Die Unordnung der Dinge: Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls [1. Aufl.] 9783839407219

Wer auf das 20. Jahrhundert zurückschaut, der sieht sich konfrontiert mit einer erstaunlichen Regelmäßigkeit von Unfälle

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German Pages 476 Year 2015

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Table of contents :
Inhalt
Der integrale Unfall
Einleitung
Ereignis
Schiffbruch mit Beobachter
Der Eisenbahnunfall von 1842 auf der Paris-Versailles-Linie
Robert Musil und die neuen Gesetze des Autounfalls
»A lot of things can be masked«
Der Untergang der Kursk und die Wissensgeschichte der seismischen Forensik
Auf den Start reduziert: Das Challenger-Unglück
Medium
Entgleisungen im deutschen Kaiserreich
Katastrophen und ihre Bilder
»M.G. Y. – What is the matter with you?«
»Immer Erklärungen. Sprechen. Das muss aufhören!«
Papier, Bleistift & Bildschirm
Unsichtbar wird der Fehler, wenn sich alle daran gewöhnt haben
Epistemologie
Die Aporie des Größten Anzunehmenden Unfalls
Accidental Experiments
Unfall-Wissen
Kafkas Poetik des Unfalls
Unfall oder Selbstmord?
Autorinnen und Autoren
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Die Unordnung der Dinge: Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls [1. Aufl.]
 9783839407219

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Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge

2009-05-04 13-39-01 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02eb209339417824|(S.

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2009-05-04 13-39-01 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02eb209339417824|(S.

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Christian Kassung (Hg.) Die Unordnung der Dinge. Eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls

2009-05-04 13-39-01 --- Projekt: transcript.titeleien / Dokument: FAX ID 02eb209339417824|(S.

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© 2009 transcript Verlag, Bielefeld Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Umschlagabbildung: Heinz Kassung, Koblenz 2008 Lektorat: Franziska Weber Korrektorat: Christiane Gaedicke Satz: Christian Kassung Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar ISBN 978-3-89942-721-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: http://www.transcript-verlag.de Bitte fordern Sie unser Gesamtverzeichnis und andere Broschüren an unter: [email protected]

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Inhalt

Paul Virilio Der integrale Unfall . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

7

Christian Kassung Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

9

Ereignis Burkhardt Wolf Schiffbruch mit Beobachter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

19

Esther Fischer-Homberger Der Eisenbahnunfall von 1842 auf der Paris-Versailles-Linie . . .

49

Matthias Bickenbach Robert Musil und die neuen Gesetze des Autounfalls . . . . . . .

89

Christoph Asendorf »A lot of things can be masked« . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 Christian Kassung Der Untergang der Kursk und die Wissensgeschichte der seismischen Forensik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 Harry Collins / Trevor J. Pinch Auf den Start reduziert: Das Challenger-Unglück . . . . . . . . . 153

Medium Peter Glasner Entgleisungen im deutschen Kaiserreich . . . . . . . . . . . . . . 185 Bernd Stiegler Katastrophen und ihre Bilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 221 Wolfgang Hagen »M. G. Y. – What is the matter with you?« . . . . . . . . . . . . . . 249 Albert Kümmel-Schnur »Immer Erklärungen. Sprechen. Das muss aufhören!« . . . . . . 271 Jörg Potthast Papier, Bleistift & Bildschirm . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 Wolfgang Coy Unsichtbar wird der Fehler, wenn sich alle daran gewöhnt haben 329

Epistemologie Olaf Briese Die Aporie des Größten Anzunehmenden Unfalls

. . . . . . . . 361

Nicolas Pethes Accidental Experiments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381 Ulrike Brunotte Unfall-Wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399 Benno Wagner Kafkas Poetik des Unfalls . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 421 Thomas Macho Unfall oder Selbstmord? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 455

Autorinnen und Autoren

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469

Der integrale Unfall

Paul Virilio »Es ist unmöglich, einen Augenblick anzuhalten.« (Jacques Perrier)

So unerwartet wie überraschend ist der UN-FALL neuerdings zu einem dynamischen, oder – den Aussagen der vom jüngsten BörsenKRACH geplagten ›Bankindustrie‹ zufolge – sogar systemischen Phänomen geworden. Der Unfall ist heute folglich nicht mehr, wie in der Vergangenheit, etwas Unerwartetes und Außergewöhnliches, sondern etwas Erwartetes und Gefürchtetes, welches dazu tendiert, sich ständig und in zunehmend schnellerem Rhythmus zu wiederholen. Diese folgenreiche, quasi industrielle SERIALISIERUNG des Unfalls führt zwangsläufig zu einer Infragestellung des Begriffs des ZU-FÄLLIGEN oder Katastrophischen. In der Tat wird der Unfall, sobald er systemisch wird, einem Programm oder gar Kalkül ähnlich. Vom rein ORIGINALEN wandelt sich der Unfall damit zum INTEGRALEN und die aktuelle Katastrophe von einer lokalen zu einer globalen, unermesslichen. Mit Blick auf den Börsenkrach an der Wall Street schreibt der Ehrenpräsident des Japan-Forschungsinstituts, Jitsuro Terashima: »Die wahre Globalisierung wird beginnen können«.1 Das Ausmaß des finanziellen Unfalls enthüllt mit einem Mal die Endlichkeit einer systemischen Globalisierung, in deren Folge der kritische Raum der alten nationalen Geopolitik und ihrer Grenzen von dem kritischen Augenblick einer Art METEOPOLITIK der nicht nur ›natürlichen‹ und atmosphärischen, sondern auch ›künstlichen‹ und dromosphärischen Risiken abgelöst wird. Gleichzeitig mündet die Bankindustrie des BIG BANG eines in Echtzeit vernetzten Marktes in den BIG CRUNCH nicht nur des Bankkredits, sondern zuallererst des notwendigen Vertrauens in den internationalen Handel. Für unseren japanischen Experten ist der Börsen-KRACH der Wall Street mithin eine Chance, denn er macht wie ein CRASHTEST sicht1 | Courrier International, 16. Oktober 2008.

8 | Paul Virilio

bar, dass die ›Welt-Wirtschaft‹ verzögerungsfrei geworden ist und dass auf die politische Ökonomie des Reichtums der Nationalstaaten eine transpolitische Ökonomie der Geschwindigkeit folgt, welche die Ausweitung des gemeinsamen Binnenmarktes vollendet. Die VERWERFUNG der Welt-Wirtschaft erscheint als die allerletzte Umgebung des FORTSCHRITTS, aber eines rein instrumentellen, technischen Fortschritts, der die Partikularismen der Geschichte missachtet, während das KONTINUUM des ökonomischen Desasters von nun an neben die ökologische Ausbeutung der natürlichen Ressourcen unserer Biosphäre tritt. Vor diesem Hintergrund versteht man die Dringlichkeit der Eröffnung wenn nicht eines ›Unfallmuseums‹, so doch zumindest eines ›Katastrophen-Konservatoriums‹ oder sogar einer wahren UNIVERSITÄT DES DESASTERS in Berlin oder andernorts wesentlich besser. Das vorliegende Buch, das einzuleiten ich die Ehre habe, ist der Embryo einer solchen Universität und dies im Herzen eines glücklicherweise trotz der Unbill der Zeit und der Geschichte vereinten Europas.

Übersetzung von Jasmin Mersmann

Einleitung

Christian Kassung

Unfälle sind immer schon geschehen. Etwas ist aus der Reihe gesprungen, hat seinen scheinbar festgefügten Weg verlassen, ist von der Bahn abgekommen. An den unweigerlich vorhandenen Resten, der Zerstörung, dem Schrott oder dem Flammenmeer erkennt man den Unfall ex post. Davor steht die Kontingenz, Unsichtbarkeit und Augenblicklichkeit eines Ereignisses, dessen Anfänge sich niemals vollständig entwirrbar in der Vergangenheit verlieren. Die epistemologische Nachträglichkeit des Unfalls bildet den gedanklichen Ausgangspunkt für den vorliegenden Band, in dem die kulturellen und medialen Effekte und Wirkungen dieses unhintergehbaren Verzugs untersucht werden sollen. Dabei ist eine Wissens- und Mediengeschichte des Unfalls insofern anti-humanistisch, als sie in der Katastrophe nicht ein zwangsläufig monströses oder amoralisches Ereignis, sondern vielmehr eine notwendige Bedingung der Möglichkeit von Technik und damit von gesellschaftlicher Ordnung erkennt. So paradox es klingt: Unfälle stabilisieren Ordnung, Katastrophen fundieren Gesellschaft und Kultur. Kultur basiert genauso auf Ordnungen wie auf der »Unordnung der Dinge«. Insofern ist die Frage, was zuerst da ist, die Unordnung eines Unfalls oder die (Wieder-)Herstellung von Ordnung, ebenso wenig beantwortbar wie sinnvoll. Sie steht für ein Bedürfnis nach Logik und Kausalität, wo prinzipiell mit einer rhizomatischen Struktur gerechnet werden muss. Der Unfall macht als Ereignis etwas sichtbar, was sich dem Auge des Betrachters in einem doppelten Sinne immer schon entzogen hat: die Überdeterminiertheit jeder unfall- und damit schockartigen Diskontinuität einerseits und deren kulturelle Verarbeitungspraxis der Serialisierung, Kontinuierung oder kausalen Eingliederung andererseits. Dass sich damit die Bedeutung eines Unfalls erst nachträglich konstituiert, er aus der Zukunft als etwas stets nur hoch defizitär Erfassbares zurückkehrt, verbindet das Wissen und die Medien auf eine sehr sublime Art und Weise. Die Medien versagen an der Augenblicklichkeit

10 | Christian Kassung

des Ereignisses, ermöglichen aber zugleich erst dessen Rekonstruktion. Und das Wissen um die Unfallursachen wird mit der Katastrophe zerstört, es verwandelt sich in schwer entzifferbare Spuren, um dann mühsam und im Nachhinein in eine Kausalkette (wieder-)eingegliedert zu werden. Anders formuliert: Eine Wissensgeschichte des Unfalls ist nur als Mediengeschichte schreibbar, wie umgekehrt seine Mediengeschichte nur als Wissensgeschichte begreifbar ist. Nur in dieser Engführung lässt sich die Katastrophe als eines der zentralen Leitparadigmen des 20. Jahrhunderts angemessen untersuchen. Im ersten Teil des Bandes, der mit »Ereignis« überschrieben ist, geht es um die wissensgeschichtliche Dimension von Verkehrsunfällen. So tragisch, ja verheerend diese Katastrophen auch gewesen sind, haben sie die technische und kulturelle Ordnung besonders im 20. Jahrhundert entgegen allem Anschein stabilisiert. Als eine sehr bestimmte Form von Störung produziert der Unfall ein enormes Wissen, das dann im Nachhinein technisch reimplementiert wird. So lässt ein Eisberg zwar die Titanic sinken, nicht aber die Idee eines unsinkbaren Schiffes. Als sich Bernd Rosemeyer mit seinem Auto Union Typ R bei 440 km/h auf der Autobahn Frankfurt–Darmstadt mehrmals überschlägt, stirbt zwar einer der bekanntesten deutschen Rennfahrer, nicht aber der Rennsport oder die Jagd nach automobiler Höchstgeschwindigkeit. Und auch wenn Tschernobyl aller Ausstiegspolitik die besten Argumente lieferte – und damit als erhebliche Störung den Keim für eine neue Ordnung bildete –, die ingenieurstechnische Fiktion einer sauberen Energieform bestimmt nach wie vor alle Atomkraftforschung. Das Ereignis des Verkehrsunfalls ist womöglich der wichtigste Motor der Technikgeschichte. An den Anfang seines »Schiffbruchs mit Beobachter« stellt Burkhardt Wolf den elementaren Widerspruch, sich einer Gefahr freiwillig auszusetzen, um sich des eigenen Daseins zu versichern. In diesem Spannungsraum ist eine Vielzahl von Kulturtechniken entstanden, vor deren Hintergrund sich die abendländische Schifffahrt einschließlich ihrer Unfälle verstehen lässt. Und andererseits ist es die Beobachtung, durch die der Unfall allererst zu einem kommunizierbaren Ereignis wird. Beides, die Kulturtechniken und die Diskurse werden in diesem Text enggeführt und zwar v. a. für den Bereich der justiziablen Statistik bzw. Risikokalkulation, der Nautik sowie schließlich der forensischen Unterwasserarchäologie. Deutlich wird dabei die enorme, oftmals jedoch nur ex post wirksame Produktivität von Unfällen an der Schnittstelle von implizitem und explizitem Wissen. Esther Fischer-Homberger stellt in ihrer Untersuchung der heute weitestgehend vergessenen Katastrophe von Meudon die tradierte

Einleitung | 11

Technikgeschichte der Eisenbahn gegen eine archäologische Mikrogeschichte des Eisenbahnunfalls, so wie sie sich aus dem Archiv der (schweizerischen) Tageszeitungen heraus rekonstruieren lässt. Die zentrale These, dass Unfalltrauma und die Imagination eines bruchlosen technischen Fortschritts einander geradezu bedingen, kann dabei v. a. durch die Analyse der Psyche und Trauma zugrundeliegenden Erzählstrategien belegt werden. Der Paradigmenwechsel, mit dem seit der Mitte des 19. Jahrhunderts Bilder der Gewalt ins zivile Leben einbrechen, die zuvor als singulär, militärisch oder archaisch exterritorialisiert wurden, macht die Nähe von Unfall und Krieg deutlich. Zugleich rücken Trauma und Eisenbahn deshalb in eine bezeichnende epistemologische Engstellung, weil die Eisenbahn als Inbegriff technisch reibungsloser Abläufe jede Form von Störung kategorisch auszuschließen scheint. Der Beitrag von Matthias Bickenbach umkreist das Problem, inwiefern der Autounfall eine neue Ordnung des Verkehrs generiert. Dabei wird neben den zeitgenössischen Debatten auch die literarische Moderne und vor allem »Der Mann ohne Eigenschaften« Robert Musils analysiert. Dies ermöglicht eine Vergleichbarkeit der kulturhistorischen Ordnung des modernen Verkehrs mit der Ordnung der poetologischen Dinge um 1900. Ausgehend von den Sinnestäuschungen in der Fliegerei, den technischen Anforderungen bei großen Flughöhen und dem Schleudersitz als Rettungsgerät, schlägt der Beitrag von Christoph Asendorf einen historischen Bogen von der Frage der Unfallprävention zum Problem der Unfallrekonstruktion. Die scheinbar so simple Frage, was man aus Unfällen lernen kann und welche technologischen Folgen aus diesem Wissen resultieren, wird am Beispiel der Comet exemplarisch durchgespielt. Aufwändige Simulationen der unfallträchtigen Fahrgastzelle dieses ersten Passagierflugzeugs des anbrechenden Jet-Age führten zu einer massiven Explizierung und Stabilisierung des ingenieurstechnischen Wissens. War Materialermüdung zuvor lediglich eine Metapher gewesen, wird sie nun konkret untersuch- und messbar und bleibt trotzdem Teil eines Systems, das sich in seiner prinzipiellen Komplexität niemals auf letzte Ursachen hin reduzieren lässt. Kaum ein Unfall produziert so wenig Spuren wie der Untergang eines U-Bootes. Von dieser Feststellung ausgehend, widmet sich die Untersuchung des Kursk-Unglücks von Christian Kassung auch nicht den nachträglich geborgenen, materiellen Resten des Schiffskörpers, sondern arbeitet vielmehr die seismographischen Spuren auf, die in Nordnorwegen wie anderswo aufgezeichnet wurden. Mit diesem Medienwechsel ergibt sich eine kulturhistorisch bis ins 19. Jahrhundert

12 | Christian Kassung

zurückreichende Parallele zu den Ausschlägen der Horizontalpendel an den astronomischen Beobachtungsstationen in Potsdam und Wilhelmshaven, die Ernst von Rebeur-Paschwitz im April 1889 registrierte und dann nachträglich einem vermeintlichen Erdbeben in Tokyo zuordnete. Um eine einzige Gummidichtung geht es in dem Beitrag von Harry Collins und Trevor J. Pinch zur Challenger-Katastrophe. Minutiös rekonstruieren die Autoren die höchst divergente Interpretation dieses technischen Details von der Konstruktion des Space-Shuttles bis hin zur konfliktreichen Telefonkonferenz wenige Stunden vor dem Start und zum berühmten Demonstrationsexperiment des Physikers Richard Feynman als Mitglied der Untersuchungskommission. So eindeutig falsch sich auch die Entscheidung zum Start der Raumfähre im Nachhinein erwiesen hat, so stark würde es die Komplexität der historischen Situation verfälschen, wenn man sie vor dem Hintergrund dieses nachträglichen Wissens bewerten würde. Im zweiten Teil »Medium« wird das augenblickshafte Ereignis Unfall in den Kontext seiner medialen (Re-)Präsentation gestellt. Die kurze Zeit des Unfalls sprengt notwendig die Grenzen seiner eigenen Diskursivierbarkeit. Er ist immer schon geschehen, bevor ihn Sprache, Bilder, Filme oder gar Zahlen einholen können. So wiederholt sich die Katastrophe des Realen in der Katastrophe des Symbolischen, wenn sich die Columbia in einen gigantischen high-tech-Feuerwerkskörper verwandelt oder die einstürzenden Türme des World Trade Centers als größtmögliche Inszenierung der Stadt New York interpretiert werden. Die Geschichte des Unfalls ist immer zugleich eine Geschichte der Medien, die sich an der Katastrophe versuchen bzw. an ihr scheitern. Dies wird exemplarisch am Beispiel der wichtigsten Medien des 20. Jahrhunderts gezeigt. Im Zentrum des Beitrages von Peter Glasner steht das Motiv der Entgleisung, das im Brennpunkt von statistischem, journalistischem und literarischem Unfalldiskurs untersucht wird. Schon der PhaetonMythos und die Etymologie von Gleis und Entgleisung weisen darauf hin, dass der Eisenbahnunfall sowohl technischen Kontrollverlust wie soziale Normabweichung bedeutet. Im »Eisenbahnunglück« von Thomas Mann wird dieses Spannungsfeld auf den nervös um sein Einzelschicksal besorgten Künstler hin verdichtet, der es nach eigener Unfallverwicklung als statistisch unwahrscheinlich abtut, nochmals aus dem Gleis zu geraten. Der Beitrag von Bernd Stiegler zu den »Katastrophen und ihren Bildern« stellt den Unfall nicht als Motiv, sondern als Bedingung der Möglichkeit der Photographie selbst in den Mittelpunkt. Dabei wird

Einleitung | 13

der epistemische Unfall der Photographie, die scheinbare mediale Rettung des Vergangenen in der Gegenwart als Vergangenes, vor allem für die 1920er und 1930er Jahre diskutiert. Die Unfallreportage ist auf der Gegenstandsebene durch Geschwindigkeit und Bewegung gekennzeichnet, wie sie zugleich auf die veränderten Rezeptionsbedingungen einer massiv beschleunigten Moderne reagiert. Der Unfall verliert in der Pressephotographie – im Gegensatz zur Solarisation und zum Photogramm – seine Zufälligkeit, indem er in eine Ordnung der Bilder eingegliedert wird. Kein Ereignis war für die strukturelle Entwicklung des US-amerikanischen Radios prägender als der Untergang der Titanic. Den Zusammenhang zwischen Telegraphie und Radio arbeitet Wolfgang Hagen anhand der unterschiedlichen Ebenen und Schichten der medialen Projektionen heraus, die mit der Titanic-Katastrophe verbunden sind. Auch in der Medienarchäologie dieses hoch mythischen Schiffsuntergangs wird die prekäre Zeitlichkeit von Unfallrepräsentationen sichtbar. Einerseits bewahrheiten sich die telegraphischen Warnungen auf der Titanic erst, nachdem sich die Kollision mit dem Eisberg ereignet hat. Andererseits gewinnt die Presse aufgrund ihrer Verschaltung mit der Radiotelegraphie eine überaus prekäre und für Falschmeldungen besonders empfindliche Gegenwärtigkeit, wie sie im Zeitalter der elektronischen Medien durchgehend eingelöst sein wird. Albert Kümmel-Schnur beschäftigt sich in seinem Beitrag über Claude Sautets »Les choses de la vie« mit dem Problem der Narrativität des Unfalls im Medium des Films. Die diskursive Unauflösbarkeit des Unfalls wird von Sautet als Kontrast von Form und Inhalt gestaltet: Der maximalen kompositorischen Strenge des Avantgardefilms steht die Katastrophe als pure Kontingenz entgegen. Gleichzeitig aber bewegt sich der Unfall innerhalb der Logik der Erzählung, ohne jedoch eine neue Ordnung sichtbar werden zu lassen. Sautets Film wird so als der Versuch deutbar, den Unfall innerhalb einer Bildlogik zu verorten und kausal greifbar werden zu lassen. In seinem Text zum Kontrollstreifen der Flugsicherung greift Jörg Potthast die These der prinzipiellen Nachträglichkeit von Unfallrepräsentationen auf, um sie für die organisationsethnographische Frage nach der Antizipation von Unfällen fruchtbar zu machen, die niemals geschehen sein werden: Tolerierte Regelverletzungen stabilisieren eine Praxis, die einerseits durch eine ungeheure Ausfallsicherheit, andererseits durch die merkwürdige Koexistenz der drei Medien Radarschirm, Papier und Bleistift gekennzeichnet ist. Beginnend mit den beiden Zentralfiguren der modernen Rechenmaschinen Alan M. Turing und Konrad Zuse, leitet der Beitrag von

14 | Christian Kassung

Wolfgang Coy den Rechenfehler im Computer aus der Geschichte der Gleitkommazahlen und den damit verbundenen Löchern auf dem Zahlenstrahl ab. Runden, aber auch Addieren und Subtrahieren können damit zu arithmetischen Werten führen, die im Computer schlichtweg nicht darstellbar sind. Das Spektrum der Unfallfolgen reicht vom falsch berechneten Börsenindex bis hin zum Absturz einer Trägerrakete für Satelliten. Der dritte, »Epistemologie« überschriebene Teil widmet sich jenen kulturellen Bereichen, in denen die Nachträglichkeit des Unfalls v. a. mit den Mitteln der Statistik und Strategien des Wahrscheinlichen für die Zukunft verfügbar gemacht werden soll. Hier tritt das Gesetz der großen Zahlen an die Stelle der Wissensproduktion im singulären Ereignis. Indem die individuelle Katastrophe verrechnet wird, produziert sie Zukunft. Insofern stellt der immer schon geschehene Unfall paradoxerweise eine kulturelle Technik der Erzeugung von Zukunft dar. Die Epistemologie des Unfalls lässt sich bestimmen als die spezifische Logik eines kurzzeitigen Ereignisses, in welchem das Wissen einer vergangenen Katastrophe erst in dessen eigener Zukunft ablesbar gewesen sein wird. Am Beispiel des Größten Anzunehmenden Unfalls diskutiert der Beitrag von Olaf Briese die grundsätzliche Problematik einer Wiederkehr des Unfalls aus seiner eigenen Zukunft. Jede Katastrophe, jeder GAU ist durch eine unhintergehbare kommunikative Aporie gekennzeichnet: Die Nachricht vom GAU hat keinen Empfänger, weil es die Welt (dann) nicht mehr gibt. Drei unterschiedliche Medien werden dabei exemplarisch diskutiert: die Prophetie, die Prognose und die Poesie. Sie alle sind schriftbasiert bzw. erlauben nur als und in Schrift die Darstellung und Begründung dessen, was außerhalb ihrer eigenen Zeitlichkeit existiert. Anhand von drei erschütternden medizinischen Fallbeispielen beleuchtet der Beitrag von Nicolas Pethes den Zusammenhang von Unfall und Zufall: Eine kontingente Abweichung vom Regelhaften wird als wissenschaftlicher Einzelfall instrumentalisiert mit dem Anspruch, daraus ein generelles Wissen ableiten zu können. Damit erlauben bestimmte Unfallereignisse als Experimente ex post jene Beobachtungen, die für die Entwicklung der Wissenschaften vom Menschen im 19. und 20. Jahrhundert notwendig waren. Ulrike Brunotte widmet sich der Science-Fiction in ihren vielfältigen Ausprägungen am Beispiel der Nord- und Südpolexpeditionen. Dabei wird der Unfall zum einen als Scheitern fiktiv inszeniert und die Technik der Eroberer der puren Naturgewalt beispielsweise des Maelstroms bei Edgar Allan Poe entgegengesetzt. Zum anderen aber ent-

Einleitung | 15

faltet der Unfall der gescheiterten Expeditionen Ernst Shakletons eine spezifische Wissensproduktivität, indem der Verzicht auf die eigenen Ziele zum schließlichen Überleben führt. Ein Initialunfall – das Festfrieren des Expeditionsschiffes im Packeis – wird in soziales Gruppenwissen transformiert, das weitere Unfälle verhindert. Fast exakt 100 Jahre später führt genau diese active agency zur Wiederentdeckung Shackletons. Der spezifischen Produktivität des Unfalls an den Schnittpunkten von juristischem, statistisch-versicherungstechnischem und literarischem Diskurs geht der Beitrag von Benno Wagner am Beispiel von Franz Kafka nach. Vor dem Hintergrund des Ersten Weltkrieges erzwingt die Nichterzählbarkeit des Unfalls eine Epistemologie und Poetologie, die nicht dem Antagonismus zwischen dem Realen faktischer Ereignisse und dem Fiktiven möglicher Ereignisse erliegt. Der Unfall ist für Kafkas Schreiben konstitutiv, insofern seine Poetik des Unfalls die Spannung und den Austausch zwischen dem individuellen (physiologischen) und dem sozialen (statistischen) Körper immer auch auf die konkrete historisch-politische Ereignisordnung unmittelbar vor dem Ersten Weltkrieg bezieht. Im Schlussbeitrag wirft Thomas Macho das Problem auf, dass die Absicht, deren Abwesenheit ein Geschehen zu einem Unfall statt zu einem Selbstmord werden lässt, zumeist kaum rekonstruiert und folglich auch nicht trennscharf zwischen beidem unterschieden werden kann. Am Beispiel der Inconnue de la Seine wird die kulturelle Produktivität dieses Zwischenraums von Unfall und Selbstmord ausgeleuchtet: von der literarischen Faszination für die schöne Leiche über deren Wiederkehr als Unfallhilfen standardisierende Rettungspuppe bis hin zum Autounfalltod von Albert Camus. Dieser Band hat eine lange Vorgeschichte und ist deshalb auch sehr vielen Personen zu Dank verpflichtet, die in der Sophienstraße gelehrt und geforscht haben. Besonders müssen Franziska Weber und Christiane Gaedicke für Lektorat und Korrektorat sowie Jasmin Mersmann und Marius Hug für die beiden Übersetzungen genannt werden. Um die Lesbarkeit zu optimieren, wurden die Zitate grammatikalisch stillschweigend angeglichen. Es ist ein zweiter Band projektiert, der sich mit der Geschichte der Unfallmythen beschäftigen wird.

Ereignis

Schiffbruch mit Beobachter. Zur Geschichte des nautischen Gefahrenwissens Burkhardt Wolf

»Der Bürger« scheut die Gefahr. Zwar vermeint er, sein Dasein mit allerlei Sicherheitssystemen gegen »jene große Mutter« gefeit zu haben; doch wird sie »nach den Gesetzen einer geheimen, aber unbestechlichen Mathematik in dem gleichen Maße drohender und tödlicher, in dem die Ordnung sie aus sich auszuscheiden verstand.«1 Was Ernst Jünger 1931 der ›bürgerlichen‹ Sekuritätskultur entgegensetzte, war eine »Gestalt« des Daseins, die »eine neue Vermählung des Lebens mit der Gefahr« anbahnen und dabei die Maschine »als stärkste Dienerin des Bewußtseins« gebrauchen sollte, um zuletzt wieder eine Art Elementarerfahrung zu ermöglichen.2 Bezeichnenderweise umfasst seine protofaschistische Typologie nicht nur den »Arbeiter« und »Krieger«, sondern ebenso den Seefahrer – stellt sich doch der exemplarische »Kampf des Menschen mit dem Elemente des Meeres in der zeitlichen Form des Unterganges einer höchst komplizierten Maschinenanlage dar.«3 Systematisch sammelte Jünger Untergangsszenarien wie Alexandre Corréards und Jean-Baptiste Henri Savignys Bericht vom Naufrage de la Méduse. Schiffbrüche studierte er als »Weltuntergänge im kleinen«.4 An ihnen ließ sich nämlich seine Gestalten- und Gefahrenlehre in aller Evidenz ausbuchstabieren und jene Epochendiagnose stellen, zu deren »Stichtag« er den Untergang der Titanic erklärte: »Hier stoßen Licht und Schatten grell zusammen: die Hybris des Fortschritts mit der Panik, der höchste Komfort mit der Zerstörung, der Automatismus mit der Katastrophe, die als Verkehrsunfall erscheint.«5 Ein maritimer Unfall mag eine Vielzahl verwickelter Ursachen haben. Als Katastrophe jedoch setzt er die Betroffenen allemal einer Elementarerfahrung 1 2 3 4 5

| | | | |

Jünger 1931: 11 und ders. 1932/1982: 51. Ebd.: 59 und ders. 1931: 15. Ebd.: 16. Ders. 1949: 339. Ders. 1980: 45.

20 | Burkhardt Wolf

aus, an der sich die Gestalten scheiden – diejenigen »minderer Freiheit« von denjenigen, »die noch dem Urgrund verhaftet sind.«6 Der Schiffbruch wird bei Jünger mithin zu einer Daseinsmetapher, zu einem bildhaften Testfall. Durch ihn zeigt sich die elementare Tiefe einer Existenzform in ihrer Freiheit zur Gefahr. Jüngers spätere Tagebuchnotiz, »früher wollten viele Matrosen nicht schwimmen lernen« und hätten schon »ihre Gründe dafür gehabt«, hat Hans Blumenberg wegen ihres grundlosen Tiefsinns kritisiert: Dass es keinen Sinn mache, sich gegen die Gefahr des Schiffbruchs durch eine Körpertechnik wie das Schwimmen absichern zu wollen, sei, seitdem »Funkwesen« und »Seenotsignale« rasche Rettungsaktionen anlaufen lassen, selbst zu einer sinnlosen Maxime geworden.7 Es ist mithin gerade jene von Jünger beschworene maschinelle und mediale Aufrüstung des Seeverkehrs, die seine vermeintlich absolute Metapher, »die Entschlossenheit des Nichtschwimmers für den Fall des Schiffbruchs«, hat obsolet werden lassen.8 Und tatsächlich war es historisch besehen spätestens der Untergang der Titanic, der das Schwimmen auch unter den einfachen Matrosen durchgesetzt hat: Nicht nur, dass mit jeder den Tiefen abgetrotzten Minute die Chance auf Rettung signifikant steigt. Wie die medicina nautica seither versichert, verhindere das Schwimmen den frühzeitigen Tod durch Unterkühlung und bewahre überdies »die ethischen und moralischen Grundsätze eines Menschen unter erschwerten Lebensbedingungen«.9

Metaphern, Zuschauer und Beobachter Wahrscheinlich verdankt die nautische Bildlichkeit ihre ›daseinsanalytische‹ Reichweite dem Umstand, dass in der Seefahrt ein innerer Widerspruch menschlicher Kultur paradigmatisch ausgetragen wird: der Widerspruch nämlich, sich freiwillig elementaren Gefahren auszusetzen, um sich dadurch des eigenen Daseins zu versichern. Mit der Bewältigung dieser Gefahren entstehen präventive und kompensatorische Kulturtechniken, die im Falle der abendländischen Seefahrt von religiösen Kulten über Schreibverfahren bis hin zu Praktiken der Menschenführung reichen. Ging bei antiken Hochseereisen, wie man heute schätzt, jedes vierte Schiff verloren, so kann es nicht verwundern, dass die Seefahrt als Hybris und Überschreitung eines landfesten no6 7 8 9

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Ebd.: 46. Blumenberg 2007: 131. Ebd.: 132. Matschke 1975: 100; vgl. Vergé-Franceschi 1999: 428.

Schiffbruch mit Beobachter | 21

mos gedeutet wurde. Sich mit den Elementargewalten ins Benehmen setzen, hieß zum einen, ihrer als göttliche oder dämonische Mächte gewahr zu werden und ihnen in Form von Opfern eine Art Wegegeld zu entrichten; zum anderen hieß es, der Natur Hinweise zur rechten Navigation zu entnehmen, sei es durch mantische Deutung des Vogelflugs und intuitive Anpassung an Strömungsverhältnisse, sei es durch astronomische Beobachtungen oder Lotung und Bodenproben. Die Lektüre von Zeichen der Bedrohung und solchen der glücklichen Fahrt sowie beider Nutzung zur Schiffssteuerung, diese téchn¯e namens kybernésis galt als letzte Versicherung gegen die Gefahr. Zugleich aber markiert sie die Geburtsstunde jener abendländischen Kultur der Verschlagenheit, die sich bewusst über den sicheren nomos des heimischen Grundes hinauswagt, um dieses Wagnis mit Hilfe neuer Kulturtechniken zu überstehen und zuletzt belohnt zu sehen. Abbildung 1: Luftbild eines italienischen Dampfers im Augenblicke des Untergangs.

Homers Odyssee ist nicht nur insofern die wichtigste vorklassische Quelle dieser abendländischen Verschlagenheit zur See, als hier die nautischen Ritualhandlungen, Mythologien und Kosmologien, aber auch der Schiffbau und -antrieb, die Technik der astronomischen Navigation sowie die prototypischen Ursachen, Verläufe und Pathosformeln des Schiffbruchs dokumentiert werden. Schon als Text zeugt die Odyssee von einer Kulturtechnik, die das Wagnis oder Abenteuer ermöglichen und zugleich absichern sollte. Denn Homers Epos ist die

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poetische und zudem erstmals ausbuchstabierte Fassung eines Periplus, einer umfänglichen Instruktion zur ›Rundfahrt‹ um das Mittelmeer. Zunächst wohl aus verstreuten Seefahrerberichten zusammengesetzt und mnemotechnisch überliefert, wurde der Periplus im Zuge der Entwicklung des griechischen Alphabets für die zusehends lesekundigen Seeleute zum Handbuch einer sicheren Seereise. Der nostos des nautischen Pioniers Odysseus liefert den ebenso poetischen wie exemplarischen Beweis dafür, dass Hochseefahrern trotz aller maritimen Gefahren, ja selbst bei Schiffbruch eine Heimkehr möglich sei. Doch gerade weil er wie bei Homer den Grundwiderspruch einer Kultur offenbarte, die die Elementargewalten nur zum Zweck einer Rückkehr in sich selbst herausfordert und dabei auch noch die Einheit und den Bestand der politischen Heimat aufs Spiel setzt, sollte der Schiffbruch zur abendländischen Leitmetapher politischer Gefährdung werden. Schiffbruchberichte leisten allemal die metaphorische Bewältigung einer politischen und existenziellen, begrifflichen und theoretischen Grundlosigkeit. Wohl nur aus diesem Grund umfassen, was das Thema des Schiffbruchs angeht, die gedruckten Quellen der Neuzeit noch ganz überwiegend literarische und narrative Texte – dreiviertel aller Publikationen, wie eine quantitative Analyse französischer Bibliotheksbestände zwischen 1600 und 1969 ergab.10 Der Schiffbruch war jedoch immer auch eine Herausforderung für symbolische Praktiken, die abseits von Metaphernsystemen und Bibliotheksphantasmen operieren. Er ist der Probierstein nicht nur einer »Theorie der Unbegrifflichkeit«, sondern vielmehr eines kulturtechnisch produzierten Wissens, das ihn auch ohne szenische Vergegenwärtigung erfasst. Ein »Schiffbruch mit Zuschauer«, so wie ihn Blumenberg als »Figur einer philosophischen Ausgangserfahrung« versteht und Jünger als literarisch fixierten »gefährlichen Augenblick« betrachtet, war seit der Antike ein häufiger und noch bis ins 19. Jahrhundert kein seltener Fall von Havarie.11 Dass man von der Küste aus häufig Strandungen beobachten konnte und sich dabei – aus religiösen, rechtlichen oder technischen Gründen – zu keinerlei Rettungsmaßnahme berechtigt, verpflichtet oder imstande sah, macht den szenischen und katastrophischen Charakter dieses Ereignisses aus. Der ›Schiffbruch ohne Zuschauer‹ indes, der sich auf hoher See vollzieht und höchstens die Berichte überlebender Beteiligter hinterlässt, wird bis zum 19. Jahrhundert häufiger zur Kenntnis genommen. Und dasselbe gilt für den ›Schiffbruch ohne Zeugen und Zeugnisse‹, den Schiffbruch im strengsten Sinne. 10 | Vgl. Zysberg 1999: 191. 11 | Blumenberg 1979: 15; Jünger 1931: 16.

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Dass Schiffbrüche »Weltuntergänge im kleinen« seien, bezeichnete Blumenberg als »eine der jüngerspezifischen Übertreibungen«, schließlich habe der Weltuntergang im Gegensatz zum Schiffbruch ja »keinen Zuschauer, keinen Zeugen, kein literarisches Sammelstück mehr.«12 Selbst wenn Schiffbrüche jenseits des Eräugnisses, ohne Zeugen und literarisch folgenlos vonstatten gehen, so hinterlassen sie seit der Neuzeit doch fast immer Informationen, die administrative und technische Daten oder auch nur das bloße Datum einer Verschollenheit umfassen. Aufgrund dieser Informationen werden sie als Unfälle aufgefasst, deren Ursachen nachträglich als technische, menschliche oder natürliche zu identifizieren sind, deren Normalität oder Singularität sich nur vor dem Hintergrund statistischer Aufstellungen zu erkennen gibt, und deren Folgen allein in gesellschaftlicher Kommunikation absehbar werden. Aber erst wenn die »Stabilitätsform« sozialer Funktionssysteme ausgewechselt werden muss, sind Schiffbrüche Katastrophen im strikten Sinne.13 Und stets sind es Beobachter, die sie aus einer begrenzten Perspektive registrieren, betrachten und analysieren – sei es die Perspektive der unmittelbaren Interaktion (als Schiffbrüchiger), sei es die der persönlichen Wahrnehmung (als Zuschauer) oder aber – wie zumeist – die der medialen oder instrumentellen Vermittlung. Ohne Beobachter hat ein Schiffbruch effektiv nicht stattgefunden. Der Schiffbruch mit Beobachter aber ist kein metaphorologisches, ästhetisches oder philosophisches Paradigma, sondern ein solches der »Verteilung von Wissen und Nicht-Wissen.«14

Die kalkulierte Gefahr Vorsorge steht in der abendländischen Seefahrt unter dem Vorzeichen des Nichtwissens. Was nicht gewusst und dennoch als Gefahr gefürchtet wird, dem soll durch symbolische Praktiken beigekommen werden – und seien dies zunächst nur Metaphern oder Rituale. Vielleicht kann man bereits bei den frühgriechischen Sakralhandlungen zur See von einer Art kultischen Seeversicherung sprechen, zumal hier die gemeinschaftliche Vorsorge einem drohenden Ereignis galt und kollektive Nachsorge betrieben wurde, um den zur See Verschollenen doch noch ein ordnungsgemäßes Grab zu gewähren. In Rom, wo sich mit den collegia teniuorum bereits regelrechte Begräbnisversicherungen konstituierten, war die rechte gubernatio nicht minder als ihre Gefährdung eine kultische und zugleich administrative Angele12 | Blumenberg 2007: 142. 13 | Luhmann 1998: 616. 14 | Ebd.: 71.

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genheit. Deswegen erlangte einerseits die Göttin des Zufalls – als fortuna gubernatrix – kultische Verehrung. Andererseits bemühte man sich um eine nüchterne Abschätzung der Seegefahren. Bei den imperialen Getreidetransporten kalkulierte man etwa eine Verlustrate von 20 % ein. Zudem legten schon die maritimen Sakralhandlungen eine Schuldvorstellung nahe, welche, je konkreter auf Navigationsfehler und disziplinarische Vergehen bezogen, desto mehr zum Gegenstand von Rechtsverfahren wurde. Maßgebliche Entscheidungskompetenzen besaßen hierbei die athenischen Seegerichtshöfe, überregionale Normen ermöglichte die hellenistische lex rhodia de iactu, und eine effiziente Bearbeitung handelsrechtlicher Streitfragen besorgten nicht zuletzt die römischen Behörden. Ihnen, wie bereits den Athener Richtern, wurden zur Zeit der alljährlichen Hafenschließungen besonders jene Streitfälle vorgelegt, die mit einem maritimen Schadensfall und der Rückzahlung eines Seedarlehens verknüpft waren. Dieses sogenannte foenus nauticum hatte sich unter Kaufleuten, Reedern und Seefahrern als eine spezifische Praxis des Kredits entwickelt, bei der dem Gläubiger ein fester Zins und eine nicht näher bestimmte, in der Regel aber ungewöhnlich hohe, etwa 30 %ige Gefahrenzulage zustand. Ging das Schiff und mit ihm die ganze Unternehmung zugrunde, erlosch auch der Anspruch des Kapitalgebers auf Rückzahlung. Zum Streitfall wurde vor Gericht hauptsächlich die Erfüllung der Obliegenheiten und dabei die Frage, ob der angebliche Schiffbruch ohne schuldhafte Mitwirkung oder arglistige Täuschung bei Vertragsabschluss, ja ob er überhaupt stattgefunden hatte – und gerade hier kam das klassische Genre des Schiffbruchberichts mit seinen rhetorischen Topoi und seinen narrativen circumstantiae zum Tragen, die die bloße Wahrscheinlichkeit des Untergangs zur justiziablen Wahrheit machen sollten. Mit dem Seedarlehen wurde bereits eine bestimmte Form der Objektivierung und Übertragung von Gefahren vorgenommen. Regelrechte Versicherungen sollten indes erst an den oberitalienischen Seeplätzen des 14. Jahrhunderts möglich werden, und zwar durch das Zusammenwirken wirtschaftlicher und nautischer Faktoren mit symbolischen Praktiken: erstens die Entstehung kapitalträchtiger Handelsassoziationen mit einem hoch entwickelten System des Kredits und Geldverkehrs; zweitens die Verbesserung von Schiffbau und Takelung sowie die Einführung des Kompasses, was im Verbund mit den Portolankarten eine vergleichsweise sichere navigazione libera ermöglichte, so dass die Schiffe auch während der Wintermonate auslaufen und die Kaufleute zusehends auf die Mitfahrt verzichten konnten; und drittens die Einführung von Papier sowie indisch-arabischen

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Zahlen, welche neue Rechenverfahren, die doppelte Buchführung und somit die penible Verwaltung von Handelsgeschäften auch ohne persönliche Mitwirkung gestatteten.15 Der Zusammenschluss von Kapital, Seefahrt und bürokratischen Routinen schuf einen dauerhaften Bedarf an Seedarlehen. Doch waren diese, ihrer hohen Gefahrenzulagen wegen, vom Wucherverbot Papst Gregors IX. (um 1230) betroffen. Deshalb kehrte man die Darlehensform kurzerhand um und behauptete de jure, der Versicherer habe ein de facto fingiertes Darlehen erhalten, das er nur im Fall einer glücklichen Schiffsreise nicht zurückzuzahlen braucht. Als eine vorab zu entrichtende premio hinzukam und – ohne großen Widerstand der Kirche – die Darlehensfiktion entfiel, war die historisch erste Versicherung überhaupt entstanden. Um nun die Höhe der Prämie zu ermitteln, veranschlagte man erfahrungshalber ein bestimmtes Risiko. Aus der italienischen Geschäftssprache der Frühneuzeit stammt denn auch der Terminus risico oder risco, der auf das griechische rhíza und seine Nebenbedeutung Klippe zurückgeht. Und aus demselben Idiom rührt polizza als Bezeichnung jener Urkunde her, die man – statt eines mündlichen Vertragsabschlusses in confienza und in fede wie beim Seedarlehen – zunächst notariell beglaubigen, dann aber vom Versicherer selbst ausstellen ließ. Die Seeversicherung ist somit eine entgeltliche Gefahrenübernahme, und versicherbar sind alle realen und geldwerten Interessen, die der Versicherte an der glücklichen Fahrt von Schiff und Ladung nimmt. Dafür, dass man sich von der Vorstellung einer dämonisch oder göttlich verfügten Bedrohung lösen und mit dem Risiko allererst ein operationales Gefahrenwissen erobern konnte, war mithin der Schiffbruch entscheidend. Erst seit sich Gefahren in Risiken transformierten, konnten diffuse Verlustängste zu realen Gewinnerwartungen und vage Befürchtungen zu berechenbaren Hoffnungen werden, die man auf einem Markt tauscht oder – wie später – zur Leitmaxime eines kontingenzpolitischen Regierungshandelns erhebt. Die Operationalisierung des Nichtwissens besteht in einer Übertragung nicht nur von Menschen und Gütern, sondern auch von Gefahren, die man seither – positiv gesagt – auch als Chancen begreifen und – defensiv gewendet – als Risiken in der Zeit und im Kollektiv aufteilen kann. Die Seefahrt produziert Risiken, indem sie sie in Kauf nimmt. Produktiv macht sie also gerade das, was ihrem Kalkül zunächst entgeht: die Gefahren als solche. Denn einen regelrechten Probabilitätskalkül kann es nicht geben für jene heterogenen Gefahren, die zum Schiffbruch führen. Deshalb folgt die Seeversicherung einerseits dem Grund15 | Vgl. Meynen 2003: 196 und 201.

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satz der Gefahrenuniversalität und versichert, wie es in der ältesten erhaltenen Seeversicherungspolice mit bestimmter Prämienvorauszahlung von 1384 heißt, jede Gefahr, die Gott schickt oder vom Meere oder von Menschen herkommt und jeden Zufall oder jede Gefahr oder jeden Schicksalsschlag und jedes Unglück, welches auf irgendeine Weise entstehen könnte, möge die Gefahr oder der Schicksalsschlag oder der Unfall entstanden sein, wie und unter welchen Umständen er wolle.16 Und deshalb bestimmt sie andererseits das Risiko im Modus einer doppelten Beobachtung: Die Prämien und Versicherungssummen werden zunächst intuitiv, nach Erfahrungswerten und allenfalls entsprechend einer behelfsmäßigen Kundenstatistik festgesetzt; zuletzt aber kristallisieren sie sich durch ein spekulatives Marktgeschehen heraus, in dem die Versicherten die Versicherer und diese sich untereinander beim Risikohandel beobachten. Erforderten die ›Kumulgefahren‹ der Seefahrt von Anfang an eine breit gestreute Deckung, so war es nur natürlich, dass sie bald an Börsenplätzen gehandelt wurden, von denen zunächst Antwerpen, in der Frühneuzeit dann allmählich London die Führung übernommen hat. So ist London auch die Heimat des bis heute größten Versicherungsverbundes für den Seehandel und etliche andere Branchen: Lloyd’s Underwriters. Das Coffee House von Edward Lloyd hatte sich seit Ende des 17. Jahrhunderts als Informationsbörse für die aktuellsten Schiffsnachrichten etabliert, so dass man seit 1696 auch eine eigene Zeitung, die »Lloyd’s News«, herausgab. Diese Zeitung wurde in ihrer späteren, immer umfangreicheren und aktuelleren Gestalt als »Lloyd’s List« zum wichtigsten Informationsorgan des weltweiten Seeverkehrs, das Produkt fortlaufender Beobachtung unterschiedlichster, für das Risikogeschäft einschlägiger Belange. Lloyd’s aktivierte hierzu einen global operierenden Medienverbund aus Agenten und Agenturen, unterhielt Expertenstäbe sowie einen eigenen intelligence service und schöpfte sämtliche postalischen und telekommunikativen Mittel aus. Mit diesem offenen Verbund privater underwriters und im Zuge einer sukzessiven Expansion diente Lloyd’s bald als Experimentierstätte für die Schöpfung neuer, auch nichtnautischer Risikoarten: einzelne und verbundene Risiken wie Tod durch Gin-Konsum oder Mehrlingsgeburten, später auch Kriegsrisiken oder die technischen Risiken der Versicherungen selbst – »Der Risico den die Assecuradeurs zu tragen haben, ist so mannigfaltig und unzählbar, daß es vergebens seyn würde, ihn 16 | Zit. nach Liebig 1914: 52f.

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genau zu specificiren«, schrieb der underwriter John Weskett 1780.17 Bei Bestimmung nautischer Risiken wurde das Lloyd’sche Schiffsregister zum wichtigsten Klassifikationsinstrument, während die Registrierung nautischer Unfälle zunächst im »Loss Book« erfolgte, ehe seit 1870 in »Lloyd’s List« regelmäßig eine detaillierte Aufstellung der »shipping casualties« und seit 1906 eine eigene Rubrik namens »The Toll of the Sea« veröffentlicht wurde. Von der kaufmännischen Risikobewältigung bis hin zu offiziellen »Shipwreck Records« produzierte und verhandelte Lloyd’s damit ein Gefahrenwissen, das auch zur technischen safety regulation dienen sollte.

Nautik als Wissenschaft Sicherheit zur See beruht auf Konstrukten und Konstruktionen. In der griechischen Antike galt der Schiffbau als eine téchn¯e, die unter göttlicher Anleitung vonstatten ging und deshalb nur unter strikter Geheimhaltung betrieben, ja nur mit Deckworten bezeichnet werden durfte.18 Was man in neuzeitlichen Thalassokratien wie Venedig aus Gründen der Staatssicherheit zum Arkanum erklären sollte, war hier also noch rein verkehrstechnisch tabu. Der – neben der Beladungskunst – wichtigsten weiteren Komponente nautischer Sicherheit, der Kybernetik oder Schiffs- und Menschenführung, hatte man von Anbeginn die größte Aufmerksamkeit gezollt, sei es, weil sie ein sinnfälliges Paradigma gemeinschaftlicher Gefahrenbewältigung darstellte, sei es, weil zuvorderst die Navigation die offensichtlichste Gefahr jeder Seereise zu bannen schien: nicht nur zwischenzeitlich nicht am rechten Ort zu sein, sondern definitiv im Elementaren verloren zu gehen. Seit der portugiesischen Erschließung des Seewegs nach Indien wurde die Navigation zur Angelegenheit einer souverän betriebenen Wissenschaftspolitik. Und seitdem die überseeischen Ländereien kosmographisch und verwaltungstechnisch hinreichend erfasst worden waren, führten Seereisen nur noch durch Havarien und erzwungene Landgänge in jene brave new worlds, die die Schiffbruchszenarien und Robinsonaden von Shakespeare und Defoe bis weit ins 19. Jahrhundert obsessiv schildern sollten. Das eigentliche Abenteuer aber waren nunmehr Forschungsfahrten, auf denen immer weniger unbekannte Länder als vielmehr der maritime Elementarraum und mit ihm die Navigationsinstrumente selbst erkundet wurden. Das neue Weltbild war ein Problem der kartographischen Projektion und damit der fortlaufenden Ortung, zu dessen Lösung dauernd verbesserte astronomische 17 | Weskett 1782: 110. 18 | Vgl. Wachsmuth 1967: 291.

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Gerätschaften, Chronometer, Kompasse, Logscheite und Berechnungsverfahren benötigt wurden. Untersuchte man mithin im Auftrag der iberischen und englischen, der niederländischen und französischen Akademien neben der Natur auch und gerade die Naturbeobachtungen selbst, so hatte dies nicht nur geo-, sondern eben auch sicherheitspolitische Gründe – etliche Fahrten wurden nur angetreten, um die bekannten errors of navigation zu beseitigen.19 Während die Navigation seit dem 15. Jahrhundert in vielerlei Hinsicht wissenschaftlich untersucht wurde, blieben der Schiffbau und die Kunst des Manövers rätselhafte und stumme Praktiken. Wenn überhaupt, kamen sie nur als Testfall politischer Repräsentation in den Blick – nämlich in den Blick des Souveräns. Besonders die Großund Prachtschiffe des 16. und 17. Jahrhunderts sollten dessen Ansprüche auf Seeherrschaft zur Geltung bringen. Freilich gerieten etliche der exemplarischen Manöver unfreiwillig zu einem Schiffbruch mit souveränem Zuschauer: Die Grande Françoise etwa sollte die englischen Flagschiffe schon ob ihrer Größe in den Schatten stellen, kenterte indes 1533 gleich nach ihrem Stapellauf. Unter den Augen Heinrichs VIII. verlor sein Hauptschiff, die stark artilleriebestückte Mary Rose, 1545 im Hafen von Portsmouth trotz Windstille das Gleichgewicht und sank vollbesetzt mit geöffneten Geschützpforten. Und ähnlich erging es dem schwedischen Regalschiff, der Wasa, die in puncto Abmessung, Feuerkraft und Prunk neue Maßstäbe setzte: 1628 lief sie vor dem Hofstaat und der städtischen Öffentlichkeit im Stockholmer Hafen vom Stapel, bekam aber durch eine Windböe Schlagseite und versank. Ein vom Souverän umgehend eingesetzter Untersuchungsausschuss bemühte sich, die Schuld des Kapitäns, des Admirals oder der Schiffbauer nachzuweisen, stellte zuletzt aber nur erhebliche Konstruktionsfehler (v. a. ein Missverhältnis zwischen der Größe des Rumpfes und der Schwere der Aufbauten) fest, die Gustav II. Adolf durch seine höchstpersönlichen Weisungen an die Werft zu verantworten hatte.20 Faktisch konnte also niemand die Schuld tragen. Schon aus Gründen der Staatsräson sollte der Schiffbau ein geheimes Wissen bleiben. Dies änderte sich erst, als repräsentative Manöver der Marine nicht mehr nur zum Spektakel, sondern vielmehr als Testfall nautischen Wissens veranstaltet wurden. Dessen systematische Produktion nahm seit Mitte des 17. Jahrhunderts insbesondere die ambitionierte Seemacht Frankreich in Angriff. Die »Hydrographie« von Georges Fournier (1643) hatte bereits die unterschiedlichsten Regionen dieses Wis19 | Vgl. Taylor 1971: 215; Siegert 2003: 119. 20 | Vgl. Lanitzki 1990: 41ff.

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sens in einer Art Repertorium bekannter Chroniken, Tatsachen und Erzählungen bearbeitet, war damit aber zu keiner systematischen oder gar analytischen Behandlung vorgedrungen. Eine solche versprach sich Ludwig XIV. von Colberts Reorganisation der Marine: So wie ein Generalatlas die heterokliten kartographischen Erfassungen der Meere zusammenführen sollte, wurden Konstruktionsskizzen aus ganz Europa gesammelt und die Normen und Maße des Schiffbaus standardisiert; und so, wie das Gewohnheitsrecht zuletzt in der »Ordonnance de la Marine« (1681) kodifiziert und damit der Seehandel und die Abwicklung von maritimen Schadensfällen reglementiert wurden, unterstanden nach und nach auch die Menschenführung und die Kunst der Seeschlacht einer disziplinierten Ordnung des Wissens. Abbildung 2: Renau, Bernard 1689: Théorie de la manœuvre.

Doch erst mit François Dassiés »L’architecture navale« (1677) und Bernard Renaus »Théorie de la manœuvre« (1689) wurden die Techniken und Praxen von Schiffbau und Manöver zur Domäne der Erfahrungswissenschaft und entfernten sich dabei mehr und mehr von der idealtypischen und geometrischen Ordnung der Sichtbarkeiten und Tableaus. Um die Schiffsführung wissenschaftlich zu optimieren, abstrahierte etwa Renau das Manöver zu berechenbaren Bewegungsvektoren. Freilich vernachlässigte er dabei die variablen Einflüsse von Steuerruder, Wind oder Wasserwiderstand und formulierte eher ein Problem der Geometrie als bereits eines der Physik. Als man jedoch die Möglichkeiten der Differential- und Integralrechnung nutzte und von einer allgemeinen Theorie der Bewegung von Festkörpern in Flüssigkeiten ausging, konnte eine scientia navalis, eine mathematische Wissenschaft der Marine entstehen, an der sich von Huygens über Leibniz bis hin

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zu Euler ganze Gelehrtengenerationen abarbeiten sollten.21 Die praktische Vernunft, das vormals unergründliche ›Genie‹ der Schiffbauer, wurde zusehends in einer Systematisierung des Erfahrungswissens aufgehoben, die standardisierte Konstruktionspläne und Handbücher, den experimentellen Einsatz von Schiffsmodellen und schließlich die durchgehende Mathematisierung der Werftarbeit umfasste. Die Schiffbauer wurden zu Ingenieuren und damit zu Exponenten eines akademischen Gefahrenwissens, dessen Organisation seit dem 18. Jahrhundert die Petite École de Paris, dann die École des ingénieurs des vaisseaux und zuletzt die École Polytechnique besorgte. Das Schiff wurde damit zum Gegenstand einer umfänglichen, staatlich wie privat organisierten Produktion von Wissen, das nun – mit einer Ausnahme – sämtliche sicherheitsrelevanten Aspekte der Nautik abdeckte. Diese Ausnahme betraf allerdings ein grundsätzliches Navigationsproblem: die Längengradbestimmung und damit die Selbstverortung der Hochseeschiffe. Iberische Seefahrer hatten den Längengrad durch fortlaufend korrigierte Gissung nach Kurs und Distanz lediglich geschätzt. Später erhoffte man sich, aus der Missweisung der Kompassnadel, also der Differenz zwischen magnetischem und geographischem Nordpol, die Länge berechnen zu können – eine Methode, die wegen der unzuverlässigen Nadelweisung und spätestens mit Entdeckung des unregelmäßigen Erdmagnetismus aufgegeben wurde.22 Für die Längenbestimmung war es vielmehr nötig, die Ortszeit der eigenen Position zu ermitteln, sie auf einen Punkt bekannter Länge und Ortszeit zu beziehen und schließlich die Zeitdifferenz in die Längendifferenz umzurechnen. Die simultane Zeit des geographischen Bezugspunktes über die Beobachtung astronomischer Ereignisse zu erschließen, war seit Galileos Entdeckung der Jupitermondeklipsen die erste, zunächst auch viel versprechende Methode. Doch konnte eine (auf Schiffen fast zwangsläufig) fehlerhafte Messung fatale Folgen haben. Die zweite Methode, die Uhrzeit des Heimathafens in Gestalt einer Uhr einfach ›mitzunehmen‹, wurde durch Christiaan Huygens’ Chronometer mit schwingender Unruhspirale (1675) zumindest denkbar. Doch war auch diese Uhr für den strapaziösen Bordgebrauch nicht ausreichend reguliert, und so setzte sich vorerst keine der beiden Methoden durch.23 Das Problem blieb einfach ungelöst. 1707 erlitt bei den Scilly Isles das heimkehrende Geschwader des englischen Admirals Sir Cloudesley Shovell Schiffbruch infolge mangelhafter Längenbestimmung, wobei neben Shovell selbst fast 2.000 21 | Vgl. Séris 1987: 104 und 109. 22 | Vgl. Schomburg 1982: 232ff.; Séris 1987: 82f. 23 | Vgl. Taylor 1971: 152 und 245.

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Menschen ums Leben kamen. Dieses Unglück mobilisierte zunächst zwei innovationsfreudige Mathematiker, dann die englischen Reeder, Kaufmänner und Seeleute sowie zuletzt die gesamte Öffentlichkeit, woraufhin 1714 der bekannte »Longitude Act« verabschiedet, das Longitude Board eingesetzt und ein auf £ 20.000 dotierter Preis ausgeschrieben wurde. Diesen trug John Harrisons federregulierter Chronometer mit bimetallischer Unruhe davon, nachdem James Cook seine Zuverlässigkeit auf einer Testfahrt unter Extrembedingungen bestätigt hatte; und letztlich setzte er sich in der Seefahrt durch, weil er weitaus praktikabler und sicherer war als die astronomische Methode mit ihren umständlichen Beobachtungen und Tabellen, mit ihren langwierigen Rechenverfahren und Fehlerkorrekturen. Ein öffentlich be(ob)achteter massenhafter Schiffbruch hatte mithin eine Evolution von Handwerk und Technologie angestoßen, die wie schon beim Schiffbau von der Generierung nautischen Wissens nicht mehr zu trennen war. Enthielt man dem craftsman Harrison zwischenzeitlich einen Teil seines Preisgelds vor, so wohl weniger aufgrund obskurer Intrigen, sondern weil er keine klare und verallgemeinerungsfähige Erklärung seiner Konstruktionsmethode geben konnte – und entscheidend war ja gerade der Übergang vom impliziten zum expliziten Wissen.24

Maritime Sicherheitssysteme Ein Schiffbruch wie der von Shovells Geschwader offenbarte nicht nur die Dringlichkeit einer wirklich autonomen Navigation. Für den – wie die Verluststatistiken bis ins 19. Jahrhundert zeigen – fast alltäglichen Fall einer zwar korrekt betriebenen, aber aus kontingenten Gründen dennoch fehlerhaften Positionsbestimmung waren gerade in küstennahen Gefahrenbereichen zusätzliche Sicherheitssysteme aufzubauen. Pate hierfür standen zunächst die antiken Warnfeuer und seit dem 1. Jahrhundert v. Chr. nachgewiesene Leuchttürme, unter ihnen der namensgebende Turm auf der Pharos-Insel vor Alexandria. Im Mittelalter waren es englische Mönche gewesen, die tagsüber für die Schiffbrüchigen die Messe lasen, abends aber, oftmals von zweckentfremdeten Kirchtürmen aus, Seezeichen gaben. Auf derartige Initiativen geht auch das Trinity House zurück, das bereits von Heinrich VIII. als Lotsengilde bestätigt und später als gemeinnützige Gesellschaft des Küstenschutzes anerkannt wurde.25 In England, dem auch in dieser 24 | Vgl. ebd.: 262. Vgl. hierzu auch »Die wahre Geschichte« des Längengrads in Sobel: 2003. 25 | Vgl. Brustat-Naval 1969: 56.

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Hinsicht eine Pionierfunktion zukam, war es übrigens nicht die Öffentlichkeit und waren es nicht Seeleute oder künftige Betreiber von Leuchttürmen, die den parlamentarischen Beschluss zur Einrichtung einer zureichenden Befeuerung erzwangen, sondern vielmehr Schiffseigner und Kapitäne – und dies, um das Risiko eines Frachtverlustes zu minimieren.26 Aus der Perspektive der Seefahrtsgeschichte ging die Installation fast aller Sicherheitssysteme auf dramatische Schiffbrüche mit entsetzten Zuschauern zurück: 1789 strandete bei einem Sturm in der berüchtigten Tyne-Mündung die Adventure und riss dabei ihre gesamte Besatzung in den Tod – dies alles in unmittelbarer Nähe zum Ufer und unter den Augen der untätigen Einheimischen. Deren strong feelings motivierten dann einige ortsansässige Honoratioren, ein Rettungsfahrzeug in Auftrag zu geben, und der Schiffbauer Henry Greathead konstruierte das erste praktisch unsinkbare Ruderrettungsboot mit Luftkästen und Korkeinlagen. 1807 beobachtete der englische Hauptmann George William Manby die Strandung einer Brigg, bei der – obwohl nur 60 Meter vom Festland entfernt – 67 Menschen umkamen. Resultat war diesmal der Manby-Mörser, der bereits im Folgejahr erstmals mittels Geschoss eine lebensrettende Leinenverbindung mit einem gestrandeten Schiff herstellen konnte. Und auch für den Aufbau der deutschen Seerettung hat eine Strandung in unmittelbarer Küstennähe den Ausschlag gegeben. Nachdem ein Regierungsbeamter und ein Journalist zufällig dem Ende der Alliance beigewohnt hatten, strengten sie 1860 »im Interesse deutscher Ehre und Civilisation« eine Pressekampagne gegen »die wüste Barbarei« des untätigen Küstenvolks an und initiierten damit den Aufbau eines Notdienstes nach englischem Vorbild.27 Im Zuge einer allgemeinen Sicherheitsoffensive und nicht zuletzt auf Druck von Lloyd’s wurden im 19. Jahrhundert mit England als Vorreiter Lifeboat Institutions gegründet und verbesserte Lichttechniken in den Leuchttürmen installiert, neue Bau- und Sicherheitsvorschriften erlassen sowie neue Laws of the road beschlossen, eine Entwicklung, die später zu den großen internationalen Organisationen und Konventionen führte. In England richtete man ein Shipwreck Committee ein, das sowohl Ursachen-, Ablauf- und statistische Untersuchungen der Unfälle selbst anstellte, als auch deren womöglich betrügerische Hintergründe beleuchtete. Im deutschen Kaiserreich war es die Havarie der Deutschland, die 1877 zum »Gesetz, betreffend die Untersuchung von Seeunfällen« führte.28 Und schließlich setzte man einen Interna26 | Vgl. Bathurst 1999: 11. 27 | Vgl. Neuber/Jürgens 1979: 17ff., 25 und 27. 28 | Vgl. Völker 2005: 135.

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tional Code of Signals durch, der je nach Entwicklungsstand der Signalsysteme aktualisiert wurde. Von den Semaphoren über die elektrische bis hin zur drahtlosen Telegraphie schlossen sich staatliche und internationale Gesetzgeber, Assekuranzunternehmen und die Entwickler neuer Kommunikationstechnologien zu einem immer engeren Sicherheitsverbund zusammen, als dessen letzte Errungenschaft um 1900 die Funkentelegraphie gelten konnte. Von ihr erwartete man nicht nur eine verbesserte Navigation mittels Funkpeilung oder durch die Übermittlung von Wetternachrichten und Zeitzeichen, sondern auch, »daß sich jedes Schiff mit einem elektrischen Kraftfelde wie mit einem Schutzmantel umgeben kann, so daß ein fremdes Schiff, das in die Schutzsphäre eintritt, sofort bemerkt und auch selbst aufmerksam gemacht wird«.29 Der elektrische Äther, das Wellenmeer des »elektrischen Ozeans«, verlangte ebenfalls nach spezifischen Regulierungen, die man auf der Berliner Telegraphiekonferenz von 1906 glaubte durchgesetzt zu haben.30 Nach dem Untergang der Titanic (1912) brachte man die vermeintlich lückenlose Sicherheitstechnik des maritimen Funks nochmals auf den Prüfstand, kam aber rasch zu dem Ergebnis, dass die Technologie als solche immerhin die Rettung von über 700 Menschenleben ermöglicht hatte; die Rettung aller Passagiere war nur durch die Überlastung des Funkers auf der benachbarten California, den unterbrochenen Betrieb seiner Station und schließlich durch einen Missbrauch von Sicherheitsgerät vereitelt worden, nämlich die bevorzugte Behandlung von Privatbotschaften und die Übermittlung von Tagesnachrichten. Dass der Untergang der Titanic eine Katastrophe des Funks gewesen sei, dieses Versatzstück moderner Mythographie geht wohl auf die Tatsache zurück, dass durch interference verschiedener Schiffsnachrichten auf den Kanälen privater Funker zunächst die irrtümliche Meldung an die Presse kam, die Passagiere und Besatzung seien gerettet.31 Ihr verlustreicher Untergang war eine Katastrophe des Funks nur in dem Sinne, dass mit dem umgehend verabschiedeten US-amerikanischen »Radio Act« zwar Notrufsignale absolute Priorität erhielten, der Amateurfunk aber auf zwei Frequenzen eingeschränkt, dem Militär ein großer Teil der Bandbreite zugesprochen und das Staatsmonopol auf die Marconi-Technik vorbereitet wurde.32 Der zweite mit der Titanic unauflöslich verknüpfte Mythos, nämlich der ihrer Unsinkbarkeit, ist in der populären Überlieferung wohl auch deshalb so prominent geworden, weil er ihrer Fahrt als Motto vorausgeeilt war, sich aber bei der ersten 29 30 31 32

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Lodemann 1907: 197f.; vgl. auch Fauvel 1898: 25f. Vgl. Slaby 1922: 228. Vgl. hierzu ausführlich den Beitrag von Wolfgang Hagen in diesem Band. Vgl. Hagen 2005: 181ff.

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Gelegenheit zerschlagen hatte. Das Schiff ging an einer jener äußerst unwahrscheinlichen Gewalteinwirkungen zugrunde, die Thomas Andrews’ Konstruktion mit wasserdichten Schotten und 16 Bugräumen überhaupt gefährlich werden konnten: Weil die Titanic am Eisberg entlang schrammte, wurde sie – wie man lange Zeit annahm – wohl regelrecht der Länge nach aufgeschlitzt, während bei einer ›normalen‹ Kollision auch vier Bugräume hintereinander hätten gefahrlos geflutet werden können. Abbildung 3: Beschädigung des Schiffsrumpfes der Titanic durch einen 90 m langen Schlitz.

Gleich nach dem Schiffbruch setzte die Suche nach Schuldigen ein, nach unlauteren (die Wettfahrt um den blue ribbon), fahrlässigen (John Edward Smiths Kommando) und betrügerischen Machenschaften (nachträgliche Versicherungen). Tatsache war zunächst nur, dass dieses Schiff, für das es bis dahin keine assekuranztechnische Klasse und keinerlei Erfahrungswerte gegeben hatte, zu einer extrem niedrigen »Jahresprämie von 3/4 %« versichert worden war – und dies in der Annahme, dass es ja ohnehin »nicht sinken könne«. In der Versicherungsbranche, die übrigens in Gestalt von Lloyd’s Underwriters den Schaden binnen 24 Stunden beglich, erkannte man nun die Unmög-

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lichkeit, Schiffe »absolut unsinkbar herzustellen«, und »daß es sich bei den neuen internationalen Vorschriften nur um Herbeiführung einer relativen Unsinkbarkeit handeln könne.«33 Die Wreck Commission des British Board of Trade gab Empfehlungen für künftige Sicherheitsmaßnahmen; auf der Londoner Konferenz von 1913 wurden für den Funkverkehr striktere Vorschriften erlassen, etwa der kontinuierliche Funkbetrieb für Schiffe bestimmter Größe, die Meldung gesichteter Hindernisse und das internationale Notzeichen SOS vorgeschrieben; und die 1914 erstmals einberufene International Conference on the Safety of Life at Sea (SOLAS) beschloss in 74 Artikeln u. a. die Einführung von wasserdichten Türen und Decks, von doppelten Schiffsböden und regelmäßigen internationalen Eispatrouillen. Über die Ursachen und den Hergang des Unglücks besteht bis heute keine Einigkeit. Vielleicht wurde die Titanic, wie man nach ihrer Ortung 1985 aufgrund von Unterwasseraufnahmen annahm, gar nicht längsseitig aufgeschlitzt, sondern wurden ihre nach dem SiemensMartin-Verfahren hergestellten Stahlplatten bei den Minustemperaturen brüchig und versagten deshalb durch die indirekte Gewalteinwirkung beim Aufprall, vielleicht schlug das Schiff dabei auch aufgrund einer mangelhaften Vernietung des Rumpfes leck.34 Zudem könnte es sein, dass für das Scheitern jenes Ausweichmanövers, das der Erste Offizier nach Sichtung des Eisbergs einleitete, keineswegs menschliches Versagen verantwortlich war: Die Titanic besaß nämlich trotz ihrer Größe kein ausbalanciertes Ruder und erforderte deswegen ein eigentümliches Handling, das zu erwerben der Steuermann vor der Jungfernfahrt keine Gelegenheit erhalten hatte. Als der Erste Offizier beim Manöver des letzten Augenblicks eine Schubumkehr veranlasste, wirkte diese nur mit den Außenbordmotoren. Die Turbine besaß keine Richtungsumkehr, und für den Zentralpropeller stand kein Getriebe zur Verfügung. Deshalb blieb er einfach stehen, was wiederum die – von der Wasserzufuhr abhängige – Effektivität des Ruders einschränkte und somit die überlebensnotwendige Richtungskorrektur verhinderte. Der Schiffbruch der Titanic war das letzte Glied in einer Verkettung singulärer Sachverhalte. Das betrifft zunächst ihre Konstruktionseigenheiten und zuletzt den Kollisionsablauf, es betrifft aber auch Zufälle wie den, dass der betreffende Eisberg offensichtlich gerade aufgetaucht, deshalb noch blau und erst sehr spät zu erkennen war. Wurde von den Lloyd’schen Risikoexperten die Wahrscheinlichkeit eines Untergangs vor der Jungfernfahrt mit 1:1.000.000 angegeben, so be33 | Ulrich 1912: 1042, 1045 und 1048. 34 | Vgl. Rasor 2001: 103.

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stand nach der singulären Konstellation kontingenter Einzelfaktoren eigentlich kein Grund, diese Schätzung zu revidieren. Auch für eine grundsätzliche Reorganisation der Rettungseinrichtungen gab es letztlich keine Veranlassung. Denn obschon die – nach den gültigen Vorschriften ausreichende – Zahl der Rettungsboote unmittelbar nach dem Untergang angeprangert und zudem in den SOLAS-Konventionen eine künftig höhere Bestückung festgeschrieben wurde, ist es zweifelhaft, ob im Notfall mehr als die vorhandenen Boote überhaupt hätten zum Einsatz kommen können. Dafür nämlich hätte das Schiff noch weitgehend waagerecht stehen, hätte genügend Zeit vorhanden, die Besatzung ausreichend diszipliniert und die See ruhig sein müssen – Bedingungen, von denen hier nur die letzte erfüllt war. Dass aber Rettungsboote unter bestimmten Umständen auch die Schiffssicherheit selbst gefährden können, bezeugte schon bald der Untergang der Eastland. Dieser Great-Lakes-Dampfer, der 1915 im Hafen von Chicago vollbesetzt kenterte und mit seinen 844 toten Passagieren (gegenüber 694 auf der Titanic) den bis heute verlustreichsten Schiffbruch am Landungssteg erlitt, hatte aufgrund seiner Konstruktion und häufiger Decksumbauten ein Stabilitätsproblem, das man ebenso ignorierte wie man die nötigen Neuberechnungen der ›metazentrischen Höhe‹ (des Abstands zwischen dem Gewichtsschwerpunkt des Schiffs und dem Schnittpunkt von Mittschiffsebene und der Auftriebsrichtung des verdrängten Wassers) unterließ. Neben einem sorglosen Kommando und falsch gefluteten Ballasttanks war es zuletzt das Dogma des boatsfor-all, das für diesen Unfall den Ausschlag gab.35 Das Ende der Titanic gilt bis heute als der Schiffbruch schlechthin, und die in seinem Kielwasser erlassenen Sicherheitsvorschriften waren sicherlich zahlreich. Dennoch wäre es falsch, hier von einer Katastrophe im strengen Sinne zu sprechen: von einer fundamentalen Reorganisation sozialer Systeme. Einen Umbruch markierte dieser Schiffbruch eher für die Beobachtung solcher Systeme. Gustav Landauer etwa wies nur fünf Tage nach dem Unglück auf die epistemologischen Grundlagen von Hochtechnologien und deren Sicherheitssystemen hin: Nur dadurch, »daß es eine Menge ›Dinge‹ gibt, die unsere Sprache zwar so hinspricht, als ob es Dinge, materielle Gegenstände wären, wo aber jede schlichte Besinnung jedem sagt, daß es Beziehungen sind«, nur dadurch sei die nautische Eroberung des Elementarraums ebenso wie die Funktechnologie möglich geworden.36 Die »Botschaft der ›Titanic‹«, die gleich nach der Havarie in den Äther gesendet wurde, kann deshalb im Sinne zweier unterschiedlicher Be35 | Vgl. Hilton 1995: 1ff., 28f. und 76f. 36 | Landauer 2000: 84.

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ziehungslogiken verstanden werden: Einerseits als Nachricht an die ›Menschheit‹ und bloße ›Beziehungswirklichkeit‹; andererseits aber als generelle Feststellung der sozialen Beobachtung, dass die »Zustände oder Verhältnisse in unserm privaten, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Leben« nicht länger durch Substanzbegriffe, sondern, mit Ernst Cassirer gesprochen, nurmehr durch Funktionsbegriffe erfassbar seien. Dem philosophisch wie technisch informierten Beobachter enthüllt dieser paradigmatische Schiffbruch »den Ursprung der Substanzworte aus Bewegungsworten« – der Untergang der Titanic ist letztlich eine Katastrophe für die Selbstbeschreibung der Gesellschaft, die auf übernommene tropische ›Stabilitätsformen‹ wie die des ›Staatsschiffs‹ fortan nicht mehr bauen kann.37 Was mithin der Beobachtung von Gesellschaft und deren Funktionssystemen künftig ihren ›unbegrifflichen‹ Rückhalt gibt, ist keine absolute Metapher mehr, sondern ein dynamisches und hochkomplexes System, das laufend Störungen produziert und verarbeitet, ja vielleicht gerade in der fortlaufenden Modellierung von Störungen besteht. Nicht umsonst geht die Kybernetik, die Wissenschaft von der Struktur und dem Verhalten solcher Systeme, schon etymologisch auf die nautische Steuerkunst zurück. Das dynamische und hochkomplexe System eines Schiffs ist nicht nur den Gefahren seiner ›Umwelt‹ ausgesetzt, laufend produziert es selbst Risiken, von denen seit der Antike – und mindestens bis zum Ende der General Slocum 1904 – die Brandgefahr als eine der tückischsten Formen von ›Amechanie‹ galt. Und dass sich ein derart immanentes Risiko mit der Komplexität nautischer Technologien geradezu multiplizierte, führten im Zuge der Entwicklung von Hochdruckdampfmaschinen deren häufige Explosionen drastisch vor Augen: Der Untergang der Sultana, auf der 1865 nach kleineren Wartungsfehlern mehrere Kessel explodierten, ist mit über 1.500 Toten das bis heute schwerste Schiffsunglück in USamerikanischen Gewässern.38 Bezeichnenderweise entstand die technische Versicherung aus der Dampfkesselüberwachung in Großbritannien.39 Um die amechanischen Gefahren zu verhindern, wurden seit dem 19. Jahrhundert unterschiedliche Verfahren der Modellierung, Materialprüfung und Simulation entwickelt. Im schlimmsten Fall vermögen diese Verfahren die Unglücksursachen nur ex post zu ermitteln: Beispielsweise konnte Edward Piers erst durch eine nachträgliche Modellierung in der Badewanne feststellen, weshalb Supertanker wie 37 | Ebd. 38 | Vgl. Chiles 2002: 272. 39 | Vgl. Koch 1995: 231.

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die Marpessa, Mactra und Kong Haakon VII im Jahre 1969, nachdem ihre Tanks mit Seewasser ausgespült worden waren, plötzlich explodierten – nämlich wegen der Entstehung statischer Aufladungen beim Warmwasseraufprall. Seitdem Schiffbauingenieure wie William Froude die Grundlagen einer komplexen Schiffsmodellierung geschaffen haben und seitdem Zuverlässigkeitsprüfungen auch auf die Betriebssituation selbst ausgedehnt wurden, ist die Amechanie mehr und mehr zu einer Angelegenheit der Selbstbeobachtung, nämlich der maschinellen Selbstüberwachung geworden.40 Schiffe werden im 20. Jahrhundert zu kybernetischen Systemen im strengsten Sinne, insofern sie seither nicht nur die Navigation und Beladung automatisieren, sondern auch während der Fahrt die Schiffsstabilität kontinuierlich beobachten und nach Möglichkeit aufrecht erhalten.41 Der Idee eines unsinkbaren Schiffs kommen vielleicht monofunktionale Wasserfahrzeuge wie das selbstlenzende Rettungsboot besonders nahe. Komplexen nautischen Systemen jedoch ist die Gefahr unvorhersehbarer und kaskadenhafter Störungen inhärent. Schiffe werden auf Fehlertoleranzen und redundante Sicherungen – und seien es nur die der Versicherung – hin konzipiert.42 Daher ist ihre Konstruktion immer auch die Modellierung des eigenen Untergangs: »The shipwreck is indeed the ›futuristic‹ invention of the ship«.43

Archäologie der nautischen Katastrophe Was macht einen Schiffbruch zum Ereignis? Wann und wieso wird etwas zur Katastrophe erklärt, was genauso gut auf dem Niveau eines bloß statistischen Geschehens anzusiedeln wäre? Letztlich, so behauptet ein Ingenieur in Hans Magnus Enzensbergers »Untergang der Titanic« (1978), »geht jede Innovation auf eine Katastrophe zurück: neue Werkzeuge, Theorien und Gefühle – man nennt das Evolution.«44 Eine Geschichte der Schiffbrüche mit Zuschauern scheint diesen evolutionären Ablauf zu bestätigen: Eine Katastrophe ist hier etwas, dem neue Technologien, andere Theorien oder große Gefühle auf dem Fuße folgen. Werden Schiffbrüche jedoch nicht von Zuschauern, sondern von Beobachtern wahrgenommen, so definieren sich Katastrophen allein durch die Steigerung von Systemkomplexität – sei es in technischen, sei es in sozialen oder psychischen Systemen. Das 40 41 42 43 44

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Vgl. Karcev/Chazanovskij 1984: 82ff. Vgl. Kendall/Buckley 2001: 383. Vgl. Luhmann 1998: 530f. Virilio 2003: 6. Enzensberger 1996: 34.

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grundlegende Problem, Ereignisse von deren Beobachtungen zu unterscheiden, veranlasste bereits in der Antike zahlreiche Rechtsverfahren, die zu Schiffbrüchen, zu deren Ursachen und den daraus folgenden Verbindlichkeiten, Verpflichtungen oder Verurteilungen angestrengt wurden. Und das Problem, nach einem Schiffbruch sein Recht zu bekommen, seinen Schaden oder einfach nur die Tatsache nachzuweisen, dass ein Schiffbruch überhaupt vorliegt, hat eine ganze Reihe spezieller Beweisarten (etwa den prima-facie-Beweis), eigentümlicher Kausalitätsbegriffe (z. B. die causa proxima non remota spectatur) und kombinierter Wahrheitstechniken (neben Zeugenaussagen unter Eid auch Gutachten, Logbücher, Statistiken und Informationen der versicherungseigenen intelligence) auf die juristische Agenda gesetzt. Schiffbrüche können so gesehen auch Katastrophen des Rechts darstellen. Sie können, wie bei den öffentlichkeitswirksamen Prozessen zur Pflichtverletzung durch den Kapitän, das Ethos und den Status eines ganzen Berufsstandes gefährden. Sie können, wenn ihre Beobachtung unabgeschlossen ist, einen – besonders betrugsanfälligen – Risikohandel wie den Overdue-Market entstehen lassen. Und sie können, wie im Falle von Totenschiffen oder Samuel Plimsolls Kampagne gegen die coffin ships, gerade wegen der Unmöglichkeit ihrer Beobachtung zu einer starken Mobilisierung der Öffentlichkeit und zu gesetzgeberischem Handeln führen. Auf jeden Fall sind Schiffbrüche erst dann zu Ereignissen geworden, wenn man sie im Modus der Nachträglichkeit oder Retroaktivität beobachtet hat. Und dafür, dass diese Beobachtung möglich ist, sorgen die Unternehmer des Seeverkehrs selbst: seien es wissenschafts- oder geopolitisch engagierte Staaten, seien es Transport- oder Versicherungsgesellschaften. Steht mit ihnen etwas auf dem Spiel, so rufen Schiffbrüche einen hartnäckigen Willen zum nachträglichen Wissen auf den Plan. Und dieser hinterlässt in den staatlichen, den Firmen- und Versicherungsarchiven immense Datenbestände, zumeist weit größere als zu den glücklichen Fahrten. Von einem rezenten oder archivierten Wissen ausgehend eigene Bergungsaktionen anzustrengen – diese praktische Form einer nachträglichen Beobachtung von Schiffbrüchen ist bereits aus der Antike überliefert, und sie setzt sich über die Hebeexpeditionen spekulierender Schatzjäger, die souveränitäts- und versicherungsrechtlich motivierte Suche nach Schiffswracks bis zur Unterwasserarchäologie fort, die mit den Ortungstechniken des 20. Jahrhunderts, mit dem probability mapping und der Tiefseerobotik nunmehr als Wissenschaft betrieben wird. Seither sind Schiffswracks, einmal 15 Meter unter den Meeresspiegel gesunken und damit aus den wreck charts genommen, von gefährlichem Treibgut zu einem Testfall nachträglicher Beobachtung geworden.

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Diese archäologische Beobachtung macht am Punkt einer abgeschlossenen Katastrophengeschichte nicht Halt. Sie sucht unter den Resten eines Schiffbruchs gerade das, was nicht in den Blick des Zuschauers, den Bericht des Zeugen oder den Bestand der Archive fällt. Wahrscheinlich ist schon ein Hauptteil jener Angaben, die die archivalischen Quellen bereithalten, ohnehin fiktiver Natur, weil etliche von ihnen auf bloßer Mutmaßung beruhen, zur Bereicherung, in betrügerischer Absicht oder zwecks Entschuldung der Beteiligten zu den Akten genommen wurden.45 Jedenfalls hat die Kopplung von archivalischen Quellen und archäologischen Funden die Seefahrts- wie die politische Geschichte immer wieder in ein neues Licht gesetzt. Selbst im Fall der MéduAbbildung 4: Géricault, Théodore: Scène d’un naufrage. se, deren Havarie im sozialen Imaginären des 19. und 20. Jahrhunderts als zeitloses Schreckbild politischer Verantwortungslosigkeit und menschlicher Verrohung, aber auch als Probierstein einer kritischen Öffentlichkeit galt, wirft diese Kopplung neue Fragen auf. Nach seiner Ortung mittels Proton-Magnetometer konnte man das Wrack nur durch den Abgleich unscheinbarer Bauteile mit Aktennotizen in den »Archives de la Loire-Atlantique« identifizieren. Dass sich aber auf dem Wrack nicht jene Geldbestände finden ließen, die laut Aktenlage mit der Méduse transportiert werden sollten, führte zu der Hypothese, dieser bis zur Titanic berühmteste aller Schiffbrüche könnte ein geplanter und inszenierter gewesen sein. Vielleicht haben sich der Kommandant Duroy de Chaumarey und Julien Schmaltz, der Gouverneur des Senegal, nur deshalb so zielstrebig vom Konvoi und dann vom gestrandeten Schiff abgesetzt, weil sie das Geld planmäßig entwendet hatten, um es dann, aufgrund des Unfallspektakels völlig unbemerkt, möglichst rasch in Sicherheit zu 45 | Vgl. Ducoin 1989: I. 11f. et passim.

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bringen.46 Und vielleicht ist diese »Scène d’un naufrage« (Géricault, vgl. Abbildung 4) nur der kalkulierte Schaueffekt einer tiefer liegenden Ökonomie der Beobachtung. Zumindest potenziell untergräbt der archäologische Blick jenes Phantasma des Politischen und der politischen Katastrophe, das bei Schiffbrüchen zwangsläufig aus der Trope des Staatsschiffs zu entstehen droht. Schiffbrüche sind prädestiniert für ihre kritische Beobachtung. Denn entweder fällt die Schiffsorganisation im Notfall eine Entscheidung (wie das seit dem Untergang der HMS Birkenhead 1852 etablierte Titanic-Motto ›Frauen und Kinder zuerst‹), und diese – unweigerlich riskante – Entscheidung erleben die Betroffenen dann ihrerseits als Gefährdung; oder aber niemand entscheidet mehr, Gefahren werden nicht in Risiken umgemünzt und es entbrennt ein Kampf aller gegen alle – der somit in der Entscheidung zur Nichtentscheidung wurzelt.47 Ernst Jünger indes interessiert sich weniger für fundamentale Aporien politischer Ordnung und Beobachtung als vielmehr für jene Gestalten, die der Gefahr in ihrer elementaren Gewalt zu begegnen vermögen; und er kritisiert weniger eine spezifische Form sozialer Organisation als eine ganze Zivilisation, die mit ihren Funktionssystemen auf vermeintlichen Sicherheiten, auf dem Trugbild der Unsinkbarkeit und dem Begriff eines beherrsch-, weil berechenbaren Risikos aufruht. Der Untergang der Titanic liefert Jüngers Zivilisationskritik eine Schlüsselszene. Er ist das paradigmatische Ereignis und Eräugnis des gefährlichen Augenblicks. Schließlich wird in dieser exemplarischen Havarie die Kontingenz all jener Sicherheitssysteme offenbar, die zur Risikobewältigung angetreten, selbst aber von keiner wirklichen Rückversicherung gedeckt sind. Dennoch ist dieser Schiffbruch für Jüngers Fundamentalkritik nur ein metaphorischer Bezugspunkt. Die eigentliche Grenzlinie zwischen einer Kultur der Sekurität und einer der Gefahr markiert nämlich das Ereignis des Ersten Weltkriegs. Nicht nur, dass Jünger damit eine zeitlich wie metaphorisch nahe liegende Verdichtung von politischer Katastrophe und Schiffbruchszene vornimmt. Er stellt zudem, wie unfreiwillig auch immer, selbst eine archäologische Diagnose. Dem Unfall als definitiver Störung, ja als Kollaps eines technologischen Systems steht nämlich dasjenige voran, was Paul Virilio ›archäotechnologisch‹ als »Urfall« bezeichnet hat: die »Dialektik« von Produktion und Destruktion, die der Technologie selbst innewohnt, seitdem die »Kriegsmaschine« zum Innovator technologischer Entwicklungen und technologischer Gefahrenproduktion

46 | Vgl. Masson 1989: 256f. 47 | Vgl. Luhmann 1991: 116f.

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geworden ist.48 Wollte man das maritime Gefahrenwissen über den Bereich der bloßen Unfälle hinaus verfolgen, so müsste man es mithin auf jenen Urfall beziehen, den die Allianz von Kriegsplanung und -führung seit der Antike mit der metaphorischen Rede und dem risk management, der Navigation und Disziplin, dem Schiffbau und den diversen Sicherheitssystemen darstellt. Sollte es seit 1900 noch ein Reservat jener Elementarerfahrung zur See gegeben haben, die Jünger beschwört und vor ihm Autoren wie Joseph Conrad unablässig beschworen haben, dann wohl nur auf Segelschulschiffen. Ursprünglich als Kaderschmiede für den Nachwuchs in der militärischen und Kaufschifffahrt gedacht, sind diese bereits mit dem Siegeszug der Dampfschifffahrt, umso mehr aber im kybernetischen 20. Jahrhundert zusehends unter Rechtfertigungszwang geraten. Hatte man sich nach dem Untergang des Reichsmarine-Schulschiffs Niobe 1932 noch auf das Wirken ›höherer Gewalt‹ verständigen können und blieb die 1937 gesunkene Admiral Karpfanger zunächst einfach verschollen, weshalb sie keinen Anlass zu Grundsatzentscheidungen geben konnte, so führte der viel beachtete Untergang der Pamir im Jahre 1957 zu langwierigen juristischen und öffentlichen Auseinandersetzungen.49 Das zuständige Gericht wurde angeblich dazu gedrängt, ein nautisches Versagen festzustellen, um die traditionelle Methode der praktischen Gefahrenausbildung weiterhin zuzulassen. Die Anwälte von Reeder und Kapitänswitwe beharrten aber auf einer Ehrenrettung der Schiffsführung und versuchten, einen act of god (in Gestalt des Hurrikans Carrie) nachzuweisen. Der verwickelte Prozess blieb bei der Schuldfeststellung (falsche Segelführung und Beladung, nicht geflutete Tieftanks), konnte aber letztlich nicht verhindern, dass die Kauffahrerei – im Gegensatz zur Marine – fortan auf die Segelschulschiffe verzichtete.50 Im zivilen Bereich hatte also tatsächlich die Kultur der Sekurität gesiegt. Mit der angeblich nationalen Katastrophe namens Pamir kündigte sich aber auch in Deutschland an, was ein Jahr zuvor, beim Untergang der Andrea Doria, für die televisuelle Weltgemeinschaft bereits anschaulich geworden war: Schiffbrüche sind, seit Funk und Fernsehen senden, unweigerlich Medienereignisse, ein virtuelles Spektakel mittels Kommunikationstechnologien. Und diese Technologien »bagatellisieren, wenn man so sagen darf, den Platz, von dem aus man etwas sieht.«51 Neben Virilios ›Technoarchäologie‹ bedürfte es vielleicht einer globalen ›Medienarchäologie‹, mit Sicherheit aber einer genauen Analy48 49 50 51

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Vgl. Virilio 1979: 77f. Vgl. Völker 2005: 14 und 312. Vgl. Dummer 2007: 272f. und Willner 1997: 122ff. Luhmann 1998: 152.

