symbolische Relevanz, wenn sie für ihre Interpreten auf das Alter eines Hauses oder auf frühere Nutzungen verweisen, auf Vernachlässigung eines Gebäudes oder metonymisch eines ganzen Straßenabschnitts und damit auf das fehlende Engagement von Hauseigentümern und Anwohnern. Objektaspekte verweisen nie ausschließlich auf eine praktische Relevanz. Wird eine praktische Nutzung genannt, wird diese durch Einbeziehung des besonderen Objektaspektes qualifiziert (siehe Beispiel Blumenladen) und dadurch auch symbolisch relevant. Angenommen werden kann, dass die „künstliche“ Fokussierung auf ein Objekt bei der Betrachtung der Fotografien zu einer gewissen Desautomatisierung der Wahrnehmung führt (vgl. Kap. 2.2.3.5), wodurch die im Alltag eher unterschwellig aufgenommenen und verarbeiteten Phänomene nun zu Gegenständen bewusster Reflexion werden.
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Foto: E. Reblin
Abbildung 19: IF 2 – Abschnitt Kurfürstenstraße bis Pohlstraße, westliche Seite
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Objektaspekte in Stichworten Elementfeld Objektaspekte
Erhaltungszustand der Gebäude / Fassaden, Fassadengestaltung, Gebäudealter, Gestaltung von Schildern und Schriften, Leerstand, Gestaltung von Balkonen, Graffiti; Zustand der Bürgersteige
Zum Tragen kommende Kodes
• • • •
Art der Elemente
Fixierte Elemente (Objekte selbst als Träger der Aspekte), semifixierte Elemente (Objektaspekte) •
Evaluative Kodes Ästhetische Kodes Kodes der historischen Kategorisierung Kodes der sozialen und kulturellen Kategorisierung
Charakterisierung einzelner Abschnitte über Objektaspekte (s. Kap. 4.3.3.2) Uneinheitliche, „chaotische“ Gestaltung der Erdgeschosszonen (Läden, Schilder)
Syntagmatische Aspekte
•
Relevanz
• •
Zusammenfassung
Hohe Relevanz
Sensorische Relevanz Symbolische Relevanz: Verweis auf Gebäudealter, frühere Nutzungen, Pflege oder Vernachlässigung
4.3.1.9 Gefahren der Straße: Kriminalität, Gewalt und Halbwelt Neben der Prostitution werden auch weitere auf Normverletzungen und abweichendes soziales Verhalten (Devianz) bezogene Inhalte genannt. Das Thema Drogenhandel wird von beinahe der Hälfte der Befragten thematisiert, jedoch ausschließlich dem vergangenen Bild der Potsdamer Straße zugeordnet (s.a. Kap. 4.3.1.4): „Es war nachts von der Pohlstraße zur Kurfürstenstraße kein Durchkommen auf dem Bürgersteig. Es war alles voller Menschen. […] Hunderte von Menschen, die alle mit Drogen zu tun gehabt haben. Sie sind da nicht mehr durchgekommen. Also, entsetzlich. […] Anfang der 90er muss das gewesen sein. 199293-95 so“ (P11), „Anfang der 80er Jahre, da gab es ja noch sehr viele Fixer auch vor meinem Haus“ (P9).
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Nur ca. ein Viertel der Befragten spricht über sichtbare Kriminalität oder Gewalt in der Potsdamer Straße der Gegenwart. Vieles hätte sich im Verhältnis zu früheren Jahren verbessert: „Früher war es viel gefährlicher. [...] Potsdamer Straße allgemein, Höfe, da konnte man nicht rausgehen. Damals war viel Mafia hier. Wir haben auch tote Menschen gefunden“ (P5), „Es ist überhaupt nicht kriminell oder aggressiv oder irgendwas. Es [das Pallasseum] erscheint vielleicht vom Bau her so ein bisschen. Aber das ist es jetzt absolut nicht mehr“ (P1). In Bezug auf die heutige Potsdamer Straße sind Kriminalität und Gewalt nur für den Jugendlichen und den Polizeibeamten eindeutig relevante Themen: „Ja, also ich wohne in Schöneberg, im Kiez. Pallasstraße, es ist hier sehr unterschiedlich, mal gibt es viel Gewalt, mal ist es in Ordnung“ (P10), „Zu viel Gewalt, Diebstahl gibt es hier“ (P10). Für den Polizeibeamten steht die Prävention von Kriminalität und Gewalt im Vordergrund, nachdem der Drogenhandel einschließlich der Folgekriminalität aus dem Bereich Potsdamer Straße überwiegend verdrängt wurde: „Nun gut, wir haben da natürlich eine ganze Menge beseitigt. […] Wir müssen aufpassen, dass uns die Verhältnisse nicht zurückschwappen. Wir sind nicht in der Position, wo wir sagen können: Hier ist alles in Ordnung. Wir wissen, wie es war, und wir wissen natürlich auch: Je stärker die Anstrengungen an anderer Stelle sind, zum Beispiel die Drogenszene zu verdrängen, wenn wir da nicht aufpassen, haben wir sie wieder. Also, ich bin nicht der Meinung, wir haben geschafft, die zu beseitigen. Wir haben sie verdrängt, erfolgreich, mit einer Vielzahl von Maßnahmen.“ (P20) „Weil hier wächst eben halt eine Generation auf, wo man gucken muss: Wie kriegen wir die auf den richtigen Weg, damit sie nicht ihren großen Brüdern in die Fußstapfen folgen, weil es keine anderen Perspektiven gibt. Das wäre dieser Bereich.“ (P20)
Zwei weitere Befragte sprechen kurz über aktuelle Jugendgewalt und -kriminalität: „Wir haben neue Gläser bekommen, neue Türen bekommen, und vieles wird renoviert und gut gemacht. Aber leider machen Kinder und Jugendliche nachts vieles kaputt. Unsere Arbeit ist dann umsonst, aber wir kämpfen mit denen, wir müssen kämpfen“ (P5), „Obwohl da Alvensleben[straße], ist auch eine ganz finstere Ecke, [...] aber wenn man da eben nicht ständig verkehrt, dann kommt einem das vielleicht abschreckender vor. [...] Dass da glaube ich viel Kriminalität ist, und auch Jugendbanden und so. Ich habe da mal gesehen, wie da schon ein älterer, 18Jähriger, neun-, zehnjährige Jungs total zusammengeschissen hat und die bezichtigt hat, die würden die Polizei ins Gebiet ziehen. [...] Das ist so Alvensleben-, Steinmetz[straße], das ist dann noch mal eine spezielle Ecke“ (P15). Kriminalität und Gewalt werden überwiegend in den Abschnitten Goeben- bis Kurfürstenstraße und in einigen östlichen Seitenstraßen, besonders der Steinmetz-
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straße lokalisiert. Dies wird auch von dem Polizeibeamten bestätigt:72 „Also, wir haben hier natürlich die Steinmetzstraße. Das ist ja die Haupt ... also da insbesondere da in diesem Bereich. Von hier praktisch bis hier. Das ist ein Problembereich, um den sich ganz viele Leute kümmern“ (P20). Dieser Abschnitt wird allgemein auch als arm erlebt (s. Kap. 4.3.3.2 zum Abschnitt Goeben- bis Bülowstraße). Einige betrachten bestimmte Formen der Architektur der 70er und 80er Jahre als kriminalitäts- und gewaltfördernd (s. Kap. 4.3.1.2 / Die gebaute Umwelt). In einer Grauzone zwischen Legalität und Kriminalität sind Spielcasinos anzusiedeln, welche neben anderen Gewerbeformen der Halbwelt wie Sexkinos besonders früher in einigen Abschnitten das Bild der Potsdamer Straße prägten: „Das war nicht der Ku’damm oder so eine Einkaufsstraße, sondern dieses Verruchte, oder Spielcasinos, wo sie Touristen abgezogen haben“ (P8). Heute sind an ihre Stelle teilweise Wettbüros getreten: „Ich verstehe nicht, warum man hier [...] solche Wettbüros [braucht]. Das bringt einem nichts“ (P17). Wettbüros seien auch typisch für die Straße (P3). Wird über Gefahren in der Potsdamer Straße gesprochen, betrifft beinahe die Hälfte der Aussagen aktuelle Gefährdungen durch den Straßenverkehr. Sonst sei die Potsdamer Straße heute sicherer als früher (s.o. Kriminalität), allerdings erzeugte die zeitweise aggressive Prostitution an der Ecke Kurfürstenstraße bei einigen Frauen Gefühle der Unsicherheit (P6, siehe Kap. 4.3.1.3). Zwei Befragte, die allerdings beide nicht mehr Anwohner der Straße sind, nennen „gefährlich“ als eine der 5 charakteristischen Eigenschaften der Potsdamer Straße (P9, P17). Der Polizeibeamte spricht das subjektive Sicherheitsempfinden der Menschen an: „Also es gibt so ein paar Sachen, aber das sind nicht unbedingt gefährliche Orte, sondern es sind Räume, wo man eigentlich nicht gern langgehen möchte. Angsträume halt“, als Beispiele nennt er die Baulücke Ecke Alvenslebenstraße und die Ecke Goebenstraße: „Auch der Gemüsehändler an der Ecke Goebenstraße, der am Tag sehr bunt ist und angenehm, der sieht abends grässlich aus mit diesen hochgeklappten Tischen. Das ist so für mich so eine Ecke, die durchaus als Angstraum bezeichnet werden könnte, ohne dass ich jetzt sage: konkret die Menschen ...“ (P20). Insgesamt wird das Elementfeld Kriminalität, Gewalt und Halbwelt in ca. 60 Zitationen von 16 Befragten genannt.
72 Dessen Zuständigkeitsbereich reicht allerdings nur bis zur Kurfürstenstraße als nördliche Grenze.
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4.3.1.10 ‚Blinde Flecken‘ ‚Blinde Flecken‘, d.h. in den Vorstellungen nicht oder nur in sehr geringer Zahl genannte Elemente, können einerseits durch Abgleich mit den in Kapitel 3.4 postulierten Ausdrucks- und Inhaltstypen ermittelt werden. Deutlich ist die Abwesenheit bzw. seltene Nennung von Kommunikationsobjekten wie Verkehrszeichen, Straßen- und Ladenschildern und Werbetafeln, trotz deren hoher visueller Präsenz in Straßenräumen wie der Potsdamer Straße. Wenn diese thematisiert werden, so geschieht dies kaum in ihrer Eigenschaft als Signal, das beispielsweise orientierende, regulierende oder werbende Inhalte transportiert. Solche Objekte mit einfacher Ortsindexikalität (s. Kap. 3.4.4) sind nicht charakteristisch für einen spezifischen Stadtraum, sondern in allen Großstadtstraßen zu finden. Relevant (und gleichzeitig stadträumlich ortsindexikalisch) werden sie daher in den Vorstellungen nicht als Typ, sondern über ihre Ausdruckssubstanz, also über Objektaspekte wie grelle Farbigkeit (s.o. zur Interpretation von Billigläden etc.) oder Spuren mangelnder Wartung: „dann ist es eine gewisse Verlottertheit, die man sieht. Die ist deutlich sichtbar: schief gestellte Straßenschilder“ (P16). Der als Fläche für Plakatwerbung genutzte Bauzaun um das leere Eckgrundstück Potsdamer Straße/Alvenslebenstraße wird nicht in seiner Eigenschaft als Werbefläche thematisiert, sondern in seiner Funktion als Sicherungszaun für das Grundstück (P20). Auch natürliche Phänomene, wie Laubfärbung, Wetter etc. werden ausgeblendet: hier handelt es sich um ständig wechselnde und zyklisch wiederkehrende generelle Umwelterscheinungen, die zudem in dem hochgradig artifiziellen Raum Großstadtstraße nur wenig das Alltagsleben beeinflussen. Dagegen sind die intentional hergestellten Elemente der Stadtnatur wie Grünflächen und Parks als Ganzes in den Vorstellungen sehr präsent (s.o. Kap. 4.3.1.2). Legt man als Vergleichsbasis nicht die aus semiotisch-theoretischem Blickwinkel erarbeite Typenmatrix zugrunde, sondern beispielsweise Beschreibungen der städtebaulichen Gestalt der Potsdamer Straße, wie sie in verschiedenen Planungsgutachten zu finden sind (siehe z.B. Zimmer 1990), ‚fehlen‘ in den Vorstellungen (mit Ausnahme eines Interviews) zwei herausragende Baudenkmale der Potsdamer Straße, die Königskolonnaden sowie das Kathreiner-Hochhaus im Abschnitt Kleistpark-Goebenstraße. Ursache dafür mag die trotz historischer Kontinuität (seit 1912 bzw. 1930) fehlende weitere inhaltliche Verknüpfung dieser Bauwerke mit der Potsdamer Straße sowie die Lage in einem funktional und räumlich peripheren Abschnitt oder auch fehlendes Wissen über die bauhistorische Bedeutung sein. Während die Königskolonnaden als Fremdkörper zwischen den rein funktionalen hermetischen Fassaden dieses Abschnitts wirken, ist die Qualität der schlichten, reduzierten Architektur des Kathreiner-Hochhaus im Stil der Neuen Sachlichkeit nur aus der Distanz erfahrbar und bleibt für den normalen Passanten unsichtbar (s.a. Kap. 4.3.1.2 und 4.3.3.2).
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4.3.2 Globale Eigenschaften der Potsdamer Straße In einer der Fragen sollten die Interviewten fünf Begriffe nennen (Eigenschaften oder andere), die in ihren Augen die Potsdamer Straße beschreiben. Meistgenannte Eigenschaft ist die Vielfältigkeit der Straße (12 Nennungen), davon beziehen sich 5 Äußerungen auf die Mischung unterschiedlicher Kulturen (‚multikulti‘ etc.). Unter den verbleibenden, nicht eindeutig auf eine kulturelle Diversität referierenden Nennungen haben positiv konnotierte Lexeme (‚bunt‘, ‚Mischung‘) und Lexeme mit eher negativer Färbung (‚heterogen‘, ‚zusammengewürfelt‘) ungefähr gleiche Anteile. 8 Probanden beschreiben die Potsdamer Straße als laut, 7 nennen die hohe Verkehrsbelastung. Die Lebendigkeit der Potsdamer Straße finden je 5 Befragten besonders wichtig. Diese fünf Eigenschaften können somit als typische Merkmale der Potsdamer konzipiert werden. Betrachtet man ergänzend weitere Äußerungen zu globalen Eigenschaften der Potsdamer Straße außerhalb der ‚Fünf-Eigenschaften-Frage‘, hat das Merkmal als Durchgangsstraße insgesamt einen ebenfalls hohen Stellenwert. Dieses korreliert zwar teilweise mit dem Inhalt Verkehrsbelastung, verweist aber im Unterschied zu den oben genannten typischen Eigenschaften auf die Rolle der Potsdamer Straße als Verkehrsader im städtischen Kontext Gesamtberlins. Ferner wird die Potsdamer Straße von ca. einem Drittel der Interviewpartner als „schmutzig oder „staubig“ empfunden: „Schmutzig finde ich sie schon“ (P13). Grundsätzlich beschreiben alle in Verbindung mit der ‚Fünf-EigenschaftenFrage‘ genannten Begriffe entweder Eigenschaften oder Gebrauchsfunktionen der Potsdamer Straße, die nicht einzelnen Objekten, sondern dem Syntagma als Ganzes zugeschrieben werden. Damit wird die Straße strukturell als einheitliches Objekt (Basisebene) perspektiviert. Die genannten Eigenschaften sind die für die Befragten relevanten globalen Eigenschaften des Objekts [Potsdamer Straße] und definieren damit die globalen Merkmale der Vorstellung . Bei den meisten dieser Merkmale handelt es sich atmosphärische Merkmale, die analoge Wahrnehmung überwiegt.73 Allgemein zählen die Kategorien ‚Leben‘ und ‚Mischung‘ bzw. ‚Heterogenität‘ zu den insgesamt über 50 mal vergebenen Kategorien. Hier handelt es sich jedoch nicht allein um Äußerungen über den heutigen Zustand der Potsdamer Straße,
73 Eine Ausnahme bildet das Merkmal ‚Durchgangsstraße‘, mit dem das Objekt [Potsdamer Straße] einerseits einem bestimmten Straßentyp zugeordnet wird, andererseits im Straßensystem der Gesamtstadt positioniert wird. Hier handelt es sich sowohl um ein taxonomisches Merkmal als auch ein strukturelles Merkmal, dessen Nennung nicht aus einer analogen Form der Wahrnehmung hervorgeht.
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sondern auch um Zukunftswünsche oder Idealmerkmale einer Großstadtstraße. Mischung bzw. Heterogenität werden nur von einem Befragten nicht thematisiert. Über 20 Äußerungen beziehen sich auf die soziale und kulturelle Vielfalt der Bewohner (s.a. Unterkap. 4.3.1.5). Im Folgenden soll das Merkmal ‚Vielfalt‘ im Bild der Potsdamer Straße näher betrachtet werden. 4.3.2.1 „Ein schöner Gemischtkiez“: Vielfalt als Hauptmerkmal Das Adjektiv „bunt“ wird von 10 Befragten (darunter keine migrantischer Herkunft) zur Beschreibung der Potsdamer Straße, einzelner Abschnitte oder einzelner Objekte genutzt. Es wird auf die gesamte Potsdamer Straße bezogen in metaphorischer Verwendung (z.B. „bunte Mischung“), bei Bezug auf einzelne Objekte aber auch wörtlich gebraucht.74 Vielfältig seien die Nutzerinnen und Nutzer der Straße: „Und es ist wirklich eine ganz bunte Mischung aus alt/jung, Ausländer/Inländer, wie auch immer man das bezeichnen möchte, Punk, schwarz, weiß, gelb, grün, ne, so. Anzug, völlig leger“ (P12). Auch die Gewerbestruktur ergibt für einige eine „gute Mischung“: „Ich finde, es gibt viele gastronomische Sachen. Oder eben Dienstleistungsunternehmen, oder Friseure, oder sonstwas, um auch die ganzen hungrigen Geschäftsleute zu bedienen. Oder auch, um ein bisschen zu spekulieren. Manchmal sieht man auch, dass Touristen hier runter kommen und hier langlaufen und mal so gucken. Wie das genutzt wird, ja ... Das ist eigentlich eine Wohn- und Geschäftsstraße, Banken, Finanzen ... Das ist wirklich eine bunte Mischung, da kann man gar nicht so genau vorgeben: ein Sinn und ein Zweck, sondern das ist langsam gewachsen und hat sich gemischt“ (P8), für andere zumindest in einzelnen Abschnitten: „Das Teilstück ist so eine ganz gute Mischung aus Geschäften, Kneipen, was so möglich ist“ (P12). Manche empfinden die Vielfalt der Potsdamer Straße jedoch als chaotisch, das Straßenbild nicht als abwechslungsreich und bunt, sondern als unharmonisch. Aussagen beziehen sich einerseits auf die Architektur der Randbebauung und die Außengestaltung der Läden: „Es ist irgendwie vom Outfit her ziemlich uncharakteristisch. Leider eben so ein wildes Durcheinander von ... Auf der rechten Seite sind ja auch eigentlich nur diese neuen Plattenbauten, da gibt es kaum alte“ (P7), „Das sind so diese Nachkriegsbaulücken, die architektonisch nichts aussagen, die eigentlich nur Unruhe ins Blickfeld bringen“ (P20). „Typisch Potsdamer Straße, 74 Das Wörterbuch der deutschen Gegenwartssprache (im Internet über http://www.dwds. de) nennt drei Bedeutungsvarianten für das Adjektiv /bunt/: 1. im wörtlichen Sinne ‚mehrfarbig‘ oder ‚verschiedenfarbig‘, 2. im übertragenen Sinne ‚aus Dingen verschiedener Art bestehend‘, ‚abwechslungsreich‘, 3. ‚ungeordnet‘, ‚wirr‘. In den Interviews wird /bunt/ überwiegend im übertragenen, positiv konnotierten Sinn verwendet, entsprechend Variante 2.
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Laden zu, verklebt. Auch unterschiedliche Farben, unterschiedliche Logos, also völlig uneinheitlich, kein Straßenkonzept, an dem sich irgendjemand orientiert, weil jeder sein eigenes Ding macht“ (P7). Heterogenität wird als typische Eigenschaft der Potsdamer Straße insgesamt betrachtet: „Was typisch ist, ist so dieser Gegensatz zwischen Perlen und ... [...] Ich glaube, was typisch für die Potsdamer Straße ist, ist die Diskrepanz. [...] [s.a. oben Kap. 4.3.1.5]. Es gibt eine Moschee, es gibt aber auch gleich die Kirche nebenan. Es gibt die Moschee, und gleich gegenüber gibt es Straßenprostitution. Wo man hinguckt, findet man ganz schnell Gegensätze. Und dafür ist es auch typisch oder erstaunlich, wie ruhig es hier ist. Dass es nicht mehr knallt. Weil eben ganz viele Menschen zusammen sind, die eigentlich Spannungen vorprogrammieren.“ (P12)
Ebenso seien die einzelnen Abschnitte sehr heterogen: „Also sie ist eine absolut heterogene Straße, die eben da total aufgeschickt ist und vom Kleistpark vom Bürgerlichen abrutscht ins Orientalische und dann ist es irgendwie eine funktionelle Straße, und dann wird sie zur Touristenmeile, also ganz changierend“ (P7).75 Die ausgeprägten Kontraste in Bevölkerungsstruktur und Bebauung werden von einigen als reizvoll im Vergleich zu anderen sehr homogenen Stadträumen empfunden: „Also gefallen tut mir halt diese Diskrepanz. Das ist auch etwas, was ich generell an Berlin mag. Ich könnte in anderen Städten, die alle völlig einheitlich und schick und schön aufgepäppelt sind – die gefallen mir gar nicht so gut. Und ich mag schon im gewissen Sinne das Kaputte an Berlin. Und insofern bin ich in der Potsdamer Straße ganz gut aufgehoben“ (P12). Nach ihren Wünschen für die Potsdamer Straße befragt, möchten viele die jetzige kulturelle und soziale Vielfalt erhalten, aber auch um einige neue Facetten erweitern oder ursprünglich einmal in der Potsdamer Straße vorhandene Nutzungen wie Fachgeschäfte wiedergewinnen: „Ja, dass halt wieder diese, eine Mischung entsteht, eine gute Mischung. Egal welcher Art. Aber dass es sich halt gut mischt. Das wäre schon schön. Dass außer dem Verkehr auch sonst noch etwas läuft, gell!“ (P1). „Aber ich glaube, was schon die meisten wollen: ein bisschen mehr Kultiviertheit, dass die Mischung schon erhalten bleibt, aber die schönen Seiten noch ein bisschen verstärkt werden. Und die schlechten oder das Abrutschen, meinetwegen mit dem Laufhaus oder Ausweitung vom Straßenstrich, das dem irgendwie Einhalt geboten wird“ (P15). „Also ich glaube, aber das ist ein total hohes Ziel, ich fände es einfach Klasse, wenn die so, sagen wir mal vielfältig bleiben kann und das gerade zu einem Plus wird. Ich mache ja auch viel in dem Prostitutionsbereich – wenn es gelingt, 75 Zur Heterogenität der Potsdamer Straße nicht synchron im Raum, sondern diachron im Tagesverlauf s.o. Kap. 4.3.1.6.
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wirklich so eine Akzeptanz zwischen den beiden Bereichen hinzukriegen. Und ich denke, dann ist es vielleicht auch möglich, eine Akzeptanz zwischen allen möglichen anderen Bereichen“ (P12). Mehr Angebotsvielfalt im Warenangebot der Einzelhandelsgeschäfte wünscht sich die Geschäftsfrau (P7), einheitlichere Ladenfassaden die Leerstandsmanagerin (P13). Mehr „echte Vielfalt“ für das PotsdamerPlatz-Areal ist ein Wunsch der Anliegerin des Abschnitts Neue Potsdamer Straße: „…also auch nicht dieses uniforme Angebot, wie es dann eben auch in jeder Stadt zu finden ist“ (P14).76 4.3.2.2 „Hässlich, aber interessant“: Bewertungen der Potsdamer Straße Bewertungen der Potsdamer Straße als Einheit, einzelner Abschnitte und einzelner Objekte ziehen sich durch alle Interviews. Teilweise sprachen die Probanden von sich aus Wertungen aus, teilweise wurde jedoch auch gezielt danach gefragt, welche Aspekte der Potsdamer Straße den Interviewten gefielen oder weniger gefielen. Im Folgenden wird kurz dargestellt, in welcher Weise die Potsdamer Straße als Gesamteinheit und welche Objekttypen im Einzelnen jeweils als positiv oder negativ evaluiert wurden. Unter den evaluativen Adjektiven77 fällt besonders die häufige Nutzung von „interessant“ oder „spannend“ auf. 6 Befragte finden die Potsdamer Straße als Ganze „interessant“ oder „spannend“: „es ist einfach nicht langweilig, da entlang zu fahren. Es gibt immer etwas zu sehen oder etwas Neues zu entdecken“ (P4), sie sei „irgendwie eine spannende Straße auf eine Art“ (P15). 78 Ästhetische Bewertungen haben einen hohen Stellenwert, insgesamt werden in 77 Zitationen (64 bei Ausschluss der Fotofragen) ästhetische Evaluationen vorgenommen. Ein ‚Gefallen‘ im Sinne positiver ästhetischer Bewertung wird jedoch fast ausschließlich in Bezug auf einzelne Objekttypen wie Altbauten oder Höfe, einzelne Objekttoken wie einen der Parks oder Objektaspekte wie einzelne schöne
76 Zu Vielfalt als Eigenschaft einer idealen Großstadtstraße vgl. Kap. 4.3.4. 77 „Lebendig“ wird hier nicht als evaluatives Adjektiv aufgefasst, auch wenn es ohne Zweifel (positive) evaluative Elemente enthält. Für Osgood gehören einer Umwelt, einem Objekt etc. zugeschriebene Eigenschaften wie lebendig, ruhig, schnell, langsam nicht vorrangig zur evaluativen Dimension, sondern zur ‚Aktivierungsdimension‘ („activity factor“) der Einstellung zu einem Gegenstand (vgl. Osgood/Suci/Tannenbaum 1957: 36ff). 78 Allerdings werden die Eigenschaften ‚interessant‘ oder ‚spannend‘ von keinem der 4 migrantischen Befragten genannt. Auch zwei Experten nennen sie nicht, während sie bei den übrigen Befragten meist mehrmals vorkommen.
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Fassaden79 geäußert und nicht in Bezug auf das Gesamtbild: „So eine richtige Schönheit in dem Sinne ist die Potsdamer Straße ja nicht“ (P8). Vielmehr sei die Potsdamer Straße „Hässlich, aber schön. Hässlich, aber interessant. Hässlich, mit Vielem zu entdecken“ (P12) Der hohe Stellenwert der Kategorie Interesse (insgesamt 68 Codierungen) im Vergleich zu ästhetischem Gefallen bestätigt Rapoports Annahme der unterschiedlichen Reaktionen auf Straßen- und Platzräume (Rapoport 1990a: 265, vgl. Kap. 3.1.4).80 Als Objekttyp ästhetisch negativ evaluiert wurden überwiegend Nachkriegsbauten, meist auf Grund ihres schlechten Erhaltungszustandes.
Globale Eigenschaften der Potsdamer Straße in Stichworten • • • • •
vielfältig - wertende Varianten: „gemischt“ oder „heterogen“ laut hohe Verkehrsbelastung lebendig Weiteres: Durchgangsstraße, schmutzig
Evaluative Kodes Kodes der sozialen und kulturellen Kategorisierung Ästhetische Kodes
Art der Elemente
Überwiegend semifixierte Elemente
Syntagmatische Aspekte
Eigenschaften und Bewertungen sind auf das Gesamtsyntagma bezogen
Relevanz / Zusammenfassung
Meistgenannte Eigenschaften sind die relevanten Eigenschaften des Objekts [Potsdamer Straße], sie definieren die Merkmale der Vorstellung
Meistgenannte Eigenschaften der Potsdamer Straße
79 Siehe Kap. 4.3.1.1, 4.3.1.2 und 4.3.1.8. 80 Das Adjektiv ‚schön‘ wird zwar in über 230 Zitationen verwendet, referiert aber überwiegend auf einzelne Objekte oder einen Wunschzustand, wird negiert oder beschreibt beispielsweise nicht ästhetisches Gefallen, sondern praktischen Nutzen: „ … in Steglitz gibt es auch große Straßen, da sind auch drei Spuren, eine Busspur und zwei normale Lkws, finde ich schön“ (P5).
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Bewertungen des praktischen Gebrauchs der Straße, überwiegend der Einkaufsmöglichkeiten und Verkehrsanbindung, sind ebenfalls zu finden (s.a. 4.3.1.2 zum Einzelhandel und 4.3.1.3 zur Nutzung als Verkehrsader),: „Weil hier das Einkaufszentrum in der Gegend ist, das macht mich glücklich. [...] Hier in der Potsdamer Straße haben wir alle Möglichkeiten zu gehen. Wir sind wirklich an den Verkehr angebunden, da hat man keine Schwierigkeiten. Das gefällt mir sehr gut“ (P5). 4.3.3 Der topologische Blick auf die Potsdamer Straße Nach einer Gliederung der Potsdamer Straße in einzelne Abschnitte und nach ihren Grenzen (als ‚Anfang‘ und ‚Ende‘) wurde im Leitfaden explizit gefragt. In den Antworten zu diesem Themenkomplex wird die Straße als Objektkomplex perspektiviert, allerdings werden die Einzelelemente bereits in räumlichen und inhaltlichen Gruppen zusammengefasst, eine Strukturierung in Abschnitte findet statt. Die in Kapitel 4.3.1 genannten paradigmatischen Elemente des komplexen Objekttokens Potsdamer Straße werden zu einem Syntagma mit Subsyntagmen verknüpft (Kap. 4.3.3.2). Kapitel 4.3.3.1, 4.3.3.4 und 4.3.3.5 analysieren die Interviewäußerungen, die die Potsdamer Straße perspektivisch im übergeordneten städtischen Kontext situieren (Stadtelementebene). 4.3.3.1 Grenzziehungen Die Grenzen des Bildes der Potsdamer Straße wurden über eine Frage im Leitfaden sowie in der Kartenfrage ermittelt. Für fast die Hälfte der Befragten umfasst ihr Bild der Potsdamer Straße nur die Abschnitte bis zum Landwehrkanal im Norden (s.a. unten Kap. 4.3.3.2): „Von dem Ufer eben runter bis zur Hauptstraße, das ist schon, wie sie heißt. Das ist die ursprüngliche Potsdamer Straße für mich“ (P8). „Die Potsdamer Straße geht am Landwehrkanal los. Das ist klar“ (P13). Über den Namen der Straße nördlich des Landwehrkanals sind sich viele unsicher: „Ich weiß jetzt gar nicht, wie das heißt“ (P9). Auch der Übergang im Süden zur Hauptstraße ist für manche unscharf (s.a. Kap. 4.3.3.4) : „Das geht weiter. Kaiser-Wilhelm-Platz zieht es sich runter, denke ich mal“ (P11). Ferner spielt der räumliche Bezugspunkt,81 von dem aus die Potsdamer Straße überwiegend wahrgenommen wird, eine Rolle bei der Setzung von Grenzen und der Konstitution der Straße als Einheit. Für einige Anwohner der Abschnitte nördlich der Kurfürstenstraßenstraße endet die Potsdamer Straße im Süden teilweise bereits an der Bülowstraße, auch wenn ihnen das nominelle Ende der Straße am Kleistpark bekannt ist: „Für mich, die Potsdamer Straße als erlebbare Straße endet eigentlich
81 Vgl. auch Bühler zur ‚Origo‘ in deiktischen Ausdrücken (Bühler 1934/1982: 102ff).
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vorne an der Bülowstraße, danach ist es eine andere Straße, eine völlig andere Straße“ (P16). Ein ähnlich eng begrenztes Bild haben auch manche Anwohner der weiter südlichen Abschnitte: „Ich finde, die fängt Pallas an und endet U-Bahnhof Bülowstraße für mich“ (P17). Insgesamt endet für die Mehrheit der Anlieger der südlichen Abschnitte ‚ihre‘ eine Potsdamer Straße von Süden aus gesehen am Kanal, dagegen beginnt für die beiden den äußeren nördlichen Abschnitten Kulturforum und Potsdamer Platz zugeordneten Befragten „der zweite Teil“ (P2) der Potsdamer Straße südlich des Landwehrkanals. 4.3.3.2 Die innere Struktur Ungefähr die Hälfte der Interviewten stellen bereits Strukturierungen der Straße her, bevor sie explizit zum Verlauf der Potsdamer Straße befragt werden. Die Strukturbildungen beziehen sich jedoch meistens nur auf kurze Teilstücke, nur eine Befragte beantwortet bereits die Eingangsfrage („Wenn Sie ‚Potsdamer Straße‘ hören, was fällt Ihnen dazu ein?“ ) mit einer Beschreibung der einzelnen Straßenabschnitte der B1 vom Potsdamer Platz bis zur Schlossstraße in Steglitz in Form der imaginären Wanderung (s.o. Kap. 3.4.6): „Die teilt sich in verschiedene Segmente. Einmal Potsdamer Straße am Potsdamer Platz, das ist fein und neu und touristisch. Und dann hier so ab der Kurfürstenstraße auf jeden Fall wird es dann wirklich sehr arm und abgeschabt und pflanzenlos, und eben orientalisch und staubig und laut und dreckig. Und dann weiter Richtung Dahlem, da ändert sich das Bild, also da kommt ja dann die Schlossstraße, das ist ja dann die ganz lange Achse durch Berlin, und die hat verschiedene Gesichter.“ (P7)
Während die Mehrzahl der Befragten deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen Abschnitten beschreibt, bildet für eine Befragte der Verlauf der B1 von der Dominicusstraße (dort noch als Hauptstraße) bis zur Lützowstraße eine Einheit: „Von Kaiser-Wilhelm-Passage, von Dominicusstraße bis Potsdamer Platz, Brücke, ist es ok. Danach ist es nicht schön, und nach der Dominicusstraße ist es auch nicht schön. Viele Läden sind zu, ich weiß nicht, wie die Leute da wohnen, ob die da glücklich sind, weiß ich auch nicht. Aber da möchte ich nicht wohnen.[…] Wie heißt die kleine Straße? So Elisabethkrankenhaus, die Straße [gemeint ist die Lützowstraße], danach ist es nicht meine. Da wollte ich nicht wohnen“ (P5). Von den südlich des Landwehrkanals gelegenen Abschnitten führt der Abschnitt Lützowstraße die Anzahl der Zitationen mit insgesamt 49 deutlich an, davon entfallen allein 14 auf den Unterabschnitt Pohlstraße. Über die Hälfte der Nennungen dieses Abschnitts geschehen unabhängig von der Frage nach dem Verlauf der Straße. Der eher unspezifische Abschnitt Landwehrkanal folgt mit 31 Nennungen, dann der Abschnitt Bülowstraße. Der Abschnitt Kurfürstenstraße ohne die Kreuzung Kurfürstenstraße/Potsdamer Straße wird trotz der Konzentration der Geschäfte und
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Dienstleistungsunternehmen des täglichen Bedarfs seltener genannt, allerdings erhält die Kreuzung Potsdamer Straße/Kurfürstenstraße, an der der Abschnitt endet, von allen Kreuzungen die meisten Zitationen. Die wenigsten Nennungen erhält der Abschnitt Goebenstraße. Im Unterschied zu der Mehrzahl der anderen Befragten stellen die beiden Anliegerinnen der Neuen Potsdamer Straße und des Kulturforums (P2 und P4) keine deutliche Gliederung der Abschnitte südlich des Landwehrkanals her, besonders bei P2 ist das Bild dieser Abschnitte auch wenig detailreich. Im Folgenden werden zuerst die Vorstellungsbilder der Abschnitte Landwehrkanal bis Kleistpark in Nord-Süd-Richtung vorgestellt, dann die von den meisten separat thematisierten Abschnitte Kulturforum und Potsdamer Platz. Von Lützowstraße bis Landwehrkanal: Leerstand im „Windkanal“ Der Abschnitt von der Lützowstraße bis zum Landwehrkanal ist für viele der Befragten durch seine geringe Nutzungsdichte bzw. nur vage definierte oder unauffällige Nutzungen gekennzeichnet: „Und der obere Teil, da ist ja links [von Süden aus gesehen] gar nichts“ (P1), „dieses Stück ist ja inzwischen völlig zu vernachlässigen“ (P11). „Da ist ja praktisch kein markantes Geschäft – doch ja, da ist Plus, aber das ist ja ein Einkaufsmarkt, nichts Besonderes. Gerade hier an der Ecke, da ist ja der Blumenladen und das Hotel. Unauffällig, würde ich sagen, sehr unauffällig“ (P14). Als einzige charakteristische Nutzung nennt eine Interviewpartnerin das Nachtleben, repräsentiert durch einige Clubs: „Da weiß niemand eigentlich so richtig. Bis zur Lützowstraße, Gott, da leben Leute, aber das ist für nachts, da sind ja Discos, da muss es nachts ganz gut losgehen. […] Da scheinen nachts richtig gut besuchte Discos zu sein. Für Russen, dann das 40 Seconds, das ist wieder eine andere Klientel“ (P12). Sonst zeichnet sich dieser Abschnitt für die Mehrzahl derjenigen, die über ihn sprechen, nur durch deutlich sichtbaren Laden- und Bürohausleerstand und einen teilweise daraus resultierenden schlechten Erhaltungszustand besonders der Nachkriegsbebauung aus: „Und da oben wirkt der Leerstand auch erheblich oder ist erheblich im Moment, gerade auf der rechten Seite [von Süden aus gesehen] in dem ehemaligen Studentenwohnheim unten drin“ (P13). Einige Gebäude seien in „einem katastrophalen Zustand und ein echter Schandfleck“ (P16), die Eigentümer hätten sie „vergammeln lassen“ (P18). Dies sei „dieser ganz hässliche Abschnitt, wo ich immer sage der Windkanal, weil da auch immer der Wind so pfeift, wo teilweise leerstehende Gebäude und alles hässliche Gebäude sind mit dem Studentenwerk bis Lützowstraße“ (P15). Das den Abschnitt auf der östliche Seite dominierende Gebäude des Studentenwerks (Potsdamer Straße 61-65, s. Kap. 1.8.5), dieses „langgestreckte Ding“ sei auch „so eine Nachkriegssünde, damit kann man nichts bewirken, das geht gar nicht. Die kann man nur abreißen und versuchen,
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da irgendwas Neues zu bauen“ (P20). In diesem Abschnitt zu wohnen, scheint ausgeschlossen (P5). Im Vergleich zum lebendigeren südlich anschließenden Abschnitt Lützowstraße „bröckelt es [in diesem Abschnitt] wieder ab, da hat man dann die großen Leerstände, wenn man zur Potsdamer Brücke geht“ (P19). Die relativ häufige Thematisierung dieses Abschnitts mag sich daraus erklären, dass er einerseits den Abschluss des ‚typischen‘ Teils der Potsdamer Straße bildet, andererseits jedoch atmosphärisch in starkem Kontrast zum Abschnitt Lützowstraße steht (s.u.). Während der Abschnitt Lützowstraße relativ zu den anderen Teilen die stärksten positiven Wertungen auslöst, evoziert der Abschnitt Landwehrkanal intensive negative Gefühle. Als wenig attraktiver Eingangsbereich südlich der Potsdamer Brücke ist er kaum in der Lage, das Publikum der Konsum- und Kulturwelt von Potsdamer Platz und Kulturforum weiter in die Potsdamer Straße hinein zu locken. Die bauliche Lücke des Kulturforums nördlich des Landwehrkanals wird in diesem Abschnitt von Nutzungslücken in einer nunmehr geschlossenen Bebauung abgelöst. Insgesamt ist für den Abschnitt nur eine geringe praktische Relevanz zu verzeichnen, er ist überwiegend Transitraum („Windkanal“, s.o.). Symbolische Relevanz kann ihm im negativen Sinne zugeschrieben werden: die leerstehenden Einzelhandelsflächen und Bürogebäude stehen für die ökonomischen Probleme der Straße und wirken dadurch wieder stadträumlich ortsindexikalisch. Was hier sensorisch relevant ist, wird ästhetisch abgelehnt: der Kressmann-Zschach-Bau des Studentenwerks sowie die heruntergekommene Nachkriegsbebauung. Von Kurfürstenstraße bis Lützowstraße: der „Sahne-Abschnitt“ Der Abschnitt Kurfürstenstraße – Lützowstraße wird von den in diesem Bereich lebenden bzw. arbeitenden als „auffälligstes Teilstück“ (P14) betrachtet, er sei der „Sahne-Abschnitt“ der Straße: „Da ist halt diese Öde, die weiter oben ist, weg. Man hat das Gefühl, da ist Leben, da sind nicht so viele Billig-Shops, da ist noch ein bisschen anderes Publikum, da sind Bäume. Und auch die Seitenstraßen – die Lützow-, die Körner- und die Pohl- sind ja irgendwie auch noch mit Bäumen und so ganz angenehme Seitenstraßen, wo es auch noch Cafés und so gibt“ (P15). Besonders der südliche Teil zwischen Kurfürsten- und Pohlstraße wird als sehr lebendig, „wuselig“ (mehrere Zitationen) beschrieben, „viele Restaurants, noch mehr Friseure. […] Eine ganz gute Mischung aus Geschäften, Kneipen“ (P12). Es ist dort „bunter“82 als der Teil nördlich der Pohlstraße, der „noch ein bisschen eleganter ist“ (P14), wo es „exklusivere Häuser“ gibt (P9). Die das Bild prägenden 82 „Bunt“ bezieht sich in dieser Äußerung wahrscheinlich sowohl auf die Farbigkeit der Ladengeschäfte und Imbisse als auch die Mischung der Nutzungen. Siehe auch die Ausführungen zum Begriff der ‚Mischung‘ im Kap. 4.3.2.
