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German Pages 396 Year 2014
Albert Kümmel-Schnur, Christian Kassung (Hg.) Bildtelegraphie
Albert Kümmel-Schnur, Christian Kassung (Hg.)
Bildtelegraphie Eine Mediengeschichte in Patenten (1840-1930)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhaltsverzeichnis ALBERT KÜMMEL-SCHNUR /CHRISTIAN K ASSUNG Vorwort ............................................................................................. 7
I NSTITUTION ALBERT KÜMMEL-SCHNUR Patente als Agenten von Mediengeschichte ...................................... 15 M ARIUS HUG Auf der Suche nach dem Patent. Ein Blick auf J. G. Dinglers »Polytechnisches Journal« ................... 39 CHRISTIAN K ASSUNG Patent und Amt. Die Wissensgeschichte einer Behörde im deutschen Kaiserreich ...... 53 SIMONE WARTA Die Erfindung der Bildtelegraphie im Urheberrechtsstreit zwischen Alexander Bain und Frederick C. Bakewell ..................................... 77
A PPAR AT CHRISTIAN K ASSUNG/FRANZ PICHLER Die Übertragung von Bildern in die Ferne. Erfindungen von Arthur Korn ....................................................... 101 HANS-DIETER SCHMIDT Der verbindende Draht .................................................................. 123 JOHANNES GRAF Steinheils Waage, Bains Schieber,Hipps Taster. Zur Genese des Schalters bei Elektrouhren 1840–1860..................161
NIKOLAS SCHMIDT-VOIGT Verschlüsselte Bilder. Édouard Belin und die Geheimhaltung von Bildtelegrammen ....... 189 M ARIUS HUG Die Übertragung wagen. Der Patentanmelder Arthur Korn .................................................. 211 WLADIMIR VELMINSKI Triumph des Symbolischen. Fernsehgraphische Leidenschaften in der frühen Sowjetunion ...... 235
B ILD STEFFEN BOGEN Künste und Maschinen. Zwei Leonardos des 19. Jahrhunderts ........................................... 257 ALBERT KÜMMEL-SCHNUR Technischer Gleichlauf zwischen Sendung und Empfang. »Electric Time-Pieces and Telegraphs« (Patent Nr. 9.745, 27. Mai 1843, Alexander Bain) ......................... 277 THOMAS HENSEL Energetisierte Lineamente. Anmerkung zu einer Po(i)etik des Patents ...................................... 297 JULIA ZONS Die Rhetorik des Patents. Giovanni Casellis Telegraphic Apparatus ...................................... 307 ALBERT KÜMMEL-SCHNUR Vom Nutzen und Nachteil der Simulation. CAD-Rekonstruktionen historischer Apparate ............................. 323 M ARTIN STRAUB CAD-Visualisierung eines Bildtelegraphen. Ein Werkstattbericht ...................................................................... 371
ALBERT KÜMMEL-SCHNUR/C HRISTIAN K ASSUNG
Vorwort Dieses Buch erzählt die Geschichte eines Mediums in Patenten. Das ist eine derzeit in der Kultur- und Medienwissenschaft noch unübliche Form, Mediengeschichte zu schreiben, die einer Begründung bedarf. Die Bildtelegraphie ist trotz ihrer nachhaltigen Bedeutung für die technische Übertragung von Bildern vom Fax über das Fernsehen bis zu digitalen Bildern ein eher unbekanntes Medium. Es gibt zahllose Geschichten der optischen und elektrischen Telegraphie, doch die Geschichte der technischen Übertragung von Bildern bzw., allgemeiner, von in der Fläche verteilten Informationen beliebiger Natur ist bislang wenig erforscht.1 Insofern ist der vorliegende Sammelband ein Schritt, eine offene Forschungslücke zu schließen. Dennoch hätte man diesen Schritt in einer stärker synthetisierenden Form, die nicht ein einziges Überlieferungsmedium – das Patent – gegenüber anderen privilegiert, gehen können? 1 Die erste Geschichte der Bildtelegraphie wird im Jahr 1923 von Arthur Korn, einem ihrer Protagonisten, geschrieben. Korns Version der Geschichte bleibt bis einschließlich der ersten explizit medienwissenschaftlichen Auseinandersetzung, Peter Berz’ Text »Bildtelegraphie« von 2002, die maßgebliche Quelle. Was auch bedeutet, dass die Fehler, die Korn entweder unwissentlich unterlaufen sind oder aber bewusst verfälschend von ihm eingefügt wurden, tradiert wurden. Das gilt selbst für Albert Abramsons Monographie zur Geschichte des Fernsehens (2002), die sich im Unterschied zu Berz’ Aufsatz tatsächlich auf Patente stützt, und den Nachbau des Bain’schen Kopiertelegraphen von 1843 durch Adam Hart-Davis und Paul Bader (2000) sowie die kurze Bain-Anekdote in der Hart-Davis’schen Würdigung beinahe funktionierender Erfindungen (2001). Die sowohl genaueste wie auch aufgrund fehlender Nachweise wissenschaftlich völlig unbrauchbare Geschichte der britischen Anfänge des Mediums legte bislang Steven Roberts (2011) vor. Die Herausgeber des vorliegenden Bandes haben seit 2002 unterschiedliche Arbeiten zu diesem Thema vorgelegt: Kassung/Kümmel 2003; Kassung 2005; Kassung 2007; Kassung/Macho 2002; Kümmel 2002; Kümmel 2004; KümmelSchnur o.J. Zwei Projekte wurden durchgeführt: Im PP-Programm des DAAD wurden vier Workshops in Konstanz, Berlin und Prag von Christian Kassung und Albert Kümmel-Schnur gemeinsam mit Daniel Riha (Karls-Universität Prag) abgehalten. Von 2007 bis 2009 wurde im Rahmen des Juniorprofessorenprogramms des Landes Baden-Württemberg das Projekt »Geschichte der technischen Bildübertragung (1843–1923)« gefördert, in dem zentrale Texte des vorliegenden Bandes sowie drei demnächst erscheinende Monographien entstanden sind. Julia Zons, Mitarbeiterin in diesem Projekt hat folgende Aufsätze zu Casellis Pantelegraphen publiziert: Zons/Ziezold 2010; Zons 2010.
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Unsere Auseinandersetzung mit der Geschichte der Bildtelegraphie hat einerseits einen bemerkenswerten Mangel an Dokumenten ergeben: Vielfach sind die einzigen Materialien, die überhaupt noch von diesem Medium Zeugnis abgeben, Patentschriften. Patente sind aber alles andere als transparente Medien, die man einfach auf ihren angeblichen Sachgehalt hin lesen kann, ohne die Form des Patents und der Patentierungsprozesse überhaupt zur Kenntnis zu nehmen. Gerade aus der Frühzeit der Kopiertelegraphen zwischen 1843 und 1855 hat allem Anschein nach kein einziger Apparat überlebt. Die Papiermaschinen, die uns die Patente beschreiben und die Patentzeichnungen zeigen, sind somit die einzigen Quellen. Grund genug, diesem Quellentypus intensiv nachzugehen. Bislang war das Patent eine zentrale, in seiner Materialität und Medialität jedoch vernachlässigte Quelle technikhistorischer Forschungen. Das Patent wurde dabei einerseits als zuverlässiges Medium zur technischen Rekonstruktion historischer Apparate verwendet. Die Frage, ob diese Apparate je hergestellt wurden, wurde schlichtweg ausgeblendet. Ebensowenig wurde auf die besondere mediale Produktivität des Patents und der Patentierungsprozesse in sprachlicher, visueller und institutioneller Hinsicht eingegangen. Andererseits betrat das Patent immer dann die Bühne der Wissensgeschichte, wenn seine Gültigkeit angezweifelt wurde: Patentstreitigkeiten und insbesondere Patentprozesse hinterlassen eine breite Quellenspur. Doch auch diese wurde kaum selbstreflexiv gewendet: Es kam nur darauf an zu klären, wer denn Recht hatte und wer nicht. In der Mediengeschichtsschreibung kommt das Patent bislang lediglich dann vor, wenn man einen Ausweis der eigenen historiographischen Unbestechlichkeit benötigt: etwa in Texten der KittlerSchule, wo gern als quasi antihermeneutische Geste auf Patentnummern verwiesen wird. Die Patente selbst spielen dabei jedoch keine oder wenigstens keine konstitutive Rolle. Ein Problem der Interpretation von Patenten ist die Auseinandersetzung mit der zugrundeliegenden Rechtsgeschichte. Zwar ist die Geschichte des Patents in seinen nationalen und internationalen Varianten gut erfasst, aber auch die Rechtshistoriker sind selten an der Materialität ihrer Quellen interessiert. Meist wird Patentgeschichte als genealogische Geistes- oder Ideengeschichte erzählt. Häufig wird die Geschichte des Rechtsschutzes für Erfindungen als Wechselwirkung von technischer Innovation und ökonomischem Wandel beschrieben. Eine große Ausnahme bildet die Monographie von Pottage/Sherman (2010). Diese Darstellung, die sich vor allem auf das amerikanische Patentrecht bezieht, thematisiert die Medialität des Patents als »figures of invention« genitivus objectivus und subjectivus. Den Figurationen und Erscheinungsformen, die eine Erfindung (im Patent) annehmen kann,
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stehen jene Formen gegenüber, die die Erfindung selbst generiert – also die wechselseitige Form(at)ierung von Erfindungen und dem Rechtsschutz von Erfindenden. Alain Pottage und Brad Sherman sind Juristen. Diese disziplinäre Herkunft prägt zwangsläufig trotz der weitreichenden Perspektive des Bandes dessen Thesen. Was fehlt, ist dreierlei: erstens eine interdisziplinäre Auseinandersetzung mit dem Medium Patent, zweitens eine medienhistorische Auseinandersetzung mit anderen nationalen Patentrechten als dem US-amerikanischen und drittens eine Anwendung auf konkrete technische Entwicklungen. Mit dem vorliegenden Buch soll eine Annäherung an alle drei Aufgaben unternommen werden: Seine Beiträge wurden von Kultur-, Medien-, Kunst- und Technikhistorikern sowie einem Maschinenbauer geschrieben. Ein eigenständiger rechtshistorischer Beitrag fehlt, weil über die jeweiligen Beiträge verteilt und jeweils am konkreten Beispiel vor allem das deutsche, das britische und das französische Patentrecht mit kleinen Ausflügen ins US-amerikanische zur Sprache kommen. Aus diesen verschiedenen Perspektiven heraus widmet sich der Band der Geschichte eines einzigen Mediums: der Bildtelegraphie. Natürlich könnte man – aber das ist Teil gerade auch der Patentgeschichte dieses Mediums – die Einheit solch unterschiedlicher Apparate wie z.B. copying telegraphs, pantelégraphe, Telautotypie und Zwischenklischeemethode anzweifeln. Handelt es sich überhaupt um ein Medium? Oder ist bereits diese Generalisierung historisch unangemessen? Ist es berechtigt anzunehmen, all diese Geräte dienten demselben Zweck, nämlich der Fernübertragung in der Fläche verteilter Informationen? Man kann dies, soviel sei angedeutet, auch bezweifeln. Der vorliegende Band ist in drei Teilen organisiert: Institution, Apparat, Bild. Im ersten Teil widmen sich vier Texte institutionellen Aspekten des Mediums Patent. Der Text von Albert Kümmel-Schnur fragt ausführlich nach der Bedeutung des Patents als Akteur medienhistorischer Darstellungen. Der folgende Aufsatz von Marius Hug widmet sich dem nicht trivialen Problem der Recherche von Patenten anhand eines konkreten Beispiels und einer neuartigen Suchroutine. Christian Kassung zeigt anhand der recht späten Entwicklung des deutschen Patentamts exemplarisch, wie man sich das Patentieren als bürokratischen Akt vorstellen muss. Im Text von Simone Warta schließlich wird eine Auseinandersetzung über urheberrechtliche Ansprüche als implizite Diskussion der Definition des Schutzbereichs eines Patents vorgestellt. Der erste Abschnitt des Bandes liefert nicht zuletzt eine Begründung dafür, wieso sich Medien- und Kulturgeschichte überhaupt mit Patenten beschäftigen sollten und führt über die Frage der Recherchebedingungen mitten hinein in die Kulturtechniken des Patentierens.
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Konkrete Anwendungen dieser Kulturtechniken werden im zweiten, »Apparat« überschriebenen Teil des Bandes untersucht. Sechs Texte widmen sich in chronologischer Folge unterschiedlichen, ganz konkreten Patenten. Christian Kassung und Franz Pichler geben einen Überblick über bildtelegraphische Patente. Im anschließenden Text widmet sich Hans-Dieter Schmidt einer notwendigen Bedingung der telegraphischen Übertragung von Bildern: der Isolierung von Kabeln. Auch hier wird eine lange Entwicklung anhand des zentralen Patents der Guttaperchapresse von Werner Siemens nachgezeichnet. Die folgenden vier Texte haben jeweils eine Erfindung zum Thema. Johannes Graf setzt sich mit dem Design von Schaltern bei Bain und Hipp auseinander und verortet diese Erfindungen in den technologischen Kontexten ihrer Zeit. Nikolas Schmidt-Voigt bespricht die exzentrische, aber äußerst erfolgreiche Reliefmethode Édouard Belins. In Marius Hugs Aufsatz erhalten wir Einblicke in die sehr spezifischen Patentierungspraktiken Arthur Korns. Wladimir Velminski schließlich führt uns sowohl in eine andere Gegend Europas, Russland zu Sowjetzeiten, als auch über die Epoche der Bildtelegraphie hinaus in die frühen Fernsehexperimente. Der letzte Teil des Bandes heißt »Bild« und beschäftigt sich mit den Visualisierungstechniken von Patenten einerseits im Verhältnis von Text und Diagramm und in den Patentzeichnungen andererseits. Wie der zweite Teil umspannt auch dieser Abschnitt eine recht große Zeitperiode: Er beginnt bei Maschinenzeichnungen vor der Etablierung der Konstruktionszeichnungen, selbst vor der Epoche des Patents mit der Analyse historisch divergenter Leonardo-Interpretationen durch Steffen Bogen. Er endet mit dem Bericht eines Maschinenbauers, Martin Straub, über den Versuch, einen Korn’schen Bildtelegraphen mittels CAD zu rekonstruieren. Albert Kümmel-Schnurs davorstehender Aufsatz wägt den Wert solcher und anderer Methoden der Rekonstruktion von Apparaten auf der Basis von Patenttexten ab. Im Herzen des dritten Teils stehen drei Fallbeispiele: zwei Auseinandersetzungen mit den frühesten Zeichnungen eines Kopiertelegraphen – als Teil von Bains Patent von 1843 – durch Albert Kümmel-Schnur und Thomas Hensel. Schließlich denkt Julia Zons über die rhetorischen Qualitäten der pantelegraphischen Patente Giovanni Casellis nach. Wir freuen uns, dass dieses schwierige Projekt nun zu einem guten Ende gefunden hat. Zum Gelingen beigetragen haben viele Menschen, bei denen wir uns bedanken möchten. Insbesondere bedanken wir uns bei Christiane Gaedicke für das Korrektorat, Nikolaus Schmidt-Voigt für das Lektorat und Tobias May für Layout und Satz.
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Literatur Abramson, Albert 2002: Die Geschichte des Fernsehens. München: Fink. Berz, Peter 2002: Bildtelegraphie, aus: Schneider, Birgit/Berz, Peter, Bildtexturen. Punkte, Zeilen, Spalten (I. Textile Processing, II: Bildtelegraphie). In: Mimetische Differenzen. Der Spielraum der Medien zwischen Abbildung und Nachbildung, hrsg. v. Flach, Sabine/Tholen, Georg Christoph. Kassel: Kassel University Press. S. 202–219. Berz, Peter 2003: Kommentar zu Kassung/Kümmel: Synchronisationsprobleme. In: Signale der Störung, hrsg. v. Kümmel, Albert/Schüttpelz, Erhard. München: Fink. S. 167–171. Hart-Davis, Adam 2001: Das fliegende Schiff und andere Erfindungen, die fast funktionierten. München: dtv. Hart-Davis, Adam/Bader, Paul 2000: Local Heroes Do-It-Yourself Science. London: BBC Worldwide. Kassung, Christian 2005: Isochronie und Synchronie. Zur apparativen und epistemologischen Genese des Kopiertelegraphen. In: Schmidtgen, Henning (Hrsg.): Lebendige Zeit. Wissenskulturen im Werden. Berlin: Kadmos. S. 196–209. Kassung, Christian 2007: Kreis | Pendel | Zahl. Eine Wissensgeschichte des Pendels. München: Fink. Kassung, Christian/Kümmel, Albert 2003: Synchronisationsprobleme. In: Kümmel, Albert/Schüttpelz, Erhard (Hrsg.): Signale der Störung. München: Fink. S. 143–166. Kassung, Christian/Macho, Thomas 2002: Imaging Processes in Nineteenth Century Medicine and Science. In: Latour, Bruno/Weibel, Peter (Hrsg.): iconoclash. Beyond the Image Wars in Science, Religion, and Art. Karlsruhe u.a.: ZKM/The MIT Press. S. 5/2002. Korn, Arthur 1923: Die Bildtelegraphie. Berlin: de Gruyter. Kümmel, Albert 2004: Ferne Bilder, so nah (Deutschland 1926). In: Boehnke, Alexander/Schröter, Jens (Hrsg.): Analog/Digital. Geschichte einer Unterscheidung. Bielefeld: transcript. S. 269–294. Kümmel, Albert 2002: Gestörte Bilder. Zur Archäologie der Theorie des digitalen Bildes In: Sprache und Literatur in Wissenschaft und Unterricht, 4 (2002). S. 72–78. Kümmel-Schnur, Albert o.J.: Zirkulierende Autorschaft. Ein Urheberrechtsstreit aus dem Jahre 1850. In: Schüttpelz, Erhard u. a. (Hrsg.): Akteur-Medien-Theorie. Bielefeld: transcript (im Druck). Pottage, Alain/Sherman Brad 2010: Figures of Invention A History of Modern Patent Law. Oxford: Oxford University Press.
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Roberts, Steven 2011: Distant Writing. A History of the Telegraph Companies in Britain between 1838 and 1868, nicht illustrierte PDF-Fassung der Website: www.distantwriting.org. Zons, Julia/Ziezold, Hendrik 2010: Visualisierung des Aktiven. In: Grossmann, Stephanie/Klimczak, Peter (Hrsg.): Medien, Texte, Kontexte. Marburg: Schüren. S. 356–372. Zons, Julia 2010: Gestörte Bilder – Überlegungen zum Vermittler Pantelegraph. In: Bierwirth, Maik u. a. (Hrsg.): Ungeplante Strukturen. Tausch und Zirkulation. München: Fink. S. 77–91.
I NSTITUTION
ALBERT KÜMMEL-SCHNUR
Patente als Agenten von Mediengeschichte
Ereignis »Erfindung« Welche sonderbare Angelegenheit ist doch Geschichte! Es ließ sich mit Sicherheit von dem und jenem Geschehnis behaupten, daß es seinen Platz in ihr inzwischen schon gefunden hatte oder bestimmt noch finden werde; aber ob dieses Geschehnis überhaupt stattgefunden hatte, das war nicht sicher. Denn zum Stattfinden gehört doch auch, daß etwas in einem bestimmten Jahr und nicht in einem anderen oder gar nicht stattfindet; und es gehört dazu, daß es selbst stattfindet und nicht am Ende bloß etwas Ähnliches oder seinesgleichen.1
Geschichtsschreibung braucht, da sie von Geschichten lebt, Akteure und Ereignisse. Jahreszahlen machen Ereignisse überhaupt erst möglich, kreieren sie doch ein Vorher und ein Danach. Erst die Jahreszahl sorgt dafür, dass der Eindruck des Stattfindens überhaupt entstehen kann. Die Akteure hingegen reduzieren Komplexität. Statt Strukturen und anonyme Beziehungen – die sogenannten Verhältnisse, den Zeitgeist, irgendein vorgebliches historisches Apriori, eine »Welt von Eigenschaften ohne Mann«2 – zu beschreiben, verweist man auf einen oder mehrere handelnde Personen und ihre Beziehungen zueinander. Typische medienhistorische Erzählungen lauten folglich: (a) »350,000 BCE – Paint was invented by Africans.«3 oder (b) »1843 hatte Alexander Bain einen ›automatischen Kopiertelegraphen‹ erfunden.«4 Im Zentrum medienhistorischer Erzählungen stehen die Operation Erfinden und das Ereignis Erfindung. Dabei ist es ganz gleich, welcher Methodik oder Geschichtsauffassung eine medienwissenschaftliche Unter1 2 3 4
Musil 1978: 359f. Ebd.: 150. Wikipedia-Kollektiv (englisch) 2011. Abramson 2002: 6.
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suchung folgt: sie kann auf Erfindungen nicht verzichten. Sie werden als treibende Kräfte medienhistorischer Narrative aufgefasst – sei es nun affirmativ oder abgrenzend oder einfach in Ermangelung einer besseren Alternative. Dabei bleibt bemerkenswert unscharf, was eine Erfindung eigentlich genau sein soll. Betrachtet man die obigen Beispiele, wird schnell klar, wo das Problem liegt. Strukturell unterscheiden sich die beiden Sätze nicht – Jahreszahl, erfundenes Artefakt und erfindende/r Akteur/e werden je in einem einzigen Satz verbunden. Bedeutet der erste Satz, dass das früheste Zeugnis für die Verwendung von Farbe sich irgendwo in Afrika gefunden hat und über eine Drittelmillion Jahre alt ist, hält der zweite Satz das Jahr der Patentvergabe an einen namhaften, individuellen Erfinder, den schottischen Uhrmacher Alexander Bain, fest. Im Satz (a) ist alles unbestimmt: Jahr, Ort, Geschichtssubjekt und sogar der Gegenstand, denn was genau ist »paint«? Ein bestimmtes Material oder eine neuartige Verwendung eines bekannten Materials? Geht es darum, dass entdeckt worden ist, dass man bestimmte Stoffe – pflanzlicher oder tierischer Herkunft – dazu benutzen kann, das Erscheinungsbild anderer Stoffe bzw. Gegenstände zu verändern? Dass man etwa verkohltes Holz dazu nutzen kann, schwarze Spuren auf menschlicher Haut oder Linien auf Felswänden zu hinterlassen? Und dass man bei dieser Gelegenheit festgestellt hat, dass Kohle in verriebenem oder zermahlenem Zustand, mit Wasser oder Öl vermischt, sich weit besser verarbeiten lässt als rohe verkohlte Äste oder Holzstücke? Ist also ein Material oder ein Prozess erfunden worden? Und ist das Datum, vor ungefähr 350.000 Jahren, nicht Ergebnis unserer Recherche, unseres unvollkommenen Wissens und somit keineswegs der historische Zeitpunkt, zu dem Farbe ins Leben der Menschen getreten ist? Das Jahr 1843 hingegen ist unzweifelhaft und interpretationsunabhängig das Jahr der Verleihung des welthistorisch ersten Patents auf einen Kopiertelegraphen. Doch niemand kann mit letzter Sicherheit sagen, ob nicht bereits zu einem anderen Zeitpunkt, in einer anderen Gegend der Erde bereits ein ähnliches, gleiches oder sogar besseres Gerät erfunden wurde. Ohne Patent. Auch das Jahr 1843 schreiben wir an in Ermangelung besseren Wissens, aber immerhin auf Basis einer klaren Quellenlage. Müssen wir demnach folgern, dass Ereignisse, die nicht aufgeschrieben werden und auch keine anderen Spuren hinterlassen, buchstäblich keine Rolle spielen? Oder ist ein spurloses Sich-Ereignen, ein Gesicht am Meeresstrand, das die Wellen fortspülen, schlichtweg überhaupt kein Ereignis? Gehört also zum Ereignis auch dessen die Zeit überdauernde Spur, da nur auf diese Weise ein Ereignis eine Differenz darstellt, die eine Differenz macht, wie wir in Anklang an Batesons Informationsdefinition sagen könnten? Genau das ist ja die Funktion des
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Ereignisses: eine Differenz zu markieren im Einerlei des Zeitverlaufs. Eine Verdichtung, Beschleunigung oder Verlangsamung, ein Atemholen, ein Höhe- oder Tiefpunkt. Oder, wie Jacques Derrida formuliert: »Es ist vielleicht nicht überflüssig, daran zu erinnern, dass ein Ereignis Überraschung, Unvorhersehbarkeit und Exponiertheit bedeutet«.5 Um Derridas Ereignis-Definition zu verstehen, ist es nicht nur nicht überflüssig, sondern absolut notwendig, den Ereignis-Begriff untrennbar an die Radikalität einer unvordenklichen Überraschung, einer echten Überraschung also, die man unter keinen Umständen hätte voraussehen können, zu knüpfen. Ereignis – das ist das schlechterdings Un-Mögliche: »Zu den Merkmalen des Ereignisses gehört ja nicht nur die Unvorhersehbarkeit und damit die Tatsache, dass es den gewöhnlichen Gang der Geschichte unterbricht, sondern auch seine absolute Singularität.«6 Das ist schon keine philosophische, das ist eine durch und durch theologische Sicht der Dinge: Das Ereignis ist nur als Un/ Möglichkeit Ereignis. Ereignis gibt es nur als Einbruch von etwas, das kat’exochen außerweltlich ist. Das Ereignis ist strukturell messianisch. Diese Sicht der Dinge, die Derrida nicht zufällig vonseiten einer Logik der Gabe her entwickelt, auf technische Innovationen, auf das Ereignis Erfindung zu beziehen, ist nicht einfach. Derrida ist sich sicher, dass Erfindungen in dem von ihm definierten Sinne Ereignisse sind: Die Erfindung ist ein Ereignis; das sagen schon die Worte selbst. Es handelt sich darum, zu finden, einzutreten und sich ereignen zu lassen, was noch nicht da war. Wenn die Erfindung möglich ist, ist sie keine Erfindung.7
Die Unmöglichkeit, etwas zu erfinden, wird aus der Normativität absolut unvordenklicher Neuheit heraus gefolgert. Informationstheoretisch ausgedrückt: Ein Geschehen ist, nach Derrida, nur dann ein Ereignis, wenn es maximal informativ, sein Eintreten also maximal unwahrscheinlich, nahezu unmöglich, ist. Wenn ich das, was ich erfinde, erfinden kann, wenn ich die Fähigkeit dazu habe, dann heißt das, dass die Erfindung in gewisser Weise einer Potenzialität entspricht, einer Potenz, die ich bereits in mir habe, sodass die Erfindung nichts Neues bringt. Das ist kein Ereignis.8
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Derrida 2003: 7. Ebd.: 21. Ebd.: 31. Ebd.: 31.