Schiffbruch mit Beobachter | 43 Abbildung 5: Der Untergang der Andrea Doria.

se der nautischen und assekuranztechnischen Ökonomien, um die gegenwärtige Beobachtung nautischer Katastrophen mitsamt ihrer blinden Flecken beschreiben zu können: Die wahrscheinlich verlustreichste Art von Schiffbrüchen überhaupt, die von Fischerbooten, kann als solche kaum wahrgenommen werden, weil sie – mangels Versicherung – in der Mehrzahl der Fälle gar nicht erst gemeldet wird, also nicht einmal statistisch existiert; und Ähnliches gilt für die häufigen Schiffbrüche jener boat people, die sich, solange außerhalb der Küstenkontrolle, off the record befinden. Bei diesen Schiffbrüchen ist es der Ausschluss aus ökonomischen und Sicherheitssystemen, der mit Nichtbeobachtung zusammenfällt. Bei Fähr- und Tankerunglücken dagegen ist es der immense Konkurrenzdruck, der diese Schiffbrüche zu den verlust- und folgenreichsten maritimen Katastrophen werden ließ: Der Havarie von Fährschiffen waren zuletzt gewiss die meisten ›menschlichen Katastrophen‹ zur See geschuldet – in der zivilen Seefahrt forderte der Untergang der Dona Paz im Jahre 1987 mit 4.386 Opfern bis heute die meisten Menschenleben. Angefangen mit dem Untergang der Torrey Canyon im Jahre 1967 stellen Schiffbrüche von Supertankern indes Katastrophen im neuen Sinne dar; Katastrophen,

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die das Risikokalkül und allgemein die Kultur der Sekurität tatsächlich an ihre absoluten Grenzen führen. Denn mit ihnen ist erstmals »die Umwelt des Gesellschaftssystems in die Wirkungsketten der möglichen Schädigung einbezogen«.52 Und mit ihnen ist erstmals nicht mehr die Natur eine elementare Gefahr für die Nautik – sondern umgekehrt die Nautik eine Bedrohung der Natur.

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licher Genehmigung der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz, Abteilung Historische Drucke. Abbildung 3: Beschädigung des Schiffsrumpfes der Titanic durch einen 90 m langen Schlitz. In: Hess, Harro/Hessel, Manfred 1989: »Titanic«. Zwei Gesichter einer Katastrophe. Berlin: Transpress. S. 102. Abbildung 4: Géricault, Théodore: Scène d’un naufrage. In: Schneider, Michael 1991: Un rêve de pierre. Le Radeau de la Meduse. Paris: Gallimard. S. 124f. Abbildung 5: Der Untergang der Andrea Doria. In: Pickford, Nigel 1995: Versunkene Schätze. Schiffe und ihre Schicksale. Bielefeld: Delius Klasing. S. 109.

Der Eisenbahnunfall von 1842 auf der Paris-Versailles-Linie. Traumatische Dissoziation und Fortschrittsgeschichte

Esther Fischer-Homberger

Die Eisenbahn ist wohl die zentrale und folgenreichste Innovation des 19. Jahrhunderts, Motor nicht nur der ökonomischen und ökologischen, sondern auch der politisch-militärischen, baulichen, sozialen und mentalen Umwälzungen der Moderne. »Die Zeit rollt rasch vorwärts, unaufhaltsam, auf rauchenden Dampfwagen«, schreibt Heinrich Heine 1843.1 So sehr die Eisenbahn in diesem Sinne paradigmatisch für die Geschichte von Technik und Industrie des 19. Jahrhunderts ist, so wenig hat der Eisenbahnunfall in dieser Geschichte seinen Platz gefunden. Der Unfall, das Eisenbahnunglück – »Ein furchtbares Wort!«2 – ist, seit das Schicksal seiner historischen Autorität entkleidet wurde, zur Randerscheinung der Geschichte geworden, eine »Abweichung von der Norm, von der Regel [. . .], eine Episode«.3 Der Vorgang wiederholt sich: Der immer neue Unfall schreckt auf und wird wieder vergessen oder in Denkmäler und Rituale gebannt. Analog stehen die klassischen Beiträge zum Eisenbahnunfall weitgehend unverbunden neben den insgesamt fortschrittsfreudigen Darstellungen der Geschichte der Bahn. Diese »Schönheitsflecken« seien in der »bisher zahlreich erschienenen eisenbahngeschichtlichen Literatur [. . .] meist ausgespart oder stiefmütterlich behandelt worden«, stellt Erich Preuss 1991 in der Einleitung zu seinem Buch »Eisenbahnunfälle« fest.4 Die beiden Erzählungen unterscheiden sich auch stilistisch voneinander: Die Geschichte der Unfälle ist episodisch strukturiert, oft sehr 1 2 3 4

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Heine 2008: 448. Fürst 1918: 414. Preuss 1991: 8. Ebd.: 6.

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detailliert und betont sachlich gehalten, die Geschichte der Eisenbahn hingegen gibt sich ungebrochen, kontinuierlich und zuweilen blumig. Dem nur scheinbar widersprechend, sei im Folgenden der Frage nachgegangen, ob die beiden Geschichten nicht eigentlich zusammengehörten – ob nicht der Unfall umso traumatischer wirke, je mehr er aus der Erzählung ausgeklammert und je mehr die Bahn und ihre Geschichte als kontinuierlich und ununterbrochen imaginiert wird. Aufgrund dessen wird dafür plädiert, dass Fall und Unfall – wie Prometheus (der Vorausdenkende) und Epimetheus (der Hinterherkluge) – vermehrt als Einheit wahrgenommen und das alte Paradigma der unfallfreien Eisenbahn durch dasjenige einer mit dem Unfall verschränkten Technologie ersetzt werde. Damit komme ich zur reibungslosen Entwicklung der Eisenbahn im frühen 19. Jahrhundert, wie sie gern erzählt wird. Zwar war die Eisenbahn – eine dampfbetriebene Kutsche von vielfacher »Pferdestärke« auf Gleisen – aus Bekanntem zusammengesetzt.5 Die Pferdekutsche war das feinere Reisetransportmittel der Zeit, die Dampfmaschine war seit dem späteren 18. Jahrhundert in Betrieb. An der Kombination beider zu einer Locomotive haben spätestens seit 1769 Nicolas Cugnot und der bei James Watt als Betriebsingenieur tätige William Murdock intensiv getüftelt. Auf holprigem Untergrund verlegte Oberbauten, auf welchen Wagen, durch Menschen oder Pferde bewegt, leichter rollten, kannte man andererseits schon im 17. Jahrhundert. Zuerst verwandte man sie in England, wo man Kohle führende Wagen auf glatten, hölzernen, später mit Eisen beschlagenen Holzbahnen von Ort zu Ort bewegte.6

Eine kleine Geschichte der Eisenbahn – Väter und Söhne Zunächst glaubte man nicht, dass eine Lokomotive auf glatten Schienen hinreichend haften würde, daher wurde eine Kombination von Dampfwagen und Schienen kaum in Betracht gezogen. So blieben Gleisbauten mehr oder weniger lokale Phänomene in Bergbaudistrikten, und der zivile Nutzen von Fahrzeugen wie Cugnots Dampfwagen blieb beschränkt: »Die schwere Ausrüstung eines mit Dampf betriebenen Fahrzeugs ist nicht für die unebene Strasse [. . .] geeignet.«7 Für die damals üblichen Schienen aber waren die frühen Dampfwagen zu schwer. Man habe die Weiterentwicklung solcher Wagen schon beinahe aufgegeben, schreibt der Eisenbahnhistoriker Arthur Fürst, als 5 | Fischer-Homberger 1972: 297. 6 | Vgl. Lewin 1925: 1–8 und Fastenrath 1977: 1. 7 | Fürst 1918: 28.

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man endlich begriff, dass sie auch auf glatten Schienen genügend Haftung finden würden. »Die Spurbahn«, schrieb Steiner 1880, »harrte des Motors, der allein sie befähigen konnte, zum mächtigsten Förderer der Civilisation zu werden, der Locomotive. [. . .] Unbeholfen blieb das Dampfross am holprigen Pfad, bis ein Genie es mit dem Geleise vermählte«.8 Das Genie ist, wiewohl sächlichen Genus’, eindeutig männlich konnotiert – es leitet sich von gignere, hervorbringen, erzeugen ab, bedeutet also eigentlich Erzeuger. Der altrömische Genius war die personifizierte männliche Zeugungskraft, und die Erzählung von der geistigen Generativität des Mannes ist eng mit der klassischen Geschichte der Eisenbahn verwoben. Im schöpferischen Geiste eines Mannes fand denn auch die Vermählung von Lokomotive und Schiene statt. Die Dampfmaschine, vollends aber die Eisenbahn, ist eine prototypische Frucht männlicher téchn¯e und Kulturschöpfung.9 Die Geschichte der Erfindung der Lokomotive ist die einer Parthenogenesis. Fertig, ausgerüstet mit allen Gliedern und Eigenschaften, welche sie zu einem der gewaltigsten Organe der Kulturentwicklung machen, sprang die eilende Maschine aus dem Haupte ihres glücklichen Erfinders.10 »Eine neue Minerva«11 nannte Max Maria von Weber die Eisenbahn, nicht beachtend, dass der Göttervater, bevor er Athene aus seinem Haupte gebar, die schwangere Göttin der Weisheit aufgefressen hatte.12 Andere eisenbahnhistorische Texte orientieren sich an anderen Mythen: am kunstfertigen Metallurgen Hephaistos, am kulturschaffenden Prometheus und an deren Vorfahren und Brüdern, den Telchinen, Kabiren und Daktylen,13 den eigensinnigen, bald hilfreichen, bald selbstbezogenen elfischen Gnomen, Kobolden, Zwergen oder an den Bergmännern, die im Schoß der Erde Kohle, Metalle, Schätze hecken. Keineswegs zufällig, meint Weber, entstamme der Erfinder des ersten Hochdruckdampfwagens, Richard Trevithick, dem rauhen, oberflächlich wenig fruchtbaren Cornwall, das jedoch in der Tiefe »unermeßliche Schätze« berge. »Uralte druidische Traditionen [. . .], verbunden mit der Einwirkung des [. . .] Gnomenmärchengetriebes in der 8 9 10 11 12 13

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Steiner 1880: 69. Vgl. Weber 1882: 26 und 101. Weber zit. nach Weihe 1917: 72. Weber 1882: 2, 24 und 101. Vgl. Kerényi 1984: 95f. Vgl. ebd.: 167.

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unheimlichen Tiefe der Erzgruben« gehörten mit zur »Natur des ›Cornishman‹«, mit dessen eisernem Willen sich »ein phantastisches Element« verbinde.14 Der Name Richard Trevithick steht für den Übergang von der schweren Watt’schen Niederdruck- zur leichteren Hochdruckdampfmaschine am Ende des 18. Jahrhunderts, durch den es möglich wurde, die Lokomotive auf Schienen zu stellen. Waren Cornwalls Gnomen die Erdväter Trevithicks, so war William Murdock, der Freund von James Watt, sein geistiger Vater. Murdock hatte längere Zeit in Cornwall gearbeitet, dabei »eine Zuneigung zu dem Knaben« Richard gefasst und ihm die »niedlichen Dampfwagenmodelle« gezeigt, die er gebaut hatte. Zuerst als Lehrling, dann selbständig führte Trevithik Murdocks Arbeit an den Dampfwagen fort und baute schließlich die Lokomotive, die George Stephenson, Sohn eines Bergwerksarbeiters, inspirieren sollte. Sie fuhr nämlich an Stephensons Geburtshaus vorüber, »und dieser dürfte so infolge Trevithicks Tätigkeit zum erstenmal eine Lokomotive gesehen haben.« George Stephenson sollte als der überragende Eisenbahningenieur in die Geschichte eingehen. Er erklärte früh, Schiene und Rad gehörten zusammen – »wie Mann und Weib« – und kümmerte sich entsprechend um beide.15 Er war es, der im kohlenreichen Nordosten Englands die Stockton-Darlington-Bahn erbauen sollte, die weltweit erste Bahn, die neben Kohle auch Personen beförderte und die von einer Lokomotive gezogen wurde – sie wurde 1825 in Betrieb genommen.16 Das Wissen um die technische Bewältigung des Lebens, wie sie in der Eisenbahn prototypisch realisiert ist, wird entlang einer männlichen Linie weitergegeben. »Die großen Erfindungen sind Rasseprodukte. Starke Vorfahren haben«, schreibt Weber, »die Elemente zu ihrem Entstehen bereitet, sie [. . .] von Erben zum Erben übertragend [. . .]. Wenn daher [. . .] Georg Stephenson der Vater der Lokomotive ist, so war gewiß Richard Trevethik [sic] ihr Ahne«.17 Seinen Sohn Robert, der zu einem der größten Ingenieure Englands werden sollte, hat George Stephenson nach dem frühen Tod seiner Frau alleine aufgezogen. Ihn zog er beim Bau der Stockton-Darlington-Linie als Helfer, an der Manchester-Liverpool-Linie – damals »das größte Wunderwerk unserer Zeit«18 – und bei der Konstruktion der Lokomotive Rocket als Berater hinzu.19 Die Rocket hat 1829 das legendäre Lokomotivenrennen bei Rainhill gewonnen und damit der 14 15 16 17 18 19

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Weber 1907: 220f.; vgl. Steiner 1880: 70; Fürst 1918: 27. Alle Zitate: Fürst 1918: 28 und 31, 42. Vgl. Lewin 1925: 9–11; Smiles 1873: 123–145; Fürst 1918: 44–46. Weber 1907: 219. Anonymus 1832; vgl. Steiner 1880: 152f.; Smiles 1873: 214–219. Vgl. Smiles 1873: 36f. und 50–61, 121f., 128, 153, 208–211.

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selbstbewegenden Dampfmaschine zum Durchbruch verholfen: Auf der 1830 eingeweihten Manchester-Liverpool-Linie sollten die Züge künftig von Dampflokomotiven gezogen werden.20 Nach diesem »als eine Art Vaterlandsfest« gefeierten »Anbruch des Verkehrszeitalters«21 weiteten sich Nutzen, Nutzer und Schienenwege der Eisenbahn sozusagen explosiv aus. England blieb noch lange Vorbild, 1829 wurde in den USA die erste Lokomotivbahn eröffnet; 1834 beauftragte Belgien George Stephenson, ein landesweites Eisenbahnnetz zu projektieren, was Frankreich in Zugzwang brachte.22 Die Konkurrenz war scharf, sowohl zwischen den Nationen als auch zwischen den einzelnen Eisenbahnunternehmen, die Frage der Beziehung zwischen Staat und Privatunternehmen musste noch geklärt werden.23 1837 wurde mit der Linie Paris–Saint-Germain die erste öffentliche Dampfeisenbahn dem allgemeinen Verkehr übergeben, 1839 wurde die Linie Paris–Versailles auf dem rechten Seine-Ufer eingeweiht und am 10. September 1840 deren Konkurrenz auf dem linken Ufer: auch sie eine private Unternehmung, die sich aber schlecht rentierte und auf der knapp zwei Jahre später das große Unglück passieren sollte.24 Ein Plan zur Erbauung von Staatsbahnen wurde indessen mehrfach verworfen, »es wurden nur Concessionen an Privatgesellschaften [. . .] ertheilt. [. . .] Endlich entschlossen sich [. . .] im Jahre 1842 die Regierung und die Kammern, [. . .] durch ein Gesetz die Eisenbahnlinien festzustellen, deren Bau besonders dringend erschiene, und für deren schnelle Ausführung durch Staatssubventionen beizutragen«.25 Bis zur Mitte des Jahrhunderts hatten sämtliche in der Tradition der Aufklärung stehenden Nationen ihre ersten Dampfeisenbahnen gebaut.26 Weltweit gab es etwa 38.000 km Eisenbahnstrecken.27 Mit der Eisenbahn stand einem breiten Publikum innerhalb kurzer Zeit ein neues Transportmittel zur Verfügung – billiger und bequemer als die teure Pferdekutsche. Und je dichter das Schienennetz sich über die Länder zog, desto großflächiger lud die Eisenbahn – das erste Massenverkehrsmittel der Welt – zum allgemeinen Gebrauch und zur umfassenden Anpassung an die neuen Verhältnisse ein. In der Fi20 | Vgl. Fürst 1918: 53–59. 21 | Ebd.: 59. 22 | Vgl. Stürmer 1872: 150. 23 | Vgl. Considerant 1838: 30–38. 24 | Vgl. Reden 1846a: 1ff. und 107ff., 177ff., 125ff.; Stürmer 1872: 137; Fletcher/Taylor 1996: 47. 25 | Stürmer 1872: 127 und 137, vgl. ebd.: 150; Payen 1988: 22; Le Moniteur Universel 2.12.1842: 2267. 26 | Vgl. Allen 1963: 336. 27 | Vgl. Hartung/Preuss 1996: 25.

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nanzwirtschaft löste der Eisenbahnbau bei den Investoren eine wahre »Speculationswuth« aus.28 Nicht immer freilich folgten die Züge problemlos den für sie vorgesehenen glatten Bahnen. Es gab Unfälle – Gleisbrüche, Achsenbrüche, Explosionen. 29 Bei Meudon sollte es ein Achsenbruch sein.

Das Unglück »Die Menschen waren schon recht vertraut mit ihrer Bahn geworden und benutzten sie deshalb eifrig«, schreibt Püschel.30 So waren an jenem Sonntag, dem 8. Mai 1842, Sparkassendirektor, Hutmacher, Advokat, Händler, Schüler, Frauen, Arbeiter, Concierge, Schneider und Mechaniker,31 auch der Weltumsegler Admiral Jules Sébastien César Dumont d’Urville und seine Familie32 nach Versailles gefahren, um sich der dort alljährlich stattfindenden Wasserspiele, des »spectacle des grandes eaux« zu erfreuen.33 Ungewöhnlich viele Personen wollten den 5-Uhr-Zug nach Paris zurück benutzen, deshalb wurden zusätzliche Wagen angehängt und der vorgesehenen großen Lokomotive Eclair die kleinere Mathieu Murray vorgespannt.34 Der Unfall – wie jede Katastrophe ebenso unerwartet wie prinzipiell erwartbar – ereignete sich kurz nach der Abfahrt von der Station Meudon, bei Bellevue. Er war das »erste wirklich schwere Eisenbahnunglück«,35 »der erste große Eisenbahnunfall«,36 man sprach vom »plus horrible malheur qui soit peut-être jamais arrivé«37 und einer Katastrophe »encore sans exemple dans l’histoire des chemins de fer«.38 Das Unglück erschütterte ganz Europa, das nahe am Epizentrum liegende Paris am heftigsten und frühesten, die Schweizer Presse (nur sie wurde hier untersucht) mit prätelegraphischer Verzögerung. Die Berichte der französisch-schweizerischen Blätter und der »Basler Zeitung« wirken noch etwas näher am Geschehen als die der deutsch-schweizerischen. Die 28 | Vgl. Lewin 1936: 115ff.; Roth 2005: 61–113. 29 | Vgl. Stockert 1913; Püschel 1977: 7; Semmens 1996: 7; Roth 2005: 52. 30 | Püschel 1977: 12. 31 | Vgl. Poisson 1975: 2157–2159. 32 | Vgl. Le Moniteur Universel 11.5.1842: 1073, 12.5.1842: 1085, 16./17.5.1842: 1129; Le Siècle 12.5.1842, 16./17.5.1842; Guillemin 1842: IX und 24. 33 | Le Siècle 9.5.1842; Berner Volksfreund 19.5.1842: 391. 34 | Vgl. Le Moniteur Universel 1.12.1842: 2260; Le Siècle 9.5.1842, 11.5.1842; Journal de Genève 14.5.1842: 1; Püschel 1977: 12. 35 | Püschel 1977: 12. 36 | Fletcher/Taylor 1996: 330. 37 | Magendie 1842: 261. 38 | Le Siècle 11.5.1842; Journal de Genève 17.5.1842: 2; vgl. Le Moniteur Universel 11.5.1842: 1073.

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Erschütterung war umso massiver, als die gemeinsame Fahrt mit der Eisenbahn seinerzeit den Inbegriff des dampfgetriebenen Aufbruchs einer breiten Öffentlichkeit in ein neues Zeitalter bedeutete. Und Versailles war womöglich überhaupt der erste große, von sehr vielen Menschen bezeugte technische Unfall. »Das vorindustrielle Zeitalter kennt den technischen Unfall in diesem Sinne nicht. [. . .] Die vorindustriellen Katastrophen sind Naturereignisse, Naturunfälle«,39 schreibt Wolfgang Schivelbusch. »Es entstand eine fürchterliche Feuersbrunst«, informiert – die ersten Berichte der französischen Blätter »Le Moniteur Universel« und »Le Siècle« ziemlich genau wiedergebend – die »Neue Zürcher Zeitung« in einer Extrabeilage, und »zur Vermehrung des Schreckens konnten die unglücklichen Reisenden, die in den Wagenkasten eingeschlossen waren, die Thüren nicht öffnen, da die Schlüssel hierzu in den Händen der Conducteurs lagen; unter drei Conducteurs erschien ein einziger zu Hülfe. [. . .] Die Zahl der Umgekommenen läßt sich nicht genau angeben [. . .], man fand sie [. . .] unter einem Wagen aufgehäuft, und mußte sie mit Schaufeln und Hacken zusammenlesen. [. . .] Es wird behauptet, eine der Locomotiven sei zersprungen, und der Heizer, der nicht mehr gefunden ward, 60 Fuß hoch in die Luft geschleudert worden«.40 Die zweite Lokomotive und die vordersten fünf Wagen türmten sich im Aufprall übereinander – »l’élévation finit par n’être pas moindre de 10 mètres«41 –, sodass den Reisenden der ersten fünf Wagen, nachdem einmal das Feuer ausgebrochen war, kaum geholfen werden konnte.42 »Er hatte viel von Unglück gehört«, hallt es 1847 in Gotthelfs Erzählung vom wandernden Handwerksgesellen Jacob nach, »wie man verbrennen könne, wie man könne gesotten werden [. . . und] wie man könne in die Luft gesprengt werden, daß man sein Lebtag nicht mehr zu Boden komme, so hoch hinauf«.43 »L’imagination est encore effrayée du spectacle affreux«, schreibt am 17. Mai die »Gazette de Lausanne«.44 »Que d’effroyables malheurs! Das Herz will brechen angesichts so vieler Opfer und so vielen Leids«, kommentiert das »Journal de Genève«, und weiter: »Die Feder sträubt sich, die Einzelheiten nachzuzeichnen. [. . .] Innerhalb weniger Augen39 | Schivelbusch 1977: 118. 40 | Le Siècle 9.5.1842; vgl. Le Moniteur Universel 1.12.1842: 2261, 3.12.1842: 2271; Beilage zur Neuen Zürcher Zeitung 13.5.1842: 2; Journal de Genève 14.5.1842: 1; Basler Zeitung 13.5.1842: 442; Thurgauer Zeitung 14.5.1842; Berner Volksfreund 15.5.1842: 512; Tagblatt der Stadt St. Gallen und der Kantone St. Gallen, Appenzell und Thurgau 17.5.1842: 548. 41 | Le Moniteur Universel 1.12.1842: 2260. 42 | Vgl. ebd. 10.5.1842: 1059; Journal de Genève 17.5.1842: 2. 43 | Gotthelf 1847: 268. 44 | Gazette de Lausanne 17.5.1842: 2.

56 | Esther Fischer-Homberger Abbildung 1: Provost, A.: Das Eisenbahnunglück zwischen Versailles und Bellevue.

blicke standen die ersten fünf Wagen in Flammen. Die Schreie der Reisenden, der Tumult, die Konfusion, [. . .] sind unmöglich zu beschreiben«.45 »Viele Personen [. . .] sollen vor Schrecken und Entsetzen der Besinnung beraubt worden seyn und mehrere sich noch in einem Zustande völliger Geistesabwesenheit befinden«, schreibt die »Basler Zeitung«.46 Manche Personen trügen »für ihr ganzes Leben die traurigsten Folgen jenes schauerlichen Unglücks davon«, so die »Appenzeller Zeitung«.47 »Ein Schlossergeselle [. . .] ist durch den Schrecken gänzlich seiner Sprache beraubt. Er arbeitet fleißig und ordentlich fort, hat aber seither kein einziges Wort gesprochen«.48 Andere verloren ihren Verstand: »Gestern begegnete mir ein junger Mann, der toll wurde, als er erfuhr, daß er der Einzige sei, der von seiner Familie noch lebe«, schreibt der Augenzeuge F. an seine Eltern.49 »Le Siècle« hatte von einem verrückt gewordenen »jeune homme très élégamment vêtu« berichtet, der in den Straßen nach seinem Vater, seiner Mutter und seinen Schwestern rief, die das Feuer verschlungen hatte,50 und die »Gazette de Lausanne« von einem Mann, der auf der Straße von Meu45 | Journal de Genève 14.5.1842: 1; vgl. Le Siècle 10.5.1842; Le Moniteur Universel 10.5.1842: 1059. 46 | Basler Zeitung 13.5.1842: 442. 47 | Appenzeller Zeitung 25.5.1842: 208. 48 | Basler Zeitung 19.5.1842: 461; vgl. Der Landbote 26.5.1842. 49 | Berner Volksfreund 19.5.1842: 319. 50 | Le Siècle 10.5.1842.

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don mit Stroh und einem Streichholz in der Hand gefunden wurde, die Eisenbahn anzünden wollte und schrie: »Gebt mir meine Frau und mein Kind zurück!«51 Der Dichter und Advokat am königlichen Gericht zu Paris, Paulin Gagne, verfasst ein Gedicht »von einem jungen Mann, der den Verstand verlor, als er seine Schwester, seine Mutter und seine Verlobte untergehen sah«.52 Ob es sich bei einigen der einander ähnelnden Geschichten um verschiedene Ereignisse handelt oder um verzerrte Echos eines und desselben, muss offen bleiben. In traumatischen Situationen wird rasch und hastig nach mitteilbaren Bildern und Geschichten gesucht, wobei Genauigkeit und Kritik oft dem Bedürfnis zum Opfer fallen, dem unerwartet hereingebrochenen Erlebten nur irgendeine Form und Gestalt zu verleihen. Das spezielle Motiv vom irre gewordenen Mann, der seine Familie sucht, lässt an eine pathogene Schuld oder Überlebensschuld denken. Gleichzeitig stehen die auch von der Schweizer Presse gerne aufgegriffenen Geschichten von stumm und verrückt gewordenen Menschen zunächst für die Unmöglichkeit, das Unbeschreibliche zu fassen. Das Ereignis drohte den Glauben an die Eisenbahn, vielleicht sogar an den technischen Fortschritt überhaupt zu erschüttern. Die »Neue Zürcher Zeitung« druckte einen Bericht aus Paris vom 11. Mai ab: Das entsetzliche Ereigniß auf der Eisenbahn hat die Stadt mit dem größten Schrecken erfüllt; ich habe sie weder zur Zeit der Cholera, noch in den Aufständen von 1832 und 1834 bewegter gesehen. Das Volk wollte die Eisenbahnen zerstören.53 Arbeiter wollten die Bahn zerstören, schreibt auch der junge Frankfurter F. an seine Eltern, »nur die Masse der an den Stationsgebäuden aufgestellten Truppen hält sie davon ab«.54 Louis-René Villermé, ehemaliger Kriegschirurg in Napoleons Diensten, schrieb, von einem Freund nach dem Unglück von Versailles gefragt, diesem am 24. Mai 1842, zwanzig Kriegsschlachten und Tausende von Toten und Verwundeten hätten ihn nicht so arg mitgenommen wie die Nachricht von diesem Ereignis.55 Sowohl bei der Pariser Morgue als auch auf dem Gottesacker Montparnasse »soll es grausen-

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Gazette de Lausanne 17.5.1842: 3. So der Titel von Gagne 1842. Neue Zürcher Zeitung 18.5.1842: 235. Berner Volksfreund 19.5.1842: 319; vgl. Basler Zeitung 13.5.1842: 442. Vgl. Ackerknecht 1952: 327; Basler Zeitung 13.5.1842: 442.

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erregende Scenen gegeben haben [. . .]. An beiden Orten mußte die bewaffnete Macht die Ordnung aufrechterhalten«.56 Andere Texte beschwören angesichts der allgemeinen Sprachlosigkeit die Kraft der Trauer. Die Zeugen der Katastrophe könnten keine Worte finden, schreibt Alexandre Guillemin, der Autor einer »Lamentation sur la catastrophe«. »On a besoin de pleurer, et de pleurer encore.« »Ah! que le Français pleure! et que l’étranger pleure!« »Des larmes! des larmes! et toujours des larmes sur cette fatale journée!«57 »Pleurons au souvenir de cette lamentable catastrophe; mais prions aussi«, mahnt der Erzbischof von Paris und ordnet eine Messe an.58 Aber die Realität wollte doch nachgezeichnet, die Szenen mit Worten beschrieben werden, in bald realistischem, bald anekdotischem oder poetisch überhöhtem Stil. Vielfach findet sich die typische Doppelbewegung gegenüber einem Trauma: Man will davon nichts und doch alles wissen. »Éloignez de mes yeux cette scène d’horreur/Qui me glace à la fois de peine et de terreur«, beginnt Gagnes 13-seitiges Gedicht, um dann ausführlich die im Titel versprochenen »scènes les plus touchantes« der Katastrophe zu wiederholen.59 Die französische Tagespresse berichtet von zahllosen berührenden Szenen, die Schweizer Presse konzentriert sich auf eine Auswahl von besonders dramatischen Vorkommnissen.60 Das Trauma spaltet, fragmentiert, innerlich und im Fall des Unglücks von Versailles auch äußerlich. »Vom Rumpf getrennte Köpfe, Arme und Beine lagen umher«61 oder »ein Fuß, an dem sich noch weibliche Stickarbeit erkennen ließ«62 – »on ne trouva ensuite que des fragmens [sic] informes de corps humains, des troncs sans membres, des jambes et des bras séparés du tronc«.63 Und dann die bedeutungslos gewordenen Zeugen eines ahnungslosen Lebens: »Gold-, Silber- und Kupfermünzen, Uhren, Lorgnetten, Ringe, Brochen, Cachets, Gürtelschnallen, ein paar Dutzend Sekretär- und Möbelschlüssel, Regen- und Sonnenschirme, Stöcke, Handschuhe, Taschentücher, Halstücher und Shawls & c.«64 – die allein es manchen Angehörigen

56 | Basler Zeitung 13.5.1842: 442. 57 | Guillemin 1842: IV und XII, 14. 58 | Ebd.: VIIIf.; vgl. Le Moniteur Universel 13.5.1842: 1097. 59 | Gagne 1842: 3. 60 | Vgl. Der Landbote 19.5.1842: 3; Journal de Genéve 14.5.1842: 1; Gazette de Lausanne 13.5.1842: 2, 17.5.1842: 3. 61 | Der Landbote 26.5.1842: 3; vgl. Journal de Genève 14.5.1842: 1. 62 | Der Landbote 19.5.1842: 3. 63 | Le Siècle 10.5.1842. 64 | Appenzeller Zeitung 25.5.1842: 208.

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ermöglichten, ihre Toten zu identifizieren.65 Man hatte in den Trümmern auch drei vom Aufprall plattgedrückte Uhren gefunden. Die eine zeigte noch die Unfallzeit 17.45 Uhr, und sie wurde als die Uhr des geachteten englischen Chefmechanikers Georges erkannt, der zum letzten Mal seine Mathieu Murray geführt hatte.66 Weithin, bis ans andere Ende von Bellevue habe man die Schreie der Opfer gehört, schreibt »Le Siècle« und veröffentlicht den Bericht eines Überlebenden, der sah und hörte, wie Dumont d’Urville schrie: »Sauvez ma femme, sauvez mon fils!«, bevor er in Rauch und Flammen verschwand.67 Und Guillemin fügt bei: »Cependant le silence qui succédoit par intervalles, et surtout celui qui termina la grande scène d’horreur, fut encore plus déchirant«.68 Von Sehen und Hören ist die Rede, von Gerüchen nicht. Ein junges Mädchen, dessen Beine sich in den Rädern verfangen hatten, weinte, schrie und wurde dann vom Feuer verschlungen.69 Eine Dame zog besondere Aufmerksamkeit auf sich. Da sich die ersten Wagen übereinander getürmt hatten,70 sah man sie hoch oben im Feuer, wie sie um Hilfe flehte; tausend Anstrengungen waren vergeblich, das Flammenmeer isolierte sie – man sah sie die Hände zum Himmel erheben, dann klaglos die Augen senken, ihr helles Kleid und ihre schwarze Schärpe fingen Feuer, eine heftigere Flamme ergriff ihren Schleier – die Unglückliche war vielleicht dreißig Jahre alt.71 Sie wird in Guillemins »Lamentation«, die in Paris alsbald für 1 franc 25 »pour les Pauvres« verkauft wurde, zur »reine de ses pleurs, reine de sa souffrance« auf einem scheiterhaufenartigen Feuerthron erhöht.72 »Die Zeitungen erzählen immer noch von neuen schrecklichen Einzelscenen«, fasst die »Neue Zürcher Zeitung« zusammen.73 Die so oft denunzierte Sensationslust der Medien und der nicht direkt Betroffenen genügt nicht, dieses enorme Medienecho zu erklären. Wohl kann Entsetzen in einem Zustand von Taubheit, in dem alltägliche Eindrücke nicht mehr wahrgenommen werden, eine Empfindung, eine Sensation hervorrufen und in diesem Sinne willkommen sein, ja mit süchtigem Verlangen herbeigewünscht werden. Andererseits ge65 | Vgl. Gazette de Lausanne 17.5.1842: 3; Le Siècle 10.5., 13.5.1842; Basler Zeitung 13.5.1842: 442. 66 | Vgl. Le Siècle 11.5.1842; Le Moniteur Universel 11.5.1842: 1073. 67 | Le Siècle 11.5.1842; vgl. Journal de Genève 12.5.1842: 1, 14.5.1842: 1, 17.5.1842: 1; Gazette de Lausanne 13.5.1842: 2, 17.5.1842: 3; Le Siècle 10.5., 11.5.1842. 68 | Guillemin 1842: VI. 69 | Vgl. Le Siècle 11.5.1842; Gazette de Lausanne 17.5.1842: 3. 70 | Vgl. Journal de Genève 17.5.1842: 2. 71 | Vgl. Gazette de Lausanne 17.5.1842: 3. 72 | Guillemin 1842: IV und 20. 73 | Neue Zürcher Zeitung 16.5.1842: 231.

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hört es zu den kulturellen Umgangsformen mit dem Trauma, dasselbe mit anderen zu teilen. Wie heilsam oder re-traumatisierend dies wirkt, hängt davon ab, wie mitgeteilt und wie aufgenommen wird. Das wiederholende Erzählen von Schrecklichem kann Teil der Bemühung sein, eine Gemeinschaft herzustellen, welche das Trauma zu integrieren hilft, es kann auch als Ausdruck einer Verpflichtung zur Zeugenschaft gelesen werden und damit als Versuch, vom Verlorenen doch etwas zu retten. Interessant ist, dass gerade die »Appenzeller Zeitung«, die beklagt, dass Eisenbahnunfälle immer »durch alle Zeitungen ausposaunt werden«,74 besonders süffig über das »große Nachtstück« informiert: Zwei Neuvermählte, nur an den blanken, funkelnden Trauringen kenntlich, hat man in der Masse gefunden; ebenso eine halbverbrannte Frau, die einen verkohlten Gegenstand (ganz wahrscheinlich ihr Kind) mit ihren schwarzen Händen an der Brust hielt.75 Es sind mit dem 8. Mai 1842 Bilder ins zivile Leben eingebrochen, die man bis dahin nur aus dem Krieg kannte, Szenen aus der Ikonographie der Hölle und andere Bilder von archaischen Strafverfahren, die vielleicht sogar – als Produkte neu erschlossener Gewalten – überhaupt erstmalig in Erscheinung traten. Im Rückblick auf das Jahr 1842 schreibt Heine aus Paris: »Dieses Jahr ist eine Satire auf den Frieden selbst, denn im geruhsamen Schoße desselben wurden wir mit Schrecknissen heimgesucht, wie sie der gefürchtete Krieg gewiß nicht schrecklicher hervorbringen konnte.« Welche höllische Überraschung, schreibt er, für die Gäste der Kunstwasser zu Versailles, als sie mit ihrer Heimfahrt »statt in Paris [. . .] plötzlich in der Unterwelt anlangten! Und zwar verstümmelt, gesotten und geschmort! ›Ist es der Krieg, der euch so schnöde zugerichtet?‹ ›Ach nein, wir haben Frieden, und wir kommen eben von einer Spazierfahrt.‹«76 Als satanischen oder göttlichen Eingriff erlebt der von Gagne beschriebene, irre gewordene junge Mann, was ihm zugestoßen ist. Ähnlich versucht der fromme Guillemin – wie Gagne Advokat am königlichen Hof zu Paris –, die Geschehnisse in ihrer alles Erlebbare transzendierenden, sakralen und infernalen Qualität zu fassen.77 Seine »Lamentation« spricht vom »enfer d’une pareille scène«, vom »concert 74 | Appenzeller Zeitung 25.5.1842: 208. 75 | Ebd. 18.5.1842: 198; vgl. Le Siècle 10.5., 11.5.1842; Berner Volksfreund 19.5.1842: 319. 76 | Heine 1984: 426f. 77 | Vgl. den Titel von Guillemin 1842.

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[. . .] effroyable«, dem »théâtre de la catastrophe« und dem »spectacle ivre d’horreur comme dans les enfers« – die Bezeichnung des Unfassbaren als Schauspiel oder Konzert erlaubt eine etwas distanziertere Lesart.78 Dieser Text, dessen zweiter Teil in Gedichtform verfasst ist, schildert auch, dass die Verwundeten und Sterbenden nach geistlicher Hilfe gerufen und solche vielfach auch gefunden hätten. »Combien d’âmes ont pu trouver le salut dans le sein même du désastre!« Manche seien dank der Heiligen Jungfrau zwar nicht vor dem irdischen Feuer, aber vor dem viel schlimmeren Feuer der göttlichen Gerechtigkeit verschont geblieben.79 Himmel und Hölle nicht scheuend, berichtet Guillemin auch von mörderischen Szenen unter den Opfern, die man in der Presse nicht findet: Machten sich, fragt er, manche von diesen Unglücklichen in ihrer Panik und Wut, getrieben von ihrem Instinkt der Selbsterhaltung und der Hoffnung, einen Ausgang zu finden, schuldig, andere gebissen und erschlagen zu haben? Einem der Opfer waren mehrere Finger abgebissen worden, und er selbst konnte sich nur retten, indem er diejenigen verletzte, die ihm den Durchgang versperrten. Und ein »bruit funeste« habe berichtet, es sei eine Frau durch ihre Leidensgenossen an Füßen und Kleidern im Feuer zurückgehalten worden.80 Die Presse hingegen macht Mitteilung von Hingabe und Heldenmut, vom »zèle« derer, die sich um die Opfer kümmerten. »Manche edle That und Lebensrettung mildert das Gräßliche«, schreibt die »Appenzeller Zeitung«.81 Dann erzählt sie von einem Herrn Calvo, der in den deutsch-schweizerischen Zeitungen legendär geworden ist, während er in den französischsprachigen nicht gefunden werden konnte. Herr Calvo hatte bereits seinen achtjährigen Neffen gerettet. »Alsdann kroch er noch einmal, trotz des herannahenden Feuers, in die Kiste, suchte in der Dunkelheit seinen Bruder aus den jammernden und krampfhaft sich ihm anhängenden Unglücksgenossen heraus und entriß auch ihn dem sichern Tode. Er wollte hierauf noch einen jungen Menschen retten, der nahe bei der Oeffnung lag, allein dieser hatte die Beine verwickelt und mußte den Flammen überlassen werden.«82 Dieselben Zeitungen berichten auch von einem Brief, den ein ehemaliger Fabrikant an »Le Siècle« geschickt hat: Der edle Retter seiner Familie und seiner selbst (»un monsieur coiffé d’un chapeau gris«, der sich nur als »Arthur trois étoiles« vorgestellt habe) möge doch seinen wirklichen Namen preisgeben, damit der Schreibende sich bei ihm 78 79 80 81 82

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Ebd.: IV, VI, 17, VIII. Ebd.: IX. Ebd.: IVf. Appenzeller Zeitung 25.5.1842: 208. Ebd.

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bedanken könne.83 Ein Vorbild von Pflichttreue schließlich wählt die »Basler Zeitung« aus: »Zwei Heizer sah man noch im Zustande völliger Verkohltheit aufrecht an ihren Posten stehend, die Hände an ihren Maschinen festgekrämpft«.84 Über die Ursachen der Katastrophe suchte man – geradezu reflexartig – sofort Genaueres zu erfahren. Sobald das entsetzliche Ereignis bekannt geworden sei, habe sich ein »bataillon de ligne« und eine Kompanie der »garde municipale« vor den geschlossenen Bureaus der Eisenbahn aufgestellt, und »die Polizeibehörde verfügte sich alsobald zur Stelle, um über die Ursache dieses Unfalls Untersuchung anzustellen«.85 Der Polizeipräfekt habe auch die für die Versorgung der Verwundeten nötigen Befehle gegeben. Am nächsten Morgen erschienen die Mineningenieure Combes und Sénarmont, beauftragt mit der Inspektion der Eisenbahnen, um einen offiziellen Rapport zuhanden des Ministre de l’Intérieur zu verfassen.86 Man versuchte, Ordnung in die traumatische Verstörung zu bringen. Es wurde gefragt, ob und auf welche Weise man persönlich von dem Ereignis betroffen sei. In der Deputiertenkammer hätten die Abgeordneten miteinander nur gesprochen, um nach Neuigkeiten von ihren Familien und Freunden zu fragen, schreibt »Le Siècle«; ebenso aufgewühlt sei man an der Börse gewesen, und man habe einander grässliche Einzelheiten erzählt. Viele seien zum Friedhof Montparnasse geeilt, wo die Behörden die formlosen Reste von 32 Toten hätten hinbringen lassen, die Morgue sei von einer Menge belagert gewesen, welche die berittene »garde municipale« kaum habe in Bann halten können.87 Man sammelte: Informationen, Berichte von Augenzeugen und vom Hörensagen, Berichte aus Spitälern, offizielle Berichte; im Gerichtssaal von Versailles wurden »avec un soin religieux« Schmuckstücke, Brillen, Uhren und Schirme,88 auch die gebrochene »eiserne Achse sammt den Rädern« hinterlegt.89 Die Gründe des Unfalls wurden auf allen Ebenen gesucht – wissenschaftlich fassbare Ursache, menschliche Schuld, auch Gottes Ratschluss wurde in Betracht gezogen. Am 9. Mai begann das Gericht, Zeugen und Angeklagte zu befra-

83 | Le Siècle 12.5.1842; vgl. Der Landbote 26.5.1842; Berner Volksfreund 19.5.1842: 318; Appenzeller Zeitung 25.5.1842: 208; Guillemin 1842: VIf. 84 | Basler Zeitung 13.5.1842: 442; vgl. Le Siècle 10.5.1842. 85 | Le Siècle 9.5.1842; Luzerner Zeitung 20.5.1842: 172. 86 | Le Siècle 11.5.1842. 87 | Ebd. 10.5.1842. 88 | Ebd. 15.5.1842; vgl. Le Moniteur Universel 15.5.1842: 1119; Gazette de Lausanne 20.5.1842: 2; Le Moniteur Universel 1.12.1842: 2261. 89 | Appenzeller Zeitung 25.5.1842: 208.

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gen.90 Der Leiter der Zeitung »Le National«, welcher Zweifel an dessen Arbeitsweise äußerte, wurde gerichtlich verfolgt, was »Le Siècle« ziemlich scharf kritisierte.91 Die Tageszeitungen – damals die zentralen und effizientesten Medien – informierten, so gut sie konnten. Daneben scheinen Nachrichten an Wände angeschlagen worden zu sein. Der Frankfurter F. schreibt am 10. Mai an seine Eltern: Gestern Abend versammelten sich überall Tausende von Personen, um die Abendzeitungen zu erwarten. Als dieselben erschienen, war die Ungeduld so groß, daß Einige die Berichte vorlesen mußten, welche der Art abgefaßt sind, daß Alles in lautes Weinen ausbrach. Es befinden sich Wenige hier, die nicht einen Bekannten zu beklagen haben; denn dem letzten Maueranschlage zufolge, sind 1200 Personen verwundet und über 200 todt.92 Manches, was offenbar gerüchteweise kursierte, wird man im Rahmen des nachfolgenden Prozesses gegen Ende des Jahres offiziell erfahren.93 So etwa, dass die Mathieu Murray als eine störrische, kapriziöse, ja bösartige Maschine gegolten habe, die rückwärts fuhr, wenn sie vorwärts gehen sollte, und dass der Chefmechaniker Georges, der sie gut kannte und als einziger zu fahren wusste,94 sie als »la plus mauvaise machine qu’on pût imaginer« bezeichnet habe.95 »N’a-t-il pas dit: Le Murray me jouera un mauvais tour«?96 Am 11. Mai berichtet der »Moniteur«, die Académie des Sciences habe ihre Sitzung vom Montag, dem 9. unterbrochen, um sich Auszüge aus dem offiziellen Rapport der beiden Mineningenieure – in schmerzlichem Schweigen – anzuhören. Diese beinhalteten offenbar eine genaue Rekonstruktion des Unfallvorgangs – Abfahrtszeit in Versailles zwischen fünf und halb sechs, Beschreibung des Zuges, genaue Angaben über Ort, Ursache und Hergang des Unfalls: Die vordere Achse der vorgespannten vierrädrigen Lokomotive sei an beiden Enden gebrochen, sie habe noch am nächsten Morgen zwischen den Gleisen gelegen; gleichwohl sei die Maschine noch 30 Meter weitergefahren, 90 1119. 91 92 93 94 95 96

| Vgl. Le Siècle 13.5.1842; Le Moniteur Universel 14.5.1842: 1111, 15.5.1842: | | | | | |

Vgl. Le Siècle 13.5.1842. Berner Volksfreund 19.5.1842: 319. Vgl. Le Moniteur Universel 23.11.–11.12.1842. Vgl. ebd. 25.11.1842: 2235, 2.12.1842: 2267; Herring 2001: 154. Le Moniteur Universel 25.11.1842: 2234, 30.11.1842: 2257. Ebd. 25.11.1842: 2234.

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bevor sie umgefallen sei. Der ihr folgende Tender sei durch den Auffahrschock zerborsten. Es wurden die Schäden an der großen Sharpet-Roberts-Maschine und deren Tender beschrieben und wie brennender Koks in die Wagen geschleudert worden und rasch eine Feuersbrunst entstanden sei. Am Abend des Unfalltages habe man 41 meist unkenntliche Tote gezählt. Es sei »évident pour tout le monde que la petite locomotive à quatre roues placée en tête du convoi a été à l’origine du mal, et que l’usage de ces locomotives devrait être prohibé par l’administration.«97 Diesen Vorschlag begrüßten verschiedene Mitglieder der Akademie. Einer wandte sich zudem gegen das Zusammenstellen allzu langer Züge, die dann von mehr als einer Maschine gezogen werden müssten. Man kritisierte auch das Abschließen der Wagen – welches, wie die »Basler Zeitung« schrieb, andererseits dem »löblichen Zweck« diene, »Voreiligkeiten der Passagiere vorzubeugen, die [. . .] durch den geringsten Anlaß zu einem unzeitigen Entfliehen sich versuchen lassen«.98 Um die Frage, wer bzw. ob der Préfet de Police für die katastrophalen Folgen dieser Sicherheitsmaßnahme verantwortlich sei, entspann sich in der Folge eine Kontroverse.99 Der Prince de la Moskowa der Chambre des Pairs bezichtigte die Regierung in dieser Sache wie überhaupt der Intransparenz und strebte eine Untersuchung der eisenbahnpolizeilichen Reglemente sowie eine höhere Gewichtung der Sicherheit der Passagiere an. Im gegebenen Fall, sagte er, habe die Eisenbahnadministration kommerziellen, industriellen, strategischen und sogar politischen Gesichtspunkten mehr Interesse geschenkt als der öffentlichen Sicherheit.100 In der Chambre des Députés war es der Abgeordnete Dupin, der mehr Aufmerksamkeit für die Sicherheit der Passagiere forderte. Er thematisierte die Begehrlichkeit der Eisenbahngesellschaften, die zum Überladen von Zügen und zum riskanten Einsatz von Lokomotiven verleite, was unter den aktuellen Verhältnissen höchstens mit lächerlich milden Bußgeldern bestraft werden könne. Eine Regelung vom Typus des Schadenersatzes genüge der Situation nicht. Er forderte daher sehr hohe Geld-, gegebenenfalls sogar Körperstrafen für die Verantwortlichen. In der Schweizer Presse wurden die Bemühungen der Herren Dupin und de la Moskowa ausdrücklich ge-

97 | Ebd. 11.5.1842: 1073. 98 | Basler Zeitung 14.4.1842: 446; vgl. Le Moniteur Universel 19.5.1842: 1156; Journal de Genève 17.5.1842: 2. 99 | Vgl. Le Siècle 11.5.1842, 15.–17.5.1842; Le Moniteur Universel 11.5.1842: 1073, 16./17.1842: 1129. 100 | Sitzungen der Académie des Sciences vom 11., 17. und 18.5.1842, vgl. Le Moniteur Universel 12.5.1842: 1088, 18.5.1842: 1141f., 19.5.1842: 1156.

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würdigt, im eigenen Umfeld wurden sie wenig geschätzt.101 Dem Abgeordneten Dupin antwortete M. Teste, der Ministre des Travaux Publics, man kenne das Problem, man solle indessen nicht glauben, dass ihm einfach mit einem Gesetzesartikel beizukommen sei. Zudem gehe das alles nicht so schnell und sei schwieriger, als es sich der ehrenwerte Monsieur Dupin vorzustellen scheine. Der Minister war es nämlich gewesen, der im Februar 1842 den Kammern einen Gesetzesentwurf vorgelegt hatte, den man gerade zu beraten begonnen hatte102 – Frankreich war »in der Eisenbahn-Angelegenheit weit hinter seinen meisten Nachbarn« zurückgeblieben und sollte international konkurrenzfähig werden.103 Dazu passten die Nachricht von der Katastrophe von Versailles und M. Dupins Hinweise denkbar schlecht. Man habe in der Kammer, schreibt Guillemin nicht ohne Vorwurf, die Diskussion über das Eisenbahngesetz mit einem »calme imperturbable« fortgesetzt.104 Andererseits lobte der »Courrier francais«, »daß die Deputirtenkammer [. . .] damit dem Volke ein Vorbild gegeben habe, wie das Unglück aufzunemen sey«.105 Die Zeitungen berichteten milde über das Unglück, schreibt der Frankfurter F. nach Hause, »damit die Debatte wegen der Eisenbahn in der Deputirtenkammer keinen Aufschub erleide«.106 So ist denn die »loi relative à l’établissement des grandes lignes de chemin de fer en France« am 11. Juni 1842 erlassen worden. Bezüglich der Opfer und ihrer Angehörigen stellten sich Entschädigungsfragen. Ihre Majestät habe dem Polizeipräfekten 5.000 Francs zur Verteilung an die betroffenen Familien geschickt, schreibt mit Bezug auf »Le Globe« der »Moniteur«.107 Drei Schweizer Zeitungen berichten übereinstimmend: »An die Eisenbahnadministration werden von den Angehörigen der Verunglückten bedeutende Entschädigungsbegehren gestellt; drei Familien verlangen eine jede 50,000 Fr.«, die »Appenzeller Zeitung« fügt an: »Die Depurtirtenkammer hat 126 Millionen für neue Eisenbahnen dekretirt«.108 Da noch keine Unfall- oder Haftpflichtversicherung existierte, setzte jede Entschädigung einen Täter voraus. Fünf Mitarbeiter der Paris101 | Sitzung vom 10.5.1842, vgl. Le Moniteur Universel 11.5.1842: 1076; Le Siècle 11.5.1842; Basler Zeitung 14.5.1842: 446; Neue Zürcher Zeitung 16.5.1842: 231; Journal de Genève 17.5.1842: 2; Gazette de Lausanne 17.5.1842: 3. 102 | Vgl. Le Siècle 11.5.1842; Kirkaldy/Evans 1927: 77f.; Reden 1846a: VI. 103 | Reden 1846a: IV; Stürmer 1872: 127. Vgl. auch Fletcher/Taylor: 47f. 104 | Guillemin 1842: XIf. 105 | Basler Zeitung 13.5.1842: 442. 106 | Berner Volksfreund 19.5.1842: 319. 107 | Vgl. Le Moniteur Universel 14.5.1842: 1111. 108 | Neue Zürcher Zeitung 20.5.1842: 239; vgl. Basler Zeitung 18.5.1842: 458; Appenzeller Zeitung 25.5.1842: 208.

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Versailles-Linie standen denn auch ab 22. November 1842 wegen »Homicide et blessures involontaires, par imprudence, négligence et défaut de précautions« vor Gericht. Die auf Schadenersatz zwischen 300 und 3.000 Francs klagenden Parteien waren durch zum Teil prominente Anwälte vertreten – darunter Emmanuel Arago, der Sohn des Astronomen François Arago. Gegen sechzig Zeugen wurden einvernommen.109 Am 10. Dezember erklärt der »Tribunal de police correctionnelle« sämtliche Angeklagte für nicht schuldig, »und die Kläger in die Kosten verfällt«.110 Damit ist die Bahn für die weitere Entwicklung der französischen Eisenbahn wieder frei. Die Schweizer Presse kommentierte das Urteil wenig, scheint aber grundsätzlich damit einverstanden gewesen zu sein. Schon bald nach dem Unfall hatte sie »angesichts des blinden Drangs von Reisenden, sich beim geringsten Schrecken aus dem Zug zu stürzen«, Verständnis für das Abschließen der Wagen geäußert.111 Die »Appenzeller Zeitung« hatte zwar bestätigt, dass der Zug ungewöhnlich schnell gefahren sei – es war im Verlauf des Prozesses übereinstimmend von der vitesse »excessive«, »extrordinaire«, »extrème«,112 »inconcevable«113 berichtet worden, sie wurde auf rund 60 Stundenkilometer geschätzt – das könne man ihm aber »nicht zum Vorwurf machen«. Einzig und allein ein Achsenbruch, statuiert die »Appenzeller Zeitung« zehn Tage nach dem Unfall, habe das Unglück veranlasst, und Achsen zerbrächen bekanntlich leicht.114 Die anfangs immer betonte Überladung des Zuges wurde später nicht mehr erwähnt. Auch die Schweizer wollten ihre Eisenbahnen bauen. Die Tagespresse kümmerte sich mittlerweile auch um detaillierte Nachrichten über einzelne Schicksale. Am 11. Mai meldet »Le Siècle«, wer und in welchem Zustand in welchen Pariser Spitälern untergebracht sei, dass das Bein eines der Hauptinspektoren amputiert worden sei, dass sich ein Verwandter des berühmten Medizinprofessors Jean-Baptiste Bouillaud unter den Verletzten befinde, und dass M. Rebel, der Advokat, doch nicht tot sei. Auch die Frau des Arztes in der Rue du Regard, Mme Arnaud, sei, wie man mit Vergnügen erfahren habe, nicht (wie am Vortag gemeldet) gestorben.115 Der junge Mecha109 | Le Moniteur Universel 23.11.1842: 2224f., 1.12.1842: 2260, 2.12.1842: 2267; Poisson 1975: 2156. 110 | Basler Zeitung 14.12.1842: 2080. 111 | Journal de Genève 17.5.1842: 2. 112 | Le Moniteur Universel 23.11.1842: 2224f., 1.12.1842: 2260, 2.12.1842: 2267, 4.12.1842: 2275; Poisson 1975: 2156; Le Siècle 4.12.1842: 2275; Journal de Genève 6.12.1842: 1f. 113 | Le Moniteur Universel 23.11.1842: 2224. 114 | Appenzeller Zeitung 18.5.1842: 198. 115 | Vgl. Le Siècle 11.5.1842.

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niker Guerquin habe seinen Verstand dank der Hilfe der Wissenschaft wieder zurückerlangt.116 So geht es weiter und weiter. Eine wichtige Funktion der Tagespresse bestand ferner darin, den selbstlosen Einsatz für die Verunglückten zu bezeugen und zu honorieren. Die Genannten sind durchwegs Männer: Direktor Martin, der zwanzig Personen gerettet hat, der Arbeiter Michel Sébastien, der tapfere Unteroffizier, der seinen Namen nicht nennen wollte.117 Täglich werden Namen und Taten bisher Ungenannter nachgetragen – unter den Ärzten haben sich Dr. [A.] »Bérard, chirurgien en chef de l’hospice Necker« und Arnaud, Chirurg des 10. Bataillons der Nationalgarde besonders ausgezeichnet.118 Der Setzer Thévenot, früherer Militär, habe mehrere Menschen dem Tod entrissen, bis die Flammen es ihm verunmöglicht hätten.119 Auch andere Militärs haben sich durch besonderen Edelmut und Tragik hervorgetan.120 Dagegen verschwinden Frauen namenlos in den Flammen, im Kollektiv ihrer Ordensschwestern oder in den Häusern von Meudon, die sofort für die Verletzten geöffnet worden waren. Die Mitteilungen erscheinen im Rückblick, aber eben nur im Rückblick irrelevant: »Nous regrettons de ne pas avoir pu recueillir tous les noms qui méritent des éloges.«121 Von all diesen Nachrichten erreichen nur einzelne exemplarische und relevant erscheinende, wohl auch zufällig herausgegriffene, die Schweiz, darunter nur wenige Namen. Unter den Opfern wird, in verschiedener Schreibweise, hauptsächlich Dumont d’Urville genannt, das »Journal de Genève« berichtet etwa zusätzlich vom schrecklichen Tod des Lyoner Paares Peysselon, die »Gazette de Lausanne« von der durch ihre Brandwunden im Gesicht auf immer entstellte schöne junge Mlle. Colasse.122 Allmählich gewann man Klarheit über die Zahl der Opfer. Zunächst hatte man 150 Verletzte und 30 bis 40 Tote geschätzt,123 schließlich zählte man 39 Tote an der Unfallstelle, 18 an den Unfallfolgen Verstorbene und 107 Verletzte.124 Eine später gefundene Liste der Verstorbenen zählt 55 Tote.125 Auch die objektivierende Distanzierung vom traumatischen Geschehen konnte ordnend, sogar sinngebend wirken. Am Collège de France 116 117 118 119 120 121 122 123 124 125

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Vgl. ebd. 15.5.1842. Vgl. ebd. 11.5.1842. Ebd. 10.5.1842. Vgl. ebd. 10.5., 11.5., 13.5.1842; Le Moniteur Universel 10.5.1842: 1059. Vgl. Le Siècle 10.5.1842; Gazette de Lausanne 17.5.1842: 3. Le Siècle 9.5.1842; vgl. Le Moniteur Universel 1.12.1842: 2261. Vgl. Journal de Genève 17.5.1842: 2; Gazette de Lausanne 17.5.1842: 3. Vgl. Le Siècle 9.5.1842. Vgl. Le Moniteur Universel 2.12.1842: 2266f. Vgl. Poisson 1975: 2156.

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widmete François Magendie dem Einfluss der Wärme auf die tierische Ökonomie gerade ein ganzes Semester. Am 6. Mai hatte er eine Vorlesung über die Effekte hoher Temperaturen gehalten, wie sie Dampfmaschinen produzieren können. Dabei hätte er, berichtet die »Gazette des hôpitaux«, seinem Widerwillen Ausdruck gegeben, Versuchstiere einem derart grausamen Experiment zu unterwerfen – »et voilà que, par le plus horrible malheur qui soit peut-être jamais arrivé, cette effroyable expérience vient de se réaliser sur 60 à 70 personnes«.126 So widmete Magendie Abbildung 2: Grandville, J. J. 1843: Die kleinen Leiden des menschlichen Lebens. seine Vorlesung vom 11. Mai den Brandopfern des nur wenige Tage zurückliegenden Unglücks. Dieses habe ihm die traurige Bestätigung mancher seiner im Tierversuch gewonnenen Resultate geliefert. Persönlich habe er im Friedhof Montparnasse einige Überbleibsel der Opfer geholt, um sie seinen Hörern zu zeigen. Während der Lektion waren er selber und das Auditorium so sehr bewegt, dass der Gelehrte nach der Demonstration nicht mehr weiter über seine Forschung berichten konnte. Von 31 Leichen hätten nur zwei ihre unteren Gliedmaßen behalten und nur zwei ihren Kopf – darunter Dumont d’Urville, dessen Schädel eine wunderbare Härte aufgewiesen habe. Die Haut, wo sie nicht verkohlt gewesen sei, habe sich durchwegs zusammengezogen, der Körper einer Frau sei durch seine Haut härter als durch ein Korsett zusammengepresst worden. Die inneren Organe seien, je nach der Art des Kontakts mit den Flammen, verkohlt oder gekocht gewesen. Die Gehirne hätten von allen Organen am wenigsten Feuchtigkeit verloren. Die Geschlechtsteile fast aller Männer seien vollständig verschwunden. Die schlimmsten Feuersbrünste und Scheiterhaufen aller Zeiten hätten nicht in einem derartigen Ausmaß solch fürchterliche Läsionen hervorgerufen. 126 | Magendie 1842.

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Man habe, fügt der anonyme Hörer hinzu, in dieser Vorlesung in gewissem Sinne etwas von dem Entsetzen miterlebt, durch welches die Opfer gegangen sein müssten. Magendie plane weitere Untersuchungen; darüber werde später berichtet werden.127 Am Freitag, den 13. Mai, um 10 Uhr früh aber sollte in sämtlichen Kirchen der Hauptstadt eine Messe den armen Seelen der Toten Licht und Ruhe spenden und die Lebenden trösten.128 Was die Rolle der Medien betrifft, konnte man aus der Ostschweiz eine Kritik vernehmen, die im französischen Sprachbereich so nicht laut wird: Es passiere, schreibt die »Thurgauer Zeitung«, verhältnismäßig viel mehr bei Fuhrwerk- als bei Eisenbahnunfällen, davon rede aber kaum jemand, »während jede auf einer Eisenbahn vorkommende menschliche Beschädigung ein Weltereigniß ist«.129 Und die »Appenzeller Zeitung« sekundiert: »Die durch gewöhnliche Fuhrwerke veranlaßten Unglücksfälle gelangen selten zur Publizität, während diejenigen auf den Eisenbahnen durch alle Zeitungen ausposaunt werden«.130 Ähnlich, aus zeitlicher Distanz, Bernhard Püschel: »Während tödliche Unfälle auf unseren Straßen [. . .] kaum Beachtung in der Öffentlichkeit finden [. . .], machen Eisenbahnunfälle fast immer Schlagzeilen [. . .]. Das liegt vielleicht [. . .] auch an der Sensationslust der Menschen«.131 Erich Preuss dagegen ist verständnisvoller: Das besondere Interesse der Öffentlichkeit für Eisenbahnunfälle entspringe der Sorge der Bürger um ihre Reisesicherheit. Er versteht sein Buch daher nicht als »Sensationsbericht«, sondern als Beitrag zu einem »Bemühen um höchste Sicherheit«.132 Damit kommen wir zur sicherheits- und versicherungsgeschichtlichen Rezeption der Ereignisse. Statistik ist die wohl zentrale Möglichkeit, das Paradigma des reibungslosen Ablaufs aufrechtzuerhalten. Das aus dem Jenseits der Vernunft Hereingebrochene, Nichtintegrierbare wird dabei elegant aus der Welt herausgerechnet.

127 | Vgl. Appenzeller Zeitung 25.5.1842: 208; Journal de Genève 26.5.1842: 1, datiert Paris, 21. Mai. 128 | Vgl. Le Moniteur Universel 13.5.1842: 1097; Guillemin 1842: VIIIf.; Gazette de Lausanne 17.5.1842: 3. 129 | Thurgauer Zeitung 24.5.1842: 2. 130 | Appenzeller Zeitung 25.5.1842: 208. 131 | Püschel 1977: 5. 132 | Preuss 1991: 6.

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Der reibungslose Ablauf Tatsächlich bestand ein großes, aus verschiedenen Quellen gespeistes Interesse daran, den Unfall nicht als einen Bruch mit dem neuen Fortschrittskurs auffassen zu müssen. Diesem Interesse diente in der Eisenbahngeschichte zum einen die Isolierung und Marginalisierung des Unfalls in seiner besonderen Qualität und also seiner Einmaligkeit, die sich einer sprachlichen Erfassung entzieht. So heißt es über die Katastrophe von Versailles, »es sey dieß ein Vorfall, dem sich in der Geschichte des Eisenbahnwesens nichts ähnliches an die Seite setzen lasse und dessen Wiederholung wohl auch nicht mehr zu befürchten sey«.133 »Eisenbahnunglück! Ein furchtbares Wort!«, ruft Fürst aus – für ihn sind Unfälle »höchst bedauerliche Ereignisse«.134 Dem Interesse, sich durch den Unfall nicht von seiner Linie abbringen zu lassen, dient zweitens die Eingliederung des Unfalls in die Geschichte der Sicherheitstechnik. Der Unfall wird dabei zu einer Station auf dem Weg zur sicheren Bahn. »Une catastrophe [. . .] bénéfique« überschreiben die Autoren von »Le temps des chemins de fer en France« ihren Bericht über das Unglück von Meudon.135 Drittens kann die Möglichkeit eines Unfalls in romantisch-abenteuerlicher Weise sozusagen als mehr oder weniger scharfe Kurve betrachtet werden, als heftiges Erlebnis eines ebenso ängstlich wie freudig erwarteten Kontrollverlusts mit unbekannten Folgen. In diesem Sinne wurde in der französischen Akademie der Wissenschaften offenbar – zum Missfallen des Freiherrn von Reden – gescherzt, »daß die Hauptursache der geringen Zahl der Unfälle auf deutschen Schienenwegen in der [. . .] Trägheit und Beschränktheit des deutschen Geistes beruhe. Die Deutschen wären des esprits épais«.136 Wer so rede, sei ein »Trümmer einer vergangenen Zeit, [. . .] wo der Franzose andere Völker nur durch den verzerrenden Hohlspiegel seines soldatischen Uebermuthes sah«, kontert die »Augsburger Allgemeine Zeitung«.137 Insgesamt pflegt die Eisenbahngeschichte das Phantasma des reibungslosen voraussehbaren Ablaufs – eine der zentralen Fiktionen der Technikgeschichte, wenn nicht der Moderne –, hat doch schon im griechischen Mythos Prometheus, der Schöpfer und Lehrer der Menschen, seinen Schützlingen die téchn¯e gebracht, um sie aus ihrer Ohnmacht und allzu engen Abhängigkeit von der Willkür der Götter zu erlösen. Verschränkt mit der Frage nach Schuld und Ursache beginnt – im Rah133 134 135 136 137

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Basler Zeitung 13.5.1842: 442. Fürst 1918: 414. Lamming/Marseille 1986: 40f. Reden 1846b: 538. Augsburger Allgemeine Zeitung 11.4.1846, Beilage 101: 802.

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men einer Kultur, welche sich Sicherheit von der Beherrschung der Natur erhofft – in der Folge eines solchen Traumas die Suche nach Möglichkeiten, dergleichen künftig zu vermeiden. Man verlangte technisch-organisatorische Sicherheit auch und gerade beim Eisenbahnfahren. Doch dem anfänglichen Wunsch des Volkes, die Eisenbahnen zu zerstören, wollte die Vernunft nicht folgen. Gewiss ertappe man sich dabei, die teuflische Erfindung zu verfluchen, welche Tausende von Männern, Frauen und Kindern der Gnade ungezügelter Maschinen ausliefere, schreibt die »Gazette de Lausanne«. Deswegen würden besonnene Männer nun aber nicht den Gebrauch der Eisenbahnen verbieten. Vielmehr müsse die gewaltige Kraft des Dampfes vollends zum Gehorsam gezwungen werden. Über das Schicksal der Unglücklichen zu weinen, werde nicht genügen.138 Der Ministre des Travaux Publics, Monsieur Teste, tat, was zu tun war: Er leitete den offiziellen Rapport an die Kommission für Dampfmaschinen weiter. Diese sollte vorschlagen, welche neuen Sicherheitsvorschriften den bereits bestehenden beizufügen seien, und kundtun, welche Maßnahmen provisorisch sofort ergriffen werden sollten. Die bislang für Lokomotiven geltenden Sicherheitsvorschriften waren auf Schiffe zugeschnitten und bezogen sich daher praktisch ausschließlich auf das bei Dampfmaschinen meistgefürchtete Ereignis, die Explosion der Heizkessel.139 Auch beim Unglück von Meudon war man zunächst irrtümlich von einer Explosion ausgegangen.140 Bereits am 16./17. Mai wurden die neuen Maßnahmen publiziert: Verbot der vierrädrigen Lokomotiven, Einschaltwagen zwischen Lokomotive und Passagierwagen, kein Abschließen der Türen mehr, regelmäßige Protokolle der Eisenbahngesellschaften über den Zustand ihrer Lokomotiven, namentlich auch der Achsen, und auf der abfallenden Strecke von Versailles nach Paris eine Geschwindigkeitsbeschränkung auf 36 km/h. Im Übrigen beauftragte der Minister die Dampfmaschinenkommission mit Recherchen über weitere Fragen und rief eine zusätzliche Kommission ins Leben. Viel habe all das Commissionenwesen nicht gebracht, schrieb dazu abfällig die »Augsburger Allgemeine Zeitung«.141 Die Eisenbahngesellschaft selbst steuerte eine neue Signalpfeife bei.142 Am 28. Mai fasste »Le Siècle« nochmals zusammen, was die Akademie der Wissenschaften in Sachen Unfallprävention erarbeitet hat138 | Vgl. Gazette de Lausanne 17.5.1842: 3. 139 | Vgl. Le Moniteur Universel 12.5.1842: 1085, 13.5.1842: 1097, 18.5.1842: 1141f. 140 | Vgl. ebd. 10.5.1842: 1059. 141 | Vgl. ebd. 16./17.5.1842: 1129f.; Le Siècle 16./17.5.1842, 29.5.1842; Neue Zürcher Zeitung 25.5.1842: 247; Augsburger Allgemeine Zeitung 11.4.1846, Beilage 101: 802. 142 | Vgl. Le Siècle 16./17.5.1842; s. auch Basler Zeitung 19.5.1842: 461.

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te.143 Von allen Seiten seien mehr oder weniger ingeniöse Vorschläge gekommen, deren Aufzählung allein schon viele Spalten füllen würde; zwei besonders brauchbare stammten von englischen Experten, welche François Arago, Secrétaire Perpétuel de l’Académie des Sciences – analysiert habe. Im »Landboten« erfahren wir Näheres über die Sitzung der Akademie vom 23. Mai: Ein gewisser Boquillion hat unter Bezug auf die gebrochene Achse den Glauben an die Solidität des Eisens auf die Dauer erschüttert. [. . .] Ein Anderer will [. . .] eine Art Riesenmatratze zwischen das Lokomotiv und die Wagen aufthürmen [. . .]. Der Jngenieur Jouffroi schlägt vor, im Augenblick der Gefahr alle Räder des ganzen Wagenzuges zu spannen.144 Auffällig einhellig habe man sich auf die Ablehnung der vierrädrigen Lokomotiven geeinigt. Die Auffassung der Mineningenieure, dass die Katastrophe dadurch verschärft worden sei, dass dem Zug zwei Lokomotiven vorgespannt gewesen seien und zwischengeschaltete Schutzwagen gefehlt hätten, werde von den »savans ingénieurs Cordier, Elie Debaumont, etc.«, dem Publikum und der Regierung geteilt.145 Ausführlich berichtet »Le Siècle« über das »plaidoyer« von AlbertAuguste Perdonnet vor der Akademie. Perdonnet fand keinen Makel an seiner Eisenbahngesellschaft – er war der Ingenieur, der den Bau der Bahn geleitet und am Unglückstag die Abfahrten überwacht hatte.146 Er sagte unter anderem aus, »daß die zweiachsigen Maschinen genauso sicher wären wie die dreiachsigen«, fügte indessen bei, dass unter finanziellen Gesichtspunkten die dreiachsigen gleichwohl vorzuziehen seien. Zur Frage, ob man besser in kleineren Zügen mit nur einer Maschine führe, meinte er, »daß der längere Zug mehr zu empfehlen wäre als mehrere kleine Züge«, denn diese müssten ja beinah im Viertelstundentakt fahren, und damit würde man Zusammenstöße riskieren.147 Perdonnet trat auch später, im Prozess, als konsequenter Beschöniger und Leugner aller Schuld seiner Bahn hervor.148 »Le Siècle« findet seine Ausführungen »pas trop rassurantes« und allzusehr von finanziellen Überlegungen bestimmt – wer zwänge denn die Eisenbahngesellschaften, alle Viertelstunde zu fahren? – und bemerkt 143 | Vgl. Le Siècle 28.5.1842. 144 | Der Landbote 9.6.1842: 3. 145 | Vgl. Le Siècle 28.5.1842. 146 | Vgl. ebd. 28.5.1842; Le Moniteur Universel 11.5.1842: 1073, 2.12.1842: 2267; Gazette de Lausanne 17.5.1842: 3. 147 | Zit. nach Püschel 1977: 13. 148 | Vgl. Le Moniteur Universel 25.5.1842: 2234f., 2.12.1842: 2267, 4.12.1842: 2274.

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lakonisch, es scheine mithin »nicht unvernünftig, wenn man, bevor man die Wagons bestimmter Unternehmer besteige, sein Testament mache.«149 Püschels »Unfallchronik« von 1977 beurteilt Perdonnets Ausführungen demgegenüber als sachlich und fügt bei: »Er sagte weiter, daß man nach dem schrecklichen Ereignis vom 8. Mai 1842 nun nicht sein Testament machen müßte, wenn man wieder in einen Zug einsteigen würde«.150 Denn in einem Punkt war man sich in allen maßgebenden Kreisen fraglos einig: dass die Katastrophe von Meudon als Un- und Zwischenfall, als einmaliges Ereignis, als »catastrophe, heureusement sans exemple« gelten müsse151 und dass das Projekt Eisenbahn weitergeführt werde.152 »Am 14. haben die Fahrten auf der Versailler-Eisenbahn wieder begonnen. Alle möglichen Vorsichtsmaßregeln sind jetzt getroffen«, schreibt die »Appenzeller Zeitung«.153 Indem die Sicherheitstechnik mit der Kunst der Geburtshilfe und der Kriegskunst verglichen wird, werden Unfälle etwa zu Geburtswehen, die zum Hervorbringen der perfekten Eisenbahn gehören. »Noch niemals wurde eine Erfindung ohne Opfer gemacht. Die Zivilisation gebiert so gut in Wehen und Schmerzen als die Natur«, schreibt die »Appenzeller Zeitung«.154 Wie der Tod im Dienste des Vaterlands – dessen Ähnlichkeit mit dem Tod im Kindbett ja oft betont wurde – wird der Unfalltod damit in den Dienst des Fortschritts gestellt. Verunfallen ist ein Fallen für den Fortschritt. Der Unfall ist, so besehen, ein legitimes Kind des Kriegs, des Vaters aller Dinge.155 Der »Constitutionnel«, weiß die »Basler Zeitung«, bezeichne den Unfall als »eine Schlacht, geliefert von der Jndustrie jener furchtbaren und dem Menschengeiste noch nicht genugsam unterworfenen Macht, dem Dampfe. Wie aber fast jeder Sieg erst mit Blut erkauft werden müsse, so werde auch diese Niederlage ihre Früchte tragen«.156 Alphonse Lamartine, Dichter und Politiker, schrieb am Tag nach dem Unfall von Meudon, auf dem Schlachtfeld der Zivilisation würden viele für den Fortschritt aller sterben – »Plaignons-les, plaignons-nous et

149 | Le Siècle 28.5.1842. 150 | Püschel 1977: 13. 151 | Le Moniteur Universel 14.5.1842: 1111. 152 | Vgl. Basler Zeitung 13.5.1842: 442. 153 | Appenzeller Zeitung 25.5.1842: 208; vgl. Neue Zürcher Zeitung 20.5.1842: 239; Le Siècle 14.5.1842. 154 | Appenzeller Zeitung 18.5.1842: 198. 155 | Vgl. Fischer-Homberger 2005: 69. 156 | Basler Zeitung 14.5.1842: 446.

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marchons«.157 Und Preuss fasst zusammen: »Jeder Eisenbahnunfall trug ein Stück zum großen [. . .] Sicherheitsnetz bei«.158 Kriegsmüde schrieb hingegen der Eisenbahnhistoriograph Arthur Fürst 1918: »Die auf den Kampffeldern dahinsinken, sind ausgezogen, um ihr Leben fürs Vaterland hinzugeben, die aber neben dem Eisenbahndamm blutend auf dem Feld liegen, [. . .] strebten freudig und hoffnungsvoll einem fernen Ziel entgegen, da griff ihnen der Tod jäh ans Herz.« Glücklicherweise aber denke aufgrund der immer weiter verbesserten Eisenbahnsicherung eigentlich niemand mehr ans Sterben, wenn er in den Zug steige. Seine Ausführung über die Unfälle ist Teil eines Kapitels über das Signalwesen (»Die schützenden Arme«). »Der bekannte Eisenbahntechniker Ludwig Ritter von Stockert hat auf diesem Gebiet durch sein höchst lehrreiches Buch ›Eisenbahnunfälle‹ trefflich vorgearbeitet«, schreibt Fürst.159 Ludwig Ritter von Stockert, Professor an der k. k. technischen Hochschule in Wien, versteht seine »Eisenbahnunfälle« (1913) als einen »Beitrag zur Eisenbahnbetriebslehre«. Einleitend vergleicht er den Unfall mit einer Krankheit – verwandelt ihn also in etwas, was zum Leben dazugehört: Die gründliche Besserung der Gesundheitsverhältnisse eines großen Gemeinwesens wird gewöhnlich erst dann herbeigeführt, wenn über die Verbreitung der Krankheitserscheinungen, über ihre bedenklichsten Formen und über die Zahl der damit im Zusammenhange stehenden Todesfälle möglichst genaue Kenntnis gewonnen ist. Es sollte in diesem Sinne »zum Nutzen des Staates nicht minder, wie der Allgemeinheit« Aufklärung geboten werden, »in welchem Maße die Benützer der öffentlichen Verkehrsanlagen in ihrer persönlichen Sicherheit gefährdet sind im Vergleiche zu den Gefahren, die jedes Volk durch Krankheit, Krieg und Verbrechen bedrohen. Die Kenntnis der [. . .] Anzahl der unvermeidlichen Opfer des Eisenbahnbetriebes wird ebensowenig von der Benützung dieser unentbehrlichen Verkehrsmittel abhalten, wie das Bewußtsein, daß der Verkehr in den Straßen einer Großstadt hundert Gefahren birgt, dazu führen wird, daß die Häuser nicht mehr verlassen werden«.160 Schon früh mischt sich in den Sicherheitsdiskurs fast unmerklich das Wissen um Wahrscheinlichkeiten. 157 158 159 160

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Zit. nach Lamming/Marseille 1986: 41. Preuss 1991: 9f.; vgl. Püschel 1977: 5. Alle Zitate: Fürst 1918: 414. Alle Zitate: Stockert 1913: 1f.

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Auch Louis-René Villermé sprach seine und seines Freundes statistische Vernunft an, als er diesem schrieb, die Nachricht vom Unfall zu Versailles habe ihn zwar unglaublich mitgenommen, aber kein vernünftiger Mensch werde deswegen nun nicht mehr mit Eisenbahnen reisen.161 Das Rechnen in Wahrscheinlichkeiten muss Villermé bereits als Kriegschirurg geläufig gewesen sein, vielleicht hatte es ihm sogar geholfen, angesichts von Tausenden von Toten und Verwundeten Ruhe zu bewahren. Mittlerweile war er – dergleichen Überlegungen auf das zivile Leben übertragend – als Hygieniker zu einer zentralen Figur der modernen Statistik geworden.162 Sein jüngerer Freund aber, der Adressat des Briefes, war Lambert Adolphe Jacques Quételet, der als Begründer der modernen Sozialstatistik gilt. Die Bahngesellschaften befleißigten sich ihrerseits, ihre Sicherheitsversprechen statistisch zu untermauern und dies auch publik zu machen. Die »Appenzeller Zeitung« bringt genaue Zahlen: Auf der Pariser–Versailler Eisenbahn sind in den 5 Jahren seit ihrer Eröffnung 9.064.364 Personen gefahren worden, und während dieser ganzen Zeit ist kein Fall vorgekommen, der Jemand das Leben gekostet oder eine bedeutende Verletzung sich zugezogen hätte. Hingegen wurden einzig in den Straßen von Paris von 1834 bis 1840 durch gewöhnliche Fuhrwerke 2193 Personen verwundet und 95 Personen getödtet.163 Die Statistik betrifft allerdings offenbar nicht wie behauptet die Paris-Versailles-Bahn, sondern die bereits 1837 eröffnete Paris-Saint-Germain-Linie. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts führten die Eisenbahnunfälle dazu, dass sich der Mensch zunehmend als eine mit Risiken behaftete Verkörperung von Wahrscheinlichkeiten erlebte. Denn »das Interesse an der Sicherheit des Eisenbahn-Betriebes ist fast für Jedermann ein persönliches«.164 An die Stelle der Utopie, beim Gebrauch der Dampfkraft eines Tages nicht mehr den geringsten Irrtum zu begehen und alles berechnen und voraussehen zu können, die sich noch im Mai 1842 in der »Gazette de Lausanne« findet, trat ein Wissen um die Unwahrscheinlichkeit, höchstpersönlich Opfer eines Eisenbahnunfalls zu werden. Dieses Wissen konnte ja tatsächlich ein wenig beruhigen.165 161 162 163 164 165

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Vgl. Brief vom 24.5.1842, in: Ackerknecht 1952: 327. Vgl. Ackerknecht 1952: 327 und ders. 1967: 153. Appenzeller Zeitung 25.5.1842: 208; vgl. Thurgauer Zeitung 24.5.1842: 2. Weber 1876: 3. Vgl. Gazette de Lausanne 24.5.1842: 2.

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Sukzessive wurde das Wahrscheinlichkeitsdenken weiterentwickelt und präzisiert. 1848 wird Adolphe Quételet »Du système social et des lois qui le régissent« publizieren – die frühe klassische Beschreibung der Gesellschaft als probabilistisches System. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts werden in England und Deutschland Haftpflichtund Unfallversicherungen eingeführt, die ganz konkret im Eisenbahnunfall wurzeln – sie werden das individuelle Risikobewusstsein durch Geld nähren und ökonomisch befestigen.166 Damit konnten diverse psycho-physische Leiden – angefangen mit der sogenannten RailwaySpine – als Folgeerscheinungen von Eisenbahnunfällen zu Entschädigungen berechtigen.167 Die Unfallversicherung habe das probabilistische Denken verallgemeinert und den Unfall normalisiert, schreibt Wolfgang Schäffner, und die Versicherten habe sie zu Trägern von Wahrscheinlichkeiten gemacht, indem sie das Risiko ins Individuum hinein verlegten.168 So viel zur Rolle der Eisenbahn für die Verwaltung von Sicherheit und Unfall und für den berechnenden Umgang mit dem Möglichen. Vermutlich hat der Unfall von Meudon davon einiges in Gang gesetzt, dies wird aber im Rahmen der Eisenbahngeschichte wenig aktenkundig.169 Er hat sich wohl auch nicht »sehr nachtheilig auf das Fortschreiten der Eisenbahnen in Frankreich« ausgewirkt, wie es der deutsche Freiherr von Reden einige Jahre später erkannt haben wollte.170 Da jener Unfall weder einen bedeutenden Anfang noch einen besonderen Endpunkt markieren sollte und zu einem historischen Aufbruch ins Eisenbahnzeitalter denkbar schlecht passte, ist er zum marginalen, kaum geschichtsfähigen historischen Ereignis geworden. Die Gedenkkapelle – die Notre-Dame des Flammes zu Meudon –, die dem Andenken des 20-jährigen Malers Auguste Lemarié gewidmet war und in welcher noch rund 20 Jahre lang jeden 8. Mai Gedächtnismessen abgehalten wurden, ist 1960 abgerissen worden.171 So ist »le plus tragique évènement qui ait désolé la terre«, wie es Guillemin nannte,172 weitgehend vergessen worden. Manchmal allerdings stabilisiert sich die Eisenbahngeschichte nicht in der sachlichen oder abspaltenden Distanz vom Schock, nicht im technischen Sicherheits- und auch nicht im Versicherungsdiskurs. Sie 166 | Vgl. Weber 1855; Schäffner 2001: 84 und 89; Micale/Lerner 2001: 12; Harrington 2001: 34; Eghigian 2001: 105. 167 | Vgl. Fischer-Homberger 1975: 16–101; Micale/Lerner 2001: 11f. 168 | Vgl. Schäffner 2001. 169 | Vgl. allerdings Breuer 1988: Nr. 350, 760, 763, 2309, 2667, 2677. 170 | Reden 1846b: 542. 171 | Vgl. Poisson 1975: 2159, 2161; Le Siècle 16./17.5.1842. 172 | Guillemin 1842: IV.

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erzählt dann auf romantisierende Art vom Gruseln angesichts der Gefahren von Hochdruckkessel, rasender Geschwindigkeit, Entgleisung und Zusammenstoß. Der konkrete Unfall indessen bleibt gewöhnlich außerhalb ihres Erlebnishorizonts.173 Schon die gewaltige Erscheinung der Dampfeisenbahn wirkte – in einer Zeit, für welche ›Innovation‹ noch keineswegs Routine war – vielfach schockartig. Mit ihrer vielpferdestarken Kraft, ihrer sozusagen explosiven Expansion und dem jenseitigen Gefühl, sich in rasendem Flug fortbewegen zu können, welches sie vermittelte, setzte sie manchen altgewohnten Umgang mit der Welt plötzlich außer Kraft. Hartmut Rosa bemerkt in diesem Sinne, dass die Veränderungen des Zeitund Raumerlebens, des In-der-Welt-Seins überhaupt, »seit der industriellen Revolution ›unaufhörlich mit der Gewalt eines Unfalls‹ auf die Subjekte herein[brechen]«.174 Seinem weiten Traumabegriff entspricht das Einkalkulieren des Unfalls ins alltägliche Leben. Ob ein Ereignis im modernen Sinne psychotraumatisch wirkt, bleibt aber ebensosehr vom Umgang mit dem Geschehenen abhängig wie von seiner Heftigkeit. So erscheint Heinrich Heine 1843 zutiefst erschüttert, aber nicht traumatisiert: Die Eröffnung der beiden neuen Eisenbahnen, wovon die eine nach Orleans, die andere nach Rouen führt, verursacht hier eine Erschütterung, die jeder mitempfindet, wenn er nicht etwa auf einem sozialen Isolierschemel steht. Die ganze Bevölkerung von Paris bildet in diesem Augenblick gleichsam eine Kette, wo einer dem andern den elektrischen Schlag mitteilt. Während aber die große Menge verdutzt und betäubt die äußere Erscheinung der großen Bewegungsmächte anstarrt, erfaßt den Denker ein unheimliches Grauen, wie wir es immer empfinden, wenn das Ungeheuerste, das Unerhörteste geschieht, dessen Folgen unabsehbar und unberechenbar sind. Wir merken bloß, daß unsre ganze Existenz in neue Gleise fortgerissen, fortgeschleudert wird, daß neue Verhältnisse, Freuden und Drangsale uns erwarten, und das Unbekannte übt seinen schauerlichen Reiz, verlockend und zugleich beängstigend.175 Ähnlich schreibt Jeremias Gotthelf 1847: »Jacob [. . .] fürchtete sich vor der dämonischen Macht, welche die Menschen dahinführt, akkurat 173 | Vgl. Große 1983. 174 | Rosa 2005: 79. 175 | Heine 1984: 448f.