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Einzelobjekte sind das Tagesspiegel-Gebäude, der Wintergarten, die Joseph-RothDiele, die alle drei unter den fünf meistgenannten Objekten der Potsdamer Straße zu finden sind, sowie das Ensemble Potsdamer Straße 98 (siehe Kap. 4.3.1.2 , Die gebaute Umwelt). Von allen genannten historischen, nicht mehr vorhandenen Objekten sind diesem Abschnitt eine größere Zahl zuzuordnen als den anderen Abschnitten, u.a. das Quartier Latin und die Kunsthandlung Sagert. Damit ist die historische Dimension des Bildes auf der Objektkomplexebene hier stärker ausgeprägt als in den anderen Abschnitten.83 Für viele der Interviewten bilden die (in den anderen Teilen der Potsdamer Straße nur in geringer Zahl vorhandenen) Straßenbäume ein charakteristisches Merkmal dieses Abschnitts (siehe Zitat oben). Sie tragen auch dazu bei, dass das Straßenbild mit seinen „interessanten alten Häusern“ „geschlossener wirkt, attraktiver“ (P20), dieser Abschnitt „geht pfleglich mit dem Auge um“ (P18). „Alles halt nicht auf hohem Niveau, aber deutlich sichtbar, dass es anders wirkt“ (P20). Unter den Passanten fallen insbesondere die Touristen und „Medienmenschen“ auf, welche diesen Abschnitt deutlich häufiger nutzen als die Abschnitte südlich der Kurfürstenstraße. Eindeutige ethnisch-kulturelle Zuschreibungen, d.h. Verweise auf die Herkunft der Anwohner oder Passanten, werden für diesen Abschnitt deutlich weniger vorgenommen als für den Abschnitt Bülowstraße. Unterschiede werden jedoch angesprochen: im Vergleich mit dem Teil südlich der Kurfürstenstraße „trifft man auch wieder ganz andere Menschen“ (P17), s.a. Zitation von P15 oben. Der Abschnitt Kurfürstenstraße bis Pohlstraße wird von mehreren als Zentrum und charakteristischster Teil der Potsdamer Straße betrachtet: dies sei das „Kernstück“ (P12), „weil da gibt es auch so in den Straßen einige Läden, wo man sich auch mal hinsetzen kann, dieses Stück zwischen Pohlstraße und Potsdamer, da gibt es ja diese Fleischerei Staroske, alteingesessen, wo es ja Mittagstisch gibt, zwischen Pohl- und Kurfürsten-, wo eben auch so Tagesspiegel-Leute hingehen und wo man einen kleinen Mittagstisch bekommt und so. Also da ist schon so ein bisschen lebendig und da könnte man durchaus sagen: Ja, hier tobt das Leben“ (P20). Die dem Abschnitt Kurfürstenstraße – Lützowstraße zugeschriebenen Merkmale bilden eine größere Schnittmenge mit den Merkmalen des Idealtyps einer Großstadtstraße als die Merkmale anderer Abschnitte (s. Kap. 4.3.4). Durch praktische Relevanz zeichnen sich hier die Geschäfte und Cafés oder Kneipen aus. Über symbolische Relevanz und erhöhte Ortsindexikalität verfügen der Tagesspiegel, der Wintergarten, die Potsdamer Straße 98 und die Joseph-Roth83 Wenn nicht einzelne Objekte zugrunde gelegt werden, sondern allgemeine historische Bedeutung angesprochen wird, ist jedoch erwartungsgemäß der Bereich Potsdamer Platz führend (s.u.).
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Diele (vgl. 4.3.1.1), die drei ersteren zeichnen sich auch durch sensorische Relevanz aus (siehe Kap. 4.3.1.2, Die gebaute Umwelt). Atmosphärische Eigenschaften, die sich aus Eigenschaften des Gesamtsyntagmas ergeben, sind Lebendigkeit, Buntheit und relative gestalterische Geschlossenheit. Vielfalt und Lebendigkeit, die der gesamten Potsdamer Straße als globale Eigenschaften zugeschrieben werden, sind auch die meistgenannten Eigenschaften dieses Abschnitts. In diesem Sinne kann der Abschnitt Lützowstraße einschließlich der Kreuzung Kurfürstenstraße (s.u.) als metonymisch für die Potsdamer Straße aufgefasst werden. Von Bülowstraße bis Kurfürstenstraße: „Gebrauchs- und Bedarfsstrecke“ mit „Kulminationspunkt“ Als Zentrum der Potsdamer Straße wird von einer Mehrheit die Kreuzung Potsdamer Straße / Ecke Kurfürstenstraße angesehen. Dies ist der „Kulminationspunkt, da spielt sich am meisten ab“ (P16), „eine typische Ecke … Weil da ein Gemüsemann auf der Straße ist. Das ist die Prostitution gegenüber und dieses … LSDKaufhaus. Da trifft so ziemlich alles aneinander. Dann ist da Woolworth und ein Schnell-Friseur, glaube ich, oder so etwas“ (P3). Der Abschnitt Pohlstraße mit seinen Schnellrestaurants schließt im Norden an (s.o.), das nur zweistöckige Woolworth-Kaufhaus befindet sich auf der nordwestlichen und der türkische Gemüseladen auf der südöstlichen Ecke. Das ehemalige Wegert-Haus mit seiner heutigen Nutzung als Erotik-Kaufhaus auf der südwestlichen Ecke markiert den Beginn der Prostitutionsszene in der westlichen Kurfürstenstraße. Der U-Bahnhof Kurfürstenstraße stellt neben dem Bahnhof Bülowstraße die Anbindung der Potsdamer Straße an die westliche bzw. östliche City her. Der Bereich um den U-Bahnhof Kurfürstenstraße ist für mehrere Befragte noch durch Erinnerungen an den Drogenhandel in den frühen 90er Jahren geprägt. „Ich erinnere mich an die Kurfürstenstraße, an die U-Bahn-Station, und dass es da eine Zeit lang auch eine ganze Menge Junkies gab, die da tagsüber herumhingen, die dann abends eigentlich nicht mehr da waren“ (P4). „Da waren halt die ganzen Junkies und man hat schon, wenn man mit der U 1 gefahren ist, schon gesehen die Nutten und die Junkies, die da aussteigen, war schon Grusel, wo man irgendwie dachte – Kurfürstenstraße steigt man am besten gar nicht aus“ (P15). Bei dem südlich anschließenden Abschnitt der Potsdamer Straße bis zur Bülowstraße handelt es sich um eine „Gebrauchs- und Bedarfsstrecke“ (P7), einen „Mischabschnitt“ (P15) mit Geschäften und Dienstleistungsbetrieben für den Alltagsbedarf. Hier befinden sich ein großer Supermarkt, die Filialen einer Drogeriekette und einer Blumenladenkette, die Post, eine Apotheke und Banken, „ein bisschen neutralere Institutionen“ (P7). Am Anfang nahe der Bülowstraße ist es noch „ruhig. Da sind ja auch Bankgebäude“. Es gibt dort „keine Stände draußen“ und „kein buntes Schaufenster“ (P3). Insgesamt ist der Abschnitt „nicht mehr so belebt … da sind weniger Kneipen und Restaurants“, die Einrichtungen sind „recht un-
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persönlich“ (P12). Die am häufigsten für diesen Abschnitt einschließlich der Kreuzung genannten Einzelobjekte sind Woolworth, das Erotikkaufhaus LSD, die Post, der Bolle-Supermarkt sowie das die östliche Ecke zur Bülowstraße dominierende Commerzbankgebäude. Bei den explizit genannten Nutzungen liegt die Prostitution vorne (die Hälfte der Befragten nennt sie in Verbindung mit diesem Abschnitt), die Einkaufsnutzung wird eher implizit durch Nennung von Geschäften angesprochen. Objektaspekte werden für diesen Abschnitt (anders als z.B. für den Abschnitt Landwehrkanal) ohne direkte Nachfrage seltener genannt. „Andere Baustrukturen, wenn ich daran denke, der Teil zwischen Kurfürstenstraße und Bülowstraße auf der westlichen Seite, wo die Post auch ist, da haben wir dann doch auch einige tot wirkende Fassaden, also vorne Bülowstraße das Finanzamt, gegenüber die Bank. Schrecklich, eigentlich. Neben der Bank eine lange Zeile 60er-JahreBauten, auch zwar mit Läden, aber nicht mit so einem attraktiven Angebot. Ich persönlich finde es nicht so anheimelnd da, diesen Abschnitt“ (P20). Warum wird die Kreuzung Kurfürstenstraße und ihre Umgebung zur „typischen Ecke“, während die verkehrsreichere Kreuzung Bülowstraße als weniger charakteristisch angesehen wird? Im Unterschied zur Kreuzung Bülowstraße, die an drei Seiten durch die zwar von ihrer Größe her optisch salienten, jedoch durch ihre „tot wirkende Fassaden“ (P20) unattraktiven Bürogebäude (Banken, Finanzamt) mit ihrer (nicht ortsindexikalischen) Nutzung begrenzt sind, zeichnet sich die Kreuzung Kurfürstenstraße durch drei für die Potsdamer Straße auf mehreren Ebenen relevante Einzelobjekte aus (das LSD, Woolworth und den Gemüsesupermarkt, s.a. Kap. 4.3.1.3 zur Prostitution und 4.3.1.2 zum Einzelhandel). Hier liegt ein in zwei Richtungen wirkender Metonymisierungsprozess vor: weil die Potsdamer Straße für die Nutzung Prostitution steht, wird der Bereich, in dem Prostitution verstärkt ausgeübt wird, zum charakteristischen Abschnitt. Und weil in diesem räumlich zentralen und von der Nutzung her dichtem Abschnitt Prostitution ausgeübt wird, wird die Nutzung Prostitution in der Potsdamer Straße wieder verstärkt sichtbar und die Verankerung dieses Merkmals im Bild weitergeführt. Auf diese Weise wirken auch alle seit langer Zeit an einem Ort verankerten Objekte und Nutzungen ortsindexikalisch: es sind nicht nur Nutzungen und Objekte an einem Ort, sondern sie stehen über ihre praktische Funktion für die Anwohner hinaus für diesen Ort (Beispiel Woolworth). Im Abschnitt Kurfürstenstraße außerhalb der Kreuzung Kurfürstenstraße/Potsdamer Straße ist die praktische Relevanz dominant. Symbolische Relevanz ist durch die überwiegend unpersönlichen Einrichtungen, die über keine Ortsindexikalität verfügen, kaum gegeben. Sensorische Relevanz kann höchstens das ästhetisch negativ evaluierte Commerzbank-Gebäude beanspruchen. Der Abschnitt wird im Vergleich zum Abschnitt Lützowstraße als ruhiger und weniger bunt erlebt. Soziale und kulturelle Kategorisierungen finden sich hier kaum.
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Beim Markieren „ihrer“ Potsdamer Straße in der Kartenfrage schließen fast alle Befragten den Abschnitt zwischen Bülow- und Pohlstraße ein. Von Goeben- bis Bülowstraße: „in türkischer Hand“ Der Abschnitt Goebenstraße bis Bülowstraße ist für die Mehrheit der Befragten durch die migrantischen Betriebe (Einzelhandel und Gastronomie) und Passanten geprägt: „der ist so in türkischer Hand“ (P1), „dieser orientalische Teil“ (P7), „da fallen einem die Ausländer viel mehr auf“ (P15). Im ökonomisch-sozialen Sinne handelt es sich um den „Billigteil der Straße“ (P15). Zwar gibt es auf der östlichen Straßenseite südlich der Bülowstraße noch „attraktive Läden“ (P2), die einen Kontrast zu den sonstigen Nutzungen bilden, „da ist zwar Schropp an der Ecke noch, und dann ist die Begine [das Frauencafé] da, und dann sind da so ein paar Geschäfte, aber das ist alles so ramschig“ (P14). Jedoch wird dieser Teil als lebendig erlebt, im Unterschied zum südlichen Abschnitt Goebenstraße wirkt er bunter: „Eigentlich das Eingangstor ist dieser Gemüseladen an der Goebenstraße, da wird man auch lautstark darauf aufmerksam gemacht: Hier fängt Leben an. Auch wenn es nicht besonders attraktiv ist, für meine Verhältnisse ist da noch mal so ein deutlicher Bruch in der Wahrnehmung“ (P20). Allerdings verschlechtere sich hier auch die Aufenthaltsqualität, die Verkehrsbelastung wird stärker spürbar: „… da ist wirklich Krach und Staub angesagt“ (P9). Für andere ändert sich der generelle Eindruck bereits ab der Kurfürstenstraße, wo es „dann wirklich sehr arm und abgeschabt und pflanzenlos, und eben orientalisch und staubig und laut und dreckig“ wird (P7). Der Abschnitt Bülowstraße „… ist dann vielleicht der Schmuddelteil“ (P8), vom äußeren Anblick ist dieser von allen Abschnitten „so ungefähr das Schlimmste“ (P9). Das Pallasseum als eines der in den Interviews meistgenannten Einzelobjekte (an 3. Stelle, s.a. Kap. 4.3.1.2) wird im Rahmen der Beschreibung dieses Abschnitts kaum thematisiert. Für zwei der Befragten, die dort wohnen (P5 und P10), bildet es eine eigene, zum Kontext der Potsdamer Straße relativ abgeschlossene Umwelt: „Wann ist es gebaut worden, 1974 ist diese Siedlung gebaut worden, hier wohnen 530 Mieter, wir sind ungefähr 2500 Leute insgesamt. […] Ich finde es einfach schön hier. Das ist meine Welt. […] „Warum ist die ganze Potsdamer Straße nicht eine Siedlung? […]. Da haben auch die Kinder zum Spielen Platz und die Kinder sind sicherer hier“ (P5). Für P10 ist das Pallasseum einer Straße gleichgestellt, er identifiziert es mit der Potsdamer Straße: „Eine Großstadtstraße sollte etwas Besonderes sein. Wie zum Beispiel das Pallasseum. Die Straße verfügt über vieles, die ist so wie eine Familie, im Sommer wird gegrillt, auch Spiele und Sportaktivitäten durchgeführt, es wird der ganze Kiez eingeladen“ (P10). Das Pallasseum ist in diesen Aussagen nicht Teil des Syntagmas der Potsdamer Straße, sondern unabhängiges Objekt oder es trägt die gesamte Potsdamer Straße in sich. Die An-
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wohner und Anlieger der Abschnitte nördlich der Kurfürstenstraße nennen das Pallasseum nicht oder nur unabhängig von seiner direkten Umgebung. Auch die häufig genannte Hochbahnbrücke an der Bülowstraße wird, wahrscheinlich wegen ihrer Kreuzungslage fast nur als eigenständiges, aber markantes Objekt erwähnt. Praktische Relevanz besitzen für einige die türkischen Gemüsemärkte und auch die Buchhandlung Schropp. Symbolische und sensorische Relevanz ist hier weniger Einzelobjekten zuzusprechen, sondern dem Cluster der migrantischen Betriebe: sie stehen für die Multikulturalität der Straße (siehe Unterkap. 4.3.1.5) mit sowohl positiven als auch negativen Konnotationen. Global steht der Abschnitt für relative Lebendigkeit, jedoch auch für Lärm und erhöhte Luftbelastung sowie Armut und ein unattraktives Straßenbild. Von Kleistpark bis Goebenstraße: die Kälte der großen Gebäude Der Abschnitt vom U-Bahnhof Kleistpark (Kreuzung Potsdamer Straße / Grunewaldstraße) bis zur Goeben- bzw. Pallasstraße wird trotz seiner den anderen Abschnitten vergleichbaren Länge weniger und insgesamt wenig detailreich thematisiert. Das sei „verhältnismäßig unscheinbar“ (P14), ruhiger, es gebe weniger Geschäfte und weniger Leute, die vorhandenen Läden, wie z.B. Fachgeschäfte für Rollen und Antennen, seien „anonym“ (P12). Die westliche Seite der Straße wird durch „große Verwaltungsfassaden“ dominiert, u.a. der BVG-Verwaltung, auf der östlichen Seite finden sich „sehr geschlossen“ (P12) wirkende Neubauten. Zwar wirke es etwas „gesetzter“ als der nördlich anschließende Abschnitt (P9), dieser Teil sei jedoch „im Grunde genommen abgestorben“ (P1), „das hat eine solche widerwärtige Kälte“ (P1). Dort gehe man schnell durch, es sei langweilig, da Läden fehlten (P1, P20), Bäume ebenfalls (P12). Als prägendes Einzelobjekt wird das BVG-Gebäude genannt: Der am südlichen Ende der Straße liegende und vom Straßenraum aus kaum sichtbare Heinrich-von-Kleist-Park wird ebenso wie das dahinter liegende Kammergericht im Zusammenhang mit diesem Abschnitt kaum erwähnt, während beide sonst in den Vorstellungsbildern durchaus präsent sind. Kulturelle Zuschreibungen finden sich für diesen Abschnitt keine, soziale nur einmal nur in Bezug auf die Mieterschaft der Nachkriegsbauten (s. Kap. 4.3.1.2 / Die gebaute Umwelt). Die in allen Darstellungen zur Architektur der Potsdamer Straße genannten Baudenkmäler in diesem Abschnitt, die spätbarocken Königskolonnaden sowie das Kathreiner-Hochhaus von Bruno Paul werden nur von einem Interviewten thematisiert (s. Kap. 1.8 sowie 4.3.1.10). Direkte praktische Relevanz für die Befragten ist höchstens für den Heinrichvon-Kleist-Park gegeben. Die Fachgeschäfte sind nur in ihrer generellen Eigenschaft als Fachgeschäfte und damit exemplifizierend für die „Fachgeschäftsstraße“ Potsdamer Straße symbolisch relevant (s.o. Kap. 4.3.1.2 Einzelhandel), eine symbolische Relevanz ihres technisch-anonymen Warenangebots ist jedoch nicht
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gegeben. Auch die beiden Baudenkmäler scheinen für die meisten Befragten keine symbolische Relevanz zu besitzen (s.o. Kap. 4.3.1.10). Erhöhte symbolische Relevanz kommt nur dem BVG-Gebäude als Sitz einer Institution mit herausgehobener, berlinweiter Funktion zu (siehe Kap. 4.3.1.1), hier liegt zusätzlich sensorische Relevanz vor. Atmosphärisch steht der Abschnitt für geringe Belebtheit und Nutzungsdichte, er wirkt öde. Für die meisten Befragten ist dieser Abschnitt nicht mehr Teil des Bildes ‚ihrer‘ Potsdamer Straße. Anfangspunkt / Endpunkt Kleistpark: der „andere Touch“ Die Potsdamer Straße endet im Süden an den Einmündungen der Großgörschenund der Grunewaldstraße und geht dort in die Hauptstraße über. An dieser Straßenkreuzung befindet sich auch der U-Bahnhof Kleistpark. Mit ‚Kleistpark’ wird häufig nicht nur der Heinrich-von-Kleist-Park selbst, sondern der gesamte Bereich um den U-Bahnhof bzw. den Park bezeichnet. Er wird hier noch aufgenommen, da er in den Vorstellungen als Anfangs- bzw. Endpunkt von knapp der Hälfte der Interviewpartner genannt und teilweise mit der Potsdamer Straße kontrastiert wird. Einige Befragte konstatieren eine wahrnehmbar andere Atmosphäre: „Da wird es wieder ein bisschen schöner und ruhiger, finde ich. Das gehört auch für mich nicht zur Potsdamer Straße“ (P17). „Da ist ein bisschen intellektuelleres Flair. Ja, das Andere Ufer, oder dann diese Pizzeria, also ein bisschen die Gastronomie da, und da kommt dann die Langenscheidtbrücke ... Also das hat ein bisschen einen anderen Touch da“ (P7), es sei dort „einfach ein bisschen bürgerlicher“ (P8). Der Bereich Kleistpark markiert bereits den Übergang zum bürgerlich-postmateriellen Milieu84 Schönebergs südlich und westlich der Potsdamer Straße. Barriere zwischen „Lebensraum“ und „anderer Welt“ – der Landwehrkanal Über die Hälfte der Befragten spricht über ‚Brüche‘ in der Potsdamer Straße: „Diese Brüche, die spürt man hier immer noch. Die sind einfach unübersehbar. Und das gibt einem schon ein bisschen diesen Reiz“ (P1). Während in dieser Aussage der Begriff ‚Brüche‘ allgemeiner gefasst ist und auch historische Umbrüche mit einbezieht, lokalisiert die Mehrzahl der Befragten einen spezifischen stadträumlichen Bruch am Landwehrkanal. Der Landwehrkanal bzw. die Potsdamer Brücke wird von 9 Befragten genannt, allerdings nicht als eigenständiges Objekt, sondern als Grenze und Bruchstelle zwischen dem dicht bebauten südlichen Teil der Potsdamer Straße, dem „Lebensraum“ (P4) und den nördlich anschließenden Abschnitten des Kulturforums und Potsdamer Platzes: „Potsdamer Platz, da kommt ein 84 Milieubezeichnung nach Sinus-Milieus (Sinus Sociovision 2009).
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Bruch. Das ist eigentlich kein Übergang. Da ist auch noch eine Brücke, dadurch wird das noch extremer, der Bruch“ (P3). „Es gibt Leute, die gehen nie über den Landwehrkanal“ (P16). „Der Potsdamer Platz ist städtebaulich so angeordnet, dass er uns den Rücken kehrt. Der interessiert sich nicht für uns, und uns gelingt der Brückenschlag einfach nicht. Weder durch Kultur noch durch Kommerz, nicht hin und nicht her“ (P13). „Wir sind schlecht angebunden, also verkehrlich eine dicke Brücke, aber ansonsten zu Fuß – wer geht da gerne her. Weder Kulturforum noch das Diplomatenviertel ist gut angebunden hier. Die Marshallbrücke85 da, Potsdamer-Platz-Bebauung, ja gut, da schleichen dann einige von hier rüber, um bei Aldi zu kaufen. Aber ansonsten, richtige Bezüge gibt es nicht. Der Landwehrkanal ist insgesamt auch eine stadträumliche Barriere, die schwer zu überwinden ist“ (P18, Mitarbeiter QM). „Die ganze Straße ist eben nicht harmonisch, die macht nichts Durchgängiges, also was man vielleicht so am Potsdamer Platz aufnehmen könnte und positiv nach unten tragen könnte. Oder auch von unten einen Anschluss suchen“ (P20). Das Kulturforum: die unbebaute Kulturmeile Das Kulturforum ist für die Mehrheit nicht mehr Teil ihres Bildes der Potsdamer Straße, selbst über den Namen der Straße in diesem Bereich herrscht teilweise Unsicherheit: „Ich glaube, es heißt noch Potsdamer Straße. Aber ich bin gar nicht sicher“ (P3). „Das Kulturforum ist für mich komischerweise gar nicht Potsdamer Straße“ (P4), das „ist für mich dann schon eine ganz andere Welt“ (P8). Der Bereich zeichnet sich im Unterschied zur ‚Potse‘ (dem Abschnitt südlich des Landwehrkanals) durch seine homogenen, rein kulturellen Nutzungen aus: „dann wird es richtig Kultur“ (P7), dort finde „Repräsentationskultur“ statt (P9), das sei „Kulturmeile“ (P16), es gebe keine Wohnungen mehr (P8). Einige der Befragten nutzen das Kulturangebot intensiv: „Das Kulturforum ist für uns […] wichtig, weil wir kulturorientierte Menschen sind“ (P16), sie setzen es aber teilweise nicht mehr in Beziehung zur Potsdamer Straße: „Das hat einen anderen Bezug für mich, weil ich einfach regelmäßig in Konzerte gehe. Ja, das ist halt Kultur. Aber es ist nicht so meine Potsdamer Straße“ (P12). Insgesamt gehörten die Kultureinrichtungen des Bereichs zu einer anderen sozialen Welt als die südliche Potsdamer Straße: „irgendwie passt das nicht zusammen. Vielleicht auch nicht mit den Leuten, die hier leben. Was nicht heißen soll, dass die Leute hier nicht lesen oder klassische Musik hören. Ist vielleicht […] nur ein Vorurteil“ (P8), der Stadtraum sei „irgendwie entrückt, weil die Bevölkerung im Kiez relativ wenig damit zu tun hat“ (P16). Der Ort hat keine funktional, sozial oder historisch motivierte Verbindung zu seinem unmittelbaren städtischen Kontext: „Ich meine, die Staatsbibliothek ist ein sehr schönes Ge85 Marshallbrücke: Brücke über den Landwehrkanal östlich der Potsdamer Brücke
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bäude und auch sehr zweckmäßig, aber man hätte es auch anderswo hinsetzen können“ (P14). Der deutliche Bruch im Bild der Straße resultiert nicht nur aus der andersgearteten Nutzung und unterschiedlichen Nutzergruppen, sondern auch aus Veränderung der Bebauungsstruktur nördlich des Landwehrkanals: im Unterschied zur verdichteten Blockrandbebauung südlich des Landwehrkanals sei dieser Teil „ja quasi unbebaut. Das ist ein völlig anderer Duktus“, „diese Kulturbauten“ seien „wie Raumschiffe gelandet“ (P3). Zwar wird die Architektur der Einzelbauten geschätzt (s. Kap. 4.3.1.2 Der gebaute Raum), die städtebauliche Form des Bereichs jedoch von mehreren Interviewten kritisiert: „Das ist halt die große Lücke da vor der Stabi. […] Also wenn da keine Ausstellungen sind, ist es tot“ (P1), „es ist ja dieser blöde leere Platz da“ (P2), „das ist Putenschlund“ (P14).86 Staatsbibliothek, Philharmonie und Neue Nationalgalerie sind die meistgenannten Einzelobjekte für diesen Abschnitt, berichtet wird vor allem von Besuchen in der Philharmonie und in den Museen. Der von zwei Befragten erwähnte Imbiss vor der Matthäikirche steht für soziale Kontakte in einer ansonsten anonymen Umgebung, dabei wird auch wieder eine Beziehung zur südlichen Potsdamer Straße hergestellt: „Ali kennen wir halt auch, und sein Schwager, der da auch oft steht, kocht wieder in der Joseph-Roth-Diele. Es ist alles so erweiterter Dorfkreis, und das macht es auch aus. Wenn er jetzt nicht mehr da wäre – Heimatklänge gibt es im Moment auch nicht, Open-Air-Kino auch nicht, dann ist das da wieder eine Wüste. Da merkt man, dass solche kleinen Sachen schon wie Pflanzen in der Wüste sind“ (P15). Die Objekte des Kulturforums sind nur für einige der Befragten praktisch relevant. Symbolische Relevanz erhalten sie durch ihre im Gesamtberliner Kontext herausragenden kulturellen Funktionen und ihre architektonische Bedeutung, allerdings hat diese Relevanz kaum ortsindexikalische Aspekte, historisch und sozial besteht fast keine Beziehung zum stadträumlichen Kontext. Zur sensorischen Relevanz siehe Kap. 4.3.1.2. Global steht der Abschnitt für kulturelle Nutzung und für herausragende Architektur, aber auch für Unbelebtheit und städtebauliche Fehlplanung. Der Potsdamer Platz: Insel mit Touristen Der Bereich Neue Potsdamer Straße bzw. Alte Potsdamer Straße wird in vielen Fällen erst auf Nachfrage erwähnt. Explizit mit ihrem Namen genannt wird die Neue Potsdamer Straße von keinem Befragten, die Alte Potsdamer Straße von zwei Personen. Ausführlich thematisiert wird das Potsdamer-Platz-Areal nur von den 86 Mit der Metapher „Putenschlund“ (der Teil des Geflügels, der nicht gegessen wird) drückt die Befragte die Nutzlosigkeit dieses Abschnitts für sie aus. S.a. unten Kap. 4.3.3.3.
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zwei Befragten, die dem Abschnitt Neue Potsdamer Straße bzw. Kulturforum zuzuordnen sind. Als einzige der Befragten steht für eine von ihnen „Potsdamer Straße“ zuallererst für den Abschnitt auf dem Potsdamer-Platz-Areal: „Da fällt mir immer eigentlich dieser erste Teil ein, wo ich immer lang gegangen bin, samt der alten Potsdamer, gehört ja für mich dazu, und den Arkaden“ (P2). Die zweite Anliegerin (P2), die früher am südlichen Ende der Potsdamer Straße gearbeitet hat, benutzt „Potsdamer Straße“ gleichberechtigt für beide Teile südlich und nördlich des Landwehrkanals. Die Neue Potsdamer Straße, die das Potsdamer-Platz-Areal durchschneidet und die Potsdamer Straße mit dem Potsdamer Platz und Leipziger Platz verbindet, wird von der großen Mehrzahl noch deutlicher als das Kulturforum nicht mehr als Teil der Potsdamer Straße aufgefasst, auch hier besteht Unsicherheit über den Namen (s.o. zum Kulturforum). Nur für zwei Befragte des südlichen Abschnitts, deren Bild der Potsdamer Straße noch Erinnerungen an den Zustand vor dem Mauerfall integriert, beginnt „die typische Potsdamer Straße“ am Potsdamer Platz: „Ich kenne das noch, als dort die Kastanienbäume standen und die Kaninchen zwischen den Bäumen herumhoppelten (P16), „Das ist auch eine Generationenfrage, für mich ist der Potsdamer Platz ja erst jung“ (P7). Für die meisten Interviewten gehen die Neue und Alte Potsdamer Straße komplett im Konzept auf: „Potsdamer Straße hat sich entwickelt, und das sind alles neue Straßen. Und das passt irgendwie nicht“ (P3). Ähnlich wie der Bereich des Kulturforums kann das in den 1990er Jahren fast vollständig neu bebaute Potsdamer-Platz-Areal keine Beziehung zur städtischen Umgebung herstellen: „Potsdamer Platz ist inzwischen auch ein Ghetto, für sich. Da passiert ringsherum nichts“ (P11), „das ist halt eine Insel“ (P5), es hat „so ein bisschen die Ufo-Funktion“ (P19) . Eine Befragte aus dem Abschnitt Lützowstraße beschreibt die Neue Potsdamer Straße etwas detaillierter: „Sieht nach Schnellstraße aus, ist ja auch keine Infrastruktur drum herum, kein Geschäft“ (P3). Auch für eine Interviewte, die ihren Arbeitsplatz in der Neuen Potsdamer Straße hat, ähnelt dieser Abschnitt „einer Rennstrecke“, es sei „alles irgendwie so seelenlos, […] offizielle Eingangsportale, die gleichzeitig aber wieder total abweisend sind. […] Man weiß auch gar nicht richtig? Ist es ein Hotel? Ist es ein Friseur? Oder […] so etwas Halböffentliches? Ich selber kenne mich hier eigentlich gar nicht richtig gut aus“ (P4). Die Funktionen werden nicht sichtbar kommuniziert, die Inhalte bleiben daher vage. Das Bild des Areals wird überwiegend durch Touristen und in geringerem Maße durch die Angestellten der Büros geprägt und bildet so einen deutlichen Kontrast zur Potsdamer Straße südlich des Landwehrkanals. Die Potsdamer Straße am Potsdamer Platz ist „fein, neu und touristisch“ (P7). „Da sind ganz andere Menschen, meistens auch Touristen“ (P10), „Der Potsdamer Platz ist für mich nur Touristengegend“ (P17), „es ist doch eher ein Touristen-Sammelpunkt“ (P1), „Tagsüber ist
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das auch so ein bisschen geschäftsmäßig hier. Da gibt es natürlich viele Leute in Anzügen“ (P4). Zwar ist es auch lebendig, aber in anderer Weise als in der südlichen Potsdamer Straße: „Ja, auch wuselig, aber anders. Man merkt, das sind eher Fremde … Was früher Baustelle und Passage war, das ist jetzt zwar besetzt mit irgendwas, aber man hat halt nicht einen Bezug. Also mir fehlt die Verbindung zu den Menschen, die hier auf der Straße herumlaufen. Und für mich ist das auch nur so ein Transit hier“ (P4). Die fehlende oder nicht sichtbare Wohnbevölkerung lässt den Bereich anonym wirken: „Aber da hier niemand richtig wohnt oder […] wenn er hier wohnt, dann ja in irgendwelchen Wohnungen, denen man das von außen nicht ansieht. Und das sind glaube ich auch Leute, die nicht unbedingt eine Blume aufs Fensterbrett stellen. Geht ja gar nicht“ (P4). Während für eine Interviewpartnerin neben den teuren Hotels auch durchaus Angebote für „den Normalbürger“ (P2) existieren, beschreibt ein anderer die Nutzer des Potsdamer Platzes, die sich die teureren Produkte leisten können, als „bessere Lebensklasse, sozusagen“ (P10). Meistgenannte Objekte (auf relativ niedrigem Niveau, nur je 4 der Befragten erwähnen sie) sind die Potsdamer-Platz-Arkaden sowie das Sony-Center. Einzelobjekte des Potsdamer-Platz-Areals insgesamt werden nur von 6 Befragten erwähnt, die Mehrzahl der Nennungen stammt von den beiden am Kulturforum bzw. am Potsdamer Platz Beschäftigten (P2 und P4). Über eine eigene Nutzung spricht am ausführlichsten P2, die früher ihren Arbeitsplatz im Bereich Kulturforum hatte: „sehr schön mal zum Sitzen, Café. Auch gut mal zum Einkaufen“ (P2). Einige weitere nutzen die Kinos des Areals und die Einkaufsmöglichkeiten, eine Befragte wünscht sich eine ähnliche Shopping Mall auch für die südliche Potsdamer Straße: „So eine große braucht man hier auch … Dann können wir die Leute hierher bringen, dass sie mal sehen können“ (P5). Historisch steht der Bereich für den ehemaligen Mauerverlauf und Kriegszerstörungen, der Mythos Potsdamer Platz als Verkehrs- und Vergnügungszentrum zu Beginn des 20. Jahrhunderts wird kaum thematisiert. Für nicht mit den lokalen Gegebenheiten Vertraute suggeriere die Namensähnlichkeit Potsdamer Straße – Potsdamer Platz häufig Identität: „Jetzt nach außen, ganz nach außen hin, ist natürlich der Klang Potsdamer Straße, Potsdamer Platz, der ist ja sehr bekannt geworden wieder“ (P1). Die Nähe zum Potsdamer Platz hat allerdings, wohl auch wegen der ungenügenden stadträumlichen Anbindung zur südlichen Potsdamer Straße, nicht die erhoffte ökonomische Belebung der Potsdamer Straße bewirkt. Aus dem Standort abgeleitete zu hohe Mieterwartungen hatten eher eine negative Wirkung auf die Vermietungsmöglichkeiten für Gewerbeimmobilien: „Die Eigentümer sehen das leider anders. Die Eigentümer orientieren sich nämlich genau an den Potentialen und sagen immer wieder: Wir sind doch hier am Potsdamer Platz, da kann ich das doch verlangen und ist doch ein toller Standort“ (P13).
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Praktische Relevanz besitzt das Potsdamer Potsdamer-Platz-Areal für einige auf Grund der Einkaufsmöglichkeiten sowie der Freizeitnutzung (Kinos, Cafés), die Neue Potsdamer Straße selbst ist dagegen nur Transitraum. Symbolische Relevanz von Einzelobjekten für die Interviewpartner ist kaum nachzuweisen, die internationale Bekanntheit und touristische Attraktivität des Areals führt zwar zu einer konventionalisierten Ortsindexikalität für Berlin, die jedoch entgegen den Hoffnungen der frühen 90er Jahre nicht auf das Leben der südlichen Potsdamer Straße zurückwirkt (s.a. Kap. 1.8.4). Ortsindexikalische Bezüge einschließlich einer gewissen Identifikation mit dem Bereich äußert nur eine Befragte, die ihren Arbeitsplatz früher am Kulturforum hatte und die die Bebauung des Potsdamer Platzes von Anfang an verfolgt hat. Über eine sensorische Relevanz von Einzelobjekten spricht nur die früher am Kulturforum Beschäftigte: „Ich finde sehr schön, das ist aber dann schon Anfang der Potsdamer, dieses DB-Center, die beiden hohen Häuser, ich weiß gar nicht wie das andere heißt [gemeint ist das ‚Kollhoff-Haus‘]. Und ich finde ich immer vom Eindruck, dass das so wie das Eingangstor ist“ (P2). Generell steht der Potsdamer Platz für Lebendigkeit und neue Architektur, aber auch für Anonymität. Abschnittsgliederung nach Bezirken Eine Untergliederung der Potsdamer Straße nach den zugeordneten Verwaltungsbezirken Tempelhof-Schöneberg (Ortsteil Schöneberg) und Mitte (Ortsteil Tiergarten) wird nur von wenigen Interviewpartnern vorgenommen. Von diesen sind die meisten im Auftrag des Quartiersmanagements mit der Potsdamer Straße beschäftigt, daher unterliegt auch ihr Zuständigkeitsbereich dieser räumlichen Gliederung. Die bereits in den Interviewäußerungen zu den Abschnitten nördlich der Kurfürstenstraße deutlich gewordenen Unterschiede zwischen dem Tiergartener und Schöneberger Teil (s.o. zum Abschnitt Lützowstraße) werden im Fazit der Leerstandsmanagerin noch einmal objektiviert: „Auf Grund dieser städtebaulichen Struktur, die bei uns in der nördlichen Potsdamer Straße großstädtisch ist, im Schöneberger Bereich ja schon wieder ganz anders Richtung Dorf sich so runterbricht, eine ganz andere Maßstäblichkeit, haben wir einen ganz anderen Bestand, nicht nur an Gebäuden, sondern auch an Unternehmen und an dem, was da so passiert. Wir haben zum Beispiel, wenn Sie auch in Branchenlisten gucken, wir haben unglaublich viele Rechtsanwälte zum Beispiel im Gebiet. Sieht man ja auch immer nicht so. Liegt sicher daran, dass wir das Arbeitsgericht da haben. Es gibt wahnsinnig viele Architekten, es gibt ziemlich viel Kunst und Kultur, das sind alles so Sachen im Verborgenen, eben dieses Mediencluster von über 400 Unternehmen direkt am Standort, alles so Sachen, die man nicht sieht, aber die auf Grund des, nicht nur der baulichen, auch dieser gewachsenen historischen Struktur da entstanden sind.“ (P13)
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Zusammenfassung „Wenn man das in einer Graphik darstellen würde, so ein Vektor, dann würde ich sagen, sie fängt beim Kleistpark in der Mitte an, hat dann eine Riesendelle, und steigert sich dann bis zum Potsdamer Platz. Also sie ist eine absolut heterogene Straße, die eben da total aufgeschickt ist und vom Kleistpark vom Bürgerlichen abrutscht ins Orientalische und dann ist es irgendwie eine funktionelle Straße, und dann wird sie zur Touristenmeile, also ganz changierend.“ (P7)
Die Strukturierung der Straße lässt spezifische Muster der Ordnung erkennen. Grundlegend ist erwartungsgemäß die materielle Gliederung der Straße durch Querstraßen, diese bilden die Grenzen der einzelnen Abschnitte. Dabei erhalten die Hauptstraßen als Abschnittsgrenzen ein größeres Gewicht, aber auch kleinere Straßen wie die Pohlstraße können strukturierend wirken, wenn durch sie zwei Unterabschnitte mit unterschiedlichen Eigenschaften getrennt werden.87 Zusätzlich zu den kreuzenden Straßen bildet auch der Landwehrkanal, den die Straße überbrückt, eine abschnittserzeugende Grenze. Auf der Basis der Querstraßenstruktur werden die einzelnen Abschnitte durch ihre spezifischen Merkmale88 voneinander unterschieden. Als ein wesentliches unterscheidendes Merkmal lässt sich die Belebtheit des Abschnitts identifizieren. Die hohe („lebendig“, „wuselig“ etc.) bzw. die geringe („ruhig“, „öde“, „leer“) Ausprägung dieses Merkmals wird für alle Abschnitte und meistens von mehreren Befragten thematisiert. Das Merkmal Belebtheit ist korreliert mit der Anzahl der Einzelhandelsbetriebe und der Passantenfrequenz (siehe Kap. 4.3.1.2 / Einzelhandel). Das Merkmal der Nutzungen eines Abschnitts wird ebenfalls differenzierend eingesetzt, wird jedoch überwiegend nur dann explizit genannt, wenn einem Abschnitt relativ homogene Nutzungen zugeschrieben werden (Beispiel Kulturforum). Soziale und kulturelle Zuschreibungen bilden ein weiteres wichtiges Gliederungsmerkmal, das dann aktiviert wird, wenn einheitliche soziale und kulturelle Kategorisierungen der Nutzer bzw. der Objekte eines Abschnitts vorgenommen werden (Beispiele Abschnitt Bülowstraße und Kulturforum). Auch die historische Einordnung der Bebauung spielt eine Rolle. Objektaspekte der Ausdruckssubstanz des Straßenraums und der Randbebauung 87 Die Winterfeldt- bzw. Alvenslebenstraße wird nur von einem Befragten, der früher im Abschnitt Bülowstraße lebte, als strukturierend genannt. Keine Gliederung bewirkt die (nur einmündende) Bissingzeile im Abschnitt Landwehrkanal. 88 Hier wird von Merkmalen, nicht von Eigenschaften gesprochen, da es sich um Eigenschaften handelt, mit deren Hilfe ein spezifisches Objekttoken (im Fall der Straßenabschnitte ein komplexes Objekttoken) als solches erkannt und von den anderen unterschieden wird.
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sind ebenfalls, wenn auch in geringerem Umfang als Unterscheidungsmerkmale präsent. Beispiele sind die Verweise auf heruntergekommene Fassaden eines Abschnitts und Schmutz im Straßenraum. Ästhetische Aspekte generieren ebenfalls Differenzierungen, sie sind z.B. verknüpft mit der Evaluation der Randbebauung und deren Erhaltungszustand. Charakteristische Objekttypen für einzelne Abschnitte verweisen auf praktische Nutzungen wie Gastronomie oder sind wie z.B. die Straßenbäume mit ästhetischen Bewertungen verknüpft. Werden Abschnitte durch Einzelobjekte charakterisiert, ist deren Relevanz meist nicht nur abschnitts-, sondern gesamtstraßenbezogen bzw. überlokal (siehe Kap. 4.3.1.2 Gastronomische Betriebe). Die Möglichkeit, in einem Bereich soziale Kontakte zu knüpfen ist gegenüber einem Bereich mit einer anonymen Atmosphäre ein weiteres Unterscheidungsmerkmal (siehe z.B. Abschnitt Potsdamer Platz). Auch wenn die südlichen Abschnitte Unterschiede baulicher, funktionaler und sozialer Art aufweisen, bleibt der Charakter eines einheitlichen, geschlossenen Straßenraumes vom Kleistpark bis zum Landwehrkanal weitgehend erhalten. Eine deutliche stadträumliche innere Grenze bildet erst der Landwehrkanal, der für einige sogar die Außengrenze der Potsdamer Straße nach Norden darstellt. Eine Abschnittsgliederung auf Grund der Form der Randbebauung ist zwar auch für andere Abschnitte nachzuweisen, der abrupte Wechsel von traditioneller Blockrandbebauung zu offener Bebauung am Landwehrkanal lässt diese Grenze jedoch besonders sensorisch relevant werden. Einen Überblick über die abschnittsstrukturierenden Merkmale gibt die folgende Tabelle 5. Sie zeigt, dass dem Abschnitt Kurfürstenstraße die wenigsten strukturierenden Merkmale zugewiesen wurden, dem Abschnitt Lützowstraße die meisten. Dies bestätigt den Status des Abschnitts Kurfürstenstraße als eines ‚neutralen‘ Ortes: die hier überwiegende praktische Relevanz scheint in ihrer Alltäglichkeit wenig markiert zu sein. Die beiden Abschnitte Goebenstraße und Landwehrkanal sind dagegen deutlich kontrapunktisch (in einem negativ evaluativen Sinne) zu ihren angrenzenden Abschnitten entwickelt. Für die Mehrzahl der Interviewten bilden die mittleren Abschnitte (vom Abschnitt Bülowstraße bis zum Abschnitt Lützowstraße) ‚ihre‘ Potsdamer Straße im engeren Sinne, während die peripheren Abschnitte (Kleistpark bis Goebenstraße und Landwehrkanal bis Potsdamer Platz) als weniger typisch angesehen werden.89 Elemente der imaginären Wanderung sind in einer Vielzahl der Äußerungen nachzuweisen, besonders deutlich sind sie in dem einleitenden Zitat von P7 am Beginn dieser Zusammenfassung zu erkennen.