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Selbst um den Preis, nicht über ein einziges empirisches Beispiel für seine These zu verfügen,9 lehnt Derrida jede wissenschafts- und technikhistorische Kontextualisierung von Erfindungen ab: Erfindungen sind kat’exochen unvordenklich, oder sie sind nicht. »Wenn die Struktur des Feldes die Erfindung möglich macht […], dann ist diese Erfindung keine Erfindung, und zwar genau deswegen, weil sie möglich ist.«10 Das Argument Derridas ist ausschließlich wegen seiner paradoxen Wendung bemerkenswert, der zufolge dem Singulären des Ereignisses seine (unmögliche) Wiederholung bereits von vornherein eingeschrieben sein muss, da es sonst gar nicht zur Erscheinung käme, sich schlichtweg nicht ereignen könnte. Tatsächlich wird auf diese Art und Weise gar nichts erfunden – Derrida argumentiert eben als Philosoph, nicht als Historiker. Doch eine Geschichtsschreibung, die aus technischen Innovationen ihr Narrativ ableitet, operiert exakt so, wie Derrida es beschreibt.11 Die Funktionsstelle des Neuen übernimmt in medienhistorischen Ursprungs-, i.e. Erfindungsnarrativen, der Zufall. Die Jodsilberplatten geben bei kurzer Belichtung kein sichtbares Bild. Daguerre mußte daher immer sehr lange belichten, um ein sichtbares Bild zu erhalten. Eines Tages wurde während einer Aufnahme das Wetter plötzlich trübe. Daguerre nahm also die zu kurz belichtete Platte wieder aus der Kamera und stellte sie in einen Schrank. Als er am nächsten Tag den Schrank wieder öffnete, fand er zu seinem größten Staunen das fertige Bild auf der Platte.12
Am Anfang dieser berühmten Anekdote steht das scheinbar unlösbare Problem überlanger Belichtungszeiten. Daguerre kann das Problem nicht lösen – die Erfindung wird und muss ihm zufallen. So wird die eigentliche Erfindungserzählung von drei Indikatoren des Unplanbaren eingeleitet: »eines Tages«, »das Wetter«, »plötzlich«. »Eines Tages« – so werden Erzählungen eingeleitet, die auf den Unterschied dieses Tages von allen anderen hinweisen wollen. Das Wetter ist eine topische Formel für den Zufall schlechthin, und die Zeitangabe »plötzlich« verstärkt und bestätigt den Eindruck des überraschend Einfallenden, den die beiden anderen Wörter bereits heraufbeschworen hatten. Daguerre verhält sich so, wie er sich immer verhalten hätte: Er bricht den Auf9
»Wenn es Erfindung gibt – und vielleicht ist das ja niemals der Fall […]«. (Ebd.: 33). 10 Ebd.: 32. 11 Das muss nicht sonderlich überraschen, da Derrida ja die sprachliche Form von Ereignissen behandelt, die »gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen« (Ebd.: Titel, Hervorhebung AKS), keinesfalls jedoch die Phänomene selbst (was immer diese auch sein mögen). 12 Zitiert in Busch 1995: 186.
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nahmeversuch ab. Für ihn ist die Geschichte hier zu Ende und gerade an diesem Ende ereignet sich das Überraschende: Im nächtlichen Dunkel seines Schranks wird der flüchtige Lichteindruck fixiert. »Größtes Staunen« ist denn auch die einzig angemessene Beschreibung für Daguerres Reaktion auf das Wirken des Zufalls. Den sprachlichen Indikatoren des Unvordenklich-Staunenswerten, des Wunders, arbeiten die Agenten der Iteration entgegen: Nur als bereits erfolgreiche wird diese Experimentalgeschichte überhaupt erzählt – sie hat immer schon Erfolg gehabt; eben deshalb wird sie ja erzählt. Daguerre kann die Fixierung des Bildes zu einem wiederholbaren Prozess machen, weil der Prozess prinzipiell wiederholbar ist. Kein Gott hat eingegriffen, keine Göttin sich einen Scherz erlaubt. Stattdessen fand eine chemische Reaktion statt – erwartund vorhersagbar, wenn man ihr Gesetz einmal kennt. Ihre Erzählbarkeit gewinnt sie aus der erfolgreichen Verifizierung der Wirksamkeit des Prozesses. Das Ereignis muss also als ganz und gar aus der bekannten Ordnung der Dinge herausfallend wie im Nachhinein völlig logisch und folgerichtig gedeutet werden, um überliefert zu werden.13 Der im vorliegenden Buch diskutierte Fall der Bildtelegraphie bietet die ungewöhnliche Gelegenheit, die Formation des un/möglichen Ereignisses Erfindung in dem von Derrida beschriebenen Sinne zu beobachten. Ich gehe nur kurz darauf ein; der Fall wird ausführlich in zwei Texten dieses Bandes besprochen.14 Der schottische Uhrmacher Alexander Bain und der englische Physiker Frederick Bakewell streiten sich im Bastlermagazin Mechanics’ Magazine von 1850 um die Ehre, den ersten Kopiertelegraphen der Welt erfunden zu haben. Dabei wirft Bain Bakewell vor, er habe mit dem Patent von 1848 bloß sein Patent von 1843 plagiiert. Bakewell wiederum argumentiert, Bain habe gar keinen funktionstüchtigen Apparat konstruiert. Das besonders Seltsame dieses Streits liegt in dem abwesenden Apparat von 1843: Obwohl es einen in diesem Jahr patentierten Kopiertelegraphen gibt, taucht an seiner Stelle stets nur eine verbesserte Version dieses Gerätes auf, die dem ursprünglichen Telegraphen nicht im Mindesten ähnelt. Der Telegraph von 1843 war das unvordenkliche Ereignis, das gar nicht als solches auffiel: 1850 wird es als Fluchtpunkt konstruiert, ohne jedoch je mehr als die ausdehnungslose Nulldimension eines Punktes zugewiesen zu bekommen.
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»Staudenmaier (1985) observed that in the first twenty-five volumes of the journal Technology and Culture, only nine articles were devoted to the analysis of failed technologies.« (Bijker 1997: 7). Siehe die Beiträge von Simone Warta und Albert Kümmel-Schnur in diesem Band. Vgl. außerdem Kümmel-Schnur 2012.
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Die Erfindung der Bildtelegraphie im Jahre 1843 wird – trotz oder ungeachtet der Existenz des Patents GB 9.745 – im Jahre 1850 gemacht.15 Ereignisse sind, darin gleichen sie Unfällen, Wundern und anderen Störungen, immer nachträglich. Sie sind immer schon geschehen – nur als vergangene lassen sie sich versprachlichen und sie sind vergangen, sobald man sie versprachlicht. Ein zentrales medientheoretisches und epistemologisches Problem jeder Darstellung von Störungen ist ihre Nachträglichkeit und in die Zukunft gerichtete Weiterbearbeitung. Man wird durch die Störung gezwungen, sich auf etwas zu beziehen, was nicht geschehen ist, so daß Intentionalität, Übereinstimmung und Einvernehmlichkeit sich selbst als »Nachträglichkeit eines Nicht-Geschehenen« ausweisen müssen. Alle Versuche, diesem elementaren Skandal alltäglich oder wissenschaftlich auszuweichen, indem man sich darauf einigt, bestimmte Abläufe und Muster vorauszusetzen, die zur Störung geführt haben sollen, sehen sich bei einer genaueren Dokumentation auf ihre eigene Nachträglichkeit verwiesen.16
Nun stellt sich jedoch die Frage, inwiefern es legitim ist, dem Ereignis Erfindung eine wunder-, un- oder zufallshafte Struktur zu unterstellen. Mit anderen Worten: Gehört die Erfindung, von der zweifelsfrei genau so erzählt wird, als ob es sich bei ihr um ein Wunder, den Einfall eines Unvorhersehbaren, handele, denn selbst zu den Wundern, Unfällen, Zufällen und anderen Störungen und Katastrophen? Ist eine Erfindung – auch in Hinsicht auf ihr Verhältnis zur Erfindungserzählung – nicht gerade das strikte Gegenteil eines Unfalls oder Wunders? Ein Unfall geschieht – und dann werden mögliche Hergänge rekonstruiert, während derer der Unfall, der all seinen Rekonstruktionen unverfügbar immer schon vorher15 Hans H. Hiebels »Kleine Medienchronik« (1997) enthält einen schönen Fehler, der genau die Struktur dieser Erfindungserfindung, der verschiebend-verschobenen Ursprungserzählung der Bildtelegraphie, reproduziert: Schlägt man die Chronik auf S. 269 auf, findet man im Register unter »Bildtelegraphie« die Angabe »Bain 1843« und als dazugehörige Seitenzahl die 64. Wer dort jedoch nach Bains Erfindung aus dem Jahre 1843 sucht, findet bloß Bakewells Erfindung von 1848: »Die Bildtelegraphie bzw. chemische Telephotographie wird erstmals von F. C. Bakewell in London durchgeführt.« (Hiebel 1997: 64f.). Davor: nichts. Bains Apparat ist – wie im Urheberrechtsstreit von 1850 – eine Leerstelle, auf die man verweisen kann, ohne sie je zu füllen. Im Vorwort verlegt Hiebel Bakewells Patent in das Jahr 1847 und erwähnt Bain gleich gar nicht mehr (S. 35). Fraglich muss auch bleiben, wie Hiebel zu der Feststellung kommt, Bakewell habe 1848 nicht nur ein Patent erhalten, sondern das in diesem Patent beschriebene Gerät tatsächlich auch gebaut und eingesetzt. 16 Kümmel/Schüttpelz 2003: 10. Siehe zum Problem der Nachträglichkeit auch Derrida 2003: 21 und Kassung 2007: 9.
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gegangen sein wird, als Ereignis überhaupt erst entsteht. Bei Erfindungen scheint mir genau die umgekehrte Struktur vorzuliegen: Mehr oder weniger gezielt – je nachdem, ob wir es mit einem eigenbrötlerischen Bastler oder der Forschungsabteilung eines großen Unternehmens zu tun haben, sowie in Abhängigkeit von der historischen Schicht, in der wir uns bewegen – wird versucht, Vorhandenes zu verbessern und/oder den Raum des technisch Machbaren – auch ohne unmittelbar gegebenen Anwendungsbezug – zu vergrößern. Das heißt: Eine Erfindung ist das schlechterdings Erwartbare, Mögliche, denn man versucht, ihr Auftreten zu forcieren, wahrscheinlich zu machen. Man bereitet eine Bühne, die so gestaltet ist, dass sie versteckte und offensichtliche Akteure dazu anregt, gemeinsam ein Drama, das Drama der Entdeckung oder Erfindung aufzuführen. Fasst man das Ereignis Erfindung jedoch im Sinne einer solchen Form von Umstandsoptimierung und Wahrscheinlichkeitsvergrößerung auf, verliert es den Charakter, der es in den Ursprungserzählungen überhaupt erst zur Erfindung macht. Es wäre dann keine Erfindung mehr: »Thus the ›invention‹ of the Saftey bicycle will be depicted not as an isolated event (for example, in 1884), but as an eighteen-year process (1879–1897).«17 Folgt man Bijker, werden die beiden für das Ereignis Erfindung notwendigen Elemente – Akteur und Zeitpunkt – dekonstruiert: »technical change cannot be the result of a momentous act of the heroic inventor«18. Der einsame Erfinderheros verliert sich im Gewimmel der Akteure; der revolutionäre Moment des Durchbruchs, das topische »Heureka!« wird ersetzt durch eine Serie minimaler Schritte, ein eher evolutionäres Spiel von Variation und Selektion. Akteur und Ereignis werden einmal mehr deutlich als Bestandteile von Erfindungsnarrativen: »Die hauptsächliche Schwierigkeit bei der Integration von Technik in die Sozialtheorie besteht im Mangel an narrativen Ressourcen.«19 17 Bijker 1997: 87. 18 Ebd.: 86. 19 Latour 2000a: 377. Interessanter- und unverständlicherweise hält gerade Bruno Latour, der am Beispiel der Begegnung von Pasteur mit dem Milchsäurebakterium sehr schön die Struktur einer Entdeckung im Sinne der oben beschriebenen Verhältnisoptimierung erläutert hat, an einer Ereignisdefinition fest, wie sie auch Derrida vertritt: »Nirgendwo im Universum […] läßt sich eine Ursache, eine Kräfteübertragung finden, die für ein Ereignis aufkäme und seine Emergenz erklärte. Wäre es anders, so hätte man es nicht mit einem Ereignis, einer Differenz zu tun, sondern nur mit der bloßen Aktivierung eines Potentials, das die ganze Zeit über schon da war. Zeit würde nichts hinzufügen, und Geschichte wäre umsonst.« (Ebd.: 185) Gerade die Unterscheidung der absoluten Neuheit von der bloßen Entfaltung eines innewohnenden Potentials teilt Latour mit Derrida.
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Dem ist nur hinzuzufügen, dass insbesondere im Festhalten am Motiv des blitzartigen Durch- oder Umbruchs die Ressource klassischer Erfindungs- und Erfindererzählungen die Künstlerbiographie seit Giorgio Vasaris Viten darstellt.20 Überraschenderweise halten auch Mediengeschichten diskursanalytischer Provenienz (z. B. im Gefolge Friedrich Kittlers) an der Erfindung als eines zufälligen, unvordenklichen Ereignisses fest, indem sie stets das Gegenteil betonen: »Es sei kein Zufall, dass« lautet die gleichbleibende Formel solcher Geschichten.21 Das Nicht-Zufällige, das hier heraufbeschworen wird (ohne von fester Vorherbestimmtheit reden zu müssen oder zu wollen), ist das Wahrscheinlichkeitsfeld eines Zusammentreffens ohne jede Bestimmtheit im Detail. Anhänger des New Historicism sind sich nicht zu schade, von einem »Austausch hinter dem Rücken der Akteure«22 zu raunen, auch wenn der Nachweis dieses Austausches allenfalls assoziativ-hermeneutisch hergeleitet werden kann – Belege sind auch hier nichts weiter als das zeitgleiche Auftreten gleicher Begriffe. Ein typisches Beispiel solcher Gleichzeitigkeit gibt der »Achtzehnhundertsiebenundneunzig« betitelte Anfang von Wolfgang Hagens Spiritsmus-Buch »Radio Schreber«:23 Eine Liste stellt die Entdeckung des Elektrons, Adolf Slabys Funkexperimente, Sigmund Freuds Traumdeutung, Ferdinand de Saussures Auseinandersetzung mit dem multiplen Medium Hélène Smith, William Crookes letzte Rede als Präsident der »Society for Psychical Research« und Daniel Paul Schrebers »Denkwürdigkeiten eines Nervenkranken« zusammen und insinuiert mit dieser paratextuellen Strategie die Bedeutsamkeit, ja, Gesetzmäßigkeit genau dieser Zusammenstellung. Anderenorts werden Jahreszahlen wie 192624 oder 192925 zum Anlass genommen, mutmaßliche historische Verdichtungen – die sich wohl bei etwas schriftstellerischem Geschick in jedem Jahr nachweisen ließen – festzuhalten. So überkreuzen sich z. B. Physiologie und Technik in der Erfindung des Edison’schen Phonographen. Wer das einmal festgestellt hat, sieht sich legitimiert, nun wieder ganz traditionell von Erfindern und Erfindungen reden. Ein Auszug 20
21 22 23 24 25
»Das Motiv der zufälligen Entdeckung besitzt eine Parallele in der Form der Künstlerbiographie. Seit der Renaissance werden die Lebensläufe von Künstlern so erzählt, als ob sie von Geburt an über ihre Fähigkeiten verfügen.« (Heidenreich 2004: 20). Dass populäre wie strukturkonservative Mediengeschichten diesem Narrativ verpflichtet sind, bedarf ohnehin keiner besonderen Betonung. Vgl. etwa die methodologische Darstellung in Andriopoulos 2000: 15–27. Vgl. Hagen 2001. Vgl. Gumprecht 2003. Vgl. Andriopoulos/Dotzler 2002.
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aus Kittlers »Grammophon, Film, Typewriter« möge diese Tendenz illustrieren: »Hulloo!« brüllte Edison ins Telephonmundstück. Die Membran vibrierte und setzte einen angeschlossenen Griffel in Bewegung, der seinerseits auf einer vorrückendes Band Paraffinpapier schrieb. Juli 1877, einundachtzig Jahre vor Turings rückendem Papierband, weshalb die Aufzeichnung noch analog verfuhr. Beim Wiederabspulen des Bandes und seiner Schwingungen, die nun ihrerseits die Membran in Bewegung setzten, ertönte ein kaum verständliches »Hulloo!«26
Wir werden Zeuge eines dramatischen oder wenigstens dramatisch erzählten Ereignisses: des Versuchs, gesprochene Stimme ohne den Umweg über codierte Zeichen – z. B. Notenschrift – unmittelbar in eine graphische Spur zu verwandeln. Am Anfang steht die Stimme des großen Erfinders, des Prototyps des Erfinders überhaupt, Thomas Alpha Edison. Am Ende der klassisch in ABA'-Struktur aufgebauten Geschichte tönt eben diese Stimme wieder, nicht nur erfolgreich aufgezeichnet, sondern auch wiedergegeben: Die Maschine spricht, wenn auch »kaum verständlich« (ein Äquivalent zum Brüllen Edisons – anderenorts betont Kittler Edisons Schwerhörigkeit). Das »Hulloo« Edisons durchläuft jedoch im Verlauf dieses kleinen Narrativs nicht nur eine mediale Verwandlung, vielmehr – und möglicherweise sogar wichtiger27 – erhält sie einen Ort in jener Geschichte, die ihr Ziel immer schon im angeblichen Universalmedium Computer hat: Das »Paraffinband« Edisons wird zum Vorläufer des endlosen Schreiblesebands der Papiermaschine Turings. Eine Geschichte, die ihr Ziel kennt, ist keine.28 26 27
Kittler 1986: 37. Diesen sehr radikal teleologischen, ahistorischen Zug vieler Texte der sog. Kittler-Schule hat Christian Kassung minutiös für den, die Bildtelegraphie von ihren Anfängen bei Alexander Bain als Prozess digitaler Informationsverarbeitung auslegenden Aufsatz von Peter Berz (Berz/Schneider 2002) herausgearbeitet und kritisiert (siehe Kassung 2007: 308–321). 28 Es geht wohl ohnehin weniger um Mediengeschichte denn um eine Demonstration der Kittlerschen Theorie, Gesellschaften seien am Leitfaden des Shannon’schen Modells der Kommunikation darstellbar: Ein Sender (Edison) wählt eine Nachricht (»Hulloo«) aus einem Repertoire möglicher Nachrichten aus und schickt sie über einen Transmitter (Telephonmundstück – gemeint ist wohl schlicht ein Mikrofon, die Hörmuschel des telefonischen Handapparats nennt sich Telefon) in einen Kanal. Dort ereignet sich dann die Störung (eine zukünftige Mediengestalt, der Computer, das Digitale, interferiert und kassiert damit gleich die Botschaft). Dann folgt die Rückübersetzung. Übrig bleibt im Empfang »ein kaum verständliches ›Hulloo!‹«
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Worin besteht die Alternative? Wie können wir die Fallen solcher Narrative, das derart skandalöse Auseinanderfallen eines Textes in avantgardistische Großtheorie und hausbackene Erfindergeschichten vermeiden? Gibt es ein Jenseits von Erfindungsgeschichte/n? Die naheliegende Antwort bietet der Imperativ »Follow the actors!«, mit dem die Akteurs-Netzwerk-Theorie seit den 1980er Jahren angetreten ist, die alte Kluft heuristischer Trennung zwischen Natur, Kultur und Geschichte und epistemologischer Unterscheidung von Subjekten und Objekten zu schließen.29 The main advice on method suggested by the proponents of actor-network theory is to »follow the actors« (Callon 1986a; Callon 1991; Latour 1996) and to let them set the framework and limits of the study themselves. Latour (1996) likens this to a murder mystery novel in which questions are asked of each of the actors, and any subsequent directions and leads that may emerge from these initial questions are followed up by the detective. Some of these leads will, of course, be to other actors who will suggest yet other actors, and so the process continues.30
Wieso die Akteur-Netzwerk-Theorie einen Ausweg aus den Sackgassen der Erfinder- und Erfindungsgeschichten bietet, demonstriert Bruno Latours Rekonstruktion von Reese W. Jenkins’ Geschichte der »gleichzeitigen Erfindung der Kodak-Kamera und des Massenmarktes für Amateurfotografie«.31 An die Stelle des großen Ereignisses Erfindung – Kodak-Kamera plus Amateurmarkt – treten wechselnde Ensembles (»Kollektive«)32 labil verknüpfter menschlicher und nicht-menschlicher Akteure – professionelle Fotografen und Knipser, Kollodium-Nassplatten und trockene Gelantineplatten, Eastman Dry Plate Company und Walker, Rollhalterrahmen und Messtrommeln. Die Ensembles setzen sich keineswegs akkumulativ zusammen oder bauen gar aufeinander auf, sondern schließen sich assoziativ33 zu je differenten, ja einander feindlichen Handlungsprogrammen34 zusammen. 29 30 31
32 33 34
Für eine neue Zusammenfassung der Theoriegeschichte siehe Schüttpelz 2012. Tatnall/Burgess 2002: 184. Latour 2006: 377. Obwohl ich Latours Darstellung inhaltlich folge, halte ich die von ihm gewählte teilcodierte Liste von Programmen und Antiprogrammen (Ebd.: 377–379) wegen ihrer Unübersichtlichkeit für gänzlich misslungen. Zur Kritik an Latour als Diagrammatiker siehe Kassung/ Kümmel-Schnur 2008. Siehe zur Diskussion des Latour’schen Kollektiv-Begriffs Kneer u. a. 2008. Latour 2006: 372. Ebd.: 373.
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Innovationen verdeutlichen uns, dass wir niemals in einer Welt von Akteuren arbeiten, denen feste Umrisse zugeschrieben werden könnten. Nicht nur variiert ihr Grad an Verbundenheit mit einer Aussage; ihre Kompetenz, sogar ihre Definition kann transformiert werden. Diese Transformationen, denen die Akteure unterliegen, sind von wesentlicher Bedeutung für uns, wenn wir Innovationen untersuchen, weil sie enthüllen, dass der vereinheitlichte Akteur […] selbst aus einer Assoziation anders verteilbarer Elemente besteht. Das Öffnen und Schließen dieser Black Boxes hat bislang das Verstehen der Einstiegspunkte von Innovationen zu einem heiklen Prozess gemacht.35
Wo soll man den Schnitt setzen? Welches Akteursensemble vor allen anderen, die ihm vorausgehen oder nachfolgen, privilegieren? Welche Perspektive garantiert und stabilisiert dieses Privileg? Man kann also entweder das Ereignis Erfindung nur in Serien von Mikroereignissen – die Mobilisierung, Destabilisierung, Delegierung, Assoziierung neuer oder die Ablösung, Entfernung, Dekonstruktion alter Akteure – auffassen oder aber den gesamten Prozess der Zusammenschließung verschiedenster, wandelbarer Akteursensembles zu Black Boxes (z. B. der Kodak-Kamera) diachron und synchron mit dem Namen »Erfindung« belegen. Die Akteurskollektive sind zu instabil, ihre Fortentwicklung im Stil einer Operation, die Latour »reversibles Blackboxing«36 nennt, zu unvorhersehbar: Kollektive werden vergessen, tauchen wieder auf, werden plötzlich geschlossen und wieder geöffnet. Dennoch kommt auch dieser Prozess zu einer Art Stillstand: Am Ende stehen – in diesem Fall – die Kodak-Kamera und der Massenmarkt für Fotoamateure, also jene singulären und un/zufälligerweise zusammenfallenden Ereignisse, die wir in Mediengeschichten als Erfindungen apostrophiert finden. Die so erzählte Geschichte ist, so könnte man sagen, fraktal dimensioniert: Anstelle eines Endes, lässt sie sich immer neu aufbrechen, immer detaillierter und anders zusammenfassen – je nachdem, welche Akteure man in den Blick nimmt und welche Akteure man zu Subjekten der Geschichte erklärt: »aus dem ersten Beweger einer Handlung wird für uns eine neue, verteilte und verschachtelte Serie von Praktiken«.37 »Thus the ›invention‹ of the Safety bicycle will be depicted not as an isolated event (for example, in 1884), but as an eighteen-year process (1879–1897).«38 Obwohl Wiebe E. Bijker Latour für dessen Irreduktio35 36 37 38
Ebd.: 375. Latour 2000b: 225. Ebd. 219f. Bijker 1997: 87.