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wie der Teufel«, und »mit Beben [. . .] setzte sich Jacob [. . .] auf die Eisenbahn [. . .]. Jndessen dauerte das Bangen nicht lange, machte dem Behagen Platz und dem Wohlgefallen, Städte und Dörfer an sich vorbeifliegen [. . .] zu sehen«.176 Vielfach griff man im Bestreben, das Novum, das »Ungeheuerste, das Unerhörteste« in die alte Kultur zu integrieren, zu Sagen- und Märchenbildern, zu Bildern aus Religion, Mythologie, allenfalls auch zu Imaginationen von versunkenen oder kommenden Zeiten, wie das für die Romantik charakteristisch ist. Man schilderte die Eisenbahn als einen »Herkules in der Wiege, der die Völker erlösen wird«,177 als »Apostel des Friedens«,178 als »geflügelte Maschine«,179 als »Messias«, als Engelsfigur, die »ein Evangelium besserer Zukunft auf ihren eisernen Flügeln zu tragen« scheine180 – das Flügelrad symbolisierte gleichzeitig die Eisenbahn und den nicht aufzuhaltenden Fortschritt.181 Aussagen dagegen, die der Eisenbahn kritisch oder ablehnend gegenüberstehen, legen die Eisenbahnhistoriker gerne in den Mund von Menschen, welche sie als rückständig identifizieren. Ein namenloser Geistlicher war es, der Murdocks Dampfwagenmodell für den »leibhaftigen Teufel« gehalten haben und daher »vor Entsetzen fast gestorben« sein soll;182 Bauern waren es, die Stephensons Ingenieure mit Heugabeln bei ihrer Arbeit auf dem Gelände behinderten183 – die etwas vornehmer opponierenden Großgrundbesitzer blieben in diesem Zusammenhang ungeschoren184 – und Frauen waren es, die sich 1801 angesichts der Trevithick’schen Lokomotive geängstigt zeigten, während die Männer voller Erwartung waren.185 Kurz nach dem Zweiten Weltkrieg jedoch rehabilitierte der Lötschbergbahndirektor Friedrich August Volmar »die mitleidig belächelten Poeten und Philosophen, unter denen es offenbar je und je etliche gegeben, die seherischer waren als die sachverständigsten Techniker«. Seine kleine, unschuldig daherkommende Eisenbahngeschichte zieht eine historische Linie vom »Siegeslauf« der Maschine, welcher 1830 mit der Eröffnung der ersten großen Eisenbahn begann, zur apokalyptisch drohenden »Kriegsmaschinerie«.186 Entsprechend gehört der 176 177 178 179 180 181 182 183 184 185 186

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Gotthelf 1847: 268 und 271. Friedrich List zit. nach Volmar 1947: 12f. Eckenstein 1841: 18 und 85–87. Weber 1907: 219. Weber 1882: 122; vgl. Fischer-Homberger 1972: 300. Vgl. Kunz 2001; Weber 1882; Schweiger-Lerchenfeld 1894. Fürst 1918: 26; vgl. Smiles 1873: 66f. Vgl. Steiner 1880: 115. Vgl. Roth 2005: 52f. Schweiger-Lerchenfeld 1894: 10. Alle Zitate: Volmar 1947: 7–9.

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fortschrittskritische Volmar zu den nicht eben zahlreichen Eisenbahnhistorikern, die auch von Unfällen berichten. Er widmet den Betriebsunfällen – die er weder funktionalisiert noch heroisiert – einen eigenen Abschnitt. Den Unfall von Meudon freilich erwähnt er nicht.187 Die finstere Seite der fremdgesteuerten und reibungslosen Schienenfahrt zeichnet der amerikanische Autor Nathaniel Hawthorne. Seine Kurzgeschichte »The Celestial Railroad« (1843) – eine Paraphrase zu John Bunyans »The Pilgrim’s Progress« (1678) – schildert die Eisenbahn als teuflische Verführung, sich die läuternde Pilgerschaft durch das Leben allzu bequem zu machen. Sie erzählt von der Fahrt des Autors auf einer neuen Linie, die rasch und direkt von der »City of Destruction« zur »Celestial City« führen soll. Hawthorne reist in Begleitung des äußerst angenehmen Herrn Smooth-it-away, Direktor und einer der Hauptaktionäre der Eisenbahngesellschaft. Den mit der Maschine verschmolzenen Lokomotivführer identifiziert er als Teufel Apollyon, »Verderber« aus der Apokalypse des Johannes, König von höllischen Quälgeistern, die, »wie Pferde zur Schlacht gerüstet«, einer frühen Eisenbahn nicht unähnlich sind. Dass diese Bahn nicht, wie verheißen, in den Himmel führt, da der Herr des Himmels für ihren Bau keine Konzession erteilt hat, ist den Passagieren anfangs keineswegs klar. Im weiteren Verlauf der Reise tritt ein Unfall in den Bereich des Möglichen. Man fährt nämlich durch das »Dunkle Tal«, wo man, wäre der Zug entgleist – »a catastrophe, it is whispered, by no means unprecedented« – in den bodenlosen Abgrund gestürzt wäre.188 Es ist möglich, dass sich das Geflüster von der Katastrophe auf den Unfall von Versailles bezieht. Das Motiv der glatten Fahrt ins Verhängnis hat im 20. Jahrhundert v. a. Oswald Spengler systematisiert. Er hat 1931 als »Beitrag zu einer Philosophie des Lebens« einen dünnen Band »Der Mensch und die Technik« herausgebracht, welcher noch im selben Jahr nachgedruckt werden musste. Darin begreift er den unvermeidlichen Untergang unserer »Maschinenkultur« an ihrer eigenen Schöpfung als »Vollendung«, als fünften Akt der schicksalhaften Tragödie des nordischen, weißen, faustischen Menschen, also Mannes. Im 19. Jahrhundert sei diese Kultur »mit ihren Fabrikstädten, Eisenbahnen und Dampfschiffen« »ins Riesenhafte« gewachsen und damit zum Problem geworden, und sie werde schließlich »zertrümmert und vergessen sein – Eisenbahnen und Dampfschiffe so gut wie einst die Römerstraßen und die chinesische Mauer«. Der Untergangspathos Spenglers steht dem Aufstiegsmythos des 19. Jahrhunderts in nichts nach: 187 | Vgl. ebd.: 86–89. 188 | Alle Zitate: Hawthorne 1946: 211f., 214, 217f., 224.

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»Der gestürzte Sieger wird von dem rasenden Gespann zu Tode geschleift«. »Der Frevel und Sturz des faustischen Menschen aber ist größer als alles, was Äschylus und Shakespeare je geschaut haben«.189 Unfall und reibungsloser Ablauf stellen sich einem zivilisationspessimistischen oder zumindest -kritischen Blick nicht als Gegensätze dar. Blind, aber zielsicher sieht Spengler den technischen Fortschritt auf Tod und Zerstörung zurasen, wiewohl das gerade nicht das anvisierte Ziel der Reise gewesen war. Die gesamte Entwicklung der Technik zeigt sich diesem Blick als glatte Entgleisung, als Fahrt im falschen Zug – tatsächlich wirkt sie ja wie die gespenstische Emergenz dessen, was die Technik eigentlich zu eliminieren gehofft hatte.

Epilog: Paradigma unfallfreie Eisenbahn? Das Phantasma vom reibungslosen und vorhersehbaren Ablauf, in welchem der Unfall eigentlich keinen Platz hat, speist sich aus verschiedenen Quellen. Da sind zunächst die psychischen Kräfte, die oft verkürzend als historisch irrelevant betrachtet werden. Das Trauma mit seiner Unerträglichkeit spaltet, fragmentiert und wird aus dem Bewusstsein verbannt. Man will das Entsetzen unterdrücken, man will die Eisenbahn angstfrei benutzen können. Das Abgespaltene tendiert dann aber dazu, wieder erinnert zu werden. Im Idealfall führt dies zu einer Integration der dissoziierten Teile. Im ungünstigen Fall wirkt die Erinnerung retraumatisierend, verstärkt die Dissoziation und speist den Teufelskreis von Abspaltung und Vulnerabilität. Integration und Dissoziation spielen sich ebenso intra- wie interpsychisch ab. Ein empathisches Mitleiden kann integrieren helfen, das Weitergeben unerträglicher Traumata an andere kann als externalisierte Abspaltung verstanden werden. Die Spaltung der Eisenbahngeschichte und die innerpsychische Dissoziation sind zweifellos interreliert – kleine und große Geschichte verschränken sich hier auf geradezu klassische Weise. Auch dem Wesen der Geschichtsschreibung selbst ist der Unfall zuwider. Sie hat von ihren Vorfahren, der Genealogie und dem Stammbaum, die Aufgabe übernommen, Kontinuitäten zu finden und herzustellen.190 So kann die traditionelle Historiographie mit dem Trauma nichts anfangen, wenn dieses nicht – etwa nach dem Modell einer Geburt – einen Anfang markiert, einen Entwicklungsimpuls – wie im Rahmen der Geschichte der Sicherheitstechnik – oder wenigstens ein historisch bedeutsames Ende. Der Unfall von Versailles markierte nichts von alle189 | Alle Zitate: Spengler 1931: 1, 60, 74f., 88. 190 | Vgl. Fischer-Homberger 2001: 43–45.

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dem. Er wird zwar als erster großer Eisenbahnunfall memoriert, aber einzig der Tod des bekannten Polarforschers Dumont d’Urville verlieh ihm einige höhere Erinnerungswürdigkeit. Manche Eigentümlichkeiten der Eisenbahngeschichte kamen einer Ausgrenzung des Unfalls zusätzlich entgegen. Zum einen hatte sich gerade in der Eisenbahn ein Inbegriff von glattem Funktionieren realisiert. Sie fuhr nach Fahrplan wie die Erwartbarkeit selbst; Tunnels, Brücken und Rampen ebneten ihren Weg. Um so niedriger wurde die Toleranzschwelle für Unregelmäßigkeiten; die Erwartung von reibungslosem Ablauf und Trauma gehen insofern Hand in Hand, als eine Störung umso traumatischer wirkt, je weniger sie ertragen wird. Ernst Bloch nennt den Unfall »ein Ensemble, das keinen zivilisierten Fahrplan hat«.191 Dass sich Bahnreisende ihrem Vehikel weitestgehend passiv ausgeliefert fühlen mussten – »wie ein Stückgut« und »lebendes Paket« der Hölle zugeführt, »ohne daß sie was daran mehr machen können, wenn das Ding einmal im Lauf ist«192 –, erhöhte zusätzlich ihre Angst vor dem Eisenbahnunfall. Zum anderen konnte die Eisenbahn als Massentransportmittel von ungewöhnlicher Geschwindigkeit – »la vitesse, à l’origine de cette industrie, était considérée comme un triomphe«,193 rief ein Verteidiger der Angeklagten der Paris-Versailles-Bahn aus – im Unglücksfall tatsächlich eine besondere Zerstörungskraft entwickeln. Und schließlich erscheint der dissoziierende Umgang mit dem Unfall gerade im Zusammenhang mit der Eisenbahn verhältnismäßig angemessen: Die Eisenbahntechnologie konnte und kann einen Grad an Betriebssicherheit vorweisen, der – lebenspraktisch gesprochen – ein Ausklammern des Unfalls aus dem Bewusstsein rechtfertigt. Zu guter Letzt wird das Phantasma vom reibungslosen Ablauf von ökonomischen, politischen und militärischen Kräften gespeist – auch sie stehen mit psychischen und historiographischen Interessen in einer Wechselwirkung. Im Fall der frühen Eisenbahnen sind die Anteilseigner sehr intime, historisch unzugängliche Personalunionen von Politik, Ökonomie, Militär und Psyche. Unfälle gefährden den Aktienkurs. Schon ein Unfall anlässlich der Eröffnung der Manchester-Liverpool-Bahn 1830 wurde heruntergespielt, weil »eine falsche Panik sowohl das künftige Reisen mit der Eisenbahn als auch den Wert der Eisenbahngesellschaft ernsthaft gefährden könnte«.194 Bis 1836 sollten »›Eisenbahnfieber‹ und ›Speculationswuth‹«, die »Railway Mania« um die Wertpapiere auch auf dem Kontinent voll ausgebrochen sein. 191 192 193 194

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Zit. nach Schivelbusch 1977: 118. Gotthelf 1847: 268; Kühn 1998: 508; vgl. Roth 2005: 54. Le Moniteur Universel 4.12.1842: 2275. Smiles 1873: 224.

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Am Modell der Eisenbahn haben sich weite Kreise angewöhnt, technisch-industrielle Ereignisse verengend nach ihrem allfälligen finanziellen Nutzen zu beurteilen.195 Mit ätzendem Klarblick beschreibt Heine am 4. Dezember 1842 das Bangen der Financiers vor dem Ausgang des Prozesses um die »Catastrophe du 8 mai«: Welch ein schreckliches Unglück war [. . .] der Brand auf der Versailler Eisenbahn! Ich spreche nicht von dem verunglückten Sonntagspublikum, das bei dieser Gelegenheit gebraten oder gesotten wurde, ich spreche vielmehr von der überlebenden Sabbatkompagnie, deren Aktien um so viele Prozente gefallen sind und die jetzt dem Ausgang der Prozesse, die jene Katastrophe hervorgerufen, mit zitternder Besorgnis entgegensieht. Werden die Stifter der Kompagnie den verwaisten oder verstümmelten Opfern ihrer Gewinnsucht einigen Schadenersatz gewähren müssen? Es wäre entsetzlich! Diese beklagenswerten Millionäre haben schon soviel eingebüßt, und der Profit von andern Unternehmungen mag in diesem Jahre das Defizit kaum decken.196 Gewiss hatte der königliche Advokat M. de Royer, welcher mit guten Gründen für die Verurteilung der Angeklagten der Paris-VersaillesBahn eintrat, am 30. November erörtert: Die junge Eisenbahnindustrie müsse geschützt werden. Aber man müsse sie auch überwachen. Es könne sich da nicht um ein gewöhnliches Spekulationsobjekt handeln. Man sei in Frankreich, Gott sei Dank, nicht bei den Sitten der Vereinigten Staaten angekommen, wo, wenn es um Transportwege gehe, das Leben der diesen ausgesetzten Menschen nichts zähle. Man diene dem Fortschritt, aber nicht um den Preis der Humanität. »Man wird Ihnen, meine Herren, sagen, daß Ihre Verurteilung den Ruin nicht nur des linken Ufers, sondern aller Eisenbahngesellschaften bedeute. Ich bitte Sie, sich durch diese leeren Drohungen nicht in Sorge stürzen zu lassen«.197 Der Anwalt der Angeklagten reagierte empört. Mit einer Verurteilung würde man eine Gesellschaft preisgeben, welche die Industrie zur Königin gewählt habe. Man werde doch nicht dem Mechaniker, sagte er sinngemäß, dem furchtlosen Soldaten des Fortschritts, raten, 195 | Roth 2005: 61; vgl. Lewin 1936: Titel; Heine 1984: 424f., 449f. 196 | Heine 1984: 424. 197 | Le Moniteur Universel 2.12.1842: 2267, Sitzung vom 30.11.1842.

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lieber im Feld zu sterben, als nach der Schlacht von der »police correctionnelle« durch eine Verurteilung niedergemacht zu werden. »Ah! Wenn Sie triumphieren wollen, schicken Sie sich in die Opfer, die den Triumph herbeiführen und sichern,« rief er aus. »Toute conception a son travail et sa douleur.«198 Das Urteil vom 10. Dezember hat auf diese Ausführungen keinen Bezug genommen. Aber es hat, wie berichtet, die Angeklagten freigesprochen. Mit Erfolg: Der Artikel »accident« der »Encyclopédie des chemins de fer et des machines à vapeur« von 1844 versteht den Unfall lediglich als Negativindikator für den Entwicklungsstand der Technik: »Alles, was der Mensch mit seinen Händen schafft, kann einen Unfall erleiden.«199 Und 1986 wiederholen Cl. Lamming und J. Marseille zum Unglück von Versailles: Die Eisenbahncompagnie habe nichts vernachlässigt.200 Das Paradigma einer unfallfreien Technik ist also eigentlich in manchen Hinsichten schon längst durch eine Vorstellung abgelöst worden, welche die technisch-industrielle Entwicklung und Unfall, Destruktion und Konstruktion als Einheit erfasst. »The railway accident was as much a product of the industrial nineteenth century as the [. . .] railway itself,« schreibt in diesem Sinne Ralf Harrington.201 Ungern allerdings werden sich vorausschauende Menschen mit nur einem einzigen Leben dessen bewusst. So ziehen wir es im Allgemeinen vor, beim alten Paradigma der Eisenbahn zu bleiben, beim glatten Funktionieren, das den Unfall nicht einschließt. Gedeihlicher wäre es, das titanische Brüderpaar Prometheus und Epimetheus, den »Vorsorgenden« und den »Unbedachten«, wieder als Einheit zu begreifen.202 Ein Blick, der – ohne psychisch zu desintegrieren – die produktive Seite der Technik gleichzeitig mit dem traumatischen Entsetzen wahrnehmen würde, könnte den circulus vitiosus erfassen, der mit immer neuen Techniken immer neue Sicherheiten erzeugt und mit immer neuen Sicherheiten immer neue Unfallmöglichkeiten. Bis am Ende die zur beängstigenden Enge gewordene Sicherheit den befreienden Unfall geradezu herbeiwünscht – nur um diesen erneut zum Anlass zu nehmen, nach weiterer Betonierung der Sicherheiten zu rufen. Ein integrierender Blick kann hinter der Maske des Risikos das Gesicht des Schreckens wieder erkennen. Ihm könnte sich auch ein vitales Interesse am Unfall, das gemeinhin als niedrige Sensationslust abgetan wird, als ein Versuch zeigen, Unfall und übermäßig gesicherten Alltag zu reintegrieren. Der Blick ist weiter, je mehr 198 199 200 201 202

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Alle Zitate: ebd. 3.12.1842: 2270f., Verhandlung vom 2.12.1842. Zit. nach Schivelbusch 1977: 119. Vgl. Lamming/Marseille 1986: 41. Harrington 2001: 31. Kerényi 1984: 168.

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Unsicherheit und Angst er aushält; das Unerträgliche allerdings bleibt jenseits seines Horizonts.

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Der Eisenbahnunfall von 1842 auf der Paris-Versailles-Linie | 85

Fischer-Homberger, Esther 2005: Haut und Trauma. Zur Geschichte der Verletzung. In: Seidler, Günther H./Eckart, Wolfgang U. (Hrsg.): Verletzte Seelen. Möglichkeiten und Perspektiven einer historischen Traumaforschung. Gießen: Psychosozial-Verlag. S. 57–83. Fletcher, Malcolm/Taylor, John 1996: Eisenbahnen. Das erste Jahrhundert. Stuttgart: transpress. Fürst, Artur 1918: Die Welt auf Schienen. Eine Darstellung der Einrichtungen und des Betriebs auf den Eisenbahnen des Fernverkehrs. Nebst einer Geschichte der Eisenbahn. München: Langen. Gagne, Paulin 1842: Le délire, monologue en vers d’un jeune homme qui a perdu la raison en voyant périr sa sœur, sa mère et sa fiancée, et qui retrace les scènes les plus touchantes de ce lugubre événement. Catastrophe du chemin de fer. Paris: Ledoyen. Gotthelf, Jeremias 1847: Jacobs, des Handwerksgesellen, Wanderungen durch die Schweiz. Zweite Abtheilung. Zwickau: Verein zur Verbreitung guter und wohlfeiler Volksschriften. Große, Wilhelm 1983: Poesie des Dampfes. In: Praxis Deutsch, 10 (1983). S. 45–50. Guillemin, Alexandre 1842: Lamentation sur la catastrophe du 8 Mai 1842, au chemin de fer de Versailles. Paris: Gaume. Harrington, Ralf 2001: The Railway Accident. Trains, Trauma and Technological Crises in the Nineteenth-Century Britain. In: Micale, Mark S./Lerner, Paul (Hrsg.): Traumatic Pasts. History, Psychiatry, and Trauma in the Modern Age, 1870–1930. Cambridge: University Press. S. 31–56. Hartung, Karlheinz/Preuß, Erich 1996: Chronik Deutsche Eisenbahnen 1835–1995. Stuttgart: transpress. Hawthorne, Nathaniel 1946: The Celestial Railroad. In: Hawthorne’s Short Stories. New York: Vintage. S. 210–228. (Orig. in: The United States Magazine and Democratic Review, New Series XII [Mai 1843]. S. 515–523.) Heine, Heinrich 2008: Lutetia, Berichte über Politik, Kunst und Volksleben. (In: Berichte für die Augsburger »Allgemeine Zeitung« 1840– 1843,) 2. Teil, LVII. Heine, Heinrich 1984: Lutetia, Berichte über Politik, Kunst und Volksleben. In: Sämtliche Schriften, Bd. 5. München: Hanser. S. 447–456. Herring, Peter 2001: Die Geschichte der Eisenbahn. München: Dorling Kindersley Coventgarden. Kerényi, Karl 1984: Die Götter- und Menschheitsgeschichten. Die Mythologie der Griechen, Bd. 1. München: Deutscher Taschenbuch Verlag.

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Weber, Max Maria von 1882: Vom rollenden Flügelrade. Skizzen und Bilder. Berlin: Hofmann. Weber, Max Maria von 1907: Aus der Welt der Arbeit. Gesammelte Schriften, hrsg. von Maria von Wildenbruch, geb. von Weber. Berlin: Grote. Weihe, Carl 1917: Max Maria von Weber. Ein Lebensbild des DichterJngenieurs mit Auszügen aus seinen Werken. Berlin: Selbstverlag des Vereins deutscher Jngenieure. Besonderer Dank für große Hilfe gebührt Frau Pia Burkhalter, Bibliothekarin des Berner Instituts für Medizingeschichte. Übersetzungen von der Autorin.

Abbildungen Abbildung 1: Provost, A.: Das Eisenbahnunglück zwischen Versailles und Bellevue. In: Lamming/Marseille 1986: S. 38f. Abbildung 2: Grandville, J. J. 1843: Die kleinen Leiden des menschlichen Lebens. In: Forgues, Paul Émile Daurand/Grandville, J. J. 1843: Petites misères de la vie humaine. Paris: Henri Fournier. S. 389.

Robert Musil und die neuen Gesetze des Autounfalls. Die Ambiguität von Ordnung und Unordnung im Verkehr der Moderne Matthias Bickenbach

Robert Musil war ein aufmerksamer Zeitungsleser. Er hob Artikel und Bilder auf, um sie später für sein literarisches Schreiben zu verwenden. Unter der Vielzahl dieser Quellen finden sich auch die beiden Zeitungsseiten, die für die Darstellung des Autounfalls im ersten Kapitel vom »Mann ohne Eigenschaften« eine Rolle spielen.1 Für eine Wissens- und Mediengeschichte des 20. Jahrhunderts ist dies insofern von Bedeutung, als Musil etwas, das man die Gesetze des Autounfalls nennen könnte, in Form einer kleinen Lehrgeschichte präsentiert. Vor dem Hintergrund einer Kulturgeschichte des Autounfalls markiert Musils Darstellung den Prozess der Gewöhnung und Verdrängung des mittlerweile zum Alltag gewordenen Unfallgeschehens und reflektiert damit die Ambiguität von Ordnung und Unordnung in der öffentlichen Wahrnehmung von Autounfällen.2 Sein berühmter Roman ist auch eine Geschichte der Unordnung der Dinge. So vollzieht sich zwischen 1900 und 1930 eine Wandlung. Es sind die neuen, modernen Gesetzmäßigkeiten des Autounfalls, die Musil beschreibt und die bis heute gelten. Bevor diese These belegt wird, sei ein Blick zurück in die Geschichte des Autounfalls geworfen, um den kulturhistorischen Kontext zu verdeutlichen, in dem sich Musils Schreiben bewegt. Was waren die alten Gesetze und welche Rolle spielten Autounfälle vor Musil in der Öffentlichkeit?

I Zu den Unordnungen der Dinge, die das 20. Jahrhundert nachhaltig bestimmen, gehören ohne Zweifel Autounfälle. Mit den ersten Ausfahrten des Karlsruher Ingenieurs Carl Benz 1886 schreibt sich ein 1 | Vgl. Corino 1988: 346f. 2 | Vgl. Bickenbach/Stolzke 1996.

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neuer Unfalltypus in die Gesellschaft ein. War der allererste Unfall des neuen Fortbewegungsmittels noch schlicht eine Panne und betraf nur es selbst, so verliert das Automobil im Zuge seiner technischen Perfektionierung, vor allem durch Robert Boschs Erfindung der Zündkerze, seine Unschuld.3 Schon um 1900 bestimmen Autounfälle, wie wir sie heute gewöhnt sind, den öffentlichen Raum. Zusammenprall, Überschlag und versetzter Seitenaufprall erreichen Nachrichtenwert, und der lineare Vektor, den das Automobil auf seiner freie Fahrt kennzeichnet, definiert eine neue Ordnung auf Wegen und Straßen. Bereits 1912 veröffentlicht Michael Freiherr von Pidoll einen »Protest und Weckruf« unter dem Titel »Der heutige Automobilismus«, der aus nichts anderem besteht, als aus einer Sammlung und Montage von 60 Autounfallnachrichten aus Tageszeitungen seit 1909: Ein Toter, zwei Schwerverletzte. Am Pfingstsonntag 1909 nachmittags geriet ein Automobil, welches dessen Besitzer selbst lenkte, nach dem es ›in rasendem Tempo‹ den Markt Öd in Niederösterreich passiert hatte, beim Nehmen einer Kurve in den Straßengraben und fuhr mit solcher Gewalt an zwei Birnbäume an, daß der Chauffeur nach rückwärts geschleudert wurde, unter das sich aufbäumende Automobil geriet und schwer verletzt liegen blieb. Er starb nach 20 Minuten. Von den übrigen Insassen des Automobils erlitt einer schwere innere Verletzungen (Lungenblutungen), ein anderer brach [sich] den Arm. Das Automobil war streckenweise mit einer Geschwindigkeit von 100 Kilometern in der Stunde gefahren und legte die 125 Kilometer lange Strecke Wien-Amstetten in 1 3/4 Stunde zurück. Hierzu sei bemerkt, daß der Orientexpresszug von Wien nach Amstetten 2 Stunden 2 Minuten, also um 17 Minuten mehr Zeit braucht. (Morgenblatt vom 1. Juni 1909.)4 Die notierte Geschwindigkeit mag überraschen. Man wisse, so Pidoll, »welche Tempi beim ›Ausprobieren‹ der Automobile, und zwar auf öffentlicher Straße, genommen werden.«5 Die Parenthese »und zwar auf öffentlicher Straße« gibt einen Hinweis darauf, dass Straßenverkehr und Autoverkehr um 1900 noch nicht in eins gedacht werden, sondern dass das Automobil einen – gefährlichen – Fremdkörper im 3 | Benz 1925: 66. 4 | Pidoll 1912: 2. 5 | Ebd.: 1.

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öffentlichen Raum darstellt. Seine gegenüber Pferdefuhrwerken und auch Eisenbahnen deutlich schnellere Fortbewegung stößt auf Hindernisse. Im zitierten Beispiel ist es die überhöhte Kurvengeschwindigkeit, die das Automobil von der Straße abbringt. Von »streckenweise« 100 km/h ist die Rede. Ist das journalistische oder moralischdidaktische Übertreibung? Eine rhetorische Geste, die abschrecken soll? Zwar kann man für Abbildung 1: Autowerbung der Firma Benz von 1888. die Jahrhundertwende noch von einer mittleren Geschwindigkeit der Automobile von etwa 30 km/h ausgehen, doch bereits 1899 wird von einem Rennwagen die magische Grenze von 100 km/h überschritten. 1906 wird in den USA erstmals eine Geschwindigkeit von über 200 km/h erreicht. Die Entwicklung der Höchstgeschwindigkeiten ist enorm. 1911 wird der Blitzen-Benz den Rekord von 228,1 km/h erreichen. In der Logik der technischen Selbstüberbietung stirbt der Rennfahrer Bernd Rosemeyer am 28. Januar 1938 bei dem Versuch, für Daimler-Benz seinen Rekord von 432,7 km/h im Durchschnitt zu überbieten. Die von Rekorden und seit 1894 auch von öffentlichen Autorennen propagierten Spitzengeschwindigkeiten übertragen sich auf das Bild des Automobils und seinen Fahrer. Die Gefahr der Geschwindigkeit wird in Mut und Verwegenheit umgewertet. Schon die erste öffentliche Werbung für ein Automobil – den Patent-Motorwagen der Firma Benz 1888 (vgl. Abbildung 1) – operiert mit einem branchentypischen Phantasma, welches die Befreiung der Fortbewegung von ihren körperlichen Fesseln verspricht: »Immer sogleich betriebsfähig! – Bequem und absolut gefahrlos!«, so lautet der allererste Werbespruch. Der »vollständige Ersatz für Wagen mit Pferden« täuscht eine vorgebliche Einfachheit vor: »Lenken, Halten und Bremsen leichter und siche-

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rer, als bei gewöhnlichen Fuhrwerken – Keine besondere Bedienung nöthig.« Die verwendete Photographie zeigt Carl Benz selbst am Steuer, lässig mit einer Hand lenkend, sowie seinen Teilhaber Max Rose.6 Die versprochene Einfachheit und Sicherheit des neuen Vehikels wird aber weder der Realität noch der öffentlichen Meinung entsprechen. Zwar ist das Stichwort Sicherheit hier keine Lüge. Denn in der Tat ermöglicht die maschinelle Konstruktion des Wagens durch Riemenscheibe, Zahnräder und Kupplung eine Feinsteuerung des Mobils, die gegenüber Kutsche und Zugwagen revolutionär war. Doch gleichzeitig vertuschen die Hinweise auf Bequemlichkeit und Sicherheit die Mühen der Lenker, das Vehikel anzukurbeln (Armprellungen waren üblich), verschweigen den typischen Benzin- und Ölgeruch des ›Autlers‹ und überspielen die Unzuverlässigkeit der Maschine: Einfach stehen zu bleiben, gehörte zum Alltag eines jeden stolzen Autobesitzers. Chauffeure, die zugleich Mechaniker sind, sind daher in der frühesten Zeit des Automobils noch bester Bestandteil von jedem Gefährt. Der Weg zum Mythos ist damit kurz: Männer, die derart wilde Ungetüme zügeln, genießen den Ruf des Mutigen, Verwegenen. In der Öffentlichkeit wird das Erscheinungsbild des neuen Fahrzeuges folgerichtig von zwei Fahrertypen geprägt: dem arroganten, wohlhabenden ›Herrenfahrer‹ sowie dem unverschämten und vor allem unkontrollierten ›wilden Autler‹.7 Im Zwischenraum von technischem Pioniertum und Gefährdung der Öffentlichkeit entsteht ein janusköpfiger Mythos, der bis heute Autofahrer zu Abenteurern werden lässt. Im Gegensatz jedoch zum postmodernen Automobilismus haben wir es um 1900 mit einer monströsen Kontur zu tun, die das Auto zum öffentlichen Streitfall werden lässt. Im damaligen Alltag wirkt sein linearer Vektor noch als die reine physikalische Gewalt, die er ist. Das Auto wird als Bedrohung, ja als Gefahr der öffentlichen Ordnung gesehen und angeprangert. In illustrierten Wochenschriften erscheinen seit 1901 Karikaturen und Artikel über die Brutalität und Skrupellosigkeit der rücksichtslosen Fahrer, die mit ihrem Mordinstrument als mors imperator angeklagt werden.8 Zusammen mit den Wirkungen der Geschwindigkeit als Rausch und Aggression wird das Automobil zu einem dämonischen Ding, das seinen Fahrern die kalte Gewalt des Technologischen direkt vermittelt. In Heinrich Manns Novelle »Jagd nach Liebe« von 1903 beispielsweise wird das Automobil zu einem Medium, das seinen Fahrern, die rastlos und trunken von Wein wie 6 | Vgl. Sachs 1984: 3. 7 | Zur Kulturgeschichte des Automobils vgl. Sachs 1984 sowie Ruppert 1993. 8 | Vgl. dazu ausführlich das Kapitel »Das Auto in frühen journalistischen und literarischen Texten bis 1903« in Müller 2004: 19ff.

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von Geschwindigkeit umherjagen, alle Attribute des Diabolischen verleiht.9 Der erste deutsche Abbildung 2: Weiluc, Lucien-Henri 1902: Auto überfährt Fußgänger. »Ich habe oft gemerkt, Autodichter Otto Julius daß der Schrei eines überfahrenen Menschen Bierbaum, der ebenausgesprochen dem eines Hundes ähnelt. Darfalls 1903 mit seiner win hatte vielleicht doch recht!« Erfolgsschrift »Eine empfindsame Reise im Automobil. Von Berlin nach Sorrent und zurück an den Rhein« das langlebige Motto »Lerne zu reisen, ohne zu rasen« verkündet, notiert diese monströse öffentliche Wahrnehmung, allerdings um sie sogleich zur Ausnahme und »Sportnuance« des Automobilismus zu erklären – eine rhetorische Strategie, die bis heute Konjunktur hat: Man denkt, hört man das Wort Automobil, freilich weniger an Reise- als an Rennwagen, und dieser Gedanke löst die Assoziation an wahnsinnige und lebensgefährliche Geschwindigkeiten aus – achtzig, hundert und hundertzwanzig Kilometer in der Stunde, überfahrene Tiere und Menschen, Sturz in den Abgrund in halbtotem Zustande. Diese abenteuerlichen Vergnügungen von Millionären, die sich die Situation der Lebensgefahr als besonderen Reiz leisten können, sind aber nur die Sportnuance des Automobilismus.10 Pidolls »Weckruf« spricht da eine vollkommen andere Sprache. »Die schauerliche Chronik dieser Unglücksfälle läßt sich ja nicht erschöpfen.«11 Er führt für das erste Halbjahr 1912 schon 438 Autounfälle mit 16 Verkehrstoten allein in Wien an. Der Autounfall scheint eine 9 | Vgl. Müller 2004: 24f. 10 | Bierbaum 1920: 467. 11 | Pidoll 1912: 1.

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neue Ordnung im Verkehrsgeschehen zu generieren. Musil wird 1911 in Wien einen Autounfall beobachten, seine Zeitungsnachrichten sammeln und einen Romananfang konzipieren. Die Zusammenhänge sind jedoch weitaus komplexer, als es die zeitliche Synchronizität verrät. Das Automobil ist nicht nur ein Mittel der Fortbewegung, sondern zugleich ein Medium der Wahrnehmung – genau wie zuvor die Eisenbahn oder das Flugzeug. Zwischen den Polen von Bierbaums »Sportnuance« und seiner Empfehlung des ›empfindsamen Reisens‹ vollzieht sich in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts eine individuelle wie kollektive Gewöhnung an den Geschwindigkeitsrausch, den das neue Vehikel seinen Insassen ermöglicht. Das Automobil ist daher als doppelte Einheit einer Geschwindigkeitsmaschine zu fassen: als technisches Mittel zum Erreichen einer schnelleren Fortbewegung und als physiologisches Medium der Erzeugung von Rauschzuständen. Die Geschwindigkeitsmaschine erzeugt Wunsch und Gewöhnung zugleich. Dieser Effekt ist schon von früh an als Nervosität und damit als Symptom der Moderne sowie als Geschwindigkeitsrausch, mithin als Sucht und Suchtpotenzial auch im Vergleich zum Alkohol thematisiert worden. Louis Baudry de Saunier, Autor des frühesten Autoratgebers, »Das Automobil in Theorie und Praxis« von 1901, beschreibt in seiner »Schlußrede« eine Suchtstruktur, die selbstverstärkend, also auto-matisch ist, weil der induzierte Wunsch nach Geschwindigkeit ständig unbefriedigt bleibt: Gleich einem berauschenden feurigen Weine, der, anstatt den Durst zu löschen denselben noch ärger macht, erweckt das Automobil selbst in dem ruhigsten, gelassensten Temperamente einen nie befriedigten Wunsch nach immer grösserer Schnelligkeit. Der Anfänger, den gestern 30 Kilometer in der Stunde erschreckten und der sich heute bei dieser Geschwindigkeit noch gut unterhält, wird dieselbe morgen schon langweilig finden. Auf 40 übergehend, werden ihm auch diese bald wie der ursprüngliche kleine ›Familientrab‹ von 20 oder 25 Kilometern der ersten Tage erscheinen, so daß er von der Versuchung der 50, der 60 per Stunde gereizt, schließlich zum Gewohnheitsschnellfahrer wird, der seinen Motor immer zu langsam findet. Das Automobil ist ein gefährliches Werkzeug in den Händen von Trunkenbolden der Geschwindigkeit, die nie genug getrunken haben.12

12 | Saunier 1901: 507f.

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Als Maschine zur Erzeugung von Geschwindigkeit produziert das Automobil mithin selbsttätig eine Ordnung, deren Name Unordnung oder eben Unfall lautet. Die Bewertung dieser Gefährdung geht in der Öffentlichkeit der Jahrhundertwende mit kollektiver Empörung und Ablehnung einher. Konnte man über die ersten Ausfahrten von Carl Benz noch spotten und lachen, wenn sein Vehikel vom Pferdefuhrwerk die wenigen hundert Meter wieder zurückgeschleift werden musste, so verging einem dieses bei der Begegnung mit den ›wilden Autlern‹ der nachfolgenden Jahre gründlich.13 Die »polternden Ungeheuer« brausten in ungewohnter Geschwindigkeit, stinkend und Staub aufwirbelnd durch den öffentlichen Raum, der bislang mit Tieren, Kindern, Fuhrwerken und Fußgängern bevölkert war. Das Erscheinungsbild des Automobils war exorbitant und Furcht einflößend. Oskar Maria Graf erinnert sich: Damals nämlich tauchten in unserer Gegend die ersten noch ziemlich ungeschlachten Automobile auf. Sie wälzten daher wie polternde Ungeheuer, fuhren mit laut klopfendem Surren auf den Straßen dahin, stanken nach Benzin und wirbelten dicke Staubwolken auf. Nicht minder häßlich, ja fast gefährlich sahen ihre Insassen aus. Die Männer hatten ihre Mützen tief ins Gesicht gezogen, den Kragen des weiten Staubmantels hochgeschlagen, und die Frauen mit ihren riesengroßen Hüten waren in dichte, meist weiße Schleier gehüllt. Sie trugen dunkle Brillen, was das gespenstische Aussehen noch steigerte. Kein Wunder, daß wir einem solchen Gefährt weit auswichen und es von der Ferne ängstlich und feindselig verfolgten.14 Die Figuren des ›Herrenfahrers‹ und des ›wilden Autlers‹ dominieren das öffentliche Bild, und vieles spricht dafür, dass sich beide kaum voneinander trennen lassen.

II Der Autodichter Otto Julius Bierbaum unterstreicht diese Typologie der Fahrer jedoch, indem er eine Argumentation aufbaut, die bis heute zu den üblichen rhetorischen Strategien zählt, das Unfallgeschehen zu erklären: Autounfälle würden durch ›einige wenige‹ verursacht, eben durch ›wilde Autler‹ oder sportliche Fahrer, die das Auto und seine 13 | Vgl. Benz 1925: 66ff. 14 | Graf 1940: 324.

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Kraft über Gebühr ausnutzten und somit zwangsläufig die Kontrolle über den Wagen verlören: ›Ein Fahrer hat die Kontrolle verloren‹ – diese Kausallogik bestimmt bis in die heutigen Tagesnachrichten hinein die Normalität des Autounfalls als Ereignis. Schon die bloße Anwendung des Begriffs Unfall im Kontext des Automobilismus steht für ein Denken, das die Unordnung in ein festes Schema von Akzidens und Substanz fasst, denn Unfall bestimmt sich lexikalisch als ein von außen zustoßendes Unglück. Folgt man diesem impliziten Begriffswissen, so werden weitreichende Implikationen deutlich. Einerseits die Bestimmung aller anderen Verkehrsteilnehmer auf der Straße (wie deren Beschaffenheit selbst) als äußerliche Hindernisse und Gefahr für die Geschwindigkeitsmaschine. Andererseits die Deutung des Fahrers selbst als ein der Maschine äußerlicher Faktor, der dieser letztlich nicht gewachsen ist. Auch dies gilt bis heute. Für Unfallexperten ist der Mensch die primäre Ursache aller Unfälle. Das hat seinen Grund nicht einfach darin, dass Menschen ungeschickt, unaufmerksam oder abgelenkt sein können, in Geschwindigkeitsrausch geraten oder fahrlässig handeln. Vielmehr erfordert die Geschwindigkeit von Automobilen Wahrnehmungs- und Reaktionszeiten, die allzu sehr an physiologische Grenzen stoßen. Die menschliche Reaktionsgeschwindigkeit ist zu träge, um reagieren zu können, wenn etwas aus der oder in die Bahn gerät. Der Autounfall ist daher als ein eigenständiger Typus von Katastrophe oder Unordnung zu begreifen – im Unterschied etwa zu Schiffbruch, Bahnentgleisung oder Flugzeugabsturz. Es ist der »Schiffbruch der Geschwindigkeit« selbst, den das Automobil erzeugt: In der Weise, wie die Seefahrt seinerzeit die Katastrophe des Schiffbruchs mit sich gebracht hatte, das heißt, den Untergang des Schiffes im tragenden Element, hat der beschleunigte Verkehr eine neue Katastrophe, den Zusammenstoß, herbeigeführt und entwickelt: das heißt, das unvorhergesehene Verschwinden eines Fahrzeugs in einem anderen. Der Brand anläßlich des Zusammenstoßes, ein Spiegel von Geschwindigkeiten, der das Gewaltsame der Fahrt auf den Gegenstand und die Personen, die die Ortsveränderung vornehmen, zurückwirft, wäre demnach im Grunde der Schiffbruch der Geschwindigkeit.15 Diese Perspektive auf den Autounfall als integralen Bestandteil des Automobilismus eröffnet eine ganz andere Beobachtung des Phänomens als der Begriff Unfall nahe legt. Wenn das Auto primär eine Maschine 15 | Virilio 1989: 144f.

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zur Erzeugung von Geschwindigkeit ist, die sich an ihren Fliehkräften (oder an Hindernissen) bricht, dann ist der Autounfall keine akzidentielle, sondern eine substanzielle Technikfolge, etwas, das sie notwendig selbst hervorbringt.16 Die metaphorische Rede vom Unfall als Schattenseite des Automobilismus funktioniert nur insofern, als ein Schatten untrennbar und wesentlich zu dem Objekt gehört, das ihn wirft. Unter dieser Perspektive werden zwei Konsequenzen sichtbar, welche die alten Gesetze des Autounfalls als monströses und amoralisches Ereignis, als Katastrophe (wörtlich: Umkehrung) der öffentlichen Ordnung ablösen, indem sie in der Ausnahme den Normalzustand sichtbar werden lassen. Zum einen muss die Annahme als naiv revidiert werden, dass Autounfälle eher seltene und singuläre Ereignisse sind, die von außen zufällig zustoßen und etwas Außergewöhnliches markieren, das der Normalität eines (ideal gedachten) unfallfreien Verkehrsgeschehens entgegensteht. Vielmehr gehört das Unfallgeschehen nach der Durchsetzung und Verbreitung des Autos und seiner Straßenordnung zum Alltag. Bei einer jährlichen Anzahl von ca. zwei Millionen Autounfällen in Deutschland (ein Durchschnittswert der letzten Jahrzehnte), die vom Statistischen Bundesamt erhoben und ausgewertet werden, ergibt sich schon rein rechnerisch keine Diskrepanz zwischen Ereignis und Normalität, sondern der Regelfall mit einer Unfallfrequenz von rund 19 Sekunden. Selbst die technischen Erfolge der immer sichereren Wagengenerationen mit einem Rückgang von 1971 fast 21.000 Toten (was zur Einführung der Gurtpflicht führte) zu neuen Minusrekorden für 2005 mit unter 5.000 Toten pro Jahr lassen sich frequentiell repräsentieren: Täglich sterben heute – statistisch gesehen – 13 Menschen an den Folgen des Automobilismus. Das Unwahrscheinliche – der ›Un‹fall – ist zu einer Wahrscheinlichkeit geworden, zu einer Größe, mit der gerechnet werden kann und muss. Sein neues Gesetz ist nicht Akzidens oder Unfall im Begriffssinn, sondern Kontingenz.17 Zum anderen wird erst aus dieser Perspektive der Normalität des Unfalls sichtbar, dass die Wissensgeschichte automobiler Technologien als eine Rekursion oder Wiedereinspeisung des Unfalls verstanden werden muss – und das nicht erst, seitdem es Crash Tests gibt (seit 16 | Vgl. Bickenbach/Stolzke 1996. 17 | »Der Unfall ist der Automobilgeschichte eingeschrieben und seine Lehre lautet keineswegs ›sei vorsichtig‹, sondern gerade weil es immer auch anders möglich ist, bleibt der Unfall ein ungeklärtes Faszinosum, eine Black Box, die keine Erklärung erreicht, sondern nur namenlose Adressaten, die von seinem Status als Ausnahme beruhigt werden wollen. Glaubt man dem Statistischen Bundesamt, ergeben die etwa zwei Millionen Unfälle jährlich in Deutschland eine Dichte, die der Verortung des Phänomens als vereinzeltes Ereignis Hohn spricht«. Vgl. Bickenbach 1998, hier: 120.

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1958 in Deutschland), in denen mit Hilfe von Versuchsanordnungen positives Wissen für künftige Wagengenerationen und deren Unfälle generiert wird. Angefangen von den Stoßfängern, der Einführung der Knautschzone und der stabilen Fahrgastzelle, dem Sicherheitsgurt bis hin zum Airbag: Alles dies sind passive Sicherheitstechniken mit dem Ziel, die Geschwindigkeiten, die das Automobil erreichen kann, beizubehalten oder zu steigern. Die Autos werden sicherer, zweifellos, aber zugleich normalisiert sich durch diese Techniken die Gewöhnung an das, was einst noch Geschwindigkeitsrausch hieß. Die automobile Entwicklung der letzten zehn Jahre zeigt das ganz deutlich. Zum einen gehen die statistischen Werte zurück – immer weniger Menschen sterben –, zugleich aber steigen die PS-Zahlen und die Höchstgeschwindigkeitszonen. War die Einführung des VW Golf GTI mit 102 PS noch eine Sensation, haben heutige Wagen leicht das Doppelte und Dreifache zu bieten. Als »Sportnuance« für die Luxusklasse gilt momentan die Durchbrechung der 300 Stundenkilometergrenze auf öffentlichen Straßen. Neben den passiven Sicherheitstechniken traten in den letzten Jahrzehnten die so genannten aktiven Sicherheitstechniken hinzu – elektronische Steuerhilfen wie ABS und ESP – die selbsttätig regulierend dort eingreifen, wo der Mensch als Fahrer überfordert ist. Spätestens hier müssen Automobile als technische Dinge begriffen werden, die von ihrem Unfall her entworfen und kalkuliert sind. Dem stehen jedoch eine öffentliche Wahrnehmung und der allgemeine Automobilismus gegenüber (vom Lobbyismus zu schweigen), für die der Hochglanzlack des unversehrten Autos, dessen Eleganz und Kraft entscheidend ist. Der Automobilismus ist nicht nur als Industrie ein zentraler Bereich des modernen Lebens geworden, sondern auch für die scheinbar individuelle Selbstbestimmung des Einzelnen. Ob man Autounfälle als Zivilisationskrankheit ansieht oder als ein notwendiges Übel, das gleichmütig oder heroisch zu meistern ist, ob man einer notwendigen Aufgabe des Alltags gewachsen oder bereits traumatisiert ist, ob man gerne sportlich fährt oder sich schlichtweg verweigert: Der Automobilismus ist in unserem Selbstverständnis tief verankert. Das Auto steht für Freiheit und Individualismus. Die individuelle Fortbewegung gilt als Unabhängigkeit und ist es auch in einer Gesellschaft, die auf Mobilität gegründet ist. Freilich ist die Übertragung des Automobilismus auf Werte wie Freiheit und Individualismus ein Phantasma. Autos sind Serienprodukte vom Fließband, die freie Bewegung im Raum ist linear durch Straßen begrenzt und voller Hindernisse. Heute dominieren die Überfüllung, der Stau und das Warten an Ampeln und Baustellen die Szenerie. Al-

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lein auf Autobahnen, die nur noch in Deutschland ohne Tempolimit befahrbar sind, blitzt das Freiheitsgefühl noch einmal auf. In der freien Autobahnfahrt symbolisiert sich der Aufbruch ins Unbekannte und die Macht, weite Strecken zurückzulegen, die das Funktionale der vektoriellen Fortbewegung in die Emotionalität eines Lebensgefühls übersetzt. Zweifellos bedeutet Otto Julius Bierbaums Empfehlung, besser zu reisen ohne zu rasen, dass Autofahren schön ist. Es bedeutet jedoch andererseits und zuerst die medienhistorische Adaption der Wahrnehmung an immer höhere Geschwindigkeiten. Die Voraussetzung hierfür ist nichts weniger als das Vergessen der Gefahr, das Gefühl der Sicherheit im Auto während der rasenden Fahrt. Das »Automobilgesicht«, das man Fahrern der so kritisierten neuen Vehikel zuschrieb, entspannt sich kollektiv erst, wenn die Gefahren der Geschwindigkeit vergessen sind. In einer Beschreibung des »Automobilgesichts« von 1902 spürt man die Gefahr der Geschwindigkeit noch auf allen Ebenen, von der Wahrnehmung über die Koordination bis zur schnellen Durchquerung des Raumes selbst: Seine Hand fährt hastig nach der Bremse, er will noch schnell die Rückwärtsfahrt einschalten und die Motorkraft aufheben. Doch wie durch ein Wunder entkommt das Kind der Gefahr. Der gewaltige Luftzug reißt ihm noch die Kappe vom Kopf. Ein Fünfzigstel einer Secunde lang schwebte er zwischen Leben und Tod. All diese Umstände verleihen dem Fahrer das typische Automobilgesicht, dessen Eigenthümlichkeiten man in medizinischen Kreisen bereits zu beobachten beginnt. Die beständige, hochgradige Aufmerksamkeit während der Fahrt, die Bedienung der Maschine mit all ihren Apparaten, das rasche Abschätzen von Distanzen zwischen dem Wagen und einem Hindernis, muß mit der Zeit den Muskeln um Augen, Mund und Ohr jenen Spannungsgrad verleihen, welcher für das Automobilgesicht charakteristisch ist. Am meisten aber prägt sich in diesen Zügen die Angst aus, eventuell die unschuldige Ursache einer verhängnißvollen Katastrophe zu sein.18 Die allgemeine Lage ist noch lange durch Empörung und parlamentarische wie öffentliche Debatten gegen das Auto geprägt. Emil Jung veröffentlicht im gleichen Jahr 1902 eine Kampfschrift über »das Recht auf Ruhe«, in der er den »Automobilenunfug« als Ruhestörer der öffentlichen Ordnung anprangert, und eröffnet damit eine lange Reihe 18 | Fournier 1902, zitiert nach Müller 2004: 29, Herv. M. B.

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von Kampfschriften gegen das Automobil.19 Dorit Müller fasst die Situation wie folgt zusammen: Zu diesem Zeitpunkt [1913] lag die Erfindung des Autos knapp dreißig Jahre zurück, und fast ebenso lange kollidierten die Interessen der wenigen Autobesitzer mit denen der nichtautomobilen Öffentlichkeit. Seit der Jahrhundertwende wuchs die Empörung über das rücksichtslose und gewaltsame Verhalten jener Autofahrer, die teils aus Fahrlässigkeit, teils aus Unkenntnis der Technik oder aus Geschwindigkeitsfanatismus das Leben ihrer Mitmenschen gefährdeten. Die automobile Fortbewegungsart war nicht nur ein für die Mehrzahl der Bevölkerung unerschwingliches und technisch anspruchsvolles Vergnügen, sondern wurde auch durch ihre individuelle Einsetzbarkeit und ihre hohe Geschwindigkeit zur immerwährenden Bedrohung des Straßenpublikums. Die Geschichte der Motorisierung ging nicht nur einher mit dem allseits bekannten und sich noch heute sofort aufdrängenden Phänomen der Unfallgefahr, sondern auch mit dem mehr oder weniger gewaltsamen Akt der Gegenwehr.20 Weitere zwanzig Jahre später erscheint die Szenerie jedoch als eine völlig andere. Immer noch spielen Autounfälle eine wesentliche Rolle, doch hat sich die Haltung dazu deutlich geändert. Die Gewöhnung an Autos und Unfälle im Straßenverkehr ist vollzogen. Um 1930 zählen Autounfallnachrichten zum festen Bestandteil der Tageszeitungen, die keine Gemüter mehr erhitzen. Das störende Signal, das der Unfall vor dem Hintergrund seiner Fahrgeräusche einst war, ist selbst zum normalen Hintergrundsrauschen des Verkehrsgeschehens geworden. Heute trägt es exakt diesen Namen: Unfallgeschehen. Dass damit ein kulturhistorischer Transformationsprozess bezeichnet ist, in dem Unordnung zu Ordnung umgewertet wird, das hat auch Robert Musil exakt gesehen und beschrieben. Das erste Kapitel seines epochalen Romans »Der Mann ohne Eigenschaften« von 1930 montiert in die Beschreibung einer Großstadtmetropole ein symptomatisches Ereignis: den Autounfall. Das ist literaturgeschichtlich besehen zunächst nichts Neues. Zahllose Romane nutzten und nutzen Autounfälle als Ereignis, mit dem die Handlung beginnt – sowohl in der Unterhaltungs- und Kriminalliteratur als auch im ernsten Fach, etwa in 19 | Jung 1902. 20 | Müller 2004: 9. Vgl. ausführlich Fraunholz 2002.

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Thomas Bernhards »Auslöschung«. Doch Musil inszeniert den Autounfall weder als Schicksalsschlag für einen seiner Protagonisten noch als Beginn einer Geschichte, sondern seinerseits als ein Mittel, um das Verhalten der Betrachter des Unfalls, den modernen Großstadtmenschen beobachten zu können. Der Unfall selbst wird zu einer Form der second order observation.

III Das Romangeschehen im »Mann ohne Eigenschaften« beginnt an einem schönen Augusttag 1913. Doch dieser schöne Tag als Formel und Floskel wird von Musil zugleich mittels einer anderen Sprache, der Fachsprache der Meteorologie, eingeführt und damit der Topos des Sonnenstandes im Diskurs der Romananfänge unter die Vorzeichen der technischen Moderne gestellt.21 Anschließend wird die Großstadt vollkommen analog nicht als architektonisches oder topographisches Bild, sondern als Geräuschkulisse beschrieben, die wesentlich aus Rhythmen der Geschwindigkeit resultiert. Schon hier, im ersten Wort des zweiten Absatzes, ist das Kennzeichen dieser Moderne die Geschwindigkeitsmaschine Automobil und seine Geschossmetaphorik: Autos schossen aus schmalen, tiefen Straßen in die Seichtigkeit heller Plätze. Fußgängerdunkelheit bildete wolkige Schnüre. Wo kräftigere Striche der Geschwindigkeit quer durch ihre lockere Eile fuhren, verdickten sie sich, rieselten nachher rascher und hatten nach wenigen Schwingungen wieder ihren gleichmäßigen Puls.22 Bemerkenswert ist hier eine sprachliche Umkehrung in der Ordnung der Dinge. Unter dem Paradigma von Rhythmus und Geräusch erscheint die Geschwindigkeit der Autos als manifeste Größe, als »kräftigere Striche der Geschwindigkeit«, die durch die »wolkige[n] Schnüre« von Menschenkörpern und ihren Vektoren schießen und diese, nur im Vorüberfahren, beeinflussen und durcheinander bringen. Ein Autounfall erscheint also lediglich als konkret gewordene Manifestation einer Verdichtung oder Kollision innerhalb dieser »kochenden Blase« namens Stadt oder Wien, die »wie alle Städte« aus Ordnung und Unordnung von Tempi besteht, in der Zusammenstöße vorprogrammiert sind: 21 | Vgl. hierzu Kassung 2001: 267–334. 22 | Musil 1978a: 9.

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Es soll also auf den Namen dieser Stadt kein besonderer Wert gelegt werden. Wie alle großen Städte bestand sie aus Unregelmäßigkeit, Wechsel, Vorgleiten, Nichtschritthalten, Zusammenstößen von Dingen und Angelegenheiten, bodenlosen Punkten der Stille dazwischen, aus Bahnen und Ungebahntem, aus einem großen rhythmischen Schlag und der ewigen Verstimmung und Verschiebung aller Rhythmen gegeneinander [. . .].23 Dass kurz darauf ein Autounfall zum Gegenstand des Kapitels wird, kann also nur vordergründig überraschen. Zwei Passanten beobachten einen Unfall mit einem LKW, dessen Beschreibung auf zwei Autounfallbilder und -berichte in Tageszeitungen zurückgeht, die Musil in Wien und Berlin gelesen hatte. Die Zeitspanne zwischen beiden Unfällen entspricht dem Übergang von den alten Gesetzen des Autounfalls als einem außergewöhnlichen Ereignis zu den inzwischen normalisierten Verhältnissen und der neuen Gesetzlichkeit einer in eine höhere Ordnung aufgehobenen Unordnung der Dinge. Abbildung 3: Zeitungsnachricht des Autounfalls vor Musils Haustüre in Wien 1911.

Am 17. Oktober 1911 findet, fast direkt vor Musils Haustüre Ecke Floriangasse und Landgerichtsstraße in Wien, der beschriebene Unfall 23 | Ebd.: 10.

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statt. Ein LKW-Fahrer hatte die Kontrolle über seinen Wagen verloren und einen Mann überfahren. In der Zeitung erscheint ein Holzstich mit der Überschrift: »Von einem Automobil getötet«.24 Er zeigt einen Mann, der unter einem Lastwagen liegt. Deformationen an Wagen oder Mensch sind nicht zu sehen, auch kein Menschenauflauf. Nur die im Bildvordergrund deplatziert wirkenden Insignien des Herrn, Stock und Hut, verweisen symbolisch auf seine Tötung. Abbildung 4: Zeitungsbild des Verkehrsunfalls der ABOAG in Berlin um 1927.

Doch erst zusammen mit einem weiteren Unfallbild der Berliner Presse aus dem Jahr 1927 entsteht die Unfallbeschreibung des Kapitels und das im Roman verwendete Bild des »gestrandeten« LKWs. Das Berliner Bild zeigt einen von der Straße abgekommenen und mit einer Hausecke kollidierten Omnibus der ABOAG (»Allgemeine Berliner Omnibus Aktiengesellschaft«) und die ihn umgebende Menschenmenge.25 Musil hat diesen Unfall auch in einer anderen Geschichte 1927 verarbeitet.26 Einen Verletzten oder Toten sieht man auf der Pho24 | Vgl. Corino 1988: 347. 25 | Vgl. ebd. 26 | In »Der Riese AGOAG« führt die Beobachtung eines Unfalls für den schwächlichen »Helden« zu einem neuen Lebensgefühl, indem er sich fortan des Omnibusses als Panzer bedient und dessen Stärke auf sich bezieht. »Er wurde zufällig Zeuge, wie ein riesiger Omnibus einen athletisch gebauten jungen Mann überfuhr, und dieser tragische Unfall wurde für ihn zum Ausgangspunkt eines neuen Lebens. Der Athlet wurde sozusagen vom Dasein abgeschält wie ein Span oder eine Apfelschale, wogegen der Om-

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tographie nicht, nur einige die Unfallstelle sichernde Polizeibeamte und die Menschentraube. Im Text des Romans überlagert Musil diese beiden Unfallbilder und -szenen, die fast 20 Jahre auseinander liegen. Das Montageverfahren entspricht der Anlage des gesamten Romans, in dem die Jahre um 1930 und 1914 ineinander gespiegelt sind, wie auch konkret seinem eigenen Umgang mit Photographien und öffentlichen Bildern.27 Mittels Überblendung verdichtet Musil die beiden Unfälle zu einem Exempel des Autounfalls schlechthin, in dem dessen abgründige Logik zur Sprache kommt. Statt von einer Unfallursache zu sprechen oder Bedingungen zu nennen, die möglicherweise zu der Entgleisung aus der Ordnung des Verkehrs hatten führen können – der Fahrer habe die Kontrolle verloren – hebt Musil das Unfallgeschehen aus einer topographischen in eine temporale Ordnung. Mit diesem Wechsel ins Bezugsystem der Zeit wird die Geschwindigkeit des Automobils wie die Reaktionsgeschwindigkeit thematisierbar, und es gelingt Musil eine Formulierung der Gesetze und Logik des Autounfalls: Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Reihe gesprungen, eine quer schlagende Bewegung; etwas hatte sich gedreht, war seitwärts gerutscht, ein schwerer jäh gebremster Lastwagen war es, wie sich jetzt zeigte, wo er, mit einem Rad auf der Bordschwelle, gestrandet dastand.28 Musil beschreibt in der Vorgängigkeit des »schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Reihe gesprungen« exakt die Unordnung eines jeden Unfalls, seine Gesetzlichkeit. Die Ordnung des Verkehrs, d. h. die automobilen wie die technischen Abläufe, aber auch die physiologischen werden durch den Unfall nur vorübergehend gestört, wie Musil etwas später an den beiden Passanten und deren Bewältigung des Unfallgeschehens zeigt. Die Durchdringung von äußerer und innerer Störung macht dieses erste Kapitel des Romans, das ironischerweise mit den Worten »Woraus bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht« betitelt ist, zu einer der tiefsinnigsten Unfalldarstellungen in der Literatur. nibus bloß peinlich berührt zur Seite wich, stehenblieb und aus vielen Augen zurückglotzte. Es war ein trauriger Anblick, aber unser Mann nahm rasch seine Chance wahr und kletterte in den Sieger hinein. [. . .] Unser Held saß nun auf dem Verdeck und war so groß, daß er alles Gefühl für die Zwerge verlor, die auf der Straße wimmelten [. . .]. Er sah auf die Dächer der eleganten Privatautos, die ihm sonst geradezu einschüchternd vornehm erschienen waren, – nun, er sah im Bewußtsein der eigenen Zerstörungskraft etwa auf sie wie ein Mensch, mit einem Messer in der Hand, auf die lieben Hühner in einem Geflügelhof.« (Musil 1978b: 586.) 27 | Vgl. Wagner-Egelhaaf 1991. 28 | Musil 1978a: 10.

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Was Musil hier feinsinnig formuliert, ist der Umstand, dass sich die eigentliche Ursache des Unfalls jeder Wahrnehmung wie Rekonstruktion entzieht, weil sie schlichtweg immer vorausliegt. Das temporale Paradigma der Vorzeitigkeit, eines unhintergehbaren ›schon vorher‹ begründet die prinzipielle Nachträglichkeit aller Wahrnehmung und der Ursachenforschung, ja mehr noch: die Nachträglichkeit des Unfalls als Ereignis selbst. Er lässt sich weder voraussehen, noch kalkulieren, noch nachträglich ergründen. Er entzieht sich der kausalen wie der chronologischen Ordnung. Das »Schon einen Augenblick vorher« formuliert die Einbeziehung eines offenen Kontextes, der immer schon den Unfall als mögliches Ereignis umfasste. Der eigentliche Unfall wird damit zu einem namenlosen Etwas. Indem Musil die Logik des Unfalls nicht mehr in räumlichen Kategorien, als von außen zustoßender Unglücksfall, sondern als temporale Unordnung begreift, formuliert er dessen Gesetzmäßigkeit. Erst nachträglich, nach der Turbulenz des Unfalls zeigen sich die Dinge wieder, bildet sich im Text ein Lastwagen als Ursache der Störung heraus. Doch die Unfallursache selbst bleibt ungeklärt. Damit aber noch nicht genug. Musil stellt den gesamten Ablauf eines Unfallgeschehens dar: Von der vorgängigen Unordnung über den Unfall zu dessen Attraktion sowie dessen nachträglicher Bewältigung, vom Schock zurück zur Normalität oder genauer: von der vermeintlichen Ordnung zur Unordnung und wieder zurück zur Ordnung. Zunächst die Attraktion und eine vermeintliche Aufklärung der Unfallursache: Wie die Bienen um das Flugloch hatten sich im Nu Menschen um einen kleinen Fleck angesetzt, den sie in ihrer Mitte freiließen. Von seinem Wagen herabgekommen, stand der Lenker darin, grau wie Packpapier, und erklärte mit groben Gebärden den Unglücksfall. Die Blicke der Hinzukommenden richteten sich auf ihn und sanken dann vorsichtig in die Tiefe des Lochs, wo man einen Mann, der wie tot dalag, an die Schwelle des Gehsteigs gebettet hatte. Er war durch seine eigene Unachtsamkeit zu Schaden gekommen, wie allgemein zugegeben wurde.29 Die Beunruhigung, die der Unfall für das Verkehrsgeschehen wie für die Beobachter im Roman bedeutet, wird daraufhin mit einer Erklärung beseitigt. Eine Klassifikation, allgemeine Aussagen, eine Statistik und schließlich die Rückkehr zur Ordnung durch Aufräumarbeiten lassen das Außergewöhnliche in der Normalität verschwinden und 29 | Musil 1978a: 10.

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die Irritation der Passanten zur Befriedigung über den ordnungsgemäßen Ablauf der Katastrophenbewältigung werden. Musils Thema ist nicht nur die Logik des Unfalls, sondern auch die Psychologie der individuellen wie kollektiven Unfallbewältigung. Dass daraus »bemerkenswerter Weise nichts hervorgeht«, stellt das Kapitel von Beginn an unter einen Ironieverdacht, der auch darauf verweist, dass das Außergewöhnliche des Unfalls keineswegs so außergewöhnlich ist, wie es erscheint. Schon die Annahme, der Unfall sei ein Ereignis, das als Unordnung eine bestehende Ordnung stört oder gar zerstört, muss als Bewältigungsstrategie, als Verdrängung angesehen werden. Den Prozess der nachträglichen Überführung einer Unordnung in die gewohnte Ordnung zeigt Musil an der Reaktion der beiden Passanten: Auch die Dame und ihr Begleiter waren herangetreten und hatten über Köpfe und gebeugte Rücken hinweg, den Daliegenden betrachtet. Die Dame fühlte etwas Unangenehmes in der Herz-Magengrube, das sie berechtigt war für Mitleid zu halten; es war ein unentschlossenes, lähmendes Gefühl. Der Herr sagte nach einigem Schweigen zu ihr: ›Diese schweren Lastwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg.‹ Die Dame fühlte sich dadurch erleichtert und dankte mit einem aufmerksamen Blick. Sie hatte dieses Wort schon manchmal gehört, aber sie wußte nicht, was ein Bremsweg sei, und wollte es auch nicht wissen; es genügte ihr, daß damit dieser gräßliche Unfall in irgend eine Ordnung zu bringen war und zu einem technischen Problem wurde, das sie nicht mehr unmittelbar anging. Man hörte jetzt auch schon die Pfeife eines Rettungswagens schrillen, und die Schnelligkeit seines Eintreffens erfüllte alle Wartenden mit Genugtuung. Bewundernswert sind diese sozialen Einrichtungen.30 Die Ironie ist offensichtlich. Der Begriff »Bremsweg« gibt eine vermeintliche – technische – Erklärung ab, die Dame fühlt sich dadurch erleichtert. Das Problem geht sie nichts mehr an, es ist ein technisches Problem geworden. Doch ist der Bremsweg bereits die zweite Unfallursache, die, in aller Kürze, gegeben wird, nachdem zunächst ja das selbst verschuldete, menschliche Versagen des Passanten allgemein anerkannt worden war. Vor dem Hintergrund einer Kulturgeschichte des Unfalls tritt damit eine Umkehrung zu den alten Gesetzen des Autounfalls ein. 30 | Musil 1978a: 11.

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Nicht der ›wilde Autler‹ und sein Geschoss tragen als Gefahr für die Öffentlichkeit die Schuld, sondern die Unachtsamkeit des Passanten der neuen Verkehrsordnung gegenüber, sein menschliches Versagen. Wenn die Schuld dennoch beim Automobil liegt, dann im technischen Bereich, im Bremsweg, für den niemand zur Verantwortung zu ziehen ist, weil dieser mittlerweile zur Ordnung der Dinge zählt. »›Diese schweren Lastwagen, wie sie hier verwendet werden, haben einen zu langen Bremsweg.‹« Schließlich machen Aufräumarbeiten den Ausnahme- zum Normalzustand, wobei es sich Musil nicht nehmen lässt anzudeuten, wie stark Autounfälle inzwischen von Institutionen flankiert werden, die ihre Folgen bewältigen: Man hob den Verunglückten auf eine Tragbahre und schob ihn mit dieser in den Wagen. Männer in einer Art Uniform waren um ihn bemüht, und das Innere des Fuhrwerks, das der Blick erhaschte, sah so sauber und regelmäßig wie ein Krankensaal aus. Man ging fast mit dem berechtigten Eindruck davon, daß sich ein gesetzliches und ordnungsgemäßes Ereignis vollzogen haben.31 Schlussendlich überführt Robert Musil die vermeintliche Unordnung der Dinge mittels Statistik in eine höhere Ordnung der Dinge. ›Nach den amerikanischen Statistiken‹, so bemerkte der Herr, ›werden dort jährlich durch Autos 190.000 Personen getötet und 450.000 verletzt.‹ ›Meinen Sie, daß er tot ist?‹, fragte seine Begleiterin und hatte noch immer das unberechtigte Gefühl, etwas Besonderes erlebt zu haben.32 Die angeführte Unfallstatistik ist extrem übertrieben. Die Musil-Forschung hat darauf hingewiesen, dass sie nicht einmal annähernd den Tatsachen entspricht.33 Doch das hat seinen Sinn. In der ironischen Übersteigerung der Zahlen legt Musil nahe, dass die Ausnahme – der Unfall – inzwischen nichts weniger als eine Normalität darstellt. Es ist daher folgerichtig ein »unberechtigtes Gefühl« der Beobachterin, etwas Besonderes erlebt zu haben und aus dem Unfallgeschehen geht eben »bemerkenswerterweise« nichts Außergewöhnliches hervor.

31 | Ebd. 32 | Ebd. 33 | Vgl. Arntzen 1982.

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IV Dass Musil »etwas« aus der Reihe springen lässt, ein pars pro toto an die Stelle einer konkreten Ursache setzt, hat durchaus seinen Grund. Der bei Ernst Mach philosophisch wie psychotechnisch ausgebildete Robert Musil hätte mit Sicherheit eine andere, naturwissenschaftlich exakte Formel für Unfälle finden oder erfinden können. Doch der stets so passende wie nichtssagende shifter »etwas« markiert mit seiner Ungenauigkeit eine systematische Stelle im Verhältnis der Moderne zu ihren Geschwindigkeitstechnologien. Musil beschreibt 1927 in einem Essay mit dem Titel »Geschwindigkeit ist eine Hexerei« das moderne Verhältnis von Zeit, Beschleunigung und Wahrnehmung. Der Text situiert sich in einer typischen Beobachtung moderner Hast: Klassische erlebte Geschwindigkeiten gibt es ja schon heute nur noch dort, wo man sie am wenigsten erwarten würde, bei den Bauern auf dem Land. [. . .] In der Stadt ist die einzige Geschwindigkeit, die man eigentlich noch spürt, die des zu erreichenden Anschlusses, die Hast des Umsteigens und die Unsicherheit des rechtzeitigen Weiterkommens. Ohne den Segen der Neurasthenie würde man auch diese schon verloren haben, denn schlimmstenfalls opfert der Eilige, statt daß er keucht und Dampf schwitzt, Mark Eins, fünfzig für ein Auto, das alles dies sofort für ihn besorgt.34 Im Zentrum der Reflexionen dieses Essays steht die Sprache als Medium und konkret die Redewendung »Hals über Kopf«: »Hals über Kopf; welch ein wichtiges und oft gebrauchtes Wort in einer Zeit, wo es so auf das Tempo ankommt! Wie viele Menschen bedienen sich in ihrer Eile dieses Worts, ohne zu ahnen, welche Schwierigkeiten es der Eile bereitet.«35 Musil liest die Redewendung wörtlich. Sie wird zur buchstäblich halsbrecherischen Wahrheit über die Eile in beschleunigten Zeiten: Denn Hals über Kopf irgendwohin stürzen, heißt eine so wilde Beschleunigung entwickeln, daß sich der Körper über den Hals, der Hals über den Kopf zu schieben scheint; die Eile faßt beim Hosenboden an, das Gesetz der Trägheit drückt beim Kopf zurück, und der Mensch wird 34 | Musil 1978c: 685. 35 | Ebd.: 683.

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aus dem Menschen gerissen, wie der Hase aus dem Balg. Aber wann hat man denn je solche rasende Eile gehabt?36 Die Eile ist keine moralisch fragwürdige Geisteshaltung mehr – wie sie es noch als festina in der humanistischen Tradition der cura, der Sorge und Sorgfalt war, die etwa Erasmus von Rotterdam als sprichwörtliches Ideal der festina lente beschrieben hat: Eile mit Weile.37 Sie ist bei Musil jedoch ebensowenig moderne Nervosität, jenem neben Schock, Trauma und Schwindel so epochalen Geisteszustand des frühen 20. Jahrhunderts. Musil fasst die »rasende Eile« der modernen Welt vielmehr als objektive Größe auf – mit katastrophalen Folgen. »Hals über Kopf« zu geraten, riskiert man buchstäblich im Unfall, im Unglück der rasenden Fahrt mit dem Auto. Daraus ergibt sich ein überraschender, paradoxer Schluss: »Wenn ein Auto oder ein Eisenbahnzug so Hals über Kopf fahren wollten, würden sie kriechen!«38 Es ist die Stockung, der Unfall der Geschwindigkeit selbst, den die Redewendung eigentlich ausdrückt. Das aber heißt noch genauer besehen: Hals über Kopf drückt also gar keine Geschwindigkeit aus, sondern ein Verhältnis zwischen Schnelligkeit und Gefahr des Beförderungsmittels oder zwischen Schnelligkeit und Aufregung höchster Anstrengung.39 Nicht nur das Halsbrecherische des Unfalls ist damit angesprochen, sondern – im heutigen Funsport-Vokabular ausgedrückt – der Kick. Speed als Lebensgefühl, Tempo als »Aufregung« vertritt hier nicht nur den nervösen Kern einer Geschwindigkeitskultur, sondern ist selbst seine motivationale Funktion. Die Gefahr hoher Geschwindigkeiten wird als Intensität und Obsession erlebt, Geschwindigkeit als Lustprinzip, als Lebensgefühl. No risk no fun. Musil drückte es 1927 noch so aus: »Die Fetzen müssen fliegen, der Schaum aus den Augen treten und die Flanken einen Krampf haben.«40 Robert Musil beschreibt hier fast schon die Ideale heutiger Actionfilme, die »Mission Impossible«, »The Fast and the Furious« oder einfach »Speed« heißen und die automobilen Träume wie Albträume erfüllen – und zwar als eine zur Normalität gewordene Aufregung. »Auch das Dahintoben ist Gewohnheitssache«, heißt es im Folgenden und sagt bereits die Folgen heutiger Stauordnungen voraus, in der Verkehrsexperten einen Anstieg von Dränglern und Rasern registrieren 36 37 38 39 40

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Ebd. Zu diesem ethischen wie philologischen Ideal vgl. Bickenbach 2002. Musil 1978c: 684. Ebd. Ebd.

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und von Regression wie von Aggressionsabbau sprechen.41 »Es gibt Nachbarn, welche dabei meinen, daß sie rücksichtsvoll wie auf geseiften Bohlen durch das Leben gleiten.«42 Das ist aber noch nicht alles: »Man sieht, das sind Schwierigkeiten. Das Böseste ist aber, daß das moderne Leben voll von neuen Geschwindigkeiten ist, für die wir keine Ausdrücke haben.«43 Der modernen Geschwindigkeitskultur steht nach Musil das Fossil Mensch mit seiner Sprache gegenüber. Denn: Geschwindigkeiten sind merkwürdigerweise das Konservativste, was es gibt. Trotz Eisenbahn, Flugzeug, Automobil, Tourenzahl, Zeitlupe sind ihre äußersten Grenzen heute noch die gleichen wie die in der Steinzeit; schneller als der Gedanke oder der Blitz und langsamer als eine Schnecke ist in der Sprache nichts geworden. Das ist eine verteufelte Lage für ein Zeitalter, das keine Zeit hat und sich bestimmt glaubt, der Welt eine neue Geschwindigkeit zu geben.44 Aus diesem Befund schließt der Dichter, dass das Medium Sprache nicht geeignet ist, die technologisch neuen Geschwindigkeitsdimensionen zu bezeichnen. Fast glaubt man, der nachfolgende Satz beziehe sich schon auf die Taktung der Computerchips, die mit Frequenzen im Mega- und Gigaherzbereich keiner sprachlich repräsentierbaren Geschwindigkeit mehr entsprechen: »die ungeheuerlichsten Geschwindigkeiten der Technik sind nur noch ein stilles Schaukeln. [. . .] Die großen neuen Intensitäten haben vollends für das Gefühl etwas Unfaßbares, wie Strahlen, für die noch kein Auge da ist.«45 Der Autounfall ist ein zentrales modernes Beispiel für diese »neuen Intensitäten« und Unfassbarkeiten, für die keine menschlichen Organe und Medien, weder Sinne noch Sprache zureichend sind. Deshalb besteht – nach seiner prinzipiellen Vorzeitigkeit – die zweite neue Gesetzlichkeit des Autounfalls in der Gewöhnung an »etwas«, das paradoxerweise zugleich als eine Ordnung wie als eine Unordnung der Dinge wahrgenommen werden kann.

41 42 43 44 45

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Ebd. Ebd. Ebd. Ebd., Herv. M. B. Ebd.: 685.

Robert Musil und die neuen Gesetze des Autounfalls | 111 Abbildung 5: Lartigue, Jacques-Henri 1912: Grand Prix des Automobil-Club de France.

V In der Kulturgeschichte des Autounfalls geht es um die technologischen Rückwirkungen der neuen Tempi auf die menschliche Wahrnehmung, der sich »etwas« zwangsläufig entzieht. Wenn das Tachometer in seiner heute noch bekannten Form zukünftig durch Projektionen auf der Windschutzscheibe ersetzt werden wird, so nur, weil es um 1900 möglich geworden ist, mithilfe von Tachistoskopen die Trägheit menschlicher Augen zu messen und zu beziffern. Um die automobile Relation von Fahrtgeschwindigkeit und Reaktionsgeschwindigkeit weiß man deshalb heute nur zu gut Bescheid. Der Fahrer ist das schwächste Glied in der Kette. Beim Blick von der Straße auf den Tacho muss sich das Auge des Fahrers von Fern- auf Nahsicht umstellen. Diese Akkomodation braucht Zeit. Bei einer Geschwindigkeit von 100 km/h ist ein sekundenlanger Blick auf den Tacho genau 27,78 Meter wert. Diese Strecke addiert sich zum Bremsweg, wenn der Fall eintritt, der zum Unfall wird. Die so genannten Head up Displays werden an dieser Front eine weitere Sicherheitstechnik einführen, die – wie immer – zuerst als Luxus der Oberklasse beginnt. Die Daten werden direkt auf die Windschutzscheibe projiziert, wobei für den Fahrer

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der Eindruck entsteht, als schwebe das Bild etwa zweieinhalb Meter vor ihm über dem Kühlergrill.46 Abbildung 6: 30. September 1955: Der Unfallwagen von James Dean.

Damit wird wieder einmal eine neue Sicherheit geschaffen, aber die Geschichte wird trotzdem dieselbe bleiben. Die Geschwindigkeitsmaschine wird trotz aller Sicherheitsvorkehrungen weiterhin ihre Katastrophen produzieren, und es wird nachträglich immer wieder gefragt werden – und werden müssen – wie und warum ein Unfall geschehen konnte. Dies gilt für das individuelle Opfer von Autounfällen und seine Angehörigen ebenso wie es kollektiv für die große Liste berühmter Unfallopfer gilt. Neben dem Heldentod von Rennfahrern wie Bernd Rosemeyer (1938), Jochen Rindt (1970) oder zuletzt Ayrton Senna, können Autounfälle wie der von James Dean (1955, vgl. Abbildung 6), Grace Kelly (1982) oder Lady Di (1997) auch als Lehrstücke kollektiver Sinnsuche angesichts einer kontingenten Grausamkeit verstanden werden.47 46 | In Europa sorgte erstmals Mitte 2003 das Head up Display der Hersteller Siemens und VDO im neuen 5er BMW für Furore. Vgl. Kaufmann 2004. 47 | Vgl. Domecq 1994.

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In diesen prominenten Fällen wird der Unfall nicht nur zur – oft bebilderten – Schlagzeile, sondern zur öffentlichen Suche nach seinen Ursachen. Hier will man, anders als im täglichen Unfallgeschehen, weniger die konkrete Kausalität als die Tragik verstehen. Prominente Unfälle werden so zum technischen und kriminologischen Gegenstand jahrelanger Untersuchungen und zum Gegenstand von Spekulationen, von Verschwörungstheorien und nicht zuletzt zum Mythos vom tragischen Tod einer öffentlichen Person. Nicht die Ursachen werden dabei geklärt, noch der Automobilismus selbst kritisiert, sondern es schlägt die Tragik des Unfalls in Ruhm um.48 Aber auch in den Reihen der Intellektuellen, Dichter und Künstler hinterlässt der Autounfall seine Spuren: Rolf Dieter Brinkmann (1975) läuft ebenso wie Roland Barthes (1980) vor ein Auto und wird Opfer des Verkehrs, Italo Svevo (1928), Albert Camus (1960), Vilém Flusser (1991) und W. G. Sebald (2004) starben bei Autounfällen als Fahrer oder Beifahrer wie auch der Regisseur Friedrich Wilhelm Murnau (1931), Jackson Pollock (1956) oder Helmut Newton (2001). Die Liste ist lang und die Unfallursachen individuell: Herzinfarkt möglicherweise bei Newton, Alkohol ganz sicher bei Pollock, doch in letzter Instanz ist es immer – wie bei James Dean und Lady Di – die ›überhöhte‹ Geschwindigkeit, die Schiffbruch erleidet und den Unfall hervorbringt, indem sie selbst ›schon vorher‹ aus ihrer eigenen Richtung, dem linearen Vektor der idealen Weiterfahrt, ausgebrochen ist. Jenseits individueller Tragik sind Autounfälle wissens- und kulturgeschichtlich ein Programm der Nachträglichkeit, eines Feedbacks, das von industrieeigenen wie von unabhängigen Unfallforschungsgruppen zur Optimierung der automobilen Sicherheit seit langem beobachtet und ausgewertet wird. Das Wissen um den Unfall zirkuliert in den Planungen und Produktionen der Automobilhersteller wie in den Sicherheitsprogrammen der Crash Tests. Mit guten Noten oder Sternen beim European New Car Assessment Program lässt sich gut Reklame machen. Und so wird der Autounfall noch in der Werbung inszeniert als zentrales ›Rätsel der Technik‹, nach dem Zufall und Notwendigkeit des Unfalls als Einheit der automobilen Technologie zusammenzudenken sind. Das Auto, wie wir es zu kennen glauben, ist selbst nur eine Momentaufnahme der komplexen Informations- und Produktionskreisläufe, in dem die Insassen der Geschwindigkeitsfabrik unter48 | Lady Di’s Unfallwagen wurde nach acht Jahren, im Juli 2005, noch einmal von Scotland Yard untersucht. Für James Dean und Lady Di liegen populäre Rekonstruktionen des Tages bzw. der letzten Stunden vor (vgl. Beath 1986 sowie Sancton/MacLeod 1998). An Lady Di’s Unfall knüpfen auch etliche Romane über dessen vermeintliche Wahrheit an (vgl. Brighton 1998; Rhodes 2004 sowie Cosse 2005).

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schiedliche Materialzustände handhaben und darauf vertrauen, dass nicht schon vorher etwas aus der Reihe gesprungen ist.

Literatur Arntzen, Helmut 1982: Musil-Kommentar II. Der Mann ohne Eigenschaften. München: Winkler. Baudry de Saunier, Louis 1901: Das Automobil in Theorie und Praxis. Wien/Pest/Leipzig: A. Hartleben. Beath, Warren N. 1986: The Death Of James Dean. New York: Grove Press. Benz, Carl 1925: Die ersten Fahrten. In: Krause, Markus (Hrsg.): Poesie & Maschine. Die Technik in der deutschsprachigen Literatur. Köln: Koesler. S. 66–69. Bickenbach, Matthias 1998: Der Alltag der Kontingenz: Crashing Cars. Über Autounfälle, Exempel und Katastrophendidaktik. In: Zimmermann, Peter/Binczek, Natalie (Hrsg.): Eigentlich könnte alles auch anders sein. Köln: König. S. 117–139. Bickenbach, Matthias 2002: Delphin mit Anker: Erasmus’ Festina lente als Lektüreanweisung. In: Bulletin Leseforum Schweiz, 11 (2002). S. 45–48. Bickenbach, Matthias/Stolzke, Michael 1996: Schrott – Bilder aus der Geschwindigkeitsfabrik. Eine fragmentarische Kulturgeschichte des Autounfalls. Internet-Installation. Bonn: Textur. In: http://www. textur.com/schrott, 23.2.2008. Bierbaum, Otto Julius 1920: Eine kleine Herbstreise im Automobil. In: Ders.: Yankeedoodlefahrt und andere Reisegeschichten. München: Georg Müller. S. 465–471. Brighton, Peter 1998: Der Tod des Lächelns. Roman. München: Econ. Corino, Karl 1988: Robert Musil. Leben und Werk in Bildern und Texten. Reinbek: Rowohlt. Cosse, Laurence 2005: Der 31. Tag des Monats August. Frankfurt am Main: Frankfurter Verlagsanstalt. Fournier, Henri 1902: Das Automobilgesicht. In: Allgemeine Automobil-Zeitung, 3 (1902). S. 11. Fraunholz, Uwe 2002: Motorphobia. Antiautomobiler Protest in Kaiserreich und Weimarer Republik. Göttingen: Vandenhoeck & Rupprecht. Graf, Oskar Maria 1940: Das Leben meiner Mutter. München: Desch. Jung, Emil 1902: Radfahrseuche und Automobilenunfug. München: Schupp.

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Kassung, Christian 2001: Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften« im Diskurs der modernen Physik. München: Wilhelm Fink. Kaufmann, Joachim 2004: Head-up-Display: Neue Technik für mehr Verkehrssicherheit. In: http://www.zdnet.de/enterprise/tech/auto/ 0,39026506,39125753,00.htm, 20.10.2004. Müller, Dorit 2004: Gefährliche Fahrten. Das Automobil in Literatur und Film um 1900. Würzburg: Königshausen & Neumann. Musil, Robert 1978a: Der Mann ohne Eigenschaften, Bd. 1. Reinbek: Rowohlt. Musil, Robert 1978b: Der Riese AGOAG. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. II. Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Reinbek: Rowohlt. S. 585–587. Musil, Robert 1978c: Geschwindigkeit ist eine Hexerei. In: Ders.: Gesammelte Werke, Bd. II. Prosa und Stücke. Kleine Prosa, Aphorismen. Autobiographisches. Essays und Reden. Kritik. Reinbek: Rowohlt. S. 683–685. Neubauer, Hans-Otto (Hrsg.) 1986: Im Rückspiegel. Die Automobilgeschichte der Karikaturisten 1886–1986. Königstein im Taunus: Königsteiner Wirtschaftsverlag. Pidoll, Michael Freiherr von 1912: Der heutige Automobilismus. Ein Protest und Weckruf. Wien: Manz. Rhodes, Dan 2004: Lady Di oder das kleine weiße Auto. Köln: Kiepenheuer & Witsch. Ruppert, Wolfgang 1993: Das Auto. »Herrschaft über Raum und Zeit«. In: Ders.: Fahrrad, Auto, Fernsehschrank. Zur Kulturgeschichte der Alltagsdinge. Stuttgart: Fischer. S. 119–161. Sachs, Wolfgang 1984: Liebe zum Automobil. Reinbek: Rowohlt. Sancton, Thomas/MacLeod, Scott 1998: Der Tod einer Prinzessin – Die Wahrheit über Dianas Ende. München: Droemersche Verlagsanstalt. Virilio, Paul 1989: Der negative Horizont. München: Hanser. Wagner-Egelhaaf, Martina 1991: »Wirklichkeitserinnerungen«, Photographie und Text bei Robert Musil. In: Poetica, 23 (1991). S. 217–255. Zeller, Reimar (Hrsg.) 1986: Das Automobil in der Kunst 1886–1986. München: Prestel Verlag.

Abbildungen Abbildung 1: Patent-Motorwagen mit Gasbetrieb durch Petroleum, Benzin, Naphta etc. In: Sachs 1984: 3. Abbildung 2: Weiluc, Lucien-Henri 1902: Auto überfährt Fußgänger. In: Neubauer 1986: 14.

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Abbildung 3: Zeitungsnachricht, Wien 1911. In: Corino 1988: 347. Abbildung 4: Zeitungsbild, Berlin um 1927. In: Corino 1988: 347. Abbildung 5: Lartigue, Jacques-Henri 1912: Grand Prix des AutomobilClub de France. In: Zeller 1986: 252. Abbildung 6: Der Unfallwagen von James Dean. In: Express 30.9.2005: 5.

»A lot of things can be masked« – Flugunfalluntersuchung und Flugunfallprävention

Christoph Asendorf

In Statistiken zu Flugunfällen erscheint, auch wenn dies eine Angabe mit weitem Interpretationsspielraum ist, der Faktor Mensch als der häufigste Auslöser. Unfallprävention durch Training und Ausrüstung gehörte infolgedessen schon früh zu den zentralen Aufgaben in der Luftfahrt. Theoretische Voraussetzungen wurden mit der schnell entstehenden Flugpsychologie und -medizin geschaffen, während die Piloten zugleich durch technische Hilfsmittel zum Ausgleich der Druckdifferenz in großen Flughöhen und durch Rettungsgeräte wie den Schleudersitz geschützt wurden. Da die Militärfliegerei eher in Grenzbereiche vorstieß als die zivile, hatten viele derartige Entwicklungen hier ihren Ausgangspunkt. Auch an der Vermeidung von Flugunfällen aus technischen Gründen arbeitete man von Anfang an; aber eine wirklich systematische Untersuchung derartiger Unfälle nach international festgelegten Standards setzte erst ein, als nach dem Zweiten Weltkrieg das Flugzeug langsam zu einem Massenverkehrsmittel wurde. Während die Fragen der Unfallprävention in den ersten drei Abschnitten diskutiert werden, geht es in den letzten drei um Strukturen und Probleme der Unfalluntersuchung.