89 S.o. Kap. 3.4.6 zur an- und abschwellenden Nutzungsdichte von Hauptstraßen, die über eine große Gesamtlänge verfügen.
+ : mehrmals als vorhandenes Merkmal genannt 0 : als Merkmal nicht oder kaum genannt − : explizit als fehlendes Merkmal genannt
+
+
+
Atmosphäre (lebendig/öde etc.)
Abschnitt bis
Bülowstraße
Abschnitt bis
Kurfürstenstraße
Abschnitt bis
Goebenstraße
Genannte strukturierende Merkmale
Tabelle 5: Abschnittsstrukturierende Merkmale der Potsdamer Straße
10
+
0
+
+
+
+
+
+
+
+
+
Lützowstraße
4
0
0
0
0
+
+
0
+
0
0
+
Landwehrkanal
Abschnitt bis Abschnitt bis
6
0
0
+
0
+
0
0
+
+ (Kultur)
+
+
Kulturforum
4/5
−
0
0
0
0
0
+
+
0
+
+/− 0
Potsdamer Platz
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4.3.3.3 Exkurs: „Lücken, Lücken, Lücken“: Leerstellen der Potsdamer Straße „Naja, weil halt überall so komische Lücken sind. Lücken, Lücken, Lücken. Überall sind halt irgendwelche Dinger, die leer stehen.“ (P1)
Leerstand, Wegzug von Läden und anderen Institutionen oder räumliche Lücken werden in 63 Zitationen thematisiert.90 Die Leerstellen besitzen offensichtlich für die Mehrzahl eine erhöhte Relevanz, von den Befragten migrantischer Herkunft werden sie jedoch nicht selbstständig angesprochen.91 Über Ladenleerstand oder die Abwanderung von Einzelhandelsgeschäften sprechen ca. 75 % der Befragten, über räumliche Lücken ungefähr die Hälfte. Laden- und Büroleerstand wird von einigen als charakteristisches Merkmal der Potsdamer Straße südlich des Kanals betrachtet: „Es gibt ab und zu Leerstand, sichtbaren Leerstand. Wechselt aber schnell“ (P3). „Das finde ich dann doch wieder typisch für den unteren Teil, wenn ich dann sehe, dass wieder ein Laden weg ist und dann Reklame drin. Für mich ist das ganz typisch für den Teil, weil ich auch erlebt habe, wie sich das geändert hat. Zwischendurch ist dann mal wieder ein Laden drin, ja. Und ursprünglich muss es ja mal ein großes Geschäft gewesen sein, nicht?“ (P2). Deutlich geprägt vom Leerstand ist vor allem der Abschnitt Lützowstraße bis Landwehrkanal (s. Kap. 4.3.3.2), beinahe die Hälfte der Befragten thematisiert den Leerstand in diesem Bereich. Auch in den Seitenstraßen sei Leerstand sichtbar (P4, P11). Leerstand wird als Symptom von Veränderungen der lokalen Bevölkerungsstruktur und ökonomischen Verschiebungen im Bereich des Berliner Stadtzentrums nach der Wende aufgefasst: „Immer mehr normale Deutsche ziehen hier weg. Und das ist ein ganz großes Problem. Sowohl kulturell sage ich mal, kiezmäßig, also auch wirtschaftlich. Es gibt immer mehr Läden, die leer stehen, gerade in den Seitenstraßen. Die haben natürlich keine Geschäftsentwicklung mehr. Es geht immer weiter zurück. Auch wir haben ja natürlich schon Probleme. Und immer mehr Ausländer kommen nach. Und die kaufen halt nicht in diesen Geschäften ein. Die gehen zu ihren Geschäften und das war es“ (P11). An dem hohen Leerstand in der Straße könne man auch ablesen, dass dies ein „armer Stadtbezirk ist“ (P16). Der Laden90 Nicht einbezogen in diese Zahl sind Reaktionen auf die Fotografien, welche teilweise leerstehende Läden oder Gebäude abbilden, ebenfalls nicht das Interview mit der Leerstandbeauftragten. 91 Hier ist allerdings zu berücksichtigen, dass diese in der Mehrzahl den südlichen Abschnitten zuzuordnen sind, wo weniger Leerstand als im nördlichen Teil (Abschnitt Landwehrkanal) zu finden ist.
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leerstand ist auch Indiz für überzogene Mieterwartungen einiger Hauseigentümer: „Aber da gibt es ja wohl horrende Mieten, also da auch die Gewerbebereiche, die da vermietet sind, die sind mitunter da nicht zu bezahlen. Steht jetzt schon ewig leer wieder. Weiß nicht, muss jeder da sehen, wie er das macht, aber das ist nicht gut für die Straße“ (P11). Eine Ursache für die schwierige Vermietung von Gewerbeflächen im Gebiet ist laut der Leerstandsmanagerin auch das Image als Prostitutionsgegend: „Unser Gebiet hat mit dem Stigma zu kämpfen, das die anderen Quartiersmanagementgebiete weniger betrifft, nämlich mit der Prostitution“ (P13). Für eine Interviewpartnerin, die nicht Anwohnerin der Potsdamer Straße ist, stehen leere Ladenräume für geringere Nachfrage und erschwingliche Wohnungsmieten: „Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich auch immer ganz froh bin, wenn ich leere Geschäfte sehe, weil ich immer denke, hier lassen sich die Mieten höchstwahrscheinlich bezahlen. Also, für mich ist das eben nicht so ein negativer Eindruck, der da entsteht. Das ist aber für die Geschäftsleute dort wahrscheinlich genau andersherum.“ (P4). Insgesamt wird der Leerstand größerer Gewerbeflächen, wie sie z.B. nach dem Wegzug des Tagesspiegel entstehen würden, jedoch als „fatales Signal“ (P16) für die weitere Entwicklung der Potsdamer Straße betrachtet. Der sichtbare Leerstand und der häufig daraus resultierende Verfall der Bausubstanz lässt die jeweiligen Häuser und Abschnitte „trostlos und abgefuckt“ wirken (P8), es ist „traurig“ (P12) und „entsetzlich“ (P11). Das Straßenbild verliert seine Attraktivität: „Man sagt ja, dass das den Effekt hat, dass das weitere Nachteile nach sich zieht. Klar, das schadet dem Ruf. Wir haben sowieso keine Laufkundschaft in der Potsdamer Straße, dafür ist auch die Strecke zu lang, denke ich, und passiert zu wenig. Aber das ist sicherlich noch mehr abstoßend, das verleitet niemanden, in so einer Straße spazieren zu gehen und zu gucken. Und das ist bei uns auch viel Gewerbe, eben deswegen vielleicht, wo es nicht so einen riesigen Spaß macht zu gucken. Je mehr Leerstand man hat, umso desolater wirkt so ein Gebiet, das fällt nach und nach in sich zusammen irgendwann.“ (P13)
Leerstand in einem größeren Objekt wie dem BVG-Gebäude kann die gesamte Ökonomie der Straße infizieren: „… gerade Potsdamer/Hauptstraße, das sind ja richtig ein paar Tausend Arbeitsplätze, die da verloren gehen, und das ist natürlich schon für die Infrastruktur, wenn das natürlich noch mehr abbröckelt, man dann wieder mehr Leerstand oder Verwahrlosung hat, ist das natürlich alles nicht super“ (P19). Besonders der geplante bzw. in den letzten Jahren bereits vollzogene Wegzug alteingesessener Fachgeschäfte und größerer Institutionen in den vergangenen Jahren wird vielfach thematisiert (s.a. Kap. 4.3.1.1. und 4.3.1.2): „Ich meine, es gab ja bis vor kurzem auch noch Struppe & Winkler, also eine große juristische Fachbuchhandlung. Drüben war Jacobs & Schulz, eine alte, traditionelle Fotofirma. Das
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ist ja alles weg. Und jetzt gehen auch die Verlage“ (P1). Die Gewerbebeauftragte empfindet die geplanten Abwanderungen als „dramatisch“ (P19). „Dann war es früher ein Bereich von vielen Druckhäusern, die nach und nach alle verschwunden sind. Es war Zentrum von vielen anderen großen Firmen. Die BEWAG mit ihrer Zentrale war nicht weit davon in der Stauffenbergstraße. Das hat die ganze Straße hier wesentlich stärker belebt, also nicht nur mit Autos sondern gerade auch fußgängermäßig. Verschiedene Versicherungen waren hier ansässig, verschiedene Verlage. Tagesspiegel natürlich Gott lob ist noch hier, noch. Die gehen im Sommer jetzt leider weg. Das wird noch einmal eine ganz riesengroße Lücke hier reißen. Die Konsequenzen kann wahrscheinlich noch gar keiner abschätzen. Denn da geht ja noch gutes Publikum auch ein und aus. Das wird dann wegfallen. Ganz, ganz schlimm. Ein alt eingesessenes Geschäft, Struppe & Winkler, haben ja letztes Jahr uns den Rücken gekehrt. Die waren auch hundert Jahre hier, glaube ich, an der Potsdamer Straße.“ (P11)
Um dem Bild einer verödenden Straße entgegenzusteuern, würden seit einigen Jahren verstärkt Zwischennutzungen, besonders aus dem Kunst- und Kulturbereich für leerstehende Laden- und Büroflächen angestrebt (P18). So würden einige Flächen von Kunstprojekträumen und Galerien bespielt, welche über das Quartiersmanagement gefördert sind: „Ja, wie gesagt, wir hatten einen ziemlich hohen Laden-Leerstand. Der Höhepunkt war sicherlich so um 2000, 2003, da konnten wir ein bisschen entgegenwirken mit verschiedenen Maßnahmen. Angefangen hatten wir mit einer temporären Bespielung von leerstehenden Räumen durch Kunst- und Kulturgeschichten, das war also eine Strategie, die wir gefahren sind, dass wir wussten, Künstler suchen immer Räume. Wir hatten dann mit den Eigentümern oder mit den Verwaltern das ausgehandelt, dass höchstens zu Betriebskosten die Räume dann angemietet werden oder völlig kostenfrei, weil einige waren auch dran interessiert, dass sie in der Erdgeschoss-Zone keine leblose Fassade haben, sondern dass man sieht, dass da was passiert. Weil das zieht ja andere Sachen nach sich. Und das war als Strategie ganz erfolgreich, weil zumindest gezeigt werden konnte, es ist mit einer temporären Vergabe von solchen Flächen möglich, den absterbenden Charakter nicht so offensichtlich zu machen“ (P18, Mitarbeiter des QM). Allerdings lassen die Strukturen der Gewerberäume im Bereich Potsdamer Straße überwiegend großflächige Nutzungen zu: „Und die Kleinteiligkeit an Räumen, die der Reuterkiez92 hat, was ja eigentlich eher so Wohngebiet als Mischgebiet ist, denke 92 Der Reuterkiez im nördlichen Teil des Berliner Bezirks Neukölln steht seit ca. 2003 exemplarisch für die Aufwertung eines Gebiets mit hoher Leerstandsquote durch ein engagiertes Zwischennutzungsmanagement, das leerstehende Läden und Gewerbeflächen an Künstler und junge Unternehmensgründer vergibt (zur Projektbeschreibung siehe
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ich, von den einzelnen Gebäudeteilen, diese Art von kleinen Läden, einer neben dem anderen, das haben wir einfach nicht. Wir haben diese riesigen Häuser mit Flächen ... Mein größter Pool besteht aus Büroflächen von 200 Quadratmetern aufwärts, und das ist dann die Hälfte eines Hauses. Und diese kleinen Läden, sehen Sie ja auch vom Ansehen, das ist selten, dass es mal diese kleinen sind, die man mal eben mit einem Laden bespielen könnte, der putzige Taschen verkauft oder so was. [...] Darum, das passt einfach da so gar nicht“ (P13). Die großen Gewerbeflächen lassen hier syntaktisch keine kleinräumigen paradigmatischen Elemente zu (vgl. Kap. 2.2.4).93 Neben den Laden- und Büroleerständen als Nutzungslücken sind Teilbereiche der Potsdamer Straße auch durch räumliche Leerstellen charakterisiert. Nach dem geschlossenen Straßenraum im Süden wird das anschließende Kulturforum mit seinen Solitären und dem weiter verbreiterten, nicht durch Baufluchten eingefassten Straßenband als leer, „unbebaut“ (P7) empfunden (siehe Kap. 4.3.3.2): „Das ist halt die große Lücke da vor der Stabi. … Also wenn da keine Ausstellungen sind, ist es tot“ (P1), „es ist ja dieser blöde leere Platz da“ (P2), „das ist Putenschlund“94 (P14). „Das ist so ein kahler Fleck“ (P2), „man hat es unheimlich weit gemacht“ (P2). Für die 80jährige ergibt sich die Empfindung einer räumlichem Leere nicht nur durch den aktuell sichtbaren Bruch in der Bebauungsstruktur, sondern auch diachron, in den Erinnerungen an das Berliner Zentrum vor den Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs: „Und der Potsdamer Platz, der dann völlig abgeräumt wurde, weil die Angst da war, dass da Leute rüberkönnten. Diese Brache, die sich dann da eingestellt hat, das hat es in den anderen Städten alles nicht gegeben“ (P14). Nicht nur das Band des Kanals, sondern das gesamte „leere“ Areal des Kulturforums wirkt als stadträumliche Grenze Richtung Norden (s.a. Kap. 4.3.3.1 und 4.3.3.2): „Und ja hier, die Verbindung nach Mitte. Da gibt es eben dieses Brandenburger Tor und den Pariser Platz. Das ist ja nicht weit. Aber da ist wieder so ein großer leerer Raum dazwischen. Das grenzt eben nicht unmittelbar aneinander“ (P4). „Das ist … aber die Trennlinie eigentlich, das Ende“ (P4). Ebenso bilde die östliche anschließende Brache des Gleisdreieckgeländes mit nur wenigen Ost-WestQuerverbindungen eine Unterbrechung im Stadtkontinuum (P12). Auch für den südlichen Teil der Potsdamer Straße werden bauliche Lücken beschrieben, die jedoch eine Grundstücksbreite nicht überschreiten, wie das leere Grundstück Ecke Bundestransferstelle Soziale Stadt 2008, vgl. auch z.B. Saskia Vogel, taz vom 06.11. 2008, http://www.taz.de/1/berlin/artikel/1/parallelwelten-im-reuterkiez/ [27.12.2011]). 93 Für große international arbeitende Galerien können diese großzügigen Räume jedoch durchaus attraktive Ausstellungsflächen bieten (s.o. Kap. 1.8.4 zu den neuen Nutzungen der ehemaligen Tagesspiegel-Druckerei). 94 S.o. Kap. 4.3.3 zum Kulturforum.
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Alvenslebenstraße (P19, P20) oder die nur zweistöckige Eckbebauung Kurfürstenstraße: „Die andere Ecke, diese pavillonartige Bebauung von Woolworth, die reißt natürlich auch so ein riesiges Loch in die Straße, und auch das ist natürlich nicht unbedingt sehr einladend“ (P16). Räumliche Leerstellen und Nutzungslücken verfügen über (meist im negativen Sinne) sensorische, praktische und symbolische Relevanz. Stadträumlich ortsindexikalisch kann z.B. Ladenleerstand wirken, der auf geringe Kaufkraft im Quartier verweist. Zur semiotischen Interpretation stadträumlicher Leerstellen vgl. Kapitel 3.4.8. 4.3.3.4 „Diese ruhigen kleinen Seitenstraßen“: die Potsdamer Straße im nahräumlichen städtischen Kotext Von den über 148 genannten Einzelobjekten befinden sich 106 direkt an der Potsdamer Straße, 34 sind im näheren städtischen Umfeld zu verorten, die übrigen im weiteren Berliner Stadtgebiet. Dies zeigt deutlich, dass in die Vorstellungen einzelner städtische Räume immer auch Elemente des städtischen Kotextes einfließen. Eine Abtrennung dieser Elemente ist in der Analyse der Vorstellungen nicht sinnvoll, da damit die enge funktionale und strukturelle Vernetzung von Stadträumen aus der Betrachtung ausgeschlossen würde. Allerdings weisen die Objekte im Nahbereich durchschnittlich weniger Nennungen auf als die direkt an der Potsdamer Straße gelegenen, mehr als 5 Zitationen (so viele entfallen auf den Nelly-SachsPark und das Restaurant Maultasche in der Lützowstraße) werden von keinem Objekt erreicht. Im Folgenden werden nur die Äußerungen zum näheren städtischen Kotext allgemein und den diesem Gebiet zugeordneten Straßen betrachtet, die Nennungen einzelner Objekte werden nicht im Detail ausgewertet. Der städtische Nahbereich (ohne Potsdamer Platz) wird in über 120 Äußerungen thematisiert, davon werden fast 90 außerhalb der Beantwortung der spezifischen Frage nach dem Nahbereich der Potsdamer Straße gemacht. Lässt man die Aussagen zum Potsdamer Platz außer acht, die bereits in Kapitel 4.3.3.2 analysiert worden sind (der Potsdamer Platz kann sowohl als Kotext als auch Abschnitt der Potsdamer Straße betrachtet werden), führen die Kurfürstenstraße (19 Zitationen von 12 Befragten) und die am Kleistpark südlich an die Potsdamer Straße anschließende Hauptstraße (19 Zitationen von 11 Befragten) die Nennungen von Straßen im Nahbereich95 an. Es folgen die Pohlstraße (15 / 8) und 95 Einbezogen wurden kreuzende und parallele Seitenstraßen im nahen städtischen Umfeld der Potsdamer Straße zwischen Maaßenstraße/Winterfeldtplatz/Goltzstraße im Westen und Gleisdreiecksgelände / Trasse der S1 im Osten sowie die den Verlauf der Potsdamer Straße fortführenden Straßen (Hauptstraße, Leipziger Straße).
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die Steinmetzstraße (8 Zitationen / 7 Befragte). Erstaunlicherweise wird die Bülowstraße als kreuzende Hauptverkehrsstraße und Verbindung Richtung Osten und Westen nur von 4 Befragten erwähnt. Erwartungsgemäß findet sich die Opposition der Objekttypen Hauptstraße vs. Nebenstraße bzw. Geschäftsstraße vs. Wohnstraße mit ihren jeweiligen Standardmerkmalen auch in den Aussagen über das nahe Umfeld der Potsdamer Straße: „Das ist schon ganz anders. Diese ruhigen kleinen Seitenstraßen und Wohnstraßen hier, da ist ja kaum was los. Das ist ja wirklich nur Wohnen und keine Geschäfte mehr“ (P7), „Also, da kann man nicht viele Leute an dieser Straße sehen. Auch nicht Geschäfte, Cafés oder so“ (P6). Der äußere Eindruck der Seitenstraßen wird positiver bewertet als der der Potsdamer Straße: „Ja, die finde ich interessant in letzter Zeit. Weil eben Freunde von mir hingezogen sind, in die Kurfürstenstraße. Aber eben in den Teil, der Richtung Kreuzberg zeigt. Und da sind Pohlstraße, Kurfürstenstraße, ich weiß gar nicht, wie die alle heißen. Ja, die haben eben sozusagen parallel zur Potsdamer Straße hinten entlang dieses Golfplatzes, der da entsteht oder entstanden ist ... Ja, da gibt es ganz viel Gewerbeflächen. Das sieht jedenfalls so aus. Und noch ziemlich große Gründerzeitfassaden. [...] Die Straßen sind relativ ruhig ... Auf der anderen Seite sieht es ganz anders aus. Also in Richtung Charlottenburg und Schöneberg sind die unheimlich geschäftig. Und dort gibt es Kopfsteinpflaster, relativ wenig Autos, die durchfahren, breite Bürgersteige, und viele Wohnungen. [...] Jedenfalls, wenn ich mir da eine Wohnung suchen würde, würde ich in den ruhigeren Teil ... also würde ich da suchen wollen. Ja, weil man da das Gefühl hat, man hat noch so einen Rückzugsbereich, so ... Da gibt es irgendwo auch noch so ein Stückchen Grün hinten.[…] Also dieser Golfplatz ist das eine, aber dann kommt ja auch dieser Gleisdreieck-Park, der da im Entstehen ist. Und auch noch zwischen Bülowbogen und diesem Teil, da gibt es ja auch eigentlich ein ganz schönes Stück Grün.“ (P4)
„Also Seitenstraßen gibt es ja sowieso auch zum Teil ganz schöne. Die gehören auch dazu. Die gehören aber für mich nicht unbedingt zur Potsdamer Straße. Weil, das ist das Quartier, das ist klar. Aber weil die Potsdamer Straße ja eben auch durch dieses Laute ... und Geschäftsstraße. Es gibt ein paar schöne Seitenstraßen“ (P3). In dieser Äußerung wird die dialektische Beziehung Straße vs. umgebendes Quartier sichtbar: einerseits wird der Potsdamer Straße ein markanter eigener Charakter zugeschrieben, der sich unabhängig von dem der Seitenstraßen entwickelt, andererseits erhält dieser Charakter erst im Kontrast zu der sehr unterschiedlichen Atmosphäre und Eigenschaften der Seitenstraßen seine Markanz. Die Relation Hauptstraße vs. Seitenstraße wird auch in anderen Aussagen beleuchtet: „Es gibt auch keinen Kiez-Charakter, jedenfalls kenn ich den nicht. Nun wohne ich ja auch nicht hier, ich bewege mich natürlich nicht so sehr in den Seitenstraße. [...] Das ist relativ belanglos, die Potsdamer Straße strahlt nicht in die Seitenteile ab, das ist eine
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Verkehrsader. Mehr ist da nicht. Deshalb ist hier kein Kiez-Charakter“ (P7). Ähnlich äußert sich auch die Gewerbebeauftragte eines QM: „Ich glaube, die [Seitenstraßen] sind alle ziemlich mit sich beschäftigt. Und die Potsdamer Straße wird nicht als Zentrum betrachtet, sondern eben eher als Schneise, die was abschneidet voneinander, weil es ja immer eine harte Hürde ist. Im QM haben wir uns darauf verständigt, diese Teilkieze eben speziell auch als Kieze zu betrachten und die Kommunikation ... also, und das dort vertiefend zu bearbeiten. [...] Und die Potsdamer wird eher, eben wie gesagt, zum Einkaufen dann benutzt oder dann eben gemieden. [...] Ich denke, wenn man sagt, wo man wohnt, dann wird man schon sagen: an der Potsdamer Straße, also weil die eben bekannt ist berlinweit. Aber direkter Lebensmittelpunkt wird sich da weniger abspielen, es sei denn, man wohnt dann direkt an der Potsdamer Straße, aber selbst dann ….“ (P19)
Für diese beiden bildet die Potsdamer Straße nicht das Zentrum eines sich als Einheit verstehenden Kiezes, das seine Lebendigkeit und Nutzungen auch in Seitenstraßen hineinträgt. Allerdings sind diese Interviewten dem Schöneberger Abschnitt der Potsdamer Straße zuzuordnen, der grundsätzlich negativer bewertet wird. Für eine Befragte aus dem Abschnitt Lützowstraße ist ihr Bild der Potsdamer Straße mit anderen sozialen Gruppen verknüpft als das Bild der Seitenstraßen (s.a. Kap. 4.3.1.5): „Man hat aus irgendeinem Grund das Gefühl – jetzt, wo du mich so fragst – es spiegelt sich nicht unbedingt ... Wenn ich an der Potsdamer Straße sitze, was ich auch öfter mal in der Kneipe von meinem Freund tue und Leute gucke, dann kommen da zwar auch die ganzen Leute aus den Seitenstraßen vorbei, auch die, die ich kenne. Die gehen aber in dem Bürgersteiggewusel auf der Potsdamer Straße unter in der Wahrnehmung“ (P15). Mehrere sehen in der Potsdamer Straße auch eine sozialräumliche Grenze mit einem eher bürgerlichen Wohngebiet im Westen und einem hohen Anteil migrantischer und sozial schwacher Bevölkerung in dem östlich angrenzenden Gebiet: „Da gibt es schon Unterschiede natürlich. Aber teilweise ist das, was auf der Potsdamer Straße passiert, eben auch gespeist von den Nebenstraßen. Zum Beispiel eine gewisse Kriminalität oder so. Aber so äußerlich sind einige Straßen im Umfeld sehr viel ruhiger, bürgerlicher auch. [...] Die östliche Seite der Potsdamer Straße ist glaube ich problematischer als die westliche“ (P9). „Wenn Sie jetzt von Norden kommen, was links von der Potsdamer ist, das ist schon ein sozial problematisches Umfeld“ (P14). Auf der anderen Seite sei dagegen der alte Westen: „Da geht es dann schon wieder rüber Richtung Schöneberg, da ist dann auch schon wieder eine bessere Sozialstruktur, mit den alten Villen, die da sind. Und das französische Gymnasium. Es ist schon gemischt. Aber eine Grenze ist die Potsdamer Straße Richtung Osten hin, Richtung Potsdamer Bahnhof, da ist schon ein anderes Umfeld“ (P14). Auch der Mitarbeiter des QM Tiergarten-Süd äußert sich ähnlich:
356 | DIE STRASSE, DIE DINGE UND DIE Z EICHEN „Die Potsdamer Straße muss man auch noch mal so verstehen, sie ist ja eine stadträumliche Barriere, jede Straße mit so einem Verkehr ist eine stadträumliche Barriere. Wir haben einen östlichen Teil, der sich von der Zusammensetzung der Bevölkerung tatsächlich und von der baulichen Struktur oder was für technische Infrastruktur oder sonstige Sachen da sind, wesentlich unterscheidet von dem westlichen Teil. Im östlichen Teil haben wir einen höheren Bevölkerungsanteil, der sozial schwächere Hintergründe hat. Migrationshintergrund, weniger Bildungshintergrund, Transferempfänger sind, die in bestimmten Häusern, Quartieren konzentriert sind. [...] Während wir dann aber eben westlich der Potsdamer Straße andere Strukturen haben dann. Hochherrschaftlicheres Wohnen von der Altbaustruktur her, im Rahmen der Internationalen Bauausstellung dann auch so Stadtvillen hingesetzt, also dann tatsächlich auch eine andere Klientel dann auch Wohnungen gefunden haben. Man kann in der Regel, könnte man ein bisschen versuchen, die Mischung dann auch zu steuern.“ (P18)
Unter den Straßen im Umfeld werden die südlich an die Potsdamer Straße anschließende Hauptstraße sowie die kreuzende Kurfürstenstraße von den meisten Befragten genannt. Bei vielen sind die Vorstellungsbilder der Hauptstraße von denen der Potsdamer Straße, sicher auch auf Grund der Kontinuität des Straßenverlaufs, nicht deutlich voneinander abgegrenzt, sondern gehen ineinander über: „Das geht weiter. Kaiser-Wilhelm-Platz zieht sich es runter, denke ich mal“ (P11), „Und danach wird es dann wieder – ich weiß nicht, heißt es dann überhaupt noch Potsdamer Straße? – da wird es dann wieder bürgerlicher und ruhiger, und kommt man dann zum Kaiser-Wilhelm-Platz ... na ja, da heißt es ja eigentlich schon wieder Hauptstraße, eigentlich. Aber da kommt dann so der ruhige Teil, Chill-out der Potsdamer Straße, auch, wenn sie vielleicht nicht mehr so heißt“ (P8), „Eigentlich erst ab Kleistpark würde für mich wieder ein attraktiverer Teil anfangen. Richtung Hauptstraße. Eigentlich ist das dann ja auch schon fast Hauptstraße. Richtig, fängt ja schon ab Kleistpark an“ (P18). Die Hauptstraße wird als in manchen Aspekten ähnlich (Billigläden, Migranten), aber auch etwas gehobener wahrgenommen: „Die Hauptstraße ist natürlich zwischen Akazien- und Dominicusstraße ein bisschen ähnlich. […] Na ja, mit diesen ganzen Billigläden. Da gibt es ja auch wenig Kneipen und Restaurants. Vielleicht ist das auch ungemütlich, an so einer der Hauptstraße draußen zu sitzen. Ist vielleicht ein bisschen hochwertiger als hier in der Potsdamer Straße“ (P12). Funktional wird die Hauptstraße als Einkaufstraße betrachtet: „Da sind auch mehrere Läden, Schwimmbad und Jugendmuseum. Das finde ich wirklich ganz schön. Wenn man da so hin und herläuft, da hat man was“ (P5), „Das hat sich nicht schlecht entwickelt durch dieses kleine Einkaufszentrum, obwohl ich von Einkaufszentren kein Freund bin, denke ich mal, für diesen Platz hat es sich ganz gut entwickelt“ (P11). Der Kurfürstenstraße wird fast ausschließlich mit dem Inhalt Prostitution verbunden: „Aber so ein ... es gibt ja auch in der Kurfürstenstraße so einen Straßenstrich“ (P4), „Wenn ich etwas nördlicher wieder in die Seitenstraße, die Kurfürsten-
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straße und so, das hat für mich etwas sehr Kriminelles, und den Frauen, denen geht es auch mit Sicherheit schlecht, ne“ (P9), „Und in der Kurfürstenstraße noch der Straßenstrich, gibt es schon immer. Gab es schon immer. Wird es auch immer geben. Der stört im Grunde auch gar nicht“ (P11). Der Teil der Kurfürstenstraße östlich der Potsdamer Straße, wo sie ruhige Wohnstraße und neuer Galeriestandort ist (s.a. Kap. 4.3.1.3.), wird nur von einzelnen wahrgenommen (P4, P15). Die Pohlstraße steht exemplarisch für eine angenehme, ruhige Wohnstraße im Kiez: „Wie gesagt, die Nebenstraßen im nördlichen Teil hier gerade Pohlstraße finde ich sehr nett zum Wohnen“ (P8), „Wir selber, wir wohnen in der Pohlstraße in diesen Häusern, die da mal als Musterhäuser für die Bauausstellung gebaut wurden. Was wir sehr schätzen, das sind die begrünten Innenhöfe, die fast parkähnliche Formen haben. Das ist sehr schön“ (P16). Dagegen wird die zwischen Goeben- und Pohlstraße östlich parallel zur Potsdamer Straße verlaufende Steinmetzstraße von einigen, die sie nennen, eher mit Kriminalität verknüpft (s.a. Kap. 4.3.1.9): „Kurz bevor ich weg zog, da gab es eben in der Alvenslebenstraße und in der Steinmetzstraße, Steinmetz ist praktisch nach Osten eine Parallelstraße. Und da gab es halt so Jugendbanden, die Leute terrorisiert haben, die die Leute auch aus ihren Läden vertrieben haben und so“ (P9). Für die Jugendlichen ist sie jedoch neben zwei anderen Orten ein wichtiger Treffpunkt: „Ja, hauptsächlich ist es da ein Treff von Jugendlichen. […]. Also, wo ich denn hier gelebt habe, habe ich mich denn mit meinen Freundinnen auch dort getroffen. Das sind so, finde ich, hier die Punkte, wo die Jugendlichen sich treffen“ (P17). Die westlich der Potsdamer Straße gelegenen Straßen um den Schöneberger Winterfeldtplatz herum werden von der Hälfte der Befragten erwähnt. Als ehemaliges Szeneviertel der 1980er Jahre wird es von einer jüngeren Interviewten mit einer anderen Generation verknüpft: „Also so das Hinterland, für mich so empfunden, ist ja dann dieses Schöneberg mit dieser [...] Goltzstraße und so. Die waren ja, die Leute, die da lebten, waren zwar nicht besonders bürgerlich. Aber die waren einfach grundsätzlich mal zehn Jahre älter als man selbst. Und das war eben eine andere Epoche“ (P4). Im Unterschied zur Potsdamer Straße selbst und den östlichen Seitenstraßen hätte dieses Gebiet jedoch „Kiezcharakter“ (P7) und sei „unheimlich geschäftig“ (P4). „Der Kiez ist ja auch nun nicht so riesig groß, aber das ist Winterfeldtmarkt, oder Nollendorfplatz, das ist so der Kiez in diesem Bereich, aber das strahlt hier nicht ab. Hier gibt es so was nicht“ (P7). „In der Goltzstraße gibt es zum Beispiel so viel Läden, Imbisse nicht, aber Läden, indische Läden, aus anderen Ländern. So viele Leute sind auch da, wenn am Nollendorfplatz96 Markt ist, ist es ganz schön voll“ (P5). Die bürgerlich-alternative Atmosphäre dieses Viertels zieht auch die 20jährige der Potsdamer Straße vor und weist auf die sicht96 Gemeint ist wohl der Wochenmarkt am Winterfeldtplatz.
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bare Nutzungssegregation hin (s.a. Kap. 4.3.1.5): „Also, Richtung Winterfeldtstraße und so ist gut. Also, da gefällt es mir. Da wird es ja wieder ein bisschen schöner. Da sind auch dann noch schöne Cafés. Ja. Aber am meisten gefällt mir der Nollendorfplatz. [...]. Da sind schöne Cafés und da sind wiederum wieder andere Leute. Ich weiß nicht, es ist so, als ob hier drum herum eine Mauer ist und die Leute hier nicht dahin gehen und die nicht hier rein kommen“ (P17). Dagegen schätzt eine andere Anwohnerin die im Vergleich mit den belebteren, aber engeren Seitenstraßen relative Breite der Potsdamer Straße: „An der Seite ist Autoparkplatz, zwei Streifen. Aber wenn von der anderen Seite ein Auto kommt, da kann man wirklich, ganz vorsichtig muss man machen. Sehr eng“. In der Potsdamer Straße sei es „gemütlicher, kein Drängeln, bequemer. Und für die Leute ist es auch sicherer“ (P5). Ein Befragter hofft, dass sich die lebendige Kiezatmosphäre der westlichen Seitenstraßen bis zur Potsdamer Straße und darüber hinaus ausdehnen könnte: „Und wir haben hier diesen Bereich. Winterfeldtstraße, Maaßenstraße mit anschließend diesem bunten Schwulenkiez, der auch seine Bedrohlichkeit weitestgehend verloren hat, einfach nur auch ein Stück weit buntes Berliner Leben symbolisiert. Daneben die Goltzstraße mit ihren vielen Läden, Akazienstraße, das sind ja Sachen, die hängen ja dicht dran […]. Und die Erfahrung zeigt einfach, dass eben immer mehr kommt, und die müssen sich dann am Rand ansiedeln, und das bedeutet, dass es Richtung Potsdamer Straße wächst und das ist eine Entwicklung, glaube ich, die wird passieren, ob sie in fünf Jahren oder zehn Jahren passiert, das weiß ich nicht“ (P20). Mehrfach erwähnt wird auch die kleine parallel zum Landwehrkanal verlaufende Querstraße Am Karlsbad. Sie wird relevant auf Grund der neu geplanten, für die Umgebung ungewohnten Nutzungen. Dort werde „gehobenes Wohnen entwickelt mit so einem alten Senatsgebäude“ (P18), man versuche „Nobel-Instandsetzungen“ (P16). Deutlich symbolisch relevant erscheinen wieder die sozialen Zuschreibungen für den Nahbereich, auf praktische Relevanz verweist die Opposition Wohnen vs. Einkaufen. 4.3.3.5 „Total zentral und völlig peripher“: die Potsdamer Straße im städtischen Kotext Gesamtberlins Nach der Lage der Potsdamer Straße im Gesamtberliner Kotext wurde direkt gefragt, einige thematisierten die Lage jedoch auch eigenständig. Über die Hälfte der Interviewpartner hebt die Zentralität der Straße hervor: „Zentraler geht’s ja nicht. Es ist ja wirklich mitten in der Stadt“ (P1), „Also das ist superzentral. Weil man ist wirklich überall in kürzester Zeit. Ich kenne eigentlich keine bessere Lage“ (P3), „Und dann gefällt mir total gut die zentrale Lage, das ist also Potsdamer Platz, Tiergarten, Kulturforum und Ku’damm, dass das quasi fußläufig ist“ (P15). Einige schränken diese Aussage etwas ein: „Es ist halt eine Straße im westlichen Zen-
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trum“, sie ist „relativ zentral“, es sei schwieriger in die östlichen Bezirke wie Friedrichshain und Prenzlauer Berg zu kommen (P4). Einer betrachtet sie als „Gelenkstück“ zwischen der City West und der City Ost (P18). Die Potsdamer Straße liege nicht nur in der Mitte Berlins, als ein Abschnitt der Bundesstraße 1 sei sie auch Element des überbezirklichen Straßennetzes: sie sei „eine der Schlagadern von Nord nach Süd und von Süd nach Nord“ (P7), „verbindend“ sei eine ihrer charakteristischen Eigenschaften (P11). „Das merkt man, wie das geographisch angelegt ist, das verbindet schon die ganze Stadt“ (P8), sie sei die „Hauptachse, und da ist es genau in der Mitte. Und dann eben noch in Mitte“97 (P3). Ihre heutige topographisch zentrale Lage im Gesamtberliner Stadtgebiet kontrastiert mit ihrer früheren Randlage im Westen des geteilten Berlin: „Das gibt es natürlich auch selten, dass in einer Stadt eine so große Straße so lange am Stadtrand lag gewissermaßen durch den Mauerbau“ (P1). Die topographische Randlage hätte auch Menschen von den Rändern der Gesellschaft angezogen: „Und in diesen Randzonen [...] da haben sich all die Menschen niedergelassen, die in den klassischen Wohngebieten unerwünscht sind. Das war hier Rotlichtbezirk, hier gab es die schrägsten Gewerbeformen, und dieser Ruf, der hat diesen ganzen Kiez hier irgendwie stark beeinflusst, und deswegen sind andere Leute nicht hergekommen. Es gab echt für die Bonner Zuzügler Ratgeber, in welche Stadtteile sie auf keinen Fall ziehen sollten. Und da war dieser hier ganz oben gestanden“ (P16). Die Unterbrechungen der Wege durch die Teilung wirkten immer noch nach: „Aber dann sind halt die Wege verschoben, und ich glaube, solche Sachen machen viel aus. Wenn irgendwie mal Wege in so einer Stadt verdreht werden und umgebaut, dann funktioniert der Lauf nicht so. Das ist ja ohnehin alles geheimnisvoll, wie das alles so funktioniert“ (P1). Die Potsdamer Straße sei heute noch zentral und peripher zugleich: „Das ist eben das Komische, dass sie total zentral ist, und dann wiederum völlig peripher. Das ist ja das ... Dann guckt man an den Landwehrkanal, da kommt auch niemand rüber. Das ist wie so eine Insel, eine ganz merkwürdige Insel im Zentrum von Berlin“ (P12).98 „Je mehr ich darüber nachdenke, je mehr denke ich, wir fahren hier mit einer Fähre raus“ (P12). Sie sei von den umgebenden Vierteln einerseits durch topographische Grenzen wie das z. Z. noch brachliegende Gleisdreieckgelände, andererseits durch die Sogwirkungen anderer attraktiverer Viertel wie dem Winterfeldt- oder Akazienkiez abgetrennt:
97 Im Bezirk Mitte. 98 Zur Berechnung der Zugänglichkeit von Räumen vgl. Hillier/Hanson/Peponis 1983/1984, s.a. Kap. 2.4.1.
360 | DIE STRASSE, DIE DINGE UND DIE Z EICHEN „Da ist auf der einen Seite Park, und dann kommt auf der anderen Seite dieser MöbelHübner. [...] Irgendwie ist das hier alles so ein bisschen zersiedelt. Fällt so ein bisschen auseinander, wirkt nicht so kompakt. [...] Da ist das Gleisdreieck, dann kommt natürlich gleich der ganze Einzugsbereich Winterfeldplatz. Die orientieren sich dann auch alle zur Akazienstraße, die kommen hier nicht rüber. Also, wir hängen hier so ein bisschen zwischen Grün und Nirgendwo. [...] Wir haben einfach eine große Konkurrenz. Nach links ist man gleich in Kreuzberg, in die andere Richtung Winterfeldplatz, was da so alles ist. Und dann kommt diese große Brache des Gleisdreiecks. Dann ist da dieser kleine Strich, der übergebliebene.“ (P12)
Für den Jugendlichen steht das Viertel um die Potsdamer Straße exemplarisch für die um die östliche Innenstadt herum gelegenen Bezirke mit vielfältigen sozialen Problemen: „Die haben sozusagen die – wie soll ich das nennen? – schwierigen Bezirke alles genau in die Mitte Berlins gestellt und drum herum ... So im Kern, Kreuzberg und Schöneberg und Wedding, das sind die schlimmen Bezirke und drum herum“ (P10, s. a Kap. 4.3.1.5). 4.3.4 Läden, Verkehr, Vielfalt: (Ideal-)Konzepte der Großstadtstraße Alle Interviewten wurden nach ihrem Konzept einer Großstadtstraße explizit befragt. Mit kleineren Abweichungen lauteten die Frage: Was ist für Sie eine Großstadtstraße? Welche Merkmale hat sie oder sollte sie haben? 8 typische Elemente oder Eigenschaften wurden von jeweils mehr als 5 Befragten genannt. Als charakteristische Merkmale einer Großstadtstraße werden von über der Hälfte der Befragten Geschäfte genannt. Es sollte nicht nur „viele Einkaufsmöglichkeiten“ geben (P6), sondern sich dabei auch um „interessante Läden“ (P7) handeln, um eine Vielfalt des Angebots in unterschiedlichen kleinen Geschäften und besonders Fachgeschäften (P11, P16). Einerseits wird hier die deutlich die Großstadtstraße als Geschäftsstraße definiert und damit auch die Standardfunktion der Großstadtstraße bestimmt.99 Andererseits wird diese Standardfunktion jedoch weiter qualifiziert: die Erfüllung der Funktion mit Hilfe der konventionalisierten Einzelelemente allein ist nicht hinreichend, sondern die Einzelelemente sollen weitere spezifische Aspekte aufweisen und besonders die Exemplare des Objekttyps sollen unterschiedlichen Subtypen angehören. Eine gegenüber anderen Straßen erhöhte Dichte sowohl des Kraftfahrzeug- als auch des Fußgängerverkehrs wird als weiteres wesentliches Merkmal von der 99 Die von den Interviewten vorgenommene Gleichsetzung von ‚Großstadtstraße‘ und ‚Geschäftsstraße‘ entspricht der Definition in der Einleitung der Arbeit.