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nismus-Votum39 kritisiert, das den Beobachtenden letztlich dazu zwinge, immer nur einzelne Fälle zu betrachten ohne die Möglichkeit zur Abstraktion und Generalisierung, ist sein Modell des soziotechnischen Wandels in großen Zügen durchaus kompatibel40 mit den ontologisch radikaleren, aber eben deshalb auch schwerer anwendbaren Ansichten der französischen Vertreter der Akteurs-Netzwerktheorie – z. B. Bruno Latour und Michel Callon.41 Auch Bijker dekonstruiert sehr nachdrücklich das singuläre Ereignis Erfindung: So zeigt er am Beispiel der Entwicklung des modernen Fahrrads, dass die Entscheidung, ob eine Maschine funktioniere keineswegs technischer Natur ist: »machines ›work‹ because they have been accepted by relevant social groups.«42 So erklärt Bijker die zunächst nur schwer verständlich erscheinende Entwicklung und Popularität des Hochrades aus der Begeisterung junger Männer der Oberschicht für riskanten Sport: For example, for the social group of Ordinary [Hochrad, AKS] nonusers an important aspect of the high-wheeled Ordinary was that it could easily topple over, resulting in a hard fall; the machine was difficult to mount, risky to ride, and not easy to dismount. It was, in short, an Unsafe Bicycle. For another relevant social group, the users of the Ordinary, the machine was also seen as risky, but rather than being considered a problem, this was one of its attractive features. Young and often upper-class men could display their athletic skills and daring by showing off in the London parks. To impress the riders‘ lady friends, the risky nature of the Ordinary was essential. Thus the meanings attributed to the machine by the group of Ordinary users made it a Macho Bicycle.43
Wo Latour verschiedene Hybridakteure sehen würde, sieht Bijker eine interpretative Offenheit – »interpretative flexibility«:44 Die Zuschreibung bestimmter Qualitäten (oder deren Wertung) machen aus dem Hochrad zwei ganz unterschiedliche Akteure: ein rasantes Sportrad und ein riskantes Unfallgerät. Bijker kann allerdings zeigen, dass nicht ein neuer Akteur (der luftgepolsterte Reifen) dem Fahrrad in der heutigen Form (Diamantrahmen, gleich große Räder, Hinterradkettenantrieb) zum Durchbruch verholfen hat, sondern die Umdeutung des erschütterungsreduzierenden Luftpolsterreifens in einen »high-speed air 39 40 41 42 43 44
Ebd.: 274 und 326. »an artefact has a fluid and everchanging character.« (Ebd.: 52). Siehe zu Bijkers Selbstpositionierung die vergleichende Tabelle in ebd.: 275. Ebd.: 270. Ebd.: 74f. Ebd.: passim.
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tire«45 – in dieser Form konnten nämlich auch Oberschichtsmachos das neue saftey bike als Sportgerät akzeptieren. Die Geschichte kommt an ein Ende. When a scientific [und wir könnten ergänzen: technical, AKS] controversy is closed by the participants reaching consensus, scientific facts are created. This consensus means that the interpretative flexibility of, for example, an observation statement disappears, and from then only one interpretation is accepted by all. Such a closure is not gratuitous, but has far-reaching consequences: it restructures the participants‘ world. History is rewritten after such a closure, and it is difficult to recapture the factual flexibility as it existed prior to the ending of the controversy. On the other hand, it is in principle always possible […] to reopen up a controversy once closure is reached.46
Agent Patent Der vorliegende Band interessiert sich vor allem für einen Akteur, der technische Geschichten öffnet, schließt, verdichtet und zerstreut: das Patent. Dieser Akteur erst macht die Interpretationskontroversen, von denen soeben die Rede war, möglich und auch notwendig. In ihrer auf die USA fokussierten, wenn auch nicht darauf begrenzten Geschichte des modernen Patentrechts schlagen Alain Pottage und Brad Sherman vor, Patente als Netzwerke medialer Strategien zu betrachten.47 Patente generieren Erfindungserzählungen, mehr noch, sie bringen die Erfindung als Ereignis überhaupt erst hervor: »the material and semantic assemblages of patent jurisprudence are fabrications that make the invention visible and tractable, and the contingent ways in which these assemblages are constructed condition how and what appears as the invention.«48 The »invention« was an effect of the means and idioms available to represent it, and this effect was ascribed to the thing that it was supposed to represent.
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Ebd.: 85. Ebd. Ich skizziere im Folgenden die Argumentation der mit genitivus subjectivus wie objectivus treffend »Figures of Invention« genannten Monographie. Verkürzungen der sehr dichten Argumentation von Pottage/ Sherman sind dabei unvermeidbar. Es erscheint mir jedoch sinnvoll, dieser Untersuchung im hier vorliegenden Kontext eine deutliche Priorität einzuräumen, da sie Rechtsgeschichte als Mediengeschichte schreibt. Pottage/Sherman 2010: 11.
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So the primary and most vital embodiment of the intangible invention was the patent text, and the material artifact (which in any case appeared only in the form of, or contextualized by, models, texts, and testimony) was construed as a reflected embodiment for a form fabricated in the medium of text.49
Pottage/Sherman argumentieren überzeugend, dass das Patentrecht in und mit einer Welt entsteht, die das Wissen von Personen löst, um es im Sinne verkörperbarer, aber auf die so gewonnene Materialität nicht reduzierbarer Ideen neu zu erfinden. Diese Welt entsteht im 18. Jahrhundert im Zuge der beginnenden Industrialisierung: »a generalized process in which human competences became disembodied social functions.«50 Bis dahin klebt das Wissen um die Herstellung von Gegenständen an den Handwerker/innen, die sie herstellen. Entkörperlichung ist das zentrale Stichwort: Wer bei einem Tischler ein Möbelstück bestellt, erhält einen Gegenstand, der ihm vollständig gehört – einen Tisch, ein Bett, einen Schrank. Diese Gegenstände werden nach bestimmten, tradierten Regeln hergestellt, die von dem individuellen Handwerker aktualisiert und möglicherweise variiert werden. »Embodied, tacit, or organic knowledge was not easily separable from the other competences of the skilled craftsman.«51 Zunftregeln schützen diejenigen, die das Handwerk ausüben, und garantieren die Qualität der Waren durch Regulation der Ausbildung. Auf handwerkliche Produkte sind die Kategorien von Original und Kopie nicht anwendbar. Es sind alles Originale, insofern es sich um je individuell gefertigte Einzelstücke handelt. Und es sind dennoch alles Kopien, da sie sich zwar im Detail, nicht jedoch im Prinzip voneinander unterscheiden. Innovation ist natürlich möglich, aber lokal begrenzt und gebunden an die tatsächliche Herstellung des Gegenstandes. In der Welt des Handwerks sind Ideen und ihre Umsetzung nicht getrennt: Das geschieht erst mit der Aufgliederung der Tätigkeiten, der Aufspaltung der Herstellung eines Gegenstands in getrennte Arbeitsschritte. Nunmehr trennt sich die Idee des Ganzen von seiner Herstellung aus einzelnen Teilen. Erst auf Basis dieser Unterscheidung rechtfertigt sich die Unterscheidung erfinderischer Genialität von bloß mechanischem Können.52 Jetzt kann sich auch eine Vorstellung von Original und Kopie 49 50 51 52
Ebd.: 63. Ebd.: 28. Ebd.: 29. »Patent law adopted the ideological distinction between manufacturing and making as an essential criterion of patentability. Patentees had to show that what they claimed as their invention represented an exercise of inventive ingenuity rather than mere mechanical skill.« (Ebd.: 30).
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herausbilden, die zuvor auf den Bereich der Kunst begrenzt war: ein Musterstück, an dem alle anderen ganz buchstäblich (nämlich im Sinne einer Schablone) gemessen werden. Ein Objekt muss nunmehr exakt, d. h. in jedem noch so kleinen Detail so wie das andere sein – nicht nur im Prinzip ähnlich. Pottage und Sherman zeigen, wie die Idee identischer (und damit der handwerklichen Ähnlichkeit weit überlegener) industrieller Kopien am Leitfaden des Warenkatalogs, der diese Identität jenseits aller Realität einprägsam vor Augen führte, ausgebildet und verbreitet werden konnte. patent law fixed the theory of copying as the rhetorical form into which the realities of collaborative creation had to be translated if one was to argue or defend an infringement action. […] the fiction was modeled on the form (or ideology) of the industrial copy.53
Nachdem Artefakte zunächst also – ganz wie zuvor literarische Texte54 – als Komposita aus berührbarer Materialität und unberührbarer Idee aufgefasst wurden, musste die Rechtstheorie, um Ideen als besitzfähig auszuweisen, in einem zweiten Schritt der unberührbaren Idee Dingcharakter zusprechen.55 Diese Wandlung leisten v. a. die materiellen Medien des Patents selbst: Texte, Zeichnungen, Modelle. In ihnen wird der Gedanke des Erfinders greif-, präsentier- und diskutierbare Realität. Was umgekehrt bedeutet, dass Erfindungen nicht erst gebaut werden müssen, um patentierbare Objekte zu sein: Erfindungen sind Papiermaschinen. »A drawing was like a paper prototype of a machine.«56 Pottage und Sherman machen klar, dass es zu dieser Gleichsetzung erst kommen kann, wenn sich das Prinzip der Spezifikation ausgebildet hat, wenn also die erfundenen Artefakte genau in ihrer Funktion beschrieben werden müssen: erstmals in England im Jahr 1734, auch wenn das dort entstandene System noch ganz dem Geist des alten Privilegienprinzips verhaftet blieb und keineswegs im modernen Sinne eine rein technische Beschreibung maschinellen Funktionierens liefert.57 Die Zuweisung von Privilegien – in Großbritannien: letters patent, monopolies – gehorcht noch nicht dem Imperativ technischer Innovation. Vielmehr geht es um die wirtschaftliche Entwicklung territorial be53 54 55 56 57
Ebd.: 31. Siehe dazu Bosse 1981. Sehr präzise zeichnen Pottage/Sherman diesen Verwandlungsprozess nach, vgl. v. a. Kapitel 1 und 2. Ebd.: 91. Ebd.: 52. Ausführlich zum britischen Patentrecht vor dem Patent Law Amendment Act von 1852 MacLeod 2002.
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grenzter Herrschaftsräume: Neu und damit patentwürdig ist, was in der Gegend, im Einflussbereich dieser lokalen Herrschenden noch unbekannt ist.58 Den radikalen Bruch mit diesem System konnte erst das republikanische Patentgesetz der USA aus dem Jahr 1790 liefern: »the American Patent Act of 1790 was distinctively modern, primarily because it introduced a ›mentalistic‹ rather than a ›geographical‹ conception of invention.«59 Die genaue Spezifikation eines patentierten Apparats diente einem doppelten Effekt: Einerseits ließ sich nur so wirklich prüfen, ob es sich bei dem Apparat um eine tatsächlich patentwürdige Innovation handelte, und andererseits konnte nur eine exakte Funktionsbeschreibung dem Ziel einer breiten Zirkulation von Ideen zum Zwecke des wirtschaftlich-technischen Fortschritts dienen: Patente garantierten aus diesem Grund ja nur einen zeitlich begrenzten Schutz, nach dessen Ablaufen die Idee frei weiterverwendet werden durfte. Die Spezifikationen von Patenten bieten jedoch Lektürehindernisse: Selbst wenn man davon absieht, dass das Ziel einer maximal großen Öffentlichkeit in den USA allenfalls eine regulative Idee und keineswegs gängige Praxis war,60 bleibt die Schwierigkeit, technische Texte und Konstruktionszeichnungen zu lesen und zu verstehen. Das liegt einerseits daran, dass beides um 1800 noch keinesfalls codiert war; man sich also je individuell einlesen musste. Die Hauptschwierigkeit scheint jedoch in der Projektion eines dreidimensionalen Objekts auf eine zweidimensionale Zeichnung.61 So weisen Pottage/Sherman darauf hin, dass nicht nur Richter und Jury mit dieser Aufgabe überfordert waren, sondern oft genug die Erfinder selbst: inventors often found it easier to communicate the principles of their invention to a patent attorney in the form of a model rather than a text or drawing. The attorney assessed the novelty of the invention by comparing the inventor‘s model with those displayed in the Patent office and described the
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Seckelmann 2006: 61. Pottage/Sherman (mit Bezug auf Mario Biagioli) 2010: 54. »In order to promote ›the progress of the arts and the instruction of the public‹, the Conservatoire des arts et métiers was charged with printing and engraving four hundred copies of the written descriptions and drawings of inventions that had fallen into the public domain (when the United States Patent Office introduced its own printing program in 1861, provision was made for the printing of ten copies of each patent text).« (Ebd.: 56). Siehe dazu auch meinen Aufsatz »Vom Nutzen und Nachteil der Simulation: CAD-Rekonstruktionen historischer Apparate« in diesem Band.
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innovative aspects of the invention in a text that was returned to the inventor for signature.62
Modelle dienten also drei Zwecken: Sie visualisierten die Idee, sie kommunizierten Funktionsprinzipien, und sie vertraten die Maschine vor Gericht. An dieser Stelle breche ich die Zusammenfassung von Pottage/Sherman ab: Funktionstüchtige Modelle – working models – spielten vornehmlich in der amerikanischen Rechtsprechung eine Rolle. An ihrem Beispiel wird jedoch sehr eindrücklich der formative Einfluss klar, den die unterschiedlichen Medien, die gemeinsam das Akteurskollektiv Patent bilden, auf die zu patentierende Idee haben. Im Sinne der Transkriptionstheorie Ludwig Jägers kann man formulieren, dass das Skript Erfindung Folge und Ergebnis der transkribierenden Arbeit des medialen Ensembles Patent darstellt. Patente erzeugen Erfindungen und damit auch Erfinder. Sie entscheiden, was als Innovation anzusehen ist und was nicht. Sie sind – noch einmal mit Pottage/Sherman – die berührbare, materielle Form der immateriellen Idee, die sie schützen sollen. Sie ermöglichen es, Ideen ins Zentrum von Gerichtsprozessen zu stellen. Das gilt auch und gerade dann, wenn diese gar nicht patentiert worden sind: In einer detektivisch genauen Lektüre aller verfügbaren Quellen dekonstruiert z. B. Hans-Christian Rohde den Mythos, nicht Thomas Alpha Edison, sondern der aus dem deutschen Städtchen Springe stammende Uhrmacher Heinrich Göbel hätte eigentlich die Glühbirne erfunden.63 Die Erfindung der Glühbirne war finanziell, in Edisons Worten, »big bonanza«.64 Daran wollten viele auch unter Einsatz unlauterer Mittel teilhaben und konnten es zunächst, weil die Edison’sche Firma ihr Basispatent von 1880 nicht konsequent genug verteidigte.65 1885 beginnt die Edison Electric Light Company gegen die Verletzungen ihrer Patente zu klagen.66 1892 endet der Musterprozess – »die bis dahin umfangreichste Untersuchung zur Entwicklungsgeschichte der Glühlampe«67 – mit einer klaren Bestätigung der Edison’schen Ansprüche. Der Konkurrenz blieb danach nur eine Möglichkeit: der Nachweis, dass das Basispatent Edisons gar nicht hätte erteilt werden dürfen, weil es keine Neuheit beschriebe. Und so kam Heinrich Göbel ins Spiel, der 62 63 64 65 66 67
Pottage/Sherman 2010: 87f. Zum Folgenden siehe Rohde 2007. Zitiert in ebd.: 25. Ebd.: 31. Ebd.: 32. Ebd.: 32.
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1882 ein Patent für eine verbesserte Vakuumpumpe, die bei der Herstellung von Glühlampen zum Einsatz kommen sollte, erhielt und für ein halbes Jahr bei der American Electric Light Co. als Feinmechaniker angestellt war.68 Göbel behauptete 1893 in insgesamt sieben Zeugenaussagen im Rahmen mehrerer Patentprozesse, er habe bereits in den 1850er Jahren sich erfolgreich mit der Herstellung von Glühlampen beschäftigt, die im Wesentlichen die Edison’schen Lampe vorweggenommen hätten. Rohdes Monographie zeigt überzeugend, dass diese Behauptungen bis in biographische Details frei erfunden sind. Dennoch verzögern die Prozesse in Teilen der USA die Durchsetzung des Edison-Patents bis zu seinem Auslaufen im Jahr 1894.69 Göbel stirbt noch während der Prozesse, in denen seine bzw. die ihm untergeschobenen Lügen70 eine so tragende Rolle spielen; die auf der sogenannten »Goebel-defence« aufgebaute Legende entsteht erst 18 Jahre später71 in Deutschland, wo sie bald nationalistisch gefärbten Aufwind erhält und bis 2004, in dem u. a. mit einer Sondermarke der Deutschen Post72 das 150. Jubiläum einer Erfindung gefeiert wurde, die es nie gegeben hat. Ich berichte den Fall der Göbellampe in solcher Ausführlichkeit zum einen, weil er durchaus Ähnlichkeiten mit dem oben skizzierten Fall der Erfindung der Bildtelegraphie zeigt.73 Auch hier wird, wenn auch in sehr unterschiedlicher Art und Weise, das Ereignis Erfindung als ein fikti68
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»Die Beschäftigung von Arbeitskräften aufgrund von persönlichen Beziehungen ist nicht ungewöhnlich. So wird erklärlich, warum Henry Goebel eingestellt wurde, auch wenn er keinerlei Vorkenntnisse über elektrische Glühlampen besaß. Solche Kenntnisse besaß 1881 fast niemand. Doch der durch Edisons erfolgreiche Entwicklung ausgelöste Boom für Firmen der Elektrotechnik wurde auch in der Grand Street [Sitz von Göbels Geschäft, AKS] spürbar: Arbeitskräfte mit feinmechanischen Fertigkeiten waren gesucht [...]« (Ebd.: 71). »Edisons Erlösen aus dem Patent No. 223.898 müssen die Kosten für seine Entwicklung und für seinen juristischen Kampf gegenübergestellt werden. Letztere werden als so gewaltig angesehen, dass ›The Electrical World‹ am 17. November 1894 zum Auslaufen des Patents schrieb: »Obwohl das Patent eines der wichtigsten ist, das es je gegeben hat, so ist damit nur wenig, wenn überhaupt etwas an Geld gemacht worden.« (Ebd.: 79). Ebd.: 81f. Ebd.: 80–132. Ebd.: 7. Ein weiterer Fall, der sich mühelos in diese Reihe von Verweisen auf leere oder unsichere Ursprünge einreiht, ist das Telefonpatent Alexander Graham Bells aus dem Jahr 1876. Seth Shulman macht in seinem Buch »The telephone gambit« (2008) plausibel, dass der berühmte, sich über
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ver Ursprung konstruiert. Zum anderen wird hier noch einmal deutlich, was der eigentliche Wirkungsort des Patents ist: der Prozess vor Gericht bzw., wie im Falle Bain versus Bakewell, die außergerichtliche Auseinandersetzung. Dort und erst dort wird eine Entscheidung über die dem Patent zugrundeliegende Erfindung gefällt. Das Patent schafft die Möglichkeit dieser Auseinandersetzung, bleibt es aber unangefochten, entfaltet es allenfalls einen Teil des ihm innewohnenden Handlungspotenzials. Erst im Streit, so könnte man zugespitzt formulieren, erfindet das Patent seinen Gegenstand.74
Patent/Geschichte Was folgt aus alledem für die Mediengeschichtsschreibung? Die Ereignisse, aus denen sie sich konstituiert, von denen her sie konstruiert wird, nehmen spätestens mit der US-amerikanischen Patentgesetzgebung aus dem Jahr 1790 und dem französischen Patentgesetz von 1791 – dezidiert modernen, weil von der Privilegientradition deutlich unterschiedenen Gesetzgebungen – von der Agentur75 des Patents aus Gestalt an. Die Medien des Akteursnetzes mit dem Namen Patent ermöglichen es der Erfindung in Erscheinung zu treten. Die Regeln der Operation Patentieren geben klar an und vor, was überhaupt wie in Erscheinung treten kann. Mit Luhmann gesprochen, ist das Patent also gleichermaßen Medium und Form: Es ist das Material, in das der Erfindende die Prozesse, Ereignisse und Konstruktionen, kurz, seine bis dato unberührbaren, unsichtbaren und eben deshalb auch unverhandelbaren Ideen eintragen kann. Umgekehrt geben der strikt regulierte Vorgang des Patentierens sowie die im Laufe der Patentgeschichte(n) zunehmend klarer formulierten Normen für Texte, Zeichnungen, gegebenenfalls. Modelle Formen vor, die das kontingent Geschehene buchstäblich fest-legen. Diejenigen, die ein Patent eintragen lassen, können mit seiner doppelten Natur als Medium und Form spielen, beide gegeneinander ausspielen oder ambivalent überkodieren: Gilt es doch, alles offenzulegen, ohne
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zehn Jahre erstreckende Patentstreit zwischen Bell und Elisha Gray zu Unrecht zugunsten Bells entschieden wurde. Insofern Patente auf den Arbeiten anderer aufbauen oder an sie anknüpfen, sie diskutieren oder überflüssig machen, sind Patenttexte selbst bereits Ergebnisse von Auseinandersetzungen. Erhard Schüttpelz schlägt diesen etwas sperrigen Begriff vor, um die Schwierigkeit, den für die Akteurs-Netzwerk-Theorie zentralen englischen Begriff »agency« ins Deutsche zu übertragen.
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zugleich alles auch gesagt zu haben (die Konkurrenz schläft nicht).76 Kommt es zum Urheberrechtsprozess, werden dann die Elemente der konkurrierenden Patentschriften gegeneinander wie auf einem Spielbrett in Stellung gebracht. Was zuvor nur Potenzial war, aktualisiert sich jetzt dramatisch und jetzt erst, in genau diesem Augenblick, stabilisiert sich, was eigentlich erfunden wurde. Die moderne Patentgesetzgebung, die seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert erfinderische und nicht territoriale Neuheit schützt, und die auf seiner Grundlage geführten Prozesse haben das Ereignis Erfindung ganz neu geschaffen. Für eine Mediengeschichte, die sich der Agentur des Patents stellt, muss daraus zunächst eine Klärung dessen, was sie unter dem Namen Erfindung laufen lassen will, folgen. Erfindungen vor und jenseits von Patenten gehören einfach nicht derselben Akteursklasse an wie solche nach Einführung des modernen, auf technische Innovation bezogenen Patentrechts. Für an der ANT geschulte Analysen ergibt sich die strikte Forderung, Akteur und Ereignis Patent und Patentprozess deutlicher zu fokussieren, ja, zu privilegieren. Noch einmal lohnt sich hier ein Blick in Latours Rekonstruktion der Erfindung der Kodak-Kamera und in ihrer Folge des Amateurmassenmarktes nach Jenkins: Patente treten hier auf – auch die explizit nicht erhaltenen oder beantragten77 – doch werden sie als Knotenpunkte der Geschichte, als ihre Dynamik, nicht erkennbar, sondern bleiben Akteure unter Akteuren. Gerade Operationszusammenhänge und -ketten wie diejenigen, die Innovationen beschreiben sollen – also etwa »Assoziation« und »Substitution« oder das »reversible Blackboxing« müssen unter der Perspektive von Patentierungen neu gedeutet werden. Anderenfalls besteht die Gefahr, dass den Operationen buchstäblich die Operateure abhanden kommen. Geschichten des Patentrechts sind derzeit vornehmlich aus rechtsund wirtschaftshistorischen Perspektiven verfasst worden. Der oben bereits ausführlich gewürdigte Band »Figures of Invention« von Pottage/ Sherman stellt eine bedeutsame Ausnahme dar: Patente sind ihm vornehmlich mediale Sachverhalte. Umgekehrt hat sich auch die Medien- und Kulturwissenschaft bislang kaum für Patente interessiert. Dieses Desinteresse schlägt selbst noch in Abramsons Fernsehgeschichte durch, die sich selbst zur Aufgabe macht, ausschließlich »die tatsächlichen Fakten aus den Primär76
77
Siehe dazu ausführlicher meinen Aufsatz »Vom Nutzen und Nachteil der Simulation: CAD-Rekonstruktionen historischer Apparate« in diesem Band. »Prototyp eines nicht patentierten Rollenfilms« (Latour 2006: 378).