Wahrnehmungspsychologie und Flugtraining Spezifische Formen von Orientierungs- und Sinnestäuschungen, die später auch in der Fliegerei eine große Rolle spielen sollten, wurden schon im 19. Jahrhundert von Helmholtz, Mach oder Hering erforscht. Ein Grundphänomen, auf das man immer wieder stieß, ist die Abhängigkeit der Wahrnehmungen von der Stabilität der Umwelt. Störungen können im Regelfall ausgeglichen werden, weil der Organismus über ein Bezugssystem verfügt, das ihm prinzipiell jederzeit seine räumliche Lage anzeigt. Dieses Bezugssystem aber ist auf die irdischen Ver-

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hältnisse zugeschnitten und tief im Physiologischen verankert; beim Fliegen unterliegt es starken Störeinflüssen.1 In den dreißiger Jahren, dieser für die Geschichte der Luftfahrt entscheidenden Dekade, in der mit der DC-3 der Prototyp des modernen Flugzeuges entstand, Instrumentenflug und Druckkabinen eingeführt wurden, setzte auch eine systematische psychologische und medizinische Forschung ein. Unmittelbar evident waren die zahlreichen optischen Täuschungen, die für das Fliegen charakteristisch sind. Im Jahr 1926, also noch in der Anfangsphase des zivilen Passagierverkehrs, erschien in der Zeitschrift »Luftfahrt« ein Artikel, der entsprechende Erfahrungen zum Thema hatte.2 So fehlt zwischen dem Flugzeug und einem gesehenen Objekt, anders als auf der Erde, jeder weitere Anhaltspunkt. Damit wird die Schätzung von Entfernungen schwierig. Ohne zusätzliche Fixpunkte im Zwischenraum werden auch Bewegungen verlangsamt wahrgenommen, bis hin zum Gefühl des Stillstands in größerer Höhe. Gegenstand luftfahrtpsychologischer Forschung werden dann aber eher Probleme, die ein konkretes Fehlverhalten auslösen könnten.3 So führen plötzlich ins Sehfeld geratende Objekte zu einer Wahrnehmung, die als Gamma-Bewegung bezeichnet wird: Obwohl sie feststehen, scheinen sie sich zu bewegen oder Größenänderungen zu durchlaufen.4 Überaus prekär kann sich die autokinetische Täuschung auswirken. Der Terminus bezeichnet ein Phänomen, das bei der Beobachtung eines einzelnen Lichtpunktes in einem dunklen Raum auftritt: Dieser Punkt bleibt nicht stehen, sondern scheint sich zu bewegen. Start- oder Landeunfälle bei Nacht können vermieden werden, indem der Pilot einzelne Lichter nicht über längere Zeit fixiert.5 Bewegungsperspektiven bei Piloten warfen die Frage nach der Erlernbarkeit bestimmter Formen der Raumwahrnehmung auf. Daran arbeitete im Zweiten Weltkrieg der Psychologe James Jerome Gibson, und zwar besonders wegen der neuartigen Anforderungen bei Landungen auf Flugzeugträgern.6 Durch die Eigenbewegung auch des Landeplatzes handelt es sich hier um eine Situation extremer dynamischer Komplexität. Die Umweltszene dehnt sich genau so schnell aus, wie man sich in sie hineinbewegt. Gibsons graphische Darstellung des Wahrnehmungsfeldes eines Piloten beim Landeanflug zeigt Verformungsgradienten, die vom Punkt der vermuteten Bodenberührung 1 2 3 4 5 6

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Vgl. Gerathewohl 1954: 91 und 73. Siehe auch Müller 1956: 150. Vgl. Steinitz 1926. Vgl. Gerathewohl 1954: 115–117. Vgl. Arnheim 1978: 440–442. Vgl. Gibson 1973: 193; Blatty 1960. Vgl. Gibson 1973: 183–199.

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ausgehen. Von dort aus steigt die Geschwindigkeit des Bodenflusses strahlenförmig nach allen Seiten an, um gegen den Horizont wieder auf Null zu sinken. Das bietet das Bild einer Explosion. Der Fluganfänger wird denselben Netzhauteindruck haben wie der erfahrene Pilot. Letzteren aber unterscheidet die Fähigkeit, die Reize anders lesen zu können; er hat gelernt, auch gegenüber einem scheinbar explodierenden Wahrnehmungsfeld die Orientierung zu bewahren. Die Analyse der Verformungsgradienten erleichtert also das spezifische Training von Piloten. Neben dem Auge ist das Gleichgewichtsorgan wichtig für die Lageund Bewegungsorientierung, aber beim Fliegen ist gerade dieses Organ von besonderer Irritabilität. Bei der Beurteilung von Bewegungsund Gleichgewichtsempfindungen wirken normalerweise Augen und Vestibularapparat zusammen. Ohne Sicht ist das Gleichgewichtsorgan außer Stande, beispielsweise einen Unterschied zwischen der Schwerkraft und der Resultierenden aus Schwerkraft und Zentrifugalkraft zu erkennen; ein Pilot also könnte so die Lage seines Flugzeuges zum Horizont nicht bestimmen. Auch kann er mit dem Gleichgewichtsorgan keine gleichmäßigen Geschwindigkeiten, sondern nur Veränderungen der Geschwindigkeit wahrnehmen.7 Zu den wichtigsten vestibularen Orientierungstäuschungen beim Fliegen, zu denen auch die oft mit körperlichem Unbehagen verbundene Erscheinungsform als Vertigo zählt, gehören die Scheinbewegungen von Gegenständen.8 Für eine außergewöhnlich heimtückische Täuschung gibt es in der amerikanischen Fliegersprache einen drastischen Ausdruck: »Graveyard Spin« meint ein Phänomen, das eintritt, wenn eine Drehbewegung unterbrochen wird – jetzt nämlich entsteht der Eindruck einer Drehung in die Gegenrichtung mit eventuell fatalen Konsequenzen für die Steuerimpulse.9 Aber die, wie es in der Literatur heißt, »seltsamsten und am wenigsten kontrollierbaren Vestibulartäuschungen beim Fliegen« entstehen durch Coriolisbeschleunigungen.10 Gemeint sind zusätzliche Beschleunigungen, die in einem sich drehenden System ausgelöst werden. Das geschieht beispielsweise, wenn der Körper die Drehbewegungen des Flugzeuges mitmacht und der Kopf in einer anderen Ebene bewegt wird. Dadurch treten Kräfte auf, die in den Bogengängen des Vestibularapparates Strömungen bewirken, welche ein Kippen des Flugzeuges suggerieren können. Weitere Komplikationen resultierten aus dem Instrumenten- bzw. Blindflug. Völlig neue Koordinationsbezüge mussten erlernt werden. 7 8 9 10

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Vgl. Müller 1956: 131 und 148. Vgl. ebd.: 147f.; Gerathewohl 1954: 107–113. Vgl. Blatty 1960; Gerathewohl 1954: 148. Ebd.: 152. Vgl. Müller 1956: 126f.

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Hier war das fliegerische Gefühl nicht mehr die ultima ratio bei der Maschinenlenkung. Ganz im Gegenteil: Die Sinnesdaten, und ganz besonders die des Vestibularorgans, waren unter Blindflugverhältnissen, d. h. ohne das Korrektiv der visuellen Wahrnehmung außerordentlich trügerisch und damit gefährlich. Selbst erfahrene Piloten zeigten beim Blindflug nicht immer kontrollierte Reaktionen. Es mussten also Test- und Trainingsverfahren entwickelt werden.11 Eines der zu diesem Zweck konstruierten Geräte war der Fliegerdrehstuhl. Drehungen eines Menschen um die vertikale oder horizontale Achse erzeugen Empfindungen und Gefühle, die denen beim Blindflug ähnlich sind. Schon Ernst Mach hatte 1875 herausgefunden, dass gleichförmige Drehungen nicht wahrgenommen werden können, sondern nur Drehbeschleunigungen. Drehnachempfindungen waren 1906 Gegenstand einer Arbeit von Barany, die Reizschwelle bei Drehempfindungen wurde 1908 untersucht. Die Probleme waren den Experimentatoren also schon lange bekannt. Was nun aber auf dem Fliegerdrehstuhl festzustellen war, betraf nicht die Irritationen selbst, sondern die Fähigkeit der Probanden, deren Täuschungscharakter zu erkennen und sich den Instrumenten anzuvertrauen. Anders gesagt, es sollte nicht ermittelt werden, ob jemand imstande ist, komplexe Flugbewegungen zu erspüren und auf sie zu reagieren, sondern ob ein Pilot bereit ist, sich gegen seine Sinneswahrnehmungen auf objektive Anzeigen einzustellen – die »Versuche am Drehstuhl dienen also dem Zweck, die Umstimm- oder Objektivierungsfähigkeit des Menschen als eine für den Blindflug notwendige Voraussetzung zu untersuchen.«12 Erst technische Hilfsmittel, wie sie von der Mitte des 20. Jahrhunderts an zur Verfügung standen, reduzierten die Bedeutung all dieser Wahrnehmungsirritationen, deren Erforschung bis dahin durch die Erfordernisse der Unfallprävention stark vorangetrieben wurde.13 Dabei handelt es sich insbesondere um automatisierte Landeverfahren und Kurssteuerungen, elektronische Bordgeräte, die die Beobachtung des Flugzustandes erleichtern, und die Einführung des Radars. Die Imponderabilien hochkomplexer organismischer Erfahrung, durch Training nur bedingt unter Kontrolle zu bringen, werden instrumentell minimiert.

11 | Vgl. Gerathewohl 1950: 1034f. 12 | Gerathewohl 1954: 149, vgl. 142–153. Siehe auch Müller 1956: 235. Der Konflikt zwischen Sinneseindruck und Instrumentenanzeige stellt auch heute noch eine mögliche Unfallursache dar, siehe »Der Spiegel« 10/1993: 261. 13 | Vgl. Müller 1956: 153; Gerathewohl 1954: 11–14.

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Armierungen: Druckanzug und Druckkabine Mit dem Schema der fünf »physiologischen Barrieren« hat die Luftfahrtmedizin die grundsätzlichen Widerstände benannt, auf die der Mensch im Flugzeug stößt.14 Der Verlust natürlicher Umweltbedingungen führt zu der Notwendigkeit, diese zu simulieren. Am bekanntesten ist die Höhenbarriere, an die der Organismus, mit der Folge eines Sauerstoffmangels, in Höhen von über 4.000 m gerät. Hier treten deutliche Leistungsabnahmen bei Reflexen, Gedächtnis und Aufmerksamkeit ein; für die Sauerstoffversorgung und, in noch größeren Höhen, für die Aufrechterhaltung des Drucks muss unabhängig von der Umgebung die Kontrolle bestimmter physiologischer Grundvoraussetzungen gewährleistet sein. Als Folge des Sauerstoffmangels in den Organen können auch Veränderungen der Stimmungslage eintreten, Depressionen oder Euphorien bis hin zum Höhenrausch. Nach der Höhen- wird dann in ca. 12.000 m die Druckbarriere erreicht. Schon etwas unterhalb dieser Schwelle wird der immer geringer werdende Gesamtdruck deutlich bemerkbar; an der Druckbarriere tritt eine Veränderung im roten Blutfarbstoff ein, Magen und Darm dehnen sich aus, und es droht die Gefahr multipler Gasembolien. Hier muss also der Höhenschutz umfassender werden, neben dem Sauerstoffzusatz auch der Gesamtluftdruck erhöht werden. Die drei anderen Barrieren, die Beschleunigungsbarriere, die optische Barriere und die Strahlungsbarriere, sollen in unserem Zusammenhang nicht weiter interessieren, berühren sie doch nicht den Normalfall des Fliegens, sondern extreme Flugzustände, Überschallgeschwindigkeiten und Flüge außerhalb der Erdatmosphäre. Die Höhen- und die Druckbarriere aber sind von unmittelbarer Bedeutung, definieren sie doch die Rahmenbedingungen und damit den Grad des prothetischen Aufwands, der bei der Entwicklung hin zu größeren Flughöhen betrieben werden muss. Die Piloten des Zweiten Weltkrieges brachte die seinerzeit verfügbare Technik immer wieder den physiologischen Barrieren bedrohlich nah. Das fliegerische Operieren im Grenzbereich mit Höhenatemgerät aber ohne Druckkabine veranschaulicht dichter als alle medizinischen oder technischen Beschreibungen ein literarischer Text. Es handelt sich um Saint-Exupérys Buch »Pilote de guerre« von 1942, das in Deutschland unter dem verharmlosenden Titel »Flug nach Arras« erschien. Der beschriebene Flug findet im »Kampf zwischen dem Westen und dem Nazitum« statt und ist nicht einfach ein Nacht- oder Ku14 | Müller 1956: 12f. Vgl. auch Ruff/Strughold 1939/1957: 123–127; Ruff u. a. 1989: 14f.

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rierflug wie in seinen früheren Büchern.15 »Pilote de guerre« ist im Frühsommer 1940 angesiedelt, während der letzten Phase des militärischen Widerstands gegen die deutsche Invasion. Das Buch thematisiert also einerseits im politischen Sinn die Möglichkeit von Selbstbehauptung angesichts des Verlusts sicherer Lebenssphären und beschreibt andererseits die Situation des Ausgesetztseins im Flugzeug. Dabei lässt Saint-Exupéry die Darstellung der Ausrüstungsgegenstände im Flugzeug direkt in eine Schilderung der Interaktion, ja fast der Symbiose von Mensch und Maschine übergehen. Die Maschine wird gleichsam an das menschliche Funktionssystem angeschlossen. Drei Schichten von Kleidung liegen übereinander, und diese Armatur wird durch Zusatzgeräte ergänzt, mit einem Heizkreislauf, mit Anschlüssen für Telephonverbindungen, um gegen den Motorenlärm die Kommunikation unter den Besatzungsmitgliedern sicherzustellen, und mit Sauerstoffröhren für die Atemmaske. Ein Kautschukschlauch verbindet mich mit dem Flugzeug, er ist genauso wichtig wie die Nabelschnur. Das Flugzeug schaltet sich in meine Bluttemperatur ein. Das Flugzeug schaltet sich in meine menschlichen Verbindungen ein. Ich habe Organe hinzubekommen, die sich gewissermaßen zwischen mich und mein Herz einschalten. Von Minute zu Minute werde ich schwerer, überladener, schwerfälliger.16 Eine solche Behinderung aber ist die Voraussetzung für den Flug in große Höhen. Dies ist so unheimlich wie befriedigend – Prothesen, die als Teil des Körpers wahrgenommen werden: Dieses ganze Gewirr von Röhren und Kabeln ist zu einem Kreislaufsystem geworden. Ich bin ein Organismus, der sich zu einem Flugzeug ausgeweitet hat. Das Flugzeug schafft mir mein Wohlbefinden, wenn ich einen bestimmten Knopf drehe, der nach und nach meine Kleidung und meinen Sauerstoff aufwärmt. Der Sauerstoff ist übrigens überhitzt worden und verbrennt mir die Nase. Dieser Sauerstoff wird je nach der Höhe durch ein kompliziertes Instrument dosiert. Das Flugzeug nährt mich also. Es schien mir unmenschlich vor dem Flug, und jetzt, da ich an sei15 | Saint-Exupéry 1956: 30. 16 | Ebd.: 22f.

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ner Brust liege, empfinde ich für das Flugzeug eine Art kindlicher Zärtlichkeit.17 Ständig aber ist eine Kontrolle erforderlich, werden die Flugdaten überprüft: Geschwindigkeit – 530 km/h, Flughöhe – um 10.000 m, Temperatur – minus 50 Grad. Die enorme Flughöhe in Kombination mit den tiefen Temperaturen droht das labile Funktionsgleichgewicht immer wieder aufzuheben. Denn wenn die Steuer- oder Gashebel einfrieren, werden Bewegungsanstrengungen erforderlich, die mit der genau bemessenen Menge an Sauerstoff nur sehr schwer zu bewältigen sind. Dem Piloten ist bewusst, dass ihm bei Undichtigkeiten oder Vereisungen der Sauerstoffarmatur nur eine sehr geringe Zeitreserve zur Verfügung steht. Der Luftdruck, der nur noch ein Drittel des normalen beträgt, führt zudem bei der Besatzung schon nach geringer Flugzeit zu einem Gefühl der Zermürbung. Die labile Überlebenstechnologie zwingt die Besatzung auch dazu, durch ständige gegenseitige Ansprache die Kontrolle aufrecht zu erhalten. Insgesamt ist unter den gegebenen Umständen das Fliegen in 10.000 m Höhe ein gefährliches Changieren zwischen drohender physischer Ohnmacht, kurzzeitigen Rauschzuständen und angespanntester Geistesgegenwart. Ein Weg, dieses Bedingungsgeflecht aufzulösen, war die Entwicklung des Druckanzuges.18 In der Mitte der dreißiger Jahre waren die ersten Modelle in Deutschland, England und den USA praxistauglich. In Deutschland hatte der Wetterflieger Klanke 1934 einen Druckanzug konstruiert, mit dem er über 300 Aufstiege bis auf 6.000 m Höhe durchführte. Die Atemluftversorgung erfolgte durch eine Sauerstoffmaske. Ein solcher Anzug, gegenüber der Außenatmosphäre mit einem Überdruck aufgepumpt, hat einen Innendruck von 0,08 bar; in der Folge können Arme und Beine nicht mehr bewegt werden. Klankes erster Anzug hatte keine Gelenke; die Photos zeigen ihn so starr wie eine Figurine aus Oskar Schlemmers »Triadischem Ballett«. Gelenke aber, die Schulter, Ellenbogen und Hüfte einen kleinen Bewegungsspielraum verschafften, bedeuteten eine allenfalls relative Verbesserung. Der Vorteil, in größere Höhen vordringen zu können, wurde beim Druckanzug durch die zwangsläufig entstehenden Behinderungen nahezu wieder aufgehoben. So stellt erst die Druckkabine eine grundsätzliche Lösung des Problems dar; sie ist nicht mehr eine Überdruckhaut, sondern ein Überdruckraum. Nach Ballonaufstiegen bis in Höhen über 10.000 m wurde schon um 1910 ein hermetisch geschlossener Korb mit erhöhter Sau17 | Ebd.: 28. Vgl. ebd.: 36f. und 41. 18 | Vgl. Ruff u. a. 1989: 35ff.

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erstoffspannung vorgeschlagen.19 Verwirklicht wurde diese Anregung erst mit dem Freiballonaufstieg auf über 15.000 m, den August Piccard 1931 durchführte. Ähnlich haben Flugzeuge mit Druckkabine, die im zivilen (Langstrecken-)Luftverkehr vom Ende der dreißiger Jahre an zur Verfügung standen, einen luftdicht abgeschlossenen Raum für Besatzung und Fluggäste, in dem ein höherer Luftdruck als in der umgebenden Atmosphäre aufrecht erhalten werden kann. Dadurch wird es möglich, in großen Höhen ohne Atemgerät und Einschränkungen der Beweglichkeit zu fliegen – und eben auch ohne physiologische Beeinträchtigungen mitsamt ihren unter Umständen fatalen Konsequenzen.

Rettungsgeräte Unter den Rettungsgeräten ist gegenüber dem Fallschirm der Schleudersitz das ungleich spektakulärere Mittel. Steht die Druckkabine für Unfallprävention durch aktive Sicherheit, so bietet der Schleudersitz passive Sicherheit. Die Entwicklungsarbeiten, die in Deutschland begonnen wurden, fallen wesentlich in die Zeit des Zweiten Weltkrieges; sie führten, ähnlich wie bei den Technologien des Höhenfluges, immer wieder an die physiologischen Grenzen des Menschen. Ausgangspunkt war das Problem der gestiegenen Fluggeschwindigkeiten, als nämlich Ausstiege nur per Muskelkraft häufig zu tödlichen Kollisionen der Piloten mit dem Leitwerk führten.20 Besonders bei der Firma Heinkel und dem Institut für Flugmedizin in Berlin-Adlershof begann man sich mit dem Problem zu beschäftigen; das Heinkel-Sitzkatapult war 1940 fertig und wurde während des Krieges in großen Stückzahlen produziert. Die Frage dabei war immer, was ein Mensch aushalten konnte. Bei messtechnisch schwierigen und vor allem physiologisch kaum noch erträglichen Tests fand man heraus, dass bei stoßförmigen Beschleunigungen, die also nur sehr kurze Zeit auftreten, bis zu 23 g ertragen werden konnten, zumindest mit speziellen Armlehnen und Kopfstützen. Dabei wurde die Knochen- und Wirbelsäulenfestigkeit getestet, als handele es sich um neue Werkstoffe. Doch auch nachdem hier Lösungen gefunden waren, blieb das Problem des Staudrucks, der auf den Piloten »nach Wegfall der schützenden Hülle des Flugzeugs« wirkt.21 Photos von Experimenten zeigen den Einfluss dieses Drucks auf ungeschützte Gesichter bei Geschwindigkeiten zwischen 500 und 850 Stundenkilometern; dabei machte 19 | Vgl. ebd.: 37. 20 | Vgl. Hirschel u. a. 2001: 298–306. 21 | Ruff u. a. 1989: 137, vgl. ebd. 137–142.

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man sowohl – mit oder ohne Zentrifuge – Tests im Windkanal als auch praktische Erprobungen in haubenlosen Flugzeugen, in denen die Versuchsperson nach Erreichen der Messgeschwindigkeit aufstand, während eine Filmkamera den Grad der physiognomischen Verzerrung festhielt. So entstanden wahre Schreckensbilder der modernen Technologie, und als solche wurden sie auch zumindest von dem Künstler Eduardo Paolozzi gelesen, als sie jenseits der Versuchsreihen Anfang der fünfziger Jahre gelegentlich publiziert wurden.22 Später versuchte man, den allfälligen Koordinationsproblemen, die durch die enormen Kraftwirkungen erst durch den Herausschuss und dann den Anprall des Staudruckes auftraten, durch Schutzkleidung und Automatisierung der Abläufe entgegenzuwirken. Doch auch heute noch strapazieren Schleudersitze, so wirkungsvolle Rettungsgeräte sie inzwischen sind, trainierte Militärpiloten in sehr hohem Maß; für den Zivilverkehr ist dieses Rettungsgerät völlig untauglich.

Strukturen der Flugunfalluntersuchung nach dem Zweiten Weltkrieg Schon 1915, also noch vor Beginn eines regulären zivilen Luftverkehrs, begann man in England mit der offiziellen Untersuchung von Flugunfällen.23 Bereits zum Anfang des Zweiten Weltkrieges waren die Methoden so ausgefeilt, dass Unfälle umfassende Untersuchungen und nötigenfalls auch Änderungen in der Flugzeugauslegung sowie beim Pilotentraining zur Folge hatten.24 Was es nicht gab, waren internationale Standards und Institutionen, die diese festlegten und auch durchsetzten. Genau dies aber wurde nach dem Zweiten Weltkrieg, mit der Einrichtung interkontinentaler Luftrouten beispielsweise zwischen Europa und den USA und dem absehbaren Beginn eines Massenluftverkehrs, dringend erforderlich. Und so wurde Ende 1944 mit der International Civil Aviation Organization (ICAO) eine für alle relevanten Fragen zuständige Einrichtung der Luftfahrt gegründet und nur wenig später den Vereinten Nationen zugeordnet. Im Jahr 2005 gehörten ihr 187 Staaten an. Der Annex 13 des ursprünglichen Abkommens, der sogenannten Chicago Convention, trägt den Titel »Aircraft Accident and Incident Investigation«; dies ist das international maßgebende Regelwerk für Flugunfalluntersuchungen, die dann von nationalen Behörden wie in Deutschland von der Bundesstelle für Flug22 | Vgl. Robbins 1990: 103 und 234. 23 | Vgl. zum Folgenden Schuberdt 2005: 5–19. 24 | Zu einigen Beispielen im Porträt von Jerry Lederer, einem der großen Pioniere der Flugsicherheit, vgl. http://www.flightsafety.org/jlederer.html, 24.10.2008.

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unfalluntersuchung (BFU) durchgeführt werden. Um Interessenskollisionen zu vermeiden, hat sich dabei die möglichst konsequente Trennung der Untersuchungs- von der Luftverkehrszulassungsbehörde als besonders sinnvoll herausgestellt.25 Der Prozess der Unfalluntersuchung selbst teilt sich in zwei grundsätzlich unterschiedene Vorgänge: die Untersuchung an der Absturzstelle, gegebenenfalls auch in einem größeren Bereich um sie herum, und jenseits von ihr Laboruntersuchungen sowie Informationsauswertungen verschiedenster Art.26 Bei der Arbeit vor Ort ist es von zentraler Bedeutung, sich gerade nicht dem nächstliegenden, also dem Wrack zuzuwenden, sondern zunächst dessen Umgebung zu studieren, also Bäume, Bauten oder auch Wetterumstände; hier können Hinweise auf die Unfallumstände und vielleicht sogar auf die Ursache verborgen liegen. Dabei spielt der Faktor Zeit eine maßgebliche Rolle: Die Blätter eines Baumes, die nach einigen Tagen plötzlich absterben, könnten von Kerosin getroffen worden sein, was dann von Bedeutung ist, wenn sich dieser Baum in bestimmter Entfernung von der Absturzstelle befindet. Bodenspuren machen auch die Kinematik, den Bewegungsverlauf des Unfalls sichtbar, und sie sind deshalb ebenso wichtig wie die exakte – an Verfahren der Kriminalistik wie der Archäologie erinnernde – Dokumentation der Befunde am Wrack selbst. Bei der Arbeit in den Untersuchungseinrichtungen hinter den Kulissen geht es nicht nur um die Auswertung des Cockpit Voice Recorders und des Flight Data Recorders, die man zuerst lesbar macht und dann auf eine »Zeitschiene« setzt, um die Daten genau vergleichen zu können.27 Des Weiteren nämlich werden beispielsweise Triebwerkhersteller oder metallurgische Labore in die Arbeit einbezogen und auch Zeugeninterviews. Bei diesen sollte möglichst zeitnah gearbeitet werden, um der immer wieder beobachteten Vermischung von Details der Erinnerung sowohl mit späterer Interpretation als auch mit Informationen aus Medienberichten vorzubeugen. Die Ermittler also – deren Arbeit nicht ohne Grund als das Zusammensetzen eines Puzzles, dessen Vorlage man nicht kennt, beschrieben wurde – sollten an diesem Punkt auch den Prozess des Erinnerns selbst mit seinen typischen Täuschungen im Blick behalten.28 Für beide Untersuchungsphasen besteht dabei die grundsätzliche Gefahr, zu schnell Schlüsse zu ziehen; Rekonstruktionen des Unfallhergangs sollten erst dann unternommen werden, wenn wirklich alle greifbaren Informationen gesammelt, aufbereitet und interpretierbar 25 26 27 28

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Vgl. Beveren 1997: 45f. Vgl. Walters/Sumwalt 2000: XXVIII–XXXII. Beveren 1997: 48. Vgl. ebd.: 46.

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gemacht wurden. Beinahe wie ein Epigramm liest sich in diesem Zusammenhang der Satz eines Instrukteurs des National Transportation Safety Board (NTSB), der zentralen Unfalluntersuchungsstelle in den USA: »Until you get the big picture, a lot of things can be masked.«29 Aber auch damit ist die Untersuchung noch nicht zu Ende. Ihr eigentliches Ziel liegt hinter dem Aufspüren des speziellen Fehlers oder, wie in den meisten Fällen, der Fehlerkombination, die es bei Mensch oder Material gegeben haben mag. Schlussendlich nämlich stellt sich die Frage, durch welche technischen oder organisatorischen Änderungen eine Wiederholung des Unfalls verhindert werden kann. Gleichsam auf einer Metaebene liegen Flugunfalluntersuchungen, bei denen es nicht um den einzelnen Fall, sondern um das Erkennen von Mustern geht, von typischen gefährlichen Abläufen etwa, wie sie unabhängig von Flugzeugtyp und Betreibergesellschaft vorkommen. Medium solcher Untersuchungen sind u. a. Unfallstatistiken, und darunter besonders solche, die Unfälle mit Flugphasen korrelieren.30 Der Hersteller Boeing veröffentlicht jährlich eine solche Statistik in graphischer Aufbereitung, die immer wieder klar zu erkennen gibt, dass die allermeisten Unfälle beim Start und besonders bei der Landung geschehen. Weitere Statistiken zeigen typische Unfallverläufe auf Landebahnen in Bezug auf den Aufsetzpunkt, um den herum – wie leicht nachvollziehbar ist – signifikante Häufungen auftreten, was wiederum Konsequenzen für die Stationierung der Flughafenfeuerwehr haben sollte. Noch weiter vom individuellen Unfall entfernt als Statistiken sind Arbeiten von Unfallsoziologen, die etwa nach organisationsbedingten Auslösern fragen.31 Dies führte im Fall einer auffälligen Unfallhäufung bei Korean Air zur Entdeckung fataler Kommunikationsstörungen durch eine kulturell kodierte Überhierarchisierung.32

Untersuchungspraxis: Die Unfälle der Comet In der Geschichte der Flugunfälle sind die Havarien der Comet von enormer Bedeutung, nicht zuletzt aufgrund der Unfalluntersuchung selbst. Mit diesem Flugzeug, dem wohl wichtigsten Projekt der britischen Luftfahrtindustrie nach dem Zweiten Weltkrieg, begann die Ära des Passagierverkehrs mit Düsenflugzeugen; der erste kommerzielle Flug der Comet fand 1952 statt. Vier Düsentriebwerke, eine Druckkabine und eine Vielzahl materialtechnischer Innovationen ließen die Ma29 30 31 32

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Walters/Sumwalt 2000: XXXI. Vgl. Schuberdt 2005: 24–27. Vgl. hierzu den Beitrag von Jörg Potthast in diesem Band. Strauch 2004: 107ff.

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schine als äußerst avanciertes Produkt erscheinen. Das sehr elegante Flugzeug mit seinen in die Flügel integrierten Triebwerken und betont glatten Linien hätte zum Inbegriff des anbrechenden Jet-Age werden können. Zudem gab es bis zum Ende der fünfziger Jahre keine vergleichbare Maschine am Markt. Doch kam es zwischen 1952 und 1954 zu einer Serie von schweren Unfällen, bei denen 111 Menschen ihr Leben verloren. So musste der Comet, genauer der Comet 1, schließlich das Flugtüchtigkeitszeugnis entzogen werden, obwohl allein die Südafrika-Route der Fluggesellschaft BOAC für Monate völlig ausgebucht war. Erst Jahre später, nämlich 1958, und dann erfolgreich, ging eine erheblich veränderte Variante als Comet 4 wieder in den Liniendienst.33 Was war geschehen? Natürlich wurde jeder einzelne Unfall gründlich untersucht, wurden Wrackteile aus dem Meer geborgen oder aus Indien nach England gebracht, und man fand auch an der Zelle, etwa an Fenstereckrahmen, schadhafte Stellen. Deren Entstehen führte man jedoch immer auf besondere und einmalige Umstände zurück. Einzelnes wurde verbessert, aber die Unfallserie damit nicht gestoppt. Schließlich rekrutierte man – fast so, wie es im Zweiten Weltkrieg in Bletchley Park geschehen war – ein brillantes Team, um die Unfälle von Grund auf zu untersuchen. In Farnborough, einem wichtigen Standort der britischen Rüstungsindustrie, standen die Arbeiten unter der Leitung Arnold Halls, eines Mathematikers aus Oxford, der mit 36 Jahren bereits Direktor beim Royal Aircraft Establishment (RAE) war. Auch für das Team lag der Verdacht der Materialermüdung zunächst nahe, aber das schien angesichts der nur kurzen Betriebsdauer der zerstörten Flugzeuge nicht recht wahrscheinlich. Schließlich griff man zu einer extrem aufwendigen Untersuchungsmethode: Man baute den sogenannten swimmingpool, einen Wassertank von knapp 40 m Länge, in dem der gesamte Rumpf der Comet Platz fand und nur die Flügel seitlich herausragten.34 Der Tank wurde mit Wasser gefüllt, um zu testen, wie sich die Druckkabine bei Dauerbelastung verhielt. Diesen Effekt konnte man simulieren, indem wieder und wieder unter Druck stehendes Wasser in die Flugzeugzelle gepumpt wurde. Der Druck entsprach dem der Reiseflughöhe und wurde nach kurzer Zeit jeweils auf Null reduziert. Hydraulische Winden an den Tragflächen simulierten zusätzliche Flugbelastungen. So konnten die Auswirkungen eines dreistündigen Fluges in fünf Minuten nachvollzogen werden. Doch auch hier brachten lange Versuchsreihen kein Ergebnis, bis plötzlich während eines simulierten Steigflu33 | Vgl. Stewart 1989: 38–62 mit einer Bibliographie zu einzelnen Unfällen. 34 | Vgl. ebd.: 51–54.

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ges der Kabinendruck auf Null fiel. Nach nur 1.080 Testflügen, einem Bruchteil der erwarteten Lebensdauer, zeigte sich eine Fehlkonstruktion der Kabine, als eine Rumpfseite aufriss und die Bruchstelle an der Kante eines Kabinenfensterrahmens lokalisiert werden konnte. Die Belastungen an dieser Stelle mussten weit größer gewesen sein, als man nach damaligem Erkenntnisstand hätte annehmen können. Untersuchungen entsprechender Wrackteile der abgestürzten Maschinen bestätigten diesen Befund. Die Folge war, dass u. a. die Kabinenfensterausschnitte eine ovale Konfiguration erhielten und die Zelle insgesamt deutlich verstärkt wurde. Die Untersuchung hatte fünf Monate unermüdlicher Arbeit und die damals horrende Summe von zwei Millionen Pfund Sterling gekostet. Der anschließenden Gerichtsverhandlung lagen auch 1.600 Seiten der Kurzschriftübertragung von Protokollen zugrunde. Im Abschlussbericht des Gerichts wurde festgestellt, dass kein Versäumnis vorgelegen habe, denn bis dahin gehörte es einfach nicht zu den Aufgaben der Entwickler, etwa »die Belastungsverteilung an den Kanten der Kabinenfenster festzulegen«.35 Und genau deswegen schrieben die Comet-Unfälle Luftfahrtgeschichte: Ihre Untersuchung brachte die Erkenntnisse über Ermüdungserscheinungen zum ersten Mal auf ein wissenschaftliches Niveau, was markante Auswirkungen auf zukünftige Entwicklungsprozeduren hatte. Neue Last- und Belastungstests wurden eingeführt und Konstruktionsverfahren verbessert. Auch entwickelte man in der Folgezeit Flugdatenschreiber und Cockpitstimmenrecorder, die – wie es eben im Fall der Comets noch nicht möglich war – weitere Informationen über Unfallverläufe und vielleicht sogar Unfallursachen liefern können.36 Die tiefe öffentliche Beunruhigung, die durch die lange Zeit nicht aufgeklärten Comet-Abstürze ausgelöst wurde, hatte im Sommer 1985 ein eigentümliches Nachspiel, als sich mit der Boeing 747 eine ähnliche Unfallserie ereignete.37 Da die Havarien, die zahlreiche Menschenleben forderten, sich innerhalb nur weniger Wochen ereigneten, fragte man sich, ob es einen Zusammenhang gebe, der möglicherweise auf ein unerkanntes Problem bei den Jumbo-Jets hindeute. Der Verdacht richtete sich auch auf die Möglichkeit von Materialermüdung, was natürlich an die Probleme mit der Comet erinnerte, aber bei 600 täglich weltweit im Massenluftverkehr eingesetzten Jumbos noch sehr viel weiter reichende Fragen aufgeworfen hätte. Vor diesem Hintergrund war man – auch wenn es sich zynisch anhört – fast erleichtert, als man herausfand, dass es sich im einen Fall um einen Bombenanschlag und 35 | Ebd.: 57f. 36 | Erste Flugdatenschreiber wurden allerdings schon 1950 erprobt, vgl. ebd.: 245 und 61. 37 | Vgl. ebd.: 228–244 und besonders 234, 239.

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im anderen um die Auswirkungen einer falsch ausgeführten Reparatur am hinteren Druckschott handelte.

Störungen durch Sicherheitsstrategien und Systemdesign Der amerikanische Soziologe Charles Perrow, ein Spezialist für die Analyse von Unfallursachen in den riskanten Systemen der Großtechnik, veröffentlichte 1984 sein Buch »Normale Katastrophen«, in dem ein Kapitel der Luftfahrt gewidmet ist. Darin benutzt er den eigentümlichen Begriff des »Systemunfalls«, eines Unfalltyps also, bei dem die Ursache nicht ein unglücklicher und besonderer Einzelumstand ist, sondern der Unfall auch auf Effekte des gesamten Systems zurückgeführt werden kann.38 So wird das trotz der insgesamt hoch effektiven Sicherheitsstrategien immer noch vorhandene Störungspotenzial solange nicht im theoretisch erreichbaren Grad geringer, wie technische Verbesserungen regelmäßig dazu führen, dass die Betreiber ihre Anforderungen immer höher schrauben und so »den gewonnenen Sicherheitspielraum wieder zunichte machen.«39 Dies gilt auch für die Automatisierung im Cockpit, deren Entlastungsnutzen durch insgesamt gestiegene Belastungen der Piloten aufgezehrt wird. Besonders brisant und widersprüchlich ist ein Effekt, der durch die vorderhand sicherheitsfördernde Automatisierung selbst generiert wird: Wie auch in der Literatur häufig festgestellt, verkümmern dadurch die Fähigkeiten der Piloten, besonders im Notfall richtig zu handeln. Die brennende Frage der nahen Zukunft lautet (also) nicht mehr, wieviel Arbeit ein Mensch ohne Gefährdung verrichten kann, sondern wie wenig.40 Charles Perrow diskutiert auch die scheinbar so einfache Unfallursache menschliches Versagen, und er stellt zumindest die Frage, ob dies nicht oftmals nur ein Name ist für Pannen, deren Ursache man nicht anders erklären kann.41 Es könnte hier eine »Systemverwirrung« vorliegen: Dort, wo eigentlich in einem überkomplexen System die Unfallursache zu suchen wäre, werden dann die Opfer und nicht dessen Konstrukteure verantwortlich gemacht. Zudem können Unfälle durch ein Systemdesign mitverursacht werden, das folgerichtig durchdacht, technisch fortgeschritten und voll 38 | Vgl. Perrow 1987: 167 und 190f. sowie Müller 1991: 599. 39 | Perrow 1987: 174, vgl. auch 177f. 40 | Earl Wiener, zit. nach ebd.: 179, vgl. auch 192 sowie Hurst/Hurst 1991: 118f. Hier finden sich auch Beispiele für direkt durch Automatisierung ausgelöste Fehler, siehe ebd.: 115f. 41 | Vgl. Perrow 1987: 181f.

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funktionsfähig ist. Besonders die Produkte des Herstellers Airbus gerieten in dieser Hinsicht immer wieder in die Diskussion. Gerade das, was die Flugzeuge der Konkurrenz überlegen machen sollte, nämlich ein elektronisch hochgerüstetes Cockpit, erwies sich in manchen Fällen als hoch problematisch, jedoch nicht wegen technischer Defekte, sondern aufgrund spezifischer Momente der Auslegung. So gab es 1992 einen Vorfall in Sydney, wo ein landender Airbus im letzten Moment über ein auf der Bahn befindliches anderes Flugzeug hinwegfliegen konnte.42 Der instinktiv richtige Steuerbefehl des Piloten, der einen Notsteigflug einleiten wollte, wurde nicht umgesetzt, weil der Copilot, mit seinen Instrumenten beschäftigt und die Lage draußen nicht übersehend, im Moment des Ansteigens einen gegenteiligen Befehl gab, um die Maschine wieder auf die vermeintlich richtige Bahn des Landeanflugs zu bringen. Und so geschah, was das Systemdesign vorsah: Die Befehle hoben sich gegenseitig auf, die Maschine flog geradeaus und nur äußerst knapp über das Hindernis hinweg. Das hätte nicht passieren können, wären die Maschinen wie bei Boeing ausgelegt: Die meisten Airbus-Flugzeuge werden über einen Sidestick gesteuert, einen kleinen seitlichen Steuerstift, wobei der des Piloten und der des Copiloten nicht direkt miteinander verbunden sind, während Boeing nach wie vor klassische gekoppelte Steuersäulen verwendet, die ein taktiles und visuelles wechselseitiges Feedback ermöglichen, was die Kommunikation sehr vereinfacht und beschleunigt. Die grundsätzliche Problematik fasst ein Vortrag zusammen, den Heino Caesar, selbst Jumbo-Pilot und über zwanzig Jahre lang auch erster Sicherheitspilot der Lufthansa, 1992 vor der Flight Safety Foundation in Long Beach/California hielt.43 Er sieht die Gefahr, dass die Cockpits heute nicht mehr den Piloten angepasst, sondern wesentlich nach den ingenieurstechnischen Möglichkeiten konstruiert werden, was u. a. eine grundsätzliche Missachtung elementarer ergonomischer Notwendigkeiten implizieren kann.44 So wird beispielsweise bei der Strukturierung komplexer Abläufe der Faktor Stress nicht mit einbezogen, durch den aber auch bei erfahrenen Piloten andere und unter Umständen eher instinktgesteuerte Reaktionsmuster greifen. Auch lassen sich Gruppen von Instrumenten mit analogen Anzeigen wesentlich schneller als reine Ziffernfolgen ablesen. Solange Cockpits im direkten Dialog mit Piloten entwickelt wurden, konnten leichter vermittelnde Lösungen gefunden werden. Dies ist heute nicht zuletzt deswegen schwieriger, weil viele Piloten selbst, auch mangels 42 | Vgl. Beveren 1997: 113–117. 43 | Vgl. zum Folgenden die autorisierte Druckfassung dieses Vortrages in ebd.: 168–174. 44 | Vgl. dazu auch Hurst/Hurst 1991: 145148.

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entsprechender medizinisch-psychologischer Vorbildung, der Suggestion der Fortschrittlichkeit reiner Ingenieurslösungen unterliegen. Die Haltung der Entwickler brachte Bernard Ziegler, Vorstand und Produktionschef bei Airbus, 1992 und in der Wiedergabe Heino Caesars wie folgt zum Ausdruck: Wir entwickeln moderne Flugzeuge, und die Piloten müssen lernen, damit umzugehen.45 Die technischen Fortschritte im Cockpitdesign jedoch drohen insofern »kontraproduktiv zu wirken«, als dadurch potenziell Verwirrungen im Maschine-Mensch-Umwelt-System induziert werden.46 Rein technische Lösungen, so ließe sich folgern, sind nur aus einer derzeit zumindest für die Zivilluftfahrt noch utopischen Perspektive sinnvoll, in der Piloten ganz durch Technologie ersetzt werden.

Literatur Arnheim, Rudolf 1978: Kunst und Sehen. Eine Psychologie des schöpferischen Auges. Berlin/New York: de Gruyter. Beveren, Tim van 1997: Runter kommen sie immer. Die verschwiegenen Risiken des Luftverkehrs. Frankfurt am Main/New York: Campus. Blatty, William P. 1960: Ghosts in the Cockpit. In: Flying, Feb. 1960. Gerathewohl, Siegfried J. 1950: Short Survey of the Development of Aviation Psychology and its Methods in Germany. In: USAF School of Aviation Medicine, Randolph Field (Hrsg.): German Aviation Medicine, World War II, Bd. 2. Washington: Dept. of the Air Force Texas. S. 1027f. Gerathewohl, Siegfried J. 1954: Die Psychologie des Menschen im Flugzeug. München: Barth. Gibson, James J. 1973: Die Wahrnehmung der visuellen Welt. Weinheim/Basel: Beltz. Hirschel, Ernst H. u. a. 2001: Luftfahrtforschung in Deutschland. Bonn: Bernard & Graefe. Hurst, Ronald/Hurst, Leslie 1991: Flugunfälle und ihre Ursachen. Menschliches Versagen? Stuttgart: Motorbuch Verlag. Müller, Bruno 1956: Flugmedizin. Kompendium der Luftfahrtmedizin. Düsseldorf: Droste.

45 | Heino Caesar, zit. nach ebd.: 170. 46 | Ebd.

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Müller, Thomas 1991: Flugzeugabstürze. In: Gumbrecht, Hans Ulrich/Pfeiffer, Karl Ludwig (Hrsg.): Paradoxien, Dissonanzen, Zusammenbrüche. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Perrow, Charles 1987: Normale Katastrophen. Die unvermeidbaren Risiken der Großtechnik. Frankfurt am Main u. a.: Campus. Robbins, David (Hrsg.) 1990: The Independent Group: Postwar Britain and the Aestetics of Plenty. Cambridge, Mass. u. a.: MIT Press. Ruff, Siegfried/Strughold, Hubertus 1939/1957: Grundriss der Luftfahrtmedizin. München: O W. Barth. Ruff, Siegfried u. a. 1989: Sicherheit und Rettung in der Luftfahrt. Koblenz: Bernard & Graefe. Saint-Exupéry, Antoine de 1956: Flug nach Arras. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Schuberdt, Christian-Heinz 2005: Handbuch zur Flugunfalluntersuchung. Berlin u. a.: Springer. Steinitz, Otto 1926: Optische Täuschungen des Fluggastes. In: Luftfahrt, 22 (1926). S. 338f. Stewart, Stanley 1989: Flugkatastrophen, die die Welt bewegten. Koblenz: Bernard & Graefe. Strauch, Barry 2004: Investigating Human Error. Aldershot u. a.: Ashgate. Walters, James M./Sumwalt, Robert L. 2000: Aircraft Accident Analysis. Final Reports. New York u. a.: McGraw Hill.

Der Untergang der Kursk und die Wissensgeschichte der seismischen Forensik

Christian Kassung

Die Geschichte des U-Bootes ist immer schon eine Geschichte des Unfalls und eine Geschichte des Krieges gewesen. Im amerikanischen Bürgerkrieg bohrte die CSS Hunley zwar den stachelartigen Kopf eines Torpedos in die Holzplanken der feindlichen Housatonic, worauf diese nach weiteren Explosionen der eigenen Pulvervorräte über Heck sank. Doch der Preis für diese erste Feindversenkung durch ein UBoot war denkbar hoch: Die noch mit Handkurbeln angetriebene Hunley ging wenig später selbst unter. Auch bei Testfahrten zuvor war sie bereits gesunken und wieder geborgen worden. Entscheidende Fortschritte erzielte Ende des 19. Jahrhunderts John Philip Holland. Der irische Emigrant wollte einerseits den Unabhängigkeitskampf in seinem Heimatland unterstützen, andererseits war er maßgeblich durch die Romane von Jules Vernes inspiriert. Als erster Auslandskunde bestellte ironischerweise die Royal Navy fünf Boote des patriotischen Erfinders, doch die Holland I sank 1913 bei einer Schleppfahrt. Und selbst wenn man die beiden Weltkriege überspringt, um direkt den aktuellen Stand der Technologie zu resümieren, bleiben bis heute sieben bestätigt gesunkene Atom-U-Boote. Zuletzt sank 2003 die sowjetische K-159, bereits fünfzehn Jahre zuvor außer Dienst gestellt, auf dem Schleppweg zur Abwrackung. Eine Technologie, die selbst im Schlepptau anfällig für Unfälle ist, neigt wie kaum eine andere zum Geheimnisvollen, zur Mythenbildung und zur Inszenierung. Wie so viele Unfälle ist deshalb auch der Untergang der Kursk im August 2000 längst Roman geworden: Der schnarrende Alarmton gellt durch das Gewirr von Röhren, Maschinen und Menschen. Er erfüllt das Boot von der Bugspitze bis zum Heck, dröhnt in den Ohren der Seeleute und elektrisiert ihre Nerven. Ein Torpedoabschuss steht bevor.1 1 | Senglin/Voswinkel 2001: 92.

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Der Leser ist dabei, als die Kette der Unfallursachen in Gang kommt. Er sieht, wie zwei Explosionen die Kursk tödlich verletzen. Und er bleibt weiter an Bord, wenn das Schiff gesunken ist und die letzten Menschen längst gestorben sind. Die Temperatur fiel rapide. Quälende Kopfschmerzen begannen die Männer zu befallen, als der Kohlendioxidspiegel stieg und die Luft zunehmend schlechter wurde. Eine Stunde nach der anderen verstrich, ein Leben nach dem anderen erlosch.2 Im Roman bewegt sich der Leser durch eine fiktive Ordnung der Dinge, doch Unfallfiktionen sind selbstverständlich nicht ans Medium der Schrift gebunden, auch wenn Bilder oder Filme von den Spuren und Zerstörungen eines Unfalls oftmals eine unhintergehbare Realität zu suggerieren scheinen. Immer muss die reale Ordnung der Dinge hoch aufwendig rekonstruiert werden. Denn es werden die Dinge durch den Unfall nicht nur wie im Falle von Eschede massiv verstört und räumlich verteilt. Es liegt in der Natur von U-Booten, im Falle eines Unfalls zum Meeresgrund zu sinken und somit fürs Erste unerreichbar zu sein. Die Unfallforensik eines Eisenbahnunfalls unterscheidet sich demnach massiv von derjenigen eines U-Bootunfalls, denn die Reste sind hier nur im Falle einer Bergung materiell. Ich werde mich im Folgenden mit den immateriellen Unfallspuren des Kursk-Unglücks beschäftigen, mit einer sehr bestimmten Form von Forensik, deren Wurzeln bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts zurückreichen: der Seismologie.

Oslo – Vidyaevo, 14. August 2000 Am Montag, den 14. August 2000 betreten die Mitarbeiter von NORSAR, dem Norwegian Seismic Array in Kjeller nahe Oslo wie gewohnt ihren Arbeitsplatz. Die Messstationen waren über das Wochenende unbesetzt gewesen, und so hatte bisher niemand bemerkt, dass die Geräte von Karasjok in Nordnorwegen, das ist die Station ARCES, zwei Tage zuvor, am Samstagmorgen, ein auffälliges Ereignis registriert hatten (vgl. Abbildung 1). Der Nordosten des Landes ist dicht mit seismographischen Stationen besetzt aus einem einfachen Grund: Die russische Doppelinsel Nowaja Semlja ist nicht weit, und hier wird nicht nur atomarer Müll gelagert, sondern es werden seit 1957 regelmäßig Atombombentests durchgeführt. Zudem wurden vor der Insel zahlreiche außer Dienst gestellte Atom-U-Boote versenkt. Spätestens seit der 2 | Dunmore 2002: 157.

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Reaktorkatastrophe von Tschernobyl war der Welt und besonders auch den Skandinaviern bewusst geworden, wie konkret die Gefahr atomarer Unfälle ist. Jedenfalls haben die Norweger in Karasjok ihr Ohr ganz nah an drohenden Gefahren der Barentssee. Abbildung 1: Seismogramm der NORSAR-Aufzeichnungen vom 12. August 2001.

Eine erste automatisierte Analyse der Daten von Karasjok ergab folgendes Bild:3 Um 07:30:42 GMT ereignete sich eine Explosion etwa bei den Koordinaten 69 Grad 38 Minuten Nord und 37 Grad 19 Minuten Ost, also in der Barentssee. Die Explosion hatte eine Größenordnung von 3,5 auf der Richterskala, entsprechend einer Energiefreisetzung von 1–2 Tonnen TNT. Dieses Ereignis wurde auch von vielen anderen Stationen registriert. Zunächst nur von den Stationen in Nordnorwegen dagegen wurde an den gleichen Koordinaten ein sehr viel kleineres Ereignis der Stärke 1,5 bemerkt, das 2 Minuten und 15,75 Sekunden früher stattgefunden hatte. Für die Mitarbeiter bei NORSAR lag deshalb die Vermutung nahe, dass beide Ereignisse denselben Ursprung hatten. Während also am 14. August die akustischen Spuren eines ungewöhnlichen Ereignisses in der Barentssee bereits auf dem Tisch der Wissenschaftler lagen, setzte die offizielle Berichterstattung eben erst ein. Die Mitarbeiter von NORSAR konnten in den Medien erfahren, 3 | Vgl. NORSAR 2000b: 37.

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dass während der seit Jahren größten Übung der russischen Nordflotte das modernste Schiff der Oscar-II-Klasse, die Kursk, schwer beschädigt gesunken sei und dass Gefahr für das Überleben der Mannschaft bestehe. Als mögliche Unfallursache wurde – politisch korrekt – eine Kollision propagiert, auch noch Monate nach dem Unglück. Die Kursk ist ein atomgetriebenes U-Boot mit 24 Raketencontainern für Marschflugkörper. Die Trägerraketen können entweder – das wird für die Unfallrekonstruktion wichtig werden – konventionell mit einer 750-kg-Sprengladung oder mit einem 500-KT-Nuklearsprengkopf bestückt werden.4 Mit seinen zehn Abteilungen über einer Länge von 154 m ist die Kursk ein schwimmender Riese, der Leviathan der russischen Flotte. Zwei Hüllen liegen zwischen der Mannschaft und dem Meer, die innere besteht aus 45 bis 68 mm dickem Stahl. Gut 100 kg angereichertes Uran treiben das Schiff mittels zweier Kernreaktoren an und bringen es auf eine Höchstgeschwindigkeit von 33 kn. Die bis zu 28 Torpedos der Kursk sind in ihrer Bewaffnung und ihrem Antrieb sehr unterschiedlich, und zum Teil fehlen hier verlässliche Angaben. Die seit 1976 eingeführten Anti-Schiff-Torpedos haben einen Kerosinantrieb mit dem Oxidator Wasserstoffperoxid. Theoretisch kann die Kursk 120 Tage unter Wasser verbringen, wobei die Luft dann regeneriert wird. Soweit die technischen Fakten. Doch die Realität sieht in Vidyaevo, dem Stützpunkt der Kursk, ganz anders aus. Seit das Schiff 1995 in Dienst gestellt worden ist, debattieren die Offiziere über Probleme in der inneren Führung, erhalten unregelmäßig Verpflegung und über Monate hinweg keinen Sold. Weil das Geld für das Notwendigste fehlt, liegt das U-Boot die meiste Zeit am Pier, und der Westen nimmt entsprechend kaum Notiz von dem Schiff. Anfang August 2000 beginnt das traditionelle Sommermanöver der Nordflotte, unter ständiger Beobachtung der Norweger. Die Kursk bricht am 10. August unter Kapitän Gennadi Petrovich Lyachin in die Barentssee auf. Am 13. August können die Norweger ein Manöververhalten erkennen, das auf die Simulation einer Rettungsaktion schließen lässt – freilich ohne Hinweise auf einen möglichen realen Hintergrund. Tatsächlich war am Samstagabend eine fällige Meldung der Kursk ausgeblieben, wonach die Such- und Rettungskräfte alamiert wurden. Nimmt man all dies zusammen, so waren die Mitarbeiter von NORSAR an jenem Montagmorgen im August 2000 mit den denkbar unterschiedlichsten Unfallspuren konfrontiert. Die russische Berichterstattung war (und ist auch noch) um Verzögerung und Verschleierung bei gleichzeitiger massiver Geheimhaltung bemüht. Dagegen waren 4 | Vgl. Savage/Helmberger 2001: 753.

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die seismischen Daten vollkommen offen und für jeden Seismologen sofort über das Internet verfügbar. Schon am 18. August wurden die Aufzeichnungen und die bisherigen Schlussfolgerungen von der NORSAR dokumentiert.5 Die akustischen Spuren mussten nur noch forensisch interpretiert werden, und sie enthielten sehr viel mehr Wissen über die Unglücksursache als alle offiziellen Berichte bis dato zusammen. Während die Fernsehbilder allenfalls die massiven Auswirkungen der Explosion(en) dokumentieren konnten, legten die seismischen Aufzeichnungen eine zwar nur schwer lesbare, dafür aber umso präzisere Spur zur Unfallursache. Visuelle und akustische Medien operieren nicht nur im Hinblick auf Unfälle und deren Forensik extrem unterschiedlich. Sehen ist ein willkürlicher und damit stark manipulierbarer Sinn, wohingegen wir niemals entscheiden können, was wir wie hören. Vielleicht erklärt es sich auch von daher, dass wir an Videoüberwachungen an öffentlichen Orten längst gewöhnt sind, aber ein Lauschangriff noch immer unumstößlich dem Grundgesetz widerspricht. Und ebenso lassen sich die Kamerabilder von der Kursk wie aus Tschernobyl zumindest in Zeiten anderer Leitmedien als dem Internet gut steuern, wohingegen sich ein Mithören von Unfällen in keiner Weise unterbinden lässt. Damit komme ich zu der Frage nach der Wissensgeschichte seismischer Aufzeichnungen.

Berlin – Tokyo, 17. April 1889 Kaum eine Wissenschaft verdankt ihre Geburt so eindeutig den Instrumenten und Apparaten wie die Seismologie.6 Schon 1898 – und nicht erst aus der Retrospektive einer Wissenschaft, die sich ihrer selbst im Bachelard’schen Sinne längst versichert hat – benennt Reinhold Ehlert dieses ebenso schlichte wie weitreichende wissenshistorische Faktum in aller Deutlichkeit: Seismometer haben in erster Linie den Zweck, die Bewegung ihres Aufstellortes während eines Erdbebens konform abzubilden. Solange man nun die Art dieser Bewegung nicht erkannt hatte, war es unmöglich, sogleich richtige Prinzipien für die Konstruktion von Erdbebenapparaten aufzustellen, da dieselben ja erst durch ihre Aufzeichnungen die Theorie der Seismologie erschliessen sollten.7

5 | Vgl. Ringdal 2008 und NORSAR 2000b. 6 | Vgl. Schweitzer 2007: 263. 7 | Ehlert 1898: 350.

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Diesem circulum viciosus beginnt die Seismologie in den letzten beiden Dekaden des 19. Jahrhunderts zu entkommen, indem Messgeräte entwickelt werden, die eine Aufzeichnung der Erdbewegung infolge von Erdbeben nicht nur in unmittelbarer Nähe der Epizentren erlauben. Den apparativen Kern dieser Geräte bildet das Pendel, und zwar genauer gesagt das Horizontalpendel, das der Astronom und Geophysiker Ernst v. Rebeur-Paschwitz konstruierte, als er 1886 wissenschaftlicher Assistent in Karlsruhe war. Wie und warum ist das Horizontalpendel nun geeignet, die – zumeist hoffentlich – minimalen Erdbewegungen am Messort so zu verstärken, dass deren Aufzeichnung möglich wird? Mit dieser Frage tauchen wir tief in die Wissensgeschichte des Pendels und die Wissenschaftskultur des 19. Jahrhunderts ein.8 Ich möchte die überaus komplexe Geschichte des Horizontalpendels an dieser Stelle nur andeuten, indem ich einen wissenshistorischen Dreisprung vom völlig unbekannten Studenten Lorenz Hengler über die so schillernde Figur Karl Friedrich Zöllners hin zu RebeurPaschwitz beschreibe:9 Im Jahre 1830–31 war ein Cand. phil. et theol. Lorenz Hengler von Reichenhofen in Würtemberg [an der Hochschule zu München] immatriculirt, der weder früher noch später wieder zu finden ist.10 Die Spur zu Lorenz Hengler legt also niemand Geringerer als Zöllner selbst, wobei sich zusätzlich in Erfahrung bringen lässt, dass jener ein »scharfer Kopf muß [. . .] gewesen sein«, wenn er mit dem Münchener Studenten Hengeller identisch ist, von dem A. Safarik 1873 berichtet.11 Andererseits scheint sein konischer Fallschirm, der im »Polytechnischen Journal« von 1832 vorgestellt wird, nicht den gewünschten Erfolg gebracht zu haben: Der Engländer Robert Cocking kommt fünf Jahre später bei Testsprüngen mit dem Hengler’schen Modell schlichtweg ums Leben. Jedenfalls bricht der begabte Hengler sein Studium in München ab und wird katholischer Pfarrer. Doch zuvor führt die Spur zu einem weiteren Artikel Henglers im selben Heft: die »Astronomische Pendelwage, nebst einer neuen Nivellirwage«.12 Die treibende Idee für seine – vermutlich niemals gebaute – Erfindung benennt 8 | Der zweite wichtige, und von mir an dieser Stelle ausgeblendete Agent einer Wissensgeschichte des Horizontalpendels in der Seismologie ist der Selbstschreiber. Vgl. hierzu Kassung/Macho 2002. 9 | Vgl. hierzu ausführlich Kassung 2007: 238–252. Eine von mir ausgelassene, weitere wichtige Urszene wäre sicherlich die Explosion der Port Chicago am 17. Juli 1933, vgl. hierzu O’Hanlon 2001: 734. 10 | Zöllner 1872: 192 11 | Safarik 1873: 157. 12 | Hengler 1832: 81.

Der Untergang der Kursk | 141

der spätere Priester sehr klar, womit sich eine erste Linie zur Seismographie ziehen lässt: Entscheidend ist die Verstärkung einer kleinen Kraftwirkung, so dass deren Aufschreibung und damit Interpretation allererst möglich wird. Allein da es viele Kräfte gibt, die im Verhältniß zur Schwere so gering sind, daß wir den Sinus des durch sie erzeugten Elevationswinkels bei einem Pendel von der Länge, die wir ihm zu geben im Stande sind, unmöglich wahrnehmen können; so sind wir auch nicht im Stande, solche Kräfte durch ein gewöhnliches Pendel zu messen.13 Und indem Henglers neues Pendel über eine derart gesteigerte Empfindlichkeit verfügt, dass es genau dieses Manko behebt, wird aus seinem Apparat – zumindest innerhalb seines eigenen Aussagenfeldes – ein geradezu magisches Instrument, das an Empfindlichkeit einem gewöhnlichen Pendel von jeder, selbst von unendlicher Länge gleichkommt, und man daher ein Instrument hat, jede auch noch so geringe Kraft, welche nicht in paralleler Richtung mit der Schwere wirkt, zu messen.14 Spätestens an dieser Stelle wird mit aller Klarheit deutlich, wie eng im 19. Jahrhundert der mechanische Kraftdiskurs v. a. innerhalb der Astronomie mit dem spiritistischen Diskurs interferiert: Ist die Verstärkung nur ausreichend stark, so kann man buchstäblich alles hören – Grenzen des Akustischen gibt es nicht. Für die folgenden vierzig Jahre gerät die Erfindung Henglers in Vergessenheit, bis sie Karl Friedrich Zöllner im November 1869 auf den bündigen Namen Horizontalpendel tauft und den Apparat zunächst irrtümlich Perrot zuschreibt, nachdem ihn ein Freund auf einen Bericht in den »Comptes Rendus« vom März 1862 aufmerksam gemacht hat.15 Was nun wurde ganz konkret mit diesem Apparat – der »jede, selbst die geringste bewegende Kraft« zu registrieren imstande gewesen sein soll – real gemessen?16 Hengler gibt insgesamt drei unterschiedliche Experimente an, die alle um dasselbe physikalische Problem kreisen, das seit der Newton’schen Mechanik offen zutage getreten war: das Verhältnis von schwerer und träger Masse. Die Gleichheit beider Massen stellt die Antwort auf die Galilei’sche Frage dar, warum 13 14 15 16

| | | |

Ebd. Ebd.: 82, Herv. C. K. Vgl. Perrot 1862. Hengler 1832: 85f.

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alle Körper gleich schnell fallen. Beschleunigt die Erdanziehungskraft einen Körper aufgrund seiner Schwere, so widersetzt sich der Körper seiner Beschleunigung im gleichen Maß aufgrund seiner Trägheit. Deshalb gilt für alle denkbaren Körper der gleiche Beschleunigungskoeffizient auf der Erde, unter der für Aristoteles undenkbaren Voraussetzung natürlich, dass keinerlei Luftwiderstand mit im Spiel ist. Es geht also letztlich immer um die Wirkung und den Begriff der Gravitation, wenn Hengler erstens den Einfluss des Mondes auf die Pendelbewegung, zweitens den Einfluss der Erdrotation untersucht und drittens sogar explizit die Frage aufwirft, »ob alle Materie gleich gravitire gegen den Mond und gegen die Sonne.«17 Abbildung 2: Zöllner, Karl Friedrich 1872: Horizontalpendel.

Der Zusammenhang von schwerer und träger Masse führt präzise zurück zum Messprinzip eines gegen die Lotebene geneigten Pendels. Ein gewöhnliches Pendel wird von der Schwerkraft in die lotrechte Ruheposition gezogen, wobei es aufgrund seiner trägen bzw. schweren Masse solange über- bzw. wieder zurückschwingt, bis sich alle Bewegungsenergie gegen die vorhandenen Reibungen aufgebraucht hat. Je stärker man ein Pendel gegen die senkrechte Achse neigt, umso weniger effektiv kann die rückstellende Schwerkraft an ihm angreifen. Ein Pendel reagiert umso empfindlicher auf Außeneinwirkungen, je weniger es wie ein klassiches Uhrenpendel funktioniert:

17 | Ebd.: 87.

Der Untergang der Kursk | 143

Das Directionsmoment [. . .] reducirt sich auf Null, wenn die beiden Aufhängepuncte in derselben Normalen liegen.18 Zwar konnte Karl Friedrich Zöllner 1869 mit Hilfe eines derartigen Pendels nicht den von Hengler beschriebenen Einfluss der Mondbahn verifizieren. Doch als er sein gut zwei Meter langes Pendel im Keller des Leipziger Universitätsgebäudes installierte, schwang es im Rhythmus der akademischen Vorlesungen und ließ damit erstmals die wissenschaftsbegründende Funktion des Horizontalpendels für die Seismologie erahnen.19 Der Vortheil der Horizontalpendel [beruht] in der starken Vergrösserung der Erdbewegungen in Folge ferner Beben [. . .], welche im Wesentlichen in Oscillationen von langen Perioden bestehen.20 Dass mit dem eher weniger praxistauglichen Horizontalpendel von Hengler, Zöllner oder Perrot zwar der epistemische Kern nicht aber der Beginn der konkreten Datenaggregation der Seismologie markiert ist, versteht sich nahezu von selbst. Bis man Erdbeben aus der Ferne wirklich hör- bzw. sichtbar machen konnte, indem man ein Pendel um seine eigene Achse drehte, mussten noch einige Jahrzehnte vergehen. So ereignet sich die Urszene aller Teleseismik am 17. April 1889. Im Frühjahr 1889 habilitierte sich Ernst von Rebeur-Paschwitz an der Universität Halle für das Fach Astronomie. Sowohl in Potsdam wie in Wilhelmshaven hatte er an seinen Fernrohrsockeln Horizontalpendel angebracht, um deren Neigung zu überwachen. Doch plötzlich, eben an jenem 17. April, werden seine Messungen gestört: I was struck by its coincidence in time with a very singular perturbation by two delicate horizontal pendulums at the Obervatories of Potsdam and Wilhelmshaven.21 Das wäre an sich unentdeckt geblieben, hätte der zu dieser Zeit bereits stark an Tuberkulose erkrankte von Rebeur-Paschwitz seine Messungen nicht photographisch aufgezeichnet. Die Speicherung hatte allerdings noch einen zweiten extrem produktiven Nebeneffekt: Sie ermöglichte die Synchronisation von Daten. Denn wie der Astronom später feststellen konnte, hatten sich beide Störungen gleichzeitig ereignet. 18 19 20 21

| | | |

Zöllner 1869: 282. Vgl. ebd.: 283. Ehlert 1898: 389. Rebeur-Paschwitz 1889: 294.

144 | Christian Kassung

Die beiden distanten Pendel waren synchron in Bewegung versetzt worden, und es ist genau diese Synchronizität, die aus der Störung ein Phänomen werden lässt, das seine Erklärung provoziert – genau wie gut einhundert Jahre später in Kjeller nahe Oslo. Was war geschehen? Gab es eine kausale Erklärung dafür, dass zwei Ereignisse zur gleichen Zeit an verschiedenen Orten aufgezeichnet werden konnten? Noch eine zweite Parallele lässt sich zwischen Potsdam, Wilhelmshaven und Nordnorwegen ziehen. Was von Rebeur-Paschwitz in seinen Aufzeichnungen sah, konnte er sich ohne externe Evidenz genauso wenig erklären wie die Mitarbeiter von NORSAR erst einmal nichts anderes als ein Erdbeben vor Augen hatten. Und genau wie im Falle der Kursk kommt die externe Evidenz aus einem anderem Medium, wobei von Rebeur-Paschwitz allerdings aus purem Zufall über die Informationen stolpert. So liest er am 13. Juni desselben Jahres in der »Nature« einen Bericht über ein Erdbeben in Tokio: According to the Japan Weekly Mail, an earthquake of a most unusual character was recorded at 2h. 7m. 41s. p. m., on Thursday, April 18, in the Seismological Observatory of the Imperial University Tokio. The peculiarity lies, not in its violence, but in the extreme slowness of its oscillations.22 Was lag für den Geophysiker näher, als die beiden gleichzeitigen Ereignisse miteinander zu verknüpfen und die jeweiligen Aufzeichnungen gegeneinander abzugleichen? Womit aus einer Bildstörung das wohl berühmteste weil erste Seismogramm der Welt wird, vgl. Abbildung 3. Am 25. Juli werden seine Berechnungen in der »Nature« veröffentlicht. Ein optischer Vergleich der beiden Aufzeichnungen von Potsdam und Wilhelmshaven legt nahe, dass es sich um dasselbe Ereignis handelt. Indem von Rebeur-Paschwitz die Entfernung zwischen Deutschland und Tokio durch den Zeitunterschied der Messungen teilt, kann er eine »velocity of 2142 metres of propagation« als Ausbreitungsgeschwindigkeit des seismischen Signals berechnen.23 Seine Schlussfolgerung erscheint so bündig wie nachvollziehbar: We may therefore safely conclude that the disturbances noticed in Germany were really due to volcanic action which caused the earthquake of Tokio.24

22 | Anonymus 1889: 162. 23 | Rebeur-Paschwitz 1889: 295. 24 | Ebd.

Der Untergang der Kursk | 145

Es tut dem Status dieser Urszene aller Teleseismik keinerlei Abbruch, dass von Rebeur-Paschwitz in jeder nur erdenklichen Hinsicht irrte. Die Ausbreitungsgeschwindigkeit der seismischen Welle berechnete er wegen der Zeitverschiebung falsch, sie liegt noch deutlich höher. Betrachtet man die Aufzeichnungen zudem vom heutigen Stand des Wissens aus, so hat es sich wahrscheinlich um ein anderes als das Beben von Tokio gehandelt, denn dieses weist eine signifikant andere interne Signatur auf.25 Das alles konnte Rebeur-Paschwitz freilich noch nicht wissen, und so ist die einzige Evidenz, die den Ausschlag für seine Vermutung gab, die der Synchronizität von Ereignis und Aufzeichnung. Diese epistemische Grundkonfiguration macht seine Geschichte zu einer Urszene für die seismologische Forensik. Und es ist auch genau diese Synchronizität, die zurück zu NORSAR und dem Unglück in der Barentssee führt, die eine Störung zu einer Botschaft werden lässt. Doch nicht nur die SichtAbbildung 3: Potsdamer Seismogramm des Erdbebens von Tokio, 17. barmachung seismischer StöApril 1889. rungen durch das Horizontalpendel führt zum wissenshistorischen Kern des Kursk-Unglücks, auch der Krieg selbst ist von Anfang an mit im Spiel. So hatten sich bis zum Ersten Weltkrieg – in dessen Verlauf übrigens die photographischen Aufzeichnungen wie auch die Horizontalpendel von Rebeur-Paschwitz verloren gingen – die seismische Apparatetechnologie verlässlich stabilisiert, die ersten seismographischen Netzwerke etabliert sowie eine Theorie der Erdbebenwellen samt bis heute verwendeter Nomenklatur entwickelt. Ebenfalls in dieser Zeit wurden erste Versuche unternommen, nicht seismische Ereignisse aufzuzeichnen und zu deuten. In Göttingen ließ der Markscheider und Geophysiker Ludger Mintrop seit 1908 eine 4.000 kg schwere Kugel aus einer Höhe von 14 m auf die Erde fallen, um künstlich erzeugte Schwingungsphänomene systematisch 25 | Vgl. hierzu Schweitzer 2007: 267–269.

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untersuchen zu können.26 Der praktisch veranlagte Mintrop meldete zudem einen transportablen Seismographen zum Patent an. In der Patentschrift lesen sich dessen imaginierte Leistungen noch recht harmlos: The measuring of such vibrations and agitations of the ground which are produced by artificial means, such as detonations, blasting.27 Doch die dezidierte Aufgabe dieses »Feldseismographen« war schlicht und einfach die Lokalisierung feindlicher Artillerie durch das von ihr verursachte seismische Signal. Als Ende 1916 der Generalstab Ludendorffs bei einer Demonstration auf dem Artillerieschießplatz Wahn von der Präzision der seismischen Ortung überzeugt werden konnte, waren Personal und Material freilich schon zu knapp, um eine Massenproduktion von Seismographen zu ermöglichen.28 Was blieb, ist die Idee, den Ort des Feindes und seiner Waffen zu hören.

Barentssee, 12. August 2000 Es ist viel über die Informationspolitik der Russischen Nordflotte geschrieben und noch mehr spekuliert worden. Ähnlich wie nach der Katastrophe von Tschernobyl wurde der Unfall zunächst zwei Tage lang verheimlicht, danach widersprachen sich die Informationen zum Teil massiv und bis in den Abschlussbericht der Untersuchungskommission hinein. Wer etwas über den Unfall erfahren wollte, der wurde eher in Oslo als in Murmansk fündig (vgl. nochmals Abbildung 1). Denn im Gegensatz zu den Ereignissen in der Barentssee ist die Verarbeitung deren seismographischer Spuren in Oslo zunächst reine Routine, die von Computern automatisch erledigt wird. Aus dem seismographischen Abdruck einer Explosion lassen sich vollkommen analog zu dem eines Erdbebens vier Informationen herauslesen: der geographische Ursprung, die Uhrzeit, die freigesetzte Energie und der Charakter der Quelle.29 Dabei erfolgte die Lokalisierung der Ereignisse im norwegischen Seismologienetz NORSAR vollkommen automatisch über einen sogenannten Generalized Beamforming process (GBF). In Zeiten von Web 2.0 26 | Vgl. Schweitzer 2003: 20f. 27 | Mintrop 1922: 1. Das Patent wurde bereits 1917 in Deutschland angemeldet, doch ist es bis dato nicht recherchierbar. Vgl. auch Mintrop 1913. 28 | Vgl. Keppner 2006: 5f. 29 | Vgl. Koper u. a. 2001: 37.

Der Untergang der Kursk | 147

kann man diese Daten als Mashup über Google Maps direkt abrufen, im Jahr 2000 müssen sich die Forscher noch durch Listen kämpfen:30 BARENTS SEA Origin time 2000-225:07.30.42.0 Sta APA APA APA APA APA

Dist 288.9 288.9 288.9 288.9 288.9

Az 34.9 34.9 34.9 34.9 34.9

Ph Pn p Lg s s

Lat 69.67

Lon Azres 37.25 4.75

Time 07.31.25.7 07.31.31.7 07.32.06.6 07.32.10.1 07.32.12.4

Azim 37.5 43.2 51.4 19.0 23.0

Timres 1.84 Ares 2.6 8.3 16.5 -15.9 -11.9

Wres 3.03 Amp 757.5 1494.8 8664.3 4860.7 6791.7

Netmag 2.80 Freq 2.90 3.83 2.23 3.33 2.66

Mag 2.77

Genau in diesem bis auf wenige hundert Quadratkilometer Genauigkeit hin kalkulierten Bereich der Barentssee fand laut den Fernsehberichten die Rettungsaktion für die Kursk statt. Die Grundfrage aller Forensik ist, welche Spuren wie zusammenhängen.31 Ein mathematisch sehr aufwendiges Korrelationsverfahren konnte beweisen, dass die beiden akustischen Spuren den gleichen Ursprung hatten. Es ließ sich für einen Zeitraum von 24 Stunden kein anderes Ereignis finden, das besser mit den sehr undeutlichen Spuren der ersten Aufzeichnung korrelierte, als das mutmaßliche zweite Kursk-Ereignis. Da man ebenfalls ausschließen konnte, dass in dieser seismisch sehr inaktiven Region zur gleichen Zeit ein Erdbeben stattgefunden hatte, lag die zentrale Schlussfolgerung auf der Hand: Auf der Kursk musste eine doppelte Energiefreisetzung im Abstand von 135 Sekunden stattgefunden haben. Beide Signale gehören zum selben Ereignis, wie Abbildung 4 direkt sinnfällig macht. Nur: War dies auch die Unfallursache? Und wenn, dann welche? Gab es eine große Explosion oder mehrere kleine, kollidierte die Kursk oder schlug sie heftig auf dem Meeresgrund auf, um dann zu implodieren? Ironie einer jeden Katastrophe: Je stärker das Ausmaß einer Zerstörung ist, umso weniger materielle Spuren bleiben übrig. Aber je stärker die Explosion auf einem U-Boot ist, umso deutlicher sind auch die akustischen Signaturen, die den Forensikern dann eine Rekonstruktion der Explosionsursache ermöglichen. Im Falle der Kursk waren die seismischen Aufzeichnungen des zweiten Ereignisses so informationsreich, dass die mögliche Quelle sukzessive eingegrenzt werden konnte. Ein – freilich komplizierter mathematischer – Vergleich mit 30 | NORSAR 2000a. Die Liste ist der Übersicht halber stark gekürzt. 31 | Ich rekonstruiere meinerseits die Unfallrekonstruktion nicht strikt historisch, sondern systematisch. Spencer Dunmore behauptet, dass in einer BBC-Dokumentation vom August 2001 erstmals der genaue Unfallhergang veröffentlicht wurde. Der Grund für die Untersuchungen war die Theorie einer Kollision mit einem westlichen U-Boot. Vgl. Dunmore 2002: 168.

148 | Christian Kassung Abbildung 4: Kursk-Ereignisse mit gleicher Amplitude.

Wellenformen unterschiedlicher Ereignisse zeigt, dass sich die Kursk auf den ersten Blick eher wie ein Erdbeben denn wie eine Explosion verhielt.32 Doch die Details sprechen eine andere Sprache. Da ist zunächst die Stärke der Energiefreisetzung. Am 23. August 1991 sank die Ölplattform Sleipner A in der Nordsee, als die tragenden Betonstelzen beim Absenken brachen. Die Stationen zeichneten ein Ereignis der Stärke 3 auf der Richterskala auf. Rechnet man diesen Wert auf die Kursk mit ihrer deutlich geringeren Masse herunter, so hätte ein Aufschlagen des U-Bootes auf dem Meeresgrund ein sehr viel geringeres Signal verursacht, als das bei NORSAR registierte. Betrachtet man die Form der Schallwellen genauer, so lassen sich noch weitere Eingrenzungen vornehmen. Bei einer Unterwasserexplosion werden heiße Gase freigesetzt, die an die Wasseroberfläche aufsteigen. Dadurch entstehen Schwingungen, sogenannte bubble pulses, deren Frequenz vom Typ, von der Stärke und von der Wassertiefe der Explosion abhängen.33 Das Amplitudenspektrum der Kursk schwingt mit ungefähr 1,45 Hz, was deutlich in den ersten vier gestrichelten Linien von Abbildung 4 zu erkennen ist. Eine zweite Schwingung entsteht durch natürliche Halleffekte zwischen der Wasseroberfläche und dem Meeresgrund. Im Wellenspektrum erkennt man einen entsprechenden Ausschlag bei 9 Hz (vgl. auch hier die entsprechende Linie in 32 | Vgl. Koper 2001: 45. 33 | Vgl. Savage/Helmberger 2001: 743f. et passim.

Der Untergang der Kursk | 149

Abbildung 4), was einer Wassertiefe von etwa 85 m entspricht und woraus sich wiederum rückwärts eine Detonationsenergie von 3–4,5 Tonnen TNT errechnen lässt.34 Andererseits aber kann man keine weiteren Schwingungen im Amplitudenspektrum erkennen, und das lässt nur einen Schluss zu: Es kann sich nur um eine singuläre und nicht um eine Mehrfachexplosion gehandelt haben. Alle diese Analysen sind – was sich in der mathematischen Wirklichkeit der Dinge selbstverständlich sehr viel komplexer darstellt als in dieser extrem verkürzten Zusammenfassung – lediglich die Voraussetzung dafür, die wichtigste Frage überhaupt zu klären: Welcher Zusammenhang besteht zwischen der kleinen ersten und der großen zweiten Explosion? Weiteren Berechnungen zufolge wurde bei der zweiten Explosion eine ungefähr 250-mal größere Energiemenge freigesetzt. Halten wir fest, was die Seismologen im Wellenbild sehen können. Mit großer Wahrscheinlichkeit findet auf der Kursk eine einzige Explosion nahe oder auf dem Meeresboden statt, die etwa 5 Tonnen TNT entspricht. 135 Sekunden zuvor findet ebenfalls auf der Kursk eine kleinere Explosion statt, die möglicherweise deren Sinken verursacht. Allerdings muss die Kursk noch eine ganze Zeit lang Auftrieb gehabt haben, denn 135 Sekunden sind eine zu lange Zeitspanne für ein Absinken um etwa 100 m. Eine Wassertiefe von 100 m mag für einen Taucher viel erscheinen. Hätte sich die Kursk jedoch senkrecht in den Meeresboden gebohrt, würde sie haushoch aus dem Wasser aufragen. Die Quelle für die zweite Explosion ist mit hoher Wahrscheinlichkeit schnell ausgemacht. Etwa 5 Tonnen Sprengkraft heißt erstens, dass kein atomarer Sprengkopf explodiert sein kann und dass deshalb zweitens mehrere konventionelle Raketen zur gleichen Zeit detoniert sein müssen.35 Und wenn nun die erste Explosion die Ursache für die zweite gewesen ist, dann liefert diese den Schlüssel für die Unfallrekonstruktion auf der Kursk. An dieser Stelle jedoch bricht die forensische Kausalkette der Seismologen ab. Was die Ursache für die erste Explosion gewesen ist, lässt sich höchstens aus den materiellen Spuren des Unfalls rekonstruieren. Und im Gegensatz zu den akustischen Spuren konnten alle anderen Reste von Anfang an massiv geheimgehalten werden. Folgendes Szenarium erscheint als das wahrscheinlichste. An Bord befanden sich Torpedos, bei denen der zur Verbrennung des antreibenden Kerosins notwendige Sauerstoff durch Wasserstoffperoxyd erzeugt wird. Ein solcher Torpedo soll im Rahmen des Manövers um 07:28:11 Uhr aus Rohr Nr. 4 abgeschossen werden. Aufgrund einer 34 | Vgl. Koper 2001: 45. 35 | Vgl. Savage/Helmberger 2001: 758.

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unklaren Fehlfunktion, vielleicht einer defekten Schweißnaht oder einer Beschädigung beim Verladen tritt Wasserstoffperoxyd aus und vermischt sich im Torpedorohr mit katalytisch wirkenden Verunreinigungen, worauf es zur ersten kleineren Explosion kommt. Dabei muss das Torpedorohr nicht vollständig verschlossen gewesen sein, denn andernfalls wäre die Explosionswirkung nicht ins Schiffsinnere gedrungen. So aber steigt die Hitze in der Torpedoabteilung so weit an, dass 135 Sekunden später mindestens vier Torpedosprengköpfe explodieren. Die Erde rauscht, und die Kakophonie aus Störungen, Botschaften und Geheimnissen lässt sich genauso wenig vollständig entziffern wie kontrollieren. Seismologen hörten den Einsturz der beiden Türme des World Trade Centers, sie registrieren Meteoriteneinschläge oder Autobomben genauso wie den Lärm von Verkehr, Bergbau oder Wasserfällen. Insofern verwundert es kaum, dass die Katastrophe der Kursk als Ereignis v. a. in ihren immateriellen seismischen Spuren lesbar wurde. Zynisch steht dem die fast unendliche Bilderflut bis hin zur wohlinszenierten Bergung des Wracks entgegen, der sich die Frage nach den Unfallursachen geradezu systematisch entzog.

Literatur Anonymus 1889: Notes. According to the Japanese Weekly Mail [. . .]. In: Nature, 40 (13. Juni 1889). S. 162–163. Dunmore, Spencer 2002: Gesunkene U-Boote. Von der Hunley bis zur Kursk – Untergang, Verlust und Bergung. München: Collection Rolf Heyne. Ehlert, Reinhold 1898: Zusammenstellung, Erläuterung und kritische Beurtheilung der wichtigsten Seismometer mit besonderer Berücksichtigung ihrer praktischen Verwendbarkeit. In: Beiträge zur Geophysik, 3 (1898). S. 350–474. Hengler, Lorenz 1832: Astronomische Pendelwage, nebst einer neuen Nivellirwage. In: Polytechnisches Journal, 43/2 (Jan. 1832). S. 81–92. Kassung, Christian/Macho, Thomas 2002: Imaging Processes in Nineteenth Century Medicine and Science. In: Latour, Bruno/Weibel, Peter (Hrsg.): iconoclash. Beyond the Image Wars in Science, Religion, and Art. Karlsruhe/Cambridge, Massachusetts/London: ZKM/The MIT Press. S. 336–347. Keppner, Gerhard 2006: Ludger Mintrop. In: DGG Mitteilungen, 1 (2006). S. 4–17. Koper, Keith D. u. a. 2001: Forensic Seismology and the Sinking of the Kursk. In: Eos, 82/4 (23. Jan. 2001). S. 37 und 45–46.

Der Untergang der Kursk | 151

Mintrop, Ludger 1913: Über seismische Aufzeichnungen von Bodenerschütterungen durch Verkehrseinrichtungen, Maschinen, Sprengungen u. dgl. künstliche Erdbeben. In: Verhandlungen der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte. 83. Versammlung, 1912. Zweiter Teil, 1. Hälfte: Naturwissenschaftliche Abteilungen. Leipzig: F. C. W. Vogel, 1913. S. 201–204. Mintrop, Ludger 1922: Field Seismograph. United States Patent, 1.451.080 (10. Apr. 1922). NORSAR 2000a: GBF Bulletins, 225 (12. August 2000). In: www.norsar. no/bulletins/gbf/2000/GBF00225.html, 29.8.2008. NORSAR 2000b: Signals from the accident of the Russian submarine Kursk. In: Orfeus Newsletter, 2/2 (Aug. 2000). S. 37–41. O’Hanlon, Larry 2001: Seismic sleuths. In: Nature, 411 (14. Juni 2001). S. 734–736. Perrot 1862: Appareils destinés à rendre manifestes et mesurables les variations occasionnées dans l’intensité et la direction de la pesanteur à la surface de la terre. In: Comptes rendus hebdomadaires des séances de l’Académie des Sciences, 54 (31. März 1862). S. 728–729. Rebeur-Paschwitz, Ernst von 1889: The Earthquake of Tokio, April 18, 1889. In: Nature, 40 (25. Juli 1889). S. 294–295. Ringdal, Frode 2008: Kursk-ulykken i Barentshavet, 12. august 2000. In: http://www.norsar.no/seismology/nord/KURSK_2000_ 08_12/Kursk-ulykken.pdf, 2.9.2008. Safarik, A. 1873: Beitrag zur Geschichte des Horizontalpendels. In: Annalen der Physik und Chemie, 226/9 (1873). S. 150–157. Savage, Brian/Helmberger, Don V. 2001: Kursk Explosion. In: Bulletin of the Seismological Society of America, 91/4 (2001). S. 753–759. Schweitzer, Johannes 2003: Early German Contributions to Modern Seismology. In: Lee, William H. K. u. a. (Hrsg.): International Handbook of Earthquake and Engineering Seismology. Amsterdam u. a.: Academic Press. CD2, Part A, Chapter 79.24 Germany. Schweitzer, Johannes 2007: The Birth of Modern Seismology in the Nineteenth and Twentieth Centuries. In: Earth Sciences History, 26/2 (2007). S. 263–280. Sengling, Bettina/Voswinkel, Johannes 2001: Die Kursk. Tauchfahrt in den Tod. Stuttgart/München: Deutsche Verlags-Anstalt. Zöllner, Karl Friedrich 1869: Ueber eine neue Methode zur Messung anziehender und abstossender Kräfte. In: Berichte über die Verhandlungen der königlich sächsischen Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, mathemat.-phys. Classe, 21 (1869). S. 281–284. Zöllner, Karl Friedrich 1872: Zur Geschichte des Horizontalpendels. In: Berichte über die Verhandlungen der königlich sächsischen Ge-

152 | Christian Kassung

sellschaft der Wissenschaften zu Leipzig, mathemat.-phys. Classe, 24/3 (2. Nov. 1872). S. 183–192.

Abbildungen Abbildung 1: Seismogramm der NORSAR-Aufzeichnungen vom 12. August 2001. In: Orfeus Newsletter, 2/2 (Aug. 2000). Fig. 3. Abbildung 2: Zöllner, Karl Friedrich 1872: Horizontalpendel. In: Zöllner 1872: 144. Abbildung 3: Potsdamer Seismogramm des Erdbebens von Tokio, 17. April 1889. In: Nature, 40 (25. Juli 1889). S. 295. Abbildung 4: Kursk-Ereignisse mit gleicher Amplitude. In: Ringdal 2008.

Auf den Start reduziert: Das Challenger-Unglück

Harry Collins / Trevor J. Pinch

Unauslöschlich prägen sich uns die Umstände eines tragischen Unfalls ein. Jeder, der heute über 50 Jahre alt ist, erinnert sich genau an die Situation, in der er von der Ermordung John F. Kennedys erfuhr. Und ganz ähnlich ergeht es all jenen, die vor dem Fernseher saßen, als am 28. Januar 1986 um genau 11.38 Uhr Ortszeit das Space Shuttle Challenger explodierte. Eine große, weiße Rauchwolke und die Schwaden der außer Kontrolle geratenen Feststoffraketen kündigten den Tod von sieben Astronauten an und gleichsam auch das Ende des für unfehlbar gehaltenen US-amerikanischen Raumfahrtprogramms, in dem bis dato scheinbar alles möglich gewesen war. Eine weitere Tragödie ereignete sich im Februar 2003, als die Columbia bei ihrem Wiedereintritt in die Atmosphäre verglühte und dabei ebenfalls alle sieben Astronauten starben. Dennoch war dies nicht der Anlass für einen ähnlich dramatischen Einschnitt wie das Unglück der Challenger. Mittlerweile hatte sich die Öffentlichkeit an die bittere Wahrheit gewöhnt. Dem ganzen Hype der NASA zum Trotz – es würde sich beim Shuttle um ein immer wieder verwendbares Gefährt zum Hin- und v. a. Rückflug handeln, fast genauso, wie bei einem einfachen Flugzeug –, war das Space Shuttle tatsächlich ein furchtbar kompliziertes, noch immer nicht gänzlich verstandenes, dafür aber in die Jahre gekommenes technologisches System. Das Space Shuttle trug somit stets das Risiko eines kurz bevorstehenden Unglücks. Das Bemerkenswerteste am Unglück der Columbia war möglicherweise, dass die NASA nicht die Lektion aus dem vorangegangenen Unglück gelernt hatte. Und so zog man tatsächlich direkt vor dem folgenreichen Start der Columbia eine Neuauflage des Lehrer-im-All-Programms in Erwägung, welches zuvor zum Tod von Christa McAuliffe geführt hatte, dem berühmtesten Crewmitglied der Challenger. Bald stellte sich heraus, dass die Ursachen beider Space ShuttleUnfälle in deren wohl banalsten Komponenten lagen – Gummiringe und Kacheln der Außenhaut. Kreisrunde Gummistücke fungierten als Dichtungen zwischen den verschiedenen Segmenten der Feststoff-

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Starttriebwerke. Bei der Challenger war eine kaputte Dichtung dafür verantwortlich, dass Gase austreten konnten, die sich wie ein Schweißbrenner durch eine Strebe brannten und damit eine Reihe von Ereignissen in Gang setzten, die schließlich zur Katastrophe führten. Bei der Columbia war der Auslöser ein koffergroßes Stück Schaumstoff, welches zur Isolierung des Haupttankes dienen sollte. Nachdem es sich beim Start gelöst hatte, schlug es auf der Vorderkante eines Flügels auf und beschädigte dabei eine Kachel, was dazu führte, dass beim Wiedereintritt in die Erdatmosphäre an dieser Stelle heiße Gase die innere Struktur des Flügels beschädigten und schließlich zur Zerstörung des Raumschiffes führten. Beide Unfälle wurden von einer Kommission auf höchster Ebene untersucht. Und in beiden Fällen hat die NASA scheinbar versucht, etwas zu vertuschen. Im Fall der Challenger leugnete die NASA schlicht, dass die exzeptionell niedrigen Temperaturen beim Start irgendeine Rolle gespielt haben könnten. Im Fall der Columbia wehrte sich die NASA standhaft dagegen, dass ein Stückchen Schaumstoff ein komplettes Raumschiff zerstören könne. In beiden Fällen kam die Wahrheit durch dramatische Tests zum Vorschein, die wir an anderer Stelle als public demonstrations bezeichnet haben.1 Der so geniale wie bescheidene US-amerikanische Physiker Richard Feynman, ein Mitglied der mit der Untersuchung des Unglücks beauftragten Kommission, wird oft im Zusammenhang mit einem Experiment erwähnt, das den Unfall der Challenger veranschaulichte. Er war es, der auf einer Pressekonferenz ein Stück einer Gummidichtung und ein Glas Eiswasser benutzte, um den Effekt von Kälte auf Gummi zu demonstrieren: Das Gummi verlor seine Elastizität. Natürlich hätte der NASA dieser offenkundige Materialfakt bewusst sein müssen. Im Fall der Columbia war es ganz ähnlich; bei dem nachträglichen Test, in dem ein aufschlagendes Stück Schaumstoff tatsächlich die Kacheln auf den Flügeln des Space Shuttles beschädigte, stellte sich tiefe Betroffenheit ein. Sollte die NASA wirklich nicht gewusst haben, dass kaltes, steifes Gummi sich nicht als Dichtung eignete? Schlimmer noch, es stellte sich heraus, dass die für die Entwicklung der Starttriebwerke verantwortlichen Ingenieure des Unternehmens um Morton Thiokol sogar eine Warnung bezüglich der Dichtungen ausgesprochen hatten, und zwar auf einer spontan einberufenen, mitternächtlichen Telefonkonferenz in der Nacht vor dem Start. Sie gaben zu bedenken, dass es an diesem bitterkalten Morgen in Florida zu Problemen mit den Gummiringen kommen könnte. Später stellte sich heraus, dass die Ingenieure von ihren eigenen Managern überstimmt wurden. Diesen wiederum 1 | Vgl. Collins/Pinch 1999.