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Hälfte der Befragten genannt: „viel Verkehrsaufkommen“ (P9). Die Straße sollte jedoch nicht nur „ein Verkehrsding“ (im Sinne von Autoverkehr sein): „dass es auch für den Fußgänger irgendwie erträglich ist“ (P1). Der Autoverkehr wird von einigen Interviewten als mehr oder weniger notwendiges Übel angesehen, über das sich eine Straße jedoch als Großstadtstraße auszeichnet: „Leider viele Fahrspuren, Verkehr“ (P12). Es handele sich um ein Merkmal einer realen, jedoch nicht einer idealen Großstadtstraße. Andere fassen auch stärkeren Autoverkehr und dadurch verursachten Lärm in einer ansonsten funktionierenden Straße als weniger störend auf: „Da kann ruhig viel Verkehr sein, das sehen wir immer wieder, dass die Leute trotzdem draußen sitzen auch dort gern gucken“ (P20). An dritter Stelle der am häufigsten genannten Merkmale steht die Lebendigkeit der Straße. Dieses Merkmal korreliert mit anderen wie mit der Anzahl und Art der Einzelhandelsgeschäfte sowie mit dem Verkehrsaufkommen: „Also, das sollte ein bisschen lebendig sein“ (P6), „Im positiven Sinne ist das eine wahnsinnig lebendige Straße, genutzt von allen Verkehrsmitteln und eben auch Fußgängern“ (P13), „Hat viele Menschen, viel Gewimmel, […] viele Läden, ist lebendig“ (P15) . Stadtgrün und Bäume gehören für viele zu den Merkmalen einer idealen Großstadtstraße: „dass ich noch an der Seite ein paar Bäume habe, das wäre für mich eine schöne Großstadtstraße“ (P2), „viel Grünflächen und schöne Parks“ (P8). Erwünschte Elemente einer Großstadtstraße sind ferner Cafés, die wichtige Indikatoren eines weiteren Merkmals, der Aufenthaltsqualität sind. „Sie muss Punkte haben, wo man sich niederlassen kann“ (P7), „Aufenthaltsqualität – dass man da auch Straßencafés hat, dort sich hinsetzen möchte“ (P19), „Eine Großstadtstraße sollte zum Verweilen einladen, Stichwort breite Gehwege, Straßencafés“ (P20). „Breite Gehwege“ verweist auf ein weiteres von mehreren Interviewten als charakteristisch aufgefasstes Merkmal, den relativ hohen Straßenquerschnitt (meist als Größe oder Breite der Straße bezeichnet): „Das ist eine Einkaufsstraße mit einer großen Straße in der Mitte“ (P3), „Großstadtstraßen müssen auch groß sein. Und der Gehweg für die Leute soll auch ein bisschen größer sein, breiter sein […], dass wenigstens drei Autos fahren können“ (P5). Wie es sich in dem Wunsch nach vielfältigen Einkaufsmöglichkeiten andeutet (s.o.), steht für viele eine Großstadtstraße für Differenz, für eine Vielfalt der Nutzungen und der Nutzer: „Großstadt heißt ja auch bunt gemischt und Leben und Veränderung und Chaos […] und ein bisschen Kriminalität und ein bisschen Prostitution“ (P8), „Breite Spannweite im Angebot, das heißt von Kultur bis Lebensbedarf. Möglichst vielfältige Bewohnerschaft und auch Menschen, die hier arbeiten, also je größer die Spannbreite, desto spannender finde ich die Situation“ (P16). Diese Vielfalt wird wahrnehmbar in einer Fülle wechselnder sinnlicher Eindrücke: „Das ist so, dass der Stadtspaziergang ganz wechselhafte Sachen zeigt, ganz unterschiedliche, wie man das in Paris oder Wien […] kennt. Man geht und sieht überall ständig Neues und das treibt einen weiter und verlockt einen auf die andere
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Seite zu gehen und wieder rüber, und wieder rüber, ja. Also, dass man halt flanieren kann.[…] Aber so dass halt […] überall ein Reiz da ist“ (P1). Einige Befragte differenzieren ihr Konzept einer Großstadtstraße anhand von Merkmalen wie der Breite der Bürgersteige oder Verkehrsnutzung in unterschiedliche Subtypen wie Boulevard und Fußgängerzone.100 Zwei beschreiben einen „OstTyp“ der Großstadtstraße (z.B. die Karl-Marx-Allee): „Es gibt natürlich den OstTyp der Großstadtstraße, also wie die Bebauung am Alexanderplatz, die gibt es ja auch in anderen großen deutschen Städten. Die empfinde ich natürlich als extrem fußgängerfeindlich. […] auf den zukünftigen Verkehrsfluss hin ausgelegt“ (P4). Als Berliner Beispiel einer Großstadtstraße wird von über der Hälfte der Interviewten der Kurfürstendamm genannt. Allerdings hat er für einige als Boulevard eine Sonderstellung gegenüber anderen Großstadtstraßen inne: „Das ist mehr so eine Prachtstraße vielleicht. Ist auch eine Großstadtstraße“ (P15). Noch weiter vom Konzept einer prototypischen Großstadtstraße entfernt sind ebenfalls die von mehreren erwähnten Unter den Linden, unter anderem wegen der fehlenden Wohnnutzung: „Unter den Linden ist ja so ein bisschen eine Ausnahmestraße. Das ist ja eher eine Promenade als eine Großstadtstraße. Ich glaube, bei einer Großstadtstraße fällt für mich auch rein, dass da Leute wohnen“ (P12), „Das ist halt so eine historische Meile. So eine repräsentative … da reiht sich die deutsche Geschichte auf“ (P4). Für eine Befragte muss eine Großstadtstraße Merkmale eines Boulevards erfüllen: „Wenn ich zum Beispiel Unter den Linden sehe – das ist ein Boulevard, das ist schon eine Großstadtstraße. Aber diese ganzen Bezirksstraßen, [...] wie zum Beispiel die Karl-Marx-Straße [...] – das sind für mich keine Großstadtstraßen. […] Das muss schon ein bisschen Ausstrahlung haben, und die haben sie nicht in dem Maße“ (P14). „Das macht ja auch einen Boulevard aus, dass er schöne Fassaden hat und auch ein schönes Bild bietet“ (P14). Die Großstadtstraße sollte demnach Äußerung zufolge auch baulich ein attraktives und harmonisches Erscheinungsbild aufweisen. Dieses Merkmal wird jedoch nur noch von einer weiteren Befragten genannt, die zusätzlich eine gute Pflege des Straßenraums in einer Großstadtstraße voraussetzt: „Es ist gepflegt. Es ist schön“ (P17). Für zwei (P17 und P20) gehört auch eine wenigstens teilweise erhaltene historische Bebauung zu einer Großstadtstraße, es sollte „Altes mit Neuem verbunden sein“ (P20). Abhängig von den von ihnen genannten Kriterien für eine Großstadtstraße ordnen die Interviewpartner die Potsdamer Straße diesem Konzept entweder zu oder nicht zu. Für die, die Verkehr und Lebendigkeit als wesentliche Merkmale betrachten, ist sie eine typische Großstadtstraße, „Mit allen Vor- und Nachteilen“ (P3). Für andere, deren Konzept die Aufenthaltsqualität, die Qualität des Warenangebots 100 Zur Unterscheidung zwischen Haupt- und Nebenstraßen und Geschäftsstraßen bzw. Wohnstraßen siehe Kap. 4.3.3.4.
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oder baulich-ästhetische Kriterien in den Mittelpunkt stellt, entspricht sie eindeutig nicht oder „noch nicht richtig“ diesem Bild: „Die Straße ist zu klein“ (P5), „dass das Geschäftliche hier zurückbleibt“ (P11), „Hier fehlt auf jeden Fall […] alles glaube ich. Die Straßen sind schief. Die Häuser sind hässlich. Die Leute sind auch nicht so. […] Ich finde hier keinen Laden, wo ich zum Beispiel Sachen zum Anziehen kaufen kann“ (P17).
Das Konzept
Merkmale (relevante Objekttypen + Objektaspekte)
++ Einzelhandel, Vielfalt des Einzelhandels ++ erhöhte Verkehrsdichte (Kraftfahrzeuge und Fußgänger) ++ Lebendigkeit + Stadtgrün + Cafés −> Orte zum Aufenthalt + breite Fahrstraße und Fußwege O attraktive Bebauung, schöne Fassaden O Historizität
Art der Elemente
Fixierte, semifixierte Elemente
Syntagmatische Aspekte
• • •
Vielfalt der Nutzungen und Nutzer wechselnde sinnliche Eindrücke einheitliches, „schönes“ Gesamtbild (als Boulevard)
Genannte Subtypen
Prachtstraße, Boulevard
Berliner Beispiele
Kurfürstendamm (als ‚Boulevard’)
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4.3.5 Die Potsdamer Straße im Vergleich: typisch Berlin? „Für mich ist die Potsdamer Straße schon... vielleicht nicht so eine weltläufige Großstadtstraße, aber schon, man merkt, wenn man in der Straße ist, dass es eine große Stadt ist. Dass es nicht die größte Straße ist, aber dass es eine der, eine dieser Geschäftsstraßen, die es eben in jedem Bezirk hier gibt. Und verglichen mit denen ist die Potsdamer Straße natürlich relativ unbelebt oder relativ unterent- ... weiß ich nicht, unterversorgt noch. Wenn man an die KarlMarx-Straße denkt. […] Oder diese anderen, so ... die etwas mehr am Rand liegen, wo eben aber auch schon viel mehr benötigt wird, weil das vielleicht nicht so nah am Zentrum ist.“ (P4)
Ähnlichkeiten und Unterschiede: das Konzept der Potsdamer Straße und anderer Berliner Straßen im Vergleich Vergleiche mit anderen Straßen, überwiegend in Berlin, werden teilweise im Lauf der Interviews selbstständig vorgenommen, teilweise jedoch erst nach expliziter Nachfrage („Wenn Sie an andere Berliner Straßen denken, gibt es eine Straße, die der Potsdamer Straße ähnelt?“). Als ähnliche Straßen werden besonders die KarlMarx-Straße in Neukölln oder auch die Müllerstraße im Wedding genannt. Bei diesen handelt es sich wie bei der Potsdamer Straße um Einkaufsstraßen mit höherem Verkehrsaufkommen, beide liegen in Gebieten mit relativ hohem Migrantenanteil und unterdurchschnittlichem Einkommen der Wohnbevölkerung. Allerdings sei dort „mehr Leben“ (P2), „da sind noch mal viel mehr Läden“ (P12). Als möglicher Ursache dieser geringeren Belebtheit wird von mehreren einerseits das kleinere Einzugsgebiet der Potsdamer angenommen: „wenn wir die Kurfürstenstraße nach Norden, also was das QM-Gebiet Magdeburger Platz ist, da sind ja nur 8000 Einwohner“ (P12), andererseits die Konkurrenz durch das räumlich nahe bürgerliche Schöneberg im Westen und das östliche Berliner Stadtzentrum im Nordosten (s.a. Kap. 4.3.3.5). Weiterhin werden generell Straßen mit einem vergleichbaren historischen Ursprung als Ausfallstraßen aus dem alten Berliner Zentrum als ähnlich eingestuft. Dabei wird die aktuelle Situation weniger berücksichtigt. Für andere ist sie „relativ einmalig“, begründet durch ihre „Geschichtsträchtigkeit“, als „Traditionsstraße“ (P8, P13). Sie hat einen sehr eigenen Charakter: „Aber die Potsdamer Straße hat halt so einen richtigen Charakter oder eine Persönlichkeit. Es ist schwierig, das einzugrenzen, aber irgendwie einen starken Charakter, ich weiß auch nicht. Man hat direkt ein Bild von einer Persönlichkeit vor sich. […] Wenn man es von innen erfühlt, finde ich überhaupt keine Straße ähnlich“ (P15). Im Negativen zeichnet sie sich aus durch „diese besondere Stimmung, das Grau, der Schmutz. […] Wahrscheinlich haben viele Straßen etwas von der Potsdamer Straße. Aber sie ist geballt in der Zusammenfassung all dieser merkwürdigen, negativen Dinge“ (P9). Besonders das noch vorhandene oder ehemalige Halbweltmilieu in
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ihrem Umkreis unterscheidet sie von den anderen großen Berliner Einkaufsstraßen: „Diese von mir empfundene Stückelung und kombiniert mit den sozialen Problemen, sprich Drogenszene, Prostitution, das gibt es nirgendwo. Das ist hier eine Spezialität“ (P20). Als Gegenbilder zur Potsdamer Straße werden mehrmals zwei kleinere Straßen, die Bergmannstraße in Kreuzberg und die Akazienstraße in Schöneberg, genannt. „Es ist natürlich ambivalent, ich will ja jetzt nicht die Bergmannstraße101 herholen, aber es wäre schon schön, noch so ein paar nettere Läden hier zu haben“ (P12). „Die Potsdamer Straße, das ist ein Gefühl. Ich glaube, die hat kein gutes Image. Also nicht so wie die Bergmannstraße zum Beispiel“ (P7). „Das [die Akazienstraße] ist was anderes. Das ist eine Straße, die zum Bummeln einlädt oder zum Gucken, zum Sich Hinsetzen, zum was Trinken und was Essen und dabei in ein Geschäft Gehen. Das ist eine schöne, belebte Nebenstraße, die man gerne durchläuft, wo man guckt, wo man dann auch animiert wird, etwas zu kaufen. Wenn ich in den Indienläden oder den asiatischen Läden bin oder dort vorbeigehe, dann ist da immer was, was mich reizt. Oder dass man dann an einem Buchladen vorbeigeht und sieht: Ach Gott, da ist ja ein Buch, das ist ja interessant, oder solche Sachen. Die einen auch zum Verweilen einladen. Nicht nur durchlaufen und denken: Bloß schnell weg hier, sondern auch zum Gucken einladen.“ (P14)
Typisch Berlin? 5 Interviewte äußern von sich aus, dass die Potsdamer Straße typisch für Berlin sei, weitere 7 nach direkter Frage: „Sie ist eigentlich Berlin. So ist die Stadt. So brüchig und hässlich und verlogen und manchmal auch wieder charmant. Und schnell. Das trifft die Stadt ziemlich vom Gefühl her. Man kann das schwer an etwas festmachen. Aber es ist eigentlich ein ehrliches Bild. Die Stadt ist so. Vom Verkehr angefangen bis zum... Ich weiß es auch nicht, die Mischung passt auch! Das ist irgendwie eine ganz ehrliche Straße, wenn man so will. Andere sind halt geschönt durch große Projekte. Aber hier ist es halt so geblieben. Also eigentlich ein Biotop für die Wirklichkeit.“ (P1) „Dann könnte man ja glatt sagen – eine typische Berliner Großstadtstraße, [...], weil es eben lebendig, laut ist und alles Mögliche hier vorkommt und eben nicht wie die Königsallee in Düsseldorf oder so. Oder so piekfein oder etepetete. Das ist so Berlin. Berlin ist ja eher so
101 Die Bergmannstraße in Berlin-Kreuzberg, die in den Interviews mehrmals vergleichend oder abgrenzend erwähnt wird, gilt als Inbegriff einer lebendigen ‚Szenestraße‘, in der sich allerdings in den letzten Jahren die Vielfalt der Nutzungen durch die Zunahme der gastronomischen Betriebe verringert hat.
366 | DIE STRASSE, DIE DINGE UND DIE Z EICHEN eine, na ja nicht Schmuddelstadt, aber es ist nicht Düsseldorf. Und auch nicht München. Sondern das ist so, ja, Schnauze mit Herz. Weil hier auch alles wohnt, vom Proletarier bis zum Ausländer über Nutten, Drogensüchtige und reiche Leute.“ (P8)
Zwei Befragte schränken ein: die Potsdamer Straße sei typisch für West-Berlin: „Na, die vielen verschiedenen Nationalitäten. Das Gewusel auf der Straße, der Straßenverkehr, obwohl das an einigen Stellen ja nicht mehr so ist. Die spürbare Arbeitslosigkeit und diese Probleme, die es auch gibt“ (P3), sie sei typisch für den Innenstadtbereich, auch durch das „Völkergemisch“, ähnlich der Karl-Marx-Straße, Sonnenallee oder Turmstraße (P14). Die Quintessenz dieser Äußerungen findet sich bei P16: „Berlin ist ja nicht homogen. Und insofern ist die Straße sehr typisch für Berlin“. Das Merkmal der sozialen, kulturellen und baulichen Vielfalt, das der Potsdamer Straße von der Mehrzahl zugesprochen wird, sei auch charakteristisch für die Gesamtstadt. Ferner spiegele sich in ihrer Geschichte auch teilweise Gesamtberliner Geschichte (vgl. Kap. 4.3.1.4). Die Potsdamer Straße besitzt für die Befragten stadträumliche Ortsindexikalität in Bezug auf Gesamtberlin. Von einer konventionalisierten Ortsindexikalität kann jedoch nicht ausgegangen werden. Eine Interviewte empfindet nicht die Potsdamer Straße, sondern den Kurfürstendamm als typisch für Berlin: „Also wenn man an Berlin denkt, denkt man gleich an den Kudamm“ (P6). Auch für den Polizeibeamten ist die Straße, vor allem durch ihre Geschichte und ihre Randlage ein „Sonderfall“, „Ich glaube, das hat was mit der Nachkriegsentwicklung zu tun und mit dem damaligen Image Rotlicht und so. […] Andere Straßen haben auch Probleme, aber andere Probleme, die, glaube ich, etwas einfacher zu beheben sind, das behaupte ich einfach mal, ohne jetzt im Einzelnen jede Straße strukturell so zu kennen wie die Potsdamer Straße. Aber ich glaube, das ist schon noch mal was Besonderes. Natürlich auch bedingt, dass da ich weiß nicht wieviel Autos durchrauschen als Bundesstraße, als Verbindung“ (P20). Bei der Suche nach ähnlichen Straßen und dem Vergleich von Merkmalen der Potsdamer Straße mit Merkmalen des Gesamtberliner Stadtraums werden von den Befragten die jeweiligen eigenen Vorstellungsbilder verglichen. Hier werden ikonische Relationen hergestellt, jedoch nicht im engen Sinne des Ikonischen als Abbildungsbeziehung zwischen einem Ausdruck und einem Inhalt, sondern zwischen zwei Ausdruckssubstanzen. Ikonische Bezugnahme (im weiten Sinne) kann überall dort angenommen, wo Vergleiche angestellt werden. Sie findet hier auf der Ebene der Gesamtstraße (Basisebene) statt.
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4.3.6 „Nur die negativen Seiten“: die Potsdamer Straße im überlokalen Image Mit der Frage an alle Interviewten nach ihrer Einschätzung des Images der Potsdamer Straße in Berlin sollte das Fremdimage der Straße ermittelt werden. Im Unterschied zu den meist aus direkter Wahrnehmung resultierenden individuellen Vorstellungen bezeichnet Image eine intersubjektiv ausgehandelte, sekundär vermittelte Vorstellung (vgl. Kap. 2.3.3). Dabei führt das Element Prostitution sehr deutlich die Nennungen an, 13 der Befragten nannten es explizit, oft an erster Stelle.102 Insgesamt 20 der 49 Zitationen zum Image thematisieren die Prostitution (knapp 40%), während der Anteil des Themas Prostitution an allen Zitationen nur bei ca. 5% liegt (15%, wenn man nur die Fragen zu zum allgemeinen Eindruck und zur Evaluation der Potsdamer Straße berücksichtigt, bei der 5-Eigenschaften-Frage nur zweimalige Nennung). Die Prostitution ist damit nur in geringer Ausprägung ein Element der subjektiven Vorstellungsbilder, jedoch noch Ansicht der Befragten das wichtigste Element des Fremdimages der Straße: „Verrufen durch den Straßenstrich. Das ist glaube ich das Bekannteste, was alle wissen“ (P3), „Es schwankt so zwischen, Potsdamer Straße – jetzt noch bis Ende des Jahres – Straße des Tagesspiegels und der Prostitution. Und dazwischen gibt es nichts Richtiges“ (P12), „Unser Gebiet hat mit dem Stigma zu kämpfen, [...] nämlich der Prostitution“ (P13). Häufig wird auf die Kontinuität der Prostitution im Bild der Potsdamer Straße hingewiesen: „Das Image wird die Potsdamer Straße nie loskriegen – die Prostituierten“ (P8), „es hängt noch immer dieses Anrüchige von damals hinterher“ (P11). „Also bei den Älteren ist es natürlich die Bordellstraße [...] Das denke ich bei denen, die weiter weg wohnen, selten hierher kommen, ist das markanteste Ding – die Potse“ (P1). Das Image der Potsdamer Straße sei auch erstaunlich stabil und kaum veränderbar: „Mein ehemaliger Vermieter in der Lützowstraße [...], der meinte: Das können Sie vergessen, die Potsdamer Straße wird sich nie ändern, die kann man niemals aufwerten, das ist vergebliche Liebesmüh, das ist so verankert im Bild der Berliner, dass das irgendwie eine rotzige, dreckige Straße ist, und das wird auch keiner ändern können. Und ein bisschen hat er Recht“ (P15).
102 Dabei ist zu beachten, dass zum Zeitpunkt der Interviews im Sommer 2008 die zum Jahresende 2007 stattgefundene Diskussion über ein geplantes Laufhaus und die verstärkte Prostitution in der Potsdamer Straße/Ecke Kurfürstenstraße bei den Befragten sicher noch sehr präsent war. Zur Nutzung Prostitution vgl. auch Kap. 4.3.1.3.
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Vom Image der Potsdamer Straße als Rotlichtbezirk gehe jedoch immer auch gewisse Faszination aus: „Da lebt die Straße noch so ein bisschen von ihrem Schmuddelimage, aber eher positiv gemeint. Dass sie eben immer noch in der Aufmerksamkeit der Bürger steht. Weil man das immer mit früheren Zeiten in Verbindung bringt, aber nicht unangenehm“ (P8), „Aber wenn wir mit Freunden reden, die sind einerseits fasziniert von der Straße und gleichzeitig aber auch im selben Maß irgendwie abgestoßen“ (P16). Allgemeiner wird auch vom „negativen“ Bild oder vom „Schmuddelimage“ (P8) der Potsdamer Straße gesprochen: „Die [Leute von außerhalb] mögen die nicht“ (P9), „Ich glaube, die hat kein gutes Image. […] Es ist nicht interessant“ (P7). Gewalt oder Kriminalität allgemein wird als Imageelement von 4 Befragten genannt, darunter den zwei jüngsten Befragten (vgl. auch Kap. 4.3.1.9): „Die Straße ist ja in Schöneberg bekannt geworden wegen Vorfällen, zum Beispiel gewalttätige Angriffe“ (P10), „Es ist Kriminalität. So bringen die [die Rapper] es rüber in ihren Videoclips. [….] Die übertreiben es auch richtig, dass hier nur rumgeschossen wird und keine Ahnung. […] Wie ein richtiges Ghetto“ (P17). Die im Pallasseum wohnende Befragte hofft, dass sich die positiven Veränderungen der letzten Jahre in der Potsdamer Straße (besonders im Bereich des Pallasseums) auch in der medialen Berichterstattung spiegeln: „Das ist nicht wie früher, besser, viel besser. [….] Muss gut sein, wenn sie schlecht erzählen, dann sagen sie es falsch, lügen“ (P5). Von den Einzelobjekten wird nur das ebenfalls mit dem Thema Prostitution verknüpfte LSD bzw. das um die Jahreswende 2007/2008 geplante Laufhaus als Teil des Fremdimages von mehr als 5 Befragten erwähnt, weiterhin genannt werden das Straßenfest Magistrale, das Pallasseum, Tagesspiegel und Wintergarten. Eine Interviewte betrachtet ein positives Image als notwendige Eigenschaft einer Großstadtstraße: „Sie muss allen Bürgern positiv bekannt sein“ (P7). Mehrere beklagen sich über die negative und einseitige Berichterstattung zur Potsdamer Straße in den Medien: „Es wird schon sehr darauf [die Prostitution] reduziert“ (P12). „Das Image ist schlecht, und die Presse berichtet auch immer wieder nur über die schlechten Skandale. Wobei ich die Presse nicht so genau beobachte, aber es fällt einem immer auf, wenn sie so wie mit dem Rotlicht, mit dem Laufhaus und so, da stürzen sie sich drauf. Und auf gute Nachrichten stürzen sie sich natürlich nicht“ (P16). Dieses Image werde auch auf das gesamte Gebiet übertragen: „Die Straße hat eigentlich nicht das richtige Image, es ist nicht fair, dauernd von dieser Straße zu berichten nur von den negativen Seiten, die teilweise noch nicht mal in der Potsdamer Straße, in unserem Teil der Potsdamer Straße sind, sondern vielleicht in Nebenstraßen, Kurfürstenstraße, also rund um Drogen oder Prostitution war ja eher das belastende Thema. Aber
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gut, das hat man immer in der Potsdamer Straße ... Das war das Synonym für ein bestimmtes ... für unser Quartier und für bestimmte Erscheinungsformen. Außerdem strahlt eigentlich auch noch dann die Potsdamer Straße südlich von uns, Pallasstraße und so. Viele sehen das ja – das ist ein und derselbe Stadtteil“ (P18, Mitarbeiter des QM).
Die Mehrzahl ist der Meinung, dass die Potsdamer Straße in den Medien eher wenig Aufmerksamkeit erhalte. Der Tagesspiegel als in der Straße präsentes Verlagshaus berichte manchmal und führe Straßenumfragen durch (s.a. Kap. 4.3.1.1): „Ansonsten nehme ich in der Presse nur wahr, wenn irgendwelche Menschen zu irgendeinem Stadtthema befragt werden und die Tagesspiegel-Journalisten in der Potsdamer Straße schnell mal eine Befragung machen. Geh mal schnell Menschen befragen. Nicht, und dann der Bezug hergestellt wird. Ansonsten ist die Potsdamer Straße, die wird nicht wahrgenommen, nein“ (P20). Nur bei Skandalthemen wie der Prostitution rücke die Potsdamer Straße in den Mittelpunkt des Interesses: „Mein Ärger ist ja sowieso, dass die mediale Aufmerksamkeit dann immer da ist natürlich bei schlechten Nachrichten, wie Medien so sind. Und wir immer dann, wenn wir tolle Sachen machen und die rufen, die sich eigentlich nicht interessieren. Und im Zusammenhang mit dieser Großbordell-Geschichte ist natürlich die Aufmerksamkeit groß gewesen, und ansonsten kommt sie eher nicht vor. Nicht mehr. Ist offenbar nicht so richtig spannend, diese Straße“ (P13). „Die Potsdamer Straße findet eigentlich nicht statt in den Medien. [...] Sie findet nur statt, wenn etwas passiert ist, also Sensationsjournalismus. Sie geht ein bisschen raus, weil eben nicht mehr so viel los ist, unter anderem gute Polizeiarbeit, aber in Zusammenhang mit dem Netzwerk. [...] Also, immer wieder mal, wenn jetzt, nehmen wir mal an, Prostituierte wird niedergeschlagen, vergewaltigt und/oder vom Zuhälter zusammengeschlagen, beraubt oder so. [...] dann kommt Potsdamer Ecke Kurfürstenstraße mit Explosionspfeilen, und dann wird gesagt, was da alles so stattfand. Aber das ist nur negativ, also rein pressemäßig kommt das nur hoch, wenn irgendwas passiert ist. Und dann sagt man: Haben wir doch schon immer gesagt“ (P20, Polizeibeamter).
4.3.7 Ein anderes Bild der Potsdamer Straße: Nutzerwünsche und Imagearbeit 4.3.7.1 Wünsche der Nutzer Die Frage „Was wünschen Sie sich für die Potsdamer Straße in der Zukunft?“ wurde zum Abschluss des Interviews an alle Probanden gestellt. Wünsche oder Aussagen über die Zukunft der Straße sind jedoch auch unabhängig von dieser Frage in 40 Zitationen von über der Hälfte der Befragten zu finden, besonders viele Wünsche äußern P1, P13 (Leerstandsbeauftragte) und P16.
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Insgesamt ergeben die Aussagen keine eindeutige Präferenz der Interviewten für Veränderungen in einer oder wenigen spezifischen Richtungen. Über ein Drittel der Befragten wünscht sich verstärkte Anstrengungen bei der Gebäudesanierung, was bis zu Forderungen nach Abriss einzelner Gebäude reicht: „dass zum Beispiel diese hässlichen Fassaden verschwinden“ (P14). Damit verbunden kann auch der Wunsch nach mehr Aufenthaltsqualität des öffentlichen Raumes gesehen werden, der von mehreren geäußert wird, unter anderem sollte die Straße grüner werden: „Erstmal diese Straße überhaupt lebbar zu machen, indem man so ein bisschen die Fahrradfahrer schützt mit Fahrradwegen. Ein bisschen mehr für die Luft und Schatten und Staubbindung tun, indem man Bäume pflanzt und das Ganze ein bisschen freundlicher, so dass man hier auch mal gerne langläuft. Ob man hier Bänke aufstellen soll, das sei mal dahingestellt, gibt’s ja eigentlich nichts zu sitzen. Das ist schon mal das Erste, dass man dem Ganzen so ein bisschen anderes Flair gibt“ (P7: 186: 201). „Dass da halt Leben kommt“ (P1) wird für einzelne Bereiche wie den Abschnitt Landwehrkanal ebenfalls mehrfach gewünscht, insgesamt werden Abschnitte jedoch kaum unterschieden. Die Wünsche nennen weniger spezifische Nutzungen bzw. Objekttypen, sondern eher globale oder atmosphärische Eigenschaften. Der Begriff der „Mischung“ wird ebenfalls häufiger (von ca. einem Drittel) genannt, diese sollte erhalten und erweitert werden (s.a. Kap. 4.3.2.1). Eine Aufwertung der Straße unter anderem durch Zuzug anderer Bevölkerungsschichten und stärkere Sichtbarkeit der bürgerlich-akademischen Bevölkerung wünschen sich ebenfalls mehrere (u.a. P3, P7, P11 und P15). „Mehr Niveau“ (P14), „Aber ich glaube, was schon die meisten wollen: ein bisschen mehr Kultiviertheit, dass die Mischung schon erhalten bleibt, aber die schönen Seiten noch ein bisschen verstärkt werden“ (P15). Allerdings soll sie auch keine „brave Straße werden, es soll sich etwas abspielen“ (P14), „Es ist natürlich ambivalent, ich will ja jetzt nicht die Bergmannstraße103 herholen, aber es wäre schon schön, noch so ein paar nettere Läden hier zu haben“ (P12). In Zusammenhang mit dem Wunsch nach einer Aufwertung der Straße werden die Objekttypen Cafés sowie „geschmackvollere Geschäfte“ und Galerien genannt. Als erhaltenswertes Einzelobjekt wird von Einzelnen die Joseph-Roth-Diele erwähnt. Das Ziel der Stärkung der Potsdamer Straße als Geschäftsstraße wird vor allem von den Netzwerkern und den im Auftrage des Quartiersmanagements Arbeitenden explizit genannt, ebenso die weitere Profilierung der Potsdamer Straße als Medienstandort. Die Nutzung Prostitution wird von mehr als einem Viertel thematisiert, darunter wünscht sich nur eine Befragte (P6) explizit, dass diese „abgeschafft werden“
103 Zur Bergmannstraße s.a. Kap. 4.3.5.
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solle.104 Zwei andere sehen in der Profilierung der Potsdamer Straße als „Vergnügungsstraße“ mit einer „in Bahnen gelenkten“ Prostitution (P1) eine mögliche Zukunft für die Straße. Weitere nur von Einzelnen oder einer geringen Zahl genannte Wünsche beziehen sich auf die Förderung des Tourismus bzw. die Ansiedlung von Hotels, eine allgemeine Verbesserung der sozio-ökonomischen Lage der örtlichen Bevölkerung, Einrichtungen für Jugendliche, die Einrichtung von Veranstaltungsräumen in leerstehenden Gebäuden sowie auf die Wiederherstellung einer Straßenbahntrasse durch die Potsdamer Straße. Die pragmatischen Wünsche überwiegen, nur ein früherer Anwohner entwickelt eine Utopie für die Straße: „Ich wünsche mir da einen Rasen anstelle der Durchgangsstraße. [...] Und dann hätte man seine Ruhe. Das fände ich schön“ (P9), ergänzt durch eine utopische, naturnahe Architektur wie jenen Entwurf eines Rundbaus, „der ziemlich groß war und sich nach oben immer mehr verjüngte, sodass vor jeder Etage eine große Terrasse mit Bäumen war“ (P9). „Nur dann wird sich vielleicht etwas ändern“ (P9). Die Anwohnerin des Pallasseums hätte gern ein Einkaufszentrum und ein Kino in der Potsdamer Straße. Eigentlich sollte die gesamte Potsdamer Straße die Form einer Wohnsiedlung wie das Pallasseum haben: „Warum ist die ganze Potsdamer Straße nicht eine Siedlung? Das wäre noch schöner. Da haben auch die Kinder zum Spielen Platz […]. Und da kann ein kleines Kind nicht auf die Straße laufen. Ich denke mir, das ist viel sicherer. Meiner Meinung nach könnten sie die ganze Potsdamer Straße wegmachen und überall Siedlungen machen“ (P5). Insgesamt werden umfassende Veränderungen jedoch von vielen abgelehnt: „Man kann auch sagen, das kann so bleiben, wie es jetzt ist und da vielleicht noch ein bisschen hübscher und ein bisschen bessere Wohnsubstanz“ (P8). „Eigentlich ist doch die Potsdamer Straße voll okay wie sie ist“ (P15). 4.3.7.2 Exkurs: Imagearbeit an der Potsdamer Straße Eine zwischen den unterschiedlichen Akteursgruppen abgestimmte einheitliche Strategie der Imagearbeit zum Bereich der Potsdamer Straße gibt es nicht, obwohl eine Vernetzung von Projekten in einzelnen Bereichen existiert. Ein eindeutig als solches zu bezeichnendes, konzeptuell klares Standortmarketing betreibt vor allem das Mediennetzwerk ‚m-street‘, das über die eigene Website105 sowie über Pressearbeit und mit Hilfe regelmäßiger Veranstaltungen das Image der Potsdamer Straße als Medienstandort berlinweit verbreitet. Ein 2003 gegründeter Arbeitskreis Kunst 104 Die Befragte bezieht sich auf die vor allem in den Jahren 2007/2008 sehr sichtbare und aggressive Prostitution an der Ecke Kurfürstenstraße. 105 http://www.medienportal-berlin.de
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hat inzwischen seine Arbeit wieder eingestellt. Die aktuelle Kunstszene rund um die Potsdamer Straße, einschließlich der neu entstandenen kommerziellen Galerien wurde Ende 2008 in Rundgängen, die von den Initiatoren des temporären Kunstraums Tmp organisiert waren, vorgestellt. In diesem Zusammenhang wurde auch eine Broschüre entwickelt, die Auskunft über den Kunststandort Potsdamer Straße gibt.106 Ein einheitliches Leitbild für die Geschäftsstraße Potsdamer Straße oder den Wohnkiez Potsdamer Straße wurde bisher nicht entwickelt.107 Folglich sind auch die Auskünfte der Angehörigen des Quartiersmanagement (QM) und des Mediennetzwerkes sowie der Leerstandsbeauftragten zur Imagearbeit außerhalb des Mediennetzwerks m-street, eher vage: die Ziele des QM und anderer Akteure in Hinblick auf das Image der Potsdamer Straße seien „ziemlich schwammig“. Es werde auch oft diskutiert, „wie schnell das dann umkippen kann, meinetwegen Oranienburger Straße, wo es dann so touristisch ist, dass man ironisch Costa Brava sagt. Und Bergmannstraßenkiez ist auch gerade so am Kippen, es boomt immer mehr und immer mehr, dass man so immer denkt: Ja, wenn man so was anschieben würde, wie kriegt man das Töpfchen mit dem Brei wieder zum Stehen? Keiner will ja seine eigenen Mieten teurer machen. Insgeheim ist man eigentlich ganz froh, dass die Potsdamer Straße so widerstandsfähig ist gegen so eine Sanierung“ (P15). Eine Steigerung der Attraktivität des Gebiets im Fremdimage würde eventuell zu einer Gentrifizierung und damit auch zu einer Anhebung der zur Zeit noch günstigen Büro- und Wohnungsmieten führen und infolge nicht nur sozial schwache Anwohner, sondern auch kleine Unternehmen vor Ort verdrängen. 106 Inwieweit die Neuansiedlung zahlreicher Galerien und Ausstellungsräume seit ca. 2007 auch als Erfolg der Imagearbeit im Bereich Kunst/Medien aufgefasst werden kann, ist unsicher. Entscheidend waren wahrscheinlich eher die günstigen Mieten, die zentrale Lage und Nähe zum Kulturforum sowie der noch unverbrauchte, „frische“ Standort (vgl. z.B. den Artikel: „Eine Achse für die Kunst“, in: Tagesspiegel 11.08.2009). 107 Eine 2001 erschienene „Imagebroschüre“ der IG Potsdamer Straße mit dem Titel „Wir an der Potse“ beschränkt sich auf Werbung für die ortsansässigen Gewerbetreibenden und die Selbstdarstellung öffentlicher Einrichtungen. Auch der Webauftritt der IG bot bis zu seinem Relaunch im Sommer 2011 in Design und Inhalt nur eine wenig ansprechende Präsentation des Geschäftsstandortes Potsdamer Straße. Erst nach Ende des Erhebungszeitraums gab es Aktivitäten, folgend der Ansiedlung einiger neuer Hotels, die Potsdamer Straße mit Hilfe von Stadtmarketing auch als Tourismusstandort attraktiv zu machen. Erste Ergebnisse waren Angebote für historische Führungen im Bereich Potsdamer Straße im Jahr 2009 sowie ein im Herbst 2009 erschienener, ansprechend gestalteter Flyer mit Informationen zu touristischen Zielen und historischen Daten der Potsdamer Straße (Korolewski/Dagorn 2009).