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quellen, wie sie sich chronologisch ereignet hatten, zu präsentieren«.78 Naturgemäß stellen Patentschriften einen Großteil dieser Primärquellen dar.79 Dennoch werden auch in dieser Faktengeschichte, die den eigenen Objektivitätsanspruch erwartbarerweise nicht halten kann, die Verben »erfinden« und »patentieren« synonym benutzt. Das Problem, das auf diese Weise entsteht – und keineswegs nur bei Abramson –, ist der Kurzschluss von einem Patent auf einen tatsächlich gebauten Apparat. 1843 hatte Alexander Bain einen »automatischen Kopiertelegraphen« erfunden. […] Bain hatte mit diesem Gerät sehr wenig Erfolg […] 1846 konstruierte er einen einfacheren »chemischen Telegraphen«, der das Erfordernis der Synchronisation zwischen Sender und Empfänger ausschloß80.
1843 lässt Bain einen »copying telegraph« patentieren – ob dieser je gebaut wurde, ist nicht nachweisbar. Ob Bain überhaupt davon ausging, dass dieses Gerät kommerziell erfolgreich sein konnte, ist ebenfalls Spekulation.81 Auch der Zusammenhang, der zwischen dem Kopiertelegraphen von 1843 und dem elektrochemischen Telegraphen von 1846 hergestellt wird, ist nicht durch die Quellen gedeckt. Abramson hätte die Schwächen seiner Darstellung vermeiden können, wenn er Patente nicht – wie die allermeisten seiner Kolleg/inn/en – als transparente Medien, durch die hindurch sich unmittelbar auf eine tatsächlich erfundene apparative Realität blicken ließe, ansehen würde, sondern als Medien – 78 79
80 81
Abramson 2002: XV. Abramson zählt in seiner »Einführung« fünf Quellentypen auf, die er für seine Monographie benutzt hat. An erster Stelle stehen »Patentanträge, Patentstreitakten und natürlich die Patentschriften selbst« (Ebd.: XVI). Ebd.: 6f. Steven Roberts behauptet, Bain habe seinen Kopiertelegraphen (sei es der von 1843 oder eine spätere, unpatentierte Variante) auf der Weltausstellung von 1851 vorgeführt: »Patent electro-chemical copying telegraph, said to be capable of copying any figure, such as profiles, autographs, stenography, &c.« (Roberts 2011: 128) Roberts hat neben Robert Burns den bislang ausführlichsten biographischen Text zu Alexander Bain geschrieben. Leider hält Roberts bibliographische Nachweise für akademische Spielerei, weshalb man im Zweifelsfall ihm selbst als Autorität trauen muss: »This work has been a collation of small pieces acquired over a long time. The use of original printed sources from the nineteenth century has the defect of being unverifiable; although checks have been made, all manner of authorial and compositors errors might corrections and comments are therefore welcome. This has not been written for academic use so the massive irritation to readers of reference notes has been, rightly or wrongly, forsaken.« (Ebd.: 54).
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Akteure – sui generis ernst nähme. Gerade in Fällen wie demjenigen des Bain’schen Kopiertelegraphen wäre diese Option sowohl ehrlicher als auch ergiebiger: Man begrenzte sich – ganz in Abramsons Sinne – auf die eine noch vorhandene Quelle ohne alle Zusätze. Ein solcher Perspektivenwechsel würde dann auch die Medien des Mediums Patent hervorheben und würdigen: eine konzise Textauslegung, eine diagrammatisch geschulte Beschreibung der Konstruktionszeichnungen, Analysen der tatsächlichen Umstände der Einreichung und Verbreitung des Patents sowie der möglichen, sich an ihm entzündenden oder es als Zeugen aufrufenden Rechtsstreitigkeiten.
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Auf der Suche nach dem Patent. Ein Blick auf J. G. Dinglers »Polytechnisches Journal«
Von Dinglers Patentpraxis … Als der Augsburger Fabrikant und Chemiker Johann Gottfried Dingler im Januar 1820 das erste Heft seines neu gegründeten Polytechnischen Journals veröffentlicht, hat er ein Problem, das jedem Beginn eigen ist: Je genauer man ihn in den Blick nimmt, desto mehr verschwimmt diejenige Grenze, die den Anfang erst markieren sollte. Anders ausgedrückt: Womit soll man anfangen, wenn man, wie Dingler, ein Referateorgan begründet, das dem interessierten Laien wie dem Spezialisten seines Faches in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts einen Überblick über den aktuellen Stand und die Entwicklungen auf dem Gebiet der (Poly-)Technik bieten will? Während die thematische Abgrenzung spätestens mit der Konzeption des neuen Journals und damit seit den Verhandlungen mit einem potenziellen Verlag thematisiert und gelöst worden sein mussten, steht das Problem einer zeitlichen Abgrenzung auf einem ganz anderen Blatt. Wenn eine Erfindung – für Dingler – relevant ist, wird sie im Polytechnischen Journal publiziert. Wie sieht es aber mit eventuellen Vorläufern dieser Erfindung aus? Wie kann Dingler gleichzeitig umfassend sein und dennoch aktuell bleiben? Oder anders: Wie kann man einer Erfindung gerecht werden ohne dabei immer bis Archimedes zurückzukehren? Fragen dieser Art werden auf eine formalisierte Weise vom Patentrecht beantwortet. Wenn Dingler am Ende seines ersten Hefts auf 16 Seiten das »Verzeichniß der im Jahre 1819 in England ertheilten Patente auf neue Erfindungen« publiziert, so liegt darin implizit seine Antwort auf das Problem der Priorität.1 Mit der Konzentration auf Patentangelegenheiten in seinem Journal verschiebt der Herausgeber die Grenze von einer Makro- auf eine Mikroperspektive. Es ist nicht relevant, ob der Schnitt 1820, 1819 oder, weil runder, 1800 gemacht wird. Vielmehr wird die Vorgeschichte einer Erfindung in dem Moment, in dem der Erfinderschutz eine zentrale Rolle spielt, in die Erfindung hinein verlegt: Jede Erfindung und jedes Ding hat dann seine eigene Geschichte. 1
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Als Quelle für seine Patentverzeichnisse nutzt Dingler das »Repertory of Arts, Manufactures and Agriculture«, ein erstmals 1802 in London erschienenes Referateorgan, das seit 1825 unter dem Titel »Repertory of patent inventions and other discoveries and improvements in arts, manufactures and agriculture« veröffentlicht wurde und seither das eigentliche Markenzeichen endlich auch im Haupttitel trägt. Von dort übernimmt Dingler also die Auflistungen aller englischer Patente, die zwischen Januar und Dezember 1819 angemeldet wurden. Dass sich dieses Vorgehen bewährt, kann man nicht zuletzt daran sehen, dass es dabei bleibt, dass also in der 111-jährigen Geschichte des Polytechnischen Journals in regelmäßigen Abständen diese Patentverzeichnisse publiziert werden. Und zwar immer möglichst aktuell. Während später auch französische, US-amerikanische, schottische, preußische usw. Patentlisten veröffentlicht werden, kann man feststellen, dass es sich auch bei dem maßgeblichen Anteil der sonstigen Artikel um Patentbesprechungen handelt. Zudem liefert Dingler neben den Patentbesprechungen und Patentverzeichnissen von Beginn an Artikel, in denen es entweder um Fragen des Patentrechts, um die Geschichte desselben etc. geht oder in denen er als Herausgeber – oftmals in Fußnoten – persönliche Kommentare zu den jeweils vorherrschenden Umständen macht.
… zur Patentrecherche im Allgemeinen Patente sind eine eigentümliche Textgattung – Dingler wusste das. Das ihnen eigene Text-Bild-Verhältnis wirft Fragen auf, die auch im Rahmen einer kulturwissenschaftlichen Analyse zu diskutieren sind. Was ist das für ein Bild, das am Ende einer Patentschrift zwar großformatig aber mehrfach zusammengefaltet zu finden ist? Handelt es sich nur um eine Veranschaulichung, eine Visualisierung der Patentbeschreibung? Oder ist der Patenttext vielmehr nur eine sehr ausführliche Bildbeschreibung? Und wie verhält sich der Text und das Bild zu denjenigen Strategien bzw. Techniken, die den Patentschriften implizit sind: Offenlegung, Grenzziehung, Rechtesicherung, Verschleierung etc. Dingler ist sich der Bedeutung von Patentschriften in vielerlei Hinsicht bewusst. Nach den bisherigen Ausführungen ist aber deutlich geworden, dass uns die Verzeichnisse und Besprechungen allein für eine wissenschaftliche Untersuchung nicht genügen werden. Wir benötigen neben Dinglers Patentlisten und Patentbesprechungen auch die Originale.
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Deutsches Patent- und Markenamt. Wer bisher keine Erfahrung mit Patentrecherche gemacht hat, wird erstaunt sein, wie viel Material mittlerweile online verfügbar ist. Freilich kann man mit Patenten heute wie früher viel Geld verdienen, was man u. a. daran sieht, dass eine Onlinerecherche zum Thema unzählige Dienstleister auf den Plan ruft. Aber es geht auch anders. Das deutsche Patentamt beispielsweise hat mittlerweile die meisten Patentschriften digitalisiert und ermöglicht einen einfachen Zugriff auf die entsprechende Datenbank – auch von zu Hause aus. Abbildung 1: Einsteigersuchmaske zur Patentrecherche (Deutsches Patent- und Markenamt).
Wer also beispielsweise einen Blick auf das Original Nipkow-Patent, einer Art Ur-Fernseher, werfen möchte, kann dieses ganz leicht abrufen, indem er einfach in der Einsteigersuchmaske des Deutschen Patent- und Markenamts (Abb. 1) – zu erreichen unter www.depatisnet.de – im Feld Veröffentlichungsnummer die entsprechende Patentnummer einträgt. In diesem speziellen Fall handelt es sich dabei um die Nummer 30.105. Dabei ist es wichtig, die Länderkennung – hier DE, da es sich um ein deutsches Patent handelt – mit anzugeben.2 Und schon erhalten wir ein PDF, bei dem es sich, so können wir uns überzeugen, tatsächlich um Paul Nipkows »Elektrisches Teleskop« handelt, »patentiert im Deutschen Reiche vom 6. Januar 1884 ab«. Soweit funktioniert alles reibungslos. 2
Für eine Übersicht der Länderkennungen siehe Tabelle 1.
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Tabelle 1: Aufstellung der Länderkennung. Ägypten Belgien Brasilien Canada Dänemark Deutschland Equador Estonien Europäisches Patentamt Finnland Frankreich Großbritannien Griechenland Holland Irland Indien Italien Japan Jugoslawien Kazachstan Kenia Kirgistan Korea Kuba Litauen Mazedonien Mexiko Moldavien Norwegen Österreich Pakistan Rumänien Russland Schweden Schweiz Slovenien Slowakei Spanien Südafrika Tadschikistan
EG BE BR CA DK DE (früher DRP) EC EE EP FI FR GB (früher EN) GR NL IE IN IT JP YU KZ KE KG KR CU LT MK MX MD NO AT PK RO RU SE CH SI SK ES ZA TJ
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*WIPO (world intellectual property organization)
Wie sieht es aber mit ausländischen Patentschriften aus dem 19. Jahrhundert aus? Der berühmte Revolverheld Samuel Colt beispielsweise hat mit der Nummer US 124 ein Patent unter dem Titel »Improvement in Revolving Fire-Arms« angemeldet. Wiederholen wir also auf der Seite des DPMA die eben beschriebene Suche per Länderkennung und Nummer, so ist unser Ergebnis in verschiedener Hinsicht überraschend. Erstens: Ja, über die Suchmaske des Deutschen Patent- und Markenamts können wir auch ausländische – hauptsächlich US-amerikanische – Patente recherchieren. Zweitens: Offenbar ist unsere Suche aber nicht eindeutig, denn wie auf Abb. 2 zu sehen ist, werden uns gleich sieben PDFs angezeigt.3 Drittens: Schlimmer noch, nur zwei der sieben Treffer sind mit einem Titel katalogisiert, bei den restlichen fünf gibt es nur eine Nummer und das dazugehörige PDF. Abbildung 2: Trefferansicht der Patentsuche im DPMA.
3
Wer die Suche überprüfen möchte, dem sei verraten, dass sich das gesuchte Colt-Patent hinter der US000000000124E versteckt.
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Wie verhalten sich also die unterschiedlichen Suchfelder zueinander? Nun, wir können das am Colt-Patent überprüfen, schließlich haben wir ja die digitalisierte Patentschrift vor uns und damit alle nötigen Informationen. Zurück bei der Einsteigerrecherche füllen wir das entsprechende Feld Titel aus. Doch wie vermutet, die Suche nach »Improvement in Revolving Fire-Arms« führt zu keinem Treffer, denn die entsprechenden Informationen wurden schlichtweg nicht in den Katalog mit aufgenommen. Uns bleibt also noch die Suche per Name. Der Anmelder »Samuel Colt« liefert uns 41 Treffer, wobei das in diesem Fall keinen Unterschied macht zum Erfinder »Samuel Colt«; auch dort 41 Treffer. Ohne sich hier zu weit in technischen Details zu verstricken: Eine schnelle Durchsicht der 41 Treffer zeigt, dass jeder einzelne mit Titel aufgeführt wird. Das heißt, unser gesuchtes Colt-Patent ist gar nicht dabei, denn dieses war ja eben gerade nicht mit seinem Titel im Katalog verzeichnet. Weder die Suche nach dem Erfindernamen noch die Suche nach dem Originaltitel des Patents führt so also zu einem Ergebnis. Wer allerdings, wie gezeigt, die Patentnummer kennt, kann die Suchmaske des DPMA schnell und gezielt nutzen, um sich, wenn es digitalisiert vorliegt, das PDF zu beschaffen. Europäisches Patent- und Markenamt. Eine weitere Suchmöglichkeit bietet das Europäische Patentamt, zu erreichen unter http://worldwide.espacenet.com/quickSearch?locale=en_ep. Auch hier wird eine Suche per Patentnummer ermöglicht. Dazu wird sogar eine eigene Maske »Number Search« (http://www.espacenet.com) zur Verfügung gestellt. Wenn wir die Recherche nach Patent US 124 wiederholen, scheint hier ein viel gezielterer Zugriff möglich zu sein: Wir erhalten exakt einen Treffer. Der Titel der Patentschrift ist auch hier nicht verfügbar, was uns aber nicht weiter wundern sollte. Nachdem wir uns ein PDF der Patentschrift herunter geladen haben, erfolgt die Überraschung: Das Patent mit der Kennung US 124 ist hier nicht etwa, wie vermutet, Colts »Revolving Gun« aus dem Jahr 1848, sondern ein Patent der Herren Fairbanks von 1837 mit dem Titel »Improvement in the Machine for Weighing Heavy Bodies«. In der Tat war es mir weder per Nummern-, noch Namens- oder Titelsuche möglich, über das Europäische Patentamt an das gesuchte Colt-Patent zu gelangen. Als Zwischenresümee gilt es an dieser Stelle festzuhalten: OnlinePatentrecherche funktioniert, aber leider nicht sehr zuverlässig. Umso wichtiger ist es, stets verschiedene Suchen auszuprobieren. Dazu gilt freilich auch, verschiedene Suchmasken zu benutzen. Neben dem DPMA und dem Espacenet möchte ich deswegen noch eine dritte Möglichkeit
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vorstellen, wie Patente online recherchiert werden können: http://www. google.com/patents. google.com/patents. Google ermöglicht, bislang, ausschließlich die Suche nach US-amerikanischen Patenten. Die Suche nach »patent: 124« liefert uns exakt einen Treffer.4 Dummerweise stoßen wir hier wieder auf die Gewicht-Mess-Maschine der Herren Fairbanks. Die Suche nach »Samuel Colt« liefert etwas über 90 Treffer, als Phrasensuche – in Hochkommata – sind es immerhin noch 18 Treffer. Darunter findet sich auch ein Patent mit der Nummer US 124 bzw. US RE124. Und hierbei handelt es sich tatsächlich um das gesuchte Colt-Patent. Ein sehr nützliches Feature der Google-Patentsuche ist die erweiterte Suche (Advanced Patent Search). Dort kann man beispielsweise den relevanten Zeitraum einschränken. Die bislang nicht weiter spezifizierte Suche nach »Samuel Colt« ließe sich so beispielsweise auf den Zeitraum zwischen 1840 und 1850 eingrenzen.5 Wird das issue date aber auf genau diesen Zeitraum beschränkt, so liefert uns die Suchabfrage noch drei Treffer, darunter auch die gesuchte Patentschrift mit der Nummer 124. Googles Suche beschränkt sich, wie schon erwähnt, auf US-amerikanische Patentschriften. Eine Eigenheit des Patentrechts allerdings ermöglicht es uns, die Google-Suche indirekt auch für europäische Patentschriften zu nutzen. Der Trick besteht darin: Das Patentrecht ist stets national begrenzt. Wenn Nipkow seine geniale Erfindung auch außerhalb Deutschlands patentrechtlich schützen lassen möchte, so bleibt ihm nichts anderes übrig, als dort ein Patent anzumelden. Angenommen er tut dies für die Vereinigten Staaten, so sollte es möglich sein, per Google-Suche an das entsprechende Dokument zu gelangen. Und dann lohnt sich im Zweifelsfall ein genauer Blick auf die Patentschrift. Falls der Patentträger nämlich das gleiche Patent bereits in einem anderen Land hat schützen lassen, so wird in der Regel auch auf dieses Original verwiesen. Und wenn das der Fall ist, so wird mit dieser Angabe immer die dazugehörige Patentnummer mitgeführt. Mit etwas Glück verweist also das US-Patent auf ein ursprüngliches europäisches Patent, welches sich dann wieder per DPMA oder Espacenet suchen lässt.6 4 5 6
Per vorangestelltem »patent« wird die Suche auf Patentnummern eingeschränkt. Zur Erinnerung: Das entsprechende Patent von Colt stammt aus dem Jahr 1848. Wer diesen Trick nachvollziehen möchte, dem sei an dieser Stelle gesagt, dass er am Beispiel von Nipkow nicht funktionieren wird. Dieser war in der Tat in chronischer Geldnot, und zwar so, dass er es sich nicht einmal
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Trick 17. Und natürlich gibt es noch den Fall, dass das alles so überhaupt nicht funktioniert. Dass etwa nur ein Personenname vorliegt sowie die Information, dass es von dieser Person ein Patent geben müsste. Und dass die Personensuche sowohl beim DPMA, über den Escpacenet wie auch Google bereits fehlgeschlagen ist. Nun, Google oder natürlich jede andere Internetsuchmaschine ist hier die letzte Suchinstanz. Ich kann also immer auch »Nipkow« und »patent« googlen/suchen. Oder, um die Suche wenigstens etwas einzuschränken, die Tatsache ausnutzen, dass es sich dabei um ein deutsches Patent handeln muss. Suche: »Nipkow drp« (Deutsches Reichspatent). Wenn irgend jemand zuvor den Zusammenhang zwischen dem Namen eines Erfinders und der Nummer des von ihm angemeldeten Patents hergestellt hat, so stehen die Chancen gar nicht schlecht, an die gesuchte Patentnummer zu kommen.
Patente im »Polytechnischen Journal« Die Möglichkeiten v. a. aber auch Grenzen der Patentrecherche überhaupt sollten hiermit deutlich geworden sein. Wie sieht es nun mit der Recherche der in Dinglers »Polytechnischem Journal« besprochenen Patente aus? Die Patentverzeichnisse. Dingler hat seine Quellen stets offengelegt. Sehr sorgfältig führt er alle notwendigen bibliographischen (Meta-)Daten auf, die zum Auffinden der Originalquelle notwendig sind. Wir haben oben gesehen, welche Angaben den Patenten zugeschrieben werden: Länderkennung und Patentnummer, Anmelder bzw. Erfinder – was nicht das Gleiche sein muss –, Titel der Erfindung sowie Datum. Wie also sehen die entsprechenden Verweise im Journal aus? Dinglers Patentlisten folgen einem ganz konsequenten Schema: Er nennt den Erfindernamen, den Titel und ein Datum (siehe Abb. 3). Das Problem dabei ist, dass der Titel aus dem Original übersetzt wird, und das grammatikalisch angepasst in den Satzzusammenhang. Es ist zunächst unklar, um welches Datum es sich handelt. Und die für die Online-Recherche so wichtige Patentnummer fehlt gänzlich.
leisten konnte, sein deutsches Patent nach Auslaufen der Schutzfrist zu erneuern, bzw. den Patentschutz zu verlängern. Geschweige denn war daran zu denken, in den 1880er Jahren ein Patent in den Vereinigten Staaten anzumelden.
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Abbildung 3: Polytechnisches Journal, Bd 1 von 1820.
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Mit den gerade gemachten Angaben ist eine gezielte Internet-Recherche praktisch nicht möglich.7 Hier bleibt tatsächlich nur der Gang zum Patentamt. Bin ich also beispielsweise auf der Suche nach der Patentschrift von David Gordon, die Dingler in Band 16 aus dem Jahr 1825 erwähnt, so bleiben folgende relevante Angaben: 1) Name: David Gordon. 2) Titel in Übersetzung: »Auf gewisse Verbesserungen in der Erbauung von Wagen und andern Maschinen, deren Bestimmung es ist, durch mechanische Mittel in Bewegung gesetzt oder fortgeschoben zu werden.« 3) Datum: Dd. 18. Dec. 1824. 4) Dem Titel der Auflistung entnehme ich, dass es sich um eine englische Patentanmeldung handelt. Das zuständige Patentamt für englische Patente befindet sich in London. In diesem Fall ist der Weg nach London ins Patentamt oder die British Library – in der ebenfalls alle Patentschriften vorrätig sind – jedoch nicht nötig. Denn im Archiv des Deutschen Patent- und Markenamtes in der Berliner Gitschinerstraße liegen alle englischen Patente, auch des frühen 19. Jahrhunderts. Die wichtigste Angabe zur weiteren Recherche ist das Jahr. Auf Anfrage erhält man im Patentamt alle im Jahr 1824 angemeldeten Patente. Diese in blaues Papier eingebundenen Patentschriften sind zu jeweils ca. 50 Stück in einem separaten Karton zusammengefasst. Für das Jahr 1824 macht das vier Kartons und damit ca. 200 Patentanmeldungen. Das Problem: Die Schriften sind nach ihrer Patentnummer sortiert. Diese Information fehlt uns aber gerade. Auf dem Cover der jeweiligen Schrift befindet sich neben dieser Nummer und der Jahresangabe 1824 der Name des Erfinders oder Patentanmelders und der Originaltitel, wobei es sich dabei zumeist um eine Kurzform handelt. Um nicht alle vier Kartons nach dem gesuchten Namen durchsuchen zu müssen, hilft uns das von Dingler angegebene Datum weiter. An dieser Stelle ist es wichtig zu wissen, um welche der möglichen Datumsangaben es sich handelt. Dingler hatte sich für das Datum der Patentanmeldung entschieden. Die Reihenfolge der Patentnummern sollte eigentlich chronologisch der Reihenfolge der Patentanmeldung entsprechen. Das Anmeldedatum befindet sich auf der ersten Seite der Patentschrift eingebunden in die Patentbeschreibung, meistens irgendwo mitten im ersten Satz. Wenn die Reihenfolge tatsächlich sorgfältig eingehalten ist, sollte es uns relativ schnell möglich sein, an die gesuchte Stelle in einem der vier Kartons zu springen. Im Falle von David Gordons Erfindung handelt es sich dabei um die Patentschrift mit der Num-
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Natürlich geht Trick 17 immer. Diese aufwendige Suche ist freilich nur dann praktikabel, wenn es sich um sehr wenige Patente handelt.
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mer GB 5.056, welche tatsächlich am 18. Dezember 1824 angemeldet wurde. Eine abschließende Überprüfung ergibt in diesem Fall, dass man auch mit den vor Ort gewonnenen Angaben – weder mit dem Originaltitel noch mit der Patentnummer – online nicht fündig geworden wäre. Hier gilt: Je älter die Patentschrift, desto geringer die Erfolgsaussichten, bequem per Online-Recherche einen Treffer zu landen. Die Patentbesprechungen. Wie oben bereits erwähnt, liefert Dingler neben den Patentverzeichnissen auch komplette Patentbesprechungen. Die originalen Patentschriften liegen ihm in der Regel nicht vor. Vielmehr nutzt er auch hier diverse, in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts v. a. in England publizierte Referateorgane. Im 90. Band des Journals aus dem Jahr 1843 erfolgt beispielsweise die Besprechung von Bains patentiertem galvanischem Regulator. Die bibliographischen Angaben wären entsprechend: Anonymus: Bain’s patentierter galvanischer Regulator. In: Polytechnisches Journal, Bd. 90, 1843, S. 171–174. 8
Hier handelt es sich zweifelsohne um den Urvater der Bildtelegraphie, den schottischen Uhrmacher Alexander Bain. Dass auch der erste Bildtelegraph gewisse Vorfahren hat, wird kaum weiter verwundern. Ohne an dieser Stelle weiter auf diese Thematik eingehen zu wollen, könnte man diesen galvanischen Regulator als Bindeglied zwischen Uhr und Bildtelegraphen bezeichnen und ausgehend davon weiter recherchieren. Leider wird in diesem Artikel weder die Patentnummer der besprochenen Patentschrift noch ein Anmeldedatum erwähnt. Die mitunter wichtigste Information zu diesem Artikel findet sich in einer Unterüberschrift und lautet: »Aus dem Mechanics’ Magazine. Aug. 1843, S. 97«. Von dort übersetzt Dingler diesen Artikel – oder einer seiner Mitarbeiter, deswegen die Anonymität des Autors. Leider zeigt ein Blick in den Artikel aus dem Mechanics’ Magazine – mittlerweile auch online einsehbar –, dass der Übersetzer hier sehr nahe am Original geblieben ist: Auch dort fehlt nämlich das Datum und die gesuchte Patentnummer.