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saß das Management der NASA im Nacken, das von seinen Vertragspartnern die Einhaltung des festgesetzten Zeitplans verlangte. Im Fall der Columbia wurden ebenfalls von Seiten der Ingenieure Sorgen geäußert, dass eine Beschädigung der Außenhülle fatale Konsequenzen haben könnte, ja man wollte sogar veranlassen, mit Hilfe des Hubble Teleskops eine Nahaufnahme der Unterseite des Flügels zu machen. Diesem Anliegen gab das NASA-Management aber nicht statt, es wurde als unnötig abgetan. Die Geschichte der beiden Space Shuttle-Katastrophen wird oftmals emotional aufgeladen und handelt von tief besorgten Ingenieuren, die von eiskalten Managern ausgebootet werden, denen es ausschließlich darum geht, die Zeitpläne von Start und Landung strikt einzuhalten. Der Start der Challenger war zuvor bereits vier Mal verschoben worden, sodass das komplette Raumfahrtprogramm unter enormem finanziellen Druck stand, denn die Kontrolle des Haushalts der NASA war mittlerweile auf der Tagesordnung des Kongresses gelandet. Während der 1970er, 1980er und 1990er Jahre entfernte sich die Mission der NASA kontinuierlich von ihrem eigentlichen Auftrag. Zuvor, in den glorreichen Zeiten der Apollo-Mondlandung, war das Geld noch zur richtigen Zeit am richtigen Ort eingesetzt worden. Besonders in der Geschichte der Challenger gibt es Opfer, Bösewichte und zwei Helden. An Bord war die Schullehrerin Christa McAuliffe als Vertreterin der einfachen Leute; sie war eine von uns. Die Manager der NASA und bei Morton Thiokol stellten die Bösewichte. Einer der Helden wurde verkörpert durch jenen Richard Feynman, der nur ein Glas kaltes Wasser und wenige Minuten benötigte, um zu veranschaulichen, was die NASA 15 Jahre lang versäumt hatte. Der andere Held war Roger Boisjoly, Ingenieur bei Morton Thiokol. Kurz vor dem Start versuchte Boisjoly verzweifelt, sein Unternehmen davon zu überzeugen, den Start zu verschieben, denn er befürchtete eine Katastrophe. Nachdem die sogenannte Rogers-Kommission Boisjoly im Recht sah, nahm dieser den Kampf gegen Morton Thiokol und die NASA auf, beschuldigte diese der Vertuschung und ein milliardenschwerer Rechtsstreit nahm seinen Lauf. Boisjoly, der kleine Mann, der gegen die Regierung und ganz Amerika antritt. Nachträglich ist es natürlich einfach, die Rollen der Helden und der Bösewichte zu verteilen. Aber man muss sich in die historische Lage versetzen, in der die schicksalhaften Entscheidungen getroffen wurden, sich den Druck, die Nöte und Unsicherheiten vergegenwärtigen, mit denen sich alle Beteiligten konfrontiert sahen. Um zu erfahren, was vor dem Start tatsächlich bekannt war über die Gummiringe und

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die Kacheln und über das Risiko, müssen wir eine Zeitreise unternehmen. In diesem Beitrag halten wir uns eng an die Beschreibung, die von der Soziologin Diane Vaughan 1996 in ihrem Buch »The Challenger launch decision« gegeben wurde. Ihre Darstellung des Unglücks – vor dem Columbia-Unglück geschrieben – erwies sich in vielfacher Hinsicht als geradezu prophetisch, besonders weil sie sich gegen die allgemeine Sicht wendet, dass eiskalte Manager die Ingenieure überstimmt hätten. Sie zeichnet ein viel komplexeres Bild von den technischen und organisatorischen Strukturen der NASA, welche sich auch nach dem Challenger-Unglück kaum änderten. Im Folgenden vertreten wir die Ansicht, dass ein Experiment wie das Space Shuttle nicht mit einer störungsfreien und deshalb sicheren Technologie verwechselt werden darf – Technologie als widerspenstiger Golem verweist immer darauf, dass Unfälle passieren werden.2 Die Details des Columbia-Unglücks werden wir nicht vertiefen, überlassen es aber den Lesern, ihre eigenen Schlussfolgerungen zu ziehen über die bemerkenswerten Parallelen zwischen den beiden Unfällen und dem jeweiligen Umgang damit.3 Welche eigene Position wir auch immer gegenüber menschlichen Motivationen einnehmen: Vaughan zeigt, dass das Bild der kaltblütig agierenden und berechnenden Manager, die wissentlich die Sicherheit riskieren und damit das Desaster verursachen, kaum aufrechtzuerhalten ist. Auf den Managern und Bürokraten der NASA lastete ein ungemeiner Druck, die Challenger an den Start zu bringen. Genau wie alle anderen wussten sie natürlich, dass die ständigen Verzögerungen das Image des wiederverwendbaren und effizienten Space Shuttles in Gefahr brachten; und es wäre ein öffentlichkeitswirksamer Coup für das gebeutelte Raumfahrtprogramm gewesen, hätte die Challenger so rechtzeitig abheben können, dass Christa McAuliffe, die Lehrerin im All, live zur anstehenden Rede zur Lage der Nation von Präsident Ronald Reagan zugeschaltet worden wäre. Warum sollte man andererseits das gesamte Raumfahrtprogramm und die eigene Zukunft wegen einiger weniger Stunden Verzögerung gefährden? Jede Panne würde weit verheerendere Konsequenzen haben als Abweichungen vom Zeitplan. George Hardy, damals stellvertretender Direktor der NASA am 2 | Das von den Autoren 1999 in ihrem Buch »Der Golem der Forschung« geprägte Bild für die prinzipielle Gutartigkeit, aber auch Schwerfälligkeit und damit Gefährlichkeit von Naturwissenschaft und Technik entspringt der jüdischen Mythologie. Vgl. Collins/Pinch 1999. Anm. des Übers. 3 | Dieser Beitrag stellt eine aktualisierte und gekürzte Neuübersetzung des Kapitels »Start ins Verderben: Wer war schuld an der Explosion der Challenger?« aus dem Buch »Der Golem der Technologie« (2000) dar.

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Science and Engineering Directorate im Marshall Raumfahrtzentrum, gab der Challenger-Kommission des Präsidenten Folgendes zu Protokoll: Ich hätte mir gewünscht, dass allein nach logischen Gesichtspunkten klar gewesen wäre, dass natürlich niemand bei klarem Verstand bewusst ein höheres Risiko eingeht, nur um im Zeitplan zu bleiben.4 Der Sicherheit muss bei jeder Abwägung zwischen Vor- und Nachteilen ein hoher Stellenwert eingeräumt werden, egal wie egoistisch und berechnend Manager bei der Verfolgung ihrer Ziele vorgehen. Die Untersuchungen von Vaughan haben gezeigt, dass die Risiken der Gummiringe nicht aufgrund von wirtschaftlichen oder politischen Einflüssen unterschätzt wurden. Sie wurden vielmehr ignoriert, weil alle an der verhängnisvollen Telefonkonferenz beteiligten Ingenieure und Manager darin übereinstimmten, dass es keinen erkennbaren Grund gab, in der besagten Nacht nicht zu starten, und zwar auf Basis der im Voraus erhobenen Daten und der praktizierten Sicherheitsvorkehrungen. Hinterher ist man immer klüger und so sehen wir heute, dass sie sich geirrt haben. Aber zur fraglichen Zeit wurde eine vernünftige Entscheidung getroffen, und zwar entsprechend des verfügbaren technologischen Wissens.

Gummiring-Dichtungen Die Starttriebwerke verbrennen eine Mischung aus festem Treibstoff und Sauerstoff. Die Triebwerke des Space Shuttle sind ca. 45 Meter hoch und damit nur wenig kleiner als die Freiheitsstatue. Sie verbrennen zehn Tonnen Treibstoff in der Sekunde. Durch das heiße Gas herrscht in den Triebwerken ein enormer Druck, der kontrolliert abgebaut wird, wenn die Abgase durch eine feuerfeste Düse austreten. Dieser Abgasstrahl ist so stark, dass er Metalle zum Schmelzen bringt, und es ist absolut wichtig, dass er ausschließlich durch die speziell gefertigten Düsen austritt. Wenn die Triebwerke in unterschiedliche Segmente gegliedert sind, lassen sie sich viel leichter betanken. Jede einzelne Treibstoffrakete des Space Shuttles besteht aus vier großen, zylinderförmigen Segmenten, sowie einer Raketenspitze und den Abgasdüsen, die allesamt im Raumfahrtzentrum Kennedy zusammengebaut werden. Die Verbindungsglieder zwischen den einzelnen Segmenten sind Spezialanfertigungen, die dem extremen Druck im Triebwerk standhalten müssen. 4 | Zit. nach Vaughan 1996: 49.

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Direkt beim Start zünden die Triebwerke explosionsartig. Im Bruchteil einer Sekunde dehnen sich die zylinderförmigen Segmente aus und drücken von beiden Seiten auf die Fugen – dieses Phänomen nennt man Fugentorsion (vgl. Abbildung 1 rechts). Die Fugen zusammen mit ihrer Halterung sind deutlich steifer als die darüber- und darunterliegenden Treibstoffbehälter aus Metall, und so kommt es zur Ausdehnung der Segmente. Abbildung 1: Fugentorsion der Feststoffrakete.

Die Fugen sind jeweils als Nut und Feder angelegt. Die zylinderförmigen Segmente der Triebwerke werden ineinander gesteckt, und die jeweils untere Kante (die Feder) passt ohne Schwierigkeiten in die ca. 10 cm lange Spezialführung (die Nut). Jede einzelne Fuge ist von einem Stahlmantel umhüllt und mit Hilfe von 177 Stahlbolzen befestigt. Im Innern der Nut befinden sich zwei Rillen, in die jeweils ein Gummiring gesetzt wird; durch diese Abdichtung der Fugen soll verhindert werden, dass während der Fugentorsion in Bruchteilen von Sekunden heiße Gase ausströmen (vgl. Abbildung 1 links). Der Gummiring ähnelt dabei einer 11,5 Meter langen Lakritzschleife mit einem Durchmesser von ca. 6 cm. Wenn die verschiedenen Segmente aufeinandergesteckt werden, werden die Ringe zusammengedrückt, sodass Nut und Feder hermetisch abschließen. Ein auf Asbestbasis entwickelter Dichtungskitt schützt die Gummiringe vor den hei-

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ßen Treibstoffgasen. Vor dem Start werden die Fugendichtungen mit einem zwischen den beiden Gummiringen angebrachten Spezialsensor überprüft. Es muss unbedingt sichergestellt sein, dass die Gummiringe, nachdem die verschiedenen Segmente der Triebwerke zusammengesteckt wurden, an der richtigen Stelle sitzen. Zwischen die beiden Ringe wird Luft geblasen. Dann wird der Druck gemessen und überprüft, ob alles dicht ist. Es ist eine Ironie der Geschichte, dass – wie man später herausgefunden hat – genau dieser Test ein Sicherheitsrisiko darstellte, da die eingepresste Luft kleine Löcher im Kitt hinterließ, in welche später die heißen Gase eindrangen, um so schließlich zu den Gummiringen vorzudringen und zu deren Verschleiß beizutragen. Die Fuge zwischen den Segmenten der Triebwerke war viel komplizierter als es den Anschein machte und darin vielen anderen Komponenten des Shuttles ähnlich. Sogar die Frage nach der genauen Größe des Spalts zwischen den Segmenten während des Starts lässt sich kaum entscheiden. Vor dem Start ist der Spalt 0,1 mm groß. Während der Zündung wird die Lücke aufgrund der Fugentorsion größer und öffnet sich für ca. sechs Zehntelsekunden. Auch wenn das für uns nicht gerade besonders lange erscheint, ist es technisch besehen »eine Ewigkeit«,5 wie sich ein befragter Ingenieur ausdrückt. Es erfordert von den Ingenieuren ungemeine Anstregungen herauszufinden, was genau in dieser kurzen Zeitspanne passiert. Die besten Vorhersagen bezüglich der maximalen Ausdehnung des betreffenden Spalts lagen für den Start der Challenger irgendwo zwischen 10,66 mm und 15,24 mm.

Design und Erprobung der Segmentfugen Diese Probleme waren aber noch nicht bekannt, als im Jahr 1973 Morton Thiokol den Zuschlag für die Konstruktion der Treibstoffraketen erhielt. Für die Gestaltung der Dichtungsfugen dienten die entsprechenden Bauteile der extrem zuverlässigen Titan-Rakete als Grundlage. Bei der Titan-Rakete kam nur ein Gummiring zum Einsatz. Beim Space Shuttle wurde ein zweiter angebracht, um zusätzliche Sicherheit zu gewährleisten, nur für den Fall, dass der erste Gummiring versagte. Er gewährleistete jene Redundanz, die für die NASA ein zentrales Gebot darstellte, und zwar wann immer möglich, v. a. aber bei allen kritischen Komponenten, deren Ausfall das ganze Unternehmen scheitern lassen würde. Natürlich hat dieses Gebot der Redundanz seine natürlichen Grenzen; der Fall, in dem das Shuttle eine Tragfläche verlieren 5 | Zit. nach ebd.: 40.

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würde, wäre ein katastrophaler Ausfall, trotzdem verlangte niemand das Anbringen einer Ersatztragfläche. Sowohl die NASA als auch das beauftragte Unternehmen Morton Thiokol waren für die Gestaltung und Tests der Triebwerke und der Fugen und Dichtungen verantwortlich. Für gewöhnlich wurden die Tests parallel durchgeführt, zum einen in Utah, dem Sitz von Thiokol, zum anderen im Marshall Center in Huntsville, Texas, dem Raketenzentrum der NASA. Unter allen Standorten der NASA war das Marshall Center das Juwel. Werner von Braun, der legendäre deutsche Wissenschaftler und Raketenbauer, war Direktor in den Anfangstagen des Zentrums. Er begründete seinen herausragenden Ruf und legte damit den Grundstein für den Erfolg des Apollo-Raumfahrtprogramms. Das Marshall Center konnte voller Stolz auf seine Geschichte zurückblicken, und natürlich sah man sich in Sachen Kompetenz und Ausstattung Morton Thiokol bei weitem überlegen. Im allgemeinen Ansehen waren die Ingenieure des Marshall Centers konservativ und gründlich; sie betrachteten es geradezu als ihre Aufgabe, die Subunternehmen zu unterjochen, indem sie deren Daten und Analysen regelrecht niedermachten. Die Marshall-Leute wurden bei Thiokol bald die bad news guys genannt. Die Ingenieure von Thiokol bevorzugten eher praktikable Ansätze und gerieten schnell in die Defensive. Nicht selten waren die unterschiedlichen Einstellungen dieser beiden Konzerne der Grund für eine angespannte Atmosphäre bei Verhandlungen und führten zu mitunter lang andauernden Meinungsverschiedenheiten. Selbstverständlich wurde in beiden Konzernen das fortschrittlichste wissenschaftliche und technologische Wissen eingesetzt. Wenn es zu fachlichen Unstimmigkeiten kam, so setzte man sich damit solange auseinander, bis beide Konzerne übereinstimmende Ergebnisse erzielten, und zwar bestätigt in langen Versuchsreihen und strengsten ingenieurstechnischen Analysen. Schon früh erkannten die Ingenieure der beiden beteiligten Konzerne das Problem der Fugentorsion, allerdings war man sich nicht einig, welche Bedeutung man dem beimessen sollte. Die Ingenieure bei Thiokol berechneten, dass sich die Fugen bei der Zündung schließen würden. Die Ingenieure im Marshall Center konnten dem nicht beipflichten; ihre Berechnungen zeigten, dass sich die Fugen vorübergehend öffnen würden, wobei sich daraus zweierlei Konsequenzen ergaben: 1.) die Gummiringe wären weniger komprimiert und damit würde deren Zuverlässigkeit als Dichtung gemindert, 2.) könnte sich ein Gummiring aus seiner Rille lösen. Es ist paradox, dass die Ingenieure von Thiokol und der NASA bis zum Abend des geplanten Starts der Challenger ihre Rollen vertauschen sollten. Dann waren es näm-

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lich die Ingenieure von Thiokol, die Vorbehalte bezüglich der Zuverlässigkeit der Dichtungen hatten, während die NASA davon überzeugt war, dass alles wie geplant funktionieren würde.

Der Wasserdrucktest Um die Angelegenheit zu klären, wurde ein Testverfahren angeordnet, in dem man die Dichtungsfugen einem sehr hohen Wasserdruck aussetzte, um damit die bei einem Start des Shuttles real auftretenden Druckverhältnisse zu simulieren.6 Dieser Test wurde im September 1977 von Thiokol durchgeführt, wobei eine einzelne Fuge diesem Prozedere ganze zwanzigmal ausgesetzt wurde. Dabei kam man zu dem Ergebnis, dass die NASA mit ihrer Einschätzung richtig gelegen habe: Die Fugen konnten bei der Zündung der Triebwerke tatsächlich für einen kurzen Moment so viel Spiel haben, dass die Dichtungen davonflogen. Thiokol stimmte nun zwar mit der NASA überein, allerdings ging man dort nicht davon aus, dass dies wirklich eine Gefahr darstellen würde, weil der Test nicht unter realen Bedingungen durchgeführt worden war. Es gab dabei zwei unterschiedliche Gründe für diese Einschätzung. Erstens würde bei einem realen Flug, anders als in der Testreihe, der Gummiring nicht 20, sondern nur ein einziges Mal diesem Druck ausgesetzt sein, wobei die Daten eindeutig zeigten, dass bei den ersten acht Durchläufen alles perfekt funktioniert hatte. Und da zweitens der Test an einem auf der Seite liegenden Triebwerk durchgeführt worden war, ging man davon aus, dass aufgrund der asymmetrisch wirkenden Schwerkraft ebenfalls keine realen Bedingungen gegeben waren. Nach dieser ersten Testreihe war man sich bei Thiokol der Sache so sicher, dass man keinen Grund für weitere Tests sah. Leon Ray allerdings, ein Ingenieur aus dem Marshall Center war anderer Meinung und bestand darauf, weitere Tests vorzunehmen.

Ähnlichkeit und Differenz Die Ingenieure sehen sich hier mit einem philosophischen Problem konfrontiert, das im Prinzip auf Ludwig Wittgenstein zurückgeht. Wittgenstein ging davon aus, dass es immer eines menschlichen Urteils bedarf, um zu entscheiden, ob zwei Dinge ähnlich oder verschieden sind. Solche Urteile fällen wir tagtäglich. Die Entscheidung, ob es sich nun um Ähnlichkeit oder Verschiedenheit handelt, ist dabei stets kontext6 | Vgl. die ganz ähnliche Versuchsanordnung im Beitrag von Christoph Asendorf in diesem Band: S. 128. Anm. des Übers.

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abhängig. Wenn wir beispielsweise das vertraute Gesicht eines Freundes aus unterschiedlichen Blickwinkeln und in verschiedenen Lichtverhältnissen betrachten, werden wir trotz allem keine Schwierigkeiten mit der Aussage haben, dass es sich dabei immer um das gleiche Gesicht handelt. Anders ausgedrückt: In diesem alltäglichen Kontext gehen wir eher von Ähnlichkeiten aus. Handelt es sich jedoch etwa um Modephotographie, dann können stark unterschiedliche Betonungen der Gesichtszüge des jeweiligen Photos durch je verschiedene Lichtverhältnisse oder Aufnahmewinkel entscheidend sein. In diesem Kontext würde man also eher auf Differenzen hin beurteilen. Für technologische Testverfahren gelten die gleichen Überlegungen. Da in den allermeisten Tests die realen Bedingungen nur simuliert werden, ist es für die Beurteilung der Ergebnisse absolut entscheidend, wie ähnlich ein Test dem tatsächlich geplanten Einsatz ist. Nach Morton Thiokols Einschätzung bezüglich des Wasserdrucktests war die zwanzigmalige Wiederholung der Zündstufe qualitativ anders zu bewerten und ließ damit keinerlei Rückschlüsse auf die bei einem wirklichen Start ablaufenden Vorgänge zu. Die NASA wiederum war der Ansicht, dass die Tests den bei einem realen Start zu erwartenden Abläufen ähnlich genug waren und musste somit berechtigterweise davon ausgehen, dass es Anzeichen für Probleme mit den Dichtungen gab. Wie schon erwähnt, waren die Ingenieure des Marshall Centers für ihren Konservatismus berühmt. Die Ingenieure von Thiokol dagegen strebten nach besserer Praktikabilität: Man bereitet sich tatsächlich auf den aller-aller-allerschlimmsten Fall vor. Das ist aber alles andere als praktikabel. Es gibt eine ganze Reihe unterschiedlicher Faktoren, die Einfluss nehmen auf das Verhalten der Gummiringe, und sie [die Ingenieure der NASA, Anm. des Übers.] zogen jeweils nur das absolute Extrem in Betracht, was logischerweise immer das schlimmste nur denkbare Szenario ergab [. . .] und dann addierte man all diese Ergebnisse zusammen und genau für diesen Fall sollte man gewappnet sein. So funktioniert das in der Praxis aber nicht.7 Bei all diesen unterschiedlichen Ansätzen und den methodischen Hintertürchen, die aus einer je anderen Beurteilung des Sachverhalts erwuchsen – Ähnlichkeit oder Differenz –, war es also wenig überraschend, dass die Tests alleine keine klare Entscheidung bringen würden. 7 | Zit. nach Vaughan 1996: 99.

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Weitere Tests So wurden die Segmentfugen weiteren Tests unterzogen. Diese neuen Testreihen machten aber alles nur noch schlimmer: Weitere Tests, die die Unstimmigkeiten beseitigen sollten, bewirkten genau das Gegenteil. Die Ingenieure von Thiokol und der NASA wurden sich nicht einig in der Frage, wie groß die Lücke durch die Fugentorsion werden konnte. Das Phänomen selbst war dabei gar nicht unbedingt problematisch, aber wenn die Fuge Spiel hatte, war es das sehr wohl, denn hinreichend großes Spiel würde bewirken, dass die Dichtung nicht mehr hält. So wurden von beiden Seiten Tests durchgeführt, um die mögliche Lücke zu ermitteln, allerdings widersprachen sich die Ergebnisse [. . .] und man konnte sich nicht einigen.8 In einer dieser Testreihen wurden die beim Shuttle-Start erwarteten Druckverhältnisse auf die zylinderförmigen Segmente simuliert. Dabei kamen elektrische Sensoren zum Einsatz, mit deren Hilfe der Grad an Fugentorsion gemessen wurde, wobei die Ergebnisse sogar noch schlechter ausfielen, als im Marshall Center befürchtet wurde. In der Segmentfuge gab es so viel Spiel, dass sich beide Gummiringe während der Zündung lösten. Der erste konnte sich durch den Druck nicht mehr in seiner Rille halten, und der zweite Reserve-Gummiring hatte zu viel Spiel, um die Fugen dicht zu halten. Erneut stellten die Ingenieure von Thiokol die Interpretation des Marshall Centers in Frage. In ihren Augen lag das Problem nicht an der Fugentorsion, sondern vielmehr an den Sensoren, mit denen die Messung durchgeführt wurde. Diese elektronischen Messverfahren würden nicht annähernd mit ihren eigenen physikalischen Testergebnissen übereinstimmen. Die Ingenieure von Thiokol kamen zu der Schlussfolgerung, dass die Messinstrumente falsch kalibriert gewesen sein müssten. Und aufgrund ihrer eigenen Ergebnisse, die viel weniger Spiel zwischen den Fugendichtungen vorhersagten, ging man davon aus, dass der zweite Gummiring in jedem Falle funktionstüchtig wäre. Einmal mehr sehen wir uns mit der Mehrdeutigkeit von Messergebnissen konfrontiert, einem experimentellen Regress. Dieser Begriff verweist auf die paradoxe Situation aller experimentellen Forschung. Nur wirklich sachkundige Testreihen sind in der Lage, ein korrektes 8 | Ebd.: 100f.

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Ergebnis zu Tage zu fördern. Allerdings wird jedes Experiment nach seinen Ergebnissen beurteilt. Folgende Logik kommt zum Tragen: Wie lautet das korrekte Testergebnis? Haben die Fugen viel oder wenig Spiel? Die Messwerte sind unmittelbar davon abhängig, ob es viel oder wenig Spiel gibt. Um das herauszufinden, bedarf es eines adäquaten Testverfahrens. Allerdings wissen wir eben nicht, ob es sich um einen guten Test handelt, solange wir ihn nicht durchgeführt und damit die korrekten Ergebnisse erhalten haben. Allein, wir können die korrekten Ergebnisse gar nicht kennen, bevor wir nicht ein gutes Verfahren entwickelt haben usw.

. . . sichergehen, dass alles funktioniert Für gewöhnlich kann der experimentelle Regress recht schnell unterbrochen werden, indem weitere Aspekte in Betracht gezogen werden. Wenn sich also die beiden Parteien bezüglich der Segmentfuge nicht einigen können, dann kann möglicherweise ein Dritter, bislang Außenstehender die nötige Gewissheit liefern, und so wurden die Hersteller der Gummiringe angerufen, die über genügend Fachkenntnis verfügen sollten. Unglücklicherweise konnten diese das Problem auch nicht lösen. Zwar ließ sich bestätigen, dass die beobachtete Lücke größer als gewöhnlich war und damit die Gummiringe über Gebühr strapaziert würden. Damit allerdings gaben sie den schwarzen Peter an die Ingenieure zurück und verlangten nach noch mehr und vor allem »noch realitätsnäheren Tests«.9 Leon Ray von der NASA erinnert sich: Ich hab’ der technischen Abteilung der Gummiring-Hersteller das Problem geschildert. Wir haben ihnen gezeigt, wie weit sich die Dichtungen öffnen und sie nach ihrer Einschätzung bezüglich des bald bevorstehenden Starts unseres Space Shuttles befragt. Sie zögerten und sagten, dass das eine wirklich harte Nuss sei. Sie konnten und wollten uns die Entscheidung nicht abnehmen, versprachen aber weitere Untersuchungen . . . Später sollte uns ein Brief erreichen, in dem man uns dazu riet, bei der nun mal vorhandenen Hardware zu bleiben. Wir sollten weitere Tests unternehmen und eben sichergehen, dass alles funktioniert. Das war ihre Empfehlung: Weitermachen und testen und dabei bleiben, was man schon mal hat. Genau das haben wir dann gemacht.10 9 | Ebd.: 103. 10 | Zit. nach ebd.

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Ray hatte tatsächlich in Erwägung gezogen, eine komplett neue Fugendichtung zu entwerfen, aber zu diesem fortgeschrittenen Stadium hätte das große zeitliche Verzögerungen des kompletten Programms nach sich gezogen. Außerdem gingen alle, auch Ray, davon aus, dass es mit den alten Fugendichtungen funktionieren müsste; man war sich nur nicht hundertprozentig sicher, ob sie in jeder denkbaren Situation funktionierten. Es wäre falsch, eine hundertprozentige Gewissheit zum Standard zu erheben, an dem sich die Ingenieure zu messen hätten. Die Entwicklung einer neuen Technologie, und darum handelte es sich beim Space Shuttle nun einmal, unterliegt immer gewissen Risiken und Unsicherheitsfaktoren. Die beteiligten Ingenieure mussten sich eingestehen, dass schlussendlich keine präzise Aussage über das wirkliche Risiko getroffen werden konnte. Sie würden schlicht ihr Bestes geben, um zu gewährleisten, dass alles funktioniert. Ray bringt die Angelegenheit erneut auf den Punkt: Jeder Flugzeug-, Auto- oder Raketenbauer würde zugeben, dass Dichtungen (also auch die Gummiringe) etwas abdichten müssen. Aber wie dicht müssen sie halten? Es gibt keine perfekten, hundertprozentigen Dichtungen. Alle Dichtungen sind auch irgendwie undicht. Und damit sind wir mit der Frage konfrontiert: Was ist eine undichte Dichtung? Je nach Branche wird die Antwort darauf anders ausfallen, und das, obwohl man das Gleiche unter einer Dichtung versteht. [. . .] Was lässt man gerade noch durchgehen? Nun, das wird immer von den jeweiligen Erfahrungen abhängen und damit sehr subjektiv sein. Die Erfahrung ist tatsächlich ein ganz wichtiges Entscheidungskriterium.11 Wir möchten noch einmal darauf hinweisen, dass die GummiringDichtung eben nur ein Bestandteil des Shuttles unter vielen war, bezüglich dessen Unsicherheit herrschte.

Sich für Katastrophenszenarien wappnen Im weiteren Verlauf befolgte man eine neue Strategie. Nicht mehr die Frage, wieviel Spiel die Dichtungen hatten, stand zur Debatte; die Hauptsache war, dass die Gummiringe in der Praxis funktionieren

11 | Zit. nach ebd.: 115.

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würden. Es wurden nun Tests über die Funktionstüchtigkeit der Dichtungen durchgeführt, und zwar simulierte man dazu ein viel größeres Spiel zwischen den Fugen, als es je in der Praxis zu erwarten war. Für diesen Fall hatte man herausgefunden, dass die Primärdichtung dem Druck sogar unter weit schwierigeren Bedingungen standhielt, als je bei einem tatsächlichen Start vorherrschen würden. Bei einem weiteren Test, in welchem man eine Erosion der Primärdichtungen simulierte, konzentrierte man sich wieder auf die Sekundärdichtungen. Unter startähnlichen Bedingungen war auch hier kein Problem aufgetreten, d. h. die Sekundärdichtungen funktionierten und garantierten die Redundanz, die man sich von ihnen versprochen hatte. Als Nächstes wurde versucht, die Segmentfugen so eng wie möglich zu machen, um die Gummiringe maximal zusammenzupressen. Das erreichte man, indem man stärkere Gummiringe verwendete, wobei man auf höchste Qualität achtete, und indem man dünne Metallscheibchen um die Fugen legte, um sie noch weiter zu stabilisieren. Zu diesem Zeitpunkt im Juli 1981 stieß Roger Boisjoly zum Team von Thiokol. Wie schon erwähnt, hatte man herausgefunden, dass die Gummiringe in der Fuge deutlich weniger zusammengepresst wurden, als es der Industriestandard von mindestens 15 % verlangte. Leon Ray von der NASA und Roger Boisjoly von Thiokol arbeiteten eng an dieser Aufgabe zusammen. Und so berichtete der Vorgesetzte von Boisjoly, Arnie Thomson: Anfangs mussten sich die beiden [Roger Boisjoly und Leon Ray] wirklich zusammenraufen, denn mit den beiden treffen zwei wirklich energische und durchsetzungsstarke Charaktere aufeinander. Aber ich schätze mal, so nach sieben oder acht Monaten schwieriger Verhandlungen einigten sich die beiden auf einen kritischen Wert bei [. . .] ca. 7,5 %. Weniger stark dürfte der Gummiring in der ersten Zündstufe des Starts unter keinen Umständen zusammengepresst werden.12 Ray und die NASA waren scheinbar zufrieden mit der Fugendichtung. Nach den Tests sagte er: »Wir sind der Meinung, dass es wirklich gut funktioniert. Das kann man nicht anders sagen. Bis zu einem Wert von 7,5 % ist alles dicht.«13 Ray fasste zusammen: Wir hatten Vertrauen in die Tests. Die Daten sprachen dafür, dass die Primärdichtung stets in die Fuge gedrückt 12 | Zit. nach ebd.: 104. 13 | Zit. nach ebd.

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würde und somit dem Druck standhielt. Die Titan-Raketen waren in all den Jahren mit nur einem Gummiring ausgekommen. Und sogar für den Fall, dass die Primärdichtung ausfallen würde – das absolute Schreckensszenario –, hatten wir ja noch eine zweite Dichtung.14 Beide Lager waren sich darüber im Klaren, dass die Dichtungsfugen nicht hundertprozentig funktionierten, allerdings verhielten sie sich gut genug, um das Restrisiko hinreichend gering zu halten. Beide Teams stimmten diesmal darin überein, dass die Primärdichtung funktionierte und dass für genügend Redundanz gesorgt war. Allerdings gingen die Meinungen über Redundanz weit auseinander. Die NASA ging noch immer von deutlich mehr Spiel zwischen den Dichtungen aus als Thiokol. Der Unterschied war auf den ersten Moment des Starts reduziert. Während der ersten Zündstufe wäre die geforderte Redundanz, so die NASA, tatsächlich gegeben, nicht aber im Falle eines Katastrophenszenarios, dann nämlich, wenn beispielsweise die Primärdichtung erst sehr spät nachgab, zu einem Zeitpunkt, da die Sekundärdichtung nicht in der Lage wäre, dem Druck standzuhalten. Bei Thiokol war man auf der Grundlage der eigenen Messungen überzeugt, dass die Redundanz zu jedem relevanten Zeitpunkt gegeben war und die Sekundärdichtung stets würde einspringen können. Boisjoly sagte dazu: Ehrlich gesagt, lagen wir, die Ingenieure, v. a. aber Leon Ray und ich, in einem ständigen Clinch bezüglich der Berichte über die Flugtauglichkeit des Shuttles. Ich legte die 10,66 mm Spiel zu Grunde und man warf mir vor, dass ich von einem zu kleinen Wert ausging. Darauf konterte ich und sagte, dass das größere Spiel, die 15,24 mm, von denen das Marshall Center ausging, niemals zutreffen werden, da wir gewiss nicht liegend starten werden.15 Nachdem man sowohl bei Morton Thiokol wie auch im Marshall Center die Segmentfuge als ein vertretbares Risiko einschätzte, pflichtete die NASA diesem ganz offiziell bei, und das Space Shuttle wurde für seinen ersten Flug vorbereitet.

14 | Zit. nach ebd.: 105. 15 | Zit. nach ebd.: 106.

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Erster Flug des Raumtransporters Endlich sollten die Segmentfugen einem letzten und entscheidenden Test unterzogen werden. Beim Einsatz der Fugendichtungen der Trägerraketen in einem ersten tatsächlichen Flug würde endlich die noch immer währende Kluft zwischen Theorie und Praxis beseitigt werden. Am 12. April des Jahres 1981 startete das erste Space Shuttle zu einem Probeflug. Zwei Tage und 36 Erdumrundungen später landete es planmäßig auf dem Luftwaffenstützpunkt Edward. Die beiden Trägerraketen wurden aus dem Meer geborgen und auseinandergenommen, wobei sich bei den Segmentfugen keine Unregelmäßigkeiten feststellen ließen. Sie hatten sich genau so verhalten, wie man es vorhergesagt hatte.

1981–1985: Gewöhnung greift um sich Im November 1981 fand der zweite Space Shuttle-Flug statt. Thiokol schickte ein Ingenieursteam und einen Fotografen zum Cape Kennedy, um die geborgenen Trägerraketen zu inspizieren. Jack Buchanan, Thiokols Manager in Cape Kennedy, bemerkte als einer der ersten, dass etwas schief gelaufen war: Zunächst wussten wir gar nicht, was wir da vor uns hatten und brachten das Ding ins Labor. Dort war man über unseren Fund sehr erstaunt.16 Was man zur Kenntnis nehmen musste, war eine erodierte Primärdichtung. Die heißen Gase hatten ein mehr als 1,25 mm großes Loch in das Gummi gebrannt. Obwohl sich das nicht besonders spektakulär anhören mag und auch nur einer von 16 Dichtungsringen betroffen war; weder bei den Titan-Raketen noch bei den Tests oder dem vorhergegangenen Flug des Space Shuttles waren Erosionen an den Gummiringen festgestellt worden. Dieses Phänomen war absolut neu, und die Ingenieure starteten umgehend alle notwendigen Untersuchungen. Schnell hatte man eine Erklärung parat. Im Dichtungskitt, welcher die Primärdichtung schützen sollte, ließen sich winzige Löcher nachweisen. Durch diese konnten Treibstoffgase bis zum Gummiring vordringen. Ein Ingenieur des Marshall Centers sagte dazu: Aufgrund des perforierten Kitts kam es zu einem lokalen, sehr heißen Strom, der dann ein Loch in den Gummiring fraß.17 16 | Zit. nach ebd.: 120. 17 | Zit. nach ebd.: 121.

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Daraufhin experimentierte man mit unterschiedlichen Zusammensetzungen und Verarbeitungen des Kitts, um zu verhindern, dass dieses Problem erneut auftrat. Die Erosion der Primärdichtung hatte auch etwas Gutes für sich: Das Gummi war zwar erodiert, trotz allem aber hatte es nicht nachgegeben. Auch konnten nach Untersuchungen der erodierten Dichtung weitere Sicherheitstests durchgeführt werden. Um gegenüber der beobachteten eine fast doppelt so starke Erosion zu simulieren, wurden aus einer Primärdichtung kleine Stücke herausgeschnitten. Sogar in diesem Test, bei dem zusätzlich ein dreimal höherer Druck als bei einer normalen Zündung eingesetzt wurde, hielt die Segmentfuge diesem stand. Dazu der Kommentar eines Ingenieurs von Thiokol: Wir waren nicht gerade glücklich über die Erosion, allerdings gab es noch immer ein paar mildernde Umstände. Erstens kam es nur in der allerersten Zündstufe zur Erosion [. . .] und sogar wenn die Primärdichtung in dieser Phase komplett durchgebrannt wäre [. . .], würde immer noch die Sekundärdichtung eingreifen. Zudem haben wir herausgefunden, dass der Gummiring, sogar wenn wirklich größere Stücke darin fehlen, noch ohne Probleme dem hohen Druck standhält, sofern er an der richtigen Stelle sitzt.18 Der nächste Flug, bei dem der neu entwickelte Dichtungskitt zum Einsatz kam, verlief planmäßig. Es gab keinerlei Erosion. Das bestärkte die Ingenieure in ihrem Glauben, dass sie die richtige Erklärung gefunden hatten.

Für den Einsatz bereit Am 4. Juli 1982, nachdem der vierte Testflug des Shuttles erfolgreich beendet war, gab Präsident Ronald Reagan offiziell bekannt, dass die Challenger nun einsatzbereit sei. Trotz dieser Bekanntmachung fanden weitere Tests an diversen Komponenten statt, bei denen es noch immer zu kleineren Störungen gekommen war. So hatten sich beispielsweise bei eben jenem Start am 4. Juli durch ein Versehen die Fallschirme von den Trägerraketen gelöst, woraufhin diese nicht mehr geborgen werden konnten. Damit gingen aber auch viele wichtige Daten bezüglich des Verhaltens der Gummiringe verloren. Es handelte sich beim Space Shuttle mit Sicherheit nicht in dem Sinne um eine 18 | Zit. nach ebd.: 122.

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einsatzbereite Technologie, wie das bei einem Verkehrsflugzeug der Fall ist. Der Schock über das Challenger-Unglück war auch einem irreführenden Image geschuldet, einem Bild, welches die NASA selbst verschuldet hatte, indem sie sogar Kongressabgeordnete und gewöhnliche Bürger mitfliegen ließ. Das Space Shuttle war immer eine hoch riskante Technologie an der Grenze des technisch Möglichen, und das wird es auch auf absehbare Zeit bleiben. Sogar heute gibt man das Unfallrisiko mit 1:100 an, und das trotz der umfangreichen Verbesserungen und neuen Sicherheitsvorkehrungen nach dem ChallengerUnglück – dies ist ein Risiko, wie man es bei einem kommerziellen Verkehrsmittel niemals in Kauf nehmen würde. 1983 und 1984 gab es weitere Anzeichen für Erosionen an den Gummiringen. Allerdings ergab sich ein extrem uneinheitliches Bild, denn zum einen war für gewöhnlich nur eine Dichtung betroffen, zum anderen schien es immer eine ganz plausible Erkärung dafür zu geben. Einmal fand man erneut ein Problem mit dem Dichtungskitt, ein andermal waren wiederum kleine Löcher im Kitt, hervorgerufen durch Luftdrucktests vor dem Start. Die Tests und Analysen wurden weitergeführt, und langsam hatten die Ingenieure das Gefühl, dass sie das Verhalten der Segmentfugen immer besser verstehen lernten. Es schien so, als würden die heißen Gase wirklich nur in der allerersten Phase der Zündstufe an den Segmentfugen fressen, und deswegen konnte es nur sehr begrenzt zur Erosion kommen, bevor der Gasstrom wieder aufhörte, denn bei gleichmäßigem Druck auf die Fugen kam es nicht zur Erosion. Dies führte zu der folgenreichen Einschätzung, dass es sich bei der Erosion um einen sich selbst limitierenden Faktor handele. Bei den beiden letzten Testflügen im Jahr 1984 konnte keinerlei Erosion festgestellt werden, woraufhin die Ingenieure davon überzeugt waren, dass sie das Problem im Griff hatten.

Leckgas Im Jahr 1985 kam es zu den ersten Fällen von Leckgas, wobei Leckgas viel gravierendere Folgen hat als Erosion. Leckgas entsteht immer dann, wenn die Primärdichtung komplett ausfällt und dadurch heiße Gase austreten können. Der erste Start des Jahres 1985 erfolgte nach drei Nächten mit für Florida extrem niedrigen Temperaturen. Bei diesem Flug drang das Leckgas bis zur Sekundärdichtung vor. Nach diesen Vorfällen war es v. a. Roger Boisjoly, der einen Zusammenhang zwischen den tiefen Temperaturen und den Beschädigungen der Dichtungen sah. Er untersuchte die Segmentfugen der geborgenen Raketen und konnte darin ein Fett nachweisen. Dieses Schmier-

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fett war verkohlt und stammte ursprünglich aus der Schicht zwischen den beiden Gummiringen. Für ihn war dies ein Hinweis darauf, dass die Kälte möglicherweise einen Einfluss darauf hatte, ob und wie die Primärdichtungen funktionierten. Boisjoly begann sofort, nach systematischen Daten für einen Zusammenhang zwischen Temperatur und Verhalten der Fugendichtungen zu forschen. Das Problem bestand teilweise darin, dass bisher immer nur der Effekt von enorm hoher Hitze auf die Gummiringe untersucht worden war. Bisher hatte Boisjoly nur seine Beobachtungen, ihm fehlten die hard facts. Ohne diese brauchte er bei den Ingenieuren des Marshall Centers gar nicht erst zu erscheinen. Deswegen begann er mit einer neuen Testreihe, um den möglichen Einfluss von Kälte auf die Gummiringe nachzuweisen. Allerdings wurden diese Tests als nicht besonders dringlich angesehen, und das – eine weitere Ironie der Geschichte –, weil es sehr unwahrscheinlich war, dass es noch einmal so kalt sein würde. Obwohl die Ingenieure vom Marshall Center und von Thiokol natürlich alarmiert waren, weil zum ersten Mal Leckgas aufgetreten war, konnten sie aus dem Stegreif drei Gründe angeben, warum die Segmentfuge ein noch immer vertretbares Risiko darstellte. 1.) Die beobachtete Erosion blieb im Rahmen des Erwartbaren, man hatte bereits stärkere Erosionen beobachtet. 2.) Das Ausmaß der Erosion lag absolut innerhalb der gesteckten Sicherheitsgrenzen, die bei den Tests mit manipulierten Gummiringen festgelegt wurden. 3.) Der Vorgang schien ein sich selbst limitierendes Phänomen zu sein. Und so kamen Roger Boisjoly und die anderen Ingenieure von Thiokol in ihrem Bericht über die Flugtauglichkeit des Shuttles, trotz der neuen Sorgen bezüglich der Temperaturen, zu dem Ergebnis: »[Es] könnte dasselbe Verhalten auftreten. Der Zustand ist nicht wünschenswert, aber vertretbar.«19 Bei einem Flug im April 1985 – es herrschten damals für die Jahreszeit recht hohe Temperaturen – war eine Primärdichtung aufgrund von Leckgas komplett durchgebrannt, und zum allerersten Mal wurde eine Erosion an der Sekundärdichtung festgestellt. Alle Beteiligten waren darüber sehr besorgt, allerdings förderte die genaue Analyse eine sehr eigentümliche Ursache für das Leckgas zu Tage. Die an der Primärdichtung festgestellte Erosion war so schwerwiegend, dass sie nur von den ersten Millisekunden des Starts herrühren konnte. Das wiederum bedeutete, dass die Primärdichtung verrutscht sein musste. Da ansonsten keine Dichtungen betroffen waren, gab es nur eine Schlussfolgerung: Es handelte sich um einen Einzelfall, wobei ein einfaches Haar oder ein Fussel genügt hätte, um die besagte Dichtung zu beein19 | Zit. nach ebd.: 156.

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trächtigen. Um einem erneuten derartigen Zwischenfall vorzubeugen, wurde schlicht der Druck beim Testen der Dichtungen erhöht: Eine falsch positionierte Dichtung würde dann stärker lecken. Paradoxerweise war der Druck ja zuvor vermindert worden, da man beobachtet hatte, dass ansonsten Löcher im Dichtungskitt entstehen konnten. Im Übrigen war auch bei diesem Vorfall die Redundanz gegeben, denn obwohl die Primärdichtung aussetzte, hatte die Sekundärdichtung ihren Dienst getan. Beim darauf folgenden Flug gab es eine Erosion an der Primärdichtung. Hierfür hatten die Ingenieure allerdings schon eine gute Erklärung, sie war nämlich Folge der kleinen Löcher im Dichtungskitt, die ja durch den nun wieder erhöhten Luftdruck des Tests verursacht wurden. Die Ingenieure schienen eigentlich alles im Griff zu haben. Zweifellos bereiteten die Entwicklungen des Jahres 1985 den Ingenieuren wachsende Sorge, allem voran das Phänomen des Leckgases. Neue Berichte, Analysen und Testreihen wurden angeordnet und, wie schon erwähnt, Tests bezüglich der veränderten Elastizität der Gummiringe bei niedrigen Temperaturen durchgeführt. Trotz allem hielten die direkt beteiligten Ingenieure und auch Roger Boisjoly die Segmentfuge noch immer für ein vertretbares Risiko.

Entscheidung für den Start der Challenger Nun können wir nachvollziehen, was für viele Ermittler des Unfalls unfassbar war, wie nämlich aller vorhergegangenen Warnungen zum Trotz die Challenger starten konnte. Und das sogar, obwohl direkt vor dem Start die Ingenieure von Thiokol auf einen möglichen Zusammenhang zwischen den defekten Gummiringen und den kalten Temperaturen aufmerksam machten. Wir haben gesehen, dass die Segmentfugen alles andere als perfekt waren, allerdings traf diese Einschätzung auch auf viele andere Komponenten des Shuttles zu. Auch haben die beteiligten Ingenieure gedacht, dass sie im Laufe der Jahre die Eigenarten der Segmentfugen verstanden hätten; dieses mühsam erworbene Wissen würde man nicht so einfach für eine neue, nicht getestete Version aufgeben, die möglicherweise sogar noch mehr Probleme mit sich bringen würde. Viele Missverständisse bezüglich des Challenger-Unglücks waren nachträglich nicht nur der Besserwisserei geschuldet, sondern – und das ist für diesen Beitrag besonders wichtig – auch dem Irrtum, dass Ingenieurswissen gesichertes Wissen sei. Der folgende Ausschnitt einer Zeugenbefragung vor der Kommission des Präsidenten dokumentiert die unterschiedlichen Sichtweisen bezüglich des Sicherheitsrisi-

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kos deutlich: auf der einen Seite die Experten, auf der anderen Seite die außenstehenden Laien. Hier befragt eine Anwältin der amerikanischen Luftfahrtaufsichtsbehörde FAA, Ms. Trapnell, einen Ingenieur von Thiokol, Mr. Brinton: brinton: Never change a running system. trapnell: Was verstehen Sie unter einem running system? Ein System, das funktioniert, oder ein System, das funktionieren muss, um den Terminplan einzuhalten? brinton: Umgangssprachlich würde man sagen: Wenn es nicht kaputt ist, reparier’ es nicht. trapnell: Sind Sie davon ausgegangen, dass es sich um ein nicht kaputtes System handelte? brinton: Es hat prächtig funktioniert. Unsere Analysen haben gezeigt, dass es sich um ein selbst limitierendes System handelte. Es hat zuverlässig gearbeitet [. . .] trapnell: Nun, ich glaube, ich verstehe nicht ganz. Einerseits sagen Sie, dass man es mit einer sich selbst limitierenden Situation zu tun hatte [. . .] Auf der anderen Seite gestehen Sie ein, dass sich die Ingenieure – im Falle des Durchbrennens einer Dichtung – der möglichen katastrophalen Folgen sehr wohl bewusst waren. brinton: Na ja, lassen Sie es mich so formulieren: Bei jedem Raketenantrieb, und das betrifft auch das Space Shuttle, gibt es ein paar Szenarien, die in einer Katastrophe enden werden – ein Loch in der Außenhaut, eine beschädigte Isolierung. Es gibt wirklich vieles. Einer dieser Fälle ist ein undichter Gummiring. Wir haben die beschädigten Dichtungsringe allesamt untersucht und uns vergewissert, dass der Defekt von einem sich selbst limitierenden Phänomen herrührte und damit nicht zu einer Katastrophe führen konnte. Ich denke, die NASA war da einer Meinung mit uns. trapnell: [. . .] Sind Sie überrascht zu hören, dass ein Ingenieur von Thiokol selbst [Boisjoly] der Meinung war, dass diese Situation sehr wohl zu einer Katastrophe mit Todesfolge führen könnte? brinton: Wenn ich mit dem Auto unterwegs bin und ein Vorderreifen platzt, kann eben das die Folge sein. Dessen bin ich mir bewusst und dieses Risiko nehme ich in Kauf. Ich hatte das Risiko bei der Challenger nicht höher eingeschätzt als hier.20 20 | Zit. nach ebd.: 88f.

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Anders als viele Ermittler des Unglücks vermuteten, wurde das Problem mit den Dichtungen von der NASA keineswegs verdrängt oder ignoriert, vielmehr waren den Ingenieuren die Probleme und Risiken allzu bewusst. Sie hatten über die Jahre gelernt, damit zu leben und waren sich sicher, dass sie die Eigenarten der Segmentfugen ziemlich gut kannten. Sie wussten, dass die Fugen ein Risiko in sich bargen, ein Risiko, welches das Leben der Astronauten bedrohte, aber das war bei unzähligen anderen Komponenten nicht anders. Es ist wichtig, sich vor Augen zu halten, dass sowohl die an der Telefonkonferenz beteiligten Ingenieure wie auch die Manager wussten, was Sache war. Sie nahmen an dieser Konferenz mit all ihrer Erfahrung und all ihrem Wissen über die Dichtungsfuge teil – alle neuen Informationen würden sie auf Grundlage ihrer Erfahrung und ihrer Kenntnis bewerten und nach den Kriterien beurteilen, die sie immer angewandt hatten.

Die Telefonkonferenz vor dem Start Verfolgen wir nun, was sich in Utah ereignete, während die Ingenieure von Thiokol die folgenschwere Telefonkonferenz vorbereiteten. Die größte Sorge der Ingenieure bestand darin, dass sich die Elastizität der Dichtungsringe bei Kälte verringern würde. Nach langen Prüfungen und Verhandlungen einigte man sich bei Thiokol darauf, dass man sich nur dann für einen Start aussprechen würde, wenn gewährleistet war, dass die Temperatur der Gummiringe bei mindestens 11,6 ℃ lag, was der Temperatur entsprechen sollte, die für den bisher kältesten Start berechnet wurde. Bei Thiokol war man sich bewusst, dass man damit in technologischer Sicht nicht gerade eine überzeugende Position eingenommen hatte, aber die Ingenieure hatten entschieden, kein Risiko einzugehen. Eine Hochrechnung zeigte, dass die Temperatur der Gummiringe für den geplanten Start bei unter 0 ℃ liegen würde und damit mehr als 12 ℃ unterhalb des niedrigsten Erfahrungswertes. Beim Flug mit der bislang kältesten Gummiring-Temperatur konnte die größte Menge an Leckgas nachgewiesen werden. Die Dichtungsringe würden weniger stark zusammengepresst werden; das Schmierfett dazwischen wäre zähflüssiger; es würde länger dauern, bis der Gummiring wieder abdichten würde: Und damit gab es berechtigte Zweifel, ob die Primäroder zumindest die Sekundärdichtung ihre Funktion erfüllen würde. Kurz bevor die Konferenz geschaltet werde sollte, bemerkte man bei Thiokol eine argumentative Schwachstelle in der eigenen technischen Präsentation. Eine Grafik von Roger Boisjoly, auf der das Verhalten bei

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zwei unterschiedlichen Mengen an Leckgas verglichen wurde, sollte beweisen, dass bei den kälteren Temperaturen eines Januarstarts auch größere Schäden an den Gummiringen entstanden waren. In dieser Grafik waren allerdings überhaupt keine Temperaturangaben aufgeführt. Aus einer anderen Grafik wurde ersichtlich, dass die Temperatur des zweiten Fluges bei sage und schreibe 24 ℃ lag. Verglich man nun diese beiden Grafiken, so ergab sich ein deutlicher Widerspruch in der Argumentation von Thiokol: Die stärksten Beeinträchtigungen der Dichtungsringe fanden sowohl bei der höchsten wie auch bei der niedrigsten Temperatur statt. Für die Ingenieure von Thiokol gab es nur einen Ausweg: Sie mussten sich absolut auf die Beobachtungen von Boisjoly verlassen, dass bei den kalten Temperaturen tatsächlich deutlich mehr Leckgas produziert wurde. Um 8.15 Uhr Ortszeit begann die Telefonkonferenz. Es waren 34 Ingenieure und Manager anwesend. Das Verhältnis zwischen den beiden Gruppen war nicht ausgewogen, denn bei allen anwesenden Managern handelte es sich auch um ausgebildete Ingenieure. Thiokol präsentierte seine Ergebnisse und gab die Empfehlung, dass der Start aufgeschoben werden sollte, bis die Temperatur auf 11,6 ℃ angestiegen sei. Schon bald bemerkte man die Schwachstelle in Thiokols Argumentation. Mehrfach wurde Boisjoly gefragt, ob er seine Bedenken quantifizieren könnte. Aber er hatte eben nur die eigenen qualitativen Beobachtungen vorzuweisen und war nicht in der Lage, konkrete Zahlen anzugeben. Und während der Präsentation kamen weitere Ungereimtheiten zutage. Der Angriff kam von Larry Mulloy, Chefmanager bei der NASA und verantwortlich für die Trägerraketen. Sein Hauptargument war die Tatsache, dass Thiokol bisher stets der Meinung gewesen war, dass es sich um ein vertretbares Risiko handelte; man konnte ja immerhin drei Gründe für das Phänomen benennen. Und nun wollten sie die Temperatur als neuen Risikofaktor mit ins Spiel bringen, wobei nicht einmal ihre eigenen Daten dafür sprachen, dass es einen direkten Zusammenhang zwischen Temperatur und erhöhtem Leckgas gab. Es war keineswegs sicher, ob die Ausdehnung der Dichtungsringe mit der Temperatur korrelierte. Obwohl die Elastizität zugegebenermaßen vermindert war, lag sie – laut Mulloy – sogar bei unter –6.5 ℃ noch immer über den Mindestanforderungen der Hersteller. Er schlussfolgerte, dass es, auch wenn im allerschlimmsten Fall die Primärdichtung beschädigt würde, noch immer keinerlei Anzeichen dafür gab, dass die Sekundärdichtung ebenfalls ihren Dienst verweigerte. Alle Konferenzteilnehmer waren sich einig, dass die Argumentation von Thiokol auf wackligen Füßen stand. Die Empfehlung, den Start so-

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lange aufzuschieben, bis mindestens 11,6 ℃ erreicht seien, war dabei extrem umstritten. Es erschien geradezu widersprüchlich, hatte Thiokol doch Daten vorgelegt, die bei –1 ℃ keinerlei Leckgas nachwiesen. Verfahrensrechtlich schien es abwegig, im allerletzten Moment ein neues Kriterium einzuführen – zumal es sich hierbei um eines handelte, das für Thiokol bislang keine Rolle gespielt hatte. So waren in Cape Kennedy beispielsweise im Dezember an 19 Tagen und im Januar bislang an 14 Tagen Außentemperaturen gemessen worden, die unterhalb der 11,6 ℃-Grenze lagen. Vielen Teilnehmern erschien diese Festlegung ziemlich willkürlich. Mulloy brachte es auf den Punkt: In allerletzter Sekunde vor dem Start führte Thiokol ein neues formales Kriterium ein. Und darauf folgte seine berühmt-berüchtigte Bemerkung: »Mein Gott noch mal, Thiokol, wann soll ich denn eurer Meinung nach starten? Im nächsten April?« Im Nachhinein war diese Äußerung ziemlich unglücklich gewählt. Sie wurde sogar als Beweismittel gegen Mulloy eingesetzt, ihm wäre es wichtiger gewesen, den Zeitplan einzuhalten, auch wenn dafür Abstriche bezüglich der Sicherheit gemacht werden müssten. Obwohl seine Bemerkung natürlich rhetorisch übertrieben formuliert war, entsprach sie seiner Einschätzung, dass Thiokol aufgrund einer seiner Meinung nach beliebigen und nicht durch Daten gestützten Festlegung die Zukunft des Shuttle-Programms gefährdete. Dieser Standpunkt Mulloys fand den Zuspruch vieler Konferenzteilnehmer. Dazu Larry Wear vom Marshall Center: Das war mit Sicherheit ein zutreffender und auch triftiger Einwand. Das Shuttle war ja von vornherein für den Ganzjahresbetrieb konzipiert, d. h. es gibt überhaupt keinen Grund zu der Annahme, man könne nur starten, wenn es warm ist. Und wenn man dieser Annahme folgen würde, so würde es sich um eine völlig neue Situation handeln.21 Bill Riehl, ebenfalls Ingenieur am Marshall Center, sagte: Sich auf die 11,6 ℃ einzulassen, hätte haarsträubende Folgen gehabt. Und damit kam man nun in der Nacht vor dem geplanten Start daher und sprach ohne triftigen Grund die Empfehlung gegen den Start aus – das konnte ich einfach nicht verstehen.22 Nach Larry Mulloys »April«-Bemerkung ergriff George Hardy, sein Vorgesetzter, das Wort. Er unterstrich noch einmal Mulloys Argument 21 | Zit. nach ebd.: 311. 22 | Zit. nach ebd.

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und sagte, er sei »entsetzt« über das vorgeschlagene 11,6 ℃-Limit. Außerdem wies er nochmals auf das wirklich schwache Argument hin. Und schließlich bemerkte er, woran man sich später gut erinnern sollte: »Gegen die Empfehlung unseres Vertragspartners werde ich dem Start nicht zustimmen.«23 Scheinbar hatte das Wort »entsetzt« bei einigen Beteiligten starken Eindruck gemacht. Dazu ein Ingenieur von Thiokol: Ich habe wirklich den allergrößten Respekt vor George Hardy. Ich persönlich weiß aber noch genau, dass ich damals etwas überrascht war. [. . .] Und ich glaube wirklich, dass allein dieses Wort alle Anwesenden wie ein Schlag getroffen hat. Für mich war es ein Hinweis, dass Hardy felsenfest davon überzeugt war, dass unser Argument nicht stichhaltig war und wir stattdessen mit den Startvorbereitungen fortfahren sollten.24 Andere Teilnehmer, die Hardy etwas besser kannten und mehr Erfahrung mit solchen Situationen hatten, bemerkten daran nichts Ungewöhnliches. Dazu Bill Macbeth, ein Ingenieur von Thiokol: Nein, das war mit Sicherheit nicht untypisch für Hardy. George Hardy und Larry Mulloy drückten sich sehr unterschiedlich aus, aber alles in allem waren sie sich einig und gaben uns zu verstehen, dass sie mit unserer technischen Einschätzung nicht einverstanden waren, da wir nicht alle verfügbaren Daten in die Beurteilung mit einbezogen und deswegen ein verzerrtes Bild erhalten hätten. [. . .] Ich glaube, dass sie noch andere Präsentationen von uns im Kopf hatten, und dass sie nicht wirklich das Gefühl hatten, dass wir dabei sorgfältig genug vorgegangen waren. Und das von einem Kunden zu hören, war mir wirklich unangenehm und peinlich. Ich als technischer Manager hatte das Gefühl, dass ich daran hätte denken müssen. Hab’ ich aber nicht.25 Die Entkräftung der Argumente durch die Ingenieure des Marshall Centers war zweifellos beeindruckend, aber nicht überraschend. Seit Jahren schon pflegte man heftige Debatten untereinander. Neu an dieser Situation war aber, dass der Vertragspartner der NASA erstmals die Empfehlung für einen Startaufschub gegeben hatte. 23 | Zit. nach ebd.: 312. 24 | Zit. nach ebd. 25 | Zit. nach ebd.: 313.

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Thiokol bat um eine fünfminütige Unterbrechung der Konferenz. Wie Diane Vaughan berichtet, gaben alle Teilnehmer der Konferenz an, dass der Grund für diese Auszeit darin lag, dass die Argumentation der Ingenieure von Thiokol so wackelig war. Scheinbar ging die NASA davon aus, dass Thiokol nach der Beratung zwar auf dem Standpunkt beharren würde, den Start aufzuschieben, dass man aber Eingeständnisse bezüglich des Temperaturlimits machen würde. In Utah wurde aus den geplanten fünf Minuten eine halbe Stunde. Der Vizepräsident von Thiokol, Jerry Mason, übernahm die Leitung der Diskussion und begann damit, die von Mulloy vorgebrachten Punkte zu wiederholen. Sowohl Boisjoly als auch Thomson verteidigten ihre Position entschlossen, ohne aber neue Daten vorzulegen. Mason formulierte die Gegenargumente. Und die restlichen Ingenieure übten sich in Schweigen. Schließlich sagte Mason, dass, falls von Seiten der Ingenieure keine neuen Daten mehr vorgelegt würden, es endlich an der Zeit sei, dass das Management eine Entscheidung treffe. Es wurden keine neuen Daten eingebracht. Boisjoly und Thomson befürchteten, dass sie überstimmt würden, sie sprangen von ihren Plätzen auf, um ein letztes Mal ihre Argumente vorzubringen. Boisjoly legte Mason und den anderen Vorgesetzten zwei Fotos von Testflügen vor, auf denen anhand des Rußes die unterschiedlichen Auswirkungen von Leckgas zu erkennen waren. Als sie merkten, dass sie auch damit nichts mehr erreichen würden, begaben sie sich zurück auf ihre Plätze. Dann ließ Mason abstimmen: Drei der leitenden Manager stimmten für den Start, und einer, Robert Lund, zögerte noch. Mason forderte ihn dazu auf, »endlich den Ingenieur in sich zu vergessen und die Rolle als Manager zu übernehmen.« Daraufhin stimmte auch Lund für den Start. Im Nachhinein wurde Masons Verhalten so interpretiert, dass er die Bedenken der Ingenieure hintangestellt habe und stattdessen der Logik des Managements gefolgt sei, in der die Einhaltung des Zeitplans, das Verhältnis zwischen Auftraggeber und Kunden und dergleichen Priorität hatte. Aber verschiedene Konferenzteilnehmer betrachteten die Entscheidung von Mason als eine Entscheidung, die ganz typisch für ein Ingenieursmanagement sei. Dazu Joe Kilminster von Thiokol: Die anwesenden Ingenieure waren sich nicht einig. Und wenn es keine Einigung gibt, man aber eine klare Ansage der Ingenieure braucht, dann muss eben jemand alles zusammentragen und eine Entscheidung treffen.26

26 | Zit. nach ebd.: 317.

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Alle vier Manager von Thiokol begründeten ihren Sinneswandel mit Fakten, die sie bei ihrer ursprünglichen Empfehlung nicht berücksichtigt hatten. Die genannten Fakten waren: keine zwingende Übereinstimmung zwischen Leckgas und Temperatur; es gab Daten, aus denen hervorging, dass die Dichtungsringe auch bei Erosion kein Sicherheitsrisiko darstellten; zudem Redundanz, die mit der Sekundärdichtung gegeben war. Als die Telefonkonferenz wieder aufgenommen wurde, gab Thiokol die Kehrtwende bekannt. Thiokols neue Empfehlung und die Begründung für den Start wurde verlesen, und im Marshall Center blickte sich Hardy um und fragte in die Runde, ob dem noch etwas hinzuzufügen sei. Doch offensichtlich gab es nichts. Schließlich fragte der Leiter des Shuttle-Projekts alle Teilnehmer der Telefonkonferenz, ob es noch irgendwelche Einwände oder Kommentare bezüglich der aktuellen Startempfehlung gab. Aber niemand rührte sich, und so endete die Konferenz um 11.15 Uhr Ortszeit.

Resümee Die Rekonstruktion der Geschichte der Challenger hat gezeigt, dass es zu einfach wäre, würde man die Schuld bei gefühllosen Managern suchen, die aufgrund eines Zeitplans die braven Ingenieure ausgebootet hätten. Das aber war die bisher gängige Version der Geschichte. Es hatte bereits seit langem Unstimmigkeiten und Bedenken bezüglich der Segmentfugen gegeben, aber letztlich war man sich zur Zeit der Telefonkonferenz darin einig, dass es sich um ein vertretbares Risiko handelte. Tatsächlich sahen sich die Ingenieure von Thiokol gezwungen, ihre Entscheidung zurückzunehmen, da man die üblichen technischen Standards nicht erfüllen konnte. Es gab schlichtweg nicht genügend quantitative Belege, die eine Empfehlung des Startaufschubs hätten rechtfertigen können. Ganz besonders unangemessen erschien aber das neue Temperaturlimit, von dem die Empfehlung für oder gegen einen Start abhängen sollte. Es fällt uns nun auch leichter, einen weiteren Irrtum aufzudecken – einen Irrtum, der, versehentlich vielleicht, von Richard Feynman in die Welt gesetzt wurde: Dass der NASA nicht bewusst gewesen wäre, wie stark Kälte die Dichtungsringe beeinflusst. Während der entscheidenden Telefonkonferenz wurde auf diesen Punkt sehr detailliert eingegangen. Vertreter der NASA hatten sich intensiv mit dem Problem auseinandergesetzt und sogar Gespräche mit den Herstellern geführt. Man wusste sehr wohl, dass Kälte die Elastizität der Gummiringe ver-

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mindert. Allerdings stellte nach allgemeiner Einschätzung der Ingenieure der zu erwartende Effekt kein Sicherheitsrisiko dar. Diejenigen, welche die schwierige Startentscheidung treffen mussten, befanden sich in einer allzu vertrauten Situation: Die Meinungen der Ingenieure widersprachen sich. Nur eine Seite würde Recht behalten. Deshalb überprüften sie alle Hinweise, und zwar auf Grundlage der höchstmöglichen technischen Standards und sprachen eine Empfehlung aus. Natürlich wissen wir heute, dass diese Entscheidung auf tragische Weise falsch gewesen war. Aber die nachträgliche Gewissheit hat nichts mit der damaligen technischen Realität zu tun. In einer überkomplexen Situation, in der man die nachträgliche Gewissheit nicht zu Rate ziehen kann, haben die Ingenieure schlicht ihr Bestmögliches geleistet. Es gibt keine Technologie ohne Risiko, und die Bewertung von Möglichkeiten und Risiken einer Technologie ist immer untrennbar mit menschlichen Urteilen verknüpft. Bis zum heutigen Tag ist die technische Ursache des Challenger-Unglücks nicht vollständig geklärt. Leckgas hat eine Rolle gespielt, aber auch andere Faktoren wie beispielsweise die extremen und unvorhergesehenen Scherwinde an diesem Tag im Januar, die möglicherweise die nach dem Start wieder abgedichteten Segmentfugen erneut aufgerüttelt haben könnten. Heutige Erkenntnisse sprechen dafür, dass die Fugen letztlich viel weniger Spiel hatten, als es die besten Schätzungen der NASA oder von Thiokol vorhergesagt hatten. Es ist eine Ironie der Geschichte, wenn wir heute davon ausgehen müssen, dass genau diese Tatsache ebenfalls zur Katastrophe beigetragen hat, weil dadurch die Dichtungen viel stärker zusammengedrückt wurden. Unfallrekonstruktion und Unfallrepräsentation bilden ein unendlich verflochtenes Band.

Übersetzung von Marius Hug

Literatur Collins, Harry; Pinch, Trevor 1999: Der Golem der Forschung. Wie unsere Wissenschaft die Natur erfindet. Berlin: Berlin-Verlag. Collins, Harry; Pinch, Trevor 2000: Der Golem der Technologie. Wie die Wissenschaft unsere Wirklichkeit konstruiert. Berlin: Berlin-Verlag. Vaughan, Diane 1996: The Challenger Launch Decision: Risky Technology, Culture and Deviance at NASA. Chicago: The University of Chicago Press.

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Abbildungen Abbildung 1: Fugentorsion der Feststoffrakete. In: Collins/Pinch 2000: 51.

Medium

Entgleisungen im deutschen Kaiserreich. »Das Eisenbahnunglück« von Thomas Mann

Peter Glasner

Der Phaeton-Mythos »Er hatte nicht sowohl sein Unglück, als vielmehr einen Zeitungsbericht über sein Unglück erlebt.« (Thomas Mann)

Wer sich mit Unfallgeschichten beschäftigt, der begegnet geradezu zwangsläufig einer prototypischen Entgleisung. Bei Aischylos, Euripides und Ovid kommt sie vor, Goethe setzt sich mit ihr auseinander, zahllose bildende Künstler wie Michelangelo, Moschino, Heintz d. Ä., Rubens, Tintoretto, Stubbs, Moreau u. a. haben sie immer wieder neu ins Bild gesetzt: die Geschichte des Phaeton-Mythos’. Es verwundert und befremdet zugleich, dass Pferdegespanne und Automobile nach dem Mythos benannt wurden. Denn Phaeton ist der mythische Protagonist einer Entgleisungsgeschichte, in der ebenso unauflöslich wie musterhaft Hybris und Unfall miteinander verschmelzen. An sie sei zu Anfang dieses Beitrags über die Gemeinsamkeiten statistischer, journalistischer und literarischer Unfalldarstellungen im deutschen Kaiserreich erinnert: Die Phaeton-Geschichte entfaltet eine mythische Denkfigur, die dem Unfallgeschehen und seiner Repräsentation grundsätzlich eingeschrieben ist (vgl. Abbildung 1) – und dies ebenso bei Fontane wie bei Thomas Mann. In Ovids »Metamorphosen« wird Phaeton als Sohn »der irdischen Klymene und des Sonnengottes« Helios eingeführt.1 Es gelingt Phaeton, seinem Vater abzuringen, einmal dessen Sonnenwagen lenken zu dürfen. Doch der Wunsch, es dem Vatergott gleichzutun, muss als Vermessenheit in die Katastrophe führen; zumal, wenn der väterliche

1 | Böhme 1995: 36.

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Rat, immer »den mittleren Kurs« zu halten, missachtet wird und es an Selbstbeherrschung fehlt, die kraftstrotzenden Hengste zu bändigen.2 Am Himmel gerät der kühne Jüngling angesichts der erhabenen Räume und drohenden Himmelsbilder ins Schwindeln, verliert Kurs und Beherrschung, die Sonnenbahn gerät in Unordnung, wodurch beinahe ein Weltenbrand ausgelöst wird, hätte nicht, auf Klage der brennenden Erde hin, Jupiter den Jüngling vom Himmel geschossen.3 Ohne hier die Motivationen von Phaetons fatalem Höhenflug en détail zu entfalten, wird ein zentraler Korrelationspunkt der Unfallrepräsentationen im deutschen Kaiserreich sichtbar: Entgleisungen werden allenthalben gedacht als Vorgänge des Aus-der-rechten-Bahn-Geratens, die immer auch moralisch motiviert sind. Ob sich der Mensch der »Macht der Elemente und der (prekären, störbaren) Ordnung der Natur« widersetzt oder ob Entgleisungen ins Sittlich-Normative verlagert werden, immer erscheint Hybris am Horizont des Unfallgeschehens.4 Diesem Zusammenhang ist der Aufbau dieses Beitrages geschuldet: Er nimmt seinen Ausgangspunkt bei Ver(un)sicherungen des Unfallbegriffs, streift dann die Etymologiegeschichte von G(e)leis und Entgleisung, um über kulturhistorische Kontexte der Eisenbahngeschichte und Unfallstatistik eine literarische Fallgeschichte kontrastiv zu Fontanes Unfallballade zu analysieren: Thomas Manns Kurzgeschichte »Das Eisenbahnunglück«. Unfallver(un)sicherungen Die Zeitung ist ein Massenmedium par excellence. Ihre Auflagenstärken haben Konjunktur, wenn sich Unfälle als große Katastrophen betiteln, mit Schlagzeile, Photographie des Unglücksortes, Augenzeugenbericht und spektakulärem Einzelschicksal verbinden lassen. So besehen, erscheint es vielleicht zunächst als abwegig, mit dem Eingeständnis einer grundsätzlichen Verunsicherung zu beginnen: Was sind eigentlich Unfälle, wie lassen sie sich beobachten, gar beschreiben? Charakteristisch für den Unfall ist zuerst die »doppelte Abgrenzung gegen die Naturkatastrophe einerseits, die gewaltsame Handlung andererseits«.5 Zu den Abgrenzungsmerkmalen gegenüber der Naturkatastrophe zählt, »daß er keine Ausnahme darstellt, sondern ein regel2 3 4 5

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Ebd.: 38. Ebd.: 36. Ebd.: 37 und 46. Mülder-Bach 1999: 107.

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haftes ›Risiko‹, das der Normalität innewohnt und statistisch kalkulierbar ist«.6 Da Unfälle keine Täter haben, liegt ihre Ursächlichkeit in »den Kontingenzen des Sozialen«.7 Ihre Beschreibung basiert Abbildung 1: Moschino, um 1560: Der Sturz des Phaeton. zwangsläufig auf Rekonstruktionen, denn der »Unfall [. . .] besteht aus einer derart komplexen Vernetzung mit anderen Ereignissen, daß die Wahrscheinlichkeit, er könne wieder ›verschwinden‹, gleich Null wird. Also zählt der Unfall unbedingt zu denjenigen Ereignissen, die nicht umkehrbar sind, die also nach v. Weizsäcker Fakten sind«.8 Das Typische derartiger Fakten liegt in ihrer spezifischen Kausalität: »Es gibt stets so viele Ursachen-Partikel für einen Unfall, daß eine kausale Relation nicht herstellbar ist.«9 Wo der Zufall im Spiel ist, wird Kausalität derart vielschichtig, dass sich deren Regelmäßigkeit dem Beobachtbaren entzieht. Für Unfallbeschreibungen gilt deshalb in besonderem Maße, was Foucault für das Beobachten herausgestellt hat: »Beobachten heißt also, sich damit zu bescheiden zu sehen; systematisch wenige Dinge zu sehen. Zu sehen, was im etwas konfusen Reichtum der Repräsentation sich analysieren läßt, von allen erkannt zu werden und so einen Namen erhalten kann, den jeder verstehen wird«.10 Im Bezeichnen liegt die komplexitätsreduzierende Tücke allen Kategorisierens verborgen, wodurch das singuläre Unfallereignis auf Typologisches reduziert wird und dessen Spielarten u. a. Entgleisungen genannt werden. Komplexitätsreduktion ist mithin der Preis dafür, überhaupt von Unfällen erzählen zu können. Erst die Reduktion erzeugt eine Struktur, die es dem Sichtbaren gestattet, »indem sie es begrenzt und filtriert, sich in Sprache zu transkribieren«.11 Beschreibbarkeit setzt eine Konvention sowohl gemeinsamer als auch unterscheidender Merk6 7 8 9 10 11

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Ebd.: 108. Ebd. Kassung 2001: 318. Ebd. Foucault 1995: 175. Ebd.: 177.

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male von Unfallereignissen voraus. Unfalldarstellungen gründen folglich im Paradoxen: Als unwiederholbare Ereignisse sind sie sprachlich nur fassbar, wenn ihrer Kontingenz sich wiederholende Elemente zuerkannt werden. Derartige Vorgänge können nur dann repräsentiert werden, wenn sie sich wiederholen. Dies wird beim Unfall zum Problem, geradezu zur Repräsentationskatastrophe, insofern der Unfall ein Vorgang ist, der vor allem durch seine Einmaligkeit oder Ereignishaftigkeit gekennzeichnet ist, und insofern er den sprachlichen Repräsentationsmechanismus zu unterlaufen droht.12 Die Ereignishaftigkeit von Unfällen verlangt, deren Plötzlichkeit als Folgerichtigkeit darzustellen (vgl. Abbildung 2). Als spezifisch modernes Ereignis ist der Eisenbahnunfall seit dem frühen 19. Jahrhundert prototypisch und ist entsprechend auch literarisch wirksam geworden. Ich greife in diesem Beitrag eine Unfallgeschichte heraus, die für einen Zeitungsabdruck verfasst worden ist: »Das Eisenbahnunglück« (1909) von Thomas Mann. Die Literarisierung des Unfalls in diesem sehr kurzen Text macht deutlich, dass die Repräsentation und Bewältigung von Verkehrsunfall, Fauxpas und Skandal in Literatur und Zeitungen des Kaiserreiches eine gemeinsame Sprachlichkeit, ein gemeinsames Bild- und Metaphernreservoir hervorbringen. Dieses prägt die Gegenwartssprache, was ein Begriff wie Entgleisung vorwegnimmt, der kausale Erklärung suggeriert, indem lediglich eine Unfallwirkung benannt wird. Bereits etymologisch wird bei Entgleisungen immer zweierlei zusammengedacht: Etwas kommt aus der gewohnten, der vorgesehenen Bahn und zwar im technischen wie im gesellschaftlich-normativen Sinn. Am Beispiel von Manns »Eisenbahnunglück« werden sich diverse menschliche Entgleisungen analysieren lassen, die immer auch den zeitgenössischen normativen Horizont thematisieren. »Nicht bedeutend, aber vielleicht ganz lustig und nicht uncharakteristisch« hat Thomas Mann seinen eigenen Text stilsicher beschrieben, in dem Hybris und Nemesis als Unfallätiologien fungieren.13 Im Verunglücken zeigt sich das Wesen dessen, der vom Unfall erschüttert wird. Im Unfallgeschehen, in dem man nicht mehr Herr der Lage ist, kommt es darauf an, inwieweit sich zivilisatorische Werte wie Affektkontrolle, Takt und Rücksichtsnahme aufrechterhalten lassen. 12 | Kassung 2001: 321. 13 | Zit. n. Wysling 1975: 286.

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Manns Kurzerzählung beleuchtet mit den Mitteln der Satire die zeitgenössische (Un-)Ordnung der Dinge, um ihre Repräsentanten und Eliten daraufhin zu testen, ob ihre Zuverlässigkeit im Kontingenzgeschehen hält, was ihr Status verspricht. Bei einem Autor wie Thomas Mann wird hierbei nicht zu erwarten sein, dass sich die traditionellen Stützen der Gesellschaft im Eisenbahnunglück bewähren. Unerschüttert bleiben wird einzig ein ganz anderer Vertreter von Elite: der Künstler und die Kunst. Abbildung 2: Eisenbahnunglück in Kürenz (Trier) vor dem Ersten Weltkrieg.

Ob eine Erzählung wie das »Eisenbahnunglück«, die Verkehrswesen und Staatsgebäude überblendet, bereits die Julikatastrophe von 1914 vorwegnimmt, sei hier dahingestellt. Dass allerdings auch satirische Blätter wie der »Kladderadatsch« Kaiser und Staatsführung als entgleisenden Zug karikieren, unterstreicht zweierlei: die gängige Übertragbarkeit von Leitmetaphern wie Eisenbahn und Entgleisung einerseits, die hochgradige Anfälligkeit der Ordnung der Dinge im Kaiserreich andererseits. So verwundert es kaum, wenn die »Vossische Zeitung« »Bismarcks Vorliebe für die Metapher der ›Reichslokomotive‹« wie folgt aufgreift: »Doch läßt sich ein politisches System nicht so schnell

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wie eine Locomotive bremsen und alle Kräfte reichen oft nicht aus, um zuletzt doch das Unglück des Zusammenstoßes zu vermeiden.«14 Etymologisches zu sittlichen und technischen Entgleisungen Wer heute von Gleis und Entgleisung spricht, der assoziiert damit v. a. die Systemzusammenhänge von Normativität und Ordnung, deren Leit- und Navigationsfunktionen sowie deren Anfälligkeit für Störungen und Unfälle. Vertraute Wortbedeutungen sollen hier im Hinblick auf ihre Übertragungen in literarische wie in gesellschaftspolitische Kontexte vorgeführt werden. Das G(e)leis ist aufgeladen mit Gewohnheit, Rechtmäßigkeit, Konventionalität und Traditionalität, die Entgleisung folglich mehr im Sinne eines Werturteils mit Normabweichung oder gar Normbruch, mit Unfall, Unglück oder Katastrophe. Sprachgeschichtlich geht Abbildung 3: Johnson, Arthur 1908: Die Entgleisung. (Kein Toter, aber viedas G(e)leis der Erfindung le Verletzte.) der Eisenbahn voraus. Die Kulturtechnik des Ackerbaus hat sich begriffsgeschichtlich in den beiden Substantiven lateinisch l¯ira und indogermanisch *leis¯a für Furche sedimentiert. Doch gibt es bereits zur gleichen Zeit die Übertragung delirius als das Abweichen vom geraden Weg des Geistigen, das in delirium und deliratio als Irresein und Wahnsinn gesteigert ist.15 Und in mittelhochdeutschen Wendungen wie im geleise varn (um 1300) scheint immer auch schon die übertragene Bedeutung »Gang, Gewohnheit« auf,16 die in frühneuzeitlichen Wendungen von Wickram (»so man offt einen weg faret, würt das gleisz dest weiter«) oder Fischart (»es ist mir nur leid,

14 | Vossische Zeitung 31.12.1879 (Morgenausgabe, 364): 1, zit. nach Carr 2000: 320. Zum Eisenbahnunglück am Firth of Tay vgl. Vossische Zeitung 31.12.1879 (Abendausgabe, 364): 2. 15 | Vgl. Georges 1913/1998: 80. 16 | Henne u. a. 2002: 421; vgl. Rieger 1868: 383.

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dasz man ihnen zu lieb die gleisz oder wagenlaist nicht reformieret«) vorkommt.17 Im 18. Jahrhundert hat im G(e)leise bleiben längst sprichwörtlichen Charakter angenommen. So erhofft sich Lessing in einem Brief von 1763, »dasz ich wieder in mein geleise komme«18 und Schiller prägt in »Wallensteins Tod« Entgleisungen als Abkommen vom rechten Weg ins Sentenzhafte um: »Blinder miszverständnisse gewalt drängt oft den besten aus dem rechten gleise«.19 Im »Deutschen Wörterbuch« der Grimms von 1816 erscheint dann Gleis als Synonym für Eisenbahnschiene und -spur,20 was sich schließlich durchsetzt, so »daß unter G.[leis] schlechthin zumeist die Bahnschienen verstanden werden«.21 Dieser Bedeutungsverengung waren seit dem 16. Jahrhundert Signifikate wie ganz allgemein eine künstlich festgelegte Bahn, in der sich ein Gegenstand bewegt, vorausgegangen.22 Derartige Vorläufer von Gleisen im Sinne von Schienen haben ebenso eine Leit- und Navigationsfunktion wie die Geleise der Sternenbewegung oder des gesellschaftlichen Umgangs. Bevor die Bedeutungsvariante der Eisenbahnschiene vorherrschend wurde, waren Gleise als »übertragung auf die eisernen schienenstränge einer bahn« auch auf Drahtseilbahnen oder Bahnen in Kohlenhäfen und Werften bezogen.23 »Die Eisenschiene selbst«, so Ernst Krafft, »hat freilich schon lange vor der Erfindung der ›Eisenbahn‹ zur Wagenbeförderung gedient«.24 Die Geschichte der Verkehrsentwicklung prägte dann im 19. Jahrhundert auch den Sprachgebrauch: die völlige umkehrung des verkehrswesens im letzten jahrhundert hat zur folge gehabt, dasz gleise, in concretem sinne verstanden, zunächst die vorstellung von den schienensträngen der eisenbahn wachruft, während die ursprüngliche bedeutung einer fortlaufenden wagenspur vornehmlich in erstarrten verbalverbindungen unter zurücktreten der sinnlichen anschaulichkeit weiterlebt.25 17 | Vgl. Grimm/Grimm 1949: Sp. 8287. 18 | Zit. nach Heyne 1890: Sp. 1087. 19 | Zit. nach ebd. 20 | Vgl. Henne u. a. 2002: 421. 21 | Trübner 1939: 80. »Mundartlich kann ›Gleis‹ auch den Abstand der beiden Räder an der Wagenachse« bezeichnen (ebd.). 22 | So beschreibt M. Ruland in »Lex. Alchemiae« (1612), »das in dem [. . .] gleisz wie in eim gewissen weg die leitnägel der hunden mögent fürlauffen, mit welchen leitnegel das verhüt wirdt, das nicht die hundt von dem gebandten weg, das ist ausz der gleisz, zur rechten oder zur linken abweichen« (zit. nach Grimm/Grimm 1949: Sp. 8288). 23 | Ebd. 24 | Krafft 1925: 12. 25 | Grimm/Grimm 1949: Sp. 8286f.

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Im Wörterbuch der Grimms finden sich auch das Bild des ex orbita recedere, ausz dem gleisz faren (16. Jahrhundert)26 oder Belege, die frühen Zeitungsberichten von Eisenbahnunfällen entnommen sind: »der herabhängende theil der kuppelstange« – so die »Österreichische Zeitung« in einer Ausgabe von 1856 – »risz eine schiene auf und fiel unter die räder, die folge war das entgleisen des tenders und der folgenden waggons. der tender und gepäckswagen blieben entgleist auf der bahn«.27 Dieser frühe Zeitungsbericht weist zu Recht die Entgleisung nicht als Ursache eines Eisenbahnunglücks, sondern als dessen Folge aus. Eine beschädigte Schiene löst sich und gerät unter den Zug, der daraufhin aus dem Gleis gerät. Sprachgeschichtlich sind die Weichen der Unfallrepräsentation damit gestellt: als etymologische Verschwisterung von sozialer Normabweichung und technischem Kontrollverlust. In einem nächsten Schritt wird sich zeigen lassen, dass die kaiserzeitliche Statistik des Eisenbahnunglücks keine Repräsentationsalternative darstellt. Dies vor der Analyse von Manns »Eisenbahnunglück« in den Blick zu nehmen, wird die satirische Pointe seiner Kurzerzählung noch deutlicher herausstellen. Diese gipfelt in der abwegigen Selbstberuhigung eines Verunglückten, dass es nach eigener Unfallverwicklung statistisch unwahrscheinlich sei, abermals aus dem Gleis zu geraten. Unfallstatistik: Paradoxie und Perspektivität des Beobachtens Für Unfallrepräsentationen im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert ist die Eisenbahn der Inbegriff von Mobilität und ihren Gefährdungen. Das Eisenbahnunglück wird zum Unfall schlechthin, Entgleisung zum geflügelten Wort. Unter den vielfältigen Gründen für die enorme Metaphorizität des technischen Unfalls ragen zwei, ein tragisch-anekdotischer und ein statistischer, besonders hervor. Die Geburtsstunde der Eisenbahn ist zugleich die Stunde ihres ersten Unfalles. Bei der Eröffnung der sogenannten Baumwollstrecke von Liverpool nach Manchester am 15. September 1830, fünf Jahre nach der Einweihung der »ersten Eisenbahnlinie der Welt« von Stockton nach Darlington wurde der Liverpooler Abgeordnete Huskisson von der rangierenden Lokomotive überfahren – einer der wärmsten Befürworter des neuen Verkehrsmittels wurde dessen erstes Opfer. Ein tragisches Schicksal: ein Weitblickender 26 | Dies. 1949: Sp. 8291. 27 | Dies. 1862: Sp. 544.

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liefert durch eine Minute der Unvorsichtigkeit seinen Gegnern die Argumente zur Begründung ihrer eigenen Kurzsichtigkeit. Und doch ein Zufall nur, kein innerlich begründetes Geschick.28 Dabei unterscheidet Ernst Krafft in seiner frühen Geschichte des Eisenbahnunfalles zwischen »Menschenschuld« und »Schuld der Technik« – eine Grenzziehung, die über ihre implizite Moralisierung hinaus auch deshalb schwer fällt, weil sie auf einer Dichotomie zwischen Natur und Kultur aufbaut.29 Abbildung 4: Unfallstatistik des Verkehrsministeriums vom 31.7.1925

Gleichwohl sperrt sich Krafft gegen Aussagen wie: »Die Geschichte der Eisenbahnunfälle ist ebenso alt wie die Geschichte der Eisenbah28 | Krafft 1925: 7. 29 | Ebd.