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Als Strategie der Imagearbeit wird die Vernetzung der örtlichen Akteure in den Mittelpunkt gestellt: „Im Fokus ist da weiterhin diese angefangene Vernetzungsarbeit mit verschiedenen Initiativen, ob das jetzt Boulevard der Bänke108 ist oder jetzt IG Potsdamer Straße Mediennetzwerk. Das noch zu erweitern, also im Grunde genommen sind wir ja seit zwei Jahren auch dabei, nicht nur [...] zuzusehen, dass Netzwerke entstehen, sondern auch, die verschiedenen Netzwerke zu vernetzen. Synergieeffekte dann auch zu bekommen“, Entscheidungen sollen immer zusammen mit den Akteuren getroffen werden und nicht „vom Grünen Tisch“ (P18). Die Imageproduktion setzt dieser Äußerung zufolge überwiegend zuerst im Inneren an und zielt darauf, das Nahimage und damit auch die Identifikation mit dem Quartier, zu verbessern. Die überlokale Öffentlichkeit wird in geringerem Maße angesprochen, eine Arbeit am Fremdimage findet nur punktuell (Medien, Kunst) statt. 4.3.7.3 Medienbetriebe als neue Imagefaktoren in der Potsdamer Straße Nachdem sich schon in den 90er Jahren verstärkt Medienfirmen in der Potsdamer Straße und den Seitenstraßen angesiedelt hatten, wurde seit 2004 der Medienstandort Potsdamer Straße systematisch entwickelt und das Mediennetzwerk m-street aufgebaut, unterstützt u.a. durch Fördergelder der Quartiersmanagementgebiete Schöneberger Norden und Magdeburger Platz. 12 der Befragten (darunter keine Migranten) sprechen von sich aus über die aktuellen Medienbetriebe im Umfeld der Potsdamer Straße,109 davon sind oder waren jedoch mit einer Ausnahme alle engagiert in Initiativen und Bürgergremien wie dem Mediennetzwerk oder dem Quartiersrat, professionell mit der Potsdamer Straße betraut oder Gewerbetreibende. Im Vergleich der Anzahl der Zitationen zu den einzelnen Themen liegt das Medienthema im Mittelfeld.110 „Oder wenn Sie hier hochgehen – viele Medienfirmen, und auch so in den Hinterhöfen“ (P8), „Also, was einfach interessant ist, das sind die vielen kleinen Firmen im Hintergrund, das muss wohl ein Kapital sein. Hier sitzen wohl soviel Medienfirmen wie in Adlershof, anscheinend“ (P1). Allerdings klingt in diesen Aussagen bereits an, dass diese Firmen im Straßenbild wenig sichtbar sind: 108 Das Projekt ‚Boulevard der Bänke‘ wurde 2006 auf Initiative des Bildhauers Ugur Özbay 2005 ins Leben gerufen. Ziel ist es, in der Potsdamer Straße und ihrer Umgebung in der Form unterschiedliche und von Akteuren im Kiez mitzugestaltende Granitbänke aufzustellen, die sowohl das Straßenbild aufwerten als auch ganz praktisch die Möglichkeit zum Verweilen bieten. Bis Ende 2009 wurden 4 Bänke aufgestellt (http://www.boulevard-der-baenke.de [03.09.2010]). 109 Der Tagesspiegel wurde hier nicht mit einbezogen. 110 Ihm wurden z.B. ähnlich viele Zitationen zugeordnet wie dem Thema ‚Lärm‘, allerdings wird Lärm von einem größeren Anteil der Befragten thematisiert
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„Dass hier so viele Medienbetriebe sind hinter den Fassaden, sieht man ja leider nicht“ (P7), „Auf der Straße oder im Alltag merke ich gar nichts davon“ (P7). Zwischen den Firmen vor Ort und der Bevölkerung gebe es auch keine Berührungspunkte, andererseits seien im Gebiet gerade auf Grund der sozial schwachen Bevölkerung günstige Mieten möglich: „Also, wir haben hier mit die berühmtesten Filmproduktionsfirmen Deutschlands, ich sage nur mal TeamWorx oder X-Filme oder sonst was, die sind alle hier im Kiez ansässig. Aber das hat natürlich in der praktischen Bedeutung tagsüber in der Straße keinen Widerhall. Das sieht keiner, und die Leute, die hier leben, wir haben knapp unter 70 Prozent Migranten hier, für die hat das natürlich wenig Bedeutung. Die andere Seite ist die: Dadurch sind die Mieten hier für die Medienfirmen einigermaßen erschwinglich, und das ist auch der Grund, warum die hierher kommen. Und die tauchen leider nicht im Stadtbild auf, diese Medienfirmen. Es wäre ja eigentlich ganz wünschenswert, dass die sich in unterschiedlichsten Formen hier zeigen, aber leider ist das nicht der Fall.“ (P16)
Allein die Mitarbeiter der Medienbetriebe würden im Bild der Straße zur Mittagszeit auffallen: „die verschwinden nicht. […] Das sind die großen, schlaksigen Jungs, das sind die etwas extravagant gekleideten jungen Damen, also die fallen in jedem Fall auf“ (P16). Die Leerstandsmanagerin sieht die Medienansiedlung auch als Fortführung der historischen Tradition des Verlagsorts Potsdamer Straße: „Das sind alles so Sachen im Verborgenen, eben dieses Mediencluster von 400 Unternehmen am Standort, alles so Sachen, die man nicht sieht, aber die auf Grund des, nicht nur der baulichen, auch der gewachsenen historischen Struktur da entstanden sind“ (P13). Als Medienstandort sei die Potsdamer Straße allerdings noch kaum im Bild der Berliner Öffentlichkeit etabliert: „Und dann jetzt vielleicht neuerdings dies mit dem Medien-Kulturstandort. […] Ich weiß nicht, inwieweit ich das jetzt wahrnehme und inwieweit das überhaupt in der Öffentlichkeit wahrgenommen wird“ (P3), „Hat ja keines [kein Image], als Medienstandort, oder?“ (P19). 4.3.8 Unterschiedliche Bilder der Potsdamer Straße: die Befragtengruppen im Vergleich Der Einfluss des sozialen und kulturellen Hintergrunds der Interpreten auf die Konstitution von Umweltvorstellungen wurde bereits in Kap. 2.3.3 angesprochen. Anselm Strauss stellt fest: „The various kinds of urban perspectives held by the residents of a city are constructed from spatial representations resulting from membership in particular social worlds” (Strauss 1961: 67). Perspektivierung und Relevanzsetzung sind zumindest in Teilen geprägt durch die Zugehörigkeit zu einer
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sozialen Schicht, zu einer kulturellen Gruppe, durch ökonomische und professionelle Interessen sowie durch Alter und Geschlecht (vgl. auch Löw 2001: 227). Auf einzelne Unterschiede in den Gewichtungen der Inhalte zwischen den Befragten wurde bereits in den Kapiteln 4.3.2 bis 4.3.8 hingewiesen. Im Folgenden werden in einem knappen Überblick einige Korrelationen zwischen soziodemographischen Merkmalen der Probanden und bestimmten Ausprägungen der Vorstellungen (unterschiedlichen Relevanzbestimmungen) dargestellt. Betrachtet werden nur übergeordnete und in den Interviews häufig angesprochene Themenkomplexe (Nutzungen, historische Inhalte, Objekttypen etc.), einzelne Objekttoken dagegen nicht. Eine detaillierte Typologie der Vorstellungen wurde nicht erstellt, da diese eine explizit soziologische Fragestellung einführen würde, die grundsätzlich in dieser Arbeit nicht angestrebt wird (s.o. Kap. 4.2.1.3 zur Auswertungsmethodik). Deutlich betont werden muss, dass die Ergebnisse nur auf die in den Interviews Befragten bezogen werden können und in keiner Weise auf eine größere Gruppe verallgemeinert werden können. Qualitative Forschung strebt, wie bereits oben festgestellt, keine Repräsentativität der Ergebnisse an, sondern nur die Beschreibung einzelner möglichst ‚typischer‘ Fälle. Die Nennung einzelner Themen wird immer relativ zur Gesamtzahl der Nennungen in einer Befragtengruppe gewichtet. Wenn z.B. von stark ausgeprägten ethnisch-kulturellen Zuschreibungen die Rede ist, bedeutet dies, dass von allen Nennungen in dieser Befragtengruppe die ethnisch-kulturellen Kategorisierungen eine hohe Zahl im Vergleich zu anderen Themen erreichen. Unterschiede zeigen sich zwischen den Vorstellungen der Befragten migrantischer und nicht-migrantischer Herkunft, wobei einschränkend berücksichtigt werden muss, dass nur 4 Migranten 16 Nicht-Migranten gegenüberstanden. Deutlich ist vor allem die Differenz bei der Nennung kultureller Nutzungen und historischer Inhalte (mit Ausnahme der zeitlichen Klassifikation von Gebäuden), beide werden von den Migranten kaum erwähnt. Dabei muss jedoch weiterhin beachtet werden, dass die beiden älteren der Migranten auch über einen im Durchschnitt geringeren Bildungsstatus als die Nicht-Migranten verfügt, eine von ihnen nicht Anwohnerin der Straße ist und die beiden anderen der Altersgruppe der bis Zwanzigjährigen angehören. Damit korrelieren hier mehrere Faktoren, die einen Einfluss auf umfassenderes oder weniger umfassendes Wissen über die Potsdamer Straße und die Berliner Geschichte haben können. Stark ausgeprägt bei den Migranten sind ethnisch-kulturelle Zuschreibungen, soziale Einordnungen haben dagegen einen relativ geringeren Stellenwert. Während sich beim Durchschnitt der Befragten positive und negative Urteile die Waage halten, überwiegen bei den Migranten (von denen drei jedoch Anwohner sind oder waren, s.u.) die positiven Urteile. Die Nutzung Einkaufen wird häufiger thematisiert als bei den NichtMigranten, weiterhin die Bereiche Kriminalität und Gewalt. Der Leerstand in der Potsdamer Straße wird von den Migranten kaum erwähnt. Die Lautstärke der Pots-
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damer Straße wird von den Migranten häufiger angesprochen als vom Durchschnitt, u.a. jedoch wahrscheinlich zurückzuführen darauf, dass die Mehrzahl der befragten Migranten dem deutlich lärmbelasteteren Abschnitt Bülowstraße zuzuordnen ist. Auch bei den Anwohnern (10 der 20 Befragten) finden sich mehr positive Bewertungen als negative, während bei den Nicht-Anwohnern sich das Verhältnis umkehrt. Gastronomische Einrichtungen werden von den Anwohnern häufiger genannt als vom Durchschnitt, ebenfalls einzelne Geschäfte, soziale Kontakte und der Bereich Kriminalität. Die Nicht-Anwohner (einschließlich der früheren Anwohner) thematisieren die Nutzung Wohnen etwas häufiger als der Durchschnitt, ferner auch die Prostitution und die Leerstellen. Bei den drei Gewerbetreibenden kommen positive und negative Wertungen gleichhäufig vor. Leerstand wird relativ häufig thematisiert, gastronomische Einrichtungen seltener als beim Durchschnitt. Die Vielfalt der Potsdamer Straße ist bei den Geschäftsleuten eher negativ, als Chaos und Heterogenität, konnotiert. Die drei ‚Engagierten‘, die auf ehrenamtlicher oder halb-ehrenamtlicher Basis im Bereich Potsdamer Straße in verschiedenen Projekten mitarbeiten, thematisieren besonders häufig soziale und kulturell-ethnische Zuordnungen, wobei soziale Zuordnungen deutlich vor den kulturellen liegen, sowie soziale Kontakte. Kultur und Geschichte stehen weniger im Mittelpunkt als beim Durchschnitt der Befragten. Auf Grund des gegenüber den anderen Interviews reduzierten Leitfadens können die vier Experteninterviews nur eingeschränkt mit denen der anderen Gruppen verglichen werden. Hier überwiegen deutlich die negativen Wertungen, soziale Kategorien haben einen größeren Stellenwert als ethnisch-kulturelle. Die Nennungen zu Prostitution und Leerstand liegen weiter vorn als beim Durchschnitt.111 Ebenso wie die Geschäftsleute empfinden die Experten die Potsdamer Straße als heterogen. Insgesamt wird der Bereich Potsdamer Straße als zu bearbeitendes Aufgaben- und Problemfeld betrachtet. Deutliche geschlechtsspezifische Unterschiede sind in den Vorstellungen kaum nachzuweisen. Eine Ausnahme bilden die bewertenden Äußerungen, hier überwiegen bei den 12 Frauen die positiven Evaluationen, bei den acht Männern dagegen die negativen. Weiterhin wird von den Männern der Inhalt Prostitution im Vergleich zu anderen Inhalten etwas häufiger thematisiert als bei den Frauen. Die Jugendlichen (unter 21 Jahre), beide migrantischer Herkunft, sprechen deutlich ausführlicher als der Durchschnitt über soziale Segregation sowie über Gewalt im Umfeld der Potsdamer Straße. Überrepräsentiert sind ferner, wie in dieser Altersgruppe auch zu erwarten, Nennungen zu Freizeitnutzungen sowie zu
111 Dies gilt für die Nennungen von Leerstand auch dann noch, wenn man die Äußerungen der Leerstandsbeauftragten nicht berücksichtigt.
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ihrer eigenen sozialen Gruppe der Jugendlichen. Auf kulturelle Nutzungen bezogene Inhalte werden kaum genannt. Ungefähr gleichoft werden in allen Befragtengruppen die auf die Stadtnatur bezogenen Inhalte genannt, auch bei den Objektaspekten sind nur geringe Unterschiede zu verzeichnen. Ebenfalls ähnliches Gewicht besitzen für alle Gruppen mit Ausnahme der Gruppe der Migranten (siehe oben) die kulturbezogenen und historischen Inhalte. Auf die Lebendigkeit der Straße wird von den Nicht-Anwohnern und den Experten vergleichsweise häufiger hingewiesen als von den übrigen Gruppen. Möglicherweise kann dies in einem distanzierteren Blick dieser Gruppen begründet sein; für die Anwohner ist das Leben der Potsdamer Straße dagegen unauffälliger Alltag. 4.3.9 Auswertung der Interviews nach zeichentypologischen Aspekten Die in Kapitel 3.4 vorgeschlagene Typologie von städtischen Objektzeichen unterschied zwischen Typen der potentiell als Zeichenausdruck fungierenden Objekte und Typen der Inhalte von städtischen Objekt-Zeichen. Als weitere mögliche Grundlagen von Typisierungen wurde die Unterscheidung nach der Relation zwischen Zeichenausdruck und Zeicheninhalt und nach der jeweils zum Tragen kommenden Sinnesmodalität der Wahrnehmung genannt. Eine Klassifizierung nach Inhalten der in den Interviews genannten ObjektZeichen einschließlich Quantifizierungen wurde bereits in Kapitel 4.3.1 und 4.3.2 geleistet. Daher wird im Folgenden nur ein kurzer quantifizierender und typisierender Überblick über die in den Interviews als Zeichenausdruck fungierenden Objekte gegeben. Ferner werden die genannten Objekt-Zeichen nach ihrer Relation zwischen Zeichenausdruck und Zeicheninhalt sowie der jeweiligen Sinnesmodalität der Wahrnehmung gewichtet. Im abschließenden Abschnitt, der nicht auf der Typologie aus Kap. 3.4 aufbaut, wird betrachtet, welche Interpretationshandeln beschreibende Begriffe in den Interviews vorkommen. Objekt-Zeichen nach Typen des Ausdrucks Objekte nach ihrer Produktionsintention: In 87% aller Zitationen zu Objekten (zu Typen, Token oder Objektaspekten) wird auf intentional produzierte Objekte referiert, in 38% auf nicht intentional produzierte. Die als Gebrauchsobjekte typisierten Objekte führen sehr deutlich die Nennungen an, 84% aller Zitationen zu Objekten betreffen Gebrauchsobjekte. Die nicht-intentional vom Menschen produ-
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zierten Objekte oder Objektaspekte112 folgen an zweiter Stelle mit 25%. Ästhetische Objekte113 werden in ca. 16% der Zitationen zu Objekten genannt vor den natürlichen Objekten (einschließlich des Stadtgrüns, siehe Kap. 3.4.1, B.1) mit ca. 10%. Kommunikationsobjekte werden kaum genannt (4%). Diese Klassifikation ist nicht exklusiv, da in Zitationen sowohl mehrere unterschiedliche Objekte genannt werden können als auch ein und dasselbe Objekt sowohl als Gebrauchsobjekt, als ästhetisches Objekt, natürliches Objekt etc. klassifiziert wurde. Aktuale vs. nicht-aktuale Elemente: Knapp 90% der genannten Objekttoken sind aktuale, d.h. noch vorhandene Objekte, die restlichen 10% sind historische, nicht mehr existierende Objekte. Die Relation der Anzahl der Nennungen für aktuale vs. nicht aktuale Token ist ebenfalls 9:1. Fixierte, semifixierte, nichtfixierte Elemente: Am häufigsten werden fixierte Elemente genannt. Hier soll noch differenziert werden zwischen Gebäuden als fixierten Elementen im engeren Sinne auf der einen Seite und Gewerbeflächen, wie Gaststätten, Einzelhandelsgeschäften etc. auf der anderen Seite, welche besonders im Gebiet Potsdamer Straße einer erhöhten Fluktuation unterliegen. Beide Untertypen werden ca. gleichhäufig genannt. An zweiter Stelle folgen die nichtfixierten Elemente (die auf der Straße wahrnehmbaren Menschen, Verkehrsmittel etc.), an dritter Stelle, die semifixierten Elemente. Als semifixierte Objekte wurden nur intentional produzierte Objekte klassifiziert wie Straßenmöbel, Ladenschilder, Schaufenster etc.114 Temporäre Objekte wurden in Kapitel 4.3.1.6 behandelt, sie werden in ca. 6% aller Zitationen genannt. Objekttoken werden insgesamt etwas seltener genannt als Objekttypen (ca. 46% gegenüber 54%). Zu Quantifizierungen von Objekttoken und –typen in Bezug auf einzelne Elementfelder vgl. Kapitel 4.3.1.1 und 4.3.1.2.
112 Als nicht-intentional vom Menschen produzierte Elemente wurden klassifiziert: Leerstand und Baulücken, Lärm, schlechte Luftqualität sowie nichtintentional produzierte Objektsaspekte (Müll, heruntergekommene Fassaden etc.). 113 Bei den genannten ästhetischen Objekten handelt es sich überwiegend um einzelne Bauwerke, deren Architektur einen über die Zweckfunktion hinausreichenden künstlerischen Anspruch zeigt. 114 In die Klassifizierung nach dem Grad der Fixierung wurden weder temporäre Objekte noch Objektaspekte einbezogen. Zählte man die Objektaspekte zu den semifixierten Objekten, würde die Anzahl der Nennungen der semifixierten Objekte die der nichtfixierten übersteigen.
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Objekt-Zeichen nach Relation zwischen Zeichenausdruck und Zeicheninhalt Aus der Analyse der Interviews in Kapitel 4.3.1 bis 4.3.8 wird deutlich, dass die genannten Objekte fast ausschließlich indexikalisch, als Anzeichen signifizieren. Sie verweisen für die Interpreten auf mit ihnen kausal verknüpfte Tatbestände wie z.B. die großen Plastiktüten auf den Einkauf bei Discountern und weiterführend auf eine bestimmte soziale Identität der Kunden. Die indexikalischen Relationen werden über eine Kette von Exemplifikationen vermittelt (vgl. Kap. 2.2.3.3): z.B. exemplifiziert [Tagesspiegel] eine Institution mit vielen Mitarbeitern, welche wiederum die Eigenschaft exemplifizieren, sodass das Objekt [Tagesspiegel] den Inhalt exemplifizieren kann (s.o. Kap. 4.3.1.1). Ikonische Zeichen im engen Sinne sind nicht Teil der Vorstellungen. Sie finden sich in der Potsdamer Straße fast ausschließlich als Elemente von häufig ausgetauschten Werbeplakaten oder anderen, nicht für einen spezifischen Stadtraum charakteristischen Kommunikations-Zeichen wie Verkehrszeichen. Das 2006 zur Fußballweltmeisterschaft entstandene große Wandbild an dem Eckhaus Goebenstraße/Potsdamer Straße wird in den Interviews nicht genannt. Ikonische Relationen im weiten Sinne werden bei den Vergleichen der Potsdamer Straße mit anderen Straßen hergestellt (s.o. Kap. 4.3.5). Wenn symbolisch verweisende Zeichen genannt werden, dann fast ausschließlich nicht in ihrer Eigenschaft als Kommunikations-Zeichen und Symbole, sondern als Objekte, deren Ausdruckssubstanz indexikalisch auf Inhalte wie verweist (s.o. Kap. 4.3.1.10). Auch Graffiti als symbolische Zeichen mit einem nur für eine kleine Gruppe entschlüsselbaren arbiträren Kode werden nur von den beiden Jugendlichen thematisiert (s.o. Kap. 4.3.1.8). Genannte Objekt-Zeichen nach Sinnesmodalität der Wahrnehmung Bei der großen Mehrheit der genannten Elemente handelt es sich um visuell wahrnehmbare Objekte. Mit der Nennung der Eigenschaft der Lärmbelastung als charakteristisches Merkmal (s.o. Kap. 4.3.2) ist die Potsdamer Straße jedoch auch deutlich als auditives Wahrnehmungsobjekt geprägt (insgesamt 37 Zitationen). Quelle des Lärms ist überwiegend der Straßenverkehr, genannt werden jedoch auch Kinder und Jugendliche (P5, am Pallasseum), Passanten allgemein (P4, P17) und die Werberufe der Gemüsehändler (P20). Olfaktorische Wahrnehmungen zeigen sich nur in den Äußerungen über die Luftqualität (3 Zitationen): „Etwas verpestet“ (P4), „Es gibt auch bessere Luft ...“ (P8). Gustatorische Eindrücke beziehen sich auf das Angebot einzelner Restaurants, Café oder Geschäfte (insgesamt 5 Zitationen): „Das Eis schmeckt mir gut“ (P2) (in den Potsdamer-Platz-Arkaden), „Die Genieß-Bar, da gibt es einfach superleckeres Essen“ (P12).
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„Zeichen“, „bedeuten“, „stehen für“: Interpretationshandeln beschreibende Begriffe in den Interviews Über 40 Äußerungen enthalten Lexeme, die auf ein Interpretationshandeln verweisen, wie /Zeichen/, /bedeuten/, /Signal/ und /stehen für/.115 Einige dieser Äußerungen116 sind eindeutig vom übergeordneten Thema der Interviews (‚Zeichen der Potsdamer Straße‘) induziert, dies trifft jedoch wahrscheinlich nicht auf die Mehrzahl zu. /Bedeuten/ etc. wird überwiegend im Sinne einer Wichtigkeit oder Relevanz, also relativ verwendet (insgesamt 10 Nennungen) und nicht im engeren semiotischen Sinne, als 117: „Auch ohne repräsentative Bauten wird das [die Potsdamer Straße] immer was Bedeutendes in Berlin sein, weil es auch so geschichtsträchtig ist“ (P8). Hier wird die Wichtigkeit der Potsdamer Straße für die Gesamtstadt und ihre Geschichte im Vergleich mit anderen Straßen angesprochen. Die Aussage „Die Leute, die hier leben, wir haben knapp unter 70 Prozent Migranten hier, für die hat das [die Medienunternehmen in der Potsdamer Straße] natürlich wenig Bedeutung“ (P16) thematisiert die unterschiedliche Relevanz einzelner Funktionen der Potsdamer Straße für die Bewohner. Dagegen weist die Äußerung „Aber es ist eben einfach eine Straße, […] wo Verkehr einfach nur durchrauscht. […] Für die Teilnehmer, Verkehrsteilnehmer, ist das Gebiet bedeutungslos. Und so gehen sie dann auch um“ (P18) darauf hin, dass die Potsdamer Straße als Wohnumfeld und Kiez für die Nutzer der Verkehrsachse Potsdamer Straße eben nicht relevant ist. „Also, man kann ja durchaus auch eine Kreuzberger Einkaufstraße seinen touristischen Freunden als spannend verkaufen ... Jetzt gehen wir mal dahin, wo das orientalische Leben tobt. Das tobt nicht. […] Man geht da durch [durch die Potsdamer Straße], aber man verweilt nicht, man flaniert nicht. Also insofern – im günstigsten Fall bedeutungslos“ (P20): die Gegend sei uninteressant im Sinne einer touristischen, städtischen oder exotischen Anziehungskraft. Diese Verwendungsweisen von /Bedeutung/ etc. zeigen, dass im relativen Sinn bedeutend bzw. bedeutungslos für einen Interpreten I nur die Elemente sein können, 115 Berücksichtigt wurden: ‚Bedeutung‘ / ‚bedeutend‘ /‚bedeutungslos‘, ‚Zeichen‘ / ‚Anzeichen‘ / ,Wahrzeichen‘, ‚Signal‘, ‚signalisieren‘, ‚Symptom‘, ‚sehen … denken‘, ‚sehen an‘, ‚stehen für‘, ‚lesen‘ / ‚ablesen‘, ‚spiegeln‘, ‚schließen‘ und ‚zeigen‘. ‚Aussehen wie‘, ‚aussehen nach‘ etc. verweisen dagegen überwiegend auf einfache Kategorisierungsprozesse und wurden ebenso wie ‚wirken‘, das auf Evaluationen und atmosphärische Eindrücke verweist und nicht im engen Sinn als semiotisch aufgefasst werden kann, nicht einbezogen. 116 Besonders die Äußerungen von P16. 117 Siehe Kap. 2.1.
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die für ihn einen Inhalt X (wie vage dieser auch sein mag) in einem spezifischen Kontext Y haben (bzw. diesen Inhalt im Kontrast zu anderen Elementen nicht haben). Der Begriff /Zeichen/ kommt in drei Varianten vor: als /Zeichen/, /Anzeichen/ und /Wahrzeichen/. Auch /Zeichen/ wird überwiegend im Sinne von , als nichtintentionaler Index verwendet und referiert auf Objekt-Zeichen. „Wenn Sie über Zeichen sprechen wollen, dann ist es eine gewisse Verlottertheit, die man sieht. Die ist deutlich sichtbar: schief gestellte Straßenschilder oder ...“ (P16). „Und das, was sich in den letzten zehn Jahren entwickelt hat mit den muslimischen markanten Zeichen, Frauen mit Kopftüchern und so weiter, das gibt der Potsdamer Straße und überhaupt den Straßen ein ganz anderes Bild“ (P14). Nur in der Beschreibung des Fotos IP 1 der Fotofrage, auf dem die Spuren einer alten Ladeninschrift zu sehen sind, wird mit dem Begriff /Zeichen/ auf ein Kommunikations-Zeichen referiert, dieses jedoch gleichzeitig als indexikalischer Verweis auf die Historie der Straße interpretiert: „Das ist auch noch so ein Zeichen aus der alten Zeit, wo die ganzen Leute nicht über eBay und Internet gekauft haben, sondern man ist zu Radio-Brée gegangen und hat sich beraten lassen und da den Fernseher gekauft und nicht bei Media Markt und ‚Geiz ist geil‘“ (P8). Synonym mit dem Zeichenbegriff als Anzeichen wird /Signal/ und /Symptom/ gebraucht: „So die Kleinigkeiten, überhaupt der Straßenzustand auch, der ist also ... der signalisiert natürlich auch, dass hier wenig investiert wird“ (P16). „Wir haben jetzt schon vier solcher Läden, in der Potsdamer Straße bis zum Kleistpark sind mindestens vier Läden, die alle Ein-Euro-Shop und etwas drüber sind. So, und das ist wirklich ein fatales Signal“ (P16). „Deswegen sind es eben solche kleinen Sachen wie Baumscheiben-Verschönerung, da gibt es ganz viele Menschen, die sagen: Tja, wenn das nun der Sicherheit der Stadt zuträglich ist, dann sollen sie es machen. Es ist viel mehr, es ist viel mehr, weil es ganz viele Signale ausstrahlt“ (P20). Auch das Verb /schließen/ weist auf eine kausale indexikalische Interpretation hin „Man sieht immer, was auf diesen Balkonen draufsteht: Bei vielen steht Sperrmüll drauf, also das lässt auf ein bisschen desolate Verhältnisse schließen“ (P4). /Sehen an/, /ablesen/, /spiegeln/, /Sehen … denken/ und /zeigen/ haben ebenfalls semiotische, indexikalisch angelegte Implikationen: „Das liegt wahrscheinlich daran, dass ich auch immer ganz froh bin, wenn ich leere Geschäfte sehe, weil ich immer denke, hier lassen sich die Mieten höchstwahrscheinlich bezahlen“ (P4). „Als Erstes würde man es [mehr Kultiviertheit] sehen an anderen Cafés und Restaurants mit einem anderen Publikum“ (P15). „Man sieht der Straße an, dass das ein armer Stadtbezirk ist. […] Man kann es sehr gut an der Konzentration von Billigmärkten und Billiganbietern ablesen, man kann das überhaupt an der Gewerbestruktur hier ablesen und man kann es daran ablesen, dass ein ziemlich hoher Leerstand ist in der Straße“ (P16). „Aber wenn man sich die Bevölkerung an-
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guckt, die benutzen ja die Billigläden. Insofern haben die auch eine Funktion, insofern spiegelt es natürlich so ein bisschen ...“ (P12). „In dem Moment, wo wir den Medienstandort stärken, dann können wir nach außen mehr zeigen: Wir sind wer, hier passiert was, hier ist was ganz Tolles“ (P13). In diesem letzten Beispiel handelt es sich um den Verweis auf eine kommunikative, ostensive Handlung:118 die Ansiedlung der Medienbetriebe wird von den Akteuren des Quartiersmanagements exemplifizierend als intentionales Zeichen für eine Aufwertung der Potsdamer Straße eingesetzt. Zusammengefasst lässt sich feststellen, dass auf Interpretationshandeln verweisende Begriffe in den Interviewtexten zwar verwendet werden, jedoch nur ein kleinerer Teil aller interpretierenden Prozesse durch solche Begriffe explizit beschrieben werden. Deutlich wird in diesen Äußerungen, dass /Bedeutung/ im Sinne von und /Bedeutung/ im Sinne von nicht als vollkommen unterschiedliche Konzepte aufgefasst werden sollten. Ferner zeigt sich, dass die interpretationsanzeigenden Begriffe sich fast ausschließlich auf als Anzeichen wirkende Objekt-Zeichen beziehen und damit auch generell als exemplarisch für die in den Vorstellungen sich ausdrückenden Interpretationsformen gelten können. Eine direkte Frage „Was sind für Sie Zeichen der Straße“ wurde in einigen der zuerst geführten Interviews gestellt. In den Antworten wurden überwiegend auf Ladenschilder und andere auf konventionellen Kodes basierende KommunikationsZeichen hingewiesen. Das sich in diesen Äußerungen zeigende abstrakte Konzept weicht offenbar von dem Konzept ab, welches in der Kommunikation angewendet wird, wenn konkrete Token als Anzeichen für einen Tatbestand beschrieben werden.
118 Zum Begriff der Ostension siehe Kap. 2.2.3.1 / Index, Ikon und Symbol, Fußnote 95.
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4.4 D IE GESCHRIEBENE S TRASSE : DIE P OTSDAMER S TRASSE IN DER B ERLINER P RESSE Im Folgenden werden in der Berliner Presse erhobene Darstellungsimages der Potsdamer Straße knapp analysiert. Auswahl- und Auswertungsmethode sowie Spezifika der Textsorte Presseartikel wurden in Kapitel 4.2.2 dargestellt. 4.4.1 Themenschwerpunkte der Berichterstattung über die Potsdamer Straße in den Jahren 1998 bis 2008 Für die im Zeitraum 1998 (Jahr der Eröffnung der ‚Daimler-City‘ inkl. Potsdamer Platz Arkaden am Potsdamer Platz) bis Ende 2007 erschienenen Presseartikel wurde eine grobe Themenübersicht erstellt und durch einen Ausblick bis ins Jahr 2009 ergänzt. Ein zentrales Thema der Berichterstattung der Zeitungen über die Potsdamer Straße bildete bis in die Mitte der 90er Jahre der intensive Drogenhandel mit seinen Folgeerscheinungen. Im April 1998 berichtete die Welt über einen Rückgang der Straßenkriminalität: „Der Drogenkiez ist sicherer geworden“ (Welt, 23.04.1998). In den Folgejahren wurde der Drogenhandel weiterhin am Rande thematisiert, insbesondere in Zusammenhang mit Berichten über Imageverbesserungen der Potsdamer Straße, war aber nicht mehr Hauptthema einzelner Artikel. 1998/99 waren der Berliner Sozialpalast (2001 in ‚Pallasseum‘ umbenannt, vgl. Kap. 1.8 und 4.3.1.2) und die Bemühungen, dort Vandalismus und Verwahrlosung Herr zu werden, ein zentraler Gegenstand der Presseartikel zu Thema Potsdamer Straße. „Unentwegter Kämpfer gegen den Dreck“ (Die Welt, 25.11.98) und „Kampf gegen das Elend“ (Bild, 01.04.1999) oder, etwas zuversichtlicher „Im ‚Sozialpalast‘ wachsen jetzt Blumen gegen die Tristesse“ (Frankfurter Allgemeinen Zeitung, 13.09.1999) lauten hier u.a. die Überschriften. Das Jahr 2000 ist durch das Thema ‚Imageverbesserung‘ geprägt. Berichtet wird über Initiativen von Bürgern („Kiezbewohner als Krisenmanager“, Berliner Morgenpost 07.03.2000) und ein kulturelles Projekt (Berliner Morgenpost 26.09.2000), ferner über Treffen von Anwohnern und Gewerbetreibenden (u.a. „Die Schmuddelmeile hat glänzende Aussichten“, Tagesspiegel 30.03.2000, „Neuer Stil für die ‚Potsdamer‘“, Berliner Morgenpost 30.03. 2000) und die Wiederbelebung der Interessengemeinschaft der Gewerbetreibenden IG Potsdamer Straße („Mit Besen und Harken voran“, Tagesspiegel 01.05.2000). Auch in dem in Kap. 4.4.2 im Detail ausgewerteten Artikel der Zitty von 2000 werden erste Bestrebungen zur Imageverbesserung thematisiert. 2002/ 2003 steht das in einer endgültigen Version im Mai 2003 durch das Planungsbüro TOPOS vor-
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gelegte Gestaltgutachten zum „Boulevard Potsdamer Straße“119 im Mittelpunkt. „Große Pläne für die Potsdamer Straße“ (Tagesspiegel 31.10.2002) oder „Potsdamer Straße soll heller und grüner werden“ (Berliner Morgenpost 21.05.2003) wird hier getitelt. 2004 berichten zwei Artikel über die polizeiliche „Prävention als Sisyphusarbeit“ (Berliner Morgenpost, 16.04.2004), welche versucht, Drogen- und Gewaltkriminalität möglichst früh entgegenzutreten und bereits Erfolge vorweisen kann („Die Dealer sind schon weg“, Berliner Zeitung, 16.01.2004). Für 2005 ist eine gemeinsame Thematik, die von mehreren Presseorganen in ausführlicher Form aufgegriffen worden wäre, nicht nachzuweisen. Die Berliner Zeitung beschäftigt sich zweimal kurz mit dem Kunstprojekt auf der Potsdamer Straße und seinem Scheitern: „Kunst statt Kriminalität“ (11.03.2005) und „Der Dreh mit dem Pferd“ (01.09.2005). Im August/September 2006 berichten alle großen Berliner Tageszeitungen über die Publikation des Buches zur Geschichte der Potsdamer Straße von Sibylle Nägele und Joy Markert. Die Uneindeutigkeit des Bildes der Potsdamer Straße, sowohl in der historischen Entwicklung als auch aktuell, wird dabei in den meisten Artikeln betont, z.B. im „Lob der Unübersichtlichkeit“ (taz 20.09.2006), oder unter dem Titel „Zwischen Rot- und Blaulicht“ in der Jungen Welt (12.09.2006). Die an die Ecke Potsdamer Straße/Kurfürstenstraße zurückgekehrte Straßenprostitution und das im ehemaligen Wegert-Haus geplante Bordell dominieren im letzten Quartal 2007 die Berichterstattung in allen Zeitungen: „Sex und Drogen – Anwohner kämpfen um ihren Kiez“ (Berliner Morgenpost, 13.10.2007), „Love, Sex – und Albträume“ (Tagesspiegel, 13.10.2007) und „Grenzverkehr auf der Potse“ (taz, 10.10.2007) lauten einige der Schlagzeilen. Über die Aktivitäten zur Entwicklung der Potsdamer Straße zu einem Medienstandort wird seit 2004 informiert. Ein „Netzwerk der Kreativen“ sieht die Berliner Zeitung (09.12.2004) entstehen, allerdings handele es sich um „Medienmacher im Problemkiez“ (taz, 21.03.2005). 2007 berichtet die Berliner Morgenpost über einen verstärkten Zuzug von Medienunternehmen: „Potsdamer wandelt sich zur MedienMeile“ (08.03.2007). Die Mehrzahl der Artikel beschreibt den jeweils aktuellen Zustand der Potsdamer Straße als problematisch und erheblich verbesserungsbedürftig. Anwohner und Gewerbetreibende seien „Krisenmanager“ im „Problemkiez“. Die Artikelüberschriften (s.o.) konnotieren Aktivitäten wie ‚aufräumen‘ und ‚saubermachen‘ der „Schmuddelmeile“, dabei ist der Erfolg immer unsicher und gefährdet: Es sei eine „Sisyphusarbeit“, der „Kampf“ müsse „unermüdlich“ weitergehen. Positiv verändern könne sich die Potsdamer Straße, indem sie „heller und grüner“ werde, aus dem „Schatten“ (Zitty 01.2000, s.u. Kap. 4.4.2) heraustrete, und „Kunst statt Kriminalität“ Einzug halte. Allgemein richtet sich der Blick eher abwartend als optimis119 Siehe Planungsbüro TOPOS 2003.
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tisch in die Zukunft oder sieht zurück auf die ereignisreiche Vergangenheit. Die Schließung des Wintergartens im Januar 2009 gibt Anlass zu erneuten Abgesängen auf die Potsdamer Straße (z.B. Tagesspiegel, 08.01.2009, „Des Wintermärchens letzter Akt“ und Berliner Morgenpost, 13.01.2009, „Der Traum vom Boom ist ausgeträumt“). Erst ab Mitte 2008 (und damit nach Ende des Untersuchungszeitraums) werden mit den Berichten über die wieder auflebende Kunstszene an der Potsdamer Straße wieder Entwicklungen als eindeutig positiv thematisiert (Tagesspiegel 06.09.2008, Tagesspiegel 11.08.2009: „Eine Achse für die Kunst“, Tip, 17.09.2009: „Kunstkiez Potsdamer Straße“). 4.4.2 Vier Presseartikel 1999-2007 Vier Artikel der Berliner Lokalpresse wurden komplett codiert und analysiert. Es handelt sich dabei um Artikel des Tagesspiegel vom Oktober 1999 („Der Aufschwung macht einen Bogen“, Füchsel 1999), des Veranstaltungsmagazins Zitty vom Januar 2000 („Im Schatten des Riesen“, Schwiontek 2000), der Berliner Zeitung vom April 2002 („Straße der Gegensätze“, Eltzel 2002) und der taz vom Dezember 2007 („Der Potsdamer Straßen-Blues“, Schwab 2007). Diese Artikel wurden ausgewählt, da sie im Unterschied zu den in Kap. 4.4.1 nur überblicksartig behandelten Pressetexten nicht nur einzelne Aspekte der Potsdamer Straße thematisieren, sondern ein umfassenderes Bild der Straße zeichnen. Auf gewisse inhaltliche Schwerpunktsetzungen verzichten allerdings auch diese Artikel nicht. Die Überschriften weisen bereits auf inhaltlichen Fokus und Tonlage der Texte hin: Füchsel und Schwiontek (1999 und 2000) stellen den ökonomischen und sozialen Kontrast zwischen dem boomenden neuen Zentrum Berlins am Potsdamer Platz (dem „Riesen“) und der in seinem „Schatten“ liegenden, an diesem Aufschwung kaum partizipierenden Potsdamer Straße in den Mittelpunkt. Dabei sind in Schwiontek auch einige leise optimistische Töne zu finden. Eltzel berichtet 2002 von den Bemühungen der Gewerbetreibenden, das Image der Straße zu verbessern und zeigt interne Kontraste der Potsdamer Straße auf. Die Grundstimmung im tazArtikel vom Dezember 2007 (Schwab 2007), der die Abwanderung von Geschäften und wichtigen Institutionen der Potsdamer Straße zum Thema hat, ist wieder deutlich düsterer, neben dem „Blues“ gibt es nur wenige Aufhellungen.120 Vergleiche zwischen den Inhalten der Zeitungsartikel und der Interviews können auf Grund der unterschiedlichen Textsorten und des sehr unterschiedlichen Text-
120 Die Licht-Metapher und Hell / Dunkel-Opposition wird bereits in der Einleitung des taz-Artikels eingeführt, im Mittelteil weiter verwendet und im Schlussabsatz noch einmal aufgenommen: „Der letzte macht das Licht aus“.
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umfangs der beiden Teilkorpora nur im Sinne der Feststellung genereller Tendenzen gezogen werden (s.o. Kap. 4.2.2). Wenn im Folgenden vergleichende Aussagen zu Inhalten gemacht werden, handelt es sich immer um den Vergleich der Rangfolge der Inhalte innerhalb des Textsortentyps Zeitungsartikel mit der Rangfolge der Inhalte innerhalb des Typs Interview. Die Gliederung der Analyse entspricht in der Abfolge der Gliederung in 4.3. In Anbetracht der geringen Anzahl und der Kürze der zu analysierenden Texte wurden die Unterkapitel jedoch weniger differenziert angelegt und die jeweils analysierten Inhalte durch Kursivsetzung hervorgehoben. Objekttoken werden in den Presseartikeln relativ häufiger genannt als Objekttypen,121 während in den Interviews leicht die Nennungen von Objekttypen überwiegen. Dabei ist Anzahl der genannten unterschiedlichen Objekttoken in den Pressetexten besonders hoch: 65 unterschiedliche Objekte (einschließlich der historischen Objekte) werden thematisiert. Diesen stehen in den Interviewtexten „nur“ 166 Objekte gegenüber, obwohl für die Interviewtexte insgesamt ca. 10-mal so viele Codierungen vorgenommen wurden wie für die Zeitungsartikel. Der Mittelwert der Anzahl der genannten Token pro Artikel (einschließlich historischer Token) liegt bei 17, bei den Interviews ist er nur wenig höher (21). Es gibt kein Objekttoken, das in allen 4 Artikeln genannt wird. In 3 Artikeln wird der Wintergarten erwähnt. Thematisiert werden in allen dieser 3 Artikel die Wintergarten-Besucher: diese nützten das (seit ca. 2004 nicht mehr vorhandene) Restaurant Steffens (Eltzel 2002), bahnten sich, selbst „festlich gekleidet“ am UBahnhof Kurfürstenstraße ihren Weg durch „fahrige, abgerissene Leute“ (Füchsel 1999) oder prosteten sich, in Gestalt älterer Damen im Foyer „gut gelaunt mit Sekt“ zu (Schwab 2007). Der Wintergarten ist relevant als bekannter Berliner Veranstaltungsort. Der soziale Status seiner Gäste steht im Kontrast zu dem vieler anderer Nutzer der Potsdamer Straße, ferner ist der Wintergarten ein Ort der gehobenen Unterhaltung in der sonst problembeladenen Potsdamer Straße und verfügt auch über ökonomische Relevanz für die Potsdamer Straße (s. Kap. 4.3.1.1). Der Tagesspiegel wird in 2 Artikeln genannt.122 Zitiert werden in einem Artikel Mitarbeiter des Quartiersmanagements, für die er einen „Anker der Stabilität“ darstelle, seine Mitarbeiter seien wichtige Kunden für die Gewerbetreibenden der Potsdamer Straße (Schwiontek 2000). Dieser Inhalt findet sich auch in den Interviews. Im Artikel der taz von 2007 (Schwab 2007) ist der geplante Wegzug des Tagesspiegel ein weiteres Indiz für den Niedergang der Potsdamer Straße. Die lichtschwache Reklame des Tagesspiegel wird zum Zeichen für die sich verdunkelnde 121 Dieses Übergewicht ist besonders deutlich bei dem Tagesspiegel-Artikel (Füchsel 1999). 122 Im Artikel des Tagesspiegel (Füchsel 1999) wird der Tagesspiegel selbst nicht thematisiert.
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Stimmung: „Im Hintergrund aber erkennt man, fast schon erloschen, die neongraue Leuchtschrift ‚DER TAGESSPIEGEL‘“ (Schwab 2007). Der Wegzug wird auch zum Leitthema der im Artikel in Auszügen zitierten Kurzbefragungen. In diesen wird das Gebäude des Tagesspiegel als „Ruine“ beschrieben. Reaktionen auf den Wegzug schwanken zwischen Bedauern bei denen, die dies als weiteren Verlust für die Potsdamer Straße im Ganzen sehen: „,Alles was gut ist, ist weg‘“ (Füchsel 1999), Gleichgültigkeit bei jenen Geschäftsleuten, deren Umsatz kaum betroffen sein wird und Entsetzen bei denen, für die die Mitarbeiter des Tagesspiegel wichtige Stammkunden darstellen: „‚Die halbe Tagesspiegel-Belegschaft spielt doch bei mir Lotto‘“ (Schwab 2007). In je zwei Artikeln werden ferner das Pallasseum, der Ave-Maria-Laden, Schilder-Behrendt sowie der Harb-Laden genannt.123 Das Pallasseum fungiert in den beiden Artikeln von 1999 und 2000 (Füchsel und Schwiontek) ohne nähere Erläuterung als „Sozialpalast“, wobei offenbar vorausgesetzt wird, dass den Lesern Objekt und Bezeichnung bekannt sind (die offizielle Bezeichnung Pallasseum existiert erst seit 2001).124 Der Sozialpalast reiht sich ein in die räumliche Abfolge von Orten der Armut und Halbwelt: „Auch einige Anwohner und Geschäftsleute marschierten mit, vorbei am Sozialpalast, dem ‚Spieltreff‘, dem ‚Automatencafé‘, der ‚Sex Show‘, ‚Rudis Resterampe‘ und ‚Dolly Buster‘“ (Füchsel 1999), die Umgebung sei laut einer Anwohnerin geprägt durch Kriminalität und Gewalt (s.u.). Zu den drei Einzelhandelsgeschäften siehe unten. Von den in den Interviews am häufigsten genannten Objekttoken (Platz 1-10) kommen der Kleistpark und die Staatsbibliothek in den Presseartikeln nicht vor (s.u. zur Stadtnatur und inneren Struktur). Alle in mehr als einem Artikel genannten Objekte finden sich auch in den Interviewtexten. Nicht in den Interviewtexten, jedoch in den Artikeln genannte aktuelle Objekte sind das Hotel am Potsdamer Platz, der Floriya-Imbiss und der Gastronomiebedarf Senocak. Die Bebauung der Potsdamer Straße wird, wenn sie nur als Typ genannt wird, mit einer Ausnahme immer auch zeitlich kategorisiert: „Billigbauten der 70er Jahre“ (Schwiontek 2000) oder „Plattenbauten“ werden kontrastiert mit der Bebauung der vorigen Jahrhundertwende, die laut der Zitty-Autorin verschwunden sei: „Von den eleganten Geschäften und Wohnhäusern, die […] die Potsdamer Straße prägten, ist nichts geblieben“ (Schwiontek 2000). Die taz-Autorin findet sieben Jahre später jedoch noch einige „großbürgerliche Altbauten […] zwischen der 123 Der ebenfalls zweimal genannte U-Bahnhof Bülowstraße wird nur in Form einer Ortsbestimmung und nicht als eigenständiges Bauwerk erwähnt und deshalb hier nicht berücksichtigt. 124 Die Autoren gehen also davon aus, dass der Sozialpalast berlinweit bekannt und Element des konventionalisierten Images der Potsdamer Straße ist.