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Abbildung 4: Erste Seite der Bain’schen Patentschrift von 1843.
Wie also weiterverfahren, wenn wir uns nicht mit dem Artikel begnügen wollen, sondern die originale Patentanmeldung samt Abbildungen zu Rate ziehen wollen? Dem Mechanics’ Magazine können wir entnehmen, dass die Erfindung im Englischen »voltaic governor« heißt. Möglicherweise wäre das bei der weiteren Recherche hilfreich. In diesem Fall möchte ich aber einen anderen Weg nehmen und den Kreis schließen. Wenn Dingler tatsächlich konsequent die Verzeichnisse der in England erteilten Patente auf neue Erfindungen publiziert, so müss-
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te in Band 90 – plus/minus 1, denn zeitliche Verzögerungen können hier doch auftreten – ein Verzeichnis mit einem Eintrag der gesuchten Erfindung abgedruckt sein. Und in der Tat: Artikel 20 aus Band 89 des Polytechnischen Journals enthält das »Verzeichnis der vom 29. April bis 27. Mai 1843 in England ertheilten Patente«. Und dort findet sich auf Seite 76 ein Eintrag, der der gesuchten Erfindung entspricht: Dem Alexander Bain, Mechaniker in Oxford-Street, auf seine verbesserte Methode elekrische Ströme zu erzeugen und zu regulieren, dann auf verbesserte galvanische Uhren und Telegraphen. Dd. 27. Mai 1843.9
Hier endet die Reise: Die erste Seite der gesuchten Patentschrift ist auf Abbildung 4 zu sehen. Der Titel freilich entspricht nicht annähernd demjenigen, den wir erwartet haben. Das Datum aber stimmt: siehe Zeile 6 auf der Abbildung. Und die für die Online-Recherche so wichtige Patentnummer steht endlich auch fest: Es ist dies die 9.745.
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Polytechnisches Journal 1843: 76.
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Literatur Bain, Alexander 1843: Certain improvements in producing and regulating electric currents and improvements in time pieces and in electric printing and signal telegraphs. Patentschrift GB 9.745 vom 27. November 1843. Colt, Samuel 1848: Improvement in Revolving Fire-Arms. Patentschrift US 124 vom 24. Oktober 1848. Deutsches Patent- und Markenamt. URL: http://www.dpma.de/. Download vom 20.7.2011. Europäisches Patentamt. URL: http://ep.espacenet.com/. Download vom 20.7.2011. Google patents. URL: http://www.google.com/patents/. Download vom 20.7.2011. The Mechanics’ Magazine, Museum, Register, Journal and Gazette, 1043 (5. August 1843). Nipkow, Paul 1884: Elektrisches Teleskop. Patentschrift DE 30.105 vom 15. Januar 1885. Polytechnisches Journal, 1 (1820). URL: http://dingler.culture.hu-berlin.de/journal/pj001/. Download vom 20.7.2011. Polytechnisches Journal, 16 (1825). URL: http://dingler.culture.hu-berlin.de/journal/pj016/. Download vom 20.7.2011. Polytechnisches Journal, 90 (1843). URL: http://dingler.culture.hu-berlin.de/journal/pj090/. Download vom 20.7.2011.
Abbildungen Abb. 1: Einsteigersuchmaske zur Patentrecherche (Screenshot). URL: http:// depatisnet.dpma.de/DepatisNet/depatisnet?window=1&space=menu &content=index&action=einsteiger. Download vom 20. Juli 2011. Abb. 2: Trefferansicht der Patentsuche im DPMA (Screenshot). URL: http://depatisnet.dpma.de/DepatisNet/depatisnet?window=1&spa ce=main&content=einsteiger&action=treffer. Download vom 20. Juli 2011. Abb. 3: Polytechnisches Journal, Bd. 1 von 1820. URL: http://dingler. culture.hu-berlin.de/journal/pj001/ar001011. S. 112. Download vom 20. Juli 2011. Abb. 4: Erste Seite der Bain’schen Patentschrift von 1843. In: Bain, Alexander: Electric Time-pieces and Telegraphs. Patentschrift GB 9.745 vom 27. November 1843. S. 1.
CHRISTIAN KASSUNG
Patent und Amt. Die Wissensgeschichte einer Behörde im deutschen Kaiserreich
Urszene 10. Juli 1877 Wenige Tage nach der Gründung des Kaiserlichen Patentamts, am 10. Juli 1877, findet die feierliche Eröffnungssitzung im Reichskanzleramt in der Berliner Wilhelmstraße statt.1 Der Höhepunkt dieser ersten Plenarversammlung sind die Ansprachen des Präsidenten des Reichskanzleramts, Staatsminister Karl Hofmann, und des Vorsitzenden des Patentamts, »wirklicher Geheimer Ober-Regierungs-Rath und Direktor im Ministerium für Handel, Gewerbe und öffentliche Arbeiten« Karl Rudolf Jacobi.2 Der 1888 in den Adelsstand erhobene Jacobi hebt dabei laut Bericht in der »Provinzial-Correspondenz« ausdrücklich die Erwartung hervor: Die Wirksamkeit des Patentamts wird – das dürfen wir mit Sicherheit annehmen – belebend und befruchtend auf den deutschen Unternehmungsgeist einwirken und manche deutsche Erfindung, die bei Fortdauer des früheren Zustands unter einer fremden Patentgesetzgebung Schutz gesucht haben würde, wird nunmehr im heimischen Boden Wurzel schlagen und gedeihen.3
Es gehört zu den Gründungsmythen derartiger Eröffnungszeremonien, dass die neue Behörde gleich nach Abschluss der Feierlichkeiten »zur Erledigung der zunächst vorliegenden Aufgaben« schreitet.4 Aber schon am Ende des Jahres 1877 muss Jacobi in seinem ersten Tätigkeitsbericht eine Vielzahl von Problemen einräumen: eine zunehmende Geschäftslast, unzulängliche räumliche Verhältnisse, massive Verzögerungen des Patentierungsverfahrens u. s. f.5 Und wohl keiner der Teilnehmer dieser 1
2 3 4 5
Dieser Text verdankt wesentliche Anregungen und Quellenhinweise dem Beitrag von Ullrich C. Hallmann und Paul Ströbele zum hundertjährigen Jubiläum des Patentamts, vgl. Hallmann/Ströbele 1977. Jacobi 1878: 5. Zitiert nach Das Reichs-Patentamt 1877. Zitiert nach ebd. Vgl. Jacobi 1878: 27f.
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ersten Plenarsitzung ahnte, wie oft und stark sich das Patentamt selbst neu erfinden musste, um überhaupt das zeitgenössische Wissen – und Unwissen – verarbeiten zu können, mit dem es sozusagen täglich gefüttert wurde. Der vorliegende Beitrag möchte einerseits die wechselvolle Geschichte dieser Behörde bis zum Ersten Weltkrieg rekonstruieren, um neben dem legislativen vor allem den exekutiven Rahmen für die in diesem Band diskutierten Patente der Bildtelegraphie deutlich werden zu lassen. Zum anderen soll es aber auch um die konkrete Patentierungspraxis gehen, d. h. um den komplexen Veröffentlichungsprozess vom mehr oder minder fertigen Konzept eines Erfinders oder Ingenieurs zur heute im Archiv liegenden Patentschrift. Wie kommt eine solche Quelle überhaupt zustande? Wer kann mit welchem zeitlichen und finanziellen Aufwand seine Idee im Kaiserreich patentieren lassen? Welche Interessen kommen in einem Patent zusammen und prägen somit die Gestalt dieser Quellen? Und in welcher Weise schließlich wurde die Öffentlichkeit in den Patentierungsprozess eingebunden, d. h. wie locker oder ausgeprägt war die Bindung an die zeitgenössische – nationale und internationale – Öffentlichkeit?
Wilhelmstraße Nr. 75 Als zehn Tage vor der feierlichen Eröffnungssitzung am 1. Juli 1877 das erste deutsche Patentgesetz vom 25. Mai sowie die »Kaiserliche Verordnung betreffend die Einrichtung, das Verfahren und den Geschäftsgang des Patentamts« vom 18. Juni in Kraft traten, war damit der legislative Schlussstrich unter einen zähen und langen Rechtsstreit gezogen, dessen Ausgang bis zuletzt kaum absehbar gewesen war.6 Um die Konsequenzen des rechtlichen Rahmens für die Ausgestaltung einer Patentbehörde in Berlin diskutieren zu können, sei deshalb ein sehr kurzer Blick auf die Geschichte dieses Rechtsstreits zurückgeworfen. Während zu Beginn des 19. Jahrhunderts beispielsweise Frankreich, England oder die Vereinigten Staaten bereits über eine tiefgreifende Patentgesetzgebung verfügten, kann die Lage in Deutschland nur als heillos zersplittert bezeichnet werden: »Hier gab es 29 verschiedene Patentrechte bzw. Privilegienordnungen mit jeweils nur territorialer Wirkung.«7 Beson6 7
Vgl. Patentgesetz 1877 und Verordnung 1877. Vgl. zur Rechtsgeschichte des deutschen Patentschutzes v. a. Nirk 1977 und jüngst Seckelmann 2006. Nirk 1977: 350.
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ders von den Anhängern der Freihandelslehre von Adam Smith wurden Privilegien als merkantile Instrumente strikt abgelehnt. Der Wirtschaftsliberalismus artikuliert sich vor allem auch durch Verbände und Vereine, und die Diskussionen verhärten sich zunehmend zu antagonisierenden Grundsatzdebatten. So profilierte sich der 1858 in Gotha gegründete Kongress Deutscher Volkswirte als scharfer Kritiker jeglicher Patente, die doch nur der Geldbeschaffung für die Verwaltung dienen würden, flankiert von Initiativen des Finanzministers von der Heydt und Bundeskanzler von Bismarck. Dagegen lieferte der zwei Jahre zuvor im Harzer Alexisbad entstandene Verein Deutscher Ingenieure die ersten Impulse für ein nationales deutsches Patentrecht. Mit niemand Geringerem als Werner Siemens an der Spitze formierten sich diese Interessen 1874 in einem »Deutschen Patentschutzverein«. Man versteht die zeitgenössischen Debatten, die sich in zahllosen Denkschriften, Petitionen, Artikeln und schließlich auch Gesetzesentwürfen niederschlugen nur, wenn man sie als Teil der Großen Depression der 1870er Jahre und dem anschließenden Niedergang der deutschen Freihandelsbewegung begreift. Gleichzeitig wird seit der ersten Weltausstellung 1851 im Londoner Hyde Park im unmittelbaren Vergleich mit den großen Industrienationen deutlich, dass die deutsche Technik nicht wirklich konkurrenzfähig ist. Hieraus lässt sich ein erstes Fazit ziehen: Sowohl den Patentkritikern wie den Patentbefürwortern ging es weniger um die wissenspolitische Dimension als um die ökonomische Frage, inwiefern Patente der nationalen Wohlfahrt zu- oder abträglich wären. Ob zwischen Patentrecht und (Zweiter) Industrieller Revolution im Deutschen Kaiserreich ein Zusammenhang besteht, lässt sich insofern nicht eindeutig beantworten.8 Anfang der 1870er Jahre beginnen sich die Fronten zu klären – zugunsten der Anhänger des Patentschutzes. So wurde anlässlich der Weltausstellung in Wien ein »Internationaler Congress zur Frage des Patentschutzes« durchgeführt, auf dessen einhellige Resolution zum Schutz der Erfindungen Werner Siemens unmittelbar mit entsprechenden Gesetzesentwürfen reagierte. Siemens – als Gründer der Elektrotechnik wenig verwunderlich – und der Deutsche Patentschutzverein hatten dabei die Interessen vor allem der deutschen Industrie im Blick. Dagegen vertrat der Verein Deutscher Ingenieure unter dem Vorsitz von Carl Pieper in erster Linie die Interessen des Einzelerfinders. Entsprechend unterschiedlich gestalten sich die konkreten Verfahrensvorschläge für den Lauf eines Patents durch die Behörde. Es ging also mit anderen Worten gerade auch von Anfang an um den konkreten Aufbau und die formale Orga8
Für das englische Patentsystem geht dieser Frage Dutton 1984 nach.
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nisation der mit der Erteilung und Nichtigkeitserklärung von Patenten befassten Behörden.9 In der Vorstellung des Patentschutzvereins sollte die Behörde aus dem für die Patenterteilung zuständigen Patentamt sowie einem zur Kontrolle der Amtsentscheidungen berufenen Spezialgericht, dem sogenannten Patenthof, bestehen.10 Der Patenthof sollte mit technisch versierten Richtern besetzt werden und nicht nur über Rechtsmittel gegen Entscheidungen des Patentamts befinden, sondern auch mögliche zivilrechtliche Ansprüche einzelner Patentinhaber klären. Als Rechtsmittel gegen die Entscheidungen des Patenthofs war die Revision beim Reichsoberhandelsgericht vorgesehen. Das Patentamt sollte durch eines seiner Mitglieder an den Verfahren vor dem Patenthof beteiligt sein, indem dieser Patentanwalt als Kläger bzw. als Beklagter fungierte. Dieses Konzept einer zusätzlichen Kontrollinstanz zeigt bereits, dass der Rechtsprozess der Patentierung als ein grundsätzlich komplizierter und strittiger Vorgang eingeschätzt wurde. Darüber hinaus sah der Gesetzesentwurf des Patentschutzvereins den Lizenzzwang, das Anmelderprinzip sowie steigende Patentgebühren vor, worauf gleich zurückzukommen sein wird. Carl Pieper reagierte wie viele andere Ingenieure auf diesen Gesetzesentwurf mit scharfer Kritik und sofortigem Austritt aus dem Patentschutzverein. Ein solches Verfahren würde Erfindungen ohne nennenswerten Kapitaleinsatz schlichtweg ausschließen und damit die Abhängigkeit des Individuums von der Großindustrie zementieren. Es kann an dieser Stelle also zusammengefasst werden, dass das komplexe, langwierige und sehr teure Patentierungsverfahren den kleinen Erfinder gegenüber der Großindustrie benachteiligte und zu kontroversen Debatten über den Rechtsstatus des Angestelltenerfinders führte, was sich in den Patentschriften als Differenzierung von Erfinder und Anmelder niedergeschlagen hat. Werner Siemens behauptete sich 1875 auf der Generalversammlung des Patentschutzvereins gegen alle Widerstände. Zwar konnte sich bei den weiteren Beratungen über das Patentgesetz von 1877 die empfohlene Zweiteilung der Patentbehörde nicht durchsetzen. Doch die anderen, mehr industrie- als erfinderfreundlichen Punkte wurden in die Endfassung mit aufgenommen. So sah das Anmelderprinzip vor, dass der Rechtsanspruch nicht dem Erfinder, sondern dem Anmelder eines Patents zusteht. Der Lizenzzwang verpflichtete den Patentinhaber, nach drei Jahren die Nutzung seiner Erfindung zu gestatten, wenn dies ange9
Das Verhältnis von Erteilungs- und Nichtigkeitsverfahren wird weiter unten ausführlich diskutiert. 10 Vgl. Entwurf 1875: §§ 12–20, S. 21–26 und Revidirter Entwurf 1876: §§ 12–20, S. 21–25.
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messen vergütet wurde. Und die Gebühren zur Verlängerung eines Patentanspruchs stiegen mit jedem Jahr um 50 Mark, was ungefähr 300 Euro entsprechen würde. Die gesetzlichen Bestimmungen von 1877 sahen insgesamt sechs Anmeldeabteilungen des Patentamts vor, entsprechend einer inhaltlichen Differenzierung in mechanische, chemische und sonstige Technik.11 Jede Abteilung bestand aus ständigen und nicht ständigen Mitgliedern, beispielsweise für die erste mechanische Abteilung aus mindestens einem ständigen und mindestens fünf nicht ständigen Mitgliedern. Der Vorsitzende des Patentamts bestimmte die Zusammensetzung der Abteilungen für mindestens ein Jahr, wobei ein Mitglied die Geschäftsführung übernahm. Wesentliche Aufgabe der Geschäftsführung war es, für jeden Vorgang ein oder zwei Berichterstatter zu benennen, die auf den Abteilungssitzungen jeweils referierten und damit die Grundlage für die mehrheitliche Abstimmung lieferten. Mit anderen Worten wurde die Entscheidung über ein Patent niemals von einer Einzelperson getroffen, sondern von einer Expertenkommission. So schrieb das Patentgesetz vor, dass »von den ständigen Mitgliedern […] mindestens drei die Befähigung zum Richteramte oder zum höheren Verwaltungsdienste besitzen, die nicht ständigen Mitglieder […] in einem Zweige der Technik sachverständig sein« mußten.12 Zudem war vorgesehen, dass sämtliche Mitglieder des Patentamts nur nebenberuflich tätig werden sollten, wobei die ständigen Mitglieder für die Dauer ihrer Haupttätigkeit oder auf Lebenszeit, die nicht ständigen Mitglieder auf fünf Jahre berufen wurden. Durch diese Beschäftigungsform sollte gewährleistet werden, dass der technische Sachverstand, der die Entscheidungen des Patentamts legitimierte, möglichst praxisnah und aktuell blieb. Dass man dabei durchaus auch an die ganz konkrete Arbeitssituation in den Patentabteilungen dachte, belegt folgende Passage aus der Rede des Juristen und Politikers Rudolf Arnold Nieberding in der Reichstagssitzung vom 1. Mai 1877: Meine Herren, diese Patentgesuche sind keineswegs derart, daß sie den Männern, die damit beschäftigt sind, viel Reiz bieten oder größere geistige Anregung gewähren können. Wenn wir ihre Thätigkeit durch die vorgeschlagene Einrichtung beschränken wollten, dann könnte sehr leicht die Gefahr entstehen, daß ein todter Formalismus, ein Geist der Schablone in das Patentamt einzieht, der den Geschäften und dem Ansehen desselben in keiner Weise förderlich ist.13 11 12 13
Vgl. Verordnung 1877: § 1. Patentgesetz 1877: § 13. Deutscher Reichstag 1877: 938.
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Wir haben es hier also mit einem bezeichnenden Widerspruch zu tun. Einerseits operiert das Patentamt am cutting edge des zeitgenössischen technischen Wissens. Andererseits wird die Gefahr gesehen, dass sich genau hier standardisierte Vorgänge ausbilden. Das Argument Nieberdings verwundert insofern, als die Kaiserliche Verordnung vom 18. Juni 1877 neben den sechs Anmeldeabteilungen zwar eine eigene Nichtigkeitsabteilung zur Löschung von bestehenden Patenten vorsah – in welcher nach der vom Gesetzgeber vorgeschlagenen Mindestpersonalausstattung ein Drittel des gesamten Personals beschäftigt war –, nicht aber eine vom Anmeldeverfahren funktionell getrennte Beschwerdeabteilung.14 Stattdessen wurde jede Beschwerde in der parallelen Sachabteilung verhandelt, also kollegial und unter Vermeidung zusätzlicher »Patentbüreaukratie« in Form einer internen Selbstkontrolle.15 Indem jedes Sachgebiet von zwei Abteilungen vertreten wurde, fungierten beide immer zugleich als Genehmigungsund Beschwerdeorgan, hielten somit die Wissenszirkulation vital und durchbrachen Einschleifungsprozesse. Erst die abschließenden Entscheidungen der Nichtigkeitsabteilung waren per Berufung anfechtbar, über die zunächst das Reichsoberhandelsgericht, nach 1879 das Reichsgericht zu befinden hatte.16 Sein Plädoyer gegen eine zu große »Patentbüreaukratie« beschließt Rudolf Nieberding mit einem ebenso einfachen wie schlagenden Argument: »Die Regierung übersieht in diesem Augenblick noch nicht, welchen Umfang die Geschäfte des Patentamts überhaupt annehmen werden.«17 Der Ort des ersten Berliner Patentamts spiegelt diese unsichere Zukunft; es ist eher an einem Zwischen- oder Nicht-Ort untergebracht, vorerst ohne jede gründerzeitliche Repräsentation von Staatlichkeit. Die Wilhelmstraße 75, das ehemalige Haus der Königlichen Geheimen Oberhofbuchdruckerei, wurde nach dem Tod des Eigentümers Rudolf von Decker am 12. Januar 1877 umgehend für immerhin knapp 7 Millionen Reichsmark durch das Reich angekauft. Hinter dem Kauf standen zwei Überlegungen. Erstens sollten die Exklusivrechte für die Herstellung hohheitlicher Drucksachen wie Banknoten oder Briefmarken vom Reich wahrgenommen werden können. Und zweitens lag das Decker’sche Anwesen mitten im Regierungsviertel, sodass Bismarck das Haus direkt an das Auswärtige
14 Vgl. Verordnung 1877: § 4. 15 Deutscher Reichstag 1877: 938. 16 Das Reichsgericht hatte sich zunächst dagegen gewehrt, im Rahmen der Nichtigkeitsverfahren über technische Fragen entscheiden zu müssen. Vgl. Robolski 1927: 72f. 17 Deutscher Reichstag 1877: 938.
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Amt in der Wilhelmstraße 76 angliedern konnte. Gehörte das Patentamt als Behörde zum Geschäftsbereich des Reichsamts des Innern, waren seine – vorläufigen – Geschäftsräume also im Auswärtigen Amt zu finden. Abbildung 1: Erster Amtssitz in der Wilhelmstraße 75.
Wie sah nun die konkrete Patentierungspraxis in den Anfangsjahren der Wilhelmstraße 75 aus? Das Gesetz von 1877 steckt in § 20ff. den groben Ablaufrahmen ab: Die Anmeldung einer Erfindung behufs Ertheilung eines Patentes geschieht schriftlich bei dem Patentamte. Für jede Erfindung ist eine besondere Anmeldung erforderlich. Die Anmeldung muß den Antrag auf Ertheilung des Patentes enthalten und in dem Antrage den Gegenstand, welcher durch das Patent geschützt werden soll, genau bezeichnen. In einer Anlage ist die Erfindung dergestalt zu beschreiben, daß danach die Benutzung derselben durch andere Sachverständige möglich erscheint. Auch sind die erforderlichen Zeichnungen, bildlichen Darstellungen, Modelle und Probestücke beizufügen.18
Für das Verfahren selbst wurde eine Gebühr von 20 Mark erhoben, was heute etwa 120 Euro entsprechen würde. Auf der Grundlage der eingereichten Dokumente erfolgte dann die Sachprüfung durch mindestens eines der nicht ständigen Mitglieder. Wie oben bereits diskutiert, waren dies führende Männer der wissenschaftlichen und industriellen Praxis, darunter so prominente Namen wie Werner von Siemens oder Franz 18
Patentgesetz 1877: § 20.