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nen.«30 Es sei schließlich etwas anderes, ob jemand »durch eigenen Leichtsinn [Spazieren zwischen den Gleisen] überfahren« werde oder ob bei der Probefahrt der erste Kessel explodiere.31 Genau genommen geht die Geschichte des Eisenbahnunfalles der Geschichte der Eisenbahn sogar voraus. In der Auseinandersetzung zwischen Befürwortern und Gegnern werden potenzielle Unfälle wie »Brände durch den Funkenauswurf, Kesselexplosionen, Zusammenstöße« zu Argumenten gegen eine neue Technik, die in Konkurrenz zu anderen Verkehrsmitteln und Wirtschaftsinteressen tritt.32 Krafft legt seiner Kategorisierung von Eisenbahnunfällen das Verursacher- oder Schuldprinzip zugrunde; seine Motivation ist dabei evident tendenziös und genuin statistisch, soll doch die Unfallstatistik die relative Ungefährlichkeit der Eisenbahn beweisen. Gestützt auf amtliche deutsche Statistiken listet Krafft für die Jahre zwischen 1911 und 1924 insgesamt 5.663 Entgleisungen auf, die zwischen 1916 und 1921 zusammen 243 Menschenleben fordern (vgl. Abbildung 4). Im Jahre 1889 hatten die deutschen Eisenbahnen 60 Achsbrüche, 2441 Radreifenbrüche zu verzeichnen, wovon 19 zu Unfällen führten. Im gleichen Zeitraum brachen 6744 Schienen, wobei es zehnmal zu Unfällen kam. Die Gesamtzahl der Unfälle in Deutschland während dieses Jahres setzt sich zusammen aus 535 Entgleisungen, 372 Zusammenstößen und 2361 sonstigen Unfällen. Hierbei wurden 48 Personen ohne eigenes Verschulden getötet, 345 verletzt, weitere 554 Tote erforderte nach der Statistik die Unvorsichtigkeit.33 Schließlich verrechnet Krafft die Anzahl der Todesfälle mit den zurückgelegten Kilometern. So entsteht eine Unfallstatistik, die im genannten Zeitraum auf eine Million Kilometer nie mehr als 0,109 Tote zu verzeichnen hat. Damit generieren die Statistiken ihre Aussagen in Abhängigkeit vom jeweils zugrundeliegenden Vergleichsmaßstab (Fahrzeit, Fahrstrecke) – ein für jeden Zeitungsleser vergleichsweise trivialer Befund, der aber zeigt: Das Repräsentationsproblem von Unfällen bleibt. Statistische Darstellungen setzen zwar an die Stelle singulärer Erfahrung Durchschnittswerte und Wahrscheinlichkeiten. Tendenziös wie perspektivisch bleiben sie aber ebenso wie literarische Unfallschilderungen. Während in Statistiken »die Singularität des einzelnen 30 31 32 33

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Ebd. Ebd. Ebd.: 8. Ebd.: 18.

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Unfallgeschehens notwendig unberücksichtigt bleiben« muss, um im Mittelwert des Wahrscheinlichen den Unfall als erwartbare Normalität aufzufassen, ist das Unvergleichliche des Ereignishaften die genuine Erlebniseinschätzung des Verunglückenden.34 Die Überlegenheit der Erzählerfigur in Manns Kurzerzählung wird beide »Wahrnehmungsmodalitäten« vereinigen: das unvergleichliche Erleben des Künstlers und den statistischen Weitblick.35

Die (Un-)Fallgeschichte: Thomas Manns »Eisenbahnunglück« »Meine Mutter macht sich immer Kummer; wenn grade keines ihrer Kinder dazu Anlaß gibt, sind es die Eisenbahnunglücke.« (Heinrich Mann)

Im Literarischen werden nicht erst Männer ohne Eigenschaften Zeugen von Verkehrsunfällen. Auch Autoren wie Charles Dickens oder Thomas Mann verunglücken, im Leben wie in der Literatur. Das Erlebnis einer vermeintlichen Zugentgleisung wird von Thomas Mann 1908 zu der Erzählung »Das Eisenbahnunglück« verarbeitet, die am 6. Januar 1909 in der Wiener Zeitung »Neue Freie Presse« erscheint. Im Folgenden werde ich die Erzählung erstens mit journalistischen und literarischen Darstellungen des berühmten Unglücks am Firth of Tay konfrontieren und zweitens die geschilderten technischen und sozialen Entgleisungen auf ihre – fiktionalen – Wechselwirkungen hin analysieren. Hybris und Nemesis als Unglücksätiologien Als das »größte Eisenbahnunglück auf der Erde bis zum Weltkrieg« galt der Zusammenbruch der Eisenbrücke über den schottischen Firth of Tay: »Am 28. Dezember 1879 stürzte sie unter dem gleichzeitigen Druck eines Orkans und eines darüberbrausenden Zuges zusammen, und 200 Menschen fanden dabei den Tod«.36 Um zu zeigen, dass im Zeitungsmedium wie im Literarischen Unfälle nicht als bloß sinnlose Zufallsereignisse dargestellt werden, ziehe ich zwei Meldungen aus 34 | Kassung 2001: 331. 35 | Ebd. 36 | Krafft 1925: 37.

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der »Zürcherischen Freitagszeitung« vom 2. und 9. Januar 1880 heran. Der erste Artikel führt als Unfallursache die fatale Gleichzeitigkeit eines »furchtbaren Windsturmes« mit dem Passieren eines Zuges an (vgl. Abbildung 5).37 Im Übrigen hält er sich weitestgehend an messbare Quantitäten wie schwankende Opferzahlen (90–300), die Anzahl der Zugwaggons (7), die Fußhöhe der Brücke (100), die zerstörten Brückenspannungen (13) und die Öffnungslänge der Brücke (eine halbe englische Meile). Der Folgeartikel vom 9. Januar 1880 erinnert stark an die Unglücksballade »Die Brück’ am Tay« von Theodor Fontane: England. Die Brücke von Dundee in Schottland über die Mündung des Flusses Tay war eines der gewagtesten und großartigsten Werke. Für senkrechten Druck vollständig richtig berechnet zog sie sich, in ihrer Länge fast wie ein Drahtseil anzusehen, über die weite Distanz in schwindelnder Höhe über den Wasserspiegel. In der Silvesternacht war nun ein furchtbarer Sturm, so daß die Anwohner es für eine Vermessenheit hielten, wenn der Edinburger Zug die Passage wage. Er wagte sie; aber nach kurzer Zeit sah man gleichsam einen Kometenschweif ins Meer versinken. [. . .] und der ganze Zug verschwand spurlos in der Tiefe; auch nicht eine Seele erreichte das jenseitige Ufer.38 Stilistisch auffallend ist das massive Nebeneinander von technischem, literarischem und religiösem Diskurs mit physikalischen Details, Hybrisformulierungen, Kühnheitsmetaphern und »balladesker Personifizierung«, apokalyptisch anmutender Bildlichkeit sowie religiösen Bildern.39 Für die Unfalldarstellungen bei Fontane und Mann ist ein Korrelationspunkt besonders markant: Allenthalben geht neben Schicksalhaftem (ein furchtbarer Sturm) und Technisch-Kausalem auch menschliche Hybris in die Unfallätiologie mit ein. Bei Fontane unterliegen Brücke und Eisenbahn im Kräftemessen mit drei Winden, die wie die Hexen aus Shakespeares »Macbeth« prophezeiend auftreten,40 um die Hybris eines heimreisenden Brücknersohnes und Lokführers mit einer Vanitastopik zu ahnden, die an Schillers »Lied von der Glocke« 37 | Zit. nach Bräutigam 1963: 109. 38 | Zit. nach ebd.: 109. 39 | Ebd.: 113. 40 | Carr hat darauf hingewiesen, dass Fontane »sich bereits 1858 als Reisender in ›Jenseits des Tweed‹ zu seiner Nähe zur Romantik eines Walter Scott und der schottischen Balladentradition« bekenne. Fontane stilisiere die Tay-Mündung zur Grenze von Zivilisation und Natur, die – per Pferd – nicht überschritten werden könne, ohne Macbeths Hexen zu gewärtigen. (Carr 2000: 319f.)

Entgleisungen im deutschen Kaiserreich | 197 Abbildung 5: Probefahrt auf der 1878 fertig gestellten Tay-Brücke.

erinnert:41 »Tand, Tand,/Ist das Gebilde von Menschenhand«.42 Schillers sentenzhafte Verse »Denn die Elemente hassen/Das Gebild der Menschenhand« beziehen sich auf die Naturgewalt des Feuers, die »bezähmt, bewacht« sich »wohltätig« instrumentalisieren lässt, aber zwangsläufig Verderben und Vernichtung bringt, »Wenn sie der Fessel sich entrafft,/Einhertritt auf der eignen Spur«.43 Der bei Fontane aus der Spur geratene Zug steht in ursächlichem Zusammenhange mit der Hybris des Lokführers Johnie: Fontanes Anklang an Das Lied von der Glocke [. . .] kehrt [. . .] das rationale auktoriale Urteil Schillers über den Sieg des gestaltenden, zivilisierten Menschen und die immer drohende Gefahr des ›elementaren‹ Ausbruchs der politischen Revolution [. . .] um, indem er den ›hassenden‹ Elementen das Schlußwort überlässt. Indem die technische ›Bezähmung‹ der Elemente zum ›Wahn‹ des Menschen geworden sei, lenke er Nemesis auf sich.44 41 42 43 44

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Vgl. ebd.: 325. Fontane 1978: 285f. Schiller 1992: 60f. Carr 2000: 325f.

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Es ließe sich mit Stefan Neuhaus schlussfolgern, dass letztlich Johnies Überschätzung des technisch Möglichen, Fortuna und Nemesis zu dem Zugunglück führen. Während bei Fontane die Winde als Unfallursache höherer Gewalt erscheinen, werden Mensch und Technik aus der Perspektive des schließlich Verunglückenden identifiziert: Die Brücke noch! Aber was tut es, wir zwingen es doch. Ein fester Kessel, ein doppelter Dampf, Die bleiben Sieger in solchem Kampf. Und wie’s auch rast und ringt und rennt, Wir kriegen es unter, das Element.45 Carr zufolge ist in Johnies Kampf, der die Elemente zu bezwingen sucht, eine metaphorische Anknüpfung »an die heroische Überwindung eines archetypischen ›Drachens‹ durch Reiter und Pferd« zu sehen.46 Allerdings erhält seine Siegesgewissheit zunehmend hybride Züge (»›Und unser Stolz ist unsre Brück;/Ich lache, denk’ ich an früher zurück,/An all den Jammer und all die Not/Mit dem elend alten Schifferboot [. . .]‹«47 ) und erweist sich als überhebliche Fehleinschätzung, die sich in einen Rekurs auf die Nichtigkeit von Technik als bloß Menschengemachtes verwandelt: »Tand, Tand«.48 Schließlich obsiegen doch die Elemente über Mensch und Technik (vgl. Abbildung 6): Denn wütender wurde der Winde Spiel, Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel fiel’, Erglüht es in niederschießender Pracht Überm Wasser unten . . . Und wieder ist Nacht.49 Das Eisenbahnunglück wird als ästhetisches Schauspiel »ins Erhabene gesteigert«.50 Ihm sind Schrecken und Faszination gleichermaßen eingeschrieben. Für Carr repräsentiert das »apokalyptisch erhabene Bild des herabstürzenden Zuges [. . .] auch den Ikaros-Hochflug und das Pathos des technischen Versagens«.51 So bleibt für hier festzuhalten: Die Unfälle bei Fontane und Mann haben gemeinsam, dass in beiden Texten die Ambivalenz von Eisen45 46 47 48 49 50 51

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Fontane 1978: 286. Carr 2000: 322. Fontane 1978: 286. Ebd.: 287. Ebd.: 286. Carr 2000: 328. Ebd.

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bahnunglück und Entgleisung in ihren technischen und gesellschaftlich-sozialen Bedeutungen aufgegriffen und aufeinander bezogen werden. Abbildung 6: Ansicht des eingestürzten Teils der Tay-Brücke.

Kaiserzeitliche Entgleisungen Doch im Gegensatz zu Fontanes »Die Brück’ am Tay« gestaltet sich das Eisenbahnunglück bei Thomas Mann nicht mehr als dramatischer Kampf zwischen Naturkraft und Technik, zwischen »heroisch-schicksalhaften und naturmagischen Traditionen« einerseits und Verkehrsund Zivilisationsgeschichte andererseits.52 Vielmehr gehen in seiner Erzählung dem Zugunglück eine ganze Reihe von sittlichen Entgleisungen voraus. Bereits der Titel der Erzählung lässt den Leser aufmerken. Das Wort Unfall wird vom Autor vermieden.53 Auch bei einer Gelegenheitsarbeit wie dieser Zeitungsgeschichte, »einem Schmarren [. . .], der 300 M wegen, die ich für Weihnachtsgeschenke brauche«, wird die Wortwahl nicht zufällig sein.54 Spielt Thomas Mann die eigentliche Bedeutung des Unfalls damit herunter? Auch ließe sich fragen, ob nicht bereits durch den Titel »Das Eisenbahnunglück« das unvorhergesehene Ereignis in einem Weltbild situiert werden soll, das den Assoziationsraum von Fortunavorstellungen seit der Antike aufmacht. Auch bei Thomas Mann steht der zunächst egalisierende Charakter 52 | Ebd.: 322. 53 | Gleiches gilt auch für einen weitaus bekannteren spektakulär-unspektakulären Verkehrsunfall in Robert Musils »Der Mann ohne Eigenschaften«, vgl. hierzu Musil 1978: 9–11; Kassung 2001: 317ff. sowie in diesem Band den Beitrag von Benno Wagner. 54 | Zit. nach Reed 2004: 349.

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von Unfall und Fortuna in Kontrast zu Unfallwirkung und Erzählungsende. Beides korreliert mit dem Paradox der Ordnungsstiftung durch Unordnung und Störung. In der Erzählung schützen sich Autor und Erzähler schließlich nicht nur mit Hilfe der Unfallstatistik vor weiteren Unfallverwicklungen. Vielmehr geht die Entgleisung eines Verkehrsmittels mit sittlichen, verbalen und psychischen Unfällen einher, um Zug und hybriden Charakter wieder auf die rechte Bahn zu bringen. Derartige Funktionszuweisungen von Unfallgeschehen implizieren eine höhere Ordnungsmacht: Unfall und Normbruch, Fortuna und Nemesis fungieren als Ordnungsstabilisierungen. Damit komme ich zum Anfang des »Eisenbahnunglücks«: Ich fuhr damals nach Dresden, eingeladen von Förderern der Literatur. Eine Kunst- und Virtuosenfahrt also, wie ich sie von Zeit zu Zeit nicht ungern unternehme.55 Unfall und Fortuna nehmen weder den verdienten oder vortrefflichen Dichter aus, noch ersparen sie seinem einmaligen Manuskript (gemeint sind Vorarbeiten zum Roman »Königliche Hoheit«) im aufgegebenen Koffer die Verlustgefahr. Das Eisenbahnunglück wird zunächst als plötzliches Einbrechen des Unvorhergesehenen in Gewöhnlichkeit und Alltäglichkeit, in die der Reisende allerdings wenig Vertrauen hat, geschildert. Nicht nur die anthropologisierte Regelmäßigkeit des Zugverkehrs wird selbstbeschwörend in die Sphäre des Gewohnheitsmäßigen verlegt (»Ich weiß ganz gut, daß der Nachtzug nach Dresden gewohnheitsgemäß jeden Abend vom Münchener Hauptbahnhof abfährt«.56 ), sondern auch das imaginierte Aufsehen, das der repräsentative Dichter üblicherweise erregt: »Man repräsentiert, man tritt auf, man zeigt sich der jauchzenden Menge; man ist nicht umsonst Untertan Wilhelms II.«57 Die Ironiesignale sind unübersehbar: Die Aufmerksamkeit einem selbstgefälligen Dichter und einem zu Pomp und Operettenhaftigkeit neigenden Monarchen gegenüber fallen ebenso in eins, wie die selbstironische Zusammenziehung von reisendem Autor und »Reisekaiser«.58 Während allerdings für den Künstler ein gewisses Schauspielertum als metierspezifisch gelten kann, setzt Künstlertum im Falle des Staatsoberhauptes bereits ein erstes Fragezeichen hinter die Vertrauenswürdigkeit einer Staatsmacht, die sich – so Thomas Mann – durch »Parvenu-Atmosphäre« und »ranzig gewordene 55 | Mann 2004: 470. 56 | Ebd.: 471. 57 | Ebd.: 470. 58 | Die Mobilität und Reisetätigkeit Wilhelms II. war berüchtigt und trug dem letzten deutschen Kaiser Beinamen wie »Reisekaiser« und Hymnenvariationen wie »Heil Dir im Sonderzug« ein. Vgl. Straub 1999: 229; Glasner 2003: 239ff.

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Romantik« auszeichnet, »so daß man sich Deutschland endlich unter dem Bilde eines reichlich brutalen Generaldirektors vorstellen konnte, der sich von einem elektrischen Grammophon Schuberts ›Lindenbaumlied‹ vorspielen läßt«.59 Thomas Manns Erzählung schildert nicht nur ein »Eisenbahnunglück«, sie beginnt auch als Unfall der Darstellung: Etwas erzählen? Aber ich weiß nichts. Gut, also ich werde etwas erzählen. Einmal, es ist schon zwei Jahre her, habe ich ein Eisenbahnunglück mitgemacht – alle Einzelheiten stehen mir klar vor Augen.60 Die Exzeptionalität des Erlebten schlägt sich in der Nachhaltigkeit des Gedächtniseindruckes nieder. Der sich genau erinnernde Erzähler hält an einer Illusion fest und verwickelt sich so ins Paradoxe: Er will ein Eisenbahnunglück mitgemacht haben. An die Stelle von Augenzeugenschaft und Authentizität des Geschilderten als Erlebtes – der literarisierte Zusammenstoß zweier Züge ereignete sich während einer Bahnreise des Autors in der Nähe von Regensburg – tritt unversehens die Weigerung, der eigenen Unfallbeteiligung das zuzugestehen, was gerade ihren prekären Status, ja ihr Wesen ausmacht: Unfälle sind weniger Ausdruck diffusen Kollektivhandelns – so ein weiterer Definitionsversuch – als vielmehr individuelle Erfahrungen von Kontrollverlust.61 Vom Erzählungsende her gesehen, entspricht das Mitmachen aber genau dem, was vorgeführt werden soll. Im fiktiven Unfallgeschehen walten weder blinde Fortuna noch Kontingenz. Vielmehr macht der Unfall die von gesellschaftlichen Konventionen und Klischees verstellte Ordnung der Dinge direkt sichtbar. Der so sensible und nervöse Dichterreisende macht ein Eisenbahnunglück mit – unberührt in seinem Taktgefühl und in tadelloser Haltung. Doch schon im nächsten Satz entgleitet die vermeintliche erzählerische Kontrolle unweigerlich nicht nur ins Metaphorische: »Es war keines vom ersten Range, keine allgemeine Harmonika mit ›unkenntlichen Massen‹ und so weiter, das nicht.«62 Im weiteren Verlauf der Erzählung wird nicht nur der Kontrollverlust des Verunglückten geschildert, sondern auch die Unkontrollierbarkeit von Unfalldarstellungen sowohl auf Erzähler- als auch auf Figurenebene thematisiert. Um mit der Figurenebene zu beginnen: Nach dem Zusammenstoß von Personen- und Güterzug gibt ein hinkender und sich das Knie haltender Schaffner gegenüber dem Erzähler an: »Ach, mein Herr, ich 59 60 61 62

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Zit. nach Sauer 1980: 312. Mann 2004: 470. Vgl. Mülder-Bach 1999: 109. Vgl. Matter 1976: 496. Mann 2004: 462.

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steckte ja dazwischen, es ging mir ja gegen die Brust, ich bin ja über das Dach entkommen, ach, ach!«63 Der so sprachbewusste wie mitleidslose Vortragsreisende, der sich allein für den Verbleib seines Manuskriptes interessiert, hält die Äußerung des Bahnangestellten für unauthentisch und aufgesetzt: Dieses »über das Dach entkommen« schmeckte nach Zeitungsbericht, der Mann brauchte bestimmt in der Regel nicht das Wort »entkommen«, er hatte nicht sowohl sein Unglück, als vielmehr einen Zeitungsbericht über sein Unglück erlebt, aber was half mir das?64 Die dramatisierende Zeitungsrhetorik strukturiert die Erlebnisse des Schaffners, dem hierdurch eine realistische Einschätzung des Unfallgeschehens – und seiner minderen Schwere – abgesprochen wird. Der Gefahr, bei Unfallschilderungen ins Typisierende, ins Formelund Phrasenhafte abzugleiten, scheint auch Thomas Mann selbst zu erliegen. Terence J. Reed konnte die Wendung »allgemeine Harmonika mit ›unkenntlichen Massen‹« als »implizites Zitat von landläufigem Zeitungsjargon für gequetschtes Metall und Opfer des Unfalls«65 nachweisen. Selbst wenn es hier nicht um literarischen Kontrollverlust geht, so zeigt Thomas Mann, dass Unfallerleben und -darstellen eines entgleisenden Erzählers ebenso in vorgegebenen Bahnen verlaufen. Die sprachliche Symbiose von Zeitung und Unfall verdeutlicht den medialen Einfluss auf Wahrnehmung und Darstellung von Unglücksereignissen, dem sich auch große Autoren kaum entziehen können. Dass ein Unfall je nach seiner Schwere als Abenteuer oder Trauma erlebt wird, deutet sich bereits in der zur Überempfindsamkeit neigenden Erzählerfigur an, die gerne mit nicht selbst bezahltem Komfort und erster Klasse reist. In der Figur des reisenden Dichters wird also thematisiert: erstens die Ordnung einer Klassengesellschaft, die sich in der Hierarchisierung der Fahrgäste abbildet und die das eigentliche Terrain darstellt, auf dem unvorhergesehene Zwischenfälle die soziale Ordnung schlussendlich wieder herstellen; zweitens der ihr nicht ganz zustehende Luxus und das Luxusbedürfnis einer Dichterfigur, die im Zwielicht des Parasitären subversive Züge erhält und so die vermeintliche Gültigkeit und Stabilität gesellschaftlicher Ordnung in ihrer Scheinhaftigkeit infrage stellt; und schließlich die dem Komfort zugeschriebene Suggestion absoluter Sicherheit: »Ich reise gern mit 63 | Ebd.: 478. 64 | Ebd. 65 | Reeds 2004: 350.

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Komfort, besonders, wenn man es mir bezahlt. Ich benütze also den Schlafwagen, hatte mir Tags zuvor ein Abteil erster Klasse gesichert und war geborgen.«66 Der empfindsame Dichter ist trotzdem nervös, setzt er doch Mobilität und Kontingenz in eins: »Trotzdem hatte ich Fieber, wie immer bei solchen Gelegenheiten, denn eine Abreise bleibt ein Abenteuer, und nie werde ich in Verkehrsdingen die rechte Abgebrühtheit gewinnen.«67 Was hier die Exklusivität der Dichterpersönlichkeit unterstreicht, steht gleichzeitig für eine allgemeine zeitgenössische Fortschrittsskepsis: »Wer sich in früheren Zeiten in die Welt hinauswagte«, so Schramm in ihrem Benimmratgeber »Der gute Ton« (1908), »wußte nichts von unserer ungemütlichen Hast. Die solide Reisekutsche oder die ehrwürdige Diligence brachte ihn langsam und sicher an seinen Bestimmungsort«.68 Zwar hält auch Schramm die Eisenbahn für »unübertroffen«, allerdings nur »für Geschäftsreisende und Güter«: »Für Vergnügungs- oder Erholungsreisende würden wir aber den alten Fahrgelegenheiten oder der Reiseart der Apostel den Vorzug geben«69 . Ihre Distanziertheit gegenüber der Eisenbahn gründet in einer unterstellten Wechselwirkung zwischen Verkehrstempo und Nervosität: Wer ist denn wirklich so ein echtes Kind unserer Zeit, daß es sein Vergnügen gar nicht beeinträchtigt, wenn er in fieberhaftem Eifer den unerbittlichen Gesetzen der Dampfmaschine folgen muß? Man nennt die Eisenbahn einen Volkserzieher; aber man wird zugeben müssen, daß ihre Pädagogik nicht gerade angenehm ist. Sie erhält ihre Zöglinge in angstvoller Hast und sorgt dafür, daß die Nervosität nicht ausstirbt.70 Die Nervosität des reisenden Erzählers ist gleichwohl anderer Natur, nicht durch die Hektik moderner Mobilität hervorgerufen, sondern vielmehr in seiner Ich-Bezogenheit begründet. Technische und organisatorische Abläufe sowie die Alltäglichkeit routinierten Verkehrs sind für den Erzähler »eine große Sache«, wenn aus anonymem Geschehen eine Schicksalsverbindung von Zug und Dichterpersönlichkeit wird: Ich weiß ganz gut, daß der Nachtzug nach Dresden gewohnheitsmäßig jeden Abend vom Münchener Hauptbahnhof abfährt und jeden Morgen in Dresden ist. Aber 66 67 68 69 70

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Mann 2004: 470. Ebd. Schramm 1908: 312. Ebd.: 312f. Ebd.: 312.

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wenn ich selber mitfahre und mein bedeutsames Schicksal mit dem seinen verbinde, so ist das eben doch eine große Sache.71 Erst nach erledigtem Kofferpacken, nach Droschkenfahrt zum Bahnhof und Gepäckaufgabe tritt im reisenden Dichter, der sich nun »endgültig untergebracht und in Sicherheit weiß«, »eine wohlige Abspannung ein«.72 Attribute aus dem Bereich des Militärischen und des Polizeiwesens markieren die Vertrauen einflössenden Säulen einer Ordnung, die im Weiteren mit dem Staat schlechthin gleichgesetzt wird. So hypostasiert der Reisende die Bahnbediensteten als eine Sicherheit garantierende Kontrollinstanz, als eine Allegorie des Staates, die autoritär und rücksichtslos Ordnung herstellt. Bei Mann wirkt Ironie als Verstörung, weiß der Leser doch bereits, dass der Zug trotz aller Ordnungsmächte verunglücken wird und sich die untertanenhafte Vertrauenslogik als letztlich unbegründet erweist. Wer eine »alte Frau in der fadenscheinigen schwarzen Mantille anherrscht, weil sie um ein Haar in die zweite Klasse gestiegen wäre«, dem sind unersetzbare Manuskripte nur scheinbar zu Recht anvertraut.73 Die Rigorosität des Schaffners korrespondiert der Abneigung besserer Kreise gegenüber der dritten Klasse und Schlechterem, heißt es doch hierzu in Marie Calms zeitgenössischem Ratgeber »Die Sitten der guten Gesellschaft«: Ueberhaupt müssen wir uns zu einer Abneigung gegen diese dritte Klasse bekennen, trotz der jetzt darin eingerichteten Frauenkoupees. Bei kleinen Touren und in größerer Gesellschaft lassen wir sie uns gefallen; für längere Strecken aber ziehen wir, selbst bei heißem Wetter, die dann verpönten weichen Polster den harten Bänken und oft gardinenlosen Fenstern der dritten Klasse vor. Ohne hyperfein oder übermäßig aristokratisch zu sein, wird sich eine allein reisende Dame in der dritten Klasse immer unbehaglich fühlen.74 Gerade aber, dass es vom Staat heißt, »Verlaß, Verlaß ist auf ihn, und dein Koffer ist aufgehoben wie in Abrahams Schoß«, muss wie ein

71 72 73 74

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Mann 2004: 470f. Ebd.: 471. Ebd. Calm 1886: 364.

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Störungssignal wirken:75 Im Lukasevangelium ist man in Abrahams Schoß eben erst nach dem Tod geborgen.76 Verstörend ist zudem Abbildung 7: Simplicissimus 1909: Bahnpolizeilich verbotener Unfall. ein weiteres Paradox. Das Vertrauen in Schaffner, Autorität, Sicherheit und Staat wird von der Unfallwirkung bestätigt: Der Dichter in der ersten Klasse und das Manuskript im Gepäckwagen bleiben so gut wie unversehrt, obwohl fast alle Ordnungsmächte, vor allem Staat und Vater versagen. Als Künstler ist er Teil jener Sphäre, »zu der Kunst, Religion, die Geisteswissenschaften, alle tiefere Sittlichkeit gehören, eine Sphäre persönlich-eigentümlichster Werte und Leistungen«, die Staat und Politik überlegen ist.77 Ordnung und Skepsis Als Signum des Dampfzeitalters ermöglicht die Eisenbahn nicht bloß geographische, sondern eben auch soziale Mobilität. Reisen sind zweifache Grenzüberschreitungen, begegnen sich doch im öffentlichen Verkehr Angehörige verschiedenster Klassen und Stände, deren Umgang grenzsichernder Normen und Regeln bedarf. Nur in einem so hochgradig mit Normativität aufgeladenen Raum wie etwa einem Eisenbahnabteil des 19. oder frühen 20. Jahrhunderts sind Entgleisungen überhaupt möglich. Dem entspricht die Fülle zeitgenössischer Texte, die Entgleisungen im gesellschaftlichen Verkehr vorzubeugen versuchen, wie z. B. Karl Freiherr von Gumppenbergs »Büchlein für’s Volk, worin es findet: wie man sich bei Benützung der Staatsanstalten zu verhalten hat. II. Die Eisenbahn«.78 75 76 77 78

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Mann 2004: 472. Vgl. Lk 16, 19–31. Mann 1988: 239. Gumppenberg 1861/1997.

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Nicht nur Benehmen und Verhalten von Bahnreisenden unterliegen Geboten und Verboten. Vielmehr tritt sogar die zeitgenössische Bahnpolizei ihrerseits als Zensurbehörde auf, um aus eigener Sicht politische wie satirische Entgleisungen zu vereiteln. Es sei hier lediglich als ein Beispiel für den Kontext von Normativität und Entgleisung auf das Satireblatt »Simplicissimus« verwiesen, das auf ein Verbot der Zeitung mit einer vielsagenden Entgleisung reagierte (vgl. Abbildung 7). Die Konventionalität der Norm ermöglicht den Normbruch, von dem dann erzählt werden kann. Unfälle stellen eine soziale Ordnung wieder her, die im Eisenbahnabteil des 19. Jahrhunderts deutlich ins Wanken geraten war, wobei es Thomas Mann nie um die Frage der Ursächlichkeit geht, sondern stets nur um die Symptomatik. Nun wäre ein Eisenbahnunglück allein kaum ein erwartbarer Stoff für eine Mann’sche Kurzerzählung. So gerät der Erzähler schon bald in den Faszinationsbann einer paradoxen Männlichkeit, innerhalb derer sich die gewohnte Ordnung wieder herstellen lässt. Kaum, dass sich der reisende Autor über sein Reisefieber und seine Ängste durch das Beobachten des herrischen Schaffners als verlässliche Staats- und Sicherheitsverkörperung hinweggeholfen hatte, war ihm eine andere Attraktion der Selbstsicherheit in den Blick geraten: Ein Herr, dessen »Schnurrbart [. . .] trotzig aufgesetzt« war, mit »einem Glas im Auge«, »in Gamaschen und gelbem Herbstpaletot« und einem Zirkushündchen.79 Das Monokel vor allem ist Kennzeichen »von wilhelminischen ›Herren‹, insbesondere adligen Offizieren, wie sie die Satiriker der Zeit, allen voran die Karikaturisten des Simplicissimus, anzuprangern liebten«.80 Der gelbe Herbstpaletot wiederum zeichnet den sittenkundigen Reisenden von Stand aus, dem zeitgenössische Ratgeber empfehlen, für unterwegs einen helleren Anzug zu wählen, »der den Staub nicht zeigt«.81 Der erzählende Männerfreund und Hundeliebhaber kann sich – bei aller Ironie – »nicht satt an ihm sehen« und unterstellt dem Monokelträger aufgrund seines Gebarens und seines »verachtungsvollen und willensstarken Ausdrucks« die edelste Herkunft.82 Angesprochen von derartigen herrenhaften »Gewalten« erweist sich der gerade noch »martialische Schaffner« als »schlichter Mann, der deutlich fühlt, mit wem er es zu tun hat.«83 Abermals scheint hier die Unordnung der Dinge vor dem Unfall auf; die Sicherheitskulisse des Schaffners erhält 79 80 81 82 83

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Mann 2004: 472. Reed 2004: 353. Calm 1886: 356. Mann 2004: 472. Ebd.

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erste Risse, und es wird bereits fraglich, ob der bewunderte Herr nicht ebenfalls zu einer Ordnung der Dinge nach dem Unfall beitragen wird. Die für Thomas Mann so typische Antithetik schlägt sich auch im »Eisenbahnunglück« als randscharfer Kontrast von Szenen und Figuren nieder. Die Staatsautorität des Schaffners, die einer alten, ärmlichen Frau das Betreten der zweiten Klasse verweigert, um Sicherheitsund Ordnungsbedürfnisse anderer zu befriedigen, erweist sich gegenüber Fahrgästen von Stand als reflexhafter Untertanengeist, dessen Gebärdensprache zum Ausdruck von Hierarchiebewusstsein und Diensteifrigkeit dem Pseudomilitärischen entlehnt ist. Die Reisefiebrigkeit des verunsicherten Literaten steht im deutlichen Kontrast zur Selbstsicherheit und Wirkungsgewissheit des Herrn: Da wandelt der Herr weiter, zufrieden mit der Wirkung seiner Person. Er wandelt sicher in seinen Gamaschen, sein Antlitz ist kalt, scharf fasst er Menschen und Dinge ins Auge. Er ist weit entfernt vom Reisefieber, das sieht man klar, für ihn ist etwas so Gewöhnliches wie eine Abreise kein Abenteuer. Er ist zu Hause im Leben und ohne Scheu vor seinen Einrichtungen und Gewalten, er selbst gehört zu diesen Gewalten, mit einem Wort: ein Herr.84 So bewundert der weltfremde Dichter den schönen Schein des Selbstbewusst-Rücksichtslosen, bis er zum Entgleisungsopfer seiner eigenen Defizite wird. Pardon wird nich jejeben Die unvermeidliche Dissimulation des Herren in Gamaschen wird von Thomas Mann als eine Abfolge immer gravierenderer Entgleisungen gestaltet: Auf einen Fauxpas folgen Ordnungsverstoß und grobe Unhöflichkeit sowie schließlich völliger Verlust der (Selbst-)Beherrschung. »Obgleich er mich anstößt«, so der Erzähler, »sagt er nicht ›Pardon!‹ Was für ein Herr!«85 Anstößigkeit und Stoß als Synonym und Fallbeispiel sittlicher Entgleisung nehmen hier die Schilderung der Zugentgleisung – die dann keine ist – vorweg: »Es gab einen Stoß [. . .], der sich sofort als unbedingt bösartig kennzeichnete«.86 Die zeitsatirische Episode des Anrempelns ohne Pardon hat eine Entsprechung in einer Karikatur des »Simplicissimus« von 1900, die »Moderne Hunnen« überschrieben ist (vgl. Abbildung 8): Bei der Begegnung dreier Berliner Offiziere hätte ausgerechnet der Monokelträ84 | Ebd. 85 | Ebd.: 473. 86 | Ebd.: 475.

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ger die beiden anderen fast übersehen und entschuldigt sich – wie sich herausstellt – unzeitgemäß: »Hätte die Herren beinahe nich jesehen, Pardon.« Hierauf wird ihm mit einem Zitat Kaiser Wilhelms II. geantwortet, das alle Reste offiziersgemäßer Höflichkeit ins Befehlhafte, mithin ins zeitgemäß Hunnenhafte austreibt: »Pardon wird nich mehr jejeben.« Im gleichen Jahr hatte Wilhelm II. in der sogenannten Hunnenrede den am 27. Juni in Bremerhaven nach China aufbrechenden Soldaten, die den Boxeraufstand niederschlagen sollten, mit auf den Weg gegeben: Kommt Ihr vor den Feind, so wird er geschlagen, Pardon wird nicht gegeben; Gefangene nicht gemacht. Wer Euch in die Hände fällt, sei in Eurer Hand. Wie vor tausend Jahren die Hunnen unter ihrem König Etzel sich einen Namen gemacht, [. . .] so möge der Name Deutschland in China in einer solchen Weise bekannt werden, daß niemals ein Chinese es wagt, einen Deutschen auch nur scheel anzusehen.87 Kaum verwunderlich untersteht sich Manns Gamaschen- und Monokelträger im Folgenden sogar, »seinen Hund mit sich in sein Schlafkabinett« hineinzunehmen: »Das ist zweifellos verboten.«88 Allerdings scheinen solche Entgleisungen weniger zu beunruhigen, als die vorhandenen Gesellschafts- und Ordnungsvorstellungen zu bestätigen, kommentiert der Erzähler ein derartiges Fehlverhalten doch: »Er aber tut es kraft seines Herrenrechtes im Leben«.89 Aber auch dieser Integrationsversuch sittlicher Entgleisungen als schichtenspezifisches Normverhalten und Sonderrecht des Privilegierten wird umgehend destruiert, erblickt der Erzähler gleich darauf »die eiserne Brücke, sah Lichter schweben und wandern«.90 Die Bewegung des abfahrenden Zuges erinnert nicht von ungefähr an die Unfallsymbolik aus Fontanes »Die Brück’ am Tay«: Dort wandelt sich das mit Bangen erwartete Licht des Zuges, der auf die Eisenbrücke zufährt, ins Inferno der Katastrophe: »Und jetzt, als ob Feuer vom Himmel 87 | Wortlaut der Kaiserrede nach der »Weser-Zeitung« und dem »Wilhelmshavener Tageblatt« vom 29. Juli 1900, zitiert nach Rall 2001: 1155f. Zu den unterschiedlichen Fassungen in Zeitungsabdrucken und der als amtlich bereinigten Version ohne Hunnenvergleich vgl. Chamier 1937: 153–155 sowie von Krockow 1999: 157f. Als Beispiel für zeitgenössische Kritik an den Reden des Kaisers, insbesondere an der sogenannten Hunnenrede, sei hier Liman (1904: 115–120) genannt. 88 | Mann 2004: 473. 89 | Ebd. 90 | Ebd.

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fiel’,/Erglüht es in niederschießender Pracht/Überm Wasser unten . . . Und wieder ist Nacht.«91 Abbildung 8: Thöny, E. 1900: Moderne Hunnen.

Injurie Als der Schlafwagenkondukteur am Kabinett des Herrenmenschen mit Hund anklopft, um sich das Fahrscheinheft zeigen zu lassen, erweist sich der Bewunderte als ebenso grobschlächtig wie unbeherrscht: »Lassen Sie mich in Ruhe – Affenschwanz!!«92 Und selbst noch in dieser Szene ist die Erzählerfigur bemüht, die (Ver-)Störung in eine gewohnte Ordnung einzugliedern: »Affenschwanz« sei »ein Herrenausdruck, ein Reiter- und Kavaliersausdruck«.93 Was ist mit dieser Zuweisung in einen gesellschaftsspezifischen Soziolekt des Kaiserreiches gewonnen? Abermals wird die (Un-)Ordnung zum Thema: In Klassengesellschaften gelten für unterschiedliche Kreise unterschiedliche Anstands- und Höflichkeitsregeln. Verstörend ist dennoch, dass der Erzähler die Haltung des beobachtenden Bewunderers nicht aufzugeben bereit ist. Ein derartiger »Herrenausdruck« ist ihm vielmehr »herzstärkend anzuhören«, womit nicht nur die Asymmetrie von iro91 | Fontane 1978: 286. 92 | Mann 2004: 474. 93 | Ebd.

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nischem Bewunderer und Bewundertem nochmals unterstrichen wäre, sondern drastisch illustriert wird, was man als Untertan Wilhelms II. für bewundernswert hält.94 Es überrascht kaum, dass ein solches Verhalten von den Regelwerken der Zeit strikt abgelehnt wird. Marie Calm schreibt: Auf Reisen, wie überall, wird der wirklich gebildete Mensch sich durch Höflichkeit auszeichnen; das prätentiöse Auftreten, das rücksichtslose Sich-breit-machen sind untrügliche Zeichen des Emporkömmlings, der mit äußeren Gütern die höheren geistigen nicht gewonnen hat.95 Der herzstärkende Gamaschenheld trifft auf einen Künstler, der zwar nach außen hin repräsentiert, dem innerlich aber das Alltägliche zum Abenteuer wird. Zudem korrespondiert der grassierenden Dissimulation des unfeinen Herren eine Verstellung der Erzählerfigur, der es nicht nur an plastischer Kraft mangelt, eine Eisenbahnreise bedenkenlos anzutreten. Im herzstärkenden Faszinosum scheint die Möglichkeit des Begehrens auf, das im Kaiserreich als sittliche Entgleisung ebenso zu skandalträchtigem wie kriminalisiertem Handeln zählte.96 Die ganze Kette der bisherigen, aufeinander bezogenen Entgleisungen wird genau wie das Zugunglück selbst in ihrer Symptomatik, nicht aber in ihrer Ursächlichkeit dargestellt. Die Pointe des Unfallgeschehens ist damit eine humane: Der von der Alltäglichkeit heimgesuchte Intellektuelle ist gerade derjenige, der die Entgleisung nicht mitmacht: weder psychisch, noch charakterlich, noch sittlich. Unter dieser Perspektive ist das »Eisenbahnunglück« nicht nur ein Kabinettstück über Schein und Sein der Ordnung der Dinge, sondern zugleich ein implizites Plädoyer für das Existenzrecht des Anderen, das sich in den gesellschaftlichen Kategorien seiner Selbstwahrnehmung schwächlich und lebensuntüchtig vorkommen mag. Damit ist aber mehr über die Unordnung der Dinge gesagt als über Menschen, denen bereits die Vorstellung einer Nachtzugfahrt als ein Abenteuer erscheint, das sie aber ebenso souverän bestehen wie sämtliche Entgleisungen von Mensch und Technik, die sich im Kontingenzraum einer Reise ereignen können.

94 | Ebd. 95 | Calm 1886: 360. 96 | Vgl. Steakley 2004; Kohlrausch 2005.

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Desavouierung Nachdem der Monokelträger dem Kontrolleur sein Fahrscheinheft wütend ins Gesicht geschleudert, dieser pflichtbewusst die Hand zur Mütze geführt und der Leser sich gefragt hat, ob Gewalttätigkeit und Servilität die gleiche Unfallursache haben, kommt die Kette der Entgleisungen zu ihrem Höhepunkt: Die Zugentgleisung dissimuliert die vermeintliche Herzstärke und Männlichkeit des Herrn. Im Gegensatz zu den »dumpfen Bestürzungsrufen« der Geschlechtsgenossen ist seine Stimme, »die sich vorhin des Ausdrucks ›Affenschwanz‹ bediente«, nun »von Angst entstellt«.97 Ins Groteske verzerrt, lässt die pure Angst den Verunglückenden »in seidenem Schlafanzug« aus seinem Abteil hervorbrechen und selbstvergessen um Hilfe rufen.98 Während der Leser noch vermutet, dass dem Zug ein delirius widerfahren sei, wirft der Unglücksschrecken den Herren sofort auch geistig aus der Bahn – ins delirum: Er steht da »mit irren Blicken«.99 Kontingenzbewältigung erfolgt auch um 1900 nach vormodernen Mustern: durch die Adressierung höherer, religiöser Mächte. Folgerichtig kommt ausgerechnet dem Herren, »um sich gänzlich zu demütigen und so vielleicht seine Vernichtung abzuwenden«, ein bittendes »Lieber Gott« über die Lippen.100 Erst der selbstverschuldete Würdeverlust durch die totale Unterwerfung eines lediglich imaginären Unfallopfers befreit den Erzähler aus seinem bisherigen Bewunderungsbann. Der »prototyp der herrengesellschaft« wird jetzt zur verschmähten Kontrastfigur gegenüber einem sich doch so lebensuntüchtig gerierenden Erfolgsdichter, der das Eisenbahnunglück selbstredend in tadelloser Haltung übersteht:101 »Ich spürte jetzt erst meinen Schrecken«.102 Die Selbsterniedrigung des Herren gipfelt dagegen in einem übertriebenen, rücksichts- wie planlosen Fluchtimpuls, der zu »wilden Püffen« gegen Mitreisende wie »halbnackte Damen« und endlich zu einem Sprung ins Freie führt. Das (Eisenbahn-)Unglück geschieht Ich komme auf das nicht einzulösende Versprechen des Erzählers zurück, ein Eisenbahnunglück zu schildern. Für dieses gilt, wie für andere Unfälle auch: Aufgrund ihrer Unvorhersehbarkeit und Plötzlichkeit sind sie »im Moment ihrer Beobachtung immer schon gesche97 98 99 100 101 102

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Mann 2004: 475. Ebd. Ebd. Ebd. Sauer 1980: 318. Mann 2004: 476.

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hen«.103 Tatsächlich werden – von dem weniger um sein Leben oder seine Unversehrtheit als den weitaus bedrohlicheren Manuskriptverlust bangenden Dichter einmal abgesehen – weniger ein Unfallhergang als vielmehr die unterschiedlichsten Wirkungen eines unfallartigen Ereignisses geschildert. Die wohl zentrale Unfallwirkung ist die (Wieder-)Herstellung von gesellschaftlicher Ordnung. Hierzu gehört, die vermeintliche Zugentgleisung als Auslöser für »Entlarvungsvorgänge« sowohl beim Bahnpersonal als auch beim Herrenmenschen darzustellen.104 Der Erzähler beschreibt das Unglück so: In diesem Augenblick geschieht das Eisenbahnunglück. Ich weiß es wie heute. Es gab einen Stoß – aber mit »Stoß« ist wenig gesagt. Es war ein Stoß, der sich sofort als unbedingt bösartig kennzeichnete, ein in sich abscheulich krachender Stoß und von solcher Gewalt, daß mir die Handtasche, ich weiß nicht, wohin, aus den Händen flog und ich selbst mit der Schulter schmerzhaft gegen die Wand geschleudert wurde.105 Bezeichnenderweise wird hier mehr von den Folgen als vom Unfallgeschehen selbst erzählt, entzieht sich doch »das ›Besondere‹ eines Unfalls [. . .] seiner Versprachlichung«.106 Reisender Unfallteilnehmer und Erzähler-Ich liefern gleichsam die im Unfallgeschehen wurzelnde Begründung dafür, im Verunglücken nicht über dessen Wirkung hinausdenken zu können: »Dabei war keine Zeit zur Besinnung. [. . .] Ich dachte etwas sehr Einfaches, aber ich dachte es konzentriert und ausschließlich. Ich dachte: ›Das geht nicht gut, das geht nicht gut, das geht keinesfalls gut.‹«107 Dem streng genderspezifischen Schreckensausbruch – schrille Damenschreie, dumpfe Bestürzungsausrufe der Männer – folgt die Einordnung des Unfalls in eine Typologie der Störfälle, wodurch ihm der Kontingenzschrecken des Unvergleichlichen genommen wird. Ein schwarzhändiger Schlafwagenbeamter erklärt – im doppelten Sinn des Wortes: »Das sei eine Entgleisung [. . .], wir seien entgleist.«108 Was sich später als Fehldiagnose erweist, hat zunächst den Status einer offiziösen Verlautbarung im Duktus professioneller Unfallkategorisierung, deren eigentliche Pointe in der bedeutungsentleerten, lediglich als Erklärung ausgegebenen Phrase besteht. Abermals: Entgleisungen 103 104 105 106 107 108

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Kassung 2001: 330. Sauer 1980: 318. Mann 2004: 474f. Kassung 2001: 330. Mann 2004: 475. Ebd.: 476.

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sind Effekte, Wirkungsresultate, nicht Ursachen von Eisenbahnunfällen. So wie sich die Ereignisverkettung eines Unfalls eben erst im Nachhinein zu erkennen gibt, erlangen bloße Zufälligkeiten im Rückblick des Verunglückten eine Bedeutung für den Unfall, die zum Teil ans Magische grenzt. Die Sinnlosigkeit eines Unfalles wird vermeintlich erträglicher, wenn ihm Kausalität und Wirkungslogik aufgezwungen werden. Folglich lässt Thomas Mann einen ebenso volkstümelnden wie emotionalisierten Bahnangestellten als Visionär auftreten: »Ich hab’ noch zu meiner Frau gesagt: Frau, sag’ ich, mir ist ganz, als ob heut’ was passieren müßt’!«109 Dass derartige Vorahnungen paradoxerweise als Retrospektionen funktionieren, verdeutlicht abermals den Zufall- und Ereignischarakter von Unfällen, unterlaufen doch futurische Aussagen über eingetretene Unfälle deren Wesen. Der Unvorhersehbarkeit von Unfällen entspricht dann auch die Vagheit der Vorahnung, »als ob heut’ was passieren müsst«. Mit ihr ist ein abermaliger Normbruch verbunden. Beim Bahnpersonal zeigen vor allem Brüche oder Wechsel der Sprachcodes die Wirkung der Entgleisung an – ein bedenkliches Signal, sollte doch ein störanfälliges System mit seinen eigenen Störungen professionell umzugehen wissen.110 Literarisch wie psychologisch gehören Unübersehbar-Kontingentes und vorahnende Gewissheit als Bewältigungsstrategien zusammen. In Manns Erzählung ist es ausgerechnet jener Schlafwagenbeamte, der mit den Nachtzugreisenden ausschließlich dienstlich verkehrt, nach dem Unfall jedoch »gesprächig wird« und »seine amtliche Sachlichkeit dahinfahren« lässt.111 Plötzliche Unordnung und Ordnungskontinuität strukturieren das »Eisenbahnunglück«. Auf der einen Seite besitzt ein Bahnangestellter ohne Mütze im militarisierten Kaiserreich keinerlei Autorität mehr, während andererseits ein korrekt uniformierter Schuster als Hauptmann von Köpenick durchgeht. Andererseits ist es für den verunfallten Dichter eine Frage des Taktes, den unglücklichen Beamten, der möglicherweise die Unfallverantwortung trägt, nicht nach dem Verbleib seines Manuskriptes zu fragen. Minderschwere (Zug-)Entgleisungen tangieren weder die auf reine Äußerlichkeiten fixierte Autoritätsgläubigkeit der Mitreisenden noch das stoische Taktgefühl einer selbstverliebten Dichterpersönlichkeit, deren Umgangsformen keine Verlustangst aus dem Geleise zu bringen vermag, nicht einmal dann, wenn es sich um abschriftslose Manuskripte – »das Beste von mir« – 109 | Ebd. 110 | Vgl. Sauer 1980: 318–321. 111 | Mann 2004: 476.

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handelt.112 Inzwischen »war die Feuerwehr eingetroffen«, welche die »Trümmerwüste« erleuchtete und endlich erkennen ließ, dass der Gepäckwagen nahezu unversehrt geblieben war. Währenddessen standen Leute vor den Trümmern, die »schwatzten und sich anfreundeten gelegentlich ihres Mißgeschickes und aufschnitten und sich wichtig machten«.113 Zum Unfall gehört neben Nachricht, Zeitungsbericht und Literarisierung die Vorgängigkeit des Gerüchts. Auch in der Literarisierung des glimpflichen Eisenbahnunglückes zeichnen sich die einzelnen Bewältigungsphasen deutlich voneinander ab: das ausschließlich auf die Unfallwirkung konzentrierte Erleben des Verunfallenden, dessen in Beherrschbarkeitsphantasien mündende Kontingenzbewältigung, die Typisierung des Außergewöhnlichen als Entgleisung und ihre gleichzeitige Mystifizierung durch magische Vorahnungen. Erst jetzt wartet der Erzähler mit dem eigentlichen Unfallbericht auf, der abermals Kausalitätsprinzipien moralisiert. Hierbei wird en passant miterzählt, wie das Unfallereignis darauf drängt, Nachricht, Meldung und Lagebericht zu werden. Nachrichten kamen von dort, aufgeregte Leute, die Meldungen über die Lage brachten. Wir befanden uns dicht hinter einer kleinen Station, nicht weit hinter Regensburg, und durch Schuld einer defekten Weiche war unser Schnellzug auf ein falsches Geleise geraten und in voller Fahrt einem Güterzug, der dort hielt, in den Rücken gefahren, hatte ihn aus der Station hinausgeworfen, seinen hinteren Teil zermalmt und selbst schwer gelitten.114 Mann stellt auch die Entgleisung des Zuges ins Licht des Hybriden, insofern der Zug »auf einem Geleise stand, das ihm nicht zukam«.115 Die eingeleiteten Sicherungsmaßnahmen stabilisieren zunächst einmal wieder die Unordnung der Dinge, sind es doch die Aufräumarbeiten, die »so etwas wie Ordnung in die Sache« bringen und durch die der »Staat« erst wieder »Haltung und Ansehen« zurückgewinnt.116

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Ebd.: 477. Ebd.: 479. Ebd.: 477, Herv. P. G. Ebd.: 479f. Ebd.: 480.

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Nemesis oder Ausgleich vor der Majestät des (Un-)Glücks? Die Fahrgäste setzen ihre Reise nach dem Unfall in einem Extrazug fort, in dem »alles aufs Geratewohl [. . .] verstaut« ist.117 Jetzt befinden sich die Helden der Geschichte alle miteinander in einem Abteil erster Klasse: der Dichtersouverän, der Herr mit den Gamaschen und das alte »Mütterchen in zerschlissener Mantille«.118 Im Extrazug scheint die Klassengesellschaft aufgehoben durch den »Kommunismus, [. . .] den großen Ausgleich vor der Majestät des Unglücks«, gegen den der Herr noch zu opponieren sucht.119 Doch gegen die neuerliche Unordnung vermag er nichts aufzubieten, so dass er sich »sauer lächelnd [. . .] in die tolle Lage« ergeben muss.120 Im Beschreibungsmodus der »tollen Lage« lässt der Erzähler aufscheinen, dass er den neuerlichen »Kommunismus« ebenfalls für Unordnung hält. Im Hinblick auf den opponierenden Herren liegt der Erzähler ganz auf der Linie von Adolph Freiherr von Knigge, der in der Ausgabe von 1878 schreibt: »Nichts ist langweiliger und verdrießlicher, als mit einem Manne zu reisen und in einem Kasten eingesperrt zu sitzen, der stumm und mürrischer Laune ist, bei der geringsten unangenehmen Begebenheit aus der Haut fahren will, über Dinge jammert, die nicht zu ändern sind«.121 So unterschiedlich die drei Reisenden im Rahmen der Kurzerzählung gezeichnet sind, verbindet sie doch ihr jeweiliger Zug ins Hybride: der repräsentationssüchtige Dichter mit einem Komfortbedürfnis, das der eigenen Liquidität nicht entspricht; ein vermeintlicher Herr, der sich als Grobian und Memme entpuppt; und eine alte Frau, der zeitgenössische Benimmregeln vorzuwerfen hätten, »alte, ehemals elegante Kleider auf der Reise auftragen [zu] wollen«.122 Mit »Ausgleich vor der Majestät des Unglücks« und »Kommunismus« klingen deutlich traditionelle Fortunavorstellungen an. Ein genauerer Blick auf die Peripherie dieser tollen Gesellschaft zeigt, um welche Fortuna es sich handelt. Fontanes Gedicht »Die Brück’ am Tay« stand ganz im Zeichen einer hybriden Techniküberschätzung, einem Wirkungszusammenhang von Menschenwahn (Schiller) und Nemesis (Carr, Neuhaus). Bei Thomas Mann vermag erst die Macht des Unglücks den Herrn mit den Gamaschen in die Schranken zu weisen und auch seinem Hündchen den ihm einzig zustehenden Platz zukommen zu lassen: »In eine Ecke gedrängt«, ist der Herr von seinem 117 118 119 120 121 122

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Ebd. Ebd.: 480f. Ebd. Ebd.: 481. Knigge 1878: 253. Calm 1886: 356

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Tier getrennt, das nun «allen Herrenrechten zuwider, in einem finsteren Verließ gleich hinter der Lokomotive [sitzt] und heult«.123 Dass hier nicht Fortuna allein, sondern Fortuna und Nemesis gemeinsam die alte Ordnung wiederherstellen, wird in der erneuten zweideutigen Charakterisierung des Monokelträgers deutlich: der »Herr mit den Gamaschen und den Reiterausdrücken, mein Held«.124 Das Ende von Manns »EiAbbildung 9: Dürer, Albrecht (1501– 1503): Großes Glück oder Nemesis. senbahnunglück« zeigt, dass Unfall und Unglück nur auf den ersten Blick als blinde Schicksalsmacht agieren. Tatsächlich zählen sie zu jenen Verwandten der Allegorie »Das große Glück« (um 1501) von Albrecht Dürer, deren Doppelgesichtigkeit aus der römischen Glücksgöttin Fortuna und der griechischen Göttin der Vergeltung Nemesis es zugleich erlaubt, zu belohnen und zu zügeln.125 Die Attribute von Dürers Schicksalsgöttin (Zügel für den Unmäßigen) lassen sich auf die Desavouierung des Herren beziehen, wobei aber die wohl größte Gemeinsamkeit von Nemesis und Herrenmensch in ihrem ambivalenten Charakter liegt, der »Verlockung und Abschreckung, Affekt und Disziplinierung zugleich verheißt.«126 Hatte Carr für Fontanes Zugentgleisung bereits Nemesis und Apokalypse als Bild- und Vorstellungswelten zusammengebracht, so erinnert die literarische Gestaltung eines »Eisenbahnunglücks« bei Thomas Mann eher an heutige Pressewortschöpfungen – z. B. anlässlich des Zugunglücks in Eschede – wie ICE-Katastrophe oder ICE-Inferno.127 Gleich ob bei einem minder schweren Zugunglück oder einem »vom ersten Range«: In der Moderne tritt an die Stelle von Endzeiterwartungen, die Apokalypse und Nemesis miteinander verschwistern, das statistisch erwartbare Unfallgeschehen. »Ja, das war das Eisen123 124 125 126 127

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Mann 2004: 480. Ebd. Zu Thomas Mann über Dürer vgl. Mann 1928/1953. Ebd.: 99. Ebd.

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bahnunglück, das ich erlebte. Einmal mußte es ja wohl sein. Und obgleich die Logiker Einwände machen, glaube ich nun doch gute Chancen zu haben, daß mir sobald nicht wieder dergleichen begegnet.«128 Sauer hat darauf verwiesen, dass Deutungen zu kurz griffen, die in der ironisch aufgezeigten Brüchigkeit staatlicher Ordnung im »Eisenbahnunglück« bereits die große Katastrophe vorwegnehmen, auf die das Kaiserreich wenige Jahre später zusteuerte.129 Stattdessen erscheinen Unfälle, Entgleisungen jeglicher Art und Dissimulierungen von Autoritäten bei Thomas Mann als Schlaglichter einer (Un-)Ordnung der Dinge, die kaum eine politisch motivierte Alternative impliziert. »Das ›Ich will die Monarchie‹ aus der Zeit des ersten Weltkrieges ist insofern kein Ausrutscher, sondern von früh an Manns politisches Bekenntnis.«130 Seine Unfallgeschichte endet mit einer tröstlichen Verstörung: Unfälle sind ebenso unvermeidlich wie abhängig von der jeweiligen Ordnung der Dinge.

Literatur Böhme, Hartmut 1995: Phaeton, Prometheus und die Grenzen des Fliegens. In: Dombrowsky, Wolf R. u. a. (Hrsg.): Wissenschaft, Literatur, Katastrophe. Festschrift zum sechzigsten Geburtstag von Lars Clausen. Opladen: Westdeutscher Verlag. S. 35–52. Bräutigam, Kurt 1963: Theodor Fontane: Die Brücke am Tay. In: Bräutigam, Kurt (Hrsg.): Die deutsche Ballade. Wege zu ihrer Deutung auf der Mittelstufe. Frankfurt am Main u. a.: Moritz Diesterweg Verlag. S. 108–116. Calm, Marie 1886: Die Sitten der guten Gesellschaft. Ein Ratgeber für das Leben in und außer dem Hause. Stuttgart: Verlag von J. Engelhorn. Carr, Gilbert 2000: Entgleisung und Dekonstruktion. Theodor Fontanes »Die Brück’ am Tay«. In: Barkhoff, Jürgen u. a. (Hrsg.): Das schwierige neunzehnte Jahrhundert. Germanistische Tagung zum 65. Geburtstag von Eda Sagarra im August 1988. Tübingen: Niemeyer. S. 319–333. Chamier, J. Daniel 1937: Ein Fabeltier unserer Zeit. Zürich u. a.: Amalthea Verlag. Fontane, Theodor 1978: Sämtliche Romane, Erzählungen, Gedichte, Nachgelassenes, hrsg. von Walter Keitel und Helmut Nürnberger. München: Carl Hanser Verlag. 128 | Mann 2004: 481. 129 | Sauer 1980: 317. 130 | Kurzke 1999: 95.

218 | Peter Glasner

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Entgleisungen im deutschen Kaiserreich | 219

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Steakley, James 2004: Die Freunde des Kaisers. Die Eulenburg-Affäre im Spiegel zeitgenössischer Karikaturen. Aus dem Amerikanischen von Jost Hermand. Hamburg: MännerschwarmSkript Verlag. Straub, Eberhard 1999: Drei letzte Kaiser. Der Untergang der großen europäischen Dynastien. Berlin: Siedler Verlag. Wysling, Hans (Hrsg.) 1975: Dichter über ihre Dichtungen, Bd. 14/1: Thomas Mann. Teil 1: 1889–1917. München: Heimeran.

Abbildungen Abbildung 1: Moschino (Francesco di Simone Mosca): Der Sturz des Phaeton. In: Kempf, Janet u. a. (Red.) 2006: Skulpturensammlung im Bode-Museum. München: Prestel Verlag. S. 160. Abbildung 2: Eisenbahnunglück in Kürenz (Trier) vor dem Ersten Weltkrieg. In: Bauer, Rudolf 1977: Trier so wie es war. Düsseldorf: Droste Verlag. S. 39. Abbildung 3: Johnson, Arthur 1908: Die Entgleisung (Kein Toter, aber viele Verletzte). In: Rebentisch, Jost 2000: Die vielen Gesichter des Kaisers. Wilhelm II. in der deutschen und britischen Karikatur (1888–1918). Berlin: Duncker und Humblot. S. 301. (Orig. in: Kladderadatsch, 8.11.1908.) Abbildung 4: Unfallstatistik des Verkehrsministeriums vom 31.7.1925. In: Krafft 1925: 59. Abbildung 5: Probefahrt auf der 1878 fertig gestellten Tay-Brücke. In: Püschel 1977: 30. Abbildung 6: Ansicht des eingestürzten Teils der Tay-Brücke. In: Krafft 1925: 34. Abbildung 7: Simplicissimus 1909: Bahnpolizeilich verbotener Unfall. In: Simplicissimus, 1.2.1909: 768. Duplikatfilm 2MI218 (Simplicissimus 1908. 6.4.–1909. 2.8.) Abbildung 8: Thöny, E. 1900: Moderne Hunnen. In: Schütze, Christian (Hrsg.) 1963: Faksimile Querschnitt durch den Simplicissimus. Eingeleitet von Golo Mann. Bern u. a.: Scherz Verlag. S. 60. (Orig. in: Simplicissimus, 1900: 168.) Abbildung 9: Dürer, Albrecht (1501–1503): Großes Glück oder Nemesis. In: Anzelewsky, Fedja 1988: Dürer. Werk und Wirkung. Erlangen: Karl Müller Verlag. S. 101.

Katastrophen und ihre Bilder. Unfälle in der Dunkelkammer als Gegenstand, Entdeckung und Verfahren Bernd Stiegler

Photographie und Katastrophe »Accidents will happen.« (Elvis Costello)

Wenn man auf die Bildgeschichte der Unfälle schaut, so sind diese fast durchweg durch Photographien überliefert, von denen nicht wenige zu Ikonen der Gegenwart geworden sind: Man denke etwa an das Hindenburg-Unglück, den tödlichen Unfall von Lady Di oder den Tschernobyl-Gau samt den nachfolgenden Bildreportagen. Blickt man jedoch auf die Bildgeschichte der Photographie, so fällt auf, dass Unfälle nur einen vergleichsweise marginalen Gegenstand darstellen. Weite Teile der Photographie des 20. Jahrhunderts kommen gänzlich ohne Unfallmotive aus: die gesamte piktorialistische Photographie der Jahrhundertwende und die von Alfred Stieglitz herausgegebene Zeitschrift »Camera Work«, die Photographie des Neuen Sehens (von MoholyNagy bis Rodtˇcenko) und die Photographie am Bauhaus, die neusachliche Photographie eines Renger-Patzsch, Blossfeldt oder Sander, die Photographie der Düsseldorfer (von den Bechers bis Gursky), Kasseler (Neusüss) oder Bielefelder Schule (von Jäger bis Holzhäuser), die subjektive fotografie und die Gruppe fotoform, weite Teile der künstlerischen Photographie der Gegenwart oder auch das Werk von so unterschiedlichen Photographen wie Weston, Cunningham, Sugimoto, Demand, Arbus, Calle, Michals, Feininger oder auch Gerz, um nur einige wenige zu nennen. Dies gilt sogar für viele Photoreporter, solange man Kriegsbilder ausnimmt: Und das sollte man tun, da der Krieg ebenso wie Attentate – 9/11 ist dabei fraglos das prominenteste Beispiel einer umfassenden und zudem überaus komplexen photographischen Verbreitung wie Aufarbeitung einer Terrorkatastrophe – keine Unfälle sind.

222 | Bernd Stiegler Abbildung 1: Jacques-Henri Lartigue: Albumblatt.

Unfallbilder gehören hingegen vor allem in das Reich der Momentund Pressephotographie. So finden sich bei Photographen, die sich der Geschwindigkeit als Motiv verschrieben und unzählige Aufnahmen von Auto- und Motorradrennen, frühen Flugzeugen oder Leichtathletikwettbewerben angefertigt haben, wie etwa Jacques-Henri Lartigue, nicht wenige Unfallbilder – entstanden im Zuge der Aufzeichnung von Bewegung.1 Wenn Lartigue Bilder von Autorennen anfertigte, so gehörten eben Unfälle mit zu den Rennen und erschienen dann auch auf den Bildserien, die er anfertigte, wie ein exemplarisches Albumblatt zeigt (vgl. Abbildung 1). Ähnliches gilt für Eugen Diesels AutoEpos »Wir und das Auto« von 1933, in dem der Unfall ein eigenes Kapitel einnimmt – jenes direkt vor dem »Ende der Laufbahn«, in dem die Verschrottung der Automobile gezeigt wird.2 Lartigue ist weiterhin ein gutes Beispiel dafür, dass die Geschwindigkeit als Gegenstand der Photographie eine veränderte Art der Wahrnehmung erforderte, die das Theorem der Organprothese3 nun prak1 | Vgl. etwa die Bildbände: Lartigue 1983, 1986. 2 | Vgl. Diesel 1933. Diesel war bekannt geworden durch seinen Bildband »Das Land der Deutschen«, der durchweg Luftaufnahmen zeigte und so eine neue Perspektive visuell erschloss. 3 | Vgl. dazu Stockhammer 2005.

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tisch umsetzt: »Jacques-Henri Lartigue«, berichtet Paul Virilio, für den Lartigue ein Kronzeuge der Verwandlung der Wahrnehmung durch die Photographie ist, »der sein Objektiv als Auge seines Gedächtnisses bezeichnete, brauchte zum Photographieren nicht einmal durch den Sucher gucken, er wußte auch so, was seine Leica sah, selbst wenn er sie am ausgestreckten Arm hielt, so daß der Apparat gleichzeitig die Augen- und Körperbewegungen ersetzte.«4 Auch in der Pressephotographie gehören Unfälle, Unglücke und Katastrophen zum Tagesgeschäft der visuellen Sensationen und sind zu klassischen wie alltäglichen Gegenständen geworden – mit allen problematischen Konsequenzen, wie die diversen Debatten über die Praktiken der Paparazzi, die nicht zuletzt anlässlich von Lady Dianas Unfalltod geführt wurden, wort- und argumentenreich bezeugen. Unfallaufnahmen speisen Todesbilder in den Alltag ein, machen Ausnahmesituationen zum alltäglichen Phänomen und bewirken so eine eigentümliche Neutralisierung der Bedrohung, der Gefahr und des Todes. Unfallbilder, so können wir festhalten, haben einen engen Bezug einerseits zur Wahrnehmung von Geschwindigkeit, andererseits aber zum Tod. Unfälle sind im Bereich der Photographie eng mit der Erfahrung von Zeitlichkeit als Geschwindigkeit und als Gefahr verknüpft. Dies wäre die eine Geschichte des Unfalls im Bereich der Photographie, die zu schreiben wäre. Es wäre eine Geschichte des Unfalls als Gegenstand mitsamt seinen Inszenierungspraktiken, seiner Ikonographie und den veränderten Wahrnehmungsbedingungen und -formen. In Bezug zur Zeitlichkeit und zum Tod ist der Unfall jedoch zugleich als strukturelle Bedingung der Photographie in der Photographietheorie verankert. Nun geht es nicht um einzelne Gegenstände, sondern um die Grundverfassung der Photographie. Das wäre die andere Geschichte, die zu schreiben wäre: Sie hätte dem Unfall nicht als Motiv, sondern als Ermöglichungsbedingung der Photographie als solcher nachzuspüren. Verdankt sich, so wäre zu fragen, die Produktion photographischer Bilder nicht mitunter einem Unfall? Gibt es Photographien und photographische Verfahren, die das Ergebnis von Unfällen sind? Und was bedeutet das für die Photographie? Nimmt man einige klassische Texte der Photographietheorie, die sich der Frage der Zeitlichkeit der Photographie widmen, erneut zur Hand, so stellt man fest, dass der Unfall und die Katastrophe zum Kernbestand der Photographie zu gehören scheinen, ja der photographische Akt als solcher durch sie geprägt zu sein scheint. Das gilt insbesondere für jene Photographietheoretiker, welche die Photographie als Zeichenpraxis in den Blick zu nehmen und begrifflich zu bestimmen 4 | Virilio 1989: 41.

224 | Bernd Stiegler Abbildung 2: Der Untergang der Vestris als Bildnachricht.

suchen. In Roland Barthes »Die helle Kammer«, um gleich das prominenteste Beispiel anzuführen, findet sich ein Konnex der Photographie mit dem Tod, der den Topos der Zäsur wie jenen der Katastrophe aufruft. »Das Auftreten der PHOTOGRAPHIE – und nicht, wie gesagt worden ist, das des Films –«, heißt es bei Barthes, »schafft die Zäsur, die die Geschichte der Welt spaltet.«5 Das Zeitalter der Geschichte sei auch das der Photographie, und die Photographie habe erstmals in der Geschichte der Menschheit eine unwiderlegbare Evidenz des Es-ist-sogewesen erzeugt und im Bild ein unwiderruflich vergangenes Geschehen so festgehalten, dass kein Zweifel an der Gewissheit seiner – allerdings vergangenen – Existenz aufkommen könne. Diese Gewissheit ist jedoch eine zutiefst melancholische, ist doch die Photographie notwendig nicht nur mit der Vergangenheit, sondern auch mit dem Tod verknüpft: 5 | Barthes 1985: 97.

Katastrophen und ihre Bilder | 225

Indem die Photographie mir die vollendete Vergangenheit der Pose (den Aorist) darbietet, setzt sie für mich den Tod in die Zukunft. Was mich besticht, ist die Entdeckung dieser Gleichwertigkeit. Das Kinderphoto meiner Mutter vor Augen, sage ich mir: sie wird sterben: ich erschauere wie der Psychotiker bei Winnicott vor einer Katastrophe, die bereits stattgefunden hat. Gleichviel, ob das Subjekt, das sie erfährt, schon tot ist oder nicht, ist jede Photographie diese Katastrophe.6 Auch bei Philippe Dubois findet sich eine ähnliche Argumentationsfigur, wenn er feststellt: »Genau darum geht es auch bei jeder Fotografie: in den Lebenden zu schneiden, um den Toten zu perpetuieren.«7 Hier wie da wird die Photographie als message sans code oder als Zeichen verstanden, das einen Wirklichkeitsbezug gewährt und garantiert. Bei Barthes wie bei Dubois finden sich dann auch all jene Metaphern der Photographietheorie wieder, die – von der Stillstellung, der Petrifizierung und Mumifizierung bis hin zur Figur der Medusa – einen emphatischen Objektbezug der Photographie proklamieren und bis hin zur Annahme einer materialen Übersetzung im Akt des Photographierens und einer Errettung der sichtbaren Wirklichkeit reichen.8 Die Wahrnehmung der Photographie als Katastrophe schreibt sich in eine Diskurs- und Metapherngeschichte der Photographie ein, in der die Photographie durch eine besondere Aufgabe gekennzeichnet ist: die Rettung im und durch das Bild. Die Photographie erscheint somit nicht nur als Unfall, indem sie Lebendes in Totes verwandelt und Bewegung stillstellt,9 sondern auch als dessen visuelle Kompensation, indem sie umgekehrt gerade durch diese Stillstellung, durch die Zäsur des Schnitts, des Cuts den Gegenstand aus seinem räumlichen wie zeitlichen Zusammenhang reißt und ihn dem Betrachter als Bild überliefert. Die Katastrophe wird zur Trauerarbeit und mitunter zur Rettung. Barthes’ subtiler Entwurf einer Photographietheorie, der im Bereich der Photographie zu den einflussreichsten Texten der Nachkriegszeit gehört, liest sich in der Perspektive der Katastrophe wie ein Pendant zu Walter Benjamins Rettungstheorem aus seinen geschichtsphilosophischen Thesen.10 Zuletzt hatte Georges Didi-Huberman in seinem Buch »Bilder trotz allem«, in 6 | Ebd.: 106. 7 | Dubois 1998: 165. 8 | Vgl. dazu ausführlich Stiegler 2006a. 9 | Das ist, so Susan Sontag, eine jener durch die Photographie entstandenen Katastrophen – neben der weitreichenden Verwandlung der Wirklichkeit in eine Ersatzwirklichkeit. Vgl. Sontag 1978. 10 | Vgl. v. a. Benjamin 1991, V, 1: 591ff., das. I, 2: 691–704 sowie das. I, 1: 214.

226 | Bernd Stiegler

dem auch der Medusa-Mythos eine wichtige Rolle spielt, an Benjamin ebenso wie an die Errettung der äußeren Wirklichkeit bei Kracauer, an Warburgs Konzept der Mnemosyne, an Godards »Histoire(s) du cinéma« und schließlich an Batailles »Documents« angeknüpft.11 DidiHuberman geht es hier nicht nur um die Bilder aus Auschwitz, von denen es seinen Ausgang nimmt, sondern auch – und hier insbesondere in einer scharfen Auseinandersetzung mit seinen Kritikern – um eine Bildtheorie, die »im Zeitalter der zerrissenen Einbildungskraft« die Photographie als Medium der Geschichte zu denken und als »kritischen Realismus« zu bestimmen versucht.12 Und nicht zuletzt stellt das Buch den Versuch dar, eine »Geschichte der Grenzen der Repräsentation«13 zu schreiben – und das ausgehend von Bildern, die diese Grenzen ihrerseits repräsentieren und zum Gegenstand der Darstellung machen. Didi-Huberman nennt dies einen Riss: Sich trotz allem ein Bild machen. Aber warum trotz allem? Diese Wendung bringt einen Riß zum Ausdruck: Das alles verweist auf die Gewalt der historischen Bedingungen, denen wir noch nichts entgegenhalten konnten; das trotz widersetzt sich dieser Gewalt durch die bloße heuristische Macht des Singulären. Es taucht auf wie ein ›Blitz‹, der den Himmel zerreißt, wenn alles bereits verloren scheint.14 Die Photographie verwandelt sich angesichts dieses epistemischen Unfalls in ein eigentümliches Medium der Rettung, das nicht das Vergangene zurückbringen, es jedoch für eine bestimmte Form historischer Erfahrung erschließen kann. Und dies wäre dann die Aufgabe der Bildwissenschaft in der ihr von Didi-Huberman bestimmten Gestalt. Ich möchte diese doppelte Erscheinung des Unfalls in der Photographie – als Motiv und als Grenze der Repräsentation – weiter verfolgen und werde mich vor allem auf die Photographie der 1920er und 1930er Jahre konzentrieren. Während der Unfall zum einen in der Pressephotographie zu einem nahezu alltäglichen Gegenstand wird, figuriert er in dieser Zeit zum anderen als struktureller Bestandteil der Produktion photographischer Bilder: Es gibt nicht wenige photographische Verfahren, deren Entstehen sich einem Unfall verdankt oder deren Entdeckung zumindest einem solchen zugeschrieben wird. Diese Bilder sind zugleich dadurch geprägt, dass sie die Grenzen der Photographie 11 12 13 14

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Vgl. Didi-Huberman 2007; zum Medusa-Mythos ebd.: 250ff. Ebd.: 248. Didi-Huberman 2000: 202. Ders. 2007: 254.

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ausloten, indem sie die materialen Bedingungen der Photographie als Repräsentationsmedium zu ihrem eigenen Gegenstand machen.

Momentaufnahmen und Bildgedächtnis: die Pressephotographie »Inmitten einer Umwelt, die sich in Sekunden- oder Minutenschnelle wandelt, gibt es kein ›rechtzeitig‹ mehr.« (Alexander Kluge)

Das Ullstein-Magazin mit dem programmatischen Namen »Tempo« – das allerdings nichts mit der heutigen Zeitschrift gleichen Namens zu tun hat – publizierte am 16. November 1928 einen Bildbericht über ein Schiffsunglück mit folgendem Kommentar (vgl. Abbildung 2): Dieses Photo ist wohl einzigartig in der Geschichte des modernen Bildberichts. Sonnabend ist der Dampfer »Vestris« von New York nach Südamerika ausgefahren, Montag geriet er vor der Küste von Virginia in Seenot, am Nachmittag des Montag mußte er die Passagiere ausbooten, in der Nacht zum Dienstag sank er. Ein Passagier der »Vestris« hat den tragischen Augenblick, da das Schiff aufgegeben und alle Mann in die Boote kommandiert wurden, auf dem schon schräg stehenden Deck der »Vestris« mit der Kamera festgehalten. Er wurde gerettet und kam auf dem Dampfer »Berlin« Mittwoch nachts nach New York. Von dort wurde seine historische Photographie – sie bekundet die gute Disziplin im gefährlichen Augenblick des Ausschiffens der Boote – sogleich für uns nach London gefunkt und von London mit dem Flugzeug an uns weitergesendet. Es ist das erstemal, daß der Augenblick einer Schiffskatastrophe photographisch festgehalten wurde, und auch die Übermittlung und Veröffentlichung bedeutet einen neuen Rekord des Bildfunks.15 Bemerkenswert an diesem Artikel ist, dass an die Stelle der Berichterstattung bereits ein interner Wettkampf um die Bilder getreten ist, der weitaus bemerkenswerter erscheint als das Unglück als solches. 15 | Zit. nach Stiewe 1933: 138.

228 | Bernd Stiegler

Die übermittelte Photographie ist historisch nicht durch die Dokumentation einer Havarie, sondern vor allem dadurch, dass sie zu einem photographie- und pressehistorischen Ereignis geworden ist und die Zeitschrift »Tempo« einen neuen Geschwindigkeitsrekord der Bildberichterstattung aufgestellt hat. Die extreme Geschwindigkeit der Nachrichtenkanäle ist ein ungleich wichtigeres Ereignis als die transportierte Botschaft selbst und die im Bild übermittelte Schiffskatastrophe. The medium is the message. Abbildung 3: Der Brand der München als Bildnachricht I.

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Eine der Aufnahmen von der Vestris findet sich auch in jenem Buch, das in den 1930er Jahren in programmatischer Weise Photographien von Unfällen zum Gegenstand gemacht hat: der von Ernst Jünger 1931 herausgegebene Band »Der gefährliche Augenblick«. Das Buch versammelt Bilder und Texte von höchst unterschiedlichen Katastrophen: von Erdbeben, Wirbelstürmen und Hochwassern, von Bränden, Gasexplosionen, Autounfällen, Schiffsuntergängen, Flugzeugzusammenstößen, aber auch von Fronterlebnissen, der Löwendressur, sozialen wie politischen Unruhen und Attentaten. Jüngers Vorwort »Über die Gefahr« unternimmt eine Theorie der Gefahr mit einer weitgehenden geschichtsdiagnostischen Deutung. Er versucht, die Gefahr als ewigen, elementaren Raum zu profilieren, den die bürgerliche Gesellschaft zu domestizieren unternommen hatte. Von der Prädestination bis hin zur Zweckrationalität hat die Gesellschaft Versuche unternommen, zwischen sich und dem Elementaren einen Schutzwall zu errichten, der spätestens mit dem Ersten Weltkrieg brüchig geworden sei. Der Weltherrschaft der Vernunft stellt Jünger nun das Elementare der Gefahr gegenüber, das er als Schicksal, als kontingente Prädestination begreift. Der Unfall insbesondere im Bereich der durch Rationalität bestimmten Technik ist das Beispiel einer neuen Weltordnung, die sich seiner Ansicht nach bereits ankündigt. Mit dem Unfall stellt sich die Frage, »ob ein Raum der absoluten Bequemlichkeit oder ein Raum der absoluten Gefahr das verborgne Endziel der Technik ist.«16 Auch hier spielt das Problem der Zeitlichkeit eine entscheidende Rolle, für die die Photographie von zentraler Bedeutung ist, assoziiert sie doch Technik und Kontingenz und macht zudem ihre Verbindung direkt sichtbar. Die Photographie dient nicht nur einer »Registratur der Augenblicke«, sondern liefert Bilder »von einer mathematischen Dämonie«, die sogar eine Kugel im Flug aufzeichnen können und den Augenblick mit der überzeitlichen Ordnung der elementaren Gefahr korreliert.17 Unfälle im Medium der Photographie haben in vielfältiger Weise mit Geschwindigkeit zu tun und mit den veränderten Wahrnehmungsund Kommunikationsbedingungen einer massiv akzelerierten Moderne. Dazu gehören neben der Geschwindigkeit der Bild- und Datenübertragung auch veränderte Rezeptionsweisen und eine bestimmte Form der Bilder. Wenn etwa Willy Stiewe die Bilder der Vestris einer Bildkritik unterzieht und als »Schulbeispiel bester Bildberichterstattung« preist,18 so geht es ihm weniger darum, die Genauigkeit 16 | Jünger 1931: 15. 17 | Ebd.: 16. 18 | Ebd.: 140.

230 | Bernd Stiegler Abbildung 4: Der Brand der München als Bildnachricht II.

der Darstellung zu untersuchen. Vielmehr versucht er, die besonderen Erfordernisse der Bildgestaltung herauszustellen und deutlich zu machen, dass die Bilder – wollen sie denn »die stärkste Konzentration besitzen, [um] eine Situation auf ihrem Höhepunkt [zu] fassen« – ausgewählt und in besonderer Weise komponiert werden müssen.19 Dann, so Kurt Korff, der Chefredakteur der »Berliner Illustrierten Zeitung« 1927, können sie »eine Wirkung erreichen, die jedem noch so beredten Text unerreichbar bleibt.«20 Es genügt keineswegs, die Photographien aufzunehmen und zu übermitteln. Sie müssen zudem in besonderer Weise gestaltet, formal eingebunden und semantisiert werden. Am Beispiel eines anderen Unglücks, dem Brand der München, dokumentiert Stiewe verschiedene Bilder vor, während und nach der Katastrophe sowie zwei seines Erachtens gelungene Momentaufnah19 | Vgl. ebd. 20 | Korff 1927/1981: 209. Dieser Text wird auch mehrfach von Stiewe zitiert.

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men ihres Höhepunkts. Die Katastrophe hat eine eigene Dramaturgie, und diese kann wie ein klassisches Drama strukturiert und ins Bild gesetzt werden (vgl. Abbildungen 3, 4). Auch Nachrichtenbilder gehorchen Regeln der Komposition, besitzen eine regelrechte Ikonographie. Der Gründer der Photoagentur Magnum Henri Cartier-Bresson hat dies als Suche nach dem ›entscheidenden Augenblick‹ bezeichnet und zugleich dessen Regeln zu bestimmen versucht. Roland Barthes hingegen hat in seinem Buch »Mythen des Alltags« am Beispiel von Schockphotos ebenjene Konstruktion einer präzisen Kritik unterzogen. Beide – jeweils in unterschiedlicher Weise exemplarische – Positionen sind für eine Auseinandersetzung mit der Bedeutung von Unfällen im Medium der Photographie von entscheidender Bedeutung. Abbildung 5: Excelsior 17. April 1912: Die Schiffskatastrophe der Titanic.

Technisch möglich wurde die für uns heute ein wenig behäbig anmutende Rekordzeit der Berichtübertragung vom Untergang der Vestris durch die Technik der Bildtelegraphie, die Ende der 1920er Jahre immerhin über etwa dreißig Linien in und nach Deutschland verfüg-

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te.21 Gleichwohl mussten die Negative (meist photographische Platten) nach wie vor entwickelt, abgezogen und dann zu den entsprechenden Telegraphenstationen transportiert werden – was zeitaufwendig war und eine Publikation der Bildberichte verzögerte. Photoreporter stehen in einem permanenten Wettlauf mit der Zeit, müssen nicht nur »immer gerüstet sein«, um eine »schnelle Besetzung einer [. . .] Schußstellung«22 zu ermöglichen, sondern sie müssen auch mögliche Ereignisse antizipieren und im Ernstfall mit »Findigkeit [. . .], vereint mit schneller Überlegung, herankommen und einen guten Platz erhaschen.«23 Die Bildberichterstattung kommt – fast – immer zu spät und verfügt zumeist nur über Aufnahmen der Unfallfolgen, da eine Präsenz von Bildreportern zur Zeit des Unglücks die Ausnahme darstellt. Der als Arthur Fellig geborene legendäre amerikanische Photoreporter Weegee leitete seinen Künstlernamen von der »Ouija«-Tafel ab, die bei spiritistischen Sitzungen Verwendung fand, »um damit seine geradezu unheimliche Fähigkeit zu unterstreichen, zur Stelle zu sein, wenn Berichtenswertes unmittelbar bevorstand.«24 Bei dem wohl spektakulärsten Schiffsunglück des 20. Jahrhunderts, dem Untergang der Titanic, musste man sich noch mangels aktueller Bilder seitenlang mit Archivaufnahmen behelfen, die das Boot und dann auch die Unglücksstelle zeigten (vgl. Abbildung 5). Erst später konnten Photographien von Überlebenden gezeigt werden. Einfacher war es bei einem weiteren Unfall des 20. Jahrhunderts, der zu einer regelrechten Ikone der Risiken des technischen Fortschritts geworden ist: das Hindenburg-Unglück 1937. Der Photographiehistoriker Neaumont Newhall schreibt hierzu: Insgesamt 21 Photographen verschiedener Zeitungen aus New York und Philadelphia hatten sich am 6. Mai 1937 in Lakehurst, New Jersey, zur Ankunft des Luftschiffs »Hindenburg« eingefunden. [. . .] Majestätisch schwebte das Luftschiff in der Abenddämmerung vom Atlantik herein, und die Photographen machten sich daran, ›künstlerische‹ Aufnahmen für die Reportageredaktionen zu komponieren, als plötzlich aus dem Heck des Zeppelins Flammen hervorschossen. Nach 47 Sekunden war das gewaltige Luftschiff nur noch ein Gewirr verbogener, brennender Wrackteile.25 21 | Vgl. Stiewe 1933: 135–137. Er verzeichnet die Linien mitsamt den erforderlichen Gebühren sowie die verfügbaren Apparate. 22 | Dietze 1931: 51. 23 | Ebd. 24 | Coplands 1984: 7. 25 | Newhall 1989: 261.

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Der Zeppelin gehörte fraglos zu den meistphotographierten Dingen seiner Zeit, verkörperte er doch in singulärer Weise die Verbindung von spektakulärer technischer Innovation, Repräsentation nationaler Größe und aufsehenerregender visueller Gestalt.26 In kaum einem Knipseralbum fehlte der Zeppelin und kaum ein Motiv dürfte so oft zum Gegenstand von Photomontagen und Bildmanipulationen geworden sein.27 Die Katastrophe der Hindenburg war daher mehr als nur ein Unglück: Es löste das fragile Band der bildlichen Metapher, und war zudem eine Katastrophe ihrer eigenen symbolischen Gestalt. Der Augenblick der Katastrophe ist daher gleich in mehrfacher Hinsicht auch der Augenblick besonderer Bilder, geht doch mit der Hindenburg mehr als nur ein Zeppelin in Flammen auf. Für Jack Snyder vom Philadelphia Record, der beim Unglück zugegen und sich der Bedeutung des Gesehenen bewusst war, waren es die ersten guten Bilder, die er als Photoreporter überhaupt hatte anfertigen können: »Seit sechzehn Jahren hatte ich die Kamera mit mir herumgeschleppt, aber noch nie hatte ich eine Gelegenheit zu wirklich guten Bildern gehabt.«28 Und es ist daher auch nicht überraschend, dass sich Heartfield, der ja gerade die visuellen Formen gesellschaftlicher Macht aufs Korn nahm, das Hindenburg-Unglück auswählte, um es in einer Photomontage zu kommentieren und mit einer Erklärung zu unterlegen, in der die Katastrophe als Wortblitz visuell begründet wird. Bilder sind zu einem wesentlichen Faktor der Berichterstattung geworden, und dies vor allem deshalb, weil die Authentizität, Objektivität und Dokumentationsqualität der Berichterstattung maßgeblich von der Medialität der Photographie abhängen, der genau jene Attribute von Anfang an zugeschrieben wurden: »Die ›Objektivität des Objektivs‹ erscheint absolut verläßlich; ihr schenkt man Glauben«, konstatiert etwa Stiewe.29 Im Kontext der Objektivitätsdebatte stellt sein Buch über Pressephotographie den Versuch dar, das Bild gegenüber dem Textbericht nicht nur zu valorisieren, sondern als überlegen herauszustellen: Ein Bild, so heißt es, sagt mehr als 1000 Worte – und sagt es besser, effektiver und objektiver. So jedenfalls wollen es Stiewe und die zeitgenössischen Bildreporter: »Daß die mechanische Reproduktion der Linse einen hohen Grad objektiver Wahrheit garantiert, steht außer Zweifel, ebenso die objektive Unglaubwürdigkeit subjektiver Zeugenaussagen.«30 Das Es-ist-so-gewesen der Photographie 26 | Vgl. etwa Starl 1995: 82f. 27 | Auch Stiewes Beispiel für eine – von ihm scharf kritisierte – Bildmanipulation ist der Zeppelin. 28 | Zit. nach Newhall 1989: 261. 29 | Stiewe 1933: 55. 30 | Ebd.: 66.