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bröckelnden Nachkriegsarchitektur“, allerdings sei der „Luxus“ „unauffällig“, den sie den Bewohnern böten, die noch an der Potsdamer Straße „durchhalten“: „Neben Pfennigläden und versteckt hinter Schildern, wo ‚Büro-Gewerbefläche zu vermieten. Provisionsfrei‘ draufsteht, lässt es sich leicht in einen Dornröschenschlaf sinken“ (Schwab 2007). Auch hier werden, wie schon in den Interviews, historische Kategorisierungen sowie Objektaspekte mit sozialen Inhalten verknüpft. Die Einzelhandelsgeschäfte der Potsdamer Straße als Typen und ihre Betreiber werden in ähnlicher Weise charakterisiert wie in den Interviews: „kleine Händler, die mit geringen Umsätzen und zu hohen Gewerbemieten kämpfen, […] Billigläden und türkische Geschäfte“ (Eltzel 2002), aber auch „anspruchsvollere Geschäftsleute“ (Füchsel 1999). Billigläden und Sexshops als Token oder Typen werden jeweils in 3 Artikeln genannt. Einige Einzelhandelsbetriebe werden exemplarisch genannt, teilweise in Zusammenhang mit Kurzinterviews ihrer Inhaber oder Mitarbeiter. Bei den genannten Objekttoken überwiegen die Fachgeschäfte, davon werden das Ave Maria, der Harb-Laden und Schilder-Behrendt in 2 Artikeln erwähnt: Die Betriebe werden über die dort vertriebenen Artikel charakterisiert: „Madonnenstatuen, Rosenkränze und Heiligenbilder gibt es in der Devotionalienhandlung ‚Ave Maria‘ in der [Haus-]Nummer 75, in der 93 [im Harb-Laden] Mittelmeerdelikatessen und Weine aus dem Libanon“ (Schwiontek 2000), nur Schilder-Behrendt wird zusätzlich als Traditionsfachgeschäft „in dritter Generation“ beschrieben (Schwab 2007). Der Themenkomplex Handelsbetriebe und Einkaufen hat in Zeitungsartikeln und Interviews in Relation zu den jeweils anderen Inhalten einen ähnlichen Stellenwert. Gastronomische Einrichtungen haben in den Zeitungsartikeln einen relativ geringeren Stellenwert, die Potsdamer Straße steht hier für „kleine, meist türkische oder asiatische Imbisse“ (Eltzel 2002), außerdem werden insgesamt drei Restaurants als Token erwähnt, darunter die alteingesessenen Betriebe Dalmacija-Grill und Dionysos (Schwab 2007).125 Der Name des griechischen Restaurants lässt die tazAutorin eine Brücke zur antiken Mythologie und wieder zurück zur Realität der Potsdamer Straße schlagen: „Mehr Dionysos, mehr Gott des Weins, der Freude, der Fruchtbarkeit, der Ekstase als im Wintergarten gibt es auf der Potsdamer Straße nicht. Eher schon findet man das, was dem Jüngsten unter den griechischen Göttern noch anhängt: Weil sein Gefolge so laut war, heißt er nämlich auch Bromios, der
125 Da die Küche der überwiegend bereits seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts in der Bundesrepublik bestehenden kroatischen und griechischen Restaurants im Allgemeinen nicht als ausgesprochen innovativ oder modern gilt, kann angenommen werden, dass durch die Auswahl dieser beiden Token auch eine zumindest gastronomische Rückständigkeit der Potsdamer Straße konnotiert werden soll.
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Lärmer, oder Bakchos, der Rufer. Das passt zur Potsdamer-Straßen-Wirklichkeit mit dem ewig brummenden Verkehr“ (Schwab 2007). Elemente des Stadtgrüns werden in 2 Artikeln genannt (insg. 4 Zitationen in Schwiontek 2000 und Eltzel 2002). Erwähnt werden die Begrünung des Hofes der Potsdamer Straße 98, die Neuanlage des Parks am Pallasseum sowie die Bepflanzung von Baumscheiben. Ein ehemals besetztes Hauses gegenüber dem ‚Sozialpalast‘ im Abschnitt Bülowstraße „mit idyllischem Innenhof, mit begrünten Dächern“ werde von einem seiner Bewohner als „Oase in einer böser gewordenen Gegend“ wahrgenommen (Schwiontek 2000). Natur wird auch hier zur heilen Gegenwelt (s.o. Kap. 4.3.1.2 Elemente des Stadtgrüns). Die in den Interviews von der Mehrzahl der Befragten genannten, bereits bestehenden Parks kommen nicht vor. Der für die Potsdamer Straße spezifische Inhalt Nutzung Prostitution ist in allen 4 Artikeln mit insgesamt 9 Zitationen präsent. In den Presseartikeln von 1999 bis 2002 erscheinen die Bordelle überwiegend als historische Reminiszenz: „Vor Charlies Bierschwemme am Eck Pohlstraße saßen die Mädchen auf dem Trottoir, im Mexiko (Ecke Lützowstraße) zeigten sie ihre Fülle an den Fenstern“ (Füchsel 1999). Nur die Straßenprostitution spielt noch eine Rolle (Eltzel 2002), im Artikel von 2007 wird zusätzlich das geplante Laufhaus thematisiert (Schwab 2007). Die Potsdamer Straße als Kulturstandort erscheint in den Artikeln fast nur in Gestalt der Einzelobjekte Tagesspiegel, Wintergarten und der beiden Buchhandlungen. Weitere kulturbezogene Objekte oder kulturelle Nutzungen werden nur im Artikel der Berliner Zeitung thematisiert: „Verlage, Medienunternehmen und Künstler, die sich vor allem in den Hinterhöfen angesiedelt haben“ (Eltzel 2002), gehörten auch zum Bild der Potsdamer Straße. Insgesamt wird die Kultur jedoch, anders als in den Interviews, nicht als eindeutig relevanter Aspekt der Potsdamer Straße dargestellt. Dabei muss berücksichtigt werden, dass keiner der Artikel das Kulturforum als Teil der Potsdamer Straße auffasst und folglich auch die dort konzentrierten kulturellen Nutzungen nicht beachtet werden. Die Nutzung der Potsdamer Straße als Verkehrsader und der Verkehr in der Straße wird in allen Artikeln angesprochen. Erwähnung finden die Bedeutung der Potsdamer Straße als Teil der ehemaligen Reichsstraße 1 (Schwiontek 2000), ferner das hohe Verkehrsaufkommen: „Der Publikumsmagnet Arkaden habe ihrem Geschäft bisher nur wenige Touristen auf Irrwegen und ein paar gelangweilte Autofahrer beschert. ‚Die werden auf uns aufmerksam, während sie hier Ewigkeiten im Stau stehen‘“ (Füchsel 1999) sowie der durch den Verkehr verursachte Lärm (Füchsel 1999; Schwab 2007, s.o.). Die historische Dimension der Straße hat in den Artikeln einen hohen Stellenwert, alle Artikel thematisieren sie mehrfach. Dabei gibt der Tagesspiegel-Artikel einen metaphernreichen Schnelldurchlauf: „Doch dies ist nur eines von vielen Bildern im Kaleidoskop einer Straße, die von der Geschichte geschunden wurde wie kaum eine andere. Erst noble Adresse, dann zerbombt, wieder aufgebaut, doch
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abrupt unterbrochen, abgeschnitten vom Ostteil und ohne das einstige pulsierende Zentrum der Stadt, den Potsdamer Platz. Heruntergekommen zur sündigen Meile, hochgepäppelt zu – ja wozu eigentlich? Zu einer Straße, mit der wir sehr viele Probleme haben – , sagt die Schöneberger Bezirksbürgermeisterin Elisabeth Ziemer“ (Füchsel 1999, ähnlich, jedoch etwas konkreter auch bei Schwiontek 2000). Bei den Einzelaspekten sind ebenso wie in den Interviews Hausbesetzungen und Berliner Mauer führend. Historische Objekttoken werden in größerer Zahl besonders im taz-Artikel genannt, der Leerstand und Abwanderung von Geschäften in den Fokus nimmt (s.a. unten zum Leerstand). Soziale und kulturelle Kategorisierungen erreichen auch in den Artikeln einen hohen Anteil unter den gesamten Inhalten, beide Kategorien wurden (wie in den Interviews) gleich häufig vergeben. Soziale Einordnungen werden durch Nennung der Arbeitslosenzahl im Quartier oder durch Beschreibung des Äußeren von Passanten vorgenommen: „Festlich gekleidete Gäste des Varietés geleiten sich Arm in Arm im Slalom durch fahrige, abgerissene Leute“ (Füchsel 1999), oder auch durch Verweis auf die jeweils bevorzugten Einkaufsmöglichkeiten: „Billigläden und türkische Geschäfte würden von den Leuten mit kleinem Geldbeutel aufgesucht, Besserverdienende kaufen gern auf dem nahen Winterfeldtmarkt, sagt die diplomierte Architektin und Stadtsoziologin“ (Eltzel 2002). Bei den ethnisch-kulturellen Einordnungen werden generalisierende Begriffe wie multikulturell oder ausländisch mit einer Ausnahme nicht verwendet, sondern Zuschreibungen durch Zuordnung zu spezifischen Nationalitäten hergestellt: „undurchsichtige Konflikte zwischen türkischen und kurdischen Jugendgangs“ (Schwiontek 2000), „kroatische Küche“ (Schwab 2007). Soziale Kontakte werden in den Zitaten aus Interviews mit Anwohnern thematisiert: „Was stabile Nachbarschaften sind, weiß er aber auch so. ‚Keine zehn Pferde bringen mich hier weg‘, sagt der 60-Jährige. ‚Man kennt so viele Leute, und immer ist was los, da nehme ich auch den Wahnsinnsverkehr in Kauf‘“ (Füchsel 1999). Temporäre Objekte und Objekttypen, die Veranstaltungen direkt an der Potsdamer Straße betreffen werden nur in einem Artikel genannt (Eltzel 2002), der von Aktionen der IG Potsdamer Straße berichtet, weiterhin findet der Winterfeldtmarkt Erwähnung (ebenfalls Schwiontek 2002, s.o. unter ‚Soziale Kategorisierungen‘). Objektaspekte besitzen einen hohen Stellenwert. Eine überproportional häufige Nennung von Objektaspekten weist der taz-Artikel auf. Objektaspekte von einzelnen Objekten werden deutlich häufiger beschrieben als in den Interviews: „Die Schaufenster sind staubig, der graue Teppich dahinter schlägt Wellen. Ein voller Aschenbecher ist die einzige Hinterlassenschaft des Händlers, der hier zuletzt sein Glück versucht hat. Der Laden ist leer, wie viele in dieser Gegend, die nur 500 Meter von der Boomtown am Potsdamer Platz liegt. ‚Zu vermieten‘, wirbt eine Immobilienfirma auf roten Plakaten, ‚auch als Spielhalle‘“ (Schwiontek 2000).
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„Der Laden, […] strahlt trotz grell-pastelliger Ringbücher und Servietten mit Weihnachtssternen noch immer das Flair eines Traditionsgeschäfts aus. In den alten Holzregalen, die bis unter die Decke reichen, stehen Schachteln mit Nummern drauf“ (Schwab 2007). Einen hohen Anteil haben Aussagen zum Thema Kriminalität, Gewalt und Halbwelt.126 Dieser Komplex wird beinahe so häufig wie soziale und kulturelle Kategorien (s.o.) angesprochen und in drastischen Bildern beschrieben: „Evelyn Pucknat – sie ist 1976 mit ihren Kindern in den Sozialpalast gezogen – pflegt wie die meisten anderen Anwohner zu ihrem ‚Kiez‘ ein eher ein distanziertes Verhältnis. Abends könne sie sich hier ‚als Frau überhaupt nicht aus dem Hause trauen, schließlich steige man schon morgens auf dem Weg zur Arbeit am U-Bahnhof Bülowstraße über die Drogenabhängigen. Oder man stolpert vorher überne tote Ratte‘. Die Spielplätze seien seit Jahren von bedrohlich wirkenden Jugendlichen besetzt. Die Nachtruhe werde regelmäßig von Feuerwehrsirenen und Einsätzen der Funkwagen zerrissen“ (Füchsel 1999). Explizite Aussagen zu atmosphärischen oder globalen Eigenschaften der Potsdamer Straße sind in den Artikeln auf den ersten Blick seltener vertreten.127 Die in den Interviews als ein herausragendes charakteristisches Merkmal der Potsdamer Straße genannte Eigenschaft der Lebendigkeit (s. Kap. 4.3.2) wird in den Artikeln nur zweimal explizit in Bezug auf die aktuelle Potsdamer Straße genannt: „Das Leben beginnt auf der Potsdamer Straße eher in Richtung Kurfürstenstraße, wo sich neben Imbissbuden und Supermärkten auch anspruchsvolle Geschäftsleute niedergelassen haben“ (Füchsel 1999). Ähnlich wie in den Interviews ist die Zuschreibung hier abschnittsbezogen auf den Bereich zwischen Lützow- und Kurfürstenstraße. Einer der befragten Anwohner findet, dass die Lebendigkeit seit der Wende und mit der Abwanderung vieler Geschäfte verloren gegangen sei (Schwab 2007). Zitationen zur Mischung oder Heterogenität erscheinen in drei Artikeln. Der Tagesspiegel- und der Zitty-Artikel verwenden die Metapher des Kaleidoskops: 126 Allerdings muss dabei berücksichtigt werden, dass die Sicherheit in der Potsdamer Straße sich seit Ende der 90er Jahre noch weiter verbessert hat (s.a. Interviewäußerungen in Kap. 4.3.1.4 und 4.3.1.9). 127 Zu beachten ist, dass Mischung und Lebendigkeit nicht als Eigenschaften von Einzelobjekten, sondern nur von Objektanordnungen, von Syntagmen fungieren können. Während die Befragten in den Interviews ihre Vorstellung der Potsdamer Straße beschreiben, die sie bereits mental aus den Einzelobjekten zusammengesetzt haben, die also bereits produziert ist, liefern die Artikel durch Nennung von Einzelobjekten und Beschreibung ihrer Eigenschaften nur Elemente, die erst der Leser mental zu einem Gesamtbild verbindet.
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„Doch das Quartiersmanagement-Team in Schöneberg-Nord kann auf erste Erfolge verweisen: ein Parkplatz am Sozialpalast wird zu einem ‚robusten‘ Park umgebaut, türkische Frauen begeistern sich für Deutschkurse, Hausflure wurden gestrichen, Feuerwehr- und Polizeieinsätze gingen zurück. Das Großstadt-Kaleidoskop der Potsdamer Straße hat viele widersprüchliche Facetten“ (Schwiontek 2000). Die Berliner Zeitung beschreibt die Potsdamer Straße als „Straße der Gegensätze“: „Zwischen ‚Highlights‘ wechseln Billiganbieter und Kramläden, kleine, meist türkische oder asiatische Imbisse, Spielhallen und Erotikcenter“ (Eltzel 2002). Zwar wird in insgesamt 24 Zitaten zur inneren Struktur der Potsdamer Straße über unterschiedliche Abschnitte oder deren Objekte berichtet, jedoch wird nur den Abschnitten Lützowstraße und Landwehrkanal ein eigener Charakter zugeschrieben: „Tatsächlich wirkt die Gegend am Landwehrkanal heute trauriger denn je“ (Füchsel 1999), „Das Leben beginnt auf der Potsdamer Straße eher in Richtung Kurfürstenstraße, wo sich neben Imbissbuden und Supermärkten auch anspruchsvolle Geschäftsleute niedergelassen haben“ (Füchsel 1999). Die Abschnitte Kurfürstenstraße, Bülowstraße und Goebenstraße werden nicht explizit als Einheit erwähnt oder atmosphärisch beschrieben, sondern es werden nur einzelne oder wenige Objekte in diesen Bereichen genannt (Commerzbank, Pallasseum, Schropp, BVG). Ähnlich wie in den Interviews werden die Abschnitte Lützowstraße und Landwehrkanal sowie die Kreuzung Kurfürstenstraße am häufigsten genannt, der Bereich Goebenstraße/Kleistpark kommt nur einmal vor (durch Nennung der BVG). Die Abschnitte nördlich der Potsdamer Brücke werden durchweg nicht als Teil der Potsdamer Straße aufgefasst. Der Bereich Kulturforum wird nur im Artikel der Berliner Zeitung genannt: „Nur etwa 200 Meter südlich der Glas- und Marmorpaläste am Potsdamer Platz beginnt die […] Meile. Doch Touristen und Berliner kommen nur selten zu einem Bummel dorthin. Vielleicht wegen des Landwehrkanals, der optisch wie eine Grenze zu Potsdamer Platz und Kulturforum wirkt“ (Eltzel 2002). Das in drei Artikeln thematisierte Potsdamer-Platz-Areal wird als räumlich nahe, jedoch sozioökonomisch und städtebaulich ferne Gegenwelt dargestellt: „Der Potsdamer Platz ist Berlins Vorzeigemeile. Um die Ecke die Potsdamer Straße ist das garantiert nicht“ [sic] (Schwiontek 2000). Der Zitty-Artikel zieht die in der Stadttheorie häufig genutzte, aber auch umstrittene Opposition zwischen „Zitadelle“ und „Getto“128 heran, um die Relation Potsdamer Platz –
128 Vgl. Friedmann/Wolff 1982: 319. Friedmann und Wolff beschrieben mit den Metaphern der „Zitadelle“ und des „Gettos“ die beiden polaren sozialen Räume in den „World Cities“, den globalen wirtschaftlichen Zentren. Die Zitadelle wird durch das innerstädtische Geschäftszentrum mit seiner Konzentration von Firmensitzen und Kon-
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Potsdamer Straße zu beschreiben: „Die Shopping- und Entertainment-Insel mit hochwertigen Bürogebäuden und Wohnungen ist die ‚Zitadelle‘, die sich physisch vom armen Stadtteil abschottet, das ‚Getto‘ wäre die Potsdamer Straße, in diesem Fall von ungleichen Entwicklungen zweigeteilt“ (Schwiontek 2000). Eine Zuordnung zu den Stadtbezirken (Schöneberg und Tiergarten) wird in 3 der 4 Artikel vorgenommen, nur der taz-Artikel erwähnt sie nicht. Die Bezirksgliederung steht häufig in Zusammenhang mit den Zitaten aus Interviews mit Akteuren der Bezirksverwaltung (Füchsel 1999; Schwiontek 2000), wird aber auch zur Verortung der Straße im Berliner Stadtkontext genutzt: „Fast zweieinhalb Kilometer lang zieht sich die Potsdamer Straße durch den Süden Tiergartens und den Schöneberger Norden“ (Eltzel 2002). Ästhetische Unterschiede im Straßenbild der Tiergartener und Schöneberger Abschnitte erkennt nach einem Zitat im ZittyArtikel die Schöneberger Bezirksbürgermeisterin: „‚Fast ein Boulevard‘ sei die Potsdamer Straße in Tiergarten, schäbig dagegen in Schöneberg“ (Schwiontek 2000). Auch sozial-ökonomische Grenzen werden mit Bezirksgrenzen parallelisiert, dabei wird das Pallasseum als exemplarisch für den Schöneberger Abschnitt genannt: „Denn während man im Norden auf Ausstrahlungseffekte der expandierenden Zitadelle [des Potsdamer Platzes] hofft, spielt diese Erwartung zwei Kilometer weiter südlich, in der Gegend um den Schöneberger Sozialpalast, keine Rolle“, „nächtliche Autorennen auf dem Gehsteig, undurchsichtige Konflikte zwischen türkischen und kurdischen Jugendgangs, Drogendepots“, sogar in aufgeschlitzten Motorradsitzen, seien in diesem Bereich an der Tagesordnung (Schwiontek 2000). Das Thema Ladenleerstand und Abwanderung von Betrieben nimmt einen relativ hohen Rang ein, allerdings stammen 5 der insgesamt 10 Zitate aus dem tazArtikel von 2007. Während Tagesspiegel 1999 und Zitty 2000 besonders den Leerstand im Abschnitt Landwehrkanal beschreiben – „Ein leeres Geschäft nach dem nächsten säumt die Einkaufszeile am nördlichen Ende. ‚Zu vermieten‘, steht in den Schaufenstern und zwar nicht erst seit gestern“ (Schwiontek 2000) – behandelt der taz-Artikel von 2007 die Abwanderung von der Potsdamer Straße als Schwerpunktthema: „Selbst wenn er [Gastwirt an der Potsdamer Straße ] aufzählt, wer alles schon weggezogen ist in den 30 Jahren, die er an der Potsdamer Straße kroatische Küche serviert, klingt er charmant: ‚Dresdener Bank weg. Köpenicker Bank weg. Der Falk-Verlag weg. Die Ausländerbeauftragte weg. Die Zweite Hand und der Tip weg. Die Gothaer Versicherung weg. Wegert weg. Alles, was gut ist, ist weg. Wenn die Hotels nicht wären, wär ich vielleicht auch schon weg‘“ (Schwab 2007).
sumeinrichtungen wie Shopping Malls gebildet. Das Getto ist der Raum der marginalisierten Bevölkerungsschichten, vor denen die Zitadelle geschützt werden muss.
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In allen Artikeln wird die langfristige Entwicklung der Potsdamer Straße thematisiert. Dabei werden sowohl bereits erreichte Fortschritte als auch Zukunftsplanungen angesprochen. Die zitierten Bezirkspolitiker sprechen über generelle Hoffnungen für einen Aufschwung der Potsdamer Straße und ihre Zukunftsvisionen: „‚In fünf bis zehn Jahren wird diese Gegend keiner wiedererkennen‘ [Tiergartens Baustadtrat Horst Porath]“ (Schwiontek 2000), „Chancen sehen Oldenburg und Klinnert vor allem in der Lage des Quartiers ‚im Umfeld des Diplomatenviertels‘. Nach den Vorstellungen der Quartiersmanager soll die verheißungsvolle Klientel von einer entsprechend ausgebauten Dienstleistungs-Infrastruktur in die Potsdamer Straße gelockt werden“ (Schwiontek 2000). Orte im städtischen Nahbereich werden mit Ausnahme des Potsdamer Platzes (s.o.), der Kurfürstenstraße (als Ort der Straßenprostitution und Adresse des MöbelHübner-Gebäudes) und des Winterfeldtmarkts (Winterfeldtplatz, s.o.) nicht ausdrücklich genannt. Die Lage der Potsdamer Straße im gesamtstädtischen Berliner Kontext wird von 3 Artikeln angesprochen. Dabei wird auf ihre ursprüngliche verbindende Funktion als Teil der B1 bzw. Reichsstraße 1 hingewiesen, die spätere Unterbrechung der Verbindung Richtung Osten während der deutschen Teilung jedoch in den Vordergrund gestellt. In zwei Zitaten wird die Potsdamer Straße als ein spezifischer Straßentyp kategorisiert oder mit anderen Straßentoken verglichen: für die Bezirksbürgermeisterin sei die Potsdamer Straße in ihren Tiergartener Teilen „fast ein Boulevard“ (Schwiontek 2000). Ein Mitarbeiter des Wintergartens vergleiche die Potsdamer Straße scheinbar mit dem Broadway in New York: „Nein, er zieht nur in Erwägung, dass es einer sein könnte. ‚Denn einen Broadway braucht Berlin‘, sagt er. ‚Entweder es ist der Kudamm oder die Potse‘“ (Schwab 2007). Hier exemplifiziert „Broadway“ den Typ . Ferner ist dies die einzige Stelle in den Zeitungsartikeln, an der die Potsdamer Straße mit einer anderen großen Berliner Straße verglichen wird. Das Image der Potsdamer Straße wird unter zwei Aspekten behandelt. Zum einen wird das traditionelle Image der Potsdamer Straße als „Berlins wilde Meile“ (Füchsel 1999) und „Schmuddelecke mit Rotlicht und Drogen“ (Eltzel 2002) beschworen, zum anderen wird über die Bemühungen zur Verbesserung des Images durch Quartiersmanagement und IG Potsdamer Straße berichtet (Schwiontek 2000; Eltzel 2002). Allerdings wirke die Image-Kampagne des QM noch nicht „sehr ausgereift“ (Schwiontek 2000). Die IG wolle das Image der Potsdamer Straße durch mehr Sauberkeit und publikumswirksame Aktionen verbessern (Eltzel 2002). Die Medienunternehmen in der Potsdamer Straße, „von denen man aber kaum etwas sieht“ (Schwab 2007), werden in den beiden neuesten Artikeln erwähnt. Indexikalische Zeichenrelationen sind ebenso wie in den Interviews vorherrschend. Während jedoch in den Interviews Kommunikations-Zeichen als
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Symbole fast nicht genannt werden (s.o. Kap. 4.3.1.10), beschreiben zwei der Artikel symbolische Zeichen wie das Plakat „Büro-Gewerbeflächen zu vermieten. Provisionsfrei“ (Schwiontek 2000 und Schwab 2007) oder Leuchtschriften: „Von der Potsdamer Brücke aus leuchtet das Wort ‚Dionysos’ in Blau in den dunklen Abendhimmel der südlichen Potsdamer Straße. Dazu prangt auf einem der 70erJahre-Wohnhäuser groß ‚McDonalds‘ mit seinem ‚M‘ in passendem Gelb. Im Hintergrund aber erkennt man, fast schon erloschen, die neongraue Leuchtschrift ‚DER TAGESSPIEGEL‘“ (Schwiontek 2000). Ferner genannt werden Schaufensterauslagen (Schwiontek 2000 und Schwab 2007) als indexikalisch-kommunikative, also ostensive Zeichen. Ikonische Zeichen finden sich in den Artikeln nicht. Die visuelle Sinnesmodalität überwiegt, als auditives Merkmal wird der Verkehrslärm genannt (s.o.). Olfaktorisches wird nur einmal beschrieben: „Ein Haus weiter kommt das ‚Hotel am Potsdamer Platz‘, dessen Foyer verraucht und farblos wirkt“ (Schwab 2007), Gustatorisches findet sich nicht. Interpretationshandeln beschreibende Begriffe kommen in den Artikeln nicht vor.
4.5 V ORSTELLUNGEN UND D ARSTELLUNGSIMAGES DER P OTSDAMER S TRASSE : Z USAMMENFASSUNG UND D ISKUSSION DER E RGEBNISSE DER EMPIRISCHEN ANALYSE In Kapitel 4 wurde untersucht, in welcher Weise die Potsdamer Straße als semiotischer Raum in den subjektiven Vorstellungen ihrer Anwohner und Nutzer sowie in Darstellungsimages der Presse konstituiert wird. Ausgegangen wurde von der Annahme, dass die in den Texten genannten Einzelobjekte, Objekttypen und Nutzungen der Straße die für die Interpreten in Bezug auf die Potsdamer Straße relevanten Elemente darstellen. Die interpretativen Bilder der Potsdamer Straße sind durch diese Elemente charakterisiert, die Elemente bilden die Merkmale des Konzepts und können gleichzeitig als die für die Interpreten paradigmatischen Elemente der Potsdamer Straße verstanden werden. Deutlich wurde bei der Analyse der Texte, dass nur teilweise eine explizite, eineindeutige Korrelation von Ausdrucks- und Inhaltselementen vorgenommen wird. Einerseits fehlen Inhaltsbestimmungen: wenn Objekttoken nur in Zusammenhang mit einer Ortsbestimmung oder Wegschreibung wie in „Ab und zu gehen wir auch Richtung Philharmonie, Potsdamer Platz“ (P10, s.o. Kap. 4.3.1.2) genannt werden, erscheinen sie oft als ‚flache‘ Objekt-Zeichen, die für den Interpreten nur als sensorische, orientierende Elemente wirken. Ähnliches gilt für die Nennung von Objekttoken in der Beschreibung einzelner Abschnitte, wo sie durch die Kon-
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textualisierung auf der nächsthöheren Perspektivierungsebene (s.o. Kap. 4.3.3.2) jedoch eine zusätzliche symbolische Relevanz als abschnittscharakterisierendes Merkmal erhalten können. Bei der Rede von ‚flachen‘ Objekt-Zeichen in Bezug auf Artefakte muss jedoch immer berücksichtigt werden, dass diesen stets eine im Objekttyp kodierte Standardfunktion zukommt, die bereits durch die Konzeption des Tokens [Artefakt X] als Exemplar eines Typs aktualisiert wird. Das heißt, wenn das Token [Philharmonie] in den Interviews genannt wird, kann davon ausgegangen werden, dass der Interpret auch über das Wissen verfügt, dass es sich um einen Konzertsaal handelt, dass er das Token dem Typ zuordnet. Daraus folgt, dass mit Nennung des Objekts [Philharmonie] gleichzeitig der Inhalt implizit gegeben ist. Auch wenn es sich nicht um ein ‚flaches‘ Objekt-Zeichen handelt, d.h. wenn dem Objekt durch den Interpreten explizit spezifische Inhalte zugeschrieben werden, kann angenommen werden, dass dabei zusätzlich die Standardfunktion ‚stumm‘ aktualisiert wird. Andererseits werden Inhalte wie Nutzungen „Es gibt ziemlich viel Kunst und Kultur“ (P13) angesprochen, ohne dass sie explizit bestimmten Token oder Typen als Ausdruck zugeordnet werden. Zugrunde liegender Ausdruck sind hier Objekttoken und Objekttypen, deren Inhalte metonymisch auf das Objekt [Potsdamer Straße] und Umgebung als Gesamtkomplex übertragen und so zu globalen Inhalten der Potsdamer Straße werden. Auch hier gilt wieder, dass Inhalte wie als Standardfunktionen spezifischen Objekttypen wie Galerien, Museen, Theatersälen etc. zugeordnet werden, es können somit aus den Nutzungen wieder Objekttypen erschlossen werden.129 Der Tatsache, dass bei der Interpretation von Artefakttoken der Inhaltstyp die Standardfunktion integriert, d.h. in der Analyse Exemplar, Typ und Funktion nicht deutlich trennbar sind, wurde bereits durch die Gliederung des Kapitels 4 in Elementfelder, welche die in den Texten genannten Objekttoken, -typen und Nutzungen zusammenfassen, Rechnung getragen. Die Ergebnisse der Analyse der Interviews und der Zeitungsartikel werden im Folgenden in zwei getrennten Unterkapiteln zusammengefasst. Auch hier wird der Schwerpunkt auf die Beschreibung der in den Interviews ermittelten Elemente und ihrer Relationen in den Straßenkonzepten gelegt. Die Zusammenfassung der Inhalte der Presseartikel ist weniger detailliert und vornehmlich kontrastierend zu den Resultaten der Interviewanalyse angelegt. 129 Ob bei der Verknüpfung Nutzung Æ Objekttyp eine losere und weniger eindeutige Verbindung vorliegt als bei der Verknüpfung Objekt Æ Standardfunktion, ist wahrscheinlich eher abhängig von der Spezifizität der genannten Nutzung, die auf nur wenige oder auf viele Objekttypen verweisen kann, als von der unterschiedlichen Verknüpfungsrichtung.
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4.5.1 Die Potsdamer Straße in den Vorstellungen der Anwohner und Nutzer Die paradigmatischen Elemente der Potsdamer Straße nach Elementfeldern In den Interviews meistgenannte Objekttoken der Potsdamer Straße sind Tagesspiegel, Pallasseum, Wintergarten, Joseph-Roth-Diele und BVG-Gebäude (siehe Kap. 4.3.1). Einen Überblick über die in den Interviews meistgenannten paradigmatischen Elemente nach Elementfeldern gibt die Tabelle 6. Sie zeigt, welche Arten paradigmatischer Elemente die Vorstellungen der Potsdamer Straße maßgeblich prägen. Dabei erfasst die Spalte ‚Zitationen‘ die Anzahl aller Nennungen zum Thema, d.h. die elementfeldspezifischen Objekttoken und –typen, Aktivitäten und ggf. Eigenschaften. Einbezogen wurden nur Elementfelder, die von mehr als 75% der Befragten genannt wurden. So fehlt z.B. das Elementfeld Medienbetriebe, da dieses (bei Nichtberücksichtigung des Tagesspiegels) zwar über 40 Zitationen aufwies, jedoch nur von 12 Befragten thematisiert wurde.130 Die Potsdamer Straße ist für die Interviewten vornehmlich definiert durch ihre Gebäude, ihre Einzelhandelsgeschäfte, ihre historischen Bedeutungen, kulturellen Nutzungen und sozialen und kulturellen Identitäten. Was die Tabelle nicht zeigt, ist, welche spezifische, diesen Feldern zugeordnete Subtypen, Objekttoken, Objektaspekte sowie syntagmatische Anordnungen der Elemente das Bild der Potsdamer Straße ausmachen, d.h. in welcher Weise die Elementfelder weiter qualitativ perspektiviert sind. Dies gilt vor allem für die meistgenannten Elementfelder ‚Gebaute Umwelt‘, ‚Handel/Einkaufen‘, ‚Soziale und ethnisch-kulturelle Identitäten‘, ‚Verkehr‘ und ‚Gastronomie‘ und weniger für die deutlich spezifischeren Felder ‚Leerstellen‘, ‚Prostitution‘ und ‚Kriminalität‘. Differenzierungen innerhalb der Elementfelder wurden in den entsprechenden Auswertungskapiteln in Kapitel 4.3.1 beschrieben und in den grau unterlegten Tabellen zusammengefasst. Bei der Kategorie ‚Objektaspekte‘ handelt es sich im Unterschied zu den anderen Bereichen nicht um ein Elementfeld im eigentlichen Sinne, da hier nur die Art des Zeichenausdrucks (Objektaspekt vs. vollständiges Objekt) der Auswertung zugrunde gelegt wurde. Da die Objektaspekte als perspektivische Teilansichten von Objekten jedoch über eine hohe Präsenz in den Vorstellungen verfügen, wurden sie in der Tabelle mit berücksichtigt. Die einzelnen Objektaspekten zugeordneten Inhalte wurden in Kapi-
130 Der Begriff des Elementfeldes ist aus der strukturellen Perspektive der Potsdamer Straße als Objektkomplex formuliert. Geht man dagegen von der strukturellen Perspektive der Potsdamer Straße als einheitlichem Objekt aus, können die Elementfelder als übergeordnete Inhalte betrachtet werden.
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tel 4.3.1.8 dargestellt. Dieser tabellarische Überblick vereinigt demnach eher heterogen strukturierte Elementfelder bzw. Inhalte, kann unter Berücksichtigung der o.g. Einschränkungen jedoch dazu dienen, Inhaltsgewichtungen der Potsdamer Straße darzustellen. Welche der in den Elementfeldern zusammengefassten paradigmatischen Elemente können als charakteristische Elemente des Tokenkonzepts aufgefasst werden? Zur Beantwortung dieser Frage kann ein Vergleich zwischen den von den Befragten beschriebenen Typkonzepten einer Großstadtstraße (s.o. Kap. 4.3.4) und den meistgenannten übergeordneten Inhalten der Potsdamer Straße Aufschluss geben. Vielfältige Einzelhandelsgeschäfte und lebhafter Straßenverkehr sind für die Mehrzahl der Befragten, gastronomische Einrichtungen für einige der Interviewten wichtige Elemente des Objekttyps Großstadtstraße. Soziale und ethnisch-kulturelle Identitäten der Nutzer als Merkmal werden in Äußerungen wie „Möglichst vielfältige Bewohnerschaft und auch Menschen“ (P16) von mehreren angesprochen, ebenso wird das Merkmal Stadtgrün und die Freizeitnutzung ‚Flanieren‘ als grundlegend für das Wunschbild einer Großstadtstraße genannt. Dagegen sind die historische Bedeutung einer Straße und kulturelle Nutzungen, die in den Vorstellungen der Potsdamer Straße einen vorderen Rang einnehmen, als Merkmale des Typenkonzepts kaum präsent (2 Nennungen). Nur für einen Interviewten umfasst auch „ein bisschen Kriminalität und ein bisschen Prostitution“ (P8). Auch Leerstellen werden erwartungsgemäß nicht als Merkmale genannt. Diese im Konzept fehlenden oder selten genannten, jedoch in den Vorstellungen der Potsdamer Straße häufig genannten Elementfelder können im Umkehrschluss als distinktive Merkmale des Tokenkonzepts bestimmt werden. Sie unterscheiden das Token Potsdamer Straße von anderen Token des Typs , wie z.B. von den in den Interviews mehrmals als „ähnlich“ beschriebenen Straßen Müllerstraße und Karl-Marx-Straße. Eindeutig distinktive Merkmale der Potsdamer Straße, d.h. Elemente, die allein durch ihre (zugeschriebene) Präsenz in dem Bereich und unabhängig von weiteren Qualifizierungen für die Interviewten relevant werden, sind folglich die historischen Inhalte, ihre kulturellen Nutzungen sowie ferner Leerstellen, Prostitution und Kriminalität in ihrem Bereich, wobei die drei letztgenannten Elemente wohl noch deutlicher kontrastiv zu anderen Straßen wirken als die beiden ersten.
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Tabelle 6: Meistgenannte Elementfelder der Interviews Personen, die Elementfeld nennen
Elementfelder / Inhalte
Zitationen
1
Gebaute Umwelt
210
20
2
Handel + Einkaufen
190
20
131
Anmerkungen
ohne persönliche Erinnerungen 145 / 20, ohne Gebäudealter und persönl. Erinnerungen 100 / 18
3
Historische Inhalte
170
20
4
Kulturelle Nutzungen
140
20
5
Soziale + ethnischkulturelle Identitäten der Nutzer
140
20
separat gezählt: je > 80
6
Objektaspekte
110
19
Fotofrage nicht berücksichtigt
7
Verkehr
95
20
8
Gastronomie
95
19
9
Leerstellen
85
18
10
Prostitution
65
18
11
Stadtgrün
60
20
12
Freizeitnutzungen
60
20
13
Kriminalität, Gewalt + Halbwelt
60
16
14
Soziale Kontakte
45
16
15
Wohnen
35
16
16
Temporäre Token und Typen
35
18
131 Jeweils auf Fünferstellen abgerundet.
ohne Fotofrage 75 / 15
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Ein Sonderstatus ist dem Elementfeld ‚Gebaute Umwelt‘ zuzusprechen. Dieses wurde bei der Beschreibung des Konzepts kaum und ausschließlich in qualifizierender und Objektaspekte einschließender Form („schöne Fassaden“) oder nur implizit angesprochen, steht in der Rangfolge der Elementfelder der Potsdamer Straße jedoch an erster Stelle. Zu berücksichtigen ist hier jedoch, dass das Konzept (im hier gebrauchten Sinne als ‚Geschäftsstraße in der Großstadt‘, siehe Einleitung u. ö.) bereits das Merkmal umfasst, dieses jedoch auch anderen Stadtstraßen zukommt (s.o. Kap. 3.1) und somit kein distinktives Merkmal von Großstadtstraßen darstellt. (Auch im Konzept ist das Element , bezogen auf das übergeordnete Konzept nicht distinktiv.) Dass das Konzept beschrieben wird, indem /Gebäude/ ohne weitere Qualifizierung als Elemente genannt werden, kann somit nicht erwartet werden. Die Einzelelemente der genannten Elementfelder sind einerseits die für die Interpreten paradigmatischen Elemente des Objektkomplexes Potsdamer Straße als Metasystem (s.o. Kap. 3.2.2). Andererseits sind sie aber auch Elemente der „erratischen“, nicht notwendig kontinuierliche räumliche Syntagmen bildenden Einzelsysteme der jeweiligen Elementfelder, wie z.B. der Einzelsysteme der historischen Elemente, der Einrichtungen des Handels etc. Mit der Nennung der Elemente bestimmter Einzelsysteme (oder der Zuordnung eines konkreten Objekts zu mehreren Systemen, siehe Beispiel des Objekts [Tagesspiegel] in Kap. 4.3.1.1) in den Interviews findet eine qualitative Perspektivierung des Objektkomplexes Potsdamer Straße statt (s.o. Kap. 3.2.3) und die jeweiligen Elemente werden vom Interpreten als relevante Elemente ausgezeichnet. Mechanismen der Interpretationsprozesse Bedeutungskonstitutionen der Interpreten wurden im Detail für zwei Objekttoken (den [Tagesspiegel] und die [Joseph-Roth-Diele]) und einen Objekttyp (den Typ ) anhand des Interpretationsmodells für Objekt-Zeichen (s.o. Kap. 2.2.5) beschrieben. Die sich dort zeigenden Interpretationsmuster können als exemplarisch für die Interpretation von städtischen Objekt-Zeichen gelten. Die Interpretationen von Token und Typen erweisen sich als perspektivisch, als vorwiegend indexikalisch und als kotextualisierend. Perspektivisch sind sie in dem Sinne, dass sowohl Aspekte des Ausdrucks als auch Aspekte des Inhalts132 zum Ausgangspunkt der Interpretationen werden. Beim [Tagesspiegel] sind dies z.B. das Gebäude auf der Ausdrucksseite, die Zeitung Tagesspiegel als Produkt, die Mitarbeiter oder die Standardfunktion als Verlag auf der Inhaltsseite. Bei den werden 132 Als Ausdrucks- bzw. Inhaltssubstanz bei den Token und Ausdrucks- bzw. Inhaltsform bei den Typen.