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Reuleaux. Tatsächlich erwies sich diese sehr idealistische Organisationsform schon bald als nicht mehr haltbar. Die durch ihren Hauptberuf stark gebundenen und teilweise weit von Berlin entfernt wohnenden, sozusagen externen Gutachter konnten die ständig ansteigende Flut von Patentanmeldungen schlichtweg nicht mehr erledigen. So blieb zwar die Zahl der Patenterteilungen zwischen 1878 bis 1889 zunächst konstant, nämlich durchschnittlich 4.200 im Jahr. Doch verdoppelte sich im gleichen Zeitraum die Zahl der Patentanmeldungen von knapp 6.000 auf nahezu 12.000, und die Zahl der Beschwerden stieg von etwa 600 auf über 2.800. Das bedeutete für die etwa 20 nicht ständigen Mitglieder der Anfangszeit ein jährliches Gutachtenvolumen von 300 Patenten. Der erste Tätigkeitsbericht von Karl Jacobi vermerkt hierzu lapidar: »Der Geschäftsvorgang ist hiernach ein weit grösserer gewesen, als bei Konstituirung des Patentamts vorausgesehen werden konnte.«19 Die Zahlen veranschaulichen aber auch einen deutlichen Widerspruch zwischen den ursprünglichen gesetzgeberischen Intentionen und der tatsächlichen Anerkennungspraxis. Wie oben bereits gesagt, waren etwa ein Drittel des Personals in der sogenannten Nichtigkeitsabteilung beschäftigt. Nichtigkeitsverfahren meint die kontradiktorische Aufhebung eines bestehenden Patentschutzes, also ein Korrektivmechanismus der Patenterteilung durch die, heute würde man sagen community selbst. Die Personalgewichtung lässt erkennen, dass der Gesetzgeber das Prüfungsverfahren der Anmeldeabteilungen als mehr oder weniger provisorisches Verfahren ausgestalten und die eingehende Prüfung auf Patentfähigkeit dem Nichtigkeitsverfahren vorbehalten wollte. Dagegen hatte das Patentamt von Anfang an den Schwerpunkt der Prüfung in das Anmeldeverfahren gelegt, um möglichst wenig Scheinrechte entstehen zu lassen – andernfalls ließe sich die prominente Liste der nicht ständigen Mitglieder nicht erklären.20 Für die patentbasierte Wissensgeschichte ist dieser Unterschied von weitreichender Bedeutung: Im einen Falle expliziert und stabilisiert sich das Wissen im lebendigen Rechtsstreit der Beteiligten, im anderen Falle dagegen findet diese – durchaus produktive – Auseinandersetzung nicht statt, und an ihre Stelle tritt ein staatliches Kontrollorgan, gegen das in erster Linie auf dem Beschwerdeweg interveniert werden kann. Hieraus wird deutlich, dass möglichst rasch eine Veränderung des relativ kleinen und vorläufigen Behördenaufbaus notwendig war, um die 19
20
Jabobi 1878: 25. Zum Vergleich: In England wurden 1876 insgesamt 3.455 von 5.069 eingereichten Patenten gesiegelt, in Nordamerika 17.026 von 21.425 im Jahr 1874. Vgl. Robolski 1927: 72.
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steigende Zahl von Patenten bewältigen und das eher rigide Anmeldeverfahren realisieren zu können. So stieg die Zahl der Beamten im Eröffnungsjahr 1877 von 39 auf 172 im Jahre 1889, wobei sich allerdings die Anzahl der Mitglieder von 22 auf 36 nur geringfügig änderte. Stattdessen wurden in immer größerem Umfang jüngere Techniker angestellt und als sogenannte Hilfsarbeiter zur Prüfungstätigkeit im Anmeldeverfahren herangezogen. 1889 standen den 30 technischen Mitgliedern des Patentamts bereits 38 technische Hilfsarbeiter gegenüber. Das wachsende Selbstbewusstsein dieser zunächst marginalisierten Beschäftigungsgruppe beschreibt ein ehemaliger Hilfsarbeiter und späteres Patentamtsmitglied wie folgt: Die technischen Hilfsarbeiter von damals, mit den späteren gar nicht zu vergleichen, waren eine außerordentlich bunt zusammengesetzte, verwegene Gesellschaft. Alles war unter ihnen vertreten, nur der Bürokrat nicht. So lernte ich denn da manche verwerfliche Anschauung kennen. Die läßlichste war noch die Nichtachtung des Dienstweges. […] Den von außen einberufenen Mitgliedern tritt man mit der Bemerkung nicht zu nahe, daß sie zunächst ihren Obliegenheiten hilflos gegenübergestanden hätten, wären die technischen Hilfsarbeiter nicht dagewesen.21
Mit dem erfolgreichen Abschluss der Sachprüfung einer Patentanmeldung, sei es federführend durch ein nicht ständiges Mitglied oder durch einen Hilfsarbeiter, war in dieser Anfangsphase das Verfahren im Grunde auch durchlaufen. Zwar folgte noch eine achtwöchige öffentliche Auslegung – hierzu nachfolgend mehr –, doch trat bereits zu diesem Zeitpunkt der Patentschutz ein, was ein Zeichen dafür war, dass Einsprüche hier eher im Ausnahmefall eintraten. Die formale Ausgestaltung des Anmeldeprozesses wurde durch Ausführungsbestimmungen geregelt, die sich das Kaiserliche Patentamt 1877 gab. Hierbei bestand die Absicht, die Betheiligten nicht über das nothwendige Mass hinaus einzuengen oder zu belästigen, andererseits mussten aber insoweit ganz bestimmte Anforderungen gestellt werden, als es für einen ordnungsmässigen Geschäftsgang unerlässlich, und namentlich geboten erschien, wenn für eine geeignete Veröffentlichung der Beschreibungen und Zeichnungen ertheilter Patente von vornherein die entsprechenden Unterlagen gewonnen werden sollten.22
21 22
Gerdes 1927: 20. Jacobi 1878: 9.
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Diese Anforderungen waren freilich sehr gemischter Natur. So musste beispielsweise ein bestimmtes Papierformat von 33 mal 21 cm sowie tiefschwarze Tinte verwendet werden. Und es sollte andererseits die Patentbeschreibung nach Möglichkeit so gehalten sein, dass die Lektüre das Amt nicht langweilt, sondern im Gegenteil in eine erwartungsfrohe Spannung versetzt.23
Luisenstraße 32–34 Bereits nach wenigen Jahren lag auf der Hand, dass mit dieser so simplen wie gründlichen Form des Anmeldeprozesses die steigende Anzahl von Patentierungsanträgen nicht zu bewältigen war. Eine Sachverständigenkommission begann deshalb 1886 mit der Erarbeitung von Vorschlägen zur Verfahrensoptimierung. Die Empfehlungen dieser Patentenquete bildeten die Grundlage für die Neufassung des Patentgesetzes vom 7. April 1891.24 Für die wissenshistorische Dimension ist dabei vor allem eine Reformierung des Anmeldeverfahrens und des Behördenaufbaus von Bedeutung. Der Behördenaufbau wurde insofern grundlegend geändert, als Anmelde-, Beschwerde- und Nichtigkeitsabteilungen funktionell klar voneinander getrennt wurden.25 Gegenüber der ursprünglichen gesetzgeberischen Intention, Wissenszirkulation und Selbstkontrolle in das Anmeldeverfahren selbst zu integrieren, wurde nunmehr die Unabhängigkeit der Rechtsmittelinstanz gestärkt: »Die technischen Mitglieder der Anmeldeabtheilungen dürfen nicht in den übrigen Abtheilungen, die technischen Mitglieder der letzteren nicht in den Anmeldeabtheilungen mitwirken.«26 In den Anmeldeabteilungen wurde darüber hinaus das Prinzip der nebenberuflichen Mitglieder aufgegeben, zudem mussten diese auf Lebenszeit berufen sein – also eine ganz klare Trennung von Behörde und technisch-industrieller Praxis und wiederum eine erhebliche Kurskorrektur gegenüber dem 1877er Konzept. Dass aufgrund der strikten Hauptamtlichkeit in den Anmeldeabteilungen die Anzahl der ständigen Patentamtsmitglieder – als Regierungsräte – rasch anstieg und zunächst vor allem die bisherigen technischen Hilfsarbeiter übernommen 23 24 25 26
Vgl. Bestimmungen über die Anmeldungen von Erfindungen 1877 sowie Über die Form der Anmeldung von Erfindungen 1877. Vgl. Patentgesetz 1891. Vgl. ebd.: § 14. Ebd.: § 14.
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wurden, lag dabei auf der Hand. In den Beschwerdeabteilungen dagegen wurden zunächst vornehmlich nebenamtliche Mitglieder eingesetzt, später dann zunehmend auch Lebenszeitstellen eingerichtet. Das Instanzenprinzip hatte einen – erwünschten oder nicht erwünschten – Nebeneffekt. Die Mitglieder der Beschwerdeabteilung als übergeordneter Instanz hatten einen höheren Titel wie auch ein höheres Gehalt, wodurch sich die kollegialen Strukturen des Patentamts zwangsläufig ausdifferenziert haben dürften. Die für die Patentierungspraxis wichtigste Novelle aber betrifft das Anmeldeverfahren selbst. Neu eingeführt wurde eine sogenannte Vorprüfung durch ein (einziges) technisches Mitglied der Anmeldeabteilung: Die Anmeldung unterliegt einer Vorprüfung durch ein Mitglied der Anmeldeabtheilung. […] Erklärt sich der Patentsucher auf den Vorbescheid […] nicht rechtzeitig, so gilt die Anmeldung als zurückgenommen; erklärt er sich innerhalb der Frist, so faßt die Anmeldeabtheilung Beschluß.27
Das Verfahren wurde also nur dann an die Anmeldeabteilung weitergeleitet, wenn der Anmelder zum Vorbescheid fristgerecht Stellung nahm. Dieser nicht unerhebliche bürokratische Mehraufwand entlastete zwar das Patentamt von der Masse der völlig unsinnigen Erfinderphantasien, belastete aber im Gegenzug den Antragsteller stärker, was eindeutig zulasten des Einzelerfinders geht. In den wenigen Jahren zwischen 1877 und 1891 findet somit ein deutlicher Paradigmenwechsel in der Ausgestaltung des Anmeldeprozesses statt. Stand am Anfang die Idee eines eher kollaborativen, selbstregulierenden Systems im Vordergrund, etablierte sich das Patentamt nun immer stärker als eine ausdifferenzierte Behörde jenseits der technisch-wissenschaftlichen community. Steigende Anmeldungszahlen, größerer Personalstamm, komplexere Verfahrenswege: Die Wilhelmstraße 75 konnte das Patentamt nur für kürzeste Zeit beherbergen. Bereits im April 1879 wurden die Räumlichkeiten in das Mietshaus Nr. 10 der damaligen Königgrätzer- und heutigen Ebert-Straße verlegt, die den Potsdamer Platz mit dem Brandenburger Tor verbindet. Diesem ersten kleinen Umzug, sozusagen quer durch die Berliner Ministergärten, folgte – und das charakterisiert die Geschichte des Patentamtes fast noch stärker – die erste räumliche Teilung, denn schon nach kurzer Zeit mussten zusätzliche Geschäftsräume angemietet werden. Und obwohl durch diese Teilung die Zahl der verfügbaren Räume von 59 auf 91 erhöht wurde, war ein nächster Umzug bereits im März 1882 in die Königgrätzer Straße 104–105 notwendig. 27
Ebd.: § 21.
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Dieses neue Dienstgebäude gegenüber dem Anhalter Bahnhof wurde offensichtlich von den Beamten nicht sonderlich geschätzt, wie ein Bericht des damaligen wissenschaftlichen Hilfsarbeiters und späteren Präsidenten Carl Hauß zeigt: Ziemlich großartige Eingangshalle, steile Treppen, schiefe Seitenwände, einige brauchbare Vorderzimmer, in jeder Etage durch düstere »Berliner Zimmer« mit ebenso düsteren Hinterräumen verbunden, so war der Bau schon für Mietwohnungen, für die er bestimmt war, recht unpraktisch, für eine schnell anwachsende Behörde aber fast unbrauchbar.28
Ende 1886 wurden die ersten Schritte eingeleitet, um dem Patentamt endlich ein eigenes Dienstgebäude zur Verfügung zu stellen. Für den neobarocken Neubau von August Busse wurden zwei Grundstücke in der Luisenstraße nahe dem Charité-Gelände erworben. Bei den Bauarbeiten traten unvorhergesehene Schwierigkeiten ein, weil aufgrund der extrem tiefen Baugrube die Nachbarhäuser einzustürzen drohten, so dass erst im März 1891 der Umzug stattfinden konnte – also unmittelbar vor dem Inkrafttreten der soeben diskutierten Patentgesetzesnovelle. Wissenshistorisch stellte das Gebäude in der Luisenstraße insofern eine Zäsur dar, als mit der Planung eines funktionalen Neubaus erstmals die Bibliothek des Patentamts öffentlich zugänglich gemacht werden konnte. Deren Bestand war seit der Amtsgründung kontinuierlich auf insgesamt 43.000 Bände angewachsen. Neben 60.000 deutschen Patentschriften waren etwa 100.000 ausländische vorhanden, zudem wurden laufend knapp 400 Zeitschriften gehalten.29 Mit anderen Worten wurde ein – kompensatorischer – öffentlicher Raum in das Patentamt (re-) integriert, während die Gesetzesnovelle eine systemische Trennung von Erfinder und Amt realisierte. Wie war dieser öffentliche Patentraum nun in das Anmeldeverfahren integriert? Nach positiver Vorprüfung und Beschlussfassung – was durchaus Zwischenverfügungen zur Vervollständigung der Vorlagen, das Hinzuziehen von Zeugen oder die Erörterung und Verhandlung eventueller Einsprüche umfassen konnte – erfolgte erstens die achtwöchige Auslegung der Anmeldung mit Beschreibung und Zeichnung in der Auslegehalle und zweitens die Bekanntmachung in den unterschiedlichen Organen des Patentamts. So wurden die nach vorläufiger Prüfung zugelassenen Anmeldungen einmal wöchentlich im »Reichsanzeiger« veröffentlicht. Damit wurde § 22 und § 24 des Patentgesetzes genüge getan, wonach die Möglichkeit des Einspruchs gegen alle dieje28 29
Hauß 1927: 23. Vgl. Fischer 1968: 6.
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nigen Patente gegeben sein musste, die bei erster Prüfung nicht abgelehnt wurden. Die Patentschriften wurden an 79 über das Reich verteilte Auslegestellen verteilt sowie mit 26 ausländischen Patentbehörden ausgetauscht – ein extrem dicht geknüpftes Wissensnetzwerk also.30 Ebenfalls wöchentlich erschien das »Patentblatt«, in dem neben den vorläufigen Zulassungen auch Bekanntmachungen, Verordnungen und Beschlüsse sowie deren Auslegung aufgenommen wurden, dazu Statistiken, Patentliteratur, Übersetzungen von ausländischen Patentgesetzen oder statistische Informationen. 1894 wurden auch die Veröffentlichungen aus dem Bereich der Gebrauchsmuster in das »Patentblatt« integriert und die bisherigen »Mittheilungen aus dem Kaiserlichen Patentamt, Anmeldestelle für Gebrauchsmuster« abgelöst.31 Gleichzeitig wurde das »Blatt für Patent-, Muster- und Zeichenwesen« gegründet, das nunmehr die sonstigen, nicht gesetzlich vorgeschriebenen Veröffentlichungen des Patentblatts übernahm.32 Verleger des »Patentblatts« und des »Blatts für Patent-, Muster- und Zeichnungswesen« ist der Carl Heymanns Verlag in Berlin. Einer gesetzlichen Verpflichtung entspricht die vierwöchige Herausgabe einer »Patentliste«, in der lediglich die Anmeldung, Erteilung, Versagung, das Erlöschen oder die Zurücknahme von Patenten mitgeteilt werden. Um möglichen Missverständnissen – und zusätzlicher Arbeit – vorzubeugen, wurde auf die Herausgabe von sogenannten Abridgments verzichtet. Nicht vom Gesetzgeber vorgeschrieben war die Veröffentlichung der »Auszüge aus den Patentschriften«, des »Verzeichnisses der im Vorjahre erteilten Patente mit alphabetischem Namensverzeichnis der Patentinhaber« sowie der »Nummernliste der deutschen Patentschriften«.33 An diese Primärveröffentlichungen schlossen sich eine ganze Reihe von Sekundärpublikationen an, woran die wissensgeschichtliche Dimension von Patenten schlagartig sichtbar wird. Das in Deutschland prominenteste Multiplikationsorgan war das »Polytechnische Journal«, das im Zeitraum von 1820 bis 1931 europäische Patente zeitnah referierte.34 Der Vorschlag eines »Illustrierten Patentblatts« dagegen, den der Heymanns Verlag vielleicht nicht uneigennützig vorbrachte, konnte sich langfristig nicht durchsetzen. 30 31 32 33
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So jedenfalls der Stand 1927, vgl. Theobald 1927: 411. Vgl. Bekanntmachung 1894b. Vgl. Bekanntmachung 1894a. Zu den Einzelheiten der patentamtlichen Veröffentlichungspraxis vgl. Theobald 1927. Die Patentschriften selbst wurden mit einer Auflage von 125 bis 225 Stück gedruckt. Vgl. http://www.polytechnischesjournal.de sowie den Beitrag »Auf der Suche nach dem Patent« von Marius Hug im vorliegenden Band.
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Gitschiner Straße 97–103 Die mit der ersten Patentrechtsnovelle von 1891 eingeleitete Autonomisierung und Ausdifferenzierung des Patentamts setzte sich in den nachfolgenden Jahrzehnten weiter fort. So übertrug das »Gesetz, betreffend die Patentanwälte« vom 21. Mai 1900 dem Patentamt die Führung einer Liste von Personen, die sowohl die immer komplexeren technischen Zusammenhänge wie deren juristische Kontexte zu durchdringen vermochten.35 Zugleich wurde der Beruf des Patentanwaltes eingeführt, also stand die Professionalisierung von Patentierungsvorgängen nicht mehr länger außer Frage. Und bereits kurz nach der Jahrhundertwende wurden weitere Bestrebungen zur Reform des gewerblichen Rechtsschutzes unternommen. Diese mündeten zunächst in einem von der Reichsregierung 1913 veröffentlichten Entwurf eines Patent-, Gebrauchsmuster- und Warenzeichengesetzes mit Begründung.36 Dieser Entwurf ist insofern hoch interessant, als er die Einführung des Erfinderprinzips und des Arbeitnehmererfinderrechts vorsieht und sich damit gegen die vor allem durch Werner von Siemens durchgerungene einseitige Privilegierung der großindustriellen Unternehmen wendet: »Der Umstand, daß das bisherige Gesetz den Erfinder als solchen überhaupt unerwähnt läßt, steht in einem gewissen Widerspruch mit der Tatsache, daß aller Fortschritt in der Kultur doch schließlich auf der Erkenntnis, dem Willen, der Tat einzelner beruht.«37 Auch in der konkreten Organisation des Patentamts sollte das Individuum gestärkt werden, indem die Prüfung der Patentanmeldungen nicht mehr Abteilungen, sondern Einzelprüfern übertragen wurden. Für das Beschwerdeverfahren war dagegen die Beibehaltung eines aus fünf Mitgliedern bestehenden Spruchkörpers, der sogenannte Beschwerdesenat vorgesehen. Der Erste Weltkrieg verhinderte die Durchführung dieser Reformvorhaben, und stattdessen hatte das Patentamt große personelle Schwierigkeiten zu bewältigen, da etwa die Hälfte aller Mitarbeiter zum Kriegsdienst eingezogen wurde. Zwar sank auch die Zahl der Anmeldungen kriegsbedingt deutlich, jedoch nicht so stark, als dass ein ordnungsgemäßes Patentierungsverfahren hätte aufrecht erhalten werden können. 35
36 37
Vgl. Gesetz, betreffend die Patentanwälte 1900: § 1–4, S. 233f. Darin wird die naturwissenschaftlich-technische Fachkompetenz durch ein Studium mit Berufspraxis, die Rechtskenntnisse dagegen durch einer amtsinterne Prüfung nachgewiesen. Näheres zum ersten Gesetz über die Patentanwälte bei Radt 1975: 181. Vgl. Vorläufige Entwürfe 1913. Ebd.: 14 (Erläuterung zu § 3).
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Womöglich spiegelt sich die These vom Krieg als technischem Innovationsmotor darin, dass zwischen 1914 und 1918 pro Jahr immer noch weit mehr als 20.000 Patentanmeldungen bei durchschnittlich 8.000 Erteilungen das Patentamt beschäftigten. Um die Personalausfälle zu kompensieren, wurden einerseits – und erstmals – weibliche Hilfskräfte eingestellt, andererseits die Verfahren per Gesetz verschlankt.38 Hier ist besonders die »Bekanntmachung über Vereinfachungen im Patentamt« vom 9. März 1917 zu erwähnen.39 In Anlehnung an den Regierungsentwurf von 1913 wurde die Funktion des Vorprüfers und der Anmeldeabteilung auf die sogenannte Prüfungsstelle übertragen, deren Aufgaben nur mehr von einem einzigen technischen Mitglied, dem Prüfer, wahrgenommen wurden. Auch die Zusammensetzung der Beschwerdeabteilung wurde von fünf auf drei Mitglieder reduziert. Es ist eine gewisse Ironie der Geschichte, dass unter dem Druck des Kriegsgeschehens der verfahrensabschließende Vorbescheid als unbillige Belastung der Anmelder abgeschafft wurde. So reagierte das Patentamt in seiner Struktur und Organisation geradezu seismographisch, und das heißt ex post auf den gesellschaftlichen Kontext und die jeweils vorherrschenden politischen Interessen. Die soeben geschilderte sukzessive Professionalisierung, Autonomisierung und Ausdifferenzierung des Kaiserlichen Patentamts war zwangsläufig mit einem erheblichen Personalausbau verbunden. Waren 1890 noch 176 Beamte im Patentamt beschäftigt gewesen, stieg deren Zahl im Jahr 1900 bereits auf fast 600 und betrug bei Kriegsausbruch 1914 nahezu 1.000, also etwa ein Faktor fünf innerhalb von einem knappen Vierteljahrhundert. Im Vergleich dazu wuchs die Zahl der Patentanmeldungen von nicht ganz 12.000 im Jahre 1890 – bei etwa 4.700 Patenterteilungen – auf fast 50.000 im Jahre 1913 – von denen etwa 13.500 zur Erteilung von Patenten führten.40 Die Vermutung, dass der Personalanstieg als eine direkte Folge von immer mehr Schutzrechtsanmeldungen zu interpretieren sei, ist dabei allerdings nur sehr bedingt korrekt. Denn 1890 kommen auf jeden Beamten etwa 70 Anmeldungen und 30 Erteilungen. 1914 beträgt diese Quote 50 für die Anmeldungen und 15 für die Erteilungen. Mit anderen Worten verdoppelte sich der Personalaufwand pro Erteilung zwischen 1890 und 1914 –
38 39 40
Vgl. Jungmann 1927: 46 und Regelsberger 1927: 67f. Vgl. Bekanntmachung über Vereinfachungen im Patentamt 1917. Vgl. auch die ausführlichen Statistiken in Anhang I–V von Kaiserliches Patentamt 1902.
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und dies bei einer gleichzeitig rückläufigen Anzahl von Beschwerden.41 Man wird hierfür sicherlich zumindest zwei mildernde Umstände anführen. Erstens wurden die Begutachtungen aufgrund des technischen und wissenschaftlichen Fortschritts der Jahrhundertwende zwangsläufig aufwendiger. Und zweitens muss der overhead berücksichtigt werden, der bei jeder Vergrößerung einer Behörde ebenso zwangsläufig eintritt. Aber erklärt dies den Faktor 100 und rettet die gesetzgeberische Intention eines verschlankten Anmeldeprozesses? Abbildung 2: Statistik der Patentanmeldungen, -erteilungen und -löschungen zwischen 1877 und 1900.
41
Einzelheiten der Statistik lassen sich den jährlichen Berichten im Blatt für Patent-, Muster- und Zeichenwesen entnehmen. Eine zusammenfassende Darstellung für die Jahre 1877 bis 1900 findet sich in Graphische Darstellung 1902.
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Wagen wir einen anderen Erklärungsansatz. Im Jahr 1878 standen Einnahmen von nicht ganz 400.000 Mark einem Ausgabenvolumen von knapp 300.000 Mark gegenüber. Zur Jahrhundertwende machte das Patentamt 100 Prozent Gewinn – nämlich 2,5 Millionen Mark –, und 1913 standen Einnahmen in Höhe von mehr als 12,3 Millionen Mark sehr bescheidenen Ausgaben von nicht einmal 5,4 Millionen Mark gegenüber, wobei der Personalzuwachs von diesen Ausgaben selbstverständlich bereits gedeckt war.42 Der Präsident konnte sich auf sechs Direktoren, 47 Abteilungsvorsitzende und Mitglieder der Beschwerdeabteilungen, 16 nicht ständige Mitglieder sowie 152 ständige Mitglieder der nunmehr zwölf Anmeldeabteilungen stützen. Pointiert ausgedrückt: Das Patentamt war sprichwörtlich reich, der Fassadenschmuck kein Fassadenschwindel, womit wir zum Neubau in der Gitschiner Straße kommen. Auch das neue Gebäude in der Luisenstraße erwies sich innerhalb kurzer Zeit als zu klein, so dass erneut etwa ein Dutzend Privatwohnungen in der Nachbarschaft angemietet wurden. Um die Jahrhundertwende fiel der Entschluss für einen Neubau, der dann auf längere Zeit den Raumbedarf des Patentamts decken sollte. Das von Hermann Solf und Franz Wichards an der Gitschiner Straße nahe dem Halleschen Tor auf einem ehemaligen Kasernengrundstück von 23.600 Quadratmetern erbaute Dienstgebäude konnte im September 1905 bezogen werden.43 Das neue Gebäude enthielt rund 700 Dienstzimmer, verbunden durch Flure von insgesamt zehn Kilometern Länge, zwölf Sitzungssäle, elf Kassenräume, drei Säle für die Kanzlei sowie eine große Auslegehalle.44 Die Bibliothek war in einem besonderen Gebäudeteil in sechs Stockwerken untergebracht, und sogar ein Tennisplatz im Hof hinter der Auslegehalle fehlte nicht. Im deutschen Neurenaissancestil sollte der Monumentalbau nach außen hin Antike und Gotik versöhnen und gerade nicht wie beispielsweise wenige Jahre darauf die AEG sich auch gestalterisch vom Geist des Historismus abheben. Und wie modern war das Gebäude im Inneren? Wie etwa wurden die Räume des Patentamts beleuchtet? War die Bestimmung von 1877, »die Zeichnung, sowie alle Schrift auf dem Hauptexemplar […] mit chinesischer Tusche in tiefschwarzen Linien auszuführen« eine Konstante aller Patentamtsgebäude, die schlichtweg der Beleuchtung geschuldet war?45 Und konnte der
42
43 44 45
Vgl. zur Haushaltslage neben den jährlichen Statistiken im Patentblatt und im Blatt für Patent-, Muster- und Zeichenwesen insbesondere die Festschrift zum 50-jährigen Bestehen Reichspatentamt 1927: 36. Vgl. Hauß 1927: 26. Vgl. zur Gebäudebeschreibung ausführlich Sarrazin/Schultze 1905. Bestimmungen über die Anmeldung von Erfindungen 1877: 8.