234 | Bernd Stiegler Abbildung 6: The Illustrated London News, 22. Mai 1937: Spectacular Phases of the »Hindenburg« Disaster.

emergiert hier in Gestalt einer performativen Evidenz des Reportagebildes. Damit es allerdings über diese performative Kraft verfügen kann, muss es bestimmten Bedingungen gehorchen. Unfallbilder er-

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zeugen Performanz durch visuelle Rhetorik. Diese Rhetorik des Bildes hat jedoch eine lange Geschichte, in der die Reportagephotographie nur eine eher kurze Spanne einnimmt. Auch wenn wir uns heute eine bildlose Berichterstattung kaum vorstellen können, reicht ihre Geschichte nur bis zum Ende des 19. Jahrhunderts zurück, um dann rasch zu dem zu werden, was sie heute ist: Es gibt kaum ein Geschehen, das nicht in Photographien gebannt wurde, kaum ein Ereignis, das sich der Photographie hat entziehen können.31 Und Unfälle spielen bei der Pressephotographie eine zentrale Rolle. So zeigt etwa der erste photographische Bildbericht der »Berliner Illustrierten Zeitung« einen Unfall: die Eisenbahn-Katastrophe in Bromberg am 4. März 1892. Erschienen ist der Artikel allerdings erst eine gute Woche später, am 13. März 1892 und zeigt zudem ein Bild, das erst einige Zeit nach dem Unglück angefertigt wurde. »Und heute!«, stellt eine Generation später der in der Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts überaus einflussreiche Photographietheoretiker Fritz Hansen fest: »Die Zeit gehört dem Bilde. Was man sieht, das glaubt man«, und konstatiert zugleich die veränderten Rezeptionsbedingungen der Photographie:32 Daher auch der ›Schrei nach dem Bilde‹, der auch in der heutigen Hetzjagd des Lebens seinen Grund haben mag. – Zum Lesen einer Abhandlung braucht man Sammlung und eine gewisse Konzentration, ein intensiveres geistiges Mitarbeiten als beim Überfliegen der neuesten Bilder vom Tage, die unserem Vorstellungsvermögen weitest entgegenkommen.33 Photographien sind nicht nur sichtbare Beutestücke aus dem Reich der Geschwindigkeit und der Bewegung, sondern reagieren ihrerseits auf die veränderten Rezeptionsbedingungen in der Moderne, die Walter Benjamin bekanntlich programmatisch auf die Begriffe Zerstreuung und Chock gebracht hat. »Es entwickelt sich«, so Willy Stiewe, »ein Telegrammstil der konkreten Anschauung«, der Geschehen in wenigen Bildern festzuhalten sucht und zugleich auf eine mögliche Entschlüsselung der Geschichte hin transparent hält.34 Den Fragen, wie dies geschehen kann und welchen Regeln die Bilder zu gehorchen 31 | Von Kracauer über Anders bis hin zu Susan Sontag ist dies ein Topos einer Kritik der Photographie. Zur Geschichte der Pressephotographie vgl. explizit den Ausstellungskatalog Lebeck/von Dewitz 2001. 32 | Hansen 1925: 217. 33 | Ebd. 34 | Stiewe 1933: 58.

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haben, damit sie effektiv rezipiert werden können, sind weite Teile seines Buches »Das Bild als Nachricht« gewidmet. Abbildung 7: The Illustrated London News, 22. Mai 1937: The World’s Largest Airship a Blazing Wreck by Explosion.

Bereits gegen Ende der 1920er Jahre ist die enorme historische Bedeutung der Bildberichterstattung ein fester Topos der Photographietheorie und auch der Photographiekritik, die mit Siegfried Kracauer oder Theodor W. Adorno genau jene Photographiewerdung der Le-

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benswelt in den Blick nehmen.35 Für Paul Renner hingegen ist die Verbreitung der Bildpresse symptomatisch für den Bedeutungsgewinn der Photographie. Anlässlich der Eröffnung der wichtigen Avantgardeausstellung »Das Lichtbild« in München, die als eine der ersten eine Bestandsaufnahme der zeitgenössischen Photographie unternommen hat, konstatiert er: Das mit Holzschnitten illustrierte Familienblatt ist schon lange ersetzt worden durch illustrierte Zeitungen, die von der ersten bis zur letzten Seite mit Fotos angefüllt sind. Das deutsche Volk allein kauft davon wöchentlich fünf Millionen Exemplare und gibt dafür wöchentlich eine Million Reichsmark aus. Das ist nur eine von den vielen Tatsachen, welche die Verbreitung und Bedeutung der Fotografie in der Gegenwart beweisen. Man kann diesen Siegeszug des mechanischen Lichtbildes beklagen; aber man wird ihn kaum aufhalten können. Daraus aber folgt für uns die Verpflichtung, der Fotografie den Weg zu zeigen, der zu ihrer eigenen Sphäre führt.36 Das enorme Bildaufkommen aber verändert die Wahrnehmung zugleich in anderer Weise: Nicht allein die zerstreute Lektüre ist bestimmend, sondern auch die Tatsache, dass der moderne Mensch ein Bildgedächtnis entwickelt hat, auf das er fortwährend zurückgreift und gegen die aktuellen Bilder abgleicht. Die Photographien von Ereignissen, Unfällen oder Katastrophen konkurrieren beständig mit den archivierten Bildern. So wird die massenweise Verbreitung der Photographie für Fritz Hansen binnen einer Generation dazu führen, dass »wir zuletzt dahin kommen, daß unser ganzes öffentliches und privates Leben wie eine Art Pflanzenabdruck ›paläontologisch‹ aufgestapelt wird.«37 Für Walter Golidt, der in seinem Artikel »Bildreportage« vor allem praktische Hinweise zur Gestaltung von Pressephotos gibt,38 existiert ein inneres Bildgedächtnis, das die Vielzahl an Wahrnehmungsbildern abgespeichert hat.39 Hier ist es das Gehirn, das eine Art Paläontologie der Gegenwartsbilder liefert und zugleich durch die Archivierung die 35 | Vgl. etwa explizit Kracauer 1979. 36 | Renner 1930: 378. 37 | Hansen 1925: 217. 38 | Golidt 1932. 39 | Vgl. ebd.: 33: »Diese unmittelbaren optischen Erlebnisse, die uns durch die Pressephotos vermittelt werden, gehen nicht spurlos an uns vorüber. In irgendeiner Form bleibt etwas von ihnen in uns haften«.

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Rezeption der neuen Bilder mitbestimmt.40 Die gespeicherten Bilder werden im Wahrnehmungsakt reaktiviert und mit den neuen Photographien verglichen. So verwandelt sich die Erinnerung in einen dynamischen Bildspeicher, der fortwährend Wahrnehmungs- und Erinnerungsbilder assoziiert und überblendet. »Der Mensch unserer Tage«, schreibt Willy Stiewe, »trägt durch die zahllosen Bilder, die er sieht, ein ganzes Archiv von konkreten Bildvorstellungen mit sich herum. Es steht ihm automatisch jeden Augenblick zur Verfügung.«41 Geschichte wird im Zeitalter der technischen Reproduzierbarkeit zum Bildgedächtnis. Dieses Bildgedächtnis gehört zur geforderten Medienkompetenz notwendig dazu, da das einzelne Bild oder die Bildserie immer schon auf andere Bilder verweisen. Ein Unfall ist, wenn er als Photographie gedruckt und verbreitet wird, nicht allein ein singuläres Ereignis, sondern Teil einer Serie, ein Dokument in einem vernetzten Bildarchiv. Der Ereignischarakter des Unfalls gewinnt seinen visuellen performativen Effekt gerade dadurch, dass er vergleichbar wird, dass er bestimmten Regeln gehorcht, dass er – mit anderen Worten – kunsthistorisch gebändigt wird. Henri Cartier-Bressons Entwurf einer Theorie der Photographie, die in paradigmatischer wie wirkmächtiger Weise die Bildreportage begrifflich zu bestimmen sucht – und auch als Programmschrift gelesen wurde –, versteht sich als Versuch, dieses Bildgedächtnis nutzbar zu machen und die Bilder des Tagesgeschehens an die Kunstgeschichte zurückzubinden. Der Photograph zeichnet sich nach Cartier-Bresson dadurch aus, dass er die Kontingenz der Erscheinungen in Bedeutung überführt, indem er eine Bildserie von Photographien, die er als Serie immer in Erinnerung hat und die damit auch jedes einzelne Bild mitbestimmen, mit einer realen Ereignisfolge, die sich wiederum in antizipierte Einzelbilder auflöst, in Übereinstimmung bringt. Die Vorausahnung des Lebens, die Bedeutung der Erscheinungen und die Folge der Bilder formieren idealiter eine geordnete Folge, einen Rhythmus von Bildern. Was bedeutet, dass die kontingente Folge von Wahrnehmungsbildern immer schon als eine geordnete wahrgenommen wird. Das perfekte Bild eines Unfalls entsteht nicht zufällig, sondern wird antizipiert. Es ist Teil einer Bildfolge, die benennbaren formalen Regeln gehorcht, indem sie, so könnte man sagen, Fluchtlinien des Augenblicks folgt. Jedes einzelne Bild ist seinerseits ebenso wie die gesamte Sequenz rhythmisch organisiert, und diese formale Komposition entscheidet darüber, ob der Photograph auf den Auslöser drückt 40 | Zahlreiche weitere Artikel wären zu nennen. Vgl. exemplarisch B. 1926; Kaspar 1928; Anonymus 1932. 41 | Stiewe 1933: 58.

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oder nicht. Es ist nicht der Ereigniswert, sondern der Bildstatus, der darüber entscheidet, ob ein Bild gelungen ist oder nicht, ja sogar ob es überhaupt entsteht oder schlicht vorüberzieht und so für das Bildgedächtnis verloren ist: Damit ein Motiv in seiner Wiedergabe trägt, müssen die formalen Beziehungen klar und entschieden angeordnet sein. Man muß seinen Apparat im Raum in ein Verhältnis zum Gegenstand bringen; hier beginnt das weite Feld der Komposition. Die Photographie ist für mich das Erkennen eines Rhythmus von Oberflächen, von Linien und von wertvollen Inhalten aus dem Leben. Das Auge schneidet das Motiv aus und der Apparat hat nur seinen Dienst zu tun, das heißt, die Entscheidung des Auges auf den Film zu bringen. Eine neue Photographie sieht man auf den ersten Blick als Bild. [. . .] In der Photographie gibt es durch die Wirkung der Augenblickslinien eine neue bildnerische Kunst.42 Der entscheidende Moment, den Cartier-Bresson zu erspüren und zu erblicken sucht, ist maßgeblich durch die Ordnung der Bilder als formale Komposition bestimmt. Hierbei kommen traditionellen künstlerischen Regeln wie etwa der Verteilung von Licht und Schatten, der Perspektive, der Beziehung zwischen Vorder- und Hintergrund und selbst dem goldenen Schnitt eine wesentliche Bedeutung zu. Henri Cartier-Bressons Photographien brechen nicht mit der Tradition zugunsten einer möglichst unverstellten Wiedergabe des Wahrgenommenen, wie dies etwa durch Moholy-Nagy oder Rodtˇcenko der Photographie programmatisch mit auf den Weg gegeben wurde, sondern affirmieren diese als entscheidende Vermittlungsinstanz zwischen Subjekt und Objekt, Photograph und Wirklichkeit und dann auch zwischen den Photographien und ihren Betrachtern. Die qua Komposition organisierten Photographien formieren für Cartier-Bresson eine Art sichtbare Zwischenwelt, die einen Einklang, eine Stimmigkeit von Subjekt und Objekt, Bild und Betrachter zu gewährleisten hat. Er beschreibt sein photographisches Programm als Versuch, mittels formaler und wahrnehmungspsychologischer Kriterien »das Leben auf frischer Tat zu greifen«, »das Wesentliche einzufangen« und zugleich das in der Zeit Verschwindende vor dem Verschwinden zu bewahren: »Was für uns Photographen verschwindet, bleibt für immer verschwunden.«43 Was, so wäre zu ergänzen, von den Photographen ein42 | Cartier-Bresson 1998: 21f. 43 | Ebd.: 12 und 16. Wenig später kommt Cartier-Bresson auch auf die Momentphotographien zu sprechen, vgl. ebd.: 18f.

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gefangen wird, das bleibt für immer Teil des Bildarchivs – und wird auch später die Wahrnehmung prägen. Das Wesen der Erscheinungen liegt für Henri Cartier-Bresson in einer kompositorischen Bildordnung, die zwischen Subjekt und Objekt, Photograph und Betrachter, Form und Inhalt, Augenblick und Dauer vermittelt. Fotografieren heißt, in einem Augenblick, im Bruchteil einer Sekunde das Faktum und die strenge Form, die es ausdrückt und bedeutsam macht, zu registrieren.44 Photographie ist Zeugenaussage und Rettung der im Verschwinden begriffenen Phänomene zugleich. Der Unfall, die Katastrophe werden als Kontingenz, als zufälliges Geschehen zurückgenommen, eingeklammert und in Kunst, in formale Notwendigkeit verwandelt. Bildreportagen leisten einen entscheidenden Beitrag zur Normalisierung des Unfalls, zu seiner Überführung ins geordnete Reich der Bilder. »Die vollkommene Lesbarkeit der Szene, die Tatsache, daß es in Form gebracht ist«, schreibt Roland Barthes anlässlich einer Ausstellung mit »Schockphotos«, so als ginge es um das Phänomen der Unfall- und Reportagephotographien insgesamt, »dispensiert uns davon, das Bild in seiner Ungewöhnlichkeit aufzunehmen. Die auf den reinen Zustand einer Sprache reduzierte Fotografie desorganisiert uns nicht.«45 Barthes’ Text erschien in seinem Buch »Mythen des Alltags«, in dessen zweitem Teil er den Mythos als semiologisches System zu bestimmen sucht, das Geschichte stillstellt und in Dauer, in vermeintliche Notwendigkeit verwandelt.46 Unfallphotographien bewegen sich auf dem schmalen Grat zwischen ästhetisierender Verwandlung und bildlicher Abbildung 8: Heartfield, John 1937: Photomontage zur Hindenburg-Katastrophe.

44 | Ders. 1983: 83. 45 | Barthes 1983. 46 | Vgl. Barthes 1964: 85–151. »Schockphotos« ebd. 55–58.

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Zeugenschaft, zwischen der Kontingenz des Todes und seiner versuchten Überwindung durch das Bild.

Licht in der Dunkelkammer, Gegenstände auf dem Papier und zerbrochene Platten »Der Zufall ist nie zu berechnen.« (Willy Stiewe)

Es ist wohl kein Zufall, dass gerade bei der Photographie im Umkreis des Surrealismus der Zufall und der Unfall bemüht werden, um die Entstehung neuer Bilder zu erklären und sie mit dem Nimbus des Geheimnisvollen, Rätselhaften, Überraschenden zu versehen. Die Kontingenz bricht ins geordnete Reich der Bilder ein und bringt unerhörte und bis dahin (vermeintlich) ungesehene Bilder zuvor. Die Urszene spielt im Jahr 1928 in einer Dunkelkammer in Paris: Irgendwas krabbelte mir in der Dunkelkammer über den Fuß, und ich stieß einen Schrei aus und knipste das Licht an. Ich habe nie herausbekommen, was es war, eine Maus oder sonst etwas. Dann wurde mir schnell klar, daß der Film vollständig belichtet war: in den Entwicklerschalen lagen, fertig zum Herausnehmen, ein Dutzend praktisch zu Ende entwickelter Negative eines Akts vor dunklem Hintergrund. Man Ray ergriff sie hastig, legte sie ins Fixierbad und sah sie sich an; die unbelichteten Teile des Negativs, die den schwarzen Hintergrund gebildet hatten, waren durch das gleißende Licht, das ich angeknipst hatte, belichtet worden und bis eben an den Umriß des weißen nackten Körpers hell geworden. [. . .] Diese ganze zufällige Erscheinung war mein Werk, aber dann mußte Man Ray herausbekommen, wie er sie unter Kontrolle bringen könnte, damit die Resultate genauso wären, wie er sie jedesmal wollte.47 So berichtet Man Rays damalige Lebensgefährtin Lee Miller von einem »Unfall«,48 der zur Entdeckung einer neuen photographischen Technik führte: der Solarisation. Genauer handelte es sich für Man Ray eigentlich um eine Wiederentdeckung, da er – wie wir von Arturo 47 | Zit. nach Schwarz 1980: 300. 48 | Ebd.

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Schwarz wissen – bereits 1919 im Atelier von Alfred Stieglitz ein solarisiertes Photo entdeckt hatte, das dieser wegwerfen wollte, weil er es für überbelichtet und daher für technisch misslungen hielt. In der Photographiegeschichte war das Phänomen ohnehin seit längerem bekannt und wurde als Sabatiereffekt bezeichnet.49 Gleichwohl versuchte Man Ray sein Verfahren geheimzuhalten und kündigte Maurice Tabard die Freundschaft auf, als dieser 1933 seinen Artikel »Notes sur la solarisation« in den »Arts et métiers graphiques« veröffentlichte.50 Die Solarisation versah das Dargestellte – bzw., da es sich zumeist um Portraits handelte, die Dargestellten – mit einer zumindest optischen Aura, deren Beziehung zur Benjamin’schen Aura noch zu klären wäre. Der Unfall verwandelte Abfall und auch verworfene Photographiegeschichte in ein neues Verfahren, das Man Ray so kostbar war, dass er es nur für wenige ausgewählte Gegenstände anwendete. Für Tabard war die Solarisation paradigmatisch für die Photographie als solche, stellt diese doch per se eine Überraschung und Entdeckung dar: »Oui«, so schreibt er 1930, »quelle que soit l’expérience que l’on puisse avoir de son métier, la naissance de l’image dans le révélateur est toujours une découverte, une surprise. A ce moment les idées jaillissent, les analogies s’assemblent et suggèrent la trouvaille d’une superposition.«51 Die Photographie ist gerade dadurch, dass der Zufall und mit ihm auch der Unfall eine entscheidende Rolle spielen, faszinierend. Nicht die Kontrolle, sondern die partielle Delegierung der Bildgenese an kontingente Faktoren macht die eigentliche Faszination der Photographie aus. Das Entwicklerbad heißt im Französischen révélateur, und ihm kommt bei Tabard auch eine revelatorische Funktion zu: Er soll das Subjekt und auch den Photographen überraschen, ihm etwas vor Augen führen, was er nicht erwartet hatte. Die im Unfall entdeckte Kontingenz soll operativ gemacht, soll zu einem regelrechten photographischen Verfahren stabilisiert werden, bei dem der Zufall konstitutiver Bestandteil ist. Auch Tabard beschreibt die Entdeckung der Solarisation als eine Art Unfall: Ce doit être vers les années 1932 qu’un jour, avant jeté un papier, j’ai été étonné de ce qui se passait [. . .] un liséré aparaissait [. . .] il m’a fallu par la suite retrouver le mécanisme et le temps de pose [. . .] C’est un procédé remarquable.52 49 | Benannt nach dem französische Chemiker Sabatier, der 1862 diesen Effekt beobachtete. Vgl. dazu Natkin 1938: 58–65. 50 | Vgl. Tabard 1933. 51 | Zit. nach Tabard 1987: 8. Zur Solarisation vgl. ebd. 8–10. Vgl. auch Bacqué 1991, zur Solarisation ebd. 86–94. 52 | Zit. nach ebd.: 86.

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Ähnlich wie die Solarisation war die Technik des Photogramms oder der kameralosen Photographie, die Man Ray als Rayographie bezeichnete, seit der Frühzeit der Photographie bekannt. Bereits William Henry Fox Talbot arbeitete mit ihr, und Anna Atkins fertigte zu Beginn der 1840er Jahre umfangreiche Mappenwerke mit Photogramm-Cyanotypien von Algen und Pflanzen an.53 Aber auch hier beschreibt Man Ray die (Neu)Entdeckung nicht – wie dies Christian Schad etwa für die nach ihm benannten Schadographien tut – als Zufall, sondern als Unfall, als révélation im révélateur, als Offenbarung im Entwicklerbad: Ein unbelichtetes Blatt Photopapier war unter die belichteten Blätter und mit ihnen in die Entwicklerwanne geraten – ich machte immer zuerst einige Belichtungen und entwickelte sie dann später zusammen –, und nachdem ich einige Minuten vergeblich darauf gewartet hatte, daß ein Bild erschien, und schon die Papierverschwendung bedauerte, legte ich unwillkürlich einen kleinen Glastrichter, den Meßbecher und das Thermometer in die Schale auf das durchnäßte Papier. Ich schaltete das Licht ein, und da entstand vor meinen Augen ein Bild, nicht bloß eine einfache Silhouette wie bei einer konventionellen Photographie, sondern eine durch das mehr oder weniger mit dem Papier in Berührung gekommene Glas verzerrte und gebrochene Form, die sich vor einem schwarzen Hintergrund abhob, dem Teil, der direkt dem Licht ausgesetzt gewesen war.54 Mehr noch als die Solarisation sollte das Photogramm zu einer weitverbreiteten Technik in der Kunst und Photographie des 20. Jahrhunderts werden und eroberte sich binnen kurzer Zeit eine herausragende wie strategisch bedeutsame Stellung in den ästhetischen Debatten der Zeit. Für László Moholy-Nagys Praxis wie Theorie der Photographie ist das Photogramm von zentraler Bedeutung, da es wie kein zweites Verfahren das Licht als produktive Kraft zeigt und zugleich die eigentümliche und fragile Verbindung zwischen einer Erweiterung der Wahrnehmung mittels der apparativen Möglichkeiten der Photographie und der Abstraktion als Prinzip der Moderne aufrechterhält. Die Photographie sollte – so das Programm Moholy-Nagys – gerade dank ihres apparativen Charakters eine Art degré zéro der Wahrnehmung freilegen, jenen Schleier, den die Tradition und die Regeln der Kunst über 53 | Vgl. bereits Talbot 1981. Zur Geschichte des Photogramms vgl. explizit den Ausstellungskatalog Museum der Moderne Salzburg 2006 und Neusüss 1990. 54 | Ray 1983: 125.

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die Augen gelegt haben, wegreißen und mittels Kamera eine objektive, unverstellte Wirklichkeit aufzeigen. In strikter Gegenposition zu den Pressephotographien, die genau den umgekehrten Weg einschlagen und mithilfe von Kompositionsregeln einen performativen Effekt der Unfallbilder erreichen wollen, dienen Moholy-Nagy die neuen Verfahren dazu, die Tradition einzuklammern und auszuschalten.55 Der Unfall, die Kontingenz zielen auf Notwendigkeit wie auf Objektivität – und das gerade, weil sie sich von der Tradition absetzen. Abbildung 9: Kertész, André 1928: Broken Glass.

Ein drittes und letztes Beispiel für die produktive Kraft des Unfalls: Es handelt sich um ein Bild von André Kertész mit dem Titel »Broken Glass«, das 1929 in Paris entstanden ist (vgl. Abbildung 9). »In this picture«, schreibt Kertész, I was just testing a new lens for a special effect. When I went to America, I left most of my material in Paris, and when I returned I found sixty percent of the glass-plate negatives were broken. This one I saved, but it had a whole in

55 | Vgl. dazu ausführlich Stiegler 2006b: 185–242.

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it. I printed it anyway. An accident helped me to produce a beautiful effect.56 Kertész hatte eine zerbrochene Photoplatte nicht – wie es seinerzeit Stieglitz mit der Solarisation tat – weggeworfen, sondern weiter benutzt und so ein Bild produziert, das in eigentümlicher Weise nicht nur mit der Oberfläche des Bildes spielt, sondern auch die Materialität des Bildträgers zum Gegenstand des Bildes selbst macht. Seine Aufnahme spielt mit der Medialität der Photographie, indem sie für den Betrachter die Frage aufwirft, ob es sich um eine zerbrochene Photoplatte oder um einen zerbrochenen Spiegel handelt, der dann wiederum photographiert wurde. Was sieht ein Beobachter: die Photographie als zerbrochenen Spiegel oder die Photographie eines zerbrochenen Spiegels? Kertész nimmt zudem eine lange Traditionslinie auf, die in der Photographie einen ›Spiegel mit einem Gedächtnis‹ (Oliver Wendell Holmes) oder einen ›Spiegel, der alle Reflexe bewahrt‹ (Jules Janin) erblickt hatte.57 Diese mediale Grunddisposition der Photographie wird aufgrund des Unfalls in eine Ambivalenz von Dargestelltem und Darstellung überführt, die die Photographie und die ihr zugeschriebenen Aufzeichnungs- und Dokumentationsqualitäten zum Gegenstand der Darstellung selbst macht. Der Unfall legt die materiellen Bedingungen der Photographie frei, macht sie als Medium der Repräsentation zu ihrem Gegenstand und zeigt zugleich, dass die Photographie ein höchst zerbrechlicher Spiegel des Realen ist.

Literatur Anonymus 1932: Aus der Praxis der Illustrationsphotographie. In: Die Linse, 28/7 (1932). S. 189f., 220f., 249–251, 280f., 337f. B., R. 1926: Ein gefährlicher Beruf. In: Die Woche (1926). S. 384–386. Bacqué, Dominique 1991: Maurice Tabard. Paris: Paris audiovisuel. Barthes, Roland 1985: Die helle Kammer. Bemerkungen zur Photographie. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Barthes, Roland 1983: Schockphotos. In: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Theorie der Fotografie III. 1945–1980. München: Schirmer/Mosel. S. 106–108. Barthes, Roland 1964: Mythen des Alltags. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

56 | Kertész 1983: 72. 57 | Vgl. dazu Stiegler 2006a: 200–203. Dort auch weitere Belege.

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Benjamin, Walter 1991: Gesammelte Schriften in 7 Bänden, unter Mitwirkung von Theodor W. Adorno und Gersholm Sholem, hrsg. v. Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Borhan, Pierre 1994: André Kertész. His Life and Work. Boston u. a.: Little Brown and Company. Cartier-Bresson, Henri 1998: Auf der Suche nach dem rechten Augenblick. Aufsätze und Erinnerungen. München: Ed. Pixis. Cartier-Bresson, Henri 1983: Die Erfindung nach der Natur. In: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Theorie der Fotografie III. 1945–1980. München: Schirmer/Mosel. S. 82f. Coplands, John (Hrsg.) 1984: Weegee. Täter und Opfer. München: Schirmer/Mosel. Didi-Huberman, Georges 2007: Bilder trotz allem. München: Wilhelm Fink. Didi-Huberman, Georges 2000: Vor einem Bild. München/Wien: Hanser. Diesel, Eugen 1933: Wir und das Auto. Denkmal einer Maschine. Leipzig: Bibliographisches Institut. Dietze, Carl 1931: Presse-Illustrationsphotographie. Praktische und geldliche Verwertung. Leipzig: Friedrich Carl Dietze. Dubois, Philippe 1998: Der fotografische Akt. Versuch über ein theoretisches Dispositiv. Amsterdam/Dresden: Verlag der Kunst. Frizot, Michel (Hrsg.) 1998: Neue Geschichte der Fotografie. Köln: Könemann. Hansen, Fritz 1925: Das Zeitalter des Bildes. In: Der Photograph, 55 (1925). S. 217. Jünger, Ernst 1931: Über die Gefahr. In: Ders. (Hrsg.): Der gefährliche Augenblick. Berlin 1931. S. 11–16. Kaspar, H. 1928: Das neue Gesicht der Illustrationsphotographie. In: Der Photograph, 4 (1928). S. 13f. Kertész, André 1983: Kertész on Kertész. A Self-Portrait. New York u. a.: Abbeville Press. Korff, Kurt 1927/1981: Die illustrierte Zeitschrift. In: Wiegand, Wilfried (Hrsg.): Die Wahrheit der Photographie. Klassische Bekenntnisse zu einer neuen Kunst. Frankfurt am Main: S. Fischer. S. 207– 209. Kracauer, Siegfried 1979: Die Fotografie. In: Kemp, Wolfgang (Hrsg.): Theorie der Fotografie II. 1912–1945. München: Schirmer/Mosel. S. 101–112. Lartigue, Jacques-Henri 1983: Jacques-Henri Lartigue. Paris: Centre National de la Photographie (= Photo Poche, 3).

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248 | Bernd Stiegler

Abbildungen Abbildung 1: Lartigue, Jacques-Henri: Albumblatt. In: Lartigue 1986: o. S. Abbildung 2: Der Untergang der Vestris als Bildnachricht. In: Stiewe 1933: 139. Abbildung 3: Der Brand der München als Bildnachricht I. In: Stiewe 1933: 127. Abbildung 4: Der Brand der München als Bildnachricht II. In: Stiewe 1933: 129. Abbildung 5: Excelsior 17. April 1912: Die Schiffskatastrophe der Titanic. In: Frizot 1998: 365. Abbildung 6: Spectacular Phases of the »Hindenburg« Disaster. In: Tausk 1988: 55. Abbildung 7: The Illustrated London News, 22. Mai 1937: The World’s Largest Airship a Blazing Wreck by Explosion. In: Tausk 1988: 56. Abbildung 8: Heartfield, John 1937: Photomontage zur HindenburgKatastrophe. In: Siepmann o. J.: 221. Abbildung 9: Kertész, André 1928: Broken Glass. In: Borhan 1994: 101.

»M. G. Y. – What is the matter with you?« Zur Archäologie des medialen Titanic-Desasters

Wolfgang Hagen

Die Marconi-Officers Der White Star Line-Dampfer Titanic hatte als einer der wenigen Luxusliner seiner Zeit nicht einen, sondern zwei Funker an Bord. First Wireless Operator John Phillips, der vier Tage zuvor noch seinen fünfundzwanzigsten Geburtstag gefeiert hatte, machte seinen Dienst zusammen mit Second Officer Harold Bride, 22. Die Arbeit der beiden blutjungen Männer bestand nahezu ausschließlich in der Abwicklung von Privattelegrammen der hoch vermögenden und zahlungskräftigen Passagiere. Phillips und Bride Phillips (im Rettungsboot an Erschöpfung gestorben) und Bride (Überlebender und Verkäufer seiner Geschichte für 1.000 Dollar exklusiv an die »New York Times«) waren nicht bei der White Star Line angestellt. Sie gehörten nicht zur Crew, sondern zur Marconi Company Ltd., trainiert in zehnmonatigen Speziallehrgängen und dann auf jeweils anderen Schiffen und Routen über die Meere geschickt. Ihre Funkerbuden waren Eigentum Marconis, das die Reedereien installieren, aber nicht kaufen konnten. Was die Titanic betrifft, sind diese Räumlichkeiten auf dem Grund des Meeres noch heute gut zu besichtigen. Das Marconi-Ohr Guglielmo Marconi, der wenig von Elektrizität und Physik, dafür umso mehr von trickreichen Patentgeschäften verstand, setzte mit dem Prinzip der Mann-plus-Apparate-Leasing-Seetelegraphie von 1900 nicht nur ein erfolgreiches Geschäftsmodell und faktisches Monopol durch, sondern zudem ein neues mediales Paradigma. Während nämlich im gesamten 19. Jahrhundert die Telegraphie empfangsseitig von bedruckten Streifen abgelesen wird – man kennt das aus den einschlägigen Western-Filmen –, beginnt das 20. Jahrhundert damit, dass Telegraphie von Spezialisten gehört wird. Was die übersee-

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ische Signaltelegraphie angeht, sind Ohren, wie Marconi schnell findet, die besten Ortungsorgane, ohne jedes Hilfsmittel fein abstimmbar. Niemand konnte besser aus dem Wust von Rauschen und Zirpen der entsprechenden Gerätschaften Morsesignale heraushören und niemand schneller Codes in den ›Apparatus‹ tippen als die gedrillten Marconisten. Wie selbstverständlich scheinen die Marconi-Officers auf der Titanic, ihren Schwester- und ihren Rettungsschiffen aus den wahnwitzig schnell aufeinander folgenden, steilen und wieder abflachenden Impulsflanken verrauschter Signale klare Botschaften heraushören zu können, wie sonst nur der geübteste Musikkenner im vollen Orchesterklang den Tristanakkord. Von 1900 an ist es auf allen Weltmeeren das Marconi-Ohr, das Radio hört. Harold T. Cottam, Carpathia Marconi rekrutiert die jungen Männer, die er zu Funkern macht, direkt von der Schule. Mit 22 und 25 sind sie, wie Bride und Phillips auf der Titanic, fast schon alt und bereits weit herumgekommen. »I went to Philadelphia on the ›Haverford‹, twice to New York on the ›Lusitania‹, once to Brazil on the ›Lanfranc‹, and twice to Brazil on the ›Anselm‹«, erklärt Junior Wireless Operator Bride vor dem Senatsausschuss. »Senator Smith: ›In that service were you chief operator?‹ Mr. Bride: ›On the Lusitania I was the second man. On the other boats I was in charge, the only operator.‹«1 Auf der Carpathia, dem späteren Rettungsschiff der Überlebenden, hört der zwanzigjährige Harold T. Cottam, der allein Dienst tut, von der Titanic zum ersten Mal am späten Abend des 14. April 1912. Es ist der Notruf. Die Carpathia, knapp fünfzig Meilen von der Unglücksstelle entfernt, nimmt augenblicklich Kurs auf die angegebenen Koordinaten, vervierfacht (anders als die Titanic) den Ausguck wegen der Eisberggefahr und erreicht die Rettungsboote am frühen Morgen des 15. April, nachdem die Titanic knapp zwei Stunden zuvor im Meer versunken war. Sie nimmt 706 Überlebende an Bord. Cyril F. Evans, California Auf der California, die nur halb so weit von der Titanic entfernt lag wie die Carpathia, hatte ein gleichfalls junger Marconi-Officer namens Cyril F. Evans Dienst. Noch am Nachmittag dieses verhängnisvollen Sonntags hatte er im Auftrag des Kapitäns dem Dampfer Antillian eine Eiswarnung gegeben. Phillips auf der Titanic hatte das mitgehört. Mithören bei den anderen Jungs war sowieso, wie sich jetzt herausstellt, das beliebteste Spiel der Marconisten.

1 | United States Senate 1912: 133.

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The Titanic called me up and we exchanged signals, exchanged an official T. R. We call it a T. R. when a ship gets in communication with another. I said, »Here is a message; an ice report.« He said, »It’s all right, old man.« He said, »I heard you send to the Antillian.« He said, »Bi.«2 Der Titanic-Funker Phillips war an diesem Sonntagnachmittag viel zu sehr mit Privattelegrammen von und zur Marconi Festlandstation Cape Race beschäftigt, als sich weiter mit Evans unterhalten zu können. Diese waren bares Geld, so dass ein Marconist sich mit allgemeinen Eiswarnungen, die nicht einmal an sein Schiff adressiert waren, nicht beschäftigen konnte. Phillips komplimentiert den jungen Kollegen (»old man«) unmissverständlich aus seinem Funkverkehr. Und die California (Evans) schlief . . . Der letzte Kontakt zwischen der Titanic und dem Schiff, das ihr zum Unglückszeitpunkt am nächsten lag, erfolgte gegen 21 Uhr. Senator Smith: »When did you next communicate with the Titanic and what was the message you sent or received?« Mr. Evans: »9.05 New York time, Sir. [. . .] My captain told me he was going to stop because of the ice, and asked me if I had any boats, and I said the Titanic. He said ›Better advise him we are surrounded by ice and stopped.‹ So I went to my cabin, and at 9.05 New York time I called him up. I said ›Say, old man, we are stopped and surrounded by ice.‹ He turned around and said ›Shut up, shut up, I am busy; I am working Cape Race.‹«3 Nunmehr zum zweiten Mal von der Titanic abgewiesen, legt sich California-Funker Evans aufs Ohr. Er ist allein an Bord und schaltet ab. So verpasst die California den Titanic-Notruf um 22.25 Uhr, der 13 Minuten nach der Kollision erfolgt. Nur, – die California lag ohnehin still und hatte die Kessel heruntergefahren. Sie hätte die Titanic niemals vor ihrem Untergang erreicht. »›When were you awakened?‹«, fragt der ermittelnde Senator Smith. »›About 3.30 a. m., New York time.‹ ›And who awakened you?‹ ›The chief officer.‹ He said, ›There is a ship that has been firing rockets in the night. Please see if there is anything the matter.‹ [. . .] ›I went at once to my key and started my motor

2 | Ebd.: 734. 3 | Ebd.: 735.

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and gave »C. Q.« About a second later I was answered by the Frankfurt, »D. K. D., Dft.« The »Dft.« is the Frankfurt’s call. He told me the Titanic had sunk.‹«4 C. Q. D. 22:13 New Yorker Zeit rammt die Titanic mit ihrer vorderen rechten Seite einen Eisberg. Im Marconi-Raum sitzt zu dieser Zeit Funker Phillips am ›Apparatus‹ (»Senator Smith: ›Do you call it the key? You do not call it the key. What do you call the instrument?‹ Mr. Bride: ›The apparatus.‹«5) und wickelt Privattelegramme ab. Funker Bride schläft noch ein paar Minuten bis zu seiner Wache um Mitternacht Schiffszeit. Wenig später erzählt ihm Phillips, »that he thought she [die Titanic] had got damaged in some way and that he expected that we should have to go back to Harland & Wolff’s.« Er hatte irgend etwas knirschen gehört. Kaum ist Phillips in der Schlafstube, als der Kapitän hereinkommt. »Did you hear any conversation between Mr. Phillips and the Captain?« »Yes [. . .] The Captain gave him the latitude and longitude of the ›Titanic‹, and told him to be quick about it or words to that effect.« »Then what did Mr. Phillips do?« »He started to call C. Q. D.«6 Keine 20 Minuten nach der Kollision ordnet der Kapitän an, die Funker sollten andere Schiffe zur Unterstützung rufen. C. Q. D. ist das etwas seltsame Akronym für »Seek you. Danger«. Obwohl das SOS-Signal als international gültiges Notrufsignal bereits auf der Internationalen Funkkonferenz in Berlin 1906 beschlossen worden war, verwendete Marconi immer noch das nur für seine Gesellschaft gültige Notrufzeichen C. Q. D. »Seek You«, der erste Teil des Codes, fungiert auch zu dieser Zeit noch als bloße Anrufung von (Marconi-)Schiffen in der Nähe. Ein angehängtes D für »Danger« macht aus dem Allgemeinrufzeichen ein Notrufzeichen. Kein Telephon. Captain Smith weiß offenbar bereits nach wenigen Minuten, dass sein Schiff verloren ist. Sechs Abteile melden Wassereinbrüche, vier mehr, als die Bauweise des unsinkbaren Schiffes es erlauben würde. Aber nicht nur deshalb erscheint der Kapitän schon eine Viertelstunde später im Funkerraum. Er muss ohnehin persönlich kommen, denn es gab keine Sprechverbindung zwischen Marconi-Raum und Brücke, keine Alarmglocke, kein Lichtzeichen, nichts. 4 | Ebd.: 736. 5 | Ebd.: 134. 6 | Wreck Commissioner’s Court 1912: 367.

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Seemännisch gesehen war der Marconi-Raum gar nicht Teil des Schiffes. Die Funker kannten die Schiffsoffiziere nicht – und vice versa. Sie waren eben nur geleast. Obwohl die Titanic sogar über ein kleines Selbstwahltelephonnetz verfügte, gab es keinen Anschluss im Marconi-Raum. Die Rohrpostleitung führte direkt zum Purser-Raum auf dem Passagierdeck, also dort, wo die Passagiere gegen teures Geld ihre Telegramme aufgeben und abholen konnten. Der Marconi-Raum auf einem Passagierschiff der White Star Line Klasse – auf der Olympic genauso wie auf der Titanic – war für den kommerziellen Funkverkehr der zahlenden Telegrammkundschaft eingerichtet. Und für nichts sonst. Nur für die zahlende Kundschaft und für einen schnellen Nachrichtenaustausch untereinander (»old man«) waren die Funker ausgebildet. Die Frankfurt. Bride berichtet den US-Senatoren, dass Phillips seine Notrufe mit Positionsangabe wohl ein halbes Dutzend Mal ausgesandt hat. Antwort bekam er als erstes von einem deutschen Schiff, der Frankfurt. Um ihre Position beim Kapitän zu erfragen, bat die Frankfurt zunächst um ein kurzes »Stand By«. Als zweites Schiff meldet sich die Carpathia. Sie hat einen Marconi-Funker an Bord, der sofort durchgeben kann, wo sein Schiff sich befindet. Ihr Kapitän wird umgehend antworten, dass die Carpathia Kurs auf die Titanic genommen hat und ihr zur Hilfe eilt. Sie wird nach vier Stunden Fahrt eintreffen und als einziges Schiff Überlebende aus den Booten retten. Als nächstes meldet sich die Olympic, aber das Schiff ist für eine Hilfsaktion viel zu weit entfernt. Von allen drei Schiffen, die sich melden, erschien dem Titanic-Funker Phillips die Frankfurt am nächsten positioniert zu sein, aufgrund der Lautstärke und Klarheit ihres Funksignals. Aber ausgerechnet ihr Funker meldet sich lange nicht. »He called us up at a considerably long period afterwards and asked us what was the matter.« [. . .] Senator Smith: »Did they say anything else?« Mr. Bride: »He merely inquired, Sir, as to what was the matter with us.« »To that message what did you say?« »I think Mr. Phillips responded rather hurriedly. Well, he told him to the effect that he was a bit of a fool. He told him to stand by, sir – finish.«7 Zur Verblüffung der US-Ermittler gab der überlebende Titanic-Funker Bride zur Protokoll, dass das Schiff, das der Titanic ausweislich seiner 7 | United States Senate 1912: 151.

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Funksignal-Lautstärke am nächsten zu sein schien, von seinem Kollegen abgewiesen wurde, nur weil sein Funker nicht bis drei zählen konnte? Senator Smith: »Will you tell us what confirmation you have that the operator of the Frankfurt received your C. Q. D. distress call correctly?« Mr. Bride: »Mr. Phillips had the telephones on at the time, sir. He called C. Q. D. The Frankfurt answered. He gave the Frankfurt our position. He said, ›Come at once.‹ The Frankfurt said, ›Stand by.‹ We waited, and that is the last we heard of the Frankfurt until he said, ›What was the matter with you?‹ a considerable period afterwards.« Senator Smith: »After he said, ›What was the matter with you?‹ then what was said?« Mr. Bride: »We told him he was a fool, sir.« Senator Smith: »Was that the last thing you said to him?« Mr. Bride: »To the Frankfurt, yes, sir.«8 Signale der Täuschung Phillips und Bride hatten in gewisser Weise Glück. Ihre Vermutung nämlich, die Frankfurt müsse aufgrund der Stärke ihrer Signale der Titanic am nächsten liegen, war falsch. Elektromagnetische Wellen haben – gerade nachts – teilweise täuschende Ausbreitungscharakteristiken. Oder es hatten gerichtete Antennen oder ein Defekt am Sendesystem der Frankfurt sogenannte Überreichweiten erzeugt. Anders als die Titanic-Funker vermuteten, war die Frankfurt jedenfalls zur Notrufzeit etwa 150 Meilen entfernt. Und damit viel zu weit weg für einen Hilfseinsatz. John Durrant von der Mount Temple, Gilbert Balfour auf der Baltic, sowie die Radio-Offiziere Moore und Bagat auf der Olympic sind die weiteren Marconi-Funker dieser Nacht, deren Aussagen zunächst vor dem amerikanischen Senat und dann vor der britischen »Wreck Commission« das Bild komplettieren. Was die Frankfurt betrifft, so wird Titanic-Marconist Bride vor den englischen Untersuchungsrichtern bereits eine ganz andere Aussage machen. Offenbar erinnern sich Funker nicht wirklich gut an das, was sie hörten oder sagten. Mitgehörte Funksprüche der Titanic (wenn Phillips sendete, konnte Bride offenbar nichts hören, sondern musste die Nachrichten von dessen Fingern ablesen) ergaben, dass Phillips der Frankfurt sehr wohl erklärte, »was Sache ist«. John Durrant von Mount Temple bezeugte: »Titanic« gives position and asks, »Are you coming to our assistance?« »Frankfurt« replies, »What is the matter with 8 | Ebd.: 153.

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you?« »Titanic« says, »We have struck an iceberg and sinking. Please tell Captain to come;« and then »Frankfurt« replied, »O. K. Will tell the bridge right away.« Then the »Titanic« said, »O. K., yes, quick.«9 Die Frankfurt, die Carpathia, die Virginia, die Mount Temple und die California – sie alle laufen am frühen Morgen des 15. April 1912 auf die Koordinaten der untergegangenen Titanic zu. Die beiden Titanic-Funker ahnen nicht, dass ihr System offenbar schon sehr früh Aussetzer zeigt. Ihre im Blitzstakkato in den ›Apparatus‹ getippten Botschaften bekommen Lücken, weil die Stromversorgung schwankt. Je mehr die Titanic bugseitig absinkt, um so deutlicher werden die Aussetzer – aber nur den Empfängern. Marconi-Systeme wie die auf der Titanic implementierten haben keine verlässlichen Selbstcheck-Mechanismen. Die meisten haben keinen Notstrombetrieb. Kein Marconist weiß, ob sein Funkspruch auch wirklich ankommt, ja nicht einmal, ob er so herausgeht, wie er eingetippt wird.

Captain Smith Der mittelgroße Eisberg, mit dem die Titanic kollidierte, reichte – anders als der Film von James Cameron suggeriert – nicht einmal über die Reling. 40 Sekunden zuvor hatte ihn der Ausguck-Maat Frederick Fleet im Krähennest an der Mastspitze des Schiffes mit bloßem Auge (»right ahead«) gesichtet. »It would be as large as those two tables put together, when I saw it at first.«10 Die Ferngläser Die Titanic sank in einer sternenklaren, klirrkalten Nacht bei absoluter Windstille und bester Sicht. Gerade unter solchen Bedingungen sind schwarze Objekte vor dem Horizont einer spiegelglatten See nahezu unsichtbar. Nachts, wenn sich kein Wasser an ihren Rändern bricht, sind Eisberge schwarz. Dennoch waren den beiden Titanic-Ausguckern nicht einmal Ferngläser zugeteilt worden. Die blieben den Offizieren vorbehalten. Senator Smith: »Suppose you had had glasses [. . .] could you have seen this black object a greater distance?« Mr. Fleet: »We could have seen it a bit sooner.« »How much sooner?« »Well, enough to get out of the way.«11 9 | Wreck Commissioner’s Court 1912: 406. 10 | United States Senate 1912: 320. 11 | Ebd.: 324.

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Die fehlenden Ferngläser werden in keinem der beiden Abschlussberichte erwähnt. Offenbar schenkte man der Aussage eines Maats von einfachem Rang keine weitere Bedeutung. Das Wendemanöver Anders als der Marconi-Raum der Funker war das Krähennest der Titanic telephonisch mit der Brücke verbunden. Fleets Alarm löst Sekunden später das Stopp-Kommando für die Maschinen und ein hartes Steuerbordmanöver des Rudergängers aus, angeordnet vom 1. Offizier Murdoch (ertrunken), der die Meldung vom 6. Offizier Moody (ertrunken) und dieser von Fleet erhalten hatte. Das Rudermanöver bewirkt, dass die Titanic bei weiterhin voller Fahrt von 21 Knoten ihren Bug nach links wendet, ihre rechte Flanke dabei aber umso mächtiger in den Eisberg drückt. Als die Maschinen zum Stehen kommen, waren unterhalb der Wasserlinie in einer Länge von mindestens 100 Metern große Risse in die zum Teil doppelte Außenhaut geschnitten, deren genaue Kontur bis heute nicht vollständig geklärt ist. Alarm wurde nicht ausgelöst, einen Alarmplan gab es nicht. Anweisungen für den Notfall existierten ebenfalls nicht. Für die 2.100 Passagiere und Crew-Mitglieder waren 3.000 Schwimmwesten und 1.200 Plätze in Rettungsbooten verfügbar. Die Desorganisation beim Beladen und Abfieren der Rettungsboote hat fast 500 Menschen das Leben gekostet. Die Boote wurden nämlich nur zum Teil besetzt. Auch dafür wird in den Abschlussberichten in Washington und London niemand zur Rechenschaft gezogen. Nach zwei Stunden lag der gesamte vordere Bereich des Schiffes bis zur Höhe der Brücke völlig im Wasser. Unter dieser Last brach die Titanic kurz darauf in der Mitte auseinander, der Bug verschwand im Meer, das Heck richtet sich senkrecht auf und stürzte lotrecht in die Tiefe. Kurs und Speed Auf beiden Seiten des Atlantiks lauteten die Untersuchungsfragen Nummer eins und zwei: a) Hätte die Kollision verhindert werden können und b) lief das Schiff zu schnell? Der Abschlussbericht des britischen »Wreck Commissioner’s Court«, der zwischen Mai und Juli 1912 stattfand, hält in Bezug auf den Kurs der Titanic in der fraglichen Nacht fest: An examination of the North Atlantic route chart shows that this track [der Kurs der Titanic] passes about 25 miles south (that is outside) of the edge of the area marked »field ice between March and July,« but from 100 to 300 miles to the northward (that is inside) of the dotted line on the chart

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marked, »Icebergs have been seen within this line in April, May and June.«12 Hätte also Kapitän Smith, 62 Jahre alt, hochdekoriert, untadelig und unbescholten, der mit seinem Schiff unterging, nicht doch schon von der Kartenlage her gewarnt sein müssen? Die Warnungen über Funk Anders als der britische hält der US-amerikanische Abschlussbericht Captain Smith durchaus für mitverantwortlich am Untergang seines Schiffes. Dieser stellt die Medien in den Vordergrund, die den Kapitän hätten warnen und zu größter Vorsicht anhalten müssen, war jedoch anders als der britische ohne jede Rechtswirkung, denn die Titanic lief unter britischer Flagge. Zum Beweis listet der Senatsbericht vier telegraphische Eiswarnungen auf, die die Titanic vorgeblich erreicht hätten. 11.50 Uhr. Die erste Eiswarnung, 11.50 Uhr Schiffszeit, kam tatsächlich von der MS Baltic, adressiert an den Kapitän der MS Titanic. Inhalt: Ein griechischer Dampfer habe berichtet, Eisberge und Eisfelder auf 41.51 Nord, 49.83 West gesehen zu haben. Der Kapitän der Baltic mutmaßt, die Titanic wird am späteren Abend die angegebene Position erreichen. Diese Information aus zweiter Hand quittiert der Kapitän wenige Minuten später durch einen eigenen Wetterbericht an die Baltic. Diese Meldung ist die einzige, die Smith nachweislich unter die Augen kam. Kapitän Smith übergibt sie kurz darauf seinem Vorgesetzten, dem Konzernchef seiner Reederei, Joseph Bruce Ismay, der bei dieser Jungfernfahrt ebenfalls mit an Bord war (und überlebte). Die Anwesenheit (und das Überleben) Ismays hat den Titanic-Mythos von der ersten Stunde an genährt. Zum Beispiel wurde spekuliert, dass Ismay einen Geschwindigkeitsrekord hatte erzielen wollen, um die Verkaufschancen der teueren Tickets auf dem neuen Schiff zu erhöhen. Und er habe seinen Kapitän deshalb gezwungen, mit voller Kraft durch das Eisbergfeld zu fahren. Für all das fehlen bis heute die Beweise. 17.25 Uhr. Der US-amerikanische Abschlussbericht führt eine zweite Eiswarnung an, die um 17.25 Uhr von der California gefunkt worden sei. Gegenstand der Meldung: Drei große Eisberge in 5 Meilen Entfernung. Die britischen Ermittlungen ergeben jedoch, dass diese Eiswarnung nicht der Titanic, sondern der Antillian galt. Titanic-Funker Bride hatte diese Meldung zwar mitgehört, sich nachträglich sogar die Koordinaten geben lassen und die Meldung an die Brücke weitergeleitet. Er wusste aber nicht wem, und er tat es erst zwei Stunden 12 | Wreck Commissioner 1912: 24.

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nach deren Erhalt. Captain Smith, den er als einzigen kannte, sah diese Meldung nie. 22.51 Uhr. Die dritte Meldung, welche der amerikanische Bericht anführt, wurde von einer gewissen SS Amerika um 22.51 Uhr abgeschickt und beinhaltete ebenfalls die Sichtung von zwei Eisbergen in der Nähe der Titanic-Koordinaten. Allerdings fehlt jeglicher Beleg dafür, dass diese Meldung irgendwer auf der Titanic mitbekommen hätte. So fördern die Recherchen des US-Senates ein gutes Dutzend weitere Eisbergmeldungen aus jener Nacht zu Tage, die Schiffe oder Küstenstationen gemeldet hatten. Keine davon erreicht die Titanic. Zusammen genommen ergibt sich: Das Eisbergfeld auf dieser südlichsten und meist befahrenen Atlantikroute war in dieser Nacht wohl außergewöhnlich groß. Nur dass das Medium, dem wir diese Einsicht verdanken, die Gefahr nur im Modus einer nachträglichen Recherche preisgab, nämlich dann, als die Katastrophe, die es zu verhindern gegolten hätte, schon eingetreten war. 21.05 Uhr. Die vierte Meldung, die der amerikanische Abschlussbericht dem Kapitän vorhält, ist der oben erwähnte Kontakt mit der California. Darin teilt Marconi-Jungster Evans seinem Titanic-Kollegen Phillips (»old man«) mit, sein Schiff habe angehalten und sei umgeben von Eisbergen. Evans: »I said ›Say, old man, we are stopped and surrounded by ice.‹ He turned around and said ›Shut up, shut up, I am busy; I am working Cape Race,‹ and at that I jammed him.«13 Auch diese Meldung gelangt nie an den Kapitän. Nicht einmal Kollege Bride erfuhr (wenn man seinen Aussagen glauben kann), dass ein zwanzig Meilen entfernt liegendes Schiff wegen akuter Eisberggefahr einen Maschinenstopp meldet. Phillips erfasst die seemännische Tragweite dieser Meldung offenbar überhaupt nicht und macht mit der Übermittlung von Privattelegrammen weiter. Die zugesteckte Warnmeldung Nach Lektüre der Untersuchungsprotokolle ergibt sich: Der Unglückskapitän Smith hielt von allen Warnungen, die von Marconi-Schiffsfunkerbuden und/oder Küstenstationen hin und her gesendet wurden, nur eine einzige in Händen. Es war die zeitlich älteste, ungenaueste, allgemeinste und unspezifischste. Sie besagte, dass irgendwann in der nachfolgenden Nacht die Titanic möglicherweise in die Nähe von Eisbergen gerate. 13 | United States Senate 1912: 735.

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Smith wusste mit dieser Meldung offenbar nichts Rechtes anzufangen. In den Kartenraum gelangte sie erst am Abend, als es galt, die neuen Kurse für die Nacht abzustecken. Das wäre früher auch nicht nötig gewesen. Vorher aber gibt der Kapitän, wie geschildert, die Meldung seinem Vorgesetzten, dem Reedereichef Ismay. Trotz stundenlanger Befragung von Ismay konnten die britischen Ermittler nicht herausfinden, weshalb der Kapitän dies tat. Präsident Ismay wiederholt immer wieder, er wisse auch nicht warum. Er habe mit ihm nicht darüber gesprochen. War es, weil in dieser Meldung auch von einem Dampfer die Rede war, dem wegen des Kohlestreiks in den USA der Heizstoff knapp geworden war? Bis zum Abend trug der Reedereibesitzer die Meldung in seiner Jackentasche herum, las sogar zwei jungen Damen beim Nachmittagstee daraus vor. Dann gab er sie dem Kapitän zurück. Der Freispruch Nach 36 Tagen Ermittlung sprach die britische und rechtlich einzig zuständige Kommission Captain Smith von jeglicher Schuld frei. It was shown that for many years past, indeed, for a quarter of a century or more, the practice of liners using this track when in the vicinity of ice at night had been in clear weather to keep the course, to maintain the speed and to trust to a sharp look-out to enable them to avoid the danger. This practice, it was said, had been justified by experience, no casualties having resulted from it.14 Erst die Katastrophe habe gezeigt, dass die Entscheidungen von Smith falsch waren. Das aber könne man ihm nicht anlasten, da er keine Entscheidungen getroffen habe, die nicht jeder andere erfahrene Kapitän in seiner Lage auch getroffen hätte. Das britische Untersuchungsergebnis – in allen Aspekten differenzierter und präziser als das amerikanische – nimmt die Projektion des neuen Mediums auf Vorgeschichte und Hergang der Unfalls nicht an. Sie fragt nicht danach, ob der Kapitän telegraphische Eisbergwarnungen gekannt hatte. Denn gerade die britische Untersuchung hatte gezeigt, wie ungenau die Warnungen waren, wie seemännisch unerfahren ihre Kolporteure, wie unsicher ihre technischen Übertragungswege und wie ungeklärt ihre Wege an Bord eines Schiffes. Auch den Notrufketten nach der Kollision gibt der britische Report kein besonderes Gewicht. Aus gutem Grund. Objektiv näher und da14 | Wreck Commissioner 1912: 30.

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mit vordergründig hilfreicher als die Carpathia, die der Titanic zu Hilfe eilte, lag nur die California. Aber die California stand nicht unter Dampf. Dass so viele Menschen ums Leben kamen, lag nicht an zu spät eintreffenden Hilfsschiffen, sondern an der Unterversorgung der Titanic mit Rettungsbooten. Und dass überhaupt so viele gerettet werden konnten, ist der vollkommen ruhigen See zu verdanken. Bei heftigem Wetter hätte vermutlich kein einziges Boot die 20 Meter hohe Bordwand herabgefiert werden können. Menschen aber, die bei null Grad (Salz-)Wassertemperatur ins Wasser springen – es müssen mehrere hundert gewesen sein –, haben nur eine sehr geringe Überlebenschance.

Die Pressesensation Den Untergang der Titanic verursachte ein mittlerer Eisberg in einem zu dieser Jahreszeit ungewöhnlich ausgedehnten und überraschend weit südlich treibenden Eisfeld. Die Behauptung, die Tragik sei durch ein Versagen der Medien verursacht (falsch kommunizierte Warntelegramme), erweist sich indessen bei näherer Betrachtung als ein selbstreferentieller Medieneffekt. Ein Medienunfall war der Titanic-Untergang schon, aber nur unter dem Gesichtspunkt der Medien selbst. Im Kontext der Vorgänge um die Titanic offenbarte sich die Verquickung von Radiotelegraphie und Massenpresse – ein damals noch ganz und gar haltloses Amalgam, das in der Folge dringend der Regulierung bedurfte. Gut anderthalb Jahrzehnte lang, von 1896 bis 1912, konnte Marconi sein Medium – die Erzeugung, die Verbreitung und den Empfang elektromagnetischer Wellen rund um den Globus – als eine private Exklusivität behaupten. Am Anfang hatte er sogar bestritten, dass es sich bei seinen Wellen um die von Hertz gefundenen handele. Umso mehr beanspruchten die Marconisten über die Radiotelegraphie die volle Definitionsmacht und Diskurshoheit. Sie allein konnten ihr Medium hören und schnellfingerig bedienen. Die darin liegende Verzerrung des neuen elektromagnetischen Mediums gründet nicht auf Willkür oder Hybris, sondern auf der epistemologischen Undarstellbarkeit des Mediums selbst. Wie der Physiker Richard Feynman sagte: Man kann besser noch Engel abbilden als eine elektromagnetische Welle, niemand kann ihre Form korrekt veranschaulichen.15 Skandiert wird der Arcanhype der Marconi-Telegraphie durch die Massenpresse, in den USA nicht anders als in Europa. Um 1910 hängt die internationale Presse mehr denn je von Guglielmo Marconi ab. Seit 15 | Vgl. Hagen 2005: 9ff.

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den 1880er Jahren waren die großen Linotype- und Monotypemaschinen in Betrieb, die Zahl der ›Dailies‹, der billigen Skandalblättchen, konnte der unersättlichen Nachfrage kaum folgen und verdoppelte sich von Jahrzehnt zu Jahrzehnt. Um 1910 erscheinen die meisten Tageszeitungen – in den USA wie in Europa – mit mehreren Tagesausgaben, Sonderblätter kommen hinzu.16 Sarnoff, gegenwartsvergessen Was die Welt durch das neue Medium von der Welt weiß, erfährt sie um 1910 vor allem durch Marconi-Funker; auf dem amerikanischen Kontinent ist einer ihrer begabtesten David Sarnoff. Die Titanic-Tragik macht ihn berühmt; als Gründer und Chef der RCA wird er das US-amerikanische Hörfunk- und Fernsehsystem von 1920 bis weit in die 1950er Jahre hinein prägen. 1900 war der neunjährige Sarnoff als Sohn armer jüdischer Eltern nach New York gekommen. Mit 15 arbeitete er bereits in seinem ersten Job als Office Boy in der Marconi Wireless Telegraph Company of America. Bereits sechs Jahre später, am frühen Morgen des 15. April 1912, sitzt der 21-jährige Sarnoff mit der Chefmütze in der großen Marconi-Station auf dem Dach des Wanamaker-Kaufhauses in New York. Von diesem Tage an wird er sein Leben lang behaupten, der erste MarconiFunker gewesen zu sein, der die Untergangsmeldung der Titanic gehört hat. So it happened that I was on duty at the Wanamaker station in New York and got the first message from the Olympic, 1400 miles out at sea, that the Titanic had gone down. I have often been asked what were my emotions at that moment. I doubt if I felt at all during the seventy-two hours after the news came. I gave the information to the press associations and newspapers at once and it was as if bedlam had been let loose. Telephones were whirring, extras were being cried, crowds were gathering around newspaper bulletin boards. The air was as disturbed as the earth. Everybody was trying to get and send messages.17 Sarnoff beschreibt die Lage zutreffend. Die Massenpresse schildert den Untergang der Titanic ganz so, als wäre sie dabei gewesen; als einen medialen Unfall, so als wäre er auch noch von ihr selbst mit verursacht worden, insofern ihre eigenen Informationssysteme versagt hätten. Mit der spektakulären Untergangsmeldung kann das alte Medium Presse zum ersten Mal mit einer Gegenwartsvergessenheit auf16 | Vgl. Smith 1979. 17 | McBride 1926: 141f.

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trumpfen, wie sie fortan den neuen, den elektronischen Medien eigen sein wird. Im Fall der großen Katastrophe ist die Presse mit ihrem weltweiten Funknetz gleichsam vor Ort. Alles Weitere folgt in der nächsten Tagesausgabe. Hybris der jungen Moderne. In der Mischung aus industriellen – unsinkbar, größtes Passagierschiff – und medialen Superlativen soll der Leser im Augenblick der Lektüre noch das kalte Wasser spüren können. Das Gegenwartsmedium Radiotelegraphie erlaubt der Presse in diesem Fall, die Mechanismen der Interzeption und Interferenz des Mediums als Ungewissheiten einer Gegenwart zu reproduzieren, die stets neue Nachrichtenlagen über das Schicksal des Schiffes und seiner Überlebenden möglich machen. »All Titanic Passengers save« »Only 866 Titanic Survivors named by Carpathia – wireless search of the seas for further news«.18 Diese Schlagzeile der »New York Times« vom 17. April 1912 bringt die Metonymie von Todesopfern, Überlebenden und Nachrichten noch einmal auf den Punkt. 866 Überlebende sind gerettet (eine falsche Zahl), und »die drahtlose Suche nach weiteren Neuigkeiten« hält an, so, als würde jede Nachricht womöglich weitere Überlebende zeugen. Sarnoff mag der Erste gewesen sein, der die Meldung vom Untergang der Titanic hörte. Zuerst aber empfing die Marconi-Station in Neufundland, eben in Cape Race, die Nachricht von der Titanic und dem gestreiften Eisberg und gab diese Meldung sofort an die »New York Times« weiter, die genau das, ohne Hinweis auf die inzwischen entstandene akute Seenot, am 15. April in ihrer Frühausgabe auch vermeldete. Marconisten, Telefunken-Funker und sicherlich auch eine große Zahl von funkenden Amateuren verbreiten diese Meldung in wenigen Minuten über den Atlantik. In der Frühausgabe des »Hamburger Echos« konnte man also am 15. April lesen: Der Dampfer »Titanic« der White Star Line [. . .] ist [. . .] mit einem Eisberg auf offener See zusammengestoßen und bat um Hilfe. Eine halbe Stunde nach dem Zusammenstoß begann das Schiff zu sinken. Zwei deutsche Dampfer, »Prinz Adalbert« der Hamburg-Amerika Linie und »Prinz Friedrich Wilhelm« des Norddeutschen Lloyd, brachten dem sinkenden Dampfer Hilfe. Das Wetter ist ruhig, und es besteht keine Gefahr für die Passagiere. Auch die Besatzung des Schiffes ist außer Gefahr. Die weiblichen Passagiere konnten alle durch die Rettungsboote in Sicherheit gebracht werden. Nach einem Telegramm von Kap Race er18 | Zit. nach Hilliard/Keith 1997: 13.

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hielten die Dampfer »Baltic«, »Virginian« und »Olympic« funkentelegraphische Aufforderungen, dem »Titanic« Hilfe zu leisten.19 Das dreiste Lügenmärchen von den zwei deutschen Rettungsschiffen zeigt, wie clever Journalisten mit den Unschärfen der Radiotelegraphie, ihren unklaren Quellenlagen und durcheinander gefunkten Depeschen bereits umzugehen wussten. »All Titanic Passengers save; Towing to Halifax«.20 Diese Meldung erscheint in vielen amerikanischen und englischen Zeitungen, als die Titanic bereits auf dem Meeresgrund liegt. Die Meldung selbst aber war sozusagen korrekt als falsche Meldung empfangen worden. Sie war das Ergebnis von Interference, der gegenseitigen Störung von Funkstationen, Ergebnis von Chaos auf den Frequenzen. Am 21. April, sechs Tage nach der Katastrophe, gibt Captain Haddock vom Schwesterschiff der Titanic eine Erklärung für die Falschmeldung. Denn auch die Funkamateure in den USA hatten die Nachrichten von der Titanic, vor allem aber die der Marconi-Küstenstationen aufgeschnappt. Wenige Stunden nach der Katastrophe, die eben auch eine Katastrophe des Funks war, hatten sie sich immer stärker in die Morsetelegramme eingeklinkt und kreuz und quer Meldungen abgesetzt mit der Frage: »Are all Titanic passengers safe?«21 Zur selben Zeit hatte ein anderer Dampfer namens Asian, der einen großen Öltanker im Schlepp hatte, aufgrund der großen Eisberggefahr jener Nächte mehrfach gemeldet: »Towing oil tank to Halifax«. Funkamateure waren die Ursache für die Überlagerung beider Meldungen, die nun, verdichtet zu einer, ihrerseits mehrfach empfangen und um die Welt gefunkt wurde. Damit hatte die Interference, das gegenseitige Abhören, Stören und Überlagern von Signalen auf beliebigen Frequenzen ein weltweit wahrgenommenes und kritisches Niveau erreicht. Wenn sich der Kreis schließt und die Zeitungen im Medium der drahtlosen Nachrichten Tod und Zeit komprimieren, entsteht ein weiteres Phantasma, nämlich das der Weltsensation. Diesen Tatbestand erfüllte das Titanic-Desaster im vergangenen Jahrhundert das erste Mal. In allen Morgenzeitungen der Welt konnte jetzt stehen, was gestern und vielleicht noch gerade jetzt im kalten Eismeer geschah. Das Phantom der Sensation produziert falsche Nachrichten, wie es heute nicht anders ist. Nur eben, im April 1912, auf allen Frequenzen zugleich.

19 | Anonymus 1912. 20 | Zit. nach Douglas 1987: 227. 21 | Zit. nach ebd.: 229f.

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Der »Radio Act« und der Krieg Der »Radio Act«, das erste Radiogesetz der USA, wurde am 13. August 1912 verabschiedet. Der tiefe Schock der Titanic-Katastrophe verlangte einschneidende und schnelle Regelungen. Sie blieben bis zur Gründung der »Federal Radio Commission« im Jahr 1927 gültig. Das Produktivste also, was die spätere Radiogeschichte zu gewärtigen hatte, nämlich die chaotische Gründungsphase des amerikanischen Radios von 1920 bis 1927, die sich – durch den 1912er »Act« geboten – auf einer einzigen Frequenz abspielen musste, verdankt die Mediengeschichte letztendlich also der Titanic; nämlich der US-amerikanischen Deregulierung des Marconi-Systems nach ihrem Untergang. »First. Every station shall be required to designate a certain definite wave length as the normal sending and receiving wave length of the station.«22 Das bedeutete das Ende der Willkür Marconi’scher Sender, die, um Reichweite zu gewinnen, ihre Funken quer durch alle Frequenzbänder knallen ließen. Alle Geräte und ihre Betreiber mussten fortan eine Lizenz beim Handelsministerium erwerben. Regierungsamtliche und militärische Dienste erhielten ihren eigenen Frequenzbereich. Every coastal station open to general public service shall at all times be ready to receive messages of such wave lengths as are required by the Berlin convention.23 Die Berliner Konvention von 1906, von Marconi und den USA bis dahin arrogant ignoriert, wird zur verbindlichen Richtschnur. Auf Schiffen und Küstenstationen muss die Notruffrequenz rund um die Uhr abgehört werden. »Sixth. The distress call used shall be the international signal of distress . . .- - -. . .«24 Ende mit Marconis seltsamen und schwer abzuhörenden privaten Notsignalen. Aber nicht Marconi, der vielmehr als Held gefeiert wurde, sondern die wild durcheinander funkenden Radioamateure waren das Hauptziel des »Radio Act«. Senator William A. Smith, der das Gesetz einbrachte und auch die Titanic-Untersuchung führte, hätte den Amateurfunk am liebsten ganz verboten. Jedoch gab es 1912 bereits Zehntausende von privaten und halbkommerziellen Amateurfunkstationen – ihr Verbot wäre ein sinnloses Unterfangen geworden. Also dekretierte der »Radio Act« für privaten und kommerziellen Funk eine definierte Frequenzschwelle und Sendestärke: »No private or commercial station [. . .] shall use a transmitting wave length exceeding two hundred meters, or a transformer input exceeding one kilowatt, except by special 22 | United States 1912. 23 | Ebd. 24 | Ebd.

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authority of the Secretary of Commerce and Labor contained in the license of that station.«25 Damit wurde der private Rundfunkbetrieb in den USA auf eine Frequenz knapp unterhalb des Mittelwellenbandes eingepfercht. Die USA werden in neun Frequenzdistrikte eingeteilt, und jeder Distrikt erhielt sein eigenes Büro, um Lizenzanmeldungen zu regeln. Alle Schiffe ab einer bestimmten Größe mussten Funkbetrieb gewährleisten. Private Amateure hatten eine Lizenzprüfung zu absolvieren, und zwar bei der Navy. Damit bildet im folgenden Jahrfünft die Navy de facto ihre späteren Kriegsfunker aus. Lusitania Schon wenige Jahre später zeigte sich, was dieses Gesetz, gemeinsam mit der von der Navy korporierten Formation der amerikanischen Elektroindustrie, auf dem mittleren Wellenband zuwege gebracht hatte. Im Oktober 1915 – Europa liegt bereits im Krieg – gelingt die erste Sprachübertragung von Nordamerika über den Atlantik; französische Militärs in Paris bestätigen den Empfang. Das Bündnis von AT&T, der großen amerikanischen Telephongesellschaft, und der Navy beginnt sich auszuzahlen. Amerika, das bekanntlich zunächst nicht beteiligt war, wird gleich zweimal durch drahtlose Geschehnisse immer tiefer in den Ersten Weltkrieg verwickelt. 1915 war ein deutsches U-Boot vor die amerikanische Küste gelangt und hatte die Lusitania versenkt; ohne Warnung und ohne sich an der Rettung der fast 2.000 Passagiere zu beteiligen. 188 Amerikaner waren darunter, und die US-Navy stellte fest, dass Route und Position der Lusitania den Deutschen de facto über amerikanische Funkstationen bekannt geworden waren. Die Deutschen erklären im Januar 1917 einseitig den unbeschränkten U-Bootkrieg auch gegen Amerika. Im April hören amerikanische und englische Navy-Funker den Depeschendienst des deutschen Militärs ab und entschlüsseln ein Bündnisangebot des Kaiserreichs an Mexiko. Daraufhin erklärte Präsident Wilson am 6. April 1917 Deutschland höchstförmlich den Krieg. Dies treibt die Entwicklung des amerikanischen Radios weiter voran. Für den Kriegsfall verbot der »Radio Act« den Betrieb privater Amateurstationen. Weiterhin erlaubt das Gesetz der Navy, dem Kongress und dem Präsidenten, die großen Stationen des Guglielmo Marconi zu requirieren und zu beschlagnahmen. »In time of war or public peril or desaster«, dekretierte der »Radio Act«, kann der Präsident sogar enteignen, ohne den ursprünglichen Besitzer wesentlich entschädigen zu müssen.26 Die US-Radiotechnologie wird durch den Kriegs25 | Ebd. 26 | Ebd.

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eintritt zum ersten Mal ausnahmslos durch Amerikaner kontrolliert. Eine neue Epoche der amerikanischen Korporativität beginnt. Die Navy-Bill und das Radio der Amateure Nach Kriegsende bringt ein republikanischer Kongressabgeordneter namens J. W. Alexander ein Gesetz ein, das der Navy, wie unter Kriegsrecht, das gesamte System des amerikanischen Radios auch weiterhin unterstellen soll. Die Argumentation war einfach: Wenn Präsident Wilson (Koautor des Versailler Vertrages) jetzt endlich im Namen der USA Europa bekehre, so müsse diese welthistorische Aufgabe der Durchdringung der Welt mit amerikanischen Idealen auf einer geordneten und zentralisierten Radioorganisation beruhen. When the American news and American viewpoint are to be disseminated throughout the nations, [. . .] the greatest good to the people of the United States as a whole will accrue to them from well-regulated communications [. . .] at reasonable rates and without interference.27 Immer noch vor dem Hintergrund das Titanic-Desasters, für das man aus militärischer Sicht ausschließlich den Dilettantismus der Funkamateure verantwortlich machte, bricht 1919 eine hitzige Debatte los. Herbert Hoover, der spätere Handelsminister, Organisator des amerikanischen Radios und 31. Präsident, folgt zunächst der Navy-Strategie. Hinter ihr steckt in Wahrheit die AT&T. Sie beliefert die Navy und fürchtet das Wegbrechen ihre Pfründe. Auf der anderen Seite sehen wir Hiram Percy Maxim, Präsident der American Radio Relay League, den politischen Kopf der Radioamateure. Er setzte sich für die fast 8.600 bei ihm registrierten Radioamateurstationen und jene 125.000 Mitglieder ein, die bereits über Sende- und Empfangsanlagen verfügten. Sein Argument: Hatten denn nicht gerade die hunderttausend Funker im Krieg so entscheidend zum Erfolg der Navy-Operationen beigetragen? Und sollten denn nun, aus dem Dienst entlassen, deren Fähigkeiten nutzlos werden? Überdies waren Staatsräson und private business in den USA immer schon zwei verschiedene Dinge. Unwahrscheinlich also, dass der Kongress zustimmen würde, die weitere Entwicklung einer offensichtlich höchst lukrativen Industriebranche unter Staatskontrolle zu stellen. »Not for any temporary and not for any permanent cause, or merely assumed cause, should the government be allowed to put its bungling and paralyzing hand upon private business«, schrieb die »New York Times« in ihrem 27 | Zit. nach Douglas 1987: 282.

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Editorial im Juli 1919.28 Und verwies süffisant darauf, dass in den drei Kriegsjahren, als die Navy nach dem »Radio Act« das Radio und Telephonmonopol innehatte, die Anschlusspreise gestiegen seien wie in keinem Jahrzehnt zuvor. In Wahrheit aber ging es dem Kongress nicht um ein paar zehntausend Radioamateure. Es ging um die schlichte Frage, wem die industriellen Patente der Radiotechnologie gehören sollten. Soll man sie Marconi oder den Deutschen zurückgeben? Der euphorisierte Kongress der Sieger war mitnichten bereit, diese ökonomischen und politischen Errungenschaften einer korporierten Kontrolle über ›The Wireless‹ zurück an die ehemaligen Besitzer zu transferieren. Das war der Kern der Navy-Initiative, dem niemand widersprach. Household Utility Längst nämlich war die Vision eines big business gewachsen, das die Radioamateure mit ihrem Bedarf nach Hunderttausenden von Geräten und Bauteilen ja schon de facto erschlossen hatten. Die Nachfrage nach elektrischem Radiogerät war enorm; in den USA gingen ohnehin in den folgenden Jahrzehnten Elektrifizierung und Radioausstattung der Haushalte Hand in Hand.29 So musste man eigentlich nur ein paar einfache Rechenaufgaben stellen. Was, zum Beispiel, würde es für einen Umsatz und Profit ergeben, wenn nur sieben Prozent aller amerikanischen Haushalte sich ein Radio anschaffen würden? Niemand Geringeres als David Sarnoff hatte diese Vision bereits 1915 zu Papier gebracht.30 Ich zitiere daraus, weil Sarnoffs Text direkt an die Phantasmen der amerikanischen Elektrizitätsgeschichte anschließt und den Bogen von Bellamys Radiovisionen zur kommenden Formation der US-Radioindustrie schließt.31 Sarnoff schreibt: Ich habe einen Entwicklungsplan im Sinn, der das Radio zu einem Haushaltsgegenstand machen würde wie das Piano oder der Plattenspieler. Die Idee ist, in jedes Haus auf drahtlosem Wege Musik zu bringen. Dies ist schon in der Vergangenheit über Draht versucht worden, aber das hat sich als Fehler erwiesen, weil Drähte in dieses Schema nicht passen. Mit dem Radio aber wird es gelingen. Nur als Beispiel – ein Radio-Telefon Sender, der eine Reichweite von sagen wir 25 bis 50 Meilen hat, kann an einem bestimmten Punkt aufgestellt werden, wo Instrumental28 29 30 31

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Zit. nach ebd.: 284. Vgl. Nye 1990. Die Datierung des Memos ist nach wie vor umstritten. Vgl. Roemer 1981.

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oder Vokal-Musik produziert wird. Das Problem der Übertragung von Musik ist inzwischen prinzipiell gelöst und deshalb können alle Empfänger, die auf die entsprechende Wellenlänge eingestellt sind, dann auch eine solche Musik empfangen. Der Empfänger könnte gestaltet sein in der Form einer einfachen ›Radio Music Box‹ und zudem eingerichtet werden für verschiedene Wellenlängen, die gewechselt werden könnten durch einen einfachen Knopf. Die ›Radio Music Box‹ wäre mit Verstärkerröhren und mit einem Telefon-Lautsprecher ausgestattet, alles zusammen in einem Kasten. [. . .] In einem Radius von 25 bis 50 Meilen leben Hunderttausende von Familien. Und sie alle könnten von einem einzigen Sender gleichzeitig empfangen. [. . .] Das gleiche Prinzip könnte ausgedehnt werden auf zahllose andere Felder wie, zum Beispiel, auf den Empfang von Vorträgen, die perfekt hörbar wären. [. . .] Baseball-Ergebnisse könnten übermittelt werden von Übertragungsstationen direkt am Spielfeldrand.32 Die Radio Corporation of America (RCA) Die Herstellung einer Radio Music Box inklusive Antenne, in großen Stückzahlen, würde ihren Verkauf für moderate 75 Dollar möglich machen. Der Hauptumsatz käme vom Verkauf der Boxen und ein weiterer vom Verkauf der Sendeanlagen, wenn man nur genügend Werbung machte für dieses neue ›drahtlose Zeitalter‹. Die Firma hätte die Arrangements für das Programm zu treffen, und ich bin sicher, dass es für Musikvorführungen, Vorträge etc. ein Leichtes wäre. Es ist nicht möglich, das ganze Geschäftsvolumen dieses Plans genau auszurechnen, aber allein in den USA gibt es 15 Millionen Haushalte. Würden nur sieben Prozent davon diese Idee gut finden, so ergäbe sich ein grob geschätztes Geschäft in der Größenordnung von 75 Millionen Dollar, was ein beträchtlicher Umsatz wäre. Abgesehen vom Profit, der sich aus diesem Vorschlag ergibt, wären die Werbemöglichkeiten für die Firma enorm; denn ihr Name würde ultimativ in jedem Haushalt präsent sein und das Prinzip ›wireless‹ würde eine nationale und universelle Aufmerksamkeit erlangen.33 32 | Sarnoff, zit. nach Archer 1938: 84ff. 33 | Ebd.

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David Sarnoff beschreibt in diesem Paper den business plan des kommenden US-Radios. Die Programme sollen und werden auch tatsächlich über Jahre hin von den Firmen finanziert, die Radiogeräte herstellen. Diese eindrucksvolle und mit präzisen Zahlen konkretisierte Vision aus dem Jahr 1915 reichte aus. Im Kongress wurde das Papier noch einmal allen Abgeordneten zugänglich gemacht. So kamen im Frühjahr 1919 David Sarnoff (inzwischen sein eigener Chef im enteigneten Marconi-Funkhaus) und einige Vertreter aus der Industrie unter Leitung eines gewissen Franklin D. Roosevelt zusammen, um aus den Liegenschaften der American Marconi Company unter Zahlung einiger kleinerer Abfindungen und Androhung größerer Vergeltungen die Radio Corporation of America zu gründen, die auch heute noch existierende RCA. Auf dem Chefsessel wird sehr bald Platz nehmen – David Sarnoff. Im Oktober 1919 war der Gründungsdeal komplett und besiegelt, und letztlich hatten alle gesiegt: die Navy, die nunmehr zwei nationale Konzerne beauftragen konnte, nämlich AT&T und RCA. Alle wesentlichen Radiopatente waren in amerikanischer Hand: Reginald D. Fessendens Wechselstromsender neben den inzwischen zur Serienreife gelangten Röhrensendern Edwin Armstrongs und Lee de Forests, auch das Lichtbogensenderpatent des Dänen Poulsen, sowie alle weiteren aus Marconis ursprünglichem Besitz.34 Beste Voraussetzung für einen korporativen Start des Unterhaltungsradios ab 1920.

Literatur Anonymus 1912: Kollision des Dampfers »Titanic« mit einem Eisberg. In: Hamburger Echo, 15. April 1912. Archer, G. L. 1938: History of Radio to 1926. New York: The American Historical Society, Inc. Douglas, Susan J. 1987: Inventing American Broadcasting 1899–1922. Baltimore & London: The Johns Hopkins University Press. Hagen, Wolfgang 2005: Das Radio. Zur Theorie und Geschichte des Hörfunks Deutschland/USA. München: Wilhelm Fink. Hilliard, Robert L./Keith, Michael C. 1997: The broadcast century. A Biography of American broadcasting. Boston u. a.: Focal Press.

34 | Reginald D. Fessenden, ein Amateuringenieur, hatte einen der ersten funktionstüchtigen Wechselstromsender entwickelt; Lee de Forest gelang die Entdeckung der Radioverstärkerröhre um 1906; Edwin Armstrong hatte eine spezielle Verstärkerschaltung entwickelt, die den Betrieb von Röhrensendern erlaubte. Alle drei fundamentalen Patente landeten bei AT&T und RCA.

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Mcbride, Mary Margaret 1926: »Radio« by David Sarnoff as told to Mary Margaret McBride. In: The Saturday Evening Post, 7.8.1926. S. 141f. Nye, David E. 1990: Electrifying America. Social Meanings of a New Technology, 1880–1940. Cambridge: MIT Press. Roemer, Kenneth M. 1981: The Obsolete Necessity. America in Utopian Writings, 1888–1900. Kent: Kent State University Press. Smith, Anthony 1979: The Newspaper. An International History. London: Thames and Hudson. United States 1912: An Act to regulate radio communication (= Radio Act, 13.8.1912). United States Senate 1912: Titanic Desaster. The Official Transcript of the United States Senate Hearings into the sinking of the RMS Titanic, April 19–May 25. Washington. Wreck Commissioner 1912: Report on the Loss of the »Titanic«. Dated this 30th day of July. London. Wreck Commissioner’s Court [of the United Kingdom] 1912: Proceedings On A Formal Investigation Ordered By The Board Of Trade Into The Loss Of The S. S. Titanic, Thursday, 2nd May. London.

»Immer Erklärungen. Sprechen. Das muss aufhören!« Albert Kümmel-Schnur »Und warum sollte man auch über ein System reden und sich mit ihm befassen, wenn es ohne Gleichgewicht wäre und nicht funktionierte?« (Michel Serres)

»Ich werde es machen. – Was? ›Die Dinge des Lebens‹? – Es kommt ein Unfall drin vor. Ich finde es sehr interessant, einen Unfall zu drehen.«1 Claude Sautet interessiert sich für den Unfall, aber seine Erläuterung bleibt mager. Ist das ein Grund, einen Film zu drehen: weil ein Unfall darin vorkommt? Unerwarteterweise entschließt Claude Sautet sich im Jahre 1969 – nach der Lektüre eines Drehbuches von Jean-Loup Dabadie, dem der Roman »Les choses de la vie« von Paul Guimard zugrunde liegt –, seinen bereits vor mehreren Jahren erklärten Rückzug von der Filmregie zu beenden. Nicht einmal seine Frau Graziella, mit der er sonst jede seiner Entscheidungen bespricht, zieht er vorher zu Rate.2 Seinen letzten Film hatte Sautet 1964 gedreht: »L’Arme à gauche« (»Schieß, solange Du kannst«). Der Streifen, ein Krimi auf See mit Lino Ventura in der Hauptrolle, war ein Flop. Obwohl Claude Sautet sich selbst als »amerikanischer Filmemacher, der Filme in Frankreich dreht« bezeichnet, ist er später der Meinung, dass in diesem Fall der Versuch, amerikanischen Wein in europäische Schläuche zu gießen, gründlich missglückt sei.3 Das Amerikanische ist für ihn das Körperbetonte, Dialogferne: »Ich liebe Filme, die ohne Dialoge auskommen.«4 Französische Filme sind ihm zu dialoglastig. Minimierung des Dialogs und vollständige Verlagerung der Handlung auf Gesten, Mimik und andere, rein visuelle Zeichen war auch vor »L’Arme à gauche« erklärtes Ziel 1 2 3 4

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Sautet mit unbekanntem Gesprächspartner in: Binh 2003. Vgl. Graziella Sautet in: ebd. Sautet in: ebd. Ebd.

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seiner Arbeit. Dennoch – oder gerade deshalb – galt diese Arbeit schon bald als nicht originell genug: With the nouvelle vague movement in full swing, its band of experimental and exciting filmmakers, such as Godard, Truffaut, Rivette and Chabrol, brought a breath of freshness to French cinema, and with this important turning point in French film direction, the critics saw Sautet’s style as too orthodox and somewhat passé.5 Ein gelungener amerikanischer Thriller mit Lino Ventura und JeanPaul Belmondo, »Classe tous risques« (1960), und ein actiongeladener Flop, »L’Arme à gauche«: Die ohnehin nicht dichte Filmproduktion Sautets schien beendet, bevor sie so recht begonnen hatte. Finanzieller Misserfolg und eine Machart, die von den Kritikern als zu konventionell empfunden wurde, wirkten wohl zusammen bei Sautets Entschluss, nicht mehr länger als Regisseur zu arbeiten und sich ganz auf Skriptberatung zu konzentrieren. Abbildung 1: Standbild aus »Les choses de la vie«.

Dann plötzlich: der Unfall. Und: die Entscheidung, die Krise zu beenden. Ein krisenhafter Moment, die krisis ist der Wendepunkt. Vielleicht sah Sautet im Unfall die ihm zufallende Chance, seine Vision vom Filmemachen doch noch zu realisieren. Eine Handlung, die um einen 5 | Tong 2007.

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Unfall herum angeordnet ist, scheint einem diskursfernen Konzept filmischer Sprache, wie es berühmte Filmemacher wie Alfred Hitchcock immer vertreten haben, angemessen. »Im Grunde könnte Claude Sautets ›Les choses de la vie‹ auch ›einfach‹ ›Accident‹ heißen«, stellt Ulrich Behrens zu Recht fest, ohne jedoch an diese Bestimmung zu glauben.6 Der Unfall, der sich nicht einfach in Diskurs auflösen lässt, irritiert ihn. Gleich im ersten Satz seiner Filmkritik versucht Behrens, das bloß Ereignishafte dieses Unfalls in einem festen Bedeutungsnetz einzufangen und in eindeutigen Aussagen zu fixieren. Schon das französische accident lokalisiert er in einem semantischen Netz, das das skandalöse nur des Unfalls, seine nackte Faktizität, begrifflich einfangen, zähmen soll: »Was mehr als nur Unfall heißt: Unfall plus Zwischenfall plus Weichenstellung.«7 Abbildung 2: Standbild aus »Les choses de la vie«.

Sautets Unfall aber verfängt sich nicht in diesem Netz – er ist zu unbedeutsam, meint Behrens, »ein wenig zu wenig« seien ihm die raunenden Andeutungen von Bedeutsamkeit, denen nichts folge: Sautet »suggeriert [. . .] etwas Bedeutsames, wo nichts an Bedeutung zu finden ist.«8 Es fehlt an Sinn, es fehlt an Diskurs oder, anders gesagt, Behrens beklagt, dass Sautets Film fortwährend Sinnversprechungen macht, ohne diese je einzulösen: 6 | Behrens 2007. 7 | Ebd. 8 | Ebd.

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Denn nur über filmische Zeichen, über nicht mehr als visuelle, formale Codes dieser Situation – die noch nicht einmal ein wirkliches Geschehen repräsentiert – etwas abzugewinnen, etwas Substantielles zu entnehmen, muss scheitern. Und es scheitert.9 Um dieses Scheitern zu diagnostizieren, muss Behrens freilich die Ebene der visuellen Codes verlassen – die einzige Ebene also, auf der, seiner Kritik zufolge, der Film Sautets operiert: »Reduziert man den Film auf die dargestellten Fakten« . . .10 Welche Fakten? Behrens meint die Handlung, aber nicht die, die der Film zeigt – das wären wiederum visuelle Codes, Bilder eben, über die jedoch nicht gesprochen werden soll –, sondern die Handlung bzw. die dramatische Grundsituation, das Signifikat, das im Signifikantenfluss des Films einfach nicht zur Ruhe kommen will. Man hat eben nichts »›in der Hand‹«.11 Abbildung 3: Standbild aus »Les choses de la vie«.

Und dennoch, gerade das macht Behrens’ Unbehagen aus, hat man mehr als reine visuelle Signifikanten, die sich auf nichts mehr beziehen. Es handelt sich nicht um einen experimentellen absoluten Film, der nur mit Formen, Farben, Musik und Bewegung arbeitet oder gar um einen digitalen Film, dessen einzige Referenzen die Hardware 9 | Ebd. 10 | Ebd. 11 | Ebd.