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die generelle grelle Ladengestaltung als Ausdruck und der Verkauf preiswerter Produkte als Inhalt zum Ausdruck weiterer konnotativer Inhalte. Indexikalisch werden die Objekte, indem sie in der Interpretation als Zeichen für mit ihnen (angenommen, nicht notwendig real) kausal verknüpfte Sachverhalte konstituiert werden, d.h. indem Ursache-Folge-Relationen hergestellt werden: z.B. werden die Mitarbeiter des Tagespiegels als Kunden des lokalen Einzelhandels in den Interpretationen kausal verknüpft mit der ökonomischen Lage der Potsdamer Straße. Kotextualisierend sind die Interpretationen, indem sie Inhalte auf den stadträumlichen Kotext, auf das Syntagma zurückbeziehen, der Ausdruck wird damit stadträumlich ortsindexikalisch. So wird bei der Interpretation des Typs der Inhalt nicht nur auf den Typ (bzw. das Exemplar des Typs) selbst bezogen, sondern metonymisch erweitert auf die Straße oder das Wohngebiet: . Mit Barthes kann man hier von einem auf das Syntagma „ausgedehnten Sinn“ sprechen (s.o. Kap. 2.2.2). Relevanzformen, Relevanzverknüpfungen und Ortsindexikalität In den Kapiteln 4.3.1 bis 4.3.9 wurde für jedes Elementfeld einzeln bestimmt, welche Relevanzformen den jeweiligen Elementnennungen hauptsächlich zugrunde liegen bzw. als zugrunde liegend angenommen werden können. Im Folgenden sollen zusätzlich die jeweils gemeinsamen Eigenschaften der als sensorisch, praktisch oder symbolisch relevant bestimmten Elemente herausgearbeitet werden. Noch einmal betont werden soll (siehe Kap. 4.3.3.1), dass praktische und symbolische Relevanzsetzungen auf Interpretationsergebnissen beruhen, die das jeweilige Objekt erst zu einem relevanten machen: der Billigladen wird genannt, weil er eine bestimmte Nutzergruppe exemplifiziert und damit soziale Tatbestände konnotiert, die Relevanz leitet sich von seinem zugeschriebenen Inhalt her. Als sensorisch relevant wurde in Kap. 3.4.5 das definiert, was besonders sensorisch salient im Vergleich mit anderen Objekten im Sinne einer besonderen Größe und/oder markanten Position im Straßenkotext ist, was als Objektaspekt spezifisch genannt wird oder was ästhetisch bewertet wird. Grundlage der sensorischen Relevanz ist immer die Ausdruckssubstanz. Sensorisch saliente Elemente der Vorstellungen waren u.a. die als markant beschriebenen Gebäude, die farbigen Auslagen der Gemüsesupermärkte sowie der Verkehrslärm. Ästhetisch evaluiert wurden überwiegend Gebäude (als Einzeltoken oder Objektkomplexe), wobei neben der architektonischen Gestalt auch die Objektaspekte zur Grundlage der Evaluation wurden, sowie das Stadtgrün (s.a. oben Kap. 4.3.2.2). Von den als sensorisch relevant definierten Elementen weisen besonders die Objektaspekte und die ästhetischen Evaluationen eine hohe Zahl von Nennungen auf, insgesamt kann man daher von einem hohen Stellenwert der Elemente mit sensorischer Relevanz sprechen.
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Praktische Relevanz geht von Objekttypen bzw. von unter dem Aspekt ihres Objekttyps interpretierten Exemplaren aus, d.h. ihnen liegen Interpretationen zugrunde, die Denotationen nutzen. Als praktisch relevant (wobei überwiegend andere Relevanzformen hinzutreten) können Elemente der Felder Verkehr (als Standardfunktion des Objekttyps Großstadtstraße), Handel und Einkaufen, Gastronomie, Freizeitnutzung (Parks) und Kultur angesehen werden. Die praktische Relevanz ist jedoch selten die dominierende Relevanzform: Beispielsweise kann von allen häufiger genannten Objekttoken der typisch „gebrauchspraktischen“ Elementfelder Handel und Dienstleistungen nur für das Objekt [Post] (Nennung durch 6 Interviewte) eine allein praktische Relevanz angenommen werden. Alle anderen von mehr als 3 Befragten genannten Objekte sind in den Aussagen deutlich als zusätzlich sensorisch und/oder symbolisch relevant ausgezeichnet. Symbolische Relevanzen sind in allen Elementfeldern nachzuweisen. Sie werden durch konnotative Inhalte vermittelt (siehe Kap. 2.2.3.2). In den Texten genannte konnotative Inhalte sind vor allem soziale und ethnisch-kulturelle Inhalte, historische Inhalte sowie Inhalte des sozialen Zusammenlebens. Diese konnotativen Inhalte können auf Ausdrucks- oder Inhaltsebene von Objekten aufbauen (siehe Beispiel des Objekts [Tagesspiegel]). Ausdrucksinduzierte Basis symbolischer Relevanzsetzungen sind Objektaspekte wie Fassadenschmuck oder die Instandhaltung von Gebäuden. Inhaltsinduzierte Grundlagen sind Objekttypen und deren Subtypen sowie spezifische, generell in einer Gesellschaft symbolisch aufgeladene Nutzungen wie z.B. Prostitution oder auch kulturelle Nutzungen. Als besonders symbolisch relevant können auch die Objekttoken, -typen und Nutzungen angenommen werden, die Teil des Fremdimages der Straße sind (siehe z.B. in Kap. 4.3.1 die Abschnitte zu Fachgeschäften und Prostitution sowie Kap. 4.3.6 zum Fremdimage). Symbolische Relevanzen sind für fast alle der meistgenannten Einzelobjekte133 (siehe Kap. 4.3.1) sowie in allen der in Kapitel 4.3.1.2 bis 4.3.1.9 dargestellten Elementfelder nachzuweisen. Für 5 der 15 meistthematisierten Elementfelder (Historische Inhalte, Kulturelle Nutzungen, Soziale + ethnisch-kulturelle Identitäten, Prostitution und Soziale Kontakte) ist die symbolische Relevanz die dominierende bzw. sogar ausschließliche Relevanzform. Symbolische Relevanz kann als die in den Vorstellungen der Potsdamer Straße vorherrschende Relevanzform gelten. Sie prägt den Blick auf die Einzelelemente der Straße: die primären, gebrauchsfunktionalen Bedeutungen treten im Gesamtbild der Straße zurück gegenüber den sekundär-konnotativen symbolischen Anteilen. Soziale und ethnisch-kulturelle Konnotationen sowie historische Konnotationen 133 Eine Ausnahme bildet der U-Bahnhof Bülowstraße, der vorwiegend über sensorische und praktische Relevanz verfügt (es sei denn, man leitet aus einer hohen sensorischen und praktischen Relevanz auch eine symbolische ab, s.u.).
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ziehen sich (bei jeweils ähnlichen Gesamtgewichtungen) durch fast alle Elementfelder.134 Das eindeutige Übergewicht der symbolischen Relevanzen kann sicher auch zurückgeführt werden auf die für die Mehrzahl der Befragten eher geringe praktische Nutzung der Potsdamer Straße, in der zwar die Basisversorgung gesichert ist, jedoch „anspruchsvollere gastronomische Unternehmen“ und „nette Läden“ fehlen und die auch nicht, wie andere kleinere Einkaufsstraßen „zum Bummeln einlädt“. Hier kann von einer „Phasenverschiebung“ von praktischen hin zu symbolischen Inhalten im Sinne von Eco (s. Kap. 2.2.2) ausgegangen werden, eingeschränkt werden muss jedoch, dass auch die als fehlend bezeichneten Objekte oder Inhalte fast nie allein durch ihre praktische Nutzung, sondern zusätzlich durch eine weitere symbolische oder evaluative Eigenschaft („anspruchsvoll“, „schön“) charakterisiert werden. Noch eine Bemerkung zu den emotional-evaluativen Inhalten: diese bilden nur einen Randbereich der Untersuchung. In einem eigenen Unterkapitel wurden nur Evaluationen der Potsdamer Straße als Gesamtobjekt dargestellt (s. Kap. 4.3.2.2), jedoch nicht die Evaluationen einzelner Token und Typen. In der Analyse der einzelnen Elementfelder (siehe Kap. 4.3) wurde festgestellt, dass Altbauten, Höfe und Parks sowie jene Objekte und Objektkomplexe, die die Möglichkeit zur Herstellung sozialer Kontakte boten, besonders positiv bewertet werden. Deutlich negativ beurteilt werden vor allem spezifische Objektaspekte wie heruntergekommene Fassaden und auf das Gesamtsyntagma bezogene Eigenschaften wie die Heterogenität der Bebauung oder die Öde einzelner Abschnitte.135 Evaluative Inhalte sollten nicht einer spezifischen Relevanzform zugeordnet, sondern vielmehr als zusätzliche Ebene modelliert werden, die über die Objektinterpretation gelegt wird und die in die jeweilige sensorische, praktische bzw. symbolische Relevanzbestimmung einfließt. In Kapitel 3.4.4 wurden bereits mögliche Interdependenzen der verschiedenen Relevanzformen angesprochen. Einzelne in den Vorstellungen sich manifestierende Interpretationsprozesse zeigen, dass solche Interdependenzen vor allem mit einem
134 Kaum sozial-kulturelle und historische Konnotationen weisen die Elementfelder Verkehr, Stadtgrün und Freizeitnutzungen auf. 135 Die sich hier zeigende positive Beurteilung historischer Objekte und des Stadtgrüns sowie die negative Bewertung mangelnder Instandhaltung und Pflege entsprechen den in Nasars Untersuchungen zur Umweltevaluation erzielten Ergebnissen (Nasar 1998, s. Kap. 2.3.3). Die wichtige positive Rolle der sozialen Kontakte lässt sich daraus erklären, dass im Unterschied zu Nasars Studie hier die Vorstellungen der direkten, eigenen Lebensumwelt im Mittelpunkt standen und nicht die eines Teiles der Stadt, der den Probanden weniger bekannt war.
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Ebenenwechsel zwischen verschiedenen strukturellen Perspektiven einhergehen und dabei immer ortsindexikalische Übertragungen beteiligt sind. Folgende Interdependenzen können beobachtet werden: a) Typen oder auch Token, denen praktische Relevanz für eine bestimmte Nutzergruppe zugesprochen wird, werden symbolisch relevant, indem sie die Anwesenheit dieser Gruppe in einem Gebiet exemplifizieren (Beispiel: Billigläden, Bioladen, Neubauten136) oder potentiell geeignet sind, eine spezifische Nutzergruppe anzuziehen (Beispiel: Fachgeschäfte). b) Mehrere Exemplare eines Typs mit praktischer Relevanz (für bestimmte Gruppen, nicht notwendig für den Interpreten) in einem Abschnitt werden symbolisch relevant, indem der Typ zum Merkmal des Abschnitts wird („Kulturmeile“, „Gebrauchs- und Bedarfsstrecke“, siehe Kap. 4.3.3.2). c) Über eine längere Zeit an einem Ort stabil verankerte Token werden (auch unabhängig von ihrer praktischen Relevanz für den Einzelnen) symbolisch relevant für diesen Ort bzw. diesen Abschnitt. (Beispiel Woolworth, siehe Kap. 4.3.3.2). d) Token, die auf Grund ihrer relativen Größe als sensorisch relevant aufgefasst werden können, erreichen dann eine hohe intersubjektive Relevanz für die Straße, wenn sie zusätzlich symbolische Relevanz (ggf. aus einer praktischen Relevanz abgeleitet) aufweisen (Beispiel: das visuell saliente, aber für die Befragten nicht symbolisch relevante Studentenwohnheim mit wenigen Nennungen gegenüber Tagesspiegel, BVG und Pallasseum mit vielen Nennungen). e) Token mit sensorischer Relevanz der Objektaspekte erhalten symbolische Relevanz auf der Ebene der Straße oder des Straßenabschnitts (z.B. verweisen Spuren alter Ladenschriften auf die Entwicklung des Einzelhandels in der Straße, siehe Kap. 4.3.1.8). f) Eine hohe praktische Relevanz eines Objekttokens auf der übergeordneten Stadtebene führt zu einer erhöhten symbolischen Relevanz auf der Ebene der Straße (Beispiele: Tagesspiegel, Wintergarten und BVG als Objekttoken).137 136 Bei der Verknüpfung von Gebäuden bestimmter Bauzeiten („Nachkriegsarchitektur“) mit einem sozialen Status der Bewohner spielen zusätzlich negative ästhetische Evaluationen eine Rolle: wer es sich leisten könne, ziehe nicht in diese unattraktiven Wohnungen (s.o. Kap. 4.3.1.2). 137 Hier wäre ergänzend zu fragen, ob eine hohe praktische Relevanz auf der Stadtebene (dies beträfe z. B. die großen Infrastruktursysteme wie den öffentlichen Nahverkehr, die Stadtreinigung etc.) auch generell mit einer hohen symbolischen Relevanz auf dieser Ebene einhergeht. Wahrscheinlich kann man davon ausgehen, dass aus einer über-
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Es zeigt sich hier, dass die Inhalte der symbolisch relevanten Elemente überwiegend auf einer höheren perspektivischen Ebene angesiedelt sind als das Element als Ausdruckstoken selbst, sprich dass aufwärtsgerichtete stadträumlich-ortsindexikalische Übertragungen von der Ebene der Einzelobjekte zur Straße als einheitlichem Objekt bzw. zum Gesamtgebiet vorgenommen werden. In welcher Weise lässt sich jedoch die abwärtsgerichtete Übertragung von praktischer Relevanz für die Stadt zu symbolischer Relevanz für die Straße in Fall f) erklären? Eine hohe praktische Relevanz eines Objekts (einer Institution) in einer Stadt führt zu einem hohen Bekanntheitsgrad der Institution in der Stadt und hebt auch ihren lokalen Standort, in diesem Fall die Potsdamer Straße aus anderen heraus, wodurch die Institution und ihr Gebäude symbolisch relevant für die Potsdamer Straße werden. Wenn z.B. von der BVG oft als /die BVG an der Potsdamer Straße/ gesprochen wird, wird eine konventionalisierte Verknüpfung hergestellt, die BVG steht dann als eines der Objekte der Potsdamer Straße exemplifizierend für sie. Liegt eine solch enge Verbindung des Konzepts mit dem Konzept im Fremdbild vor, handelt es sich um konventionalisierte Ortsindexikalität des Objekt X in Bezug auf die Straße Y. 138 Oben wurde festgestellt, dass Elemente mit symbolischer Relevanz die Vorstellungsbilder deutlich prägen. Betrachtet man nun jedoch die eben dargestellten Interdependenzen verschiedener Relevanzformen, muss dieses Urteil ergänzt werden: Symbolische Relevanzen sind in vielen Fällen eng mit praktischen Relevanzen bzw. (kodierten) Nutzungs- und Nutzerzuschreibungen, die oft implizit ragenden praktischen Relevanz für eine große Zahl der Stadtbewohner auch eine generelle symbolische Relevanz folgt, sodass z. B. die S-Bahn oder die Berliner Verkehrsbetriebe mit der Stadt Berlin verknüpft werden. Für auch in einem touristischen Image verankerte, d.h. bereits konventionalisiert ortsindexikalische Institutionen wie die London Tube gilt das ohne Zweifel. Nimmt man solche symbolischen Relevanzen an, wäre es interessant zu untersuchen, inwieweit nach Privatisierungen, die meist auch einen Wechsel der ‚Marke‘ nach sich ziehen (siehe zum Beispiel die Übernahme der Berliner Elektrizitätswerke BEWAG durch den schwedischen Energiekonzern Vattenfall), solche symbolischen Verknüpfungen erhalten bleiben oder sich verändern. 138 Als ein Gegenbeispiel mag hier die ‚Staatsbibliothek in der Potsdamer Straße‘ angeführt werden. Diese Begriffsverknüpfung wird jedoch wahrscheinlich nur von Kennern und Nutzern der Berliner Bibliothekslandschaft vorgenommen, deren Schnittmenge mit den Nutzern der südlichen Potsdamer Straße eher klein sein dürfte; ferner wird hier ‚Potsdamer Straße‘ vorwiegend oppositionell-differenzierend zu dem anderen Standort der Staatsbibliothek Unter den Linden verwendet. Eine konventionalisierte Ortsindexikalität für die Staatsbibliothek kann daher nicht angenommen werden, sie ergibt sich auch nicht aus den Interviews.
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bleiben, verknüpft. Es handelt sich dabei oft, siehe z.B. die Interdependenzen vom Typ a), um weiter qualifizierte praktische Relevanzen, welche auf Subtypen oder sich durch spezifische Objektaspekte auszeichnende Token 139 bezogen sind: symbolisch relevant ist nicht das [Einzelhandelsgeschäft] zum Einkaufen oder das [Restaurant] zum Essen gehen, sondern eben der [Bioladen X] oder das [Schöne Café Y], weil nur von diesen auf einen eingeschränkten, klar definierten Betreiberund Nutzerkreis geschlossen werden kann. Höchste Relevanzwerte (d.h. viele Nennungen) erhielten solche Objekttoken, die mehrere ihrer Inhalte zusätzlich indexikalisch auf den städtischen Kotext − die Straße oder das Viertel − beziehen, die also über mehrfache stadträumliche Ortsindexikalität verfügen. Syntagmatische Eigenschaften des Objektkomplexes Potsdamer Straße Als syntagmatische Eigenschaften des Objektkomplexes Potsdamer Straße wurden ihre globalen Merkmale, die in den Vorstellungen konstituierten räumlichen Platzierungen und Relationen der einzelnen Elemente, sowie die Strukturierungen der Gesamtstraße und die Lokalisierung der Straße im übergeordneten stadträumlichen Kotext definiert. Meistgenannte globale Eigenschaften der Potsdamer Straße waren ihre Vielfältigkeit, die Lautstärke, die hohe Verkehrsbelastung und ihre Lebendigkeit. Globale Eigenschaften können Atmosphären ausdrücken. Sie sind nicht eindeutig einzelnen Token oder Types zuzuschreiben, sondern kommen als syntagmatische Eigenschaften dem Gesamtsyntagma zu. Nicht nur für die Gesamtstraße, sondern auch für verschiedene Elementfelder (darunter die Bebauung und sozial-kulturelle Zugehörigkeit) wurde die Mischung bzw. Heterogenität der Elemente als wichtige, syntagmatisch aufzufassende Eigenschaft genannt. Besonders die Zuschreibung der Eigenschaft ‚heterogen‘ für Bebauung und Ladengestaltung verweist darauf, dass die Interpreten hier eine mangelnde Äquivalenz der kombinierten Ausdruckselemente konstatieren, die für sie das Straßenbild unharmonisch wirken lässt (s.o. Kap. 2.2.4.2). Auch bei der den Einzelhandelsbetrieben zugeschriebene Kleinteiligkeit handelt es sich um eine syntagmatische Eigenschaft. Kleinteiligkeit verweist auf geringe Ausmaße der Grundfläche bzw. der Außenbreite der Läden zur Straße, bezieht sich
139 Inwieweit sich ein Token eines Typs sich nur durch bestimmte Eigenschaften, d.h. Objektaspekte auszeichnet, oder bereits auf Grund dieser Eigenschaften als Exemplar eines neuen Subtyps angesehen werden kann, ist höchstens im Kontext zu entscheiden. Zur Ad-hoc-Bildung von Typen aus Token mit ähnlichen Eigenschaften siehe Kap. 2.3.2.
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demnach auf die Ausdrucksebene, außerdem wahrscheinlich auf Nichtzugehörigkeit vieler Geschäfte zu größeren Ladenketten (eher der Inhaltsebene zuzuordnen). Die Ergebnisse der Analyse der topologischen Gliederung der Potsdamer Straße in Abschnitte wurden bereits in Kapitel 4.3.3.2 zusammengefasst und sollen hier nicht im Detail wiederholt werden. Die dort herausgearbeiteten abschnittskonstituierenden Merkmale korrelieren in hohem Maße mit den in Tabelle 6 dargestellten relevanten Elementfeldern bzw. Inhalten. In den Beschreibungen einzelner Abschnitte als „dieser orientalische Teil“ (P7) oder als „Kulturmeile“ (P16) oder „dieser blöde leere Platz“ (P2) (Kap. 4.3.3.2) lassen sich in kulturellen Kategorisierungen, spezifischen Nutzungen oder der Dichte der Bebauung gründende Äquivalenzreihen der Ausdrucks- oder Inhaltsebene erkennen (s.o. Kap. 2.2.4.2). Die aus den Interviewäußerungen ablesbaren Unterscheidungsmerkmale zeigen auch eine hohe Übereinstimmung mit den von Rapoport postulierten generellen Merkmalen der Konstitution von städtischen Bereichen (vgl. Rapoport 1977: 150). Das Gesamtobjekt [Potsdamer Straße] wird ferner einerseits als paradigmatisches Element in Bezug zu seinem nahen stadträumlichen Kotext (d.h nebengeordneten städtischen Räumen) gesetzt, wobei die Oppositionen Hauptstraße vs. Nebenstraßen bzw. Straße vs. umgebendes Quartier und Einkaufsstraße vs. Wohnstraße gebildet werden. Andererseits wird sie als sozialräumliche Grenze zwischen ihren östlich und westlich angrenzenden Nachbarschaften beschrieben. Syntagmatische Einordnungen werden hier wieder durch praktische oder symbolische Relevanzen geleitet. Wird die Potsdamer Straße als Element des übergeordneten stadträumlichen und des Straßensystems Berlins perspektiviert, zeichnet sie sich für die Interpreten durch die Eigenschaften Zentralität, frühere Randlage und Verkehrsader (Verbindung) aus (siehe Kap. 4.3.3.4 und 4.3.3.5). Lücken und Leerstellen der Potsdamer Straße wie Ladenleerstand und Baulücken stellen Unterbrechungen des syntagmatischen Kontinuums der geschlossenen Randbebauung und der Gewerbenutzung dar, ferner wirken sie (Beispiel Kulturforum) als Grenzräume zu angrenzenden Stadtvierteln. Straßenkonzepte im Vergleich: das Typkonzept , Konzepte anderer Straßen und das Fremdimage der Potsdamer Straße Ausgehend von der Annahme, dass Konzepte konkreter Stadtstraßen sowohl aufbauend auf als auch abgrenzend zu einem Typkonzept einer Großstadtstraße und zu Konzepten anderer empirischer Straßen entwickelt werden, wurden die Interviewten gebeten, ihr Konzept einer typischen oder idealen Großstadtstraße zu beschreiben sowie der Potsdamer Straße ähnliche Straßen zu nennen. Das Konzept umfasst für die Befragten folgende Merkmale: Vielfalt des Einzelhandels, erhöhtes Verkehrsaufkommen, Lebendigkeit, Elemente des Stadtgrüns wie Straßenbäume, Cafés zum Niederlassen und Schauen
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sowie eine gewisse Breite des Straßenquerschnitts. Generell sollte sich eine Straße durch eine Vielfalt und Dichte der Nutzungen, Nutzer und der sinnlichen Eindrücke auszeichnen, die ideale Großstadtstraße zeigt sich somit auch in den Interviews als Ort der erhöhten Intensität und „wechselnder Bilder“ (siehe Einleitung). In diesem Konzept der Großstadtstraße als intersubjektiver kultureller Einheit im Sinne Ecos spiegeln sich noch deutlich die (idealisierten) Merkmale der um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entstandenen europäischen Großstadtstraßen, wie sie auch in Literatur und Kunst der Moderne seit Ende des 19. Jahrhunderts beschrieben wurden (s.o. Kap. 1.6). Wird die Potsdamer Straße mit anderen großen Berliner Straßen verglichen, werden vor allem die Neuköllner Karl-Marx-Straße und die Weddinger Müllerstraße als ähnlich bezeichnet, hier werden offenbar die Nutzungen als Geschäftsstraßen und ähnliche soziokulturelle Merkmale (niedriges Einkommen, hoher Migrantenanteil) der umgebenden Stadtviertel als gemeinsame Charakteristika herangezogen. Als relativ einmalig werden die Geschichtsträchtigkeit der Straße sowie das gemeinsame Vorkommen sozialer Probleme und Prostitution betrachtet. Als Gegenbilder zur Potsdamer Straße werden den neben den Boulevards wie dem Kurfürstendamm auch kleinere Kiezeinkaufsstraßen beschrieben, die sich durch höhere Aufenthaltsqualität, höheren sozialen Status der Nutzer und ein gehobeneres Warenangebot auszeichnen. Typisch für Berlin sei die Potsdamer Straße in ihrer baulichen und sozialen Heterogenität sowie als kaleidoskopischer Ort der Berliner Geschichte. Als beherrschendes Merkmal des Fremdimages der Potsdamer Straße mit besonderer historischer Kontinuität wird von den Befragten die Prostitution betrachtet. Eine alle städtische Bereiche einbeziehende Imagearbeit ist an der Potsdamer Straße im Erhebungszeitraum nicht zu verzeichnen. Im Rahmen der Entwicklung des Gebiets zu einem Medienstandort werden jedoch die sich neu ansiedelnden Medienbetriebe als Imagefaktoren zur Aufwertung der Potsdamer Straße eingesetzt, durch die Einführung neuer Objekttypen als paradigmatischer Elemente wird eine Änderung des Inhalts des Gesamtsyntagmas angestrebt. Als Objekttyp stehen die Medienbetriebe symbolisch für Innovation und Fortschritt, jedoch durch ihre Verankerung im historischem Bild der Potsdamer Straße (s. Kap. 1.8) auch für Kontinuität und Tradition. Ferner können die Bestrebungen zur Bildung von Netzwerken wie es u.a. das Mediennetzwerk darstellt, als Versuche der Kotextualisierung von Menschen, Nutzungen und Objekten interpretiert werden, die erhöhte symbolische Relevanzen und Ortsindexikalität generiert. Die Wünsche der Interviewpartner zur Potsdamer Straße sind weniger direkt auf einzelne Objekttoken oder -typen gerichtet, sondern betreffen vielmehr Objektaspekte und die generelle Veränderung von Atmosphären: erhofft werden vermehrte Anstrengungen bei der Gebäudesanierung, eine höhere Aufenthaltsqualität und eine erhöhte Lebendigkeit in einzelnen Abschnitten. Deutlich wird, dass die Wünsche
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sich an dem von den Befragten beschriebenen Idealbild einer Großstadtstraße (s.o.) orientieren, für welches lebendige Atmosphäre und Orte zum Aufenthalt als wesentliche Merkmale genannt wurden. Der Vergleich der Vorstellungen der unterschiedlichen Befragtengruppen zeigte nur in wenigen Bereichen größere Abweichungen der Bilder. Größere Unterschiede, wie sie sich vor allem in der Anzahl der Nennungen historischer und kultureller Inhalte manifestierten, können eher als bildungsabhängig als auf ethnisch-kulturellen Differenzen beruhend erklärt werden. Während in den Bildern der Anwohner, für die die Potsdamer Straße gewohntes alltägliches Lebensumfeld ist, negative Merkmale wie Prostitution und Leerstellen weniger akzentuiert sind, ist die Potsdamer Straße für die Experten vor allem ein sozialer, ökonomischer und baulicher Problemfall. 4.5.2 Die Potsdamer Straße in den Presseartikeln Bei der Rangfolge der paradigmatischen Elemente nach Elementfeldern sind nur wenige Abweichungen im Vergleich zu den Interviews zu konstatieren (siehe Tabelle 7). Extreme Bedeutungsdifferenzen liegen damit nicht vor. Lediglich das Elementfeld Kriminalität verfügt über einen deutlich höheren Stellenwert, das Elementfeld Kulturelle Nutzungen ist weniger präsent. Relativ häufiger genannt werden ferner die Objektaspekte. Im Unterschied zu den Interviews werden in den Presseartikeln Inhalte vermehrt über Token und deren Objektaspekte und nicht über Typen, also eher über die Ausdruckssubstanz als über die Ausdrucksform transportiert. So werden charakteristische Objekttypen, übergeordnete Bedeutungszuweisungen und Eigenschaften häufig nicht explizit genannt, sondern anhand einzelner (oft visuell wenig salienter und funktional wenig relevanter) Objekttoken exemplifiziert.140 Ein prägnantes Beispiel ist im taz-Artikel zu finden: „Richtiges Entsetzen will auch bei Fortuna-Wetten, im An- und Verkaufsladen und bei MäcGeiz, im Nagel-Studio, beim Instant-Friseur und im Tattoo-Shop nicht aufkommen“ (Schwab 2007). Während in den Interviews z.B. der Typ eine soziale Zugehörigkeit seiner Nutzer und damit über stadträumliche ortsindexikalische Verweisung auch eine spezifische soziale Identität des Viertels konnotiert, werden in den Presseartikeln die Token [FortunaWetten], [MäcGeiz] etc. exemplifizierend für ihre Typen , usw. eingesetzt und so vergleichbare soziale Inhalte vermittelt.
140 Eine Ausnahme bildet der Zitty-Artikel (Schwiontek 2000), der die Entwicklung der Potsdamer Straße in stadtsoziologische theoretische Zusammenhänge einordnet, jedoch nur wenige ausgewählte Objekte beschreibt.
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Tabelle 7: Meistgenannte Elementfelder der Pressartikel Elementfelder / Inhalte
Zitationen ges.
Anzahl Artikel mit Nennungen
1
Gebaute Umwelt
22
4
2
Objektaspekte
18
4
3
Historische Dimension
17
4
4
Handel + Einkaufen
16
4
5
Soziale + ethnischkulturelle Kategorisierungen
15
4
6
Kriminalität, Gewalt + Halbwelt
12
4
7
Verkehr
11
4
8
Leerstellen
10
4
9
Prostitution
9
4
10
Kulturelle Nutzungen
8
4
11
Freizeitnutzungen
7
3
12
Gastronomie
7
4
13
Wohnen
5
3
14
Stadtgrün
4
2
15
Soziale Kontakte
4
2
Anmerkungen
Separat gezählt je 9 Zitationen
Auch die Zeichenhaftigkeit von Objektaspekten wird bewusst eingesetzt, um stadträumlich-ortsindexikalische Interpretationen beim Leser auszulösen. Indem nicht nur Objekte benannt, sondern in ihren konkreten Eigenschaften beschrieben werden, werden detaillierte Bilder im Kopf des Lesers produziert. Die bildhaften Beschreibungen wirken damit in ähnlicher Weise wie die photo elicitation in den Interviews, sie stimulieren eine analoge Interpretation, die auch die Objektaspekte als Ausgangspunkt einbezieht. Ebenso wie die Journalisten einzelne Objekttoken für ihren Typ stehen lassen (s.o.), werden Ausdrucksaspekte eines Objekttokens genutzt, um den generellen Zustand der Straße bzw. des Viertels zu exemplifizieren. Die ausgeprägte Nutzung von token- oder objektaspektbezogenen exemplifizierenden Zeichenrelationen in den Zeitungsartikeln kann aus der Anwendung von Textstrategien der journalistischen Reportage erklärt werden: die Reportage soll die „Welt im Brennglas“ (Durth 1974) darstellen.141 Hier zeigt sich deutlich, dass die
141 In der Reportage wird der Einzelfall, der einzelne Mensch oder der einzelne Gegenstand beispielhaft für das Ganze: „Die Tatsache, der individuelle Fall wird in der guten Reportage in voller Nacherlebbarkeit, konkret und individuell nachgestellt […]. Dieser
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Form der Externalisierung Einfluss auf das Dargestellte, den Inhalt nimmt (s.o. Kap. 4.2.2). Die Auswahl der Objekttoken in den Pressartikeln ist nicht geleitet durch praktische Relevanz für den Autor oder die Autorin, sondern nur durch die ihnen zugeschriebene sensorische oder symbolische Relevanz für das journalistisch zu bearbeitende Thema ‚Potsdamer Straße‘ bzw. die vermutete symbolische Relevanz für die Leser. Ausgewählt wird das für die Potsdamer Straße Charakteristische (als Typ mehrmals vorkommende) oder das Ungewöhnliche, Ausgefallene und sensorisch Auffallende (z.B. der Ave-Maria-Laden) sowie das überlokal Bekannte (Wintergarten, Pallasseum). Während in den Presseartikeln ca. 15% aller genannten Objekttoken als stereotyp oder imagekonform im Sinne der Potsdamer Straße als Rotlichtbezirk gelten142 können, sind dies in den Interviewtexten unter 5%. Die Artikel reproduzieren eher ein bereits konventionalisiertes Image, als dass sie selbst imageproduzierend wirken. Insgesamt stehen die paradigmatischen Elemente im Vordergrund; syntagmatische Strukturierungen und Eigenschaften der Straße mit Ausnahme der Grenzziehung Richtung Potsdamer Platz sind weniger akzentuiert als in den Interviews. Globale Eigenschaften des Syntagmas wie Leben oder Vielfalt werden beim Leser implizit evoziert durch Nennung unterschiedlicher oder konträrer Elemente und Inhalte. Eine räumliche Kontextualisierung und Einordnung der Elemente in das Syntagma findet kaum statt. Zwar lassen sich Elemente einer imaginären Wanderung (vgl. Kap. 3.4.6) in allen Artikeln nachweisen, jedoch ist diese meist lückenhaft und wechselt teilweise auch die Richtung. Es werden überwiegend einzelne, diskrete Bildelemente genannt. Eine Kontextualisierung ist stattdessen vermehrt auf der zeitlichen Achse zu konstatieren: der langfristigen Entwicklung der Straße wird erhöhte Aufmerksamkeit gewidmet. Deutlicher als in den Interviews wird die nördliche Grenze der Potsdamer Straße am Landwehrkanal gesetzt, die Abschnitte Kulturforum und Potsdamer-PlatzAreal sind nicht mehr Teil des Bildes der Potsdamer Straße. Das verwendete Konzept umfasst für die Journalisten nur die Abschnitte, die dargestellte […] Einzelfall ist aber hier nur Beispiel, Illustration für den […] mit Verstandesgründen motivierten allgemeinen Zusammenhang“ (Lukács 1932/1970: 126128). Mit Hilfe des Stilmittels der Montage (wie z.B. in der Aufzählung der einzelnen Objekttoken im taz-Artikel, siehe Zitat oben) werden die beschriebenen einzelnen Elemente im Text scheinbar willkürlich nebeneinandergestellt, ein Bedeutungszusammenhang erschließt sich erst im Kopf des Lesers (vgl. Ueding 1996: 151). 142 Als stereotype Objekte eines Rotlichtbezirks können Bordelle, Vergnügungsetablissements, Spielcasinos und Sexshops aufgefasst werden.
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durch soziale Probleme, Abwanderung von Unternehmen und Prostitution geprägt sind, d.h. diejenigen, die dem stereotypen Image entsprechen. Inwieweit hier eine bewusste Vereinfachung und Zuspitzung vorliegt oder auch Nichtwissen eine Rolle spielt, ist nicht zu entscheiden. Diese räumliche Beschränkung des Konzepts hilft jedoch bei der Herstellung der Opposition Potsdamer Platz – Potsdamer Straße und vermittelt dem Leser ein weniger differenziertes, aber dafür eindeutigeres und leichter verständliches Bild. Während die Vorstellungen der Interviewten sich überwiegend facettenreich und differenziert darstellen, zeichnen die vier Presseartikel ein eindeutigeres und mehrheitliches negativ gefärbtes Bild. Ebenso wie in der in Kapitel 4.4.1 zusammengefassten Berichterstattung der 1990er Jahre wird die Potsdamer Straße grundsätzlich als ‚Problemstraße’ beschrieben, für die keine schnelle Verbesserung ihrer sozialen und ökonomischen Situation in Sicht ist. Nur im Artikel der Berliner Zeitung (Eltzel 2002) klingt auch etwas Optimismus an.
5
Fazit
Diese Arbeit hat sich mit der Großstadtstraße als einem semiotischen Raum für ihre Interpreten, die Stadtbewohner auseinandergesetzt. Am Beispiel der Potsdamer Straße in Berlin habe ich untersucht, wie die Bedeutungen einer konkreten Großstadtstraße konstituiert und strukturiert werden. Ziel meines theoretischen Interesses war es, ein Modell zu entwickeln, das diese Bedeutungskonstitution adäquat darstellen kann. Es wurde von der Annahme ausgegangen (Hypothese 1), dass dieses Modell drei jeweils interdependente Dimensionen der Semiotisierung konkreter Umwelten beschreiben muss: die Objekte der Umwelt in ihrer Materialität, den Interpreten der Umwelt sowie den zeiträumlichen Kontext, in den die Straße und ihre Objekte in der Interpretation eingebunden werden. Die Modellbildung wurde in zwei Schritten vollzogen: Zuerst wurde, ausgehend von einem zweistelligen Zeichenmodell, ein Modell der Interpretation von ObjektZeichen entwickelt. Dieses berücksichtigte einerseits die Materialität und Aisthezität konkreter Objekte, d.h. es trug der Tatsache Rechnung, dass nicht nur der Objekttyp, sondern auch Aspekte der konkreten Ausdruckssubstanz des Objekts zu Zeichenträgern werden können, andererseits bezog es die Situierung der Objekte in einen syntagmatischen Kontext ein (Kap. 2). In einem weiteren Schritt wurde ein Modell der komplexen Vorstellung einer konkreten Großstadtstraße () erarbeitet. Ausgangspunkt der semiotischen Modellierung war dabei der Begriff der stadträumlichen Vorstellung (Kap. 2.3 und 3). Stadträumliche Vorstellungen wurden als stabilisierte, aber noch flexible Ergebnisse von Interpretationsprozessen städtischer Einzelräume aufgefasst; sie sind nach Wissen und Einstellungen der Interpreten perspektivisch gestaltet. Stadträumliche Vorstellungen sind komplexe Tokenkonzepte. Sie konstituieren sich aus Konzepten der für die Interpreten relevanten Objekte, Objektkonfigurationen und Inhalte, aber sie integrieren auch übergeordnete konventionalisierte Typkonzepte wie das Konzept als einer kulturellen Einheit (Eco 1972b und Eco 1976/1987) (Kap. 1, 2.2.2 und 3.1). Die Einzelkonzepte der Objekte wurden als Objekt-Zeichen mit einer Ausdrucks- und einer Inhaltsebene konzipiert; auf diese
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Weise konnte das Modell der Vorstellung mit dem Modell der Interpretation von Objekt-Zeichen verknüpft werden. Ergänzend zu den Modellen wurde eine Typologie der möglichen paradigmatischen Elemente der Vorstellung erstellt, wobei primär zwischen Typen der Zeichenausdrucksebene auf der einen Seite, wie z.B. intentional und nicht-intentional produzierten Objekt-Zeichen, und Typen der Inhaltsebene auf der anderen Seite, wie gebrauchsfunktionalen, sozialen und ästhetischen Inhalten, unterschieden wurde. Diese Typologie wurde in modifizierter Form auch als Grundlage der Analyse des Textkorpus eingesetzt. Mit Hilfe der Unterscheidung zwischen drei Formen der Relevanz, der sensorischen, praktischen und symbolischen Relevanz, konnten ferner die Interdependenzen der Relevanzformen über unterschiedliche Perspektivierungsebenen der Straße analysiert werden (Kap. 3.4). Die in der Kommunikation externalisierten Vorstellungen der Großstadtstraße können als Text einer semiotischen Analyse unterzogen werden. In den sprachlichen Beschreibungen werden die ursprünglich mannigfaltigen und fluiden Vorstellungen konzentriert und festgestellt, die in der Zeit ablaufende Erfahrung wird zum statischen Bild. Die Frage nach der Bedeutung der materiellen [Straße X] kann als äquivalent zu der Frage nach der Vorstellung aufgefasst werden: die Bedeutung der [Straße X] für einen Interpreten ist das, was seine Vorstellung des materiellen Objekts [Straße X] ausmacht, oder, kurz gesagt, es ist seine Vorstellung selbst. Somit ist es möglich, auch die Bedeutung eines städtischen Raums (bzw. konkreter Objektkomplexe im Allgemeinen) als die Menge der für seinen Interpreten relevanten Elemente und ihrer Relationen untereinander sowie zum Gesamtkomplex zu konzipieren. Semiotisch formuliert ergibt sich die Bedeutung aus der Menge der für den Interpreten paradigmatischen Elemente des Stadtraums, ihren syntagmatischen Verknüpfungen sowie den metonymischen Bedeutungsübertragungen zwischen perspektivischen Ebenen. Bei der Analyse der Vorstellungen wurde deutlich, dass die Erstellung einer Semantik der Einzelobjekte im engeren Sinne, d.h. die Bestimmung von eindeutigen Ausdrucks-Inhalts-Korrelationen, nicht möglich ist. Einzelinhalte lassen sich meist nur tentativ und indirekt erschließen: als Determinante fungieren kann sowohl die Objektdenotation, welche die Standardfunktion umfasst, als auch die Relevanzsetzung im jeweiligen Kontext durch den Interpreten. Bedeuten wurde also nicht nur verstanden in der engeren semiotischen Definition als ‚Objekt a bedeutet Inhalt m‘, sondern zusätzlich als ‚Objekt a bedeutet in einem Kontext C für Interpret X mehr als Objekt b, es ist relevanter als b‘. Roland Barthes’ semantisch ausgerichtete Feststellung: „daß eine Stadt ein Gewebe bildet, nicht aus gleichen Elementen, deren Funktionen sich inventarisieren lassen, sondern aus starken Elementen und neutralen Elementen“ (Barthes 1967/1988: 202) wird auf diese Weise pragmatisch erweitert.