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Elektrotechniker Werner von Siemens, als Initiator des ersten deutschen Patentgesetzes und gleichzeitiges Mitglied im Patentamt selbst eine Erfindung einreichen? Abbildung 3: Auslegesaal in der Gitschiner Straße, November 1929.
Werner von Siemens geht zum Patentamt In den ersten vier Jahren des Kaiserlichen Patentamts in Berlin werden gerade mal 405 Patente in der Klasse 21 angemeldet. Diese Klasse umfasst die sogenannte Elektrotechnik, ein Begriff, der eben erst von Werner von Siemens und dem Elektrotechnischen Verein geprägt worden war. In einem Brief an den damaligen Generalpostmeister Heinrich von Stephan schreibt Siemens: Ich erlaube mir daher in Vorschlag zu bringen, Ew. Excellenz wolle das Protectorat über einen das ganze Gebiet der Electrotechnik umfassenden Deutschen Verein übernehmen. […] Neben der Telegraphie, die schon in etwas ruhigere Fortschrittsbahnen eingelenkt ist und das aristocratisch conservative Element der Electrotechnik repräsentirt, sehen wir überall ein wildes Rennen auf diesem Gebiete, ein ernsthaftes Streben, der Electricität einen wichtigen Platz in den alten Industriezweigen zu erobern und neue auf sie zu begründen.46 46
Zitiert nach Herter 1998: 17.
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Unabhängig von der Frage, ob der Begriff der Elektrotechnik in diesem Brief zum ersten Mal fällt: Der neue Industriezweig etablierte sich ab den 1880er Jahren im öffentlichen Bewusstsein. Zur gleichen Zeit referierte Siemens anlässlich der Hauptversammlung der Naturforscher in Baden-Baden den technischen Stand der Dinge, wobei er eine klare Zäsur hervorhob: Die Anwendung des elektrischen Lichts blieb […] fast ein halbes Jahrhundert lang eine sehr beschränkte. Auch die Herstellung und Anwendung grosser magneto-elektrischer Maschinen […] hat darin wenig geändert. Eben so wenig Erfolg hatte es, mittelst des elektrischen Stromes grössere Arbeitsleistungen zu erzeugen oder zu übertragen. […] Alle diese Anstrengungen scheiterten […] an der Kostspieligkeit und Schwierigkeit der Erzeugung der erforderlichen starken Ströme.47
Mit anderen Worten sind bisher auch kaum Erfinder mit elektrotechnischen Apparaten zum Patentamt gegangen bzw. hat es auf diesem Gebiet nur wenige Anmeldungen gegeben, nämlich zwischen 1877 und 1880 gerade mal 405.48 Wie stark der neue Industriezweig in den kommenden Jahren in das öffentliche Bewusstsein eindrang, lässt sich am eindrucksvollsten an den Inszenierungen der Elektrizität im Rahmen einer Reihe von internationalen Ausstellungen nachzeichnen. 1881 wurde erstmals der technische Stand der Dinge auf der Exposition Internationale d'Électricité in Paris gezeigt – Siemens war hier prominent u. a. mit einem elektrischen Aufzug vertreten.49 Es folgten 1882 München und 1883 Wien, was mit einer Phase deutlich angestiegener Patentanmeldungen parallel läuft: 1881 wurden 195 Patente, 1882 dann schon 335 Patente vorgelegt. Dann stagnierten die Anmeldungen für die nächsten fünf Jahre – einen echten Durchbruch hatte die Elektrotechnik also noch nicht erreichen können. Dies lässt sich auch daran erkennen, dass in diesem Zeitraum wenig spektakuläre Erfindungen ihren Weg nach Berlin fanden: Glühlampen, Bogenlampen, Akkumulatoren und Stromverteiler – keine wirklichen Innovationen also. Dies ändert sich Ende der 1880er Jahre radikal. Die Anzahl der Anmeldungen steigt sprunghaft auf 488 Patente 1889 und 567 Einreichungen 1891, wonach eine weitere Ruhephase eintritt. Was war geschehen? 47 48 49
Siemens 1879: 474. Vgl. Kaiserliches Patentamt 1902: 107. Vgl. de Parville 1882: 168 und Siemens 1880. In Preußen wurden pro Jahr zwischen 50 und 100 Patente erteilt – gegenüber 500 bis 600 Gesuchen, das entspricht um 1850 einer Ablehnung von etwa 90%.
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Äußerliches und zudem extrem spektakuläres Zeichen war die Internationale Elektrotechnische Ausstellung, die im Sommer 1891 in Frankfurt am Main stattfand. Öffentlich demonstriert wurde die erste elektrische Fernleitung, indem der in Lauffen am Neckar gewonnene Strom über 175 km direkt ins Ausstellungsgelände transportiert wurde, um dort publikumswirksam einen mit eintausend Glühlampen bestückten Arkadenbogen zu illuminieren sowie einen künstlichen Wasserfall anzutreiben. Und der aktuelle Hintergrund der Ausstellung liefert die Antwort auf die Frage nach der Patentkonjunktur dieser Jahre. Als Großstadt musste Frankfurt möglichst schnell ein zentrales Elektrizitätswerk erbauen. Der Bau verzögerte sich immer wieder aufgrund eines bis dato ungelösten Problems: War Gleichstrom, Wechselstrom oder Drehstrom das geeignete Stromsystem? Mit der sensationellen Verlustbilanz der Lauffener Energie von nur 25 % war der sogenannte Stromkrieg entschieden: zugunsten des Drehstroms. Der bis dahin vorherrschende Gleichstrom hatte sich als echte Innovationsbremse erwiesen, nun zogen sämtliche größere Städte mit der Errichtung von Elektrizitätswerken nach. In den korrespondierenden Anmeldezahlen zeigt sich, dass der operative Kern eines Patents in einer sehr spezifischen Verschränkung von Wissensgenerierung und Wissenstransfer besteht. Und auch erst jetzt, mit der Transportierbarkeit der elektrischen Energie – um die Geschichte der Gitschiner Straße zu einem vorläufigen Abschluss zu bringen – wurde das elektrische Licht konkurrenzfähig zum Gasglühlicht. Das Zentrum dieser Entwicklung liegt in Berlin. 1883 kauft der Berliner Maschinenbauingenieur Emil Rathenau die Rechte von Edisons Glühlampen-Patent, um drei Jahre später die Produktion und Vermarktung von Glühlampen unter dem Firmennamen Allgemeine Elektricitäts-Gesellschaft, besser als AEG bekannt, aufzunehmen. Gemeinsam mit Siemens & Halske wurde 1903 die Tochterfirma Telefunken gegründet, und im selben Jahr beginnen die Bauarbeiten in der Gitschiner Straße.50 Vermutlich zu spät, als dass in den Büros des Patentamtes die Arbeit an den 30.000 Patentanmeldungen diesen Jahres hätte elektrisch beleuchtet werden können. Und Werner von Siemens? 1875 schrieb er, angesichts der extrem hohen Zurückweisungsrate von Anmeldungen in Preußen: »Ich habe seit mehr wie 20 Jahren in Preußen nie ein Patent nachgesucht und werde für mich auch von einem etwaigen Reichs-Patentgesetz keinen Gebraucht machen« – eine durchaus ambivalente Äußerung, wenn man 50
Im 10. März 1906 meldete die Deutsche Gasglühlicht AG das Warenzeichen OSRAM beim Kaiserlichen Patentamt an, um sich nach dem Ersten Weltkrieg mit der AEG und der Siemens AG zusammenzuschließen.
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sich sein eingangs geschildertes Engagement im Deutschen Patentschutzverein vor Augen hält.51 Als Siemens dann 1877 zum prominentesten nicht ständigen Mitglied des Patentamtes wird, gerät er quasi mit seinem eigenen Gesetzesentwurf in Konflikt. Im Gesetzesentwurf, den der Deutsche Patentschutzverein 1875 dem Bundesrat vorlegte, lautete § 7 schlicht: »Mitglieder oder Beamte des Patentamtes können Patente anders als von Todes wegen nicht erwerben.«52 In die Gesetzesfassung von 1877 wurde dieser Paragraph freilich nicht übernommen, aber als Siemens klar wird, dass sein Unternehmen keinesfalls auf elektrotechnische Patente verzichten kann, reicht er ein Rücktrittsgesuch ein. Als dieses abgelehnt wird, geht Werner von Siemens zum Patentamt, mit einer Idee für ein Telephon, am 12. Dezember 1877.
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Zitiert nach Kurz 2002: 489. Entwurf 1875: § 7, S. 15.
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Die Erfindung der Bildtelegraphie im Urheberrechtsstreit zwischen Alexander Bain und Frederick C. Bakewell Aus heutiger Sicht irritiert es, dass sich in der Mitte des 19. Jahrhunderts zwei Erfinder einem öffentlichen Urheberrechtsstreit hingeben, der auf den ersten Blick vollkommen unnötig erscheint: Sowohl Alexander Bain als auch Frederick C. Bakewell haben bereits Patente für diejenigen Bildtelegraphen erhalten, um die sie sich im Jahr 1850 im Mechanics’ Magazine streiten. Die Gründe für diese Auseinandersetzung können folglich entweder nur darin liegen, dass das zeitgenössische Patentsystem im Allgemeinen defizitär ist, oder aber – damit zusammenhängend –, dass speziell Bain, der Bakewell der Patentverletzung beschuldigt, ein anderes Verständnis von Patentschutz hat als sein Kontrahent oder der Staat. Zur Untersuchung dieser doppelten Feststellung werde ich zunächst das britische Patentsystem hinsichtlich seiner Entwicklung, des Verfahrens der Patenterteilung sowie der Anforderungen an ein Patent skizzieren. In einem zweiten Schritt erfolgt nach dem Vergleich der in Frage stehenden Patentschriften die Analyse der inhaltlichen und argumentativen Ebene des Streites selbst. Dadurch wird sich am Ende die anfängliche Irritation in eine Erkenntnis der vielschichtigen Produktivität dieser Komplikation in der Patentgeschichte der Bildtelegraphie auflösen.
Das britische Patentrecht Das britische Patentrecht ist insofern einzigartig, als sich seine Entwicklung kontinuierlich bis zu ihren Anfängen im Mittelalter zurückverfolgen lässt: »The English system never lapsed and in 1852 formed the basis of a system applying to the whole United Kingdom.«1 Am begrifflichen Ursprung der britischen Patentrechtsgeschichte stehen weder Erfinder noch Erfindungen: Denn letters patent, worauf die Bezeichnung Patent letztlich zurückzuführen ist, leitet sich vom lateinischen litterae patentes ab und bedeutet zunächst nur offene Briefe. Von der ersten Er1
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wähnung im Jahr 1201 bis heute sind damit vom Souverän erstellte Dokumente gemeint, die das gesamte Königreich adressieren. Offen sind diese Briefe insofern, als das königliche Großsiegel an ihrem Seitenende angebracht ist, d. h. dass man das Dokument lesen kann, ohne das Siegel brechen zu müssen. Inhalt dieser Briefe sind Privilegien (grants) unterschiedlichster Art wie etwa die Verleihung von Ehrentiteln, die Ernennung von Richtern oder auch die Verteilung von Waffen. Als Vorläufer der Erfindungspatente können diejenigen letters patent gelten, die ein Gewerbeprivileg vergaben und neben dem Ausschließlichkeitsrecht auch die Gewerbeerlaubnis enthielten, d. h. die strengen inländischen Regeln der Handwerksgilden konnten dadurch umgangen werden, dass einfach ausländische Handwerker angeworben wurden.2 Zusammengefasst stand diese Proto-Patentphase, dieser Einkauf von ausländischem Wissen, im Zeichen und Zweck der Modernisierung und Verbreitung technischer Innovation. Der Souverän machte dabei Gebrauch von seinem Prärogativrecht, der vom Parlament geduldeten allgemeinen Handlungsvollmacht, was in anderer Hinsicht verdeutlicht, dass letters patent in erster Linie als Medien der Ausübung, des Erhalts und der Expansion von Macht eingesetzt wurden. Als durchdachte Rechtspraxis kann die eher willkürliche Monopolvergabe hingegen kaum verstanden werden: »Mit den Privilegien [war] der Rechtscharakter geistigen Schaffens noch nicht anerkannt. Die Zuerkennung eines Monopols war eine reine Ermessensentscheidung.«3 Als Monopole schließlich für Erfindungen vergeben wurden – das erste richtige Patent auf die Herstellung von farbigem Glas stammt aus dem Jahr 1449 –, geschah dies ebenfalls auf und mittels letters patent. 2 3
Sievers 1998: 6. Heinemann 2002: 34. Queen Elizabeth I. machte von letters patent so exzessiv Gebrauch – sie vergab etwa Patente für Rohstoffe und Lebensmittel –, dass sie vom Parlament dazu gezwungen wurde, in ihrer »Golden Speech« im Jahr 1601 die am heftigsten kritisierten Monopole für ungültig zu erklären und ihren Untertanen zu gewähren, gerichtlich dagegen (also letztlich gegen ihre eigenen Entscheidungen) vorzugehen. Was denn auch ein Jahr später geschah: Nachdem Edward Darcy, Patentinhaber für die Herstellung von Spielkarten, den Herrenausstatter Thomas Allin der Verletzung seines Patents angeklagt hatte, entschied der Gerichtshof, dass das an Darcy vergebene Monopol ungültig sei. Dieser berühmte Gerichtsbeschluss ging als »Case of Monopolies« in die englische Patentrechtsgeschichte ein, hatte aber nicht etwa das Ende des Monopolvergabemissbrauchs zur Folge. James I. legte im – ebenfalls vom Parlament forcierten – »Book of County« 1610 fest, dass Patente für bereits bestehende Industrien illegal seien; eine Entscheidung, die die Basis für das »Statute of Monopolies« (1624) bildete, vgl. hierzu etwa Davenport 1979: 19, Liebesny 1972: 6f. und Sievers 1998: 8f.
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Im Zuge der Industriellen Revolution stiegen schließlich die vorher nur vereinzelt erteilten patents of invention dermaßen an, dass der Begriff des Patents seither mit Erfindungen assoziiert wird.4 Die hinsichtlich der patents of invention wichtigste Reform stellte das Statute of Monopolies aus dem Jahr 1624 dar, das die Monopolvergabe folgendermaßen regelte: In Art. 1 wurden alle bisherigen Monopole prinzipiell für ungültig erklärt, mit Ausnahme derjenigen, die gewisse allgemeine Verbote zum Gegenstand hatten, und wie in Art. 6 vermerkt, derjenigen, die Erfindungspatente im engeren Sinne darstellten. Monopole sollten künftig nur noch unter folgenden Bedingungen zugestanden werden: For the term of 14 years or under, hereafter to be made of the sole working or making of any manner of new manufactures within his realm to the true and first inventor and inventors of such manufactures, which others at the time of making such letters patent and grants shall not use, so as also they be not contrary to the law nor mischievous to the State by raising prices of commodities at home, or hurt of trade, or generally inconvenient.5
Die Bestimmungen von Erfindung – »any manner of new manufactures« – und von Erfinder – »true and first inventor« – enthalten außer einem nicht näher bestimmten Neuheitsanspruch bzw. dem Anspruch einer ursprünglichen Urheberschaft weder eindeutige Definitionen, was unter »new«, »true« und »first« konkret zu verstehen, noch Hinweise, anhand welcher Kriterien dies zu entscheiden sei. Keine abschließenden Definitionen zu geben, ist jedoch keinesfalls ungewöhnlich, sondern entspricht der gängigen Rechtsgebungspraxis.6 Ferner hat der Erfinder nach diesem Monopolgesetz keinen Rechtsanspruch auf die Erteilung eines Patents, denn alle Monopole müssen nach dem common law beurteilt werden (Art. 2) sowie gerichtlich überprüfbar sein. Neu ist auch die Verbindung von Erfindungspatenten und Gewerbefreiheit sowie deren rechtliche Anerkennung. Zusammengefasst wird in diesem ersten britischen Patentgesetz die Entscheidung getroffen, dass alle willkürlich vergebenen Privilegien rechtswidrig, während alle nützlichen – d. h. alle Erfindungspatente – rechtsgültig seien.7
4 5 6 7
Davenport 1979: 14. Zitiert nach ebd.: 19, Hervorhebung SW. Für diesen Hinweis danke ich Doris Schweitzer. Doch selbst dieses Gesetz setzte dem königlichen Machtmissbrauch per Monopolvergabe kein Ende, sondern erst der Umstand, dass das Parlament im Jahr 1689 die Kontrolle über die Staatsfinanzen erhielt, vgl. Davenport 1979: 20.
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Eine wesentliche Änderung des »Statute of Monopolies« fand erst im 18. Jahrhundert statt: Gerichte durften in Einzelfällen ein Recht auf ein Patent anerkennen, da davon ausgegangen wurde, dass der Erfinder »in einem Patent verkörperte und mit diesem durchsetzbare Rechte« besaß.8 Diese Vorstellung birgt ein hohes Konfliktpotenzial, weil eine derart starke Rückbindung des Patents an den Urheber Inhalt und Umfang des Patentschutzes der patentrechtlichen Kontrolle entzieht – was sich in besonderem Maße am Urheberrechtsstreit zwischen Bain und Bakewell zeigen wird. So wurde dieses Recht denn auch im Jahr 1863 abgeschafft. In der Mitte des 19. Jahrhunderts war der Weg zur Patenterteilung lang, beschwerlich und vor allem kostspielig. Man hatte zwar keine 35 Verfahrensschritte zurückzulegen, wie sie Charles Dickens in seiner Satire »A Poor Man’s Tale of a Patent« auflistet,9 doch waren es immerhin acht, wobei die Gebühren mit jeder Etappe anstiegen: Bis man das letters patent in den Händen hielt, hatte man nicht weniger als 300 £ ausgegeben.10 Während ferner nur das Kanzleigericht die gerichtliche Verfügung zur Beendigung einer Patentrechtsverletzung ausstellen konnte, durfte jeder einzelne common law court die Gültigkeit eines Patents oder die Anerkennung von Patentverletzungen aussprechen. 1826 ergänzte der Lord Brougham’s Act das Statute of Monopolies dahingehend, dass der Patentinhaber sein Patent ergänzen durfte, was den Weg zur Erlangung eines Patents allerdings weder vereinfachte noch in finanzieller Hinsicht vergünstigte. Dies änderte sich erst 1852 mit dem Patent Law Amendment Act, der als nunmehr einzige Behörde für jegliche Patentangelegenheiten das Patent Office etablierte, wodurch die Gebühren erheblich gesenkt wurden. Hinsichtlich der Kriterien an eine patentfähige Erfindung vollzog sich bereits im 18. Jahrhundert ein Wandel: War bisher ausschlaggebend gewesen, ob eine Erfindung schon in England genutzt wurde, stellte man nun die Frage, ob die englische Öffentlichkeit durch eine Veröffentlichung Kenntnis von der Erfindung genommen hatte. Außerdem legten die königlichen Staatsanwälte fest, dass »the patentee must by an instrument in writing describe and ascertain the nature of the invention and the manner in which it is to be performed.«11 Diese Entscheidung
8 9 10 11
Vgl. Sievers 1998: 7. Diese Satire war so wirkmächtig, dass in fast jeder Darstellung des britischen Patentsystems darauf hingewiesen wird. Eine detaillierte Beschreibung des Verfahrens der Patenterteilung findet sich bei Davenport 1979: 15–18. Zitiert nach Intellectual Property Office 2006.
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hatte, wie sich später zeigen wird, weit reichende Folgen: Denn indem durch die Beschreibung (specification) der Erfindung ein Text beigefügt wird, kommt es unweigerlich zu einer Verquickung von Patentrecht und Copyright,12 die wiederum den Interpretationsfreiraum einer Patentschrift insgesamt erheblich erweiterte. Denn dass sich der Schutzbereich des Patents aus dem Wortlaut dieser Beschreibung ergeben muss, die specification sprachlich klar und eindeutig zu sein habe, wurde erst im Patent, Design and Trade Marks Act im Jahr 1883 festgelegt. Bis dahin fand auch keine inhaltliche Überprüfung der Patentschriften durch technisch versierte Einzelrichter statt.13 Erst mit dem Patents Act von 1977 war man schließlich in der Lage, eine Definition dessen geben zu können, was überhaupt eine patentierbare Erfindung sei: »An invention must, to be patentable, be capable of industrial application: that is of being made or used in any kind of industry, including agriculture.«14
Patentvergleich Entgegen der eingangs getroffenen Einschätzung verwundert es vor diesem patentrechtlichen Hintergrund kaum noch, dass sich zwei Erfinder in der Mitte des 19. Jahrhunderts ihre Erfindungen streitig machen – ist doch zu diesem Zeitpunkt nicht klar, welche Erfindungen patentierbar 12
13 14
Auch wenn sowohl Patentrecht als auch Copyright dem Urheberrecht zuzuordnen sind, ist der jeweilige Schutzbereich ein vollkommen anderer: Im Gegensatz zum Patent schützt das Copyright den Autor eines Buches, indem es ihm die Vervielfältigungsrechte zuspricht. Dass geistiges Eigentum in beiden Fällen eine Rolle spielt, zeigt sich nicht zuletzt an der Geschichte des britischen Patent Office, das erst im Jahr 2007 in Intellectual Property Office umbenannt wurde und die Verwaltungsbereiche Copyright, Designs, Patents und Trade marks beherbergt, vgl. hierzu und zur Geschichte des britischen Copyrights die Homepage des Intellectual Property Office unter der URL: http://www.ipo.gov.uk/about/history.htm. Vgl. Sievers 1998: 5–15. Zitiert nach Davenport 1979: 25. In diesem Gesetz wurden auch zum ersten Mal diejenigen Kriterien für die Gültigkeit eines Patents kodifiziert, die auf dem Statute basierten und durch die common law-Rechtspraxis variiert worden waren: Gültig war ein Patent, wenn es gesetzmäßig (»within the law«) und sicher (»certain«) war, kein bereits existierendes Recht beeinträchtigte (»not to the prejudice of existing rights«) sowie keine falschen Betrachtungen, Ratschläge oder Darstellungen enthielt (»free from any false consideration or suggestion; free from any false recital«) und der Absicht des Souveräns entsprach (»not in contradiction of the Sovereign’s intention«), siehe ebd.: 34.
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sind, geschweige denn, was überhaupt Erfinder und Erfindungen sind. Wie sich zeigen wird, suchten die Kontrahenten implizit genau nach Antworten auf diese Fragen, die allerdings auf je eigenen – man könnte auch sagen erfundenen – Vorstellungen von Patentschutz und -recht basierten: In gewisser Weise erfanden sich Bain und Bakewell in diesem Streit (erst) als Erfinder – und erfinden auch (erst), was Erfindungen sind. Dies stellte sich als ebenso produktiv heraus wie der modus operandi der Auseinandersetzung: in offenen Briefen – also eigenen letters patent – das bestehende Patentsystem zu kritisieren.
Alexander Bain: Electric Time-pieces and Telegraphs. An Bains Bezeichnung der patentierten Erfindung fällt auf, dass es sich dabei nicht um eine einzige, sondern um insgesamt sieben Erfindungen handelt, die offensichtlich keine eigentlich »new manufactures« darstellen, sondern lediglich Verbesserungen von bereits existierenden Verfahren – in Bains Worten: »Certain improvements in producing and regulating electric currents and improvements in electric time-pieces and in electric printing and signal telegraphs.«15 Bain will hier offensichtlich so viele Erfindungen wie möglich geschützt sehen, deren gemeinsamer Nenner der elektrische Strom ist.16 Einen copying telegraph dagegen beschreibt er an keiner Stelle der 15-seitigen Patentschrift, wohl aber ein »arrangement for taking copies of surfaces at distant places by means of electricity«.17 Diese spezifische Anordnung, auf die sich der Patentschutz erstreckt, erklärt Bain anhand einer Beschreibung der der Patentschrift beigefügten Konstruktionszeichnung (Abb. 1). Ein an einem Pendel befestigter Metallstift tastet zeilenweise Drucktypen ab, die auf der Rückseite eines Holzrahmens eingesetzt werden, auf dessen Vorderseite Kupferdrahtstücke in Siegellack eingelassen sind. Bewegt sich der Abtaster über einen vor einer Type liegenden Draht, fließt Strom durch die anderen Lettern, den Metallrahmen und schließlich ein Kabel zum Empfangsgerät. Dort setzt der Empfängerstift bei jedem Impuls per elektrochemischer Reaktion einen Punkt auf mit Säure getränktes Papier. Man könnte meinen, Bain habe hier mit der Idee, 15 16
17
Bain 1843: 1. Man kann natürlich nur spekulieren, worin Bain sein eigenes Lebenswerk sah. So vermutet Albert Kümmel-Schnur, dass Bain womöglich »nie ein Faksimilegerät im Sinn [hatte], sondern eben nur möglichst schnelle Nachrichtenübertragung« (Kümmel-Schnur 2012). Christian Kassung geht sogar noch weiter und schlägt vor, dass Bain ein »universales Simulationsmedium [habe] schaffen wollen« (Kassung 2007: 341). Bain 1843: 15.
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ein Bild für die Übertragung elektronisch zu zerlegen und abzutasten – es also zu digitalisieren –, die Bildtelegraphie erfunden, doch tatsächlich »emergiert [Bains Apparat] einfach aus den bekannten Prinzipien der Telegraphie – unterbrochener Stromfluss über Kabel – und stellt erst ex post einen zukunftsweisenden Bruch mit ihr dar.«18 Abbildung 1: Konstruktionszeichnung aus Bains Patent Nr. 9.745, 1843.
Bain ist sich zu diesem Zeitpunkt ganz offensichtlich nicht des Potenziales seiner improvements für die Entwicklung der Bildtelegraphie bewusst: Er schreibt – ganz anders als im Streit mit Bakewell – an keiner Stelle von copying telegraphs, sondern trennt sorgfältig »copying types« (Sheet 6) von »electric printing telegraphs« (Sheet 5) sowie »signal telegraphs« (Sheet 7). Im Patent formuliert er allerdings ahnungsvoll: Sheet 6 shews my improvement for taking copies of surfaces for instance the surface of printer’s types at distant places. […] It is evident that a copy of any other surface composed of conducting and non-conducting materials can be taken by these means.19
Die Transformation seiner konkreten, selbst erfundenen Anordnung in ein Beispiel deckt einen Generalanspruch auf, der sicherlich nicht halt18 19
Kümmel-Schnur 2010. Bain 1843: 10 und 12, Hervorhebung SW.
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bar bzw. rechtens ist: Bain beansprucht hier das Recht an jeglichem Kopiervorgang, solange die Oberfläche sich nur aus leitenden und nicht leitenden Materialien zusammensetzt. Er muss demnach der Ansicht gewesen sein, dass seine Idee grundlegend für jegliche Art des elektrischen Kopierens sei. Dieser Anspruch wird am Ende der Patentschrift zugunsten des oben beschriebenen arrangements allerdings wieder zurückgenommen: Third I claim the following improvements when applied to electric time-pieces or to printing or signal telegraphs. […] 7th The arrangement for taking copies at distant places by means of electricity as shewn in Sheet 6.20
Folglich ist bereits in Bains Patentschrift eine Unentschiedenheit darüber erkennbar, was denn nun erfunden worden und im Einzelnen zu patentieren sei – ein Umstand, der sich auch im Urheberrechtsstreit widerspiegelt.
Frederick Collier Bakewell: Electric Telegraphs. Wie in Bains Fall ist auch Bakewells Erfindung nicht vollkommen neu. Geschützt werden soll in diesem Patent die »Invention of ›Improvements in Making Communications from one Place to another by Means of Electricity‹.«21 Im Vergleich zu Bains Patent fällt auf, dass Bakewell nicht möglichst viele Ansprüche auf die diversesten Erfindungen anmeldet, sondern sich seine obzwar voneinander unterschiedenen insgesamt vier Erfindungen allesamt auf den copying telegraph beziehen. So schreibt er: I hereby claim – First, the general arrangements described and shewn […] for copying written or printed characters at a distant by means of electricity. – Second, the means described and shewn for obtaining synchronous continuous movements in distant instruments by the regulating agency of electro-magnets either with or without the application of pendulums. – Third, the use of previously concerted lines or marks in transmitting instruments to serve as guides in regulating the corresponding instruments. – Fourth, the mode described of breaking the electric circuits by means of local electro-magnets and local voltaic batteries.22
20 21
22
Bain 1843: 14, Hervorhebung SW. Bakewell 1848: 1, Hervorhebung im Original. Das »invention of« mutet auch hier merkwürdig überflüssig an, scheint aber eine formale Vorgabe der Patentschrift zu sein. Ebd.: 11.
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Vergleicht man nun die für die Bildtelegraphie relevanten Ansprüche, so unterscheidet sich der diesbezügliche Wortlaut von demjenigen Bains fast gar nicht: Zielt Bain auf den Schutz des »arrangement for taking copies of surfaces at distant places by means of electricity« ab, so will Bakewell »the general arrangements […] for copying written or printed characters at a distance by means of electricity« geschützt sehen. Anders als Bain erklärt Bakewell seine improvements zunächst ausführlich prosaisch, bevor er sich der Erklärung der beigefügten Zeichnung zuwendet, d. h. der Leser weiß bereits, worum es gehen wird, und hat somit weniger Verständnisschwierigkeiten als in Bains Patent. Es ist nicht verwunderlich, dass Bakewell im Gegensatz zu Bain in seiner Patentschrift seine Erfindung konkret als copying telegraph bezeichnet – und als solche erkennt – hat sich doch die Telegraphie binnen der fünf Jahre, die zwischen beiden Patenten liegen, stark weiterentwickelt. Abbildung 2: Konstruktionszeichnung aus Bakewells Patent Nr. 12.352, 1848.
Bakewells copying telegraph (Abb. 2) funktioniert wie folgt: Auf den Senderzylinder ist eine Metallfolie gespannt, auf die mit isolierender Tinte die zu übertragende Botschaft geschrieben wird. Ein an einem Pendel befestigter Metallstift bewegt sich spiralförmig über den rotierenden Zylinder. Auf den mit chemisch vorbehandeltem Papier umspannten Empfänger-Zylinder wird ein Negativ der Botschaft übermittelt, indem der Metallstift durch die empfangenen Impulse das Papier verfärbt. Auch wenn sich beide arrangements – das wird an den Beschreibungen und nicht zuletzt an den Zeichnungen sehr deutlich – inhaltlich unterscheiden, geht es in beiden Patenten formal um ein Recht am elektrischen Kopieren über eine räumliche Distanz: um Bildtelegraphie. Diese
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übergeordnete Erfindung darf offensichtlich keiner von beiden für sich beanspruchen – und doch dreht sich der im Folgenden dargestellte Urheberrechtsstreit genau um die Frage, wer der »true and first inventor« der Bildtelegraphie war.
Der Urheberrechtsstreit im Mechanics’ Magazine Interessanterweise liegt der Stein, an dem Bain Anstoß nahm und damit den im Mechanics’ Magazine ausgetragenen Urheberrechtsstreit ins Rollen bringt, zwei Jahre vor der eigentlichen Auseinandersetzung: Bain reagiert im Februar 1850 in seinem ersten offenen Brief auf eine Pressemeldung aus dem Jahr 1848, in der euphorisch die Ablösung des Postamtes durch Bakewells – damals noch nicht patentierten – Bildtelegraphen erklärt wird. Einen Vergleich zu Bains Verfahren des copying types ziehen die Verfasser nicht; vielmehr sehen sie dessen telegraphisches Verdienst in einem ganz anderen Apparat, der allerdings auch im Patent von 1846 geschützt wurde: »Mr. Bain’s ingenious marking electric telegraph, by means of which symbols representing letters of the alphabet are marked on paper by electricity.«23 Das, was dieser Telegraph noch nicht realisieren konnte, aber auch gar nicht sollte, – »exact copies of written communication« – gelingt der Bakewell’schen Apparatur, lobt der Spectator.24 Die mit Bain eng verbundenen Herausgeber des Mechanics’ Magazine reagieren empört: The reader […] will see that on the same principle on which symbolical representations of letters are transmitted […] fac-similes of the letters themselves […] may be conveyed.25
Bain nimmt diese Sichtweise dankbar auf und erklärt zwei Jahre später sein Anliegen im ersten offenen Brief mit »to place the invention of the Electric Copying Telegraph […] in its proper light before your readers and the public.«26 Dieser Anspruch impliziert zum einen, dass die Erfindung die letzten Jahre in einem falschen Licht stand. Zum anderen gesteht sich Bain, sich selbst als Aufklärer hochstilisierend, einen übergeordneten Standpunkt zu: Er weiß mehr als Leser und Öffentlichkeit und 23 24 25 26
Editors Mechanics’ Magazine 1848: 391. Ebd. Ebd., Hervorhebung SW. Bain 1850a: 102.
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handelt explizit im Dienste einer höheren Gerechtigkeit: »As an act of justice, to inform your numerous readers that the invention is not at this time new, neither is Mr. Bakewell the inventor.«27 Bakewell appelliert in seiner Replik ebenso ausdrücklich an den »sense of justice« der Leser, bestimmt den Gegenstand des Streits allerdings weitaus konkreter als sein Konkurrent: »Is my copying telegraph an infringement of his patent for copying types?«28 Es sei schon hier angemerkt, und wird später noch deutlicher werden, dass Bain zwischen 1848 und 1850 nicht untätig war, sondern an der Verbesserung seiner Erfindung von 1843 gearbeitet hat (vgl. Abb. 3). Zur Klärung der Patentverletzungsfrage bieten die Erfinder ihren richtenden Lesern unterschiedliche Kriterien an, die sich wiederum in zwei übergeordnete Argumentationsstrategien aufteilen lassen: die Erfindungskritik und die Erfinderkritik. Die Erfinderkritik trägt dabei gewissermaßen fiktive Züge: Erstens geht es beiden Akteuren darum, den anderen schlecht zu machen, ihn – genauer gesagt – durch Unterstellungen zu kriminalisieren. Zweitens geschieht dies anhand der Schilderung gemeinsamer Erlebnisse, die strukturell gesehen also Erinnerungen sind. Erinnerungen sind jedoch in doppelter Hinsicht als Verdichtung zu verstehen: Zum einen wird das Vergangene selektiv vergegenwärtigt, d. h. auf das Wesentliche komprimiert; zum anderen geschieht diese Vergegenwärtigung in Form einer Nacherzählung des Erlebten. Diese Narrativierung erfordert Phantasie bzw. Kreativität, weshalb ich die erzählte Erinnerung als Mischung aus Fakt und Fiktion verstehe. Mithilfe derartiger narrativer Anstrengungen will vor allem Bain seine Leser auf die Spur eines Verbrechens führen und lässt es sich nicht nehmen, dabei selbst als Detektiv aufzutreten. So überführt er Bakewell in seinem ersten, den Urheberrechtsstreit eröffnenden Brief, des Diebstahls: It was during my sojourn in the United States, in the spring of 1848, that advantage was taken of my absence by Mr. F. C. Bakewell. […] Mr. Bakewell applied for, and (in consequence of my absence) obtained, a patent for his alleged invention. […] Mr. Bakewell has but copied my inventions, without adding a single practical improvement.29
27 28
29
Ebd. Bakewell 1850a: 143, Hervorhebung SW. Schon durch die Wortwahl gesteht er Bains Apparat gerade nicht den Status eines echten Telegraphen zu; und hat damit nicht einmal Unrecht, bedenkt man, wie oben gezeigt, dass Bain in seinem Patent kein einziges Mal den Ausdruck copying telegraph gebraucht. Bain 1850a: 102.
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Bain appelliert hier eindeutig an den Gerechtigkeitssinn der Leser, indem er sich als Opfer und Bakewell als verschlagenen Plagiator inszeniert. Dabei bewegt er sich auf der gefährlichen Schwelle zwischen Fakt und Fiktion. Denn, wie Bakewell richtig kontert: »Does Mr. Bain wish to be understood that, had he been in England, he would have acted differently?«30 Dass die Patenterteilung nur durch Bains Abwesenheit habe stattfinden können, ist eine kaum haltbare Interpretation der Sachlage, wenn nicht gar ein von Bain erfundener Umstand. Der Vorwurf der Plagiaterie ist hingegen schwerwiegender: Erstens gesteht Bain Bakewells Apparat nicht den Status einer wahrhaften Erfindung zu (»alleged invention«), zweitens spricht er davon, dass dieser seine eigenen Erfindungen kopiert habe. Darüber hinaus erzählt Bain, dass Bakewell nicht nur seine Verbindungen zur öffentlichen Presse, sondern auch den Besuch von Bains Werkstätten dahingehend ausgenutzt habe, Bains Erfindungen auszuspionieren. Und kaum sei dieser außer Landes gewesen, habe Bakewell sich heimlich das Patent erteilen lassen.31 In seinem Antwortbrief schildert Bakewell nicht nur seine Sicht der zwei Jahre zurückliegenden Ereignisse, sondern unterstellt seinerseits auch Bain ein kriminelles Vergehen: Er habe zwar fast alle Experimente, die Bain zur Verbesserung seines »dotting telegraph« durchgeführt hatte, gesehen, aber darauf sei auch Bains Patent angemeldet und an die Electric Telegraph Company verkauft worden, die wiederum keinen Verstoß in Bakewells Patent gesehen habe. Dem Vorwurf, er habe Bains Werkstätten nur zu Spionagezwecken besucht, begegnet Bakewell mit folgender Geschichte: Very shortly after the idea of the copying telegraph suggested itself to me, I mentioned it to him […]. He then informed me that he had secured copying of all kinds by his patent of 1843, though he had not been able to do it. He offered to give me 500 £ if I accomplish it, and then he proposed that I should tell him my plan. […] I disclosed the mode by which I proposed to copy printing; when he asserted that it was his own plan, and retracted his offer.32
30 31
32
Bakewell 1850a: 144. »I beg to observe that Mr. Bakewell having been for some time connected with the public press, had at various times written notices of my Electric Telegraphy. […] Mr. Bakewell was a constant visitor of my workshops […]. Having possessed himself of all the information he could collect, he raised some difficulty about the proposed publication – stated that he, too, had improvements, but without disclosing their nature, and eventually discontinued his visits.« Bain 1850a: 105, Hervorhebung im Original. Bakewell 1850a: 144, Hervorhebung SW.
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Die Veröffentlichung dieses Geheimnisses kommentiert Bain wiederum wie folgt: »I certainly did say, that I would give Mr. Bakewell a sum of money if he accomplished certain things […] but which I knew to be empty baggart, and impossibility. […] So far from making any disclosures to me, I knew nothing of his doings.«33 Die patentierten Erfindungen stehen auf dieser Ebene der Argumentation überhaupt nicht mehr zur Debatte, vielmehr wird das Verhalten des jeweils anderen mit dem Ziel der Leserbeeinflussung be- und verurteilt. Bedenkt man den, mag er auch noch so gering sein, fiktiven Anteil der jeweiligen Kritik, so tritt hier eine gänzlich andere Bedeutung von Erfindung zutage: Erfindung hat in dieser Hinsicht weder etwas mit Bildtelegraphie noch mit Patentierung zu tun, sondern ist allein an die Ehrenhaftigkeit des Erfinders gebunden. Noch vielschichtiger stellt sich die Erfindungskritik dar. Ob eine Verletzung von Bains 1843er-Patent vorliegt, wird sowohl von den Kontrahenten als auch im Folgenden von mir anhand von drei Kriterien untersucht: Erstens werden die Geräte verglichen; zweitens ihre Funktionalität untersucht; drittens die jeweiligen Vorstellungen von Patentschutz und -umfang einander gegenübergestellt. Bain hat erhebliche Probleme, Bakewell die Patentverletzung nachzuweisen, weil er selbst nicht zu wissen scheint bzw. zu artikulieren vermag, worin denn seine ursprüngliche Erfindung konkret bestanden hat. Das wird bereits im ersten Brief deutlich, in dem er, wie oben zitiert, zunächst behauptet, Bakewell habe seine »Erfindungen« kopiert. Der unverhoffte Plural verwirrt, weil der Leser weder ahnen kann, welche konkreten weiteren Erfindungen Bain meint, noch in welchem Verhältnis sie zu seinem Bildtelegraphen stehen oder wie viele diese sein mögen. Bakewells angebliches Plagiat will Bain beweisen, indem er zwei Seiten lang ausschließlich die eigenen Erfindungen beschreibt. Er kommt dabei zu dem fragwürdigen Schluss: »The similarity of many of the features of this apparatus to that described in Mr. Bakewell’s specification […] will be evident; […] there is no single feature, either electrical, chemical, or mechanical, in Mr. Bakewell’s plan, that is not embodied in my patents of 1843 and 1846.«34 Fragwürdig ist dieser Schluss in dreierlei Hinsicht: Erstens schrumpft der eingangs behauptete »has copied«Vorwurf auf »similarities« zusammen, während zweitens die angebliche Patentverletzung auf »patents of 1843 and 1846« erweitert wird, und drittens ergibt sich nicht zuletzt deshalb keinerlei Evidenz, weil Bain selbst seine Erfindung(en) nicht mit der von Bakewell vergleicht. Zu33 34
Bain 1850b: 188, Hervorhebung im Original. Bain 1850a: 105, Hervorhebungen SW.
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sätzlich irritiert, dass das Mechanics’ Magazine neben Bains Brief eine Zeichnung seines verbesserten Bildtelegraphen aus dem Jahr 1850 abdruckt (Abb. 3), der sich sehr deutlich von der ursprünglichen Version aus dem Patent von 1843 (Abb.1) unterscheidet. Bakewell, der den Plagiatsvorwurf genauso gut hätte zurückweisen können, geht nur auf den Begriff der Ähnlichkeit ein. Als einzige Ähnlichkeit zwischen seinem Kopiertelegraphen und dem von Bain aus dem Jahre 1843 beschreibt Bakewell »that in both a single marking point passes several times over different parts of the same line of letters.«35 Dabei macht er Bain indirekt ein Zugeständnis: Denn Ähnlichkeit erfordert schließlich die Gemeinsamkeit eines wesentlichen Merkmals. Und gerade dieses Wesentliche scheint Bain in seinem Patent von 1843 geschützt sehen zu wollen. Bakewell wendet aber auch ein, dass Bain – hätte er an Bakewells Kopiermethode gedacht – diese auch artikuliert hätte. Außerdem würden sich Bains Beschreibungen und Zeichnungen seiner gegenwärtigen Verbesserungen des Kopiertelegraphen (vgl. Abb. 3) von dem ursprünglichen Patent gänzlich unterscheiden: For the metal types, writing on tinfoil is substituted; the brush of wires is abandoned; the movement of the metal styles by pendulums has disappeared; and the flat transmitting and receiving surfaces are converted into rotating cylinders.36
Mit dieser Feststellung will Bakewell nicht nur die Unterschiede in Bains eigenen Erfindungen herausstellen, vielmehr dreht er den Spieß derart herum, dass er nun seinerseits behauptet, Bains gegenwärtige Untersuchung sei »remarkable for its close imitation of mine, of which I consider it a direct infringement.«37 Bain wiederum entgegnet Bakewell, dass dieser nicht nur elektrische Uhren und Pendel für denselben Zweck wie er selbst eingesetzt, sondern sogar die gesamte Anordnung sowie den modus operandi von ihm übernommen habe.38 Zusammengefasst kann diese vergleichende Argumentation deshalb zu keiner Entscheidung führen, weil vollkommen unklar bleibt, auf welche und wie viele seiner Patente Bain das behauptete infringement ausdehnt.
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Bakewell 1850a: 143. Ebd.: 144. Ebd. Vgl. Bain 1850b: 187.
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Abbildung 3: Bain’s Patent Electro-Chemical Copying Telegraph. Zeichnung aus dem Mechanics’ Magazine, Nr. 1.383, 1850.
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So schlägt Bakewell einen anderen Weg ein, indem er behauptet, dass ein wichtiger Unterschied zwischen beiden Erfindungen darin liege, dass »his never did and never can produce legible copies of types or writing on separate instruments.«39 Erst seine eigene Erfindung habe das Problem synchroner Bewegungen zweier örtlich getrennter Instrumente durch die Verwendung einer »guide-line« gelöst.40 Dem entgegnet Bain: I had perfectly overcome this difficulty [of making two distant instruments go together] long before […] namely by means of stock pendulums, and also by the centrifugal governor and guide-wire. Moreover I had successfully worked telegraphs upon this very principle at an interval of six miles apart, on the South Western Railway in 1844, before the Lords of the Admiralty and several hundred visitors.41
Auf diese durch Zeugenanhörung überprüfbare Tatsache geht Bakewell im letzten Brief der Auseinandersetzung nicht ein. Vielmehr beharrt er darauf, dass »the plan described by Mr. Bain for copying types is, indeed impracticable«,42 was er wie folgt begründet: »Synchronous step-by-step movements, caused by electro-magnets, had been accomplished before Mr. Bain’s invention, but the attainment of synchronous continuous motion in separate rapidly-moving instruments, was, I believe, never accomplished before my invention.«43 Bakewell versucht auch auf dieser Ebene, seinen Ankläger auf ein konkretes Patent festzunageln – das von Bain selbst anfangs ins Spiel gebrachte aus dem Jahr 1843. Doch Bain führt zur Plausibilisierung der Patentverletzung ein erst später (1844) stattgefundenes Ereignis an. Ebenso reagiert er in seinem zweiten Brief auf Bakewells (ersten) »deceptive letter«,44 indem er betont, dass sein Kopierverfahren von 1848 gerade nicht auf das Kopieren von Drucktypen beschränkt sei, sondern »it was expressly and most distinctly shown that any surface composed of conducting and
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41 42 43 44
Bakewell 1850a: 143. Das hier angeführte Problem der Synchronisation konnte tatsächlich weder Bain noch Bakewell lösen, vgl. Kassung/Kümmel 2003, insbesondere S. 149–154. Bain 1850b: 188. Bakewell 1850b: 223. Ebd. Bain 1850b: 187. Beide Kontrahenten werden nicht müde, ihrem Gegenüber auch auf sprachlicher Ebene die Erfindung zu entziehen: Bakewell bezeichnet die Bain’sche ausschließlich als »copying types«, die eigene als »copying telegraph«. Bain spricht von »alleged invention« oder setzt »Mr. Bakewell’s Copying Telegraph« in Anführungszeichen.
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non-conducting substances might be copied by my patent process.«45 Warum Bain hier erneut Abstand von seinem Patent aus dem Jahr 1843 nimmt, erklärt er selbst: »The alterations I have introduced do not alter the character of the invention. […] the invention is still substantially the same.«46 Die geradezu aristotelische Rede vom Charakter und der Substanz der Erfindung deuten Bains Vorstellung des Patentschutzes an, der sich gerade nicht auf einzelne Apparate reduziert, sondern ein all seinen Geräten zugrunde liegendes Prinzip als Eigentum beansprucht. Dass ein solcher Anspruch unangemessen ist, bringt Bakewell in seinem letzten Brief zum Ausdruck: »I defy Mr. Bain to point out, in any part of my invention, a single arrangement or adaptation derived from him that was not open to the whole world.«47 Damit hat er genau ins Schwarze getroffen. Denn worüber hier gestritten wird, ist die Frage nicht nur nach der Interpretation des Patentumfangs, sondern auch die, was denn überhaupt patentierbar sei. So schließt Bakewell seinen Brief mit der folgenden Feststellung: »If a patentee were allowed to appropriate the inventions of others by including them in a patent specified years before, there would be no protection to inventors whatever; yet such is Mr. Bain’s notion of the expansive monopoly of his patent of 1843.«48 Damit ist der Streit zwischen Bain und Bakewell zwar nicht geschlichtet, aber doch beendet: Bain antwortet nicht mehr. Die Klärung der wahren Urheberschaft bleibt dem Leser überlassen. Es liegt auf der Hand, dass die Kontrahenten unterschiedliche Auffassungen davon haben, welche Ansprüche ein Patent tatsächlich abdeckt bzw. sich nicht einig darüber sind, was patentierbar ist. Während Bain vor allem die Idee zur Bildtelegraphie, d. h. die rein geistige Essenz seiner Erfindung geschützt sieht, argumentiert Bakewell mit der Analyse konkreter gebauter Apparate. So wird bereits in Bains erstem Brief deutlich, dass er Bakewells Patent »als Generalangriff auf sein gesamtes Werk« empfindet, nicht nur als Verletzung seines im Patent von 1843 festgelegten Kopierverfahrens.49 45 46 47 48 49
Ebd. Zusätzlich verwirrt, dass dieser Anspruch mit dem des Patents von 1843 identisch ist. Ebd.: 188. Bakewell 1850b: 224, Hervorhebung SW. Ebd., Hervorhebung SW. Kümmel-Schnur 2012: Vgl. dort auch folgende Vermutung: »Bain reibt sich an der anmaßenden Revolutionskritik des Spectator-Artikels und zwar gerade deshalb, weil sie sein eigenes Selbstverständnis, Revolutionär, Umstürzer gegebener Verhältnisse und dazu noch ein verkannter zu sein, im Kern trifft.«
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open letters statt letters patent »Das Erkennen und Erfinden