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von Chiparchitekturen und die Software von Animationsprogrammen sind, sondern um Bilder, die eine Welt als Referenz haben. Offensichtlich gibt es etwas, das auf Film nicht frei konstruiert, sondern aufgezeichnet wurde. Es gibt ein Außen, auch wenn sich der Film stark bemüht, ein in sich geschlossenes Zeichensystem aus diesen Bildern mit ihrer unabweisbar indexikalischen Funktion herzustellen. Und einmal (vgl. Abbildung 1) ist dieses Außen sogar deutlich zu sehen: graue Handschuhe am Lenkrad des Unfallwagens. Die von Michel Piccoli gespielte Figur Pierre, die diesen Wagen in der Filmhandlung fährt, trägt gar keine Handschuhe (vgl. Abbildung 2). Die Handschuhe verweisen auf eine außerfilmische Realität: die, in der der Film gedreht wurde. Es müssen die Handschuhe des Stuntmans sein. Wenige Sekunden später bestätigt sich – beim Hin- und Herspringen auf der DVD, also unter Rezeptionsbedingungen, für die der Film nicht gedreht wurde – dieser Verdacht: In dem Moment, in dem der Wagen abhebt und sich überschlägt, ist deutlich der Stuntman mit Helm und Rennfahreranzug am Steuer des Wagens zu erkennen (vgl. Abbildung 3). Die Magie, die von seinen Filmen ausgeht, vermittelt sich mit einer verblüffenden Selbstverständlichkeit, wie er sie hergestellt hat, bleibt unsichtbar.12 Meistens jedenfalls – nur genau an dieser Stelle nicht. Gleichzeitig verweist diese Spur, die die Produktion des Films im fertigen Werk hinterließ, deutlicher als alles andere auf die Abwesenheit sonstiger Spuren: Deshalb erscheint sie, hat man sie einmal entdeckt, so störend. Die Handlung des Films ist ein völlig selbstgenügsamer, auf kein Jenseits oder Außen mehr verweisender Ort – eine camera obscura im Wortsinn. Zwar gilt generell für jedes Kunstwerk, dass es seinen eigenen Raum und seine eigene Zeit schafft und ausschließlich innerhalb dieser Koordinaten existiert, doch verweigern sich nur wenige nicht abstrakte Kunstwerke so gründlich und so elegant der Welt wie dieser Film von Sautet. Peter Zadek meinte einmal, nur Engel mit schmutzigen Füßen seien für ihn glaubhaft. Die einen Augenblick lang sichtbare Anwesenheit eines Stuntmans ist der Dreck unter den Zehennägeln dieses Films. Der Schmutz zeigt deutlich auf das, was Ulrich Behrens vermisst: einen Ort jenseits der Bilder, ein Leben außerhalb der Signifikanten. Und seine Enttäuschung bringt – so unangemessen sie sich als Wertung auch erweisen mag – einen zentralen Aspekt des Films zum Vorschein: Seine Handlung verweist ununterbrochen auf ein Außen, das sie aber nicht zeigt. Der Film lebt von dieser Grenze, die er 12 | Adolf-Grimme-Institut 2007.

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selbst zieht, und deren Undurchdringlichkeit er auf jeder Ebene betont und beklagt. Abbildung 4: Standbild aus »Les choses de la vie«.

Der Film, so darf vielleicht jetzt schon behauptet werden, setzt kongenial die Lebenssituation seiner Hauptperson, »die noch nicht einmal ein wirkliches Geschehen repräsentiert«, um.13 Selten kommt ein Film formal so sehr zur Deckung mit seinem Inhalt, der meistens vom Unfall als dem auffälligsten, dem zentralen, vielleicht sogar dem einzigen Ereignis her wiedergegeben wird: Pierre, ein Architekt in den Vierzigern, ist Opfer eines Verkehrsunfalls. Aus dem Wagen herausgeschleudert, am Rande der Straße im Koma liegend, erinnert er sich an sein vergangenes Leben mit Hélène, einer jungen Frau, die er verlassen wollte, an seine Frau Catherine und seinen Sohn.14 Es erfordert ziemlich viel rekonstruktive Phantasie, um den Inhalt von Sautets Film genau so zu erzählen. Der Unfall erscheint hier als der Anlass einer Erzählung in Rückblenden, nicht jedoch als zentraler Fokus des Films. Erst in der 51. Minute kommt der aus seinem Wagen geschleuderte, mehr oder weniger bewusstlos daliegende Pierre überhaupt ins Bild (vgl. Abbildung 4). Erst danach beginnt jene Erzählung, 13 | Behrens 2007. 14 | Wikipedia-Kollektiv 2007.

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die in den Zusammenfassungen stets für das Ganze herhalten muss:15 Am Wegrand liegt ein Verletzter, dem mutmaßlich Szenen aus seinem bisherigen Leben durch den Kopf gehen. An dieser Stelle – etwa auf der Hälfte des Films – normalisiert sich die Erzählung: Pierre wird ins Krankenhaus gefahren, man sieht seine Gegenwart als Verletzter auf der Wiese, auf der Bahre der Rettungssanitäter, im Krankenwagen, im Krankenhaus, im OP. Dazwischen sieht man Szenen, die wie Rückblenden wirken, tatsächlich aber halluzinative Synthesen darstellen: Hélène im roten Kleid reicht Pierre einen angebissenen Apfel, vier Menschen in gelben Regenjacken segeln, eine Hochzeitsszene mit Hélène, Freunden, Familie sowie Zeugen des Unfalls und schließlich eine Segelbootfahrt auf dem Atlantik mit seiner Familie und seinem Freund, bei der er über Bord geht und langsam im Ozean versinkt, während das Boot sich entfernt. Abbildung 5: Standbild aus »Les choses de la vie«.

Die zweite Filmhälfte könnte also – mit etwas gutem Willen – so zusammengefasst werden, wie die Autoren des Wikipedia-Artikels es versuchen. Die erste Filmhälfte erfasst diese Inhaltsangabe jedoch nicht. Sie erzählt keineswegs aus der Perspektive des Sterbenden, sondern 15 | Zum Vergleich der Anfang einer weiteren Inhaltsangabe: »Am Anfang von ›Die Dinge des Lebens‹ steht ein Autounfall. Der Pariser Architekt Pierre (Michel Piccoli) ist schwer verletzt. Man bringt ihn ins Krankenhaus. Immer wieder verliert er das Bewusstsein. In diesem Dämmerzustand spielt sich Pierres bisheriges Leben vor seinem inneren Auge ab.« (Schmid 2006)

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inszeniert einen ganz eigenen Chronotopos aus Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in tableauartigen, fragmentierten Bildern, die sich kaum zu einem ganzen Leben zusammenfügen lassen. Abbildung 6: Standbild aus »Les choses de la vie«.

Der Film beginnt mit dem Bild eines zwischen schmutzig-grünen, abgeknickten Getreidehalmen liegenden Autoreifens, über den sich augenscheinlich zwei Kinder beugen (vgl. Abbildung 5). Man hört ihre Stimmen – »Sieh’ mal, das Rad!« –, im Bild sieht man nur zwei dünne, rotbestrumpfte Beine. Schnitt. Nunmehr zeigt das Bild die oberen Körperhälften von zwei etwa zehnjährigen Jungen, einer im verwaschenweißen, einer im dunkelblauen Pullover, die sich umdrehen, um dem Ruf ihrer Mütter zu folgen. Aus den Pullovern gucken himmelblaue Hemden; über den Jungen erstreckt sich ein Himmel, der weißlich bis kräftig hellblau gefärbt ist. Die Gerste und der Baum im Hintergrund sind in bräunlichen Grüntönen abschattiert. Schnitt: Totale (vgl. Abbildung 6). Wir sehen eine große dunkle Grünfläche, die aus Getreidefeld und Kartoffelacker besteht. Am linken Bildrand setzt sie sich in einer Obstwiese – im Grün der Bäume leuchten rote Äpfel – fort. Die Obstwiese ist von Feld und Acker durch eine Straße getrennt, auf der dicht an dicht, leicht ineinander verkeilt Autos in den Farben rot, blau und weiß stehen. Am Rand des Kartoffelackers stehen zwei Frauen, vermutlich die Mütter der Jungen, die ihre Kinder heranwinken – die eine in den Farben rot und grün, die andere in blau und rot gekleidet. Zwei Drittel der Bildfläche werden von dieser Szenerie eingenom-

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men. Darüber wölbt sich ein wolkenloser, hellblauer Himmel. Schon die ersten Sekunden dieses Films zeigen eine sorgsame Farbkomposition. Der Film wird all seine Bilder mit dieser so reduzierten wie in den Schattierungen zurückhaltenden, hin und wieder um etwas Gelb ergänzten Farbpalette äußerst harmonisch und mit höchster minimalistischer Eleganz orchestrieren. Dieses Farbregime – gedeckte Grundfarben mit wenigen, angepassten Mischtönen – ist ein Hinweis auf die konzentrierte Künstlichkeit und Strenge, mit der Sautet und sein Team vorgehen. Nichts, aber auch gar nichts in diesem Film scheint dem Zufall überlassen: Jedes Stück ist an seinem Ort, ein Feld ausbalancierter Kräfte, das ganz im Gegensatz zu dem zentralen Ereignis des Films, dem Unfall, zu stehen scheint. Ein Unfall ist doch gerade das unregulierbare, unvorhersehbare, nicht organisierbare Ereignis: die Zerstörung einer Ordnung, nicht ihr Erhalt. Der Film organisiert seinen diegetischen Raum also im höchstmöglichen Kontrast von Inhalt und Form. Mönchische Strenge der Form – modernistische Avantgarde pur – und regelloses Durchbrechen der Formgesetze auf der Ebene der Erzählung – die Katastrophe als Zusammenbruch jeglicher Kontrollmöglichkeit: »Der konnte überhaupt nichts machen.«16 Bereits die Wahl des Unfallwagens, ein silbermetallic lackierter Alfa Romeo Giulietta Sprint, artikuliert diese Spannung: höchste automobile Eleganz und deren radikale Zerstörung zum ausgebrannten, grotesk verformten Karosserieskelett im Unfall. Daß der berühmte Ziegel sich lockerte, und daß der berüchtigte Mann vorbei kam, trug sich [. . .] ganz gewiß mit Gesetz und Notwendigkeit zu; daß aber beides just zur selben Zeit geschah, tat es nicht, wenn man nicht an den lieben Gott glaubt oder an das Walten einer noch höheren Vernunft in der Geschichte. Weshalb man die Unglücksfälle zwar aus Gott oder einer Ordnung ableiten kann, aber nicht Gott oder die Ordnung aus den Unglücksfällen.17 Die künstlerische Darstellung eines Unfalls muss natürlich immer für die erste Option – Herleitung des Unfalls aus göttlicher agency – votieren: 18 Tage lang erarbeitet das Team Claude Sautets diesen Unfall, eine unerhört lange Drehzeit, die nochmals verdeutlicht, dass der Regisseur tatsächlich im Sinn hatte, diesen Film zu drehen, um einen Unfall zu zeigen oder, wie man vielleicht vermuten darf, zu demonstrieren, wie man einen Unfall filmisch darstellt.18 Aus der Ordnung 16 | Sautet 1969. 17 | Musil 1922/1978: 1077. 18 | Vgl. Anonymus 2006.

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des Drehbuchs und dem Formwillen des Filmteams heraus entsteht der Unfall als höchst reguläres, mehr noch absolut formschönes, ästhetisches Ereignis. Der Unfall durchbricht die Ordnung. Er erscheint nicht nur als extreme Herausforderung der Balance des Formganzen, sondern ist auch der Versuch, den klaustrophobischen Raum der Diegese aufzureißen und zu durchbrechen. Aber statt ihn zu durchbrechen, schließt er ihn ab: Der Unfall sichert die formale und inhaltliche Geschlossenheit von »Les choses de la vie«. Das irreguläre Ereignis ist sogar die Bedingung für die Abschließbarkeit des erzählten Raums. Pierre hat sich von seiner Frau Catherine, mit der er einen inzwischen erwachsenen Sohn hat, getrennt, um mit Hélène zusammenzuleben. Dennoch bleibt Pierre fixiert auf das vergangene Leben. Er ist bereits tot, bevor der Film überhaupt beginnt – der Unfall signiert diesen Zustand nur noch. Während Hélène sich auf einen Neuanfang mit Pierre in Tunesien freut, wo dieser sich an einer Ausschreibung für ein dreijähriges Bauvorhaben beteiligt hat, zögert Pierre selbst die Reise zur Projektpräsentation hinaus. Hélène hat bereits alle Einreiseformalitäten erledigt, Pierre verweigert seine Unterschrift unter die nötigen Papiere. Schließlich verschiebt er den Termin noch durch seine Entscheidung, mit Catherine und seinem Sohn zwei Wochen lang auf der Île de Ré, dem alten Urlaubsdomizil der Familie zu verbringen, und meint, der Bauherr müsse seine Abwesenheit beim fest geplanten Präsentationstermin nachsehen. Der Unfall ereignet sich just in dem Moment, als Pierre versucht, die selbstgewählte Totenstarre seines Lebens in der Vergangenheit zu durchbrechen, Hélène zu heiraten und mit ihr, Bauvorhaben hin oder her, nach Tunesien zu gehen. Pierre trifft diese Entscheidung im Auto, tritt voller Begeisterung das Gaspedal auf einer engen Landstraße durch und fährt mit voller Wucht gegen zwei Lastwagen, die eine kleine Kreuzung blockieren, weil dem einen von ihnen der Motor versagte. Man kann den Unfall – Pierre tritt erst sehr spät auf die Bremse – durchaus als Selbstmord oder wenigstens die billigende Inkaufnahme eines solchen deuten. Es ist die letzte Möglichkeit, doch nicht mit der Vergangenheit zu brechen und gewissermaßen nicht selbst die Schuld dafür zu tragen, bzw. es ist eben jener krisenhafte Moment, in dem eine glückliche Wendung oder Wandlung genauso wahrscheinlich ist wie ein katastrophischer Bruch mit allem Vorangegangenen. Der Unfall ereignet sich, die Erstarrung Pierres wird nicht aufgehoben, sondern final ratifiziert. Man könnte deshalb sagen: Ohne Unfall wäre die formale Strenge und Geschlossenheit dieser Erzählung gar nicht zu erreichen gewesen. Der Unfall liegt in der Logik der Erzählung; er ist ihre regelhafte Folge, nicht ihre irreguläre Unterbrechung. Er ist die

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einzige Lösung für Pierre, aus seiner Situation auszubrechen, ohne sie zu verlassen. Er ist die einzige Möglichkeit, eine Entscheidung zu fällen, ohne selbst an ihr beteiligt zu sein. Deshalb könnte man Musils Doppelbestimmung des Unfalls als Ereignis, das aus einer Ordnung heraus erklärt werden kann, von dem her sich aber keine Ordnung rekonstruieren lässt, als genaue Bestimmung des Unfalls im Zentrum von »Les choses de la vie« deuten. Abbildung 7: Standbild aus »Les choses de la vie«.

Die Logik der Erzählung verlangt dieses Ereignis, die Psychologik von Pierres perspektivlosem, vergangenheitsfixiertem Leben erfordert es, und der Regisseur hat es mit seinem Team minutiös geplant und in Szene gesetzt. Nichts, aber auch gar nichts ist zufällig an diesem Unfall. Und dennoch sucht sich Pierre die Situation ja nicht aus: Sie fällt ihm zu. Auf der Mikroebene des Sich-Ereignens ist der Unfall so irregulär, so unvorhersehbar, so ungewollt wie jeder andere Unfall auch. Die Erzählung bindet viele unvorhersehbare Ereignisse zu einer notwendigen Katastrophe aneinander: Gleich zwei Lastwagen kommen zur selben Zeit an eben dieser Kreuzung zweier sehr enger Landstraßen an. Einem Lastwagen geht just in dem Moment der Motor aus, als er auf die Kreuzung fährt. Pierre rast genau in diesem Augenblick auf die verstopfte Kreuzung zu und, wie es der Zufall oder der Gott dieser Erzählung will, hat er gerade zuvor seine Erstarrung in einer Entscheidung für Gegenwart und Zukunft und gegen die Vergangenheit überwunden und fährt deshalb mit überhöhter Geschwindigkeit.

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Es ist unmöglich, diesen Knoten von Ereignisketten mit ihren je eigenen zufälligen, i. e. unvorhersehbaren Wendungen für antizipierbar, notwendig, unabdingbar zu erklären. Wie aber soll man in diesem kunstvoll notwendig-zufälligen Ereignis den Verweis auf ein echtes Außen verstehen? Wo genau sitzt in dieser Konstruktion der Stuntman, der so deutlich, so überdeutlich im Bild sitzt, dass kein erfahrener Filmemacher seine Existenz einfach übersehen haben kann? Oder sollte man hier von einem wirklichen Unfall ausgehen, einem dummen, vermeidbaren Fehler? Wohl kaum. Gleichzeitig würde es aber die Interpretation überfordern, von einer echten Notwendigkeit zu sprechen, indem man etwa annähme, Sautet habe ganz bewusst den Stuntman zeigen wollen. Nein, die Unvermeidbarkeit dieses Bildes kann wiederum nur aus den Produktionsbedingungen gedeutet werden. Hier wird ein echter Unfall echt gefälscht, d. h. künstlich produziert, aber in einer außerfilmischen Realität. Ein weiteres Moment verweist auf die Gemachtheit des Unfalls: die unmögliche Kameraposition der Einstellung, die aus dem Inneren des Wagens heraus zeigt, wie Pierre sich überschlägt. Abbildung 7 zeigt die vollständige Lenkstange, die eigentlich hinter dem Armaturenbrett verborgen sein müsste. Am unteren Ende der Lenkstange kann man sogar noch die Verschraubung erahnen, mit der sie nunmehr neu befestigt wurde. Es ist davon auszugehen, dass die Nahaufnahmen der Fahrerkabine des sich überschlagenden Wagens Trickaufnahmen sind. Denn der deutlich zu erkennende Michel Piccoli saß mit absoluter Sicherheit nicht in dem Wagen, der sich tatsächlich überschlug – anderenfalls hätte man keinen Stuntman in Schutzkleidung benötigt (vgl. Abbildung 8). Wahrscheinlich handelt es sich um einen Wagen, dem die Motorhaube abgesägt wurde und der in einem Gestell hing, worin er sich drehen ließ. Auf diese Weise erklärte sich die vollständig sichtbare Lenkstange ebenso wie der im sich überschlagenden Wagen sitzende Schauspieler. Wenn also die Momente der Sichtbarkeit des Herstellungsprozesses dem geschulten Auge nicht entgehen können, warum hat Claude Sautet sie dann im Film belassen? Erfüllen sie eine Funktion oder sind sie bloße Fehler, Ungeschicklichkeiten, die sich nicht vermeiden ließen, weil keine anderen tricktechnischen Verfahren verfügbar waren? Ich kann diese Fragen auf keine andere Weise als mit der Annahme einer bewussten Entscheidung Sautets für den Fehler, für ein Zuviel an Sichtbarkeit und somit für die Sichtbarkeit des per definitionem Unsichtbaren beantworten. Sautet sieht die Fehler und entscheidet sich – ganz offensichtlich – für die Aufnahmen. Geht man von einer solchen Entscheidung aus, sind auch diese Bilder keine outtakes mehr, die in

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den Film hineingeraten sind. Sie sind integrale Bestandteile des Werkes – ganz bewusst verwende ich an dieser Stelle diesen in Misskredit geratenen Begriff. Er steht für jene Schließung, die die offenen Kunstwerke nicht erst, aber vorzüglich seit der klassischen Moderne bis in unsere Gegenwart hinein zu vermeiden suchen. Abbildung 8: Standbild aus »Les choses de la vie«.

Hier wäre also jener Konservativismus zu finden, den Frankreichs Kritiker Sautet vorwarfen, als die jungen Wilden des französischen Films sich mit neuen Vagheiten auseinanderzusetzen begannen. Es geht um einen Schluss, eine radikale Form der Schließung, die nicht trotz, sondern im Angesicht von (post)moderner Offenheit und Unbegrenzbarkeit gewagt wird. Jeder Zufall – so bestimmten es bereits die deutschen Frühromantiker, und so radikalisierte es die Informationsästhetik Max Benses der 1960er Jahre – kann zum Anfang eines Kunstwerks werden. Jeder Anfang ist einfach, jeder Schluss aber schwierig und jeder Abschluss unmöglich. »How proceed? By aporia pure and simple?«, so der Großmeister des (modernen) Endes, Samuel Beckett, bei dem unmöglichen Versuch, einen Anfang zu finden.19 Reine Aporie – reiner Innenraum ohne Außen, Bilder ohne Referenz, aber, genau wie bei Beckett – Can it be that one day, off it goes on, that one day I simply stayed in, in where, instead of going out, in the old way, 19 | Beckett 1952/1976: 267.

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out to spend day and night as far away as possible, it wasn’t far.20 – mit dem Drang auf Referenz hin, mit der Sehnsucht, das stahlharte Gehäuse artifizieller Sichtbarkeit zu durchstoßen auf eine Wahrheit, die außerhalb liegt, nur außerhalb liegen kann. Abbildung 9: Standbild aus »Les choses de la vie«.

Sehen wir uns den Anfang des Films noch einmal genauer an. Zuerst kommt ein kleines Intro, weiße Schrift auf dunkelblauem Grund; Bläser, Klavier und eine dumpfe Trommel geben kurze, staccatoartige Impulse, die jäh abbrechen. Ein sich langsam ausbreitender Klangteppich aus Streichern untermalt das allererste Filmbild (vgl. Abbildung 9): Ein Autoreifen mit Felge, in deren Mitte Gras und Schlamm stecken, liegt in einer Pfütze auf einem Getreidefeld. Umgeknickte Halme weisen aus dem Bild heraus bzw. in das Bild hinein – schwer zu entscheiden. Auf jeden Fall liegt der Reifen auf einem Trampelpfad, inmitten einer Verweisspur, die das Bild auf sein Jenseits hin öffnet: die Welt, die wir nicht sehen. Der Reifen sieht schmutzig aus und glänzt regenfeucht – möglicherweise hat er selbst diese Spur durch das Getreide ins Bild hinein gebahnt. Das erste deiktische Zeichen bleibt ambivalent. Auch der Reifen selbst verweist ja auf das Auto, dem er fehlt. »Sieh’ mal! Sieh’ mal, das Rad!« unterbricht eine Jungenstimme den abstrakten Klangraum aus dem Off – eine weitere deiktische Ges20 | Ebd.

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te: da, sieh’. Eine Aufforderung auch an den Zuschauenden, der auf etwas verwiesen wird, das er ohnehin sieht: ein Rad. Die Rede erklärt nichts, zeigt nichts als das, was fraglos bekannt ist. Abbildung 10: Standbild aus »Les choses de la vie«.

Über dem aus umgeknickten Halmen gebildeten Weg kommen signalartig vier rotbestrumpfte Beine ins Bild: Der Pfad erhält eine Richtung ins Bild hinein, nicht heraus (die Jungen werden das Bild nicht auf diesem Weg, nicht in dieser Weise verlassen, vgl. Abbildung 10). Die Jungenbeine sind noch nicht zum Stillstand gekommen, da reißt wiederum eine Stimme, diesmal die einer erwachsenen Frau, den filmischen Raum auf, verweist auf ein Unsichtbares jenseits dieses Raums: »Jean-Pierre!« Eine zweite Frauenstimme mischt sich ein, ein zweiter Jungenname, schlecht verständlich unter den laut anschwellenden Streicherklängen. Dreimal verweist dieser Raum auf ein Außen, ein Jenseits des Rahmens. Und dennoch bleibt das Bild ganz bei sich, was vornehmlich mit der Kameraperspektive zu tun hat. Das Rad ist vom Boden aus gefilmt, ein merkwürdiger Blickwinkel. Wer sieht dieses Rad? Wer sieht es so? In wessen Rolle befinden wir uns, wenn wir das Rad vom Boden aus sehen? Sehr viel später im Film werden diese Fragen beantwortet: Es ist der Blick des Schwerverletzten. Er blickt aus kaum geöffneten Augenlidern vom Boden aus. Pierre schaut exakt aus jener Perspektive, die den Film eröffnet. Und doch sieht er nicht das. Wir sehen wie er, aber nicht, was er sieht. Abbildung 11 zeigt einen Filmstill aus dem Blickwinkel des schwerver-

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letzten Pierre: An der Stelle von Jungenbeinen erblickt er zwei Männerbeine in schwarzen Hosen mit schwarzen, blank polierten Schuhen an den Füßen. Das Rot der Kniestrümpfe ist vom noch leuchtenderen Rot der Klatschmohnblüten ersetzt worden. Das Rad kann Pierre nicht sehen – es liegt auf der anderen Seite der Straße. Mehrfach wurde gezeigt, wie es herübergerollt ist. Pierre liegt unter den Apfelbäumen – das Getreidefeld ist auf der gegenüberliegenden Straßenseite. Der Film beginnt also mit einem unmöglichen Blick: Wir schauen durch die Augen eines Unfallopfers, das jedoch nicht dort liegt, von wo aus wir sehen. Das Filmbild wird von keinem menschlichen Auge gesehen. Ohne aufdringlich zu werden, zeigt uns Sautet einen toten Blick, den Blick der Kamera. Die Jungen springen auf, laufen zu ihren Müttern: Eine Totale etabliert die Szenerie. Diese wird aber nur geöffnet aufgrund der Rufe von außen. Die beiden Jungen werden zu Wegführern in die Bildwelt und die Geschichte des Films: »Sieh’ mal!« Doch was erkennen wir eigentlich? Wir sehen, können uns aber kein Bild der Situation machen. Die Kamera fährt nah heran an die Szene, die aus der Totale vergleichsweise ruhig und statisch gewirkt hatte, und offenbart einen chaotischen Mikrokosmos. Man nimmt Menschengruppen halbnah und stets zum Teil verdeckt von vorbeifahrenden Autos und vorbeilaufenden Leuten wahr. Man hört Gesprächsfetzen, und langsam setzt sich eine Geschichte zusammen, die Geschichte eines Unfalls. Der Unfall ereignet sich in »Les choses de la vie« also zunächst diskursiv, geht aus dem Gerede von Schaulustigen hervor, die als Stellvertreter des Kinobesuchers aufgefasst werden können: Genauso unwissend wie dieser, fragen sie nach einem Ereignis, das sich sukzessive aus den Meinungen der Umstehenden zusammensetzt: »Den hat’s aber erwischt. Guck Dir den Wagen an.« »Waren da viele drin? – Nein, soll nur einer dringewesen sein.« »Ist der Mann tot? – Nein, nein, er ist nur bewusstlos. – Da hat er Glück gehabt.« »Er soll nicht tot sein.« »Gehen Sie bitte weiter.« Was die Zuschauenden sehen, zeigt uns der Film allerdings nicht. Ex post wird das bereits Gesehene, das wagenlose Rad, zum Teil eines Geschehens, obwohl ein kausaler Zusammenhang noch längst nicht etabliert ist. Der Trampelpfad aus umgeknickten Getreidehalmen wird zum roten Faden einer Geschichte, die wir noch nicht kennen. Das Rad vertritt synekdochisch ein Ereignis, das nicht ins Bild rückt, nicht ins Bild rücken kann: Es ist längst schon geschehen. Unfälle sind immer schon geschehen; ihre Zeitlichkeit ist, wie bei allen anderen Formen der Störung auch, die Nachträglichkeit. Wir sehen nur die Beobachter, ihre Ratlosigkeit, hören ihre Versuche, das Ereig-

»Immer Erklärungen. Sprechen. Das muss aufhören!« | 287 Abbildung 11: Standbild aus »Les choses de la vie«.

nis zu rekonstruieren. Sie recken ihre Hälse, aufgerissene Augen allenthalben, mal mehr, mal weniger interessiert. Schließlich spricht einer, der mehr zu wissen scheint, ein Mann mit unordentlichem, grau meliertem Vollbart und zerzausten Haaren, ein Beteiligter: Ich denke, ich komm’ da noch rüber. Da bleibt der Motor weg. Scheiße. Ich starte – nichts zu machen. Weil ich plötzlich stand, sagte er sich, dann fahr’ ich weiter, wenn der nicht will, hmm? Aber da kommt der angeprescht. Er also auf die Bremse, aber er fuhr mindestens hundert Sachen, und da rutscht er ab und kommt ins Schleudern. Da war’s auch schon passiert. Ich seh’ noch, wie der in mich reinrauscht. Aber dann im letzten Moment, er war noch zehn Meter von mir weg, da fängt er sich wieder und flutscht an mir lang. Ich sage noch, Mensch, meine Fresse, und peng erwischt er mich am Arsch. Und dann war er – Das Geschehen, dem der Film später eine Realzeit von wenigen Sekunden einräumen wird, wird im Nachhinein in eine Serie mikroskopischer Handlungen aufgelöst. Der Berichterstatter, dem der Unfall als in jeder Hinsicht passivem Opfer widerfährt, macht sich selbst zum Zentrum der Handlung: Ich denke, ich starte, ich stand, ich seh’ noch, ich sage noch. Dem Geschehen wird eine andere Dauer zugewiesen, als es in Realzeit hat. Dadurch eröffnet sich ein Spielraum für erzählerische

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Dramaturgie, den der Vollbärtige auch ausgiebig nutzt. Die Erzählzeit dehnt die Momente der Gefahr dramatisch aus, verzögert das zentrale Ereignis, das sich seiner Erzählbarkeit entzieht: »Da war’s auch schon passiert. [. . .] Und dann war er –« Zweimal nähert sich der Erzähler dem Ereignis, zweimal ist es schon geschehen, bevor der Bericht es einholen kann. Ein genaues Bild können wir uns immer noch nicht machen – aber wir ahnen, was die Erzählung nicht fassen kann. Die stotternden Geschichten von bloßen Zaungästen und dem am Unfall beteiligten Fahrer weisen auf ein massives Defizit der Sprache hin: Sie ist einfach zu langsam – Präsentisches wie ein Unfall entzieht sich ihr. »Ich liebe Filme, die ohne Dialoge auskommen.«21 Zeigt Sautet also dem Diskurs eine lange Nase? Ist diese Unfallerzählung ein Manifest für das bewegte Bild und gegen die Sprache? Für eine Ästhetik des reinen Ereignisses, ein kinetisches Actionkino? Ein zweiter Erzähler mischt sich ein, offenbar der Beteiligte, den der erste bereits erwähnt hatte: »Und dann passierte es eben. Er dreht sich um sich selbst, knallt mir in die Seite und dann ab in den Graben mit ihm. Gleich mit zwei Rädern. Der konnte überhaupt nichts machen. Er überschlägt sich ’n paarmal und dann rein in ’nen Baum.« Die Erzählung beginnt in der Vergangenheit und wechselt dann ins erzählerische Präsens. In parataktischem Staccato zählt sie die Bewegungen des Unfallwagens auf. Der Spannungsbogen des ersten Erzählers löst sich in eine reine Liste auf: dreht, knallt und dann ab; überschlägt sich und dann rein. Der zweite Erzähler übernimmt auch nicht die Position eines handelnden Subjekts wie der erste, sondern betont das Gesetzförmige, Unabänderliche des Handlungsverlaufs: in den Graben, in ’nen Baum. Der Alfa-Fahrer erscheint in der ersten Darstellung wie ein Könner – »Mensch, meine Fresse« –, der Pech hat: »peng!« In der zweiten Erzählung wird er zum bloßen Spielball eines Unfallgeschehens, das er nicht beeinflussen kann. Erzählung eins und zwei gehen also nicht auseinander hervor, sondern setzen ganz unterschiedliche Akzente.22 Eine Polizeisirene unterbricht die Unfallberichte: Von rechts fahren zwei Polizisten auf Motorrädern ins Bild hinein, steigen ab und bewegen sich, Zuschauende beiseite schiebend, auf den verunfallten Wagen zu. Jetzt gerät er erstmals ins Bild. Wie zu Beginn die beiden Jungen, führen uns nunmehr zwei Polizisten in den Raum und öffnen eine 21 | Sautet in: Binh 2003. 22 | »Kriminologen sind sehr vorsichtig bei Augenzeugenberichten. Beobachten verschiedene Zeugen dasselbe Ereignis, so bestehen oft große Unterschiede in dessen Wahrnehmung. Der zeitliche Ablauf kann sehr unterschiedlich erlebt werden. Je nach der individuellen Rolle des Zeugen (je nach Kontext) werden andere Dinge als wichtig empfunden und auch in der zeitlichen Reihenfolge unterschiedlich bewertet.« (Deussen 2007: 25)

»Immer Erklärungen. Sprechen. Das muss aufhören!« | 289 Abbildung 12: Standbild aus »Les choses de la vie«.

neue Perspektive. Wir sehen ein brennendes Autowrack vor einem Apfelbaum, ein Fotograf hält die Szene fest. Unter plötzlich erklingenden Streicherakkorden mit melodieführendem Klavier darüber friert das Bild im Moment des zwar leise, aber deutlich hörbaren Klickens des Fotoapparats zum Standbild ein. Weiße Schrift erscheint: »Michel Piccoli/Romy Schneider/dans« (vgl. Abbildung 12). Die Namenszüge rahmen den stehenden Fotografen ein und heben ihn dadurch noch deutlicher hervor. Im Film geschieht, was der Fotograf macht, und der Fotograf zeigt, was der Film gerade vorführt: ein Foto der Szene erstellen. Das Standbild mit den Namen der beiden zentralen Stars weist deutlich selbstreflexiv auf den Status dessen hin, was wir im Folgenden sehen werden: einen Spielfilm. Gleichzeitig macht sich das Bild im Übergang vom Bewegtbild zum Standbild zur Schreibfläche, zu dem Ort, auf dem Text erscheinen kann. Noch einmal spielt Sautet Sprache und Bild, genauer Schrift und Bild gegeneinander aus: Das bewegte Bild, das Gegenwart als solche aufzeichnen kann, steht gegen die Schrift, die dieser Gegenwart immer hinterhereilen muss. Gleichzeitig wird der Film durch die Schauspielernamen nicht als Dokumentation, sondern als Spielfilm angekündigt – es geht also doch nicht um Präsenz, sondern um nachträgliche Rekonstruktion; um eine Spielhandlung, nicht um die Aufzeichnung von Ereignisse. Die Momentaufnahme des brennenden Autos fällt also aus dem diegetischen Raum heraus und kommentiert ihn. Die Namenszüge laufen

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in die Flammen hinein: »Michel Piccoli/Romy Schneider/dans« . . . le feu oder l’accident oder auch l’enfer, könnte man ergänzen. Das typographisch kleiner als die Namen gesetzte, an den rechten unteren Bildrand gerückte »dans« holt die beiden noch abwesenden Darsteller in den Bildraum hinein, gibt schon so etwas wie eine Vorankündigung dessen, was da geschehen sein wird: Denn alles, was der Film jetzt noch zeigen kann, geschieht im Futurum exactum. Konsequenterweise bleibt der Film an dieser Stelle, beim brennenden Auto, auch stehen, um von diesem Moment an rückwärts zu laufen. Woran der Diskurs bereits gescheitert ist, nämlich den Unfall in die Präsenz, ins Präsens zu holen, daran muss auch der Film scheitern. Das Bild vor aller Rede zeigte nur ein Indiz, ein von einem Wagen abgefallenes Rad. Die Rede versucht das, was sich ereignet hat, einzuholen, ohne es ins Bild setzen zu können. Das Filmbild dieses Unfalls wiederum läuft – buchstäblich – der Rede hinterher und selbstverständlich auch dem Ereignis. Die These, Sautet votiere für eine Ästhetik kinetischer Präsenz kann also verworfen werden. Am Anfang der Bilder steht das Ende: ein orangegelb loderndes Flammenmeer – die Erzählung ist beendet, bevor sie begonnen hat; klick: Der Film hält an. Und dann ereignet sich ein Wunder, das beim ersten Anschauen so überrascht, das man einen Moment lang braucht, um es zu verstehen: Der Film läuft weiter, aber eben in die einzige Richtung, in die er sich jetzt noch erstrecken kann – in die Vergangenheit. Der Film läuft rückwärts. Die Flammen ziehen sich in das Auto zurück, das Auto prallt vom Baum ab nach hinten, fliegt, sich ruckartig zusammenfügend, rückwärts durch die Luft und dann, erst dann, sehen wir Michel Piccoli, verzweifelt am Lenkrad drehend. »Les choses de la vie«: Der Titel erscheint in der Richtung, in der die Lebensdinge aus Sicht dieses Films liegen: in der Vergangenheit. Auch wenn der Zuschauer dies erst nach mehrfachem Betrachten des Films erkennen kann: Schon der Eingangstitel zeigt die Handlung in nuce, zwei Menschen am Ende, inmitten einer Katastrophe. Und genau deshalb kann das, was vor dieser Katastrophe in einem Jenseits liegt, das die Filmhandlung gewesen sein wird, nur im Zurückspulen vorgeführt werden. Dies ist ein spezifisch und ausschließlich filmischer Ausdrucksmodus. Ex negativo zeigt Robert Musil, dass sich der simple Filmtrick des Zurückspulens literarisch nicht nachahmen lässt: Ein grüner Jäger schießt im grünen Wald den braunen Hirsch. Versuchen wir, das rückgängig zu machen. Die Kugel fuhr aus dem Gewehr, der Blitz folgte, der Donner kam nach, der Hirsch brach ein, fiel zur Seite, sein Geweih

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prallte auf, dann lag er da. Rückfahrt: Der Hirsch richtet sich auf – aber er dürfte nicht aufstehen, sondern müßte in die Höhe ›fallen‹, sein Geweih müßte zuvor einen Spiegeltanz der Bewegungen des Aufprallens ausführen, und er müßte mit der Endgeschwindigkeit beginnen, aber mit der Anfangsgeschwindigkeit enden. Die Kugel müßte mit dem breiten Ende voran zurückfliegen, die Pulvergase müßten sich mit einem Knall in fester Form niederschlagen, und so weiter. Um auch nur einen Schritt davon zurückzunehmen, genügte nicht das Rückgängigmachen des Geschehenen, sondern man müßte dazu die umfänglichsten Vollmachten zum Umbau der gesamten Welt haben. Die Schwerkraft müßte nach aufwärts wirken, in der Luft müßte eine Vertikalebene aus Erde sein, die Ballistik müßte sich in einer ganz unausdenkbaren Weise ändern, kurz, wenn man eine Melodie von hinten nach vorn spielt, so ist es keine Melodie mehr, und man müßte Zeit und Raum erschüttern, damit das anders würde. In Wahrheit muß, um auch nur einen erschossenen Hirsch wieder auf die Beine zu bringen, etwas ganz Neues geschehn, nicht bloß eine Umkehrung und Wiedergutmachung!23 Erzählen lässt sich in umgekehrter Reihenfolge nicht einmal filmisch – es bleibt nur der rein mechanische Akt des Zurückspulens: Filme wie Christopher Nolans »Memento«, die den Versuch machen, ihre Handlung rückwärts zu erzählen, verfangen sich in einem Spiel aus Rückblenden, die dann aber die zurückliegende Handlung vorwärts zeigen müssen und sich, wie die Echternacher Springprozession, ständig vor und zurück bewegen. Das Verfahren funktioniert also nur sprungweise und partiell. Sautet hingegen filmt vorwärts und spult sichtbar zurück. In die zurücklaufenden Bilder hinein kopiert Sautet die Credits – Schauspieler, Drehbuch, Regie, Musik etc. – wiederum ein Verweis auf das Außerfilmische: Das alles musste vorher geschehen, bevor eine einzige Szene gezeigt, ja, gedreht werden konnte. Der rückwärts laufende Film verweist sowohl in die Vergangenheit der Diegese, i. e. die Vergangenheit der handelnden Personen, als auch in die Vergangenheit des Films selbst, in seine Produktion. Vielleicht war es Sautet deshalb möglich, den Unfall einer Sichtbarkeit von Produktionsbedingungen, den Stuntman, im Bild zu belassen: als weise die Produktion zurück in den Film und als stärke die Anwesenheit des innerdiegetisch prinzipiell Abwesenden den Eindruck der 23 | Musil 1922/1978: 1078.

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Geschlossenheit der Filmhandlung. Wenn gerade im Unfall höchste Willkür, der Stunt, die Inszenierung, sichtbar wird, also Zufall als Willkür erscheint, wiederholt der Film formal, was am Psychogramm seiner Hauptfigur bereits gezeigt wurde: ein Selbstmord, der keiner ist und sein soll; eine Entscheidung, die keine Folgen haben darf und kann; eine Wendung, die nichts verändert und ein Unfall, der eben nur ein Trick ist. Der Stuntman gehört zu jenen Psychopompoi, die den Zuschauer ins Bild, in die hermetisch verschlossene Diegese hineinführen. Ein Indiz für die Richtigkeit dieser These ist die Bildauswahl für die Unfallszene, in der der Stuntman in der Filmmitte erscheint: Niemand ist zu sehen, der nicht zu sehen sein soll. Sautet muss diese Bilder nicht zeigen. Der zurückgespulte Film endet mit einer Schwarzblende. Das Auto bleibt stehen, die Lichter gehen aus, Nacht. Das nächste Bild manipuliert sanft den Zeitsinn des Zuschauenden: Es wird Tag. Der Alfa Romeo steht unbeschädigt dort, wo er im letzten Filmbild stehen gelassen wurde und doch hat sich ein Zeitsprung von etwa 12 Stunden ereignet. Diese Verwirrung wird vorbereitet durch eine Einstellung, in der man Pierre während des Rückwärtsspulens durch die Windschutzscheibe hinter dem Lenkrad sieht und das Gefühl hat, er fahre vorwärts in seine Vergangenheit, die er, recht besehen, nie verlassen hat. Der Eindruck, Pierre käme tatsächlich in dieser Vergangenheit an, wird durch die ausgehenden Scheinwerfer des Wagens erzeugt. Doch der Wagen wurde nicht geparkt, die Scheinwerfer – so erfährt man später – nicht ausgeschaltet. Pierre brachte Hélène nach einer Party bei ihren Eltern in ihre eigene Wohnung zurück und fuhr sofort weiter nach Rennes. Der zurückgespulte Film kommt nicht dort an, wo die zurückgespulte Handlung beginnt. Das nächste Bild zeigt den Tagesbeginn, noch einmal etwa 12 Stunden zuvor. Die Kamera fährt die Fassade eines Hochhauses hinauf, hinein in ein Schlafzimmer, dessen Jalousien heruntergelassen sind. Man sieht Pierre und Hélène nebeneinander auf dem Bauch im Bett liegen. Ist alles, was man bislang gesehen hat, nur ein Traum gewesen? Hat der Unfall gar nicht stattgefunden? Bereits in der elften Filmminute sind aber die Unfallbilder wieder da. Sie kehren wieder in der 17. und in der 30. Filmminute. Kaum fünf Minuten später ist der Film dann wieder vor Hélènes Haustür angekommen, wo die rückgespulte Fahrt des Anfangs endete. »Warum fährst du nicht ran? Willst du den Wagen mitten auf der Straße stehen lassen? – Ich fahr’ nach Rennes.« Die letzte Fahrt beginnt. Diesmal von vorn in die Zukunft hinein – eine bereits gewesene, bereits verspielte Zukunft. Es gibt keine Aussicht auf Rettung, was die

»Immer Erklärungen. Sprechen. Das muss aufhören!« | 293 Abbildung 13: Standbild aus »Les choses de la vie«.

Zuschauenden längst wissen. Keine Sekunde lang gibt sich der Film der Illusion hin, es gebe ein Leben jenseits dieser Reise. Die Dinge des Lebens liegen in der Vergangenheit, und genau in diese Vergangenheit reist Pierre – zum zweiten Mal. Riss ihn das erste Mal der zurücklaufende Film in eine Vergangenheit hinein, die nur noch Stillstand war, führt ihn die Fahrt nach Rennes in eine glücklichere Zeit zurück. Das blendende Licht der Scheinwerfer der entgegenkommenden Fahrzeuge wandelt sich in das überweiße Sonnenlicht des Atlantiks vor La Rochelle. Man sieht Pierre mit seiner Familie im Moment ungetrübten Glücks. Und man sieht die Trübung, die Störung der familiären Idylle: die erste Begegnung mit Hélène, die eine Kommode ersteigern will, aber von Pierre scham-, maß- und grundlos überboten wird. Ein brutaler Akt der Bemächtigung, von dessen Gewalt die Großaufnahme von Hélènes schockiertem Gesicht Zeugnis ablegt (vgl. Abbildung 13). Von der Île de Ré, die La Rochelle gegenüberliegt, ist Pierre niemals zurückgekommen. Kaum sind die establishing shots der morgendlichen Szene vorüber – das Paar im Bett, Hélène als Übersetzerin an der Schreibmaschine, an der Wand Zeichnungen, die Pierre als Architekten ausweisen –, fällt die Île de Ré buchstäblich ins Bild. Hélène drängt Pierre, endlich die Papiere für Tunesien zu unterschreiben – »Sonst sitzen wir nämlich noch im Juli hier.« Sie nimmt einen Ordner, möglicherweise den mit den Reiseunterlagen, aus dem Regal, dabei fallen Kontaktabzüge in ihre Hände. Dass es sich bei diesem winzigen

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Unfall um Fotografien eines früheren Familienurlaubs von Pierre handelt, um eine Störung der Gegenwart durch die Vergangenheit, wird uns nur durch Hélènes Fragen deutlich: »Ist das auf der Île de Ré?« Wir können nicht erkennen, was auf den Bildern zu sehen ist: Wie schon der Unfall, entzieht sich auch dieser Ort. »Fährst du mit mir mal dahin? – Sofort, wenn du willst. Wir sind Montag zurück. Pack’ Deine Sachen. – Ich mein’ das nicht ernst. Ich will gar nicht. Ich mag keine Insel, die schon ausgedient hat.« Vielleicht ist es falsch zu behaupten, Pierre sei von der Île de Ré nicht zurückgekommen. Von der Insel sehen wir nur zwei Bilder, kurz vor Schluss des Films – einen klappernden grünen Fensterladen und ein Fahrrad. Die Insel selbst bleibt unsichtbar. Stattdessen werden immer wieder Segelfahrten zwischen den Orten, zwischen der Île de Ré und La Rochelle gezeigt. Und als Pierre im Krankenhaus stirbt, findet Sautet hierfür das Bild des im sommerlichen Atlantik über Bord Gegangenen, der langsam im Meer versinkt. Pierre hat nicht einmal in seinen Erinnerungen einen Ort zu bleiben. Dort, wo er bleibt, kann man nicht sein: in einem großen, stillen Ozean, zwischen zwei erreichbaren Küsten. Abbildung 14: Standbild aus »Les choses de la vie«.

Bevor Pierre zu seiner Fahrt nach Rennes aufbricht, zerreißen Unfallbilder dreimal den Fluss der Erzählung. Das erste Mal (00:11:36) unterbricht Pierres Vater das morgendliche Gespräch des Paars, um von ihm Geld zu leihen. Er kommt auf den geplanten Tunesien-Aufenthalt zu sprechen: »Drei Jahre. Drei Jahre sind ’ne lange Zeit. Dann willst

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du deinen alten Vater also im Stich lassen, ja?« Schnitt – der Dialog wird unterbrochen, zu dunklen Bläserklängen sehen wir in Zeitlupe Pierre den Wegweiser nach La Noue und ein Stoppschild umfahren und auf den stehen gebliebenen Lastwagen zurasen. Die Bewegung wirkt nicht unkontrolliert, sondern eher genau abgezirkelt, vorausberechnet und geplant wie eine komplizierte Choreografie. Die Szene ist in drei Einstellungen gefilmt. Der Wagen beschreibt einen Halbkreis, wir sehen Pierre in Großaufnahme auf uns zukommen oder besser, sich in das Bild hineindrehen, das Gesicht verzerrt, aber noch immer eine Zigarette im Mundwinkel. Dann schließt sich eine Halbtotale an, die das Umfahren der beiden Verkehrsschilder zeigt, woraufhin wieder auf Pierre in Großaufnahme umgeschnitten wird. Er ist frontal zu sehen, nähert sich der Kamera bis zur italienischen Einstellung und dreht sich dann an der Kamera vorbei wieder aus dem Bild heraus. Ein Schnitt führt uns zurück in die Gegenwart. Pierre wird frontal halbnah im Auto gezeigt, wie er eine Zigarettenkippe lässig aus dem Fenster wirft: Fortsetzung oder Unterbrechung der Unfallbewegung? In amerikanischer Einstellung rast Pierre in der zweiten Unfallsequenz dieser Reihe auf uns zu (00:17:16). Eben kommt er mit Catherine von einer Baustelle zurück, die sie gemeinsam besichtigt haben. Catherine erzählt Pierre – wie in alten Zeiten – von der Île de Ré, dem Haus, einem zerbrochenen Tisch. Schließlich, nach einem Telefonat mit dem alten gemeinsamen Freund und ihrem jetzigen Lebenspartner Paul, fragt sie ihn: »Hast du Bertram gesagt, dass du verreist?« Er fragt zurück: »Hast du’s ihm nicht gesagt?« Die sich anschließende Unfallszene zeigt den Moment, bevor Pierre das Stoppschild umfährt. Sie setzt also nicht die vorhergehende Szene fort, sondern zeigt einen anderen Moment jener Bewegung, die wir bereits zuvor gesehen haben. Pierre fährt auf die Kamera zu, mäht das Schild um und dreht sich im letzten Moment an der Kamera vorbei. Nach dem Umschnitt sehen wir Pierre wiederum im fahrenden Auto sitzen, halbnah von der Seite gefilmt. Die dritte Sequenz wird nach einem Gespräch mit dem langjährigen Freund Bertram eingeschnitten. Eigentlich trifft es mich ja am schwersten, dass du verreist. Ist dir das klar? Zweiunddreißig Jahre sind wir unzertrennlich gewesen. Und du verlässt mich wegen einer Frau. Du Schuft! Hast du keinen Durst? – Nein. – Du solltest trotzdem was trinken. Milanie hat Pachérin reingekriegt. Du kennst doch Pachérin? – Nein. – Aha! Hör mal, mein Alter. Stell dir mal vor: Das ist wie eine Wiese voller Butterblumen, durch die ein Bach plätschert im Monat April. In

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dem Wein steckt der ganze April. Milanie hat ein ganzes Fass davon. Das ist ein seltener Tropfen. Den kriegt man nicht alle Tage. Sowas lässt man sich nicht entgehen. Nicht nur den Wein lässt Pierre sich entgehen. Unmittelbar auf diesen Satz folgt eine Naheinstellung, die Pierre von vorn in seinem Wagen zeigt, während er sich überschlägt (00:30:16). Die Kamera steht in dieser Einstellung fest – auch das ein deutlicher Hinweis auf die bereits diskutierte Tricktechnik. Die Butterblumen, die sich im Aroma des Pachérin-Weins abbilden sollten, fallen im Unfall um ihn herum (vgl. Abbildung 14). An dieser Stelle zeigt sich noch einmal sehr schön die lückenlose formale Schließung des diegetischen Filmraumes: Jede Andeutung wird zum Zeichen, jedes Zeichen verweist auf andere Zeichen – die Menge der Zeichen ist ebenso reduziert wie die Menge der Farben. Zeichen erscheinen wie Wiedererkennungsmerkmale im Bild: Sie verknüpfen Bilder auch über zeitlich weit auseinanderliegende Teile des Films miteinander. Die Farben verdichten die einzelnen Einstellungen nach innen. Alle drei Unfallsequenzen werden in Zeitlupe gezeigt, womit sie radikal aus der Zeitordnung des Films herausfallen. Die Zeitlupe indiziert nicht nur einen Bruch in der Chronologie, sondern hebt die so dargestellten Szenen auch hervor (vielleicht ist das jene Bedeutungsanmutung, die Ulrich Behrens so heftig kritisiert). Allerdings macht die Zeitlupe den Unfall überhaupt erst sichtbar. In Realzeit würden die oben besprochenen Unfallsequenzen kaum Bruchteile von Sekunden dauern. Nur so kann man in aller Ruhe das Ballett aus willkürlichen und unwillkürlichen Bewegungen betrachten. Nur ein einziges Mal sehen wir – wie zum Vergleich – den Unfall in Realzeit. Um den Effekt der Unausweichlichkeit zu verstärken, unterlegte Sautets Sounddesigner diese Szene mit einem übertrieben laut heulenden Motorgeräusch, das die leisen sphärischen Klänge ersetzt, die alle übrigen Unfallszenen begleiten. Die in Realgeschwindigkeit gezeigte Szene visualisiert im Übrigen die Behauptung der am Unfall beteiligten Lastwagenfahrer, es sei alles so schnell gegangen. Damit entwertet Sautet natürlich den Unfall als reales Ereignis. Dieses steht in einem bloß illustrativen Verhältnis zu dem Diskurs, der es nachträglich zu fassen versucht, ist gewissermaßen nur noch Anlass aller sich anschließenden Deutungsbemühungen. Das Filmen ist für Sautet, ich habe es bereits betont, Diskursersatz; genauer gesagt, es ist seine Form zu schreiben. In einem Interview, das er dem Filmemacher Nguyen Trong Binh kurz vor seinem Tod gab, hebt Sautet das Spezifische seiner Filmsprache hervor:

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Ich hielt mich immer für unfähig, was das Schreiben anging. Wenn ich all das beschreiben müßte, was in der Szene mit Piccoli passiert, dann würde das in Schriftform eine Sprachbeherrschung erfordern, die ich nicht habe. Wenn ich es aber filmen soll, kann ich alles kontrollieren – das Licht, die Bewegungen, die Bildeinstellungen, den Ausdruck, die Schwingungen. Tausend Dinge, die es auch beim Schreiben gibt. Aber im Bild kann ich sie spüren.24 Walter Benjamin hätte das, was Sautet seinem kontrollierenden Blick und seiner gestaltenden Hand im Film verfügbar macht, wohl das optisch Unbewusste genannt und es mit Sicherheit eindeutiger als Sautet dem Medium Film als eigentümlich nicht transkribierbares Potenzial zugeschrieben: die fallenden Zigaretten, die Butter- und sonstigen Blumen, die um Pierre herumregnen, die Details der Mimik und Gestik in der Extremsituation des Überschlagens. Diese Detaildichte des Unfalls macht – auch das wird in der Gegenüberstellung von Zeitlupendarstellung und Realzeitvorführung deutlich – nur der Film sichtbar und in diesem speziellen Fall sogar: der Filmtrick. Verständlicher, diskursähnlicher wird der Unfall dadurch nicht. Im Gegenteil: Je häufiger man ihn sieht – insgesamt fünf Mal –, desto enigmatischer erscheint er. So könnte man den Rest des Films auch als Versuch ansehen, den Unfall in irgendeiner Ereigniskette zu verorten, ihn kausal greifbar werden zu lassen, eine Logik zu finden, derzufolge es sich so und nur so abgespielt haben kann. Gerade deshalb verfehlen alle Zusammenfassungen des Films, die ihn ausschließlich aus der Position des Schwerverletzten deuten, das Wesentliche: Der Unfall lässt sich nicht lesen. Die weitaus meisten Filmbilder zeigen keine Rückblenden, und die Rückblenden erklären nichts. Deshalb schlage ich vor, von einem wechselseitigen Kommentarverhältnis auszugehen. Die drei oben besprochenen Unfallsequenzen reagieren auf die vorhergegangenen Dialoge: Immer wieder verunfallt Pierre kommunikativ. ›Du lässt deinen Vater im Stich?‹ – ein Schild umgefahren. ›Du verschweigst eine lebensverändernde Entscheidung demjenigen, den du deinen besten Freund nennst?‹ – in einen Laster gerast. ›Du wirfst die wichtigste Freundschaft deines Lebens für eine unsichere Liebelei weg?‹ – Auto überschlagen. Dass Pierre nach diesen Szenen hinter dem Steuer gezeigt wird, verleiht dem Unfall etwas Unrealistisches, lässt ihn als metakommunikatives Ereignis erscheinen. Je genauer man den Film betrachtet, umso mehr kommunikative Bruchlandungen und alltägliche Kleinunfälle fallen einem auf. Der Autounfall wächst in einer Serie von kleinen verunfallten Momenten in 24 | Sautet in: Binh 2003.

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den Film hinein und umgekehrt addieren sich die Serien der Unfälle zu einer finalen Katastrophe auf: »Schon einen Augenblick vorher war etwas aus der Reihe gesprungen, eine quer schlagende Bewegung; etwas hatte sich gedreht, war seitwärts gerutscht« – wie es bei Robert Musil heißt.25 Hier segelt ein Bild aus der Vergangenheit aus dem Regal, dort fällt ein Weinglas um, anderswo geht das Licht ausgerechnet in dem Moment aus, in dem Pierre Hélène Komplimente macht. Nirgendwo wird die verunglückte und zunehmend gestörte Situation deutlicher als in den Gesprächen, die eines um das andere Schiffbruch erleiden. Kaum aufgestanden, verweigert Pierre Hélène die Antwort auf die Frage, wann er die Papiere für die Tunesienreise unterschreiben wolle, indem er so tut, als habe er nicht verstanden oder nicht zugehört. Ein anderes Beispiel ist der Besuch seines Vaters, der sich, von seinem Sohn in die Enge getrieben, zwangsläufig in Lügen verstrickt: Vater: »Als Pierre noch klein war . . .« Pierre: »Als ich klein war, warst du nie da.« Vater: »Hä? Eh, mein Junge, das stimmt erstmal gar nicht, und dann war ich auch noch sehr jung.« Es ist also keineswegs nur Pierre alleine, der kommunikativ scheitert. Geradezu klassisch hackt das Paar Pierre-Hélène unmittelbar vor seiner Rennes-Reise aufeinander herum. Den ganzen Abend, den sie auf einem Empfang von Hélènes Eltern verbracht haben, haben sie nicht miteinander gesprochen. Jetzt sitzen sie gemeinsam im Auto – dem hinreichend als Unfallwagen eingeführten Alfa Romeo Giulietta Sprint, der eines der berühmtesten (und unglücklichsten, weil zukunftslosen) Liebespaare der Weltgeschichte im Namen trägt – und machen sich das Miteinander zur Hölle. Zunächst sitzen sie schweigend, jeder vor sich hinstarrend, nebeneinander. Pierre zieht an seiner Zigarette und kurbelt das Fenster herunter, um sie hinauszuwerfen, woraufhin Hélène sich gequält an den Hals fasst, als müsse sie gewaltsam einen Hustenanfall unterdrücken. Pierre kurbelt das Fenster wieder hoch und dreht das Radio an. Nach wenigen Takten Jazzmusik dreht Hélène das Radio wieder ab. Pierre verzieht das Gesicht und sucht umständlich nach einer Zigarette, die er sich in den Mund steckt und anzündet. Danach schaut er kurz zu Hélène hinüber: Pierre:

»Ein reizender Abend.«

Hélène: »Ja, ausgesprochen reizend. Ich hab dich ja nicht gezwungen mitzugehen. Ich wusste, dass es grässlich wird.« 25 | Musil 1930/1990: 10.

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Pierre:

»Wieso grässlich? Das ist eben Familie. Hast du was gegen Familie?«

Hélène: »Ich hab’ was dagegen, meine Zeit zu vergeuden.« Pierre:

»Zeit vergeuden ist immer langweilig.«

Hélène: »Ja, es ist langweilig. So langweilig wie ein Mann, der es fertig bringt, den ganzen Abend kein Wort mit mir zu sprechen. Zum Sterben langweilig.« Pierre:

»Was soll das? Ich war beschäftigt. Ich hab mich mit deinem Vater unterhalten, deiner Mutter, deinen Freunden . . .«

Hélène: »Was willst du eigentlich, Pierre? Dass wir uns trennen?« [. . .] Hélène: »Wenn du auf der Insel bist, bei Catherine, da wird es ja anders sein. Da sind die Abende amüsanter.« Pierre:

»Das hoffe ich. Und wenn ich mit dir woanders bin, wie wird es dann?«

Hélène: »Wir werden nie woanders sein.« Die Auseinandersetzung, die ohnehin schon schwer erträglich ist, weil sie von andauernden Ebenenwechseln, gezielten Missverständnissen und bewussten Angriffen geprägt ist, wird vollständig unaushaltbar durch den gemäßigten Tonfall, das Gesittete der Attacken. Keiner der beiden wird ausfällig oder hebt den Ton über die Maßen. Unterdrückte Gewalt staut sich an. Das ist wahrscheinlich eine der besten Erklärungen des Unfalls und seiner so finalen wie strukturierenden Funktion innerhalb der Filmerzählung: In ihm entladen sich die angestaute Wut, das ungelebte Leben, die unterdrückten Begierden. »Im Allgemeinen sagen die Männer dann ›Hör auf zu reden‹. Du sagtest ›Hör auf zu schweigen‹.« Nachdem Hélène ausgestiegen ist, unversöhnt, und die Blicke zum Abschied sich nicht treffen, fährt Pierre nach Rennes im strömenden Regen, der plötzlich da ist, als weine der Himmel die Tränen, die die Menschen sich versagen. Nach einer auf einem Waldweg im Auto verbrachten Nacht fasst Pierre einen Entschluss: »Immer Erklärungen. Sprechen. Das muss aufhören.« Es ist der unerfüllbare Wunsch nach kommunikativer Einfachheit, Direktheit, Unmittelbarkeit. Nach einer Klarheit von Handlungen, einem Einverständnis in Beziehungen, die

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keine dauernden Besprechungen erfordern. »Ich will auch keine Briefe schreiben.« Genau das tut er dann aber: Er schreibt einen ausführlichen Abschiedsbrief an Hélène, von dem er, später verletzt und bewegungsunfähig neben seinem Auto liegend, hofft, sie möge ihn nie erhalten. Noch ein Kommunikationsunfall. Schon im Postamt entscheidet er sich, den Brief nicht abzuschicken, ruft stattdessen Hélène an, die er – selbstredend – nicht erreicht, und hinterlässt ihr ohne Namensnennung die Nachricht, sie möge nach Rennes kommen, wo sie sehnsüchtig erwartet werde. Die rettenden Nachrichten, die klärenden, einfachen Botschaften kommen stets zu spät an. Oder nie. In rasanter Fahrt überholt die Kamera den zügig und entschlossen fahrenden Pierre, verkleinert ihn zu einem Punkt auf der Landstraße, zeigt vorbeirasende Büsche und erhebt sich in den Himmel. Ein Landidyll zeigt sich danach, ein Mopedfahrer tuckert die Landstraße entlang einer Kreuzung, jener schicksalhaften Kreuzung entgegen, die wir nun schon so oft gesehen haben. Vögel zwitschern. Ein mit quiekenden Schweinen beladener roter Lastwagen fährt langsam auf die Kreuzung zu, am Steuer der Mann, von dem wir seit Filmbeginn wissen, dass sein Wagen gleich stehen bleiben wird, mitten auf der Kreuzung. Ein langsamer Schwenk über den Apfelhain, der Pierre zur vorletzten Station seines Lebens wird, bevor er im Krankenhaus stirbt, bringt den zweiten Lastwagenfahrer ins Blickfeld. Dann kommt Pierre angerast, bremst viel zu spät und erstarrt zum Standbild. In diesem Moment endet das Schweigen, und der Diskurs setzt wieder ein: »Er ist direkt in mich reingerauscht. Ich hab’s genau kommen sehen.« Die Unfallerzählung unterscheidet sich von der des Anfangs. Diesmal stehen nicht die Dramatik des Ablaufs und die Unausweichlichkeit der Situation, sondern die Frage der Mitschuld des Lastwagenfahrers im Zentrum des Gesprächs. »Mir ist doch der Motor weggeblieben. Der hat gestreikt.« Und noch einmal rast Pierre, leicht verlangsamt auf den Viehtransporter zu. Und ein drittes Mal sehen wir ihn kommen, diesmal in Zeitlupe aus der Perspektive des Hecks, mit dem er den Lastwagen streifen und sein Schicksal endgültig besiegeln wird. Und kaum hat der Zusammenstoß stattgefunden, kommen die grauen Handschuhe des Stuntmans ins Bild, jene Handschuhe, die es innerdiegetisch gar nicht geben kann. Im optisch Unbewussten zeigt sich das diegetisch Unterdrückte, weil die Erzählung Bedingende. Der Unfall fällt aus der Diegese heraus. Vielleicht ist das der Grund für Sautet, der doch jedes Bild in all seinen Einzelheiten kontrolliert und auf diese Kontrolle hohen Wert gelegt hat, das Außen im Film zuzulassen (oder gar: es bewusst hineinzuholen). Der Unfall lässt sich unmöglich erzählen. Er ist der Erzählung immer schon voraus. An dieser Stelle

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des Films, dem diegetisch korrekten Punkt, an dem der Unfall eben stattfinden muss, ereignet sich: ein Film, ein Stunt, kein Unfall. Und so ist vielleicht auch der absolut tautologische, absolut überflüssige Monolog des verletzten Pierre zu verstehen. Seine Rede verdoppelt, was wir sowieso sehen oder wenigstens als hochwahrscheinlich erahnen – Pierre lebt noch, sein Anzug ist hin, er fühlt sich wohl im Gras, die Decke ist zu warm, und der Wagen muss ganz schön was abgekriegt haben. Die einzige Funktion dieser Rede ist festzuhalten, was das Bild des Schwerverletzten nicht zeigen kann, dass nämlich Pierre überlebt hat. Wiederum arbeitet Sautet mit der Diskrepanz und Unvereinbarkeit von Sprache und Bild – diesmal aber will es ihm nicht gelingen. Der innere Monolog, der nichts erklärt, unterbietet die Standards, die der Film sich selbst gesetzt hat. Bis hierher hatte der Film Pierre als eine Blackbox vorgeführt: keine Erklärungen, keine Gründe. Nunmehr versucht der Film, den latenten Kontrast zwischen Außen und Innen aufzulösen. Wir hören, was wir kat’exochen nicht hören können, die Rede des Verletzten. Bild und Diskurs scheinen, zum ersten Mal in diesem Film, zur Deckung zu kommen. Der Diskurs ist ein innerer Monolog, eine subjektive Kamera zeigt synchron dazu unscharfe Bilder mit unsicher wechselndem Fokus: Wir sehen, was Pierre sieht. So ist dies der Moment, in dem sich ein echter Filmunfall ereignet: Der sichtbare Stuntman ist kein Problem, ein Problem ist der Monolog Pierres, der eine echte Rede, ein inneres Erlebnis gegen die Reden der Umstehenden, die uneigentlichen Reden in Stellung zu bringen versucht. Auf der einen Seite: »Ein Priester . . .jetzt kriege ich aber wirklich Angst. Ich darf nicht einschlafen. Ich darf auf keinen Fall einschlafen.« Auf der anderen Seite: »Na wird’s denn nun endlich? – Na Sie haben gut reden, Sie sollten lieber mal mit anfassen!« Doch dieser Moment geht schnell vorüber – der Film ist wieder bei sich, wenn er nicht mehr länger versucht, Bilder zu vertexten und Texte zu bebildern, wenn er allen Semantikversprechungen eine Absage erteilt und aus einer roten Mohnblume das rote Kleid Hélènes macht, die – ganz wie zu Beginn des Films – kräftig in einen Apfel beißt.

Literatur Adolf-Grimme-Institut 2007: Claude Sautet oder die unsichtbare Magie (Claude Sautet ou la magie invisible). Ankündigung der WDR-Ausstrahlung des Dokumentarfilms »Claude Sautet oder die unsichtbare Magie«. In: http://lernzeit.de/sendung.phtml?detail= 546341, 17.11.2007.

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Anonymus 2006: Making of . . .In: Die Dinge des Lebens, Cover (= SZCinemathek, 60). Beckett, Samuel 1952/1976: The Unnamable. In: Ders.: The Beckett Trilogy. Molloy. Malone Dies. The Unnamable. London: Picador. S. 265–382. Behrens, Ulrich 2007: Nur ein Hauch von Bedeutung. In: http://www. follow-me-now.de/html/die_dinge_des_lebens.html, 17.11.2007. Binh, Nguyen Trong 2003: Claude Sautet oder die unsichtbare Magie. Frankreich: Les Productions Bagheera. Deussen, Oliver 2007: Bildmanipulation. Wie Computer unsere Wirklichkeit verzerren. Heidelberg: Spektrum. Guimard, Paul 1967: Les choses de la vie. Paris: Denoël. Musil, Robert 1930/1990: Der Mann ohne Eigenschaften. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. Musil, Robert 1922/1978: Das hilflose Europa oder Reise vom Hundertsten ins Tausendste. In: Ders.: Gesammelte Werke, II. Reinbek bei Hamburg: Rowohlt. S. 1075–1094. Sautet, Claude 1969: Die Dinge des Lebens. Frankreich (= SZCinemathek, 60). Schmid, Hans-Christian 2006: Der Film. In: Die Dinge des Lebens, Cover (= SZ-Cinemathek, 60). Tong, Janice 2007: Claude Sautet. In: http://www.sensesofcinema. com/contents/directors/03/sautet.html, 17.11.2007. Wikipedia-Kollektiv 2007: Die Dinge des Lebens. In: http://de. wikipedia.org/wiki/Die_Dinge_des_Lebens, 17.11.2007. Alle Abbildungen sind Standbilder der o. g. DVD-Ausgabe des Films »Die Dinge des Lebens«. Zum Teil sind diese Abbildungen vom Autor kommentierend bearbeitet worden. Die Zitate sind, so nicht anders gekennzeichnet, Filmtranskripte.

Papier, Bleistift & Bildschirm. Die Bodenhaftung der Flugsicherung

Jörg Potthast

Prolog Kontrollstreifen der Flugsicherung sind 13,5 mal 2,5 Zentimeter groß und aus Papier. Sie werden 20 Minuten vor dem Eintritt eines Flugzeugs in einen Sektor ausgedruckt, auf eine Plastikschiene gezogen und in eine Tafel einsortiert. Abbildung 1 zeigt einen Kontrollstreifen der Flugsicherung des oberen Luftraums aus dem Regionalzentrum Karlsruhe. »VC 4751« in der Mitte ist die Bezeichnung des Fluges: Voyageur Airlines 4751. Rechts darüber ist der Flugzeugtyp notiert: »A321« steht für Airbus 321. Oben in der rechten Spalte stehen Abflugund Zielort: Der Flug geht von München (»EDDM«) nach Paris Roissy (»LFPG«). Links auf mittlerer Höhe und rechts unten befinden sich Zeitangaben: Das Flugzeug fliegt zwischen 9.49 Uhr und 9.53 Uhr durch den Sektor, den der Fluglotse betreut. Innerhalb des Sektors passiert »VC 4751« zwei Kreuzungen: »TALAL« und »ALB«, dazwischen vergeht eine Minute. Drei Minuten später übergibt der Lotse den Flug an ein benachbartes Zentrum: Langen (»LANGI«). Das Flugzeug erreicht bei 32.000 Fuß (»320«) seine Reiseflughöhe; die Karlsruher Flugsicherung hat es auf Flughöhe »190« übernommen. Verabredet ist die Übergabe in den Nachbarsektor auf Flughöhe »260«, also 26.000 Fuß. Abbildung 1: Kontrollstreifen der Flugsicherung.

Läge nun ein zweiter Kontrollstreifen vor, aus dem hervorgeht, dass um 9.50 Uhr ein Flugzeug auf derselben Flughöhe kreuzt, dann blieben etwa 20 Minuten, um den Konflikt zu koordinieren. Eine Möglich-

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keit besteht darin, das Flugzeug per Funk aufzufordern, die Flughöhe zu wechseln. In diesem Fall wird auf dem Kontrollstreifen die Flughöhe »190« durchgestrichen. Darunter wird, sobald der Pilot die Anweisung bestätigt hat, mit Bleistift die neue Flughöhe notiert.

Unfälle und ihre Repräsentation: organisationsethnografische Zugänge Würde man das Konzept des vorliegenden Bandes in aller Strenge auslegen, so müsste sich eine empirisch sozialwissenschaftliche Forschung über Unfälle einen anderen Ort suchen, denn »Unfälle sind immer schon geschehen. [. . .] Die kurze Zeit des Unfalls sprengt notwendig die Grenzen seiner eigenen Diskursivierbarkeit.«1 Die prinzipielle Nachträglichkeit von Unfalldarstellungen gibt Anlass dazu, Versuche einer medialen Repräsentation von Unfällen unter Vorbehalt zu stellen.2 Die sozialwissenschaftliche Technik- und Risikoforschung hat ebenfalls und in kritischer Absicht auf die Nachträglichkeit von Unfallrepräsentationen aufmerksam gemacht: Die Repräsentationen, die post hoc von Unfällen erstellt werden, sind nicht mit den Bedingungen zu verwechseln, die das Betriebspersonal in kritischen Situationen vorfindet. Demnach fehlt es Unfallrepräsentationen nicht nur an Objektivität. Vielmehr neigen sie dazu, systematisch den Faktor Mensch zu isolieren und Fehlleistungen des Betriebspersonals für Unfälle verantwortlich zu machen. Schon aus der Formulierung dieses Einwands lässt sich erkennen, dass hier nicht nur Kritik an der Pseudo-Objektivität geübt wird, sondern zugleich ein Gegenprogramm zur Re-Objektivierung von Unfällen angelegt ist. Hervorzuheben sind die Arbeiten von Charles Perrow (1984), die einen wichtigen Impuls für die Erforschung der Binnendynamik von Störfällen und Pannen gegeben haben. Perrow kommt das Verdienst zu, Differenzen zwischen Unfallverläufen herausgearbeitet zu haben. Seitdem Unfälle unter Verlaufsaspekten analysiert werden, erscheinen sie nicht mehr punktuell, geschlossen und unteilbar, sondern als eine Verkettung von Ereignissen, die zwar eine hohe Binnendynamik entwickeln kann, dabei aber bis zu einem gewissen Grad für Interpretationen und Interventionen zugänglich bleibt. Perrow argumentiert, dass die Spielräume für Diagnosen und Eingriffe von objektiv beschreibbaren Systemtypen abhängig sind. Demnach wäre die 1 | Zitat aus der Einleitung dieses Bandes: S. 9f. 2 | Für eine konzise medientheoretische Formulierung des Problems, vgl. Kümmel/Schüttpelz 2003. Für eine Illustration am Beispiel des Flugschreibers, vgl. Potthast 2003 und 2006.

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Feststellung der Nachträglichkeit zu relativieren. Ob und inwiefern Unfallrepräsentationen nachträglich sind, darüber entscheidet das Systemdesign. Der geschilderte Versuch, das Problem der Nachträglichkeit zu unterlaufen, um Unfälle als einen Gegenstand empirischer Forschung zu gewinnen, lässt drei Ansatzpunkte erkennen, die seither für weite Teile der sozialwissenschaftlich orientierten Technik- und Risikoforschung ebenso typisch wie selbstverständlich sind. Erstens wird bestimmt, für wen Unfälle nachträglich oder nicht nachträglich repräsentiert werden. Dabei ist der Standpunkt des Betriebspersonals entscheidend. Zweitens wird das Attribut nachträglich enger gefasst: Nur wenn eine Unfallrepräsentation keine Interventionschancen bietet, wäre sie als nachträglich zu bezeichnen. Damit wird drittens die Definition von Unfällen ausgeweitet: Als solche zählen auch potentielle Unfälle, die noch abgewendet werden konnten. Auch die Erforschung »hochgradig verlässlicher Organisationen« hat dazu beigetragen, die These der nachträglichen Unfallrepräsentation zu differenzieren.3 Wie es bereits der Name anzeigt, beschäftigt sich dieser Forschungszweig mit Organisationen, die technische Systeme betreiben und dabei praktisch keine Unfälle zulassen. Genau diese Leistung, die aktive Produktion von Sicherheit, ist demzufolge erklärungsbedürftig. Wer dagegen den sicheren Betrieb als die Abwesenheit von Unfällen bestimmt, besitzt ein eigentümlich passives Verständnis von Sicherheit.4 Aus der Umstellung auf ein aktives Sicherheitsverständnis, der ich mich im Weiteren anschließe, ergibt sich die folgende Fragestellung: Wie unterbinden Organisationen Unfälle, die im Entstehen begriffen sind? Über welche Techniken und Routinen der Antizipation von Unfällen verfügen diese Organisationen?5 Auch die Denkfigur dieses Bandes, dass sich in der Unfalldarstellung die Krise des Unfalls wiederholt, hat in der Arbeits- und Technikforschung ein Pendant: Seit Larry Hirschhorn (1984) spricht man hier von Unfällen oder Pannen ›zweiter Ordnung‹, wenn sich die medial vermittelte Repräsentation einer Panne, auf die das Kontrollraumpersonal angewiesen ist, selbst als anfällig herausstellt. Um die aktive Herstellung von Flugsicherheit zu erforschen, soll diese Wiederholung 3 | Vgl. hierzu La Porte/Consolini 1991 und Rochlin 1993. 4 | Vgl. hierzu Rochlin 1999: 10 und ders. 2003. 5 | Für einen Überblick zur Forschung über Highly Reliable Organizations (HRO) vgl. Roberts 1993. Weitere Arbeiten zur Flugsicherung, die diesem Ansatz nahe stehen, siehe La Porte 1988; Sanne 1999 und Vaughan 2005. Mathilde Bourrier 1999 und 2001 hat den Ansatz der HRO von Berkeley nach Frankreich und in die Schweiz importiert. Ihre empirischen Arbeiten widmen sich der Wartung von Atomkraftwerken, dem anderen großen Untersuchungsfeld der HRO-Studien. Zum Umgang mit kritischen Situationen in Atomkraftwerken und aus einer ähnlichen Perspektive, vgl. Perin 2005.

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im Folgenden qualifiziert werden. Sobald nicht abstrakt, sondern relativ zum Standpunkt des Betriebspersonals von einer Nachträglichkeit der Unfalldarstellung die Rede ist, macht es einen erheblichen Unterschied, ob das Personal in einer virtuellen Welt arbeitet (also keinen direkten Zugriff auf Pannen erster Ordnung hat) oder nicht. Das Problem der Nachträglichkeit von Unfalldarstellungen hingegen stellt sich gar nicht erst, sobald Techniken als Medien definiert werden. Interessanterweise kehrt sich das Problem der Repräsentation dann genau um: Schwierigkeiten bereitet nun die Darstellung des Normalbetriebs. Solange Technik reibungslos funktioniert, ist sie reines Medium und entzieht sich der Beobachtung. Im Störfall hingegen verliert sie ihre mediale Transparenz, wird selbst sichtbar und erstarrt zur Installation.6 Phänomenologisch besehen leuchtet dieses Konzept sofort ein. Es verleitet jedoch dazu, von den enormen Anstrengungen abzusehen, die darauf verwendet werden, technische Abläufe präzise und kontinuierlich zu repräsentieren. Technik, die als Medium funktioniert, ist von den Techniken der Repräsentation betrieblicher Zustände zu unterscheiden. Die Medialität technischer Medien, ob sie im Normalbetrieb verborgen bleibt oder im Unfall offenbar wird, verteilt sich also auf mehrere technische Träger – doch wie ist dieses Nebeneinander unterschiedlicher Medialitäten erfassbar? Wie lässt sich die Differenz zwischen unterschiedlichen medialen Trägern bewahren und wie können Formen ihrer Vermittlung sichtbar gemacht werden? In Pannen und Störfällen zeigt sich nicht bloß die Medialität des Mediums. Es zeigt sich zugleich, dass die Unterstellung medialer Konvergenz im technischen Alltag unhaltbar ist. Wer gegen dieses Versprechen eine medienethnografische Symmetrie stark macht, wer der Informationstechnologie kein Primat gegenüber der Sachtechnik einräumt, wer bestreitet, dass sich eine medientechnische Revolution ereignet hat oder wer die Behauptung hinterfragt, wir seien im Zeitalter der Medienkonvergenz angekommen, der muss in jedem Fallmuss nach einer alternativen Erklärung für die zentralen Fragen suchen: Wie erklärt sich der verlässliche Betrieb technischer Systeme, in denen die Differenz der Medien fortbesteht? Wie werden technische Abläufe, die sich auf unterschiedliche mediale Träger verteilen, aufeinander abgestimmt?7 Und warum koexistieren in den Zentren der Flugsicherung Radarbildschirm, Papier und Bleistift? 6 | Vgl. Halfmann 1995. 7 | Programmatisch wurde eine Sensibilität für die Differenz der Medien unter anderem von Latour 1991 und 1996, Rammert 1998 oder auch von Schüttpelz 2005 und Strübing 2006 eingefordert.

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Um diese Fragen zu beantworten, bedarf es einer Beobachtungstechnik, die es erlaubt, den technischen Normalbetrieb zu exotisieren. Unfälle, abgewendete Unfälle und Pannen sind durchaus Teil des Untersuchungsprogramms; zu betonen ist allerdings, dass sie mit Blick auf den Normalbetrieb analysiert werden. Anhand des Umgangs mit Pannen und Unfällen lässt sich deutlich machen, wie voraussetzungsvoll und unordentlich vermeintlich geordnete Betriebsabläufe sind. Accidents and their subsequent inquiries are perhaps the only passing moment when outsiders may glimpse the routinely less orderly, less rule-controlled world of technology and science. However, because it is seen this way only around accidents, the belief is consolidated that normally practices are more orderly.8 Die ethnografische Erforschung des Normalbetriebs ist darauf angewiesen, Unfälle analytisch auf Distanz zu halten. Andernfalls droht der Rückfall in ein Schema von Regel (erklärt den Normalbetrieb) und Ausnahme (erklärt den Unfall), das gerade nicht vorausgesetzt werden kann, sondern zur Untersuchung ansteht. Auch diese Einsicht hat Brian Wynne auf den Punkt gebracht: »Practices do not follow rules; rather, rules follow evolving practices.«9 Der Betrieb riskanter technischer Systeme ist eine Domäne von Spezialisten, die bemerkenswerte Routinen im Umgang mit Pannen entwickelt haben. Umgekehrt sind es die Routinen stark abgeschotteter Praxisgemeinschaften, in denen sich die Definitionen von Regeln verschieben.10 Günther Ortmann (2003) hat diesen Punkt gesehen und stark zugespitzt: Sein Forschungsinteresse gilt den notwendigen Abweichungen von der Regel, die dazu beitragen, Betriebsabläufe auf hochgradig verlässliche Weise zu gewährleisten. Tolerierte Regelverletzungen, die sich im Alltagsbetrieb zwangsläufig einstellen, stiften ihrerseits praktische Regeln. Das führt dazu, dass sich Unfälle ereignen, obwohl sich alle Beteiligten regelkonform verhalten haben – aber eben in Bezug auf alternative Regelbestände: Auf der einen Seite Unfälle, für deren Erklärung keine Regelverstöße ausgemacht werden können; auf der anderen Seite ein stabiler Normalbetrieb, der nur mit Hilfe von Regelverletzungen aufrecht erhalten werden kann. Diese Paradoxie begründet ein praxistheoretisches Forschungsprogramm: »Working in practice but not in theory: Theoretical challenges of ›High-Reliability Orga8 | Wynne 1988: 150. 9 | Ebd.: 153. 10 | Vgl. hierzu ausführlich den Beitrag von Harry Collins/Trevor J. Pinch in diesem Band, Wynne 1988 und Vaughan 1996.

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nizations‹«.11 Die Gründe für den unfallfreien Betrieb liegen nicht in der Theorie, sondern sind in der Praxis zu suchen. Folgerichtig soll die Diskussion anhand einer ethnografischen Fallstudie zur Flugsicherung fortgesetzt werden. Am Ende sollen einige neue Einsichten zu einer Frage stehen, die den Forschungs- und Entwicklungszentren der Flugsicherung seit Jahrzehnten Rätsel aufgibt: Warum werden in der Flugsicherung noch immer Kontrollstreifen aus Papier eingesetzt?

Feldzugänge: Die gescheiterte Konstruktion eines medialen Vorteils Betrachtet man den Flugverkehr als ein großes technisches System, so fällt zunächst auf, dass dieses System einen geradezu sensationellen Grad der Disponibilität erreicht hat. Abgesehen von lokalen Ausfällen, bedingt durch Wetter, Krieg oder terroristische Anschläge, stand der Flugverkehr, weltweit betrachtet, noch nie still.12 Die Zahl der Unfälle, die die Flugsicherung verantworten muss, ist verschwindend gering. Wie ist das zu erklären? Dieser Beitrag basiert auf empirischem Material, das im Rahmen eines Verbundforschungsprojekts zur multidimensionalen Validierung der Auswahl von Simulationssequenzen für digitale Kontrollstreifen erhoben wurde. Finanziell ermöglicht wurden die ethnografischen Forschungsaufenthalte und Interviewserien bei der Flugsicherung durch Mittel des Forschungs- und Entwicklungszentrums von Eurocontrol.13 Der Sitz dieses Forschungszentrums ist Brétigny bei Paris. Hier, beim Auftraggeber der Studie, beginnt auch die Einführung in das Material.14 Erste Station: Konferenzraum Eurocontrol Das Forschungszentrum von Eurocontrol liegt hinter einem ehemaligen Militärflughafen im Süden von Paris und ist mit öffentlichen Verkehrsmitteln nicht zu erreichen. Gérard Dubey und ich werden 11 | So der Titel des programmatischen Aufsatzes von La Porte/Consolini 1991. 12 | Der nordamerikanische Luftraum war 1981 vom totalen Stillstand bedroht, verursacht durch einen Streik der Flugsicherung, vgl. Nordlund 1998. Erstmals trat dieser Zustand am 11.9.2001 ein, nachdem auf Anordnung des Krisenzentrums binnen kürzester Zeit der Luftraum über den Vereinigten Staaten geräumt wurde. 4.500 zivile Flugzeuge wurden zum nächsten Flughafen gelotst und sind dort sicher gelandet. Vgl. 9/11 Commission 2004: 29. 13 | Für diese Forschungszugänge danke ich Gérard Dubey und allen Gesprächspartnern in den Zentren der Flugsicherung von Reims und Karlsruhe. 14 | Bei allen im Folgenden nicht ausgewiesenen Zitaten handelt es sich um Gesprächsprotokolle.

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von einem Eurocontrol-Mitarbeiter vom Bahnhof abgeholt. Diplomatenkennzeichen. In einem modernen Konferenzraum haben bereits rund zwanzig Personen Platz genommen, die sich reihum als Experten für Kognitionsforschung, Mensch-Maschine-Schnittstellen, Informatik, Arbeitspsychologie usw. vorstellen. Vertreten sind Pariser Universitäten (mit unterschiedlichen Fachbereichen), ein Universitätsklinikum, staatliche und staatsnahe, zivile und militärische Forschungszentren. Koordiniert wird die Sitzung von zwei Eurocontrol-Mitarbeitern. Sie überraschen wohl alle Beteiligten mit einem sehr ehrgeizigen Fahrplan für etwas, das sie die »multidimensionale Validierung der Auswahl von Sequenzen für die vergleichende Simulation unterschiedlicher Arbeitsplatzkonfigurationen der Flugsicherung« nennen. Tabelle 1: Geteilter europäischer Himmel.

Luftraum (in Mio. km²) Hubs Ziv. und milit. Org. der Flugsicherung Zentren des oberen Luftraums Betriebssysteme Programmiersprachen Kosten der Flugsicherung (pro Flug in $)

USA

Europa

9,8 31 1 21 1 1 380

10,5 27 47 58 22 30 667

Schon nach kurzer Zeit hat sich eine kürzere Sprachregelung eingeschliffen. Es ist nur noch von »der Simulation« die Rede. Deren Ziel ist es, die Basis für die Einführung eines digitalen Kontrollstreifens zu legen. Gegenüber der eingangs erläuterten Kontrollpraxis mit Papier und Bleistift wird vor allem dieser Vorteil herausgestellt: Wenn die auf einem digitalen Kontrollstreifen (mit Schrifterkennung) notierten Änderungen (z. B. der Flughöhe) in Realzeit in das System zurückgelangen, könne das Niveau der Interoperabilität in der Flugsicherung erhöht werden. Vor dem Hintergrund, dass der europäische Luftraum ein geteilter Himmel ist, wird deutlich, welche Bedeutung der Aufgabe zukommt, Interoperabilität sicherzustellen.15 Die vorangehende Übersicht illustriert dies über einen Vergleich mit dem nordamerikanischen Luftraum und umreißt damit zugleich die Kernaufgaben von Eurocontrol. Bei einem ähnlich großen Luft15 | Die Geschichte des geteilten Himmels Europas (Bremer 1976) und damit verwoben die Geschichte von Eurocontrol (Eurocontrol o. J.) warten noch auf eine gründliche Aufarbeitung.

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raum (siehe Abbildung 1) und einer vergleichbaren Anzahl von Drehkreuzen macht sich in Europa in mehrfacher Hinsicht Kleinstaaterei bemerkbar. So gibt es in Europa 47 für die Flugsicherung zuständige Organisationen, in den USA eine einzige. 58 europäischen Kontrollzentren des oberen Luftraums stehen lediglich 21 amerikanische Kontrollzentren gegenüber. Die europäischen Kontrollzentren verwenden 22 unterschiedliche Betriebssysteme und 30 verschiedene Programmiersprachen. In den USA gibt es nur ein Betriebssystem und eine Programmiersprache. Das spiegelt sich in Leistungsindikatoren wider: Die Kosten pro Flug liegen in Europa bei umgerechnet 667 US-Dollar, in den USA werden sie mit 380 US-Dollar beziffert. Diese Differenz fällt ins Gewicht, denn allein in Deutschland kommen pro Jahr 3 Millionen Flüge zusammen. Abbildung 2: Sektoren der Flugsicherung – vertikal und horizontal.

Abbildung 2 zeigt, wie der deutsche Luftraum organisiert ist: vertikal in Sektoren des oberen und unteren Luftraums; horizontal in geografische Sektoren. Die Aufgabe der Flugsicherung wird anschaulich, wenn die Flüge, die durch den von Karlsruhe aus betreuten Sektor des oberen Luftraums fliegen, im Zeitraffer dargestellt werden (Abbildung 3). An »der Simulation« sollen unter anderem Fluglotsen aus Karlsruhe teilnehmen. So erklärt sich Karlsruhe als Ort meiner Feldforschungen im Vorfeld und zur Vorbereitung »der Simulation«. Zunächst ha-

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be ich jedoch, gemeinsam mit Gérard Dubey, einige Tage bei der Flugsicherung in Reims verbracht. Zweite Station: Arbeitsplatz zur Wiederholung kritischer Sequenzen Im Regionalzentrum Reims sprechen wir mit einem älteren Lotsen, der vor kurzem für einen Beinaheunfall verantwortlich gewesen ist. Er führt uns an einen abseits gelegenen Arbeitsplatz, der eigens dafür eingerichtet wurde, derartige Szenen zu rekapitulieren. Wieder und wieder, mindestens sechsmal zeigt er uns am Monitor die kritische Sequenz. Natürlich haben wir Mühe, die Brisanz der Situation aus für uns wenig dramatischen Bildern und schwer verständlichen Funksprüchen herauszulesen. Abbildung 3: Flüge durch den Sektor des oberen Luftraums Karlsruhe im Zeitraffer.

Jedes Flugzeug wird durch eine Nadel dargestellt, welche die Flugrichtung anzeigt (vgl. Abbildungen 4 und 5 auf der folgenden Doppelseite). Aus der Länge der Nadel ist abzulesen, wo sich das Flugzeug in einer Minute befinden wird. Über die Buchstaben- und Zahlenkombination

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»DLH123« erreicht der Lotse per Funk den Piloten des Fluges. »330« zeigt die aktuelle Flughöhe an, das Kürzel »