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Das Korpus der empirischen Untersuchung umfasste Transkripte von 20 qualitativen Interviews mit Anwohnern und Nutzern der Potsdamer Straße sowie ergänzend Presseartikel, die sich mit der Straße beschäftigen. Die in den Interviews mit Anwohnern und Nutzern kommunizierten Vorstellungen der Potsdamer Straße zeigen die Straße als komplexen, durch spezifische materielle Objekte, Nutzungen und globale Eigenschaften geprägten Raum. Meistgenannte Objekttoken der Potsdamer Straße sind der ‚Tagesspiegel‘, als Zeitungsverlag und als markantes Gebäude, die Großwohnanlage der 70er Jahre ‚Pallasseum‘, das ‚Wintergarten‘Varieté, die ‚Joseph-Roth-Diele‘ als Café und Bar sowie das Gebäude der Berliner Verkehrsbetriebe BVG. Der gebaute Raum der Potsdamer Straße zeigt sich in den Interviews als geprägt durch eine Mischung von Alt- und Neubauten. Als charakteristische Typen von Einzelhandelsbetrieben nennen die Befragten Fachgeschäfte, Billigläden sowie migrantische Geschäfte, unter den gastronomischen Betrieben die Cafés und Schnellimbisse. Maßgebliche Nutzungen sind für die Interpreten die im Umkreis der Straße betriebene Prostitution, die als distinktives Merkmal der Potsdamer Straße bestimmt werden kann, ferner kulturelle Nutzungen sowie die Nutzung als Verkehrsader (Kap. 4.3.1.1 bis 4.3.1.3). Die historische Dimension der Potsdamer Straße besitzt in den Bildern einen hohen Stellenwert: der Straße wird als „geschichtsträchtig“ charakterisiert. Als globale historische Inhalte werden die Rolle der Potsdamer Straße als großbürgerliche Wohngegend im 19. und frühen 20. Jahrhundert, die Kontinuität des Rotlichtmilieus vom Beginn des 20. Jahrhunderts bis heute sowie die Alternativkultur der 70er und 80er Jahre genannt; in den historischen Elementen Sportpalast und Berliner Mauer manifestiert sich für die Interpreten nicht nur Berliner, sondern auch gesamtdeutsche Geschichte. Sozial-kulturelle Zuschreibungen sind in den Vorstellungen stark vertreten; die Potsdamer Straße wird in allen Interviews als Raum beschrieben, in dem soziale Tatbestände exemplifiziert werden. Sie zeichnet sich für die Befragten durch hohe soziale und kulturelle Heterogenität aus, einerseits sei sie sozialer Brennpunkt, aber in den Seitenstraßen sei auch eine bürgerlich-akademische Wohnbevölkerung anzutreffen. Das Straßenbild sei „multikulti“ und geprägt durch die migrantischen Anwohner (Kap. 4.3.1.4 und 4.3.1.5). Die Bilder der Straße umfassen nicht nur spezifische Objekttoken, Objekttypen und Nutzungen, sondern maßgeblich auch Eigenschaften der Objekttoken, wie den Fassadenzustand von Gebäuden, den Pflegezustand der Straße und die Gestaltung von Ladenschildern und Schaufenstern. Diese Aspekte der Ausdruckssubstanz, die Objektaspekte, werden für die Interpreten zu Anzeichen der historischen Entstehungszeit eines Objekts, früherer Nutzungen oder auch fehlenden Engagements von Hausbesitzern und Anwohner bei der Erhaltung von Gebäuden (Kap. 4.3.1.8). Die in der Einleitung formulierte Hypothese zu den konstituierenden Elementen der Vorstellungen von der Potsdamer Straße (Hypothese 2) konnte ich in der Analyse der Korpustexte bestätigen. Wie angenommen, konnten in den Vorstellungen
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des städtischen Raums Potsdamer Straße folgende paradigmatische Elemente nachgewiesen werden: 1. intentional für eine Gebrauchsfunktion geschaffene Objekte (siehe z.B. alle o.g. Objekttoken und -typen), 2. Objekte oder Objektaspekte, die für die Interpreten indexikalisch als Anzeichen auf weitere symbolische Inhalte verweisen, wobei soziale und historische Inhalte einen hohen Stellenwert erhalten (z.B. die Billigläden der Potsdamer Straße oder eine bestimmte historische Entstehungszeit signifizierende Fassadengestaltung) sowie 3. sensorisch besonders saliente Objekte (das Tagesspiegelgebäude, das Pallasseum etc.). Die Potsdamer Straße wird mehrheitlich als vielfältig, laut, verkehrsreich und lebendig charakterisiert. Hier handelt es sich um für die Interpreten relevante Eigenschaften, d.h. Merkmale des Gesamtsyntagmas . Ferner wird die Straße von den Interpreten syntagmatisch in Abschnitte gegliedert, denen spezifische charakteristische Merkmale zugeschrieben werden. Als differenzierende Merkmale eingesetzt werden u.a. die Belebtheit des Abschnitts (für den „wuseligen“, „bunten“ Abschnitt Kurfürsten- bis Lützowstraße), die vorherrschenden Nutzungen (für die „Kulturmeile“ Kulturforum), soziale und kulturelle Zuschreibungen (für den „orientalischen Teil“ Goebenstraße bis Bülowstraße) sowie Objektaspekte des Straßenraums und der Gebäude (für „diesen ganz hässlichen Abschnitt“ Lützowstraße bis Landwehrkanal) (Kap. 4.3.2 und 4.3.3). Hier bestätigte sich die Annahme in Hypothese 3, dass spezifische Inhalte einzelner Elemente in der Interpretation auf den Kotext, d.h. die gesamte Straße oder auf Teilabschnitte übertragen werden, d.h. die Inhalte im Barthesschen Sinne „ausgedehnt werden“. Der Wechsel der Form der Bebauung von der geschlossenen Randbebauung in den südlichen Abschnitten zur offenen ‚Stadtlandschaft‘ des Kulturforums wird als deutliche Grenze und „Bruch“ empfunden, für die Hälfte der Interviewpartner endet ‚ihre‘ Potsdamer Straße bereits am Landwehrkanal. Das nördlich an das Kulturforum anschließende Potsdamer-Platz-Areal mit der Neuen Potsdamer Straße wird auf Grund seiner fehlenden städtebaulichen Anbindung zur „Insel“. Die Leerstellen der Potsdamer Straße, d.h. Ladenleerstand und räumliche Leerstellen als Unterbrechungen des syntagmatischen Kontinuums, sind in der Mehrzahl der Interviews präsent und können so als ein weiteres Merkmal des Konzepts der Potsdamer Straße aufgefasst werden (Kap. 4.3.3). Eine ideale Großstadtstraße zeichnet sich für die Befragten durch eine Vielfalt des Einzelhandels, erhöhte Verkehrsdichte, Lebendigkeit, Stadtgrün, Orte zum Aufenthalt wie Cafés sowie breite Fahrstraße und Fußwege aus. Diese Merkmale des Typs als kulturelle Einheit werden auch zu Parametern beim wertenden Vergleich der Potsdamer Straße mit anderen Straßen wie z.B. dem Kurfürstendamm oder kleineren „Szene“-Kiezeinkaufsstraßen. Ferner werden einige dieser Merkmale, die bisher der Potsdamer Straße in den Augen ihrer Interpreten fehlen, wie Aufenthaltsqualität und erhöhte Lebendigkeit, zu ‚Wunsch‘-Eigenschaften einer zukünftigen Potsdamer Straße (Kap. 4.3.4 bis 4.3.7).
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Die als Ergänzung zu den subjektiven Vorstellungen der Nutzer untersuchten Darstellungsimages der Potsdamer Straße in vier Presseartikeln zeigen nur in wenigen Bereichen Bedeutungsdifferenzen. Soziale und historische Inhalte besitzen einen ähnlich hohen Stellenwert wie in den Interviews. Insgesamt häufiger vertreten sind Elemente, die als stereotyp im Sinne der Potsdamer Straße als Rotlichtviertel und Ort erhöhter Kriminalität gelten können, wie Bordelle und die Aktivitäten von Jugendbanden. Während die Interviewten mehrheitlich differenzierte Bilder der Straße zeichnen, in denen sich auch unterschiedliche Wissensbestände und Interessen manifestieren, überwiegt in den Presseartikeln die Darstellung der Potsdamer Straße als soziale und ökonomische ‚Problemstraße‘ (Kap. 4.4). Die Analyse der Interviews und Pressetexte zeigt, dass sich die genannten Elemente überwiegend durch symbolische Relevanz für die Interpreten auszeichnen. Symbolische Relevanz wird durch konnotative Inhalte wie z.B. soziale und historische Inhalte vermittelt. Auch sensorisch saliente Objekte erhalten dann besonders viele Nennungen, wenn zu der sensorischen Salienz eine symbolische Relevanz hinzukommt. Zu beachten ist jedoch, dass symbolische Relevanz sich vielfach aus subtypbezogenen Gebrauchsfunktionen, sprich originär praktischen Relevanzen herleitet, welche z.B. auf Inhalte wie die soziale Zugehörigkeit ihrer Nutzer verweisen (siehe Kap. 4.5). Roland Barthes’ „Das Objekt erscheint immer funktionell“ (Barthes 1964/1988}: 197) wird hier in einem erweiterten Sinn bestätigt. Unter den Elementen mit symbolischer Relevanz führen weiterhin jene die Nennungen an, die mehrere ihrer Inhalte zusätzlich indexikalisch auf den städtischen Kotext, d.h. die Straße oder das Viertel, beziehen und somit über mehrfache stadträumliche Ortsindexikalität verfügen. Beispielsweise können bei dem in den Interviews meistgenannten Objekttoken, dem Tagesspiegel, vier Inhalte identifiziert werden, die nicht nur dem Objekt selbst zukommen, sondern auf die Gesamtstraße bzw. den Straßenabschnitt übertragen werden. Ein aus der Ausdrucksebene [Tagesspiegel als Gebäude] entwickelter Inhalt ist die des Gebäudes, welches in der Straße weithin sichtbar ist. Aus Aspekten der Inhalts werden die sekundären Inhalte , und
abgeleitet. Am diesem Beispiel können auch exemplarisch die generellen Merkmale der Interpretation von städtischen Objekt-Zeichen aufzeigt werden: diese ist perspektivisch, vorwiegend indexikalisch und kotextualisierend. Die oben dargestellten Ergebnisse lassen vermuten, dass grundsätzlich a) besonders ‚bedeutungsvolle‘, d.h. vorstellungsprägende Objekte für einen Interpreten X im eigenen städtischem Lebensumfeld (oder der menschlichen Umwelt allgemein) solche Objekte sind, die für den Interpreten mehrfach kotextualisiert
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sind, d.h. für die er mehrere Verknüpfungen mit einem übergeordneten raumzeitlichen Kontext hergestellt. 1 b) intersubjektiv besonders ‚bedeutungsvolle‘, vorstellungsprägende Objekte in einem gemeinsamen städtischen Lebensumfeld (oder der menschlichen Umwelt allgemein) solche Objekte sind, die für die Interpreten mehrfach kotextualisiert sind (wobei die Kotextualisierungen hier nicht notwendig identisch sein müssen), d.h. für die mehrere Verknüpfungen mit einem übergeordneten raumzeitlichen Kontext hergestellt werden. Zumindest a) könnte in einem relativen Sinn auch Sperber und Wilsons „intuitive“ Definition von Relevanz2 als dreistellige Funktion von sensorischem oder mentalem Input, Kontextualisierung und Interpretationsergebnis bestätigen: ein Input wird dann für einen Interpreten relevant, wenn er von ihm mit einem oder mehreren Kontexten verknüpft werden kann und damit Schlussfolgerungen ermöglicht, die für den Interpreten wichtig sind (Wilson/Sperber 2004: 608f). Sperber und Wilson haben sich, wie bereits festgestellt (s. Kap. 2.1.2), überwiegend mit Relevanzerkennen in individuellen Interpretationen intentionaler Kommunikationsakte beschäftigt; bei den in den stadträumlichen Vorstellungen sich zeigenden Relevanzsetzungen handelt es sich jedoch um Reaktionen auf nicht-intentionale ObjektZeichen. Sperber und Wilsons allgemeine Relevanzdefinition könnte also für einen nichtsprachlichen Teilbereich der kognitiven Aktivitäten bestätigt werden, der in Sperber und Wilsons Arbeiten selbst kaum berücksichtigt wird. Im Fokus der Studie standen Vorstellungen des jeweiligen (aktuellen oder früheren) städtischen Nahraums der Interpreten, ihrer direkt erfahrenen und geteilten Alltagsumwelt. Die vielfach feststellbare Intersubjektivität der Relevanzsetzungen lässt sich auch durch die potentiell intersubjektiv dem Wissen zugänglichen, da öffentlichen urbanen Kotexte erklären. Es liegt eine (zumindest teilweise) physische Kopräsenz der Interpreten untereinander und der Objekte der städtischen Umwelt vor.3
1
Für einen einzelnen Interpreten ist selbstverständlich auch das bedeutungsvoll, was er im Rahmen seines individuellen Wissenskontextes und abhängig von der jeweiligen Interpretationssituation verknüpfen kann. Solche individuellen Relevanzen, wie sie z.B. auch praktisch Relevanzen darstellen, standen allerdings nicht im Fokus der Analyse.
2
„Intuitively, an input (a sight, a sound, an utterance, a memory) is relevant to an individual when it connects with background information he has available to yield conclusions that matter to him“ (Wilson/Sperber 2004: 608).
3
Vgl. auch Nasar 1998, siehe Kap. 2.3 / Umweltrepräsentationen. Zum Begriff der physischen Kopräsenz als einen Hinweis auf das Vorliegen gemeinsamen Wissens in der Kommunikation vgl. Clark 1981.
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Objekte, die als überlokale städtische Wahrzeichen etc. wirken, wurden in dieser Arbeit nur peripher betrachtet. Ihre intersubjektive Relevanz lässt sich weder aus mehrfachen Kotextualisierungen heraus noch durch unmittelbare physische Kopräsenz der Interpreten und Objekte erklären. Stattdessen wird hier (eine dann nur ausschließliche symbolische, quasi automatisch kodierte und damit auch kontextunabhängige) Relevanz durch konventionalisierte Ortsindexikalität im Image hergestellt (der Eiffelturm für Paris, die Tower Bridge für London etc.) Umberto Eco spricht von einer Phasenverschiebung zwischen praktischen und symbolischen Inhalten im Lauf der Geschichte: wo erstere verloren gehen, werden letztere aktiviert (s. Kap. 2.2.2). Auch diese Verschiebung könnte als relevanz- und kontextgeleitet beschrieben werden: wenn praktische Nutzung und damit individuelle Relevanz und Kontextualisierung nicht mehr möglich (oder nicht vorhanden) ist, wird sie ersetzt durch symbolische Relevanz, die Kontexte auf einer höheren, intersubjektiven Ebene herstellt. Dass Menschen immer wieder nach neuen möglichen Relevanzen in ihrer Umwelt suchen, ist auch Grundgedanke des von Sperber und Wilsons postulierten „Kognitiven Prinzips der Relevanz“: die menschliche Kognition sei auf Relevanzmaximierung ausgerichtet (Sperber/Wilson 1995: 260ff). Der hohe Stellenwert der historischen Inhalte der Potsdamer Straße in den Vorstellungen und Darstellungsimages verweist auf deren Ersatzrolle für aktuell nicht vorhandene praktische oder auch andere kulturell-symbolische Inhalte. Hier kann von einer zeitlichen Kotextualisierung in Bezug auf historische Umwelten ausgegangen werden, die umso umfassender möglich wird, je umfangreicher das entsprechende Weltwissen der Interpreten ist. Dagegen scheinen soziale Inhalte auch über Bildungsunterschiede hinweg über hohe Relevanz zu verfügen, auf die Präzision und intersubjektive Übereinstimmung sozialer Kategorisierungen wurde mit Nasar bereits in Kapitel 2.3.3 hingewiesen. Wahrscheinlich können soziale Interpretationen (zumindest in ihrer Mehrzahl) als inhärent kotextualisierend aufgefasst werden: sie stellen (indexikalische) raumzeitliche Verknüpfungen zwischen Objekten, Menschen und deren sozialem Umfeld her, seien diese verbindend oder abgrenzend. Die relativ seltene Nennung von Objekten mit dominierender praktischer Relevanz (Supermärkte, Postamt etc.) in den Interviews darf nicht zu der Schlussfolgerung führen, diese wären für die Interpreten im Alltag verzichtbar. Vielmehr kann angenommen werden, dass sie als typische Bestandteile einer großen Straße einen blinden Fleck des Selbstverständlichen bilden und zudem, gerade als Exemplare von hundertfach in der Gesamtstadt vorkommenden Typen (Filialen von Kettenläden) nicht als charakteristisch angesehen werden; ihnen fehlt stadträumliche Ortsindexikalität. Von den symbolisch relevanten Objekten führen die auf historische Inhalte, naturbezogene Inhalte und auf soziale Kontaktmöglichkeiten verweisenden zu
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überwiegend positiven Evaluationen.4 Die Hervorhebung historischer Inhalte (z.B. im Stadtmarketing), die Begrünung von Flächen sowie die Förderung sozialer Kontakte (z.B. durch Bildung sozialer Netzwerke) werden auch generell intentional zur Aufwertung städtischer Gebiete eingesetzt. Das Mediennetzwerk m-street an der Potsdamer Straße, das in den letzten Jahren entwickelt wurde, sei hier als Beispiel genannt (Kap. 4.3.7.3). Von den sozial konnotierenden Objekten der Potsdamer Straße werden solche positiv bewertet, die auf sozial erstrebenswerte Inhalte verweisen. Deutlich negativ bewertet werden dagegen Objektkomplexe, die „anonym“ wirken, d.h. durch keinerlei soziale Merkmale charakterisiert sind, und denen es auch an praktischer Relevanz fehlt. Der semiotische Ansatz hat sich als geeignet zur Untersuchung der Interpretationen komplexer städtischer Umwelten erwiesen. Die in Kapitel 2 und 3 erarbeiteten Modelle, die ein strukturalistisch orientiertes, zweistelliges Zeichenmodell in pragmatisch ausgerichtete Interpretationsmodelle einbinden, welche Kontext, Perspektivität und subjektive Relevanzsetzungen berücksichtigen, haben sich bei der Analyse der Potsdamer Straße als semiotischer Raum deutlich bewährt. Auf der Grundlage dieser Modelle und der Typologie der Objekt-Zeichen konnte die Basis der Bedeutungszuschreibungen, d.h. die die jeweiligen Interpretationen auslösenden Einzelelemente, differenziert erforscht sowie die Relationen zwischen Inhaltszuschreibungen verschiedener Objekte präzise analysiert werden. Mit dem Leitfadeninterview als qualitativem Instrument konnten die Vorstellungen von der Potsdamer Straße in offener und differenzierter Weise erhoben werden. Die am Material orientierte Auswertungsmethodik erlaubte es, auch unerwartete Elemente der Vorstellungen zu identifizieren. Deutlich wurde, dass die Analyse des Korpus zu weiteren Fragestellungen (s.o.) und ggf. der Formulierung weiterführender Hypothesen hinleitet. Das besondere Potential qualitativer Untersuchungen zur offenen Exploration eines Forschungsbereiches und zur Entwicklung von Hypothesen (Lamnek 2005: 89ff, s.a. Kap. 4.1. und 4.2) zeigt sich auch in dieser Erhebung. Nicht alle Aspekte der Interpretation des Raums Großstadtstraße konnten in dieser Arbeit angesprochen werden. So wurde z.B. der Einfluss der Bewegung auf die Straßenwahrnehmung kaum berücksichtigt, da von Vorstellungsbildern ausgegangen wurde, die zwar in der Bewegung durch Straßen entwickelt werden, kognitiv dann jedoch eine statischere Form annehmen. Weitere Desiderata wären Forschungsbemühungen, die sich auf spezifische Details, wie zum Beispiel den Einfluss der Objektaspekte auf die Semiotisierung von konkreten städtischen Objekten konzentrieren. Einerseits wäre es vorstellbar, den Untersuchungsfokus auf eine ‚Mikroebene‘, z.B. die Interpretation eines Einzelobjekts zu verkleinern, ande4
Siehe auch Kap. 2.3.3 zur positiven Prägung stadträumlicher Vorstellungen durch historische Bedeutungen (Nasar 1998: 62).
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rerseits könnte eine vergleichende Untersuchung von Straßen oder unterschiedlichen städtischen Raumtypen auf der Basis des erarbeiteten Modells sicher zu neuen und interessanten Ergebnissen führen. Denkbar wäre eine kontrastive Untersuchung der Interpretationen traditioneller gewachsener Einkaufsstraßen und neuer intentional geplanter Stadträume wie z.B. Shopping Malls, in der besonders die unterschiedliche Ausformung symbolischer Relevanzen in beiden Stadtraumtypen fokussiert werden könnte.5 Neuartige mediale Repräsentationen von Straßen wie in Google Street View6 könnten in qualitativen oder quantitativen Befragungen verwendet werden, um kulturspezifischen und universellen Mustern der Interpretation städtischer Räume nachzugehen. Ferner könnte das Modell fruchtbar zur Untersuchung von Stadträumen eingesetzt werden, welche sich gerade in einer Phase eines nachhaltigen Umbruchs (als Gentrifizierung oder Abwertung) befinden. Folgende Forschungsfragen böten sich an: Wie unterscheiden sich die Interpretationen der ‚Alteingesessenen‘ und der neuen Nutzer? Wann ‚kippen‘ Bedeutungen? Welche Objekttoken oder -typen lösen einen Bedeutungsumschlag aus? Liegt der Zeitpunkt des Bedeutungsumschlags unterschiedlich für einzelne Nutzergruppen? Welchen Einfluss hat die mediale Berichterstattung? Auch eine vertiefende Betrachtung der Verschränkung von praktischer und symbolischer Relevanz wäre sicher lohnend. Folgenden Fragen könnte nachgegangen werden: Welche Verschiebungen zeigen sich über strukturelle Ebenen hinweg (Objekt – Straße – Gesamtstadt)? Welche zeigen sich in der Zeit? Welche zeigen sich bei unterschiedlichen Interpretengruppen? Weitere, detailgenauere Untersuchungen zu einzelnen Straßenabschnitten wären nötig, um Interdependenzen zwischen Einzelobjekten und Inhalten der übergeordneten Ebene zu analysieren. Zu fragen wäre schließlich, inwieweit der in dieser Arbeit verfolgte Ansatz auch geeignet wäre, die Interpretationen von Innenräumen oder nicht-urbanen Umwelten zu untersuchen. In welchem Maße können diese Ergebnisse auch normativ, im Sinne von Empfehlungen zur Stadtplanung oder zum Stadtumbau genutzt werden? Welche Stadtelementtypen generell positiv evaluiert werden, ist bekannt (siehe Kap. 2.3.3, 4.3.2 und 4.5) und soll hier nicht wiederholt dargestellt werden. Wichtiger scheint vielmehr, dass Stadträume ‚Identifikationsobjekte‘ bereitstellen sollten, die nicht nur räumlich-sensorisch als Merkzeichen wirken, sondern deren Bedeutungen eng über mehrere Stränge mit ihrem Umfeld, der Straße verwoben sind. Diese Rolle 5
Zu überprüfen wären z.B. Gottdieners Ergebnisse, nach denen konnotativ-symbolische Inhalte in Shopping Malls vornehmlich in intentionalen Zeichen wie Logos, Schaufenstern und Warenangebot vermittelt werden (Gottdiener 1986a: 298f).
hatte in der Potsdamer Straße bis zu seinem Wegzug im Jahr 2009 der Tagesspiegel inne, inwieweit die vielen neu entstandenen Galerien nicht nur für Kunstfreunde zu einem ‚Identifikationscluster‘ werden, bleibt abzuwarten.7 Die aktuelle Stadttheorie nähert sich mit den Begriffen des städtischen Habitus, der städtischen Textur und des städtischen Imaginären den differentiellen „Eigenlogiken“ der Städte an.8 Ein eigener „starker Charakter“, ein Habitus der Potsdamer Straße wurde in den Interviews konstatiert. Das Imaginäre der Potsdamer Straße ist in den Erzählungen über das Rotlichtmilieu, die frühere Großbürgerlichkeit, die vergangene kulturelle Bedeutung, aber auch über die heutige Multikulturalität zu suchen, allerdings wurde es in dieser Arbeit überwiegend analytisch aufgelöst in Objekte, Nutzungen, Strukturen und perspektivische Sichtweisen der Straße. Dieses Imaginäre ist in Teilen sicher Ursprung der neuen Anziehungskraft der Potsdamer Straße für Künstler und Galeristen: Die Künstlerin Stephanie Snider findet in den dortigen Häusern „so eine wunderbare Atmosphäre von Erinnerung“, die „verborgene Geheimnisse“9 erahnen lasse. Ob die Mehrzahl der Anwohner ebenfalls mythische Qualitäten dieser Art in ihrem Wohngebiet erkennt, ist ungewiss. Eine Erweiterung der Diskurse der „Eigenlogik“, die städtische Eigenlogiken nicht als branding-kompatible Kurzformeln begreift, sondern auch den mannigfaltigen Sichtweisen auf die Stadt Aufmerksamkeit schenkt, könnte vielversprechend sein. Ohne Zweifel gibt es in den Interpretationen von Großstadtstraßen, mit Musil gesprochen, noch einiges „Verzweigtes, Geheimnis- und Rätselvolles“, noch zahlreiche „Fallgruben und unterirdische Gänge“10 zu erforschen und zu entdecken.
7
Eine beginnende Vernetzung ist bereits zu konstatieren: so arbeitet die Kuratorin des „Freien Museums“ auch in der IG Potsdamer Straße mit und ausstellende Künstler knüpfen in Projekten an die Historie des Gebiets an (siehe z.B. http://www.receptionberlin.de/uploads/tx_kbshop/Text_5_10.pdf [11.11.2010]).
8
Vgl. Berking/Löw 2008, zu den Begriffen Textur, Imaginäres und Habitus darin Lindner 2008.
9
Siehe Reportage des Rundfunk Berlin-Brandenburg vom 7.10.2010 (Lederer 2010).
10 Siehe Motto in Einleitung, Musil 1983: 8f.
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Nachsatz: Zu einer Semiotik des Konkreten Sicher kann jeder mit Semiotik Beschäftigte der Aussage zustimmen, dass Semiotisieren immer ein Etwas braucht, das semiotisiert wird, und dass Semiosen auf konkrete Tatbestände der Welt gerichtet sind. Dennoch bleibt in der semiotischen Theorie das Konkrete, der materielle Zeichenträger selbst (sofern er überhaupt Ausgangspunkt ist), meistens nur der wenig beachtete Pfeiler der Brücke zum anderen Ufer des Inhalts, der Bedeutung des Zeichens. Wie der Pfeiler gefertigt ist, warum und aus welchen Konstruktionsprinzipien heraus er die Interpretationsbrücke trägt, auf welchen Fundamenten er im Boden verankert, an welchem Ort er gebaut ist und warum der Interpret diese Brücke beschreitet und nicht eine andere, interessiert selten, und in vielen Fällen nimmt nur ein sprachlicher Begriff seinen Platz ein. Indem sich die vorliegende Arbeit die Zeichenhaftigkeit eines materiellen Raums zum Thema gemacht hat, hat sie sich auch exemplarisch an einer Semiotik des Konkreten versucht, einer Semiotik, die versucht, die Steine, die Konstruktion und auch die Umgebung des Brückenpfeilers, des Zeichenträgers, zu ihrem Recht kommen zu lassen. Deutlich wurde, dass eine Semiotik des Konkreten sich nicht auf eine Semiotik der Objekte als solche beschränken darf: die Objekte sind uns nie als Objekte an sich zugänglich, sondern nur in ihrer jeweiligen Anschauung und Auslegung durch ihre Interpreten. Das Konkrete lässt sich allein vom raumzeitlich präsenten Material und vom wahrnehmend-interpretierenden Subjekt aus denken, eine Entkoppelung ist nicht möglich. Daher muss eine Semiotik des Konkreten eine objekt- und subjektorientierte Sicht verbinden. Sie muss fragen, in welcher Weise das Material zum Grund der Interpretation werden kann und in welcher Weise die Interpretation das Material formt, sie muss sowohl semantisch in weitem Sinne, d.h nach kodierten Zuordnungen fragend, als auch pragmatisch argumentieren. Probleme ergeben sich dabei weniger aus der Integration bereits erprobter semantisch-strukturalistischer Modelle, welche, wie Prieto es gezeigt hat, überzeugend in eine kognitiv orientierte Semiotik integriert werden können. Erweitert werden muss vielmehr der überwiegend auf kommunikative, meist sprachliche Zeichenakte eingeschränkte und senderorientierte Fokus der pragmatischen Forschung, die sich kaum mit der Interpretation nicht-intentionaler Zeichen und der damit einhergehenden Auswahl bzw. Relevanzsetzung durch den Empfänger beschäftigt hat.11 In dieser Arbeit wurde nun ein Zugang vorgeschlagen, der auch die Interpretation nicht-intentionaler Phänomene berücksichtigt, d.h. eine Pragmatik der 11 Ansätze einer Einbeziehung der Interpretation nicht-intentionaler Zeichen finden sich in der pragmatischen Literatur in Sperber und Wilsons Relevanztheorie (siehe Kap. 2.1.2 und 2.2.3.1) sowie bei Posner 1997. Siehe ferner Wilson/Sperber 2004: 627f zur Empirieferne der pragmatischen Forschung.
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Signifikation12 konzipiert, die auch die Interpretation von Token einbezieht. Ein sich allein auf die Darstellung pragmatischer Prozesse beschränkendes Modell gerät in Gefahr, Interpretation als überwiegend subjektive und kontingente Zuschreibung aufzufassen. Daher nutzt das erarbeitete Interpretationsmodell das strukturalistische Zeichenmodell mit der kodierten Zuordnung eines Signifikanten zu einem Signifikat, flexibilisiert es jedoch durch die Einbeziehung der pragmatischen Dimension der Perspektivität und Kontextualität der Interpretation. Das hier entwickelte Modell wird gestützt durch das Gitter der zum Teil intersubjektiven paradigmatischen und syntagmatischen Strukturen der komplexen mentalen Konzepte und durch metonymische Beziehungen zwischen den Elementen einzelner über- und untergeordneter Systeme. Betont sei: es gibt Systeme und Kodes, aber diese werden in unterschiedlicher und flexibler Weise in der Interpretation eingesetzt, wobei sich wieder unterschiedliche Relationen zwischen diesen Systemen ergeben. Bei den von uns in der Umwelt „wahrgenommenen“ Systemen und ihren Verknüpfungen handelt es sich immer um perspektivisch geformte. Wie diese Perspektiven auch sind die Kodes veränderlich und ihre Anwendungen fluide (sie wandeln sich mit unseren Einstellungen und Interessen), die Systeme können nur fragmentarisch sein (weil sie immer selektiv sind), sie sind „erratisch“ und widersprüchlich. Umberto Eco beschreibt das „Universum der Semiose“ als Netz (und damit auch als Struktur), das „virtuell unendlich [Herv. i. Orig.]“ ist. Das Netz ist unbegrenzt, weil es „multiple Interpretationen“ (die aus multiplen Perspektiven resultieren) berücksichtigt und weil kein Außen existiert, keine Metaperspektive, von der aus die Strukturen des Netzes verhandelt werden können, ohne wieder in das Netz selbst einzugreifen und es zu verändern (Eco 1984/1985: 126ff, 129). Als Desiderat für die Weiterentwicklung einer Semiotik des Konkreten bleibt eine Anpassung und ggf. Neuformulierung semiotischer Termini, die eine adäquate Beschreibung der Interpretationsprozesse von konkreten materiellen Objekten ermöglicht. Auch die Einbeziehung von Ansätzen der phänomenologischen Philosophie und Psychologie sowie von Erkenntnissen der Kognitionswissenschaften kann helfen, weiterführende Fragestellungen einer Semiotik des Konkreten wie beispielsweise das Problem der Relevanzsetzung umfassend zu erforschen.
12 Im Sinne der Definition von ‚Signifikation‘ in Kap. 2.1.2.
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Hjelmslevs Modell der Zeichenfunktion | 78 Modell des konnotativen Zeichens nach Hjelmslev | 120 Interpretationsorientiertes Modell für Objekt-Zeichen | 149 Spektrum der stadtsemiotischen Topoi | 173 Mögliche Relationen zwischen Relevanzsetzung und Ortsindexikalität | 224 Modell der Vorstellung | 233 Darstellung des zirkulären Forschungsprozesses | 243 Tagesspiegel-Gebäude | 260 Interpretationen des Objekttokens Der Tagesspiegel | 263 Wintergarten-Variéte | 264 BVG-Gebäude | 265 Wohnanlage Pallasseum | 269 Ensemble Potsdamer Straße 98 | 270 Interpretationen des Objekttyps | 277 Joseph-Roth-Diele | 283 Interpretationen des Objekttokens Joseph-Roth-Diele | 284 Die historische Dimension der Potsdamer Straße | 300 IF 1 – Haus Potsdamer Straße 164 | 317 IF 2 – Abschnitt Kurfürstenstraße bis Pohlstraße, westliche Seite | 321 Karte der Potsdamer Straße | 460
Tabellenverzeichnis
Tabelle 1: Diachronie der europäisch-nordamerikanischen Straßenformen und –funktionen | 54 Tabelle 2: Analoge versus digitale Interpretation | 151 Tabelle 3: Meistgenannte Einzelobjekte der Potsdamer Straße | 259 Tabelle 4: Meistgenannte Gebäude | 268 Tabelle 5: Abschnittsstrukturierende Merkmale der Potsdamer Straße | 348 Tabelle 6: Meistgenannte Elementfelder der Interviews | 399 Tabelle 7: Meistgenannte Elementfelder der Pressartikel | 410 Tabelle 8: Interviewleitfaden | 455 Tabelle 9: Samplestruktur der Interviewpartner, P1 - P20 | 458
I. Woran denken Sie, wenn Sie ‚Potsdamer Straße’ hören? Was fällt Ihnen dabei ein?
Charakteristisch für die PS? Orte: typisch, Art der …. Gebäude, Läden Nutzungen Menschen Ereignisse Architektur? Wie nutzen Sie die PS? Wie wird die PS allgemein genutzt? Welche Wirkung hat … auf das Bild?
II. Wenn Sie sich die PS vorstellen, wie können Sie ihren Verlauf beschreiben?
Beginn/Ende Einzelne Abschnitte unterscheiden. Wie charakterisiert? (Welche Objekte)Wie genutzt? (Alltag, Kultur, Durchgangsweg) Oder ist die Straße eine Einheit? Besonders charakteristische Abschnitte? Zentrum der Straße?
456 | DIE STRASSE, DIE DINGE UND DIE Z EICHEN
III. Können Sie Dinge / Orte / Eigenschaften der PS beschreiben, die Ihnen gefallen oder missfallen ? Wo fühlen Sie sich wohl, wo weniger? Können Sie, ohne lange nachzudenken, 5 Begriffe (Substantive, Adjektive) nennen, die die PS charakterisieren?
Schön / hässlich? Wo halten Sie sich gerne auf / wo weniger gern? Details, die gefallen oder stören? Atmosphäre? Wichtige Orte?
IV. Was ist für Sie eine Großstadtstraße? Welche Merkmale hat sie? Welche Merkmale sollte sie haben? (Idealbild)
Was gehört zu einer Großstadtstraße?) Können Sie unterschiedliche Arten von Großstadtstraßen unterscheiden? Wie würde sich die Potsdamer Straße darin einordnen? Wenn Sie die P.S. mit anderen großen Straßen vergleichen, welche Ähnlichkeiten/ Unterschiede gibt es da? Was ist das Besondere an der Potsdamer Straße?
V. Können Sie das städtische Umfeld der Potsdamer Straße beschreiben?
Lage im Berliner Stadtkontext, näheres und weiteres städtisches Umfeld?
Beziehung zu den angrenzenden Vierteln, direkt angrenzenden Straßen? Atmosphäre wie Potsdamer Straße oder anders?
Beziehung des Bildes der PS zu dem angrenzenden Viertel: ähnliches oder unterschiedliches Bild? = Vergleich
Wie würden Sie die Lage der Potsdamer Straße in Bezug auf das Berliner Stadtgebiet beschreiben? Vergleich mit anderen Berliner Straßen?
Typisch für Berlin? Warum / warum nicht?
A NHANG
| 457
VI. Welches Image hat Ihrer Meinung nach die Potsdamer Straße in Berlin?
Unterscheidung Stadtbewohner / Medien? Ihre Gäste / Kunden? Was ist für Sie ‚die Potse‘? Vergleich Aufmerksamkeit PS / andere große Berliner Straßen? Warum?
Imagearbeit?
Was wünschen Sie sich für die Potsdamer Straße in der Zukunft? Möchten Sie noch etwas ergänzen? VII. Fotofrage Können Sie beschreiben, was Sie auf dem Foto sehen? Was fällt Ihnen zu dieser Fotografie ein? VIII. Kartenfrage Bitte markieren Sie auf dieser Karte für Sie wichtige Objekte/Orte und die Grenzen ‚ihrer’ Potsdamer Straße
Es gibt unterschiedliche Gruppen und Initiativen, die die PS und ihr Bild verändern möchten. (Ansiedlung von Gewerbe, Stadtbildverbesserung etc.). Kennen Sie deren Ziele? Wie sehen sie aus? Arbeiten Sie evtl. dort mit? Wie beurteilen Sie sie? Veränderung in den letzten Jahren? Verschiebung der Ziele? Was sollte erhalten bleiben oder gestärkt werden? Was verändert oder verringert werden? Warum?
Alter
41-60
Über 60
21-40
21-40
41-60
41-60
41-60
41-60
Über 60
15-20
m/f
m
f
f
f
f
f
f
m
m
m
Befragte
P1
P2
P3
P4
P5
P6
P7
P8
P9
P10
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+ +
+ (früher)
+
+
+
Schüler
Hochschulstudium
Verwaltungsbeamter
Buchhändlerin
Fachhochschulstudium
Metallarbeiterin
Hochschulstudium
Hochschulstudium
Fachhochschulstudium
Hochschulstudium
Anwoh- Gewerbe- Arbeits- Mitarbeit in Migrations- Ausbildung/Beruf ner treibende platz PS lokalen hintergrund Initiativen
Tabelle 9: Samplestruktur der Interviewpartner, P1 – P10
B
B
D
B
C
B
A,G
D
F
B, D
seit 2006 Wohnung in Kreuzberg
früher Wohnort nahe Kleistpark
In den 90er Jahren Studium nahe Kleistpark
AbErgänzung schnitt
458 | DIE STRASSE, DIE DINGE UND DIE Z EICHEN
41-60
41-60
41-60
Über 60
41-60
41-60
15-20
41-60
41-60
41-60
m
f
f
f
f
m
f
m
f
m
P11
P12
P13
P14
P15
P16
P17
P18
P19
P20
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+
+ (früher)
+
+
+
+
Polizeibeamter
Hochschulstudium
Baukonstrukteur
Kauffrau
Hochschulstudium
Hochschulstudium
Erzieherin
Architekturstudium
Hochschulstudium
Handwerksmeister
Anwoh- Gewerbe- Arbeits- Mitarbeit in Migrations- Ausbildung/Beruf ner treibende platz lokalen hintergrund Initiativen
A-C
A-E
D-E
B
D
D
D
D-E
A-E
D
Experteninterview
Experteninterview (mit Gewerbeförderung in der PS beschäftigt)
Experteninterview, QMMitarbeiter
wohnte als Jugendliche 4 Jahre an der PS, seit 2008 Arbeitsplatz PS
Experteninterview (Leerstandsbeauftragte)
Wohnung seit 1998 in der Bülowstraße
AbErgänzung schnitt
Zu Spalte Abschnitt: A: Abschnitt Kleistpark – Goebenstraße, B Goebenstraße – Bülowstraße, C Bülowstraße – Kurfürstenstraße, D Kurfürstenstraße – Lützowstraße, E Lützowstraße – Landwehrkanal, F Landwehrkanal – Eichhornstraße (Kulturforum), G Eichhornstraße – Potsdamer Platz (Neue Potsdamer Straße, Potsdamer-Platz-Areal)
Alter
m/f
Befragte
Tabelle 9 Forts.: Samplestruktur der Interviewpartner, P11 – P20
A NHANG
| 459
460 | DIE STRASSE, DIE DINGE UND DIE Z EICHEN
Abbildung 20: Karte der Potsdamer Straße
Potsdamer-PlatzAreal Kulturforum
Po tsd am er St r aße
Landwehrkanal
Lützowstraße
Pohlstraße
Kurfürstenstraße Bülowstraße
Alvenslebenstraße
Goebenstraße
U-Bahnhof Kleistpark Quelle: Karte von Berlin 1:5000 (K5), Stand 2010. Blatt 413A und 423C. Veröffentlicht mit Genehmigung der Senatsverwaltung für Stadtentwicklung Berlin, Abt. III. Beschriftung ergänzt von E. Reblin.
Urban Studies Ralph Buchenhorst, Miguel Vedda (Hg.) Urbane Beobachtungen Walter Benjamin und die neuen Städte (übersetzt von Martin Schwietzke) 2010, 230 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN 978-3-8376-1524-1
Thomas Dörfler Gentrification in Prenzlauer Berg? Milieuwandel eines Berliner Sozialraums seit 1989 2010, 336 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1295-0
Florentina Hausknotz Stadt denken Über die Praxis der Freiheit im urbanen Zeitalter 2011, 366 Seiten, kart., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1846-4
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Julia Reinecke Street-Art Eine Subkultur zwischen Kunst und Kommerz Mai 2012, 200 Seiten, kart., zahlr. farb. Abb., 23,80 €, ISBN 978-3-89942-759-2
Carsten Ruhl (Hg.) Mythos Monument Urbane Strategien in Architektur und Kunst seit 1945 2011, 320 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1527-2
Leseproben, weitere Informationen und Bestellmöglichkeiten finden Sie unter www.transcript-verlag.de
Urban Studies Uwe Altrock, Grischa Bertram (Hg.) Wer entwickelt die Stadt? Geschichte und Gegenwart lokaler Governance. Akteure – Strategien – Strukturen März 2012, 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1752-8
Sabin Bieri Vom Häuserkampf zu neuen urbanen Lebensformen Städtische Bewegungen der 1980er Jahre aus einer raumtheoretischen Perspektive Juli 2012, ca. 402 Seiten, kart., ca. 33,80 €, ISBN 978-3-8376-1704-7
Christine Dissmann Die Gestaltung der Leere Zum Umgang mit einer neuen städtischen Wirklichkeit 2010, 248 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN 978-3-8376-1539-5
Monika Grubbauer Die vorgestellte Stadt Globale Büroarchitektur, Stadtmarketing und politischer Wandel in Wien 2011, 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1475-6
Hermann-Josef Krug Möglichkeitsräume gestalten Eine urbane Rekartografie des Sulzer-Areals in Winterthur, 1989-2009 Mai 2012, ca. 286 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., ca. 30,80 €, ISBN 978-3-8376-1997-3
Stefan Kurath Stadtlandschaften Entwerfen? Grenzen und Chancen der Planung im Spiegel der städtebaulichen Praxis 2011, 572 Seiten, kart., zahlr. Abb., 42,80 €, ISBN 978-3-8376-1823-5
Piotr Kuroczynski Die Medialisierung der Stadt Analoge und digitale Stadtführer zur Stadt Breslau nach 1945 2011, 328 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 32,80 €, ISBN 978-3-8376-1805-1
Guido Lauen Stadt und Kontrolle Der Diskurs um Sicherheit und Sauberkeit in den Innenstädten 2011, 618 Seiten, kart., 36,80 €, ISBN 978-3-8376-1865-5
Michael Müller Kultur der Stadt Essays für eine Politik der Architektur 2010, 240 Seiten, kart., zahlr. z.T. farb. Abb., 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1507-4
Nikolai Roskamm Dichte Eine transdisziplinäre Dekonstruktion. Diskurse zu Stadt und Raum 2011, 380 Seiten, kart., 34,80 €, ISBN 978-3-8376-1871-6
Eberhard Rothfuss Exklusion im Zentrum Die brasilianische Favela zwischen Stigmatisierung und Widerständigkeit Juni 2012, ca. 320 Seiten, kart., ca. 35,80 €, ISBN 978-3-8376-2016-0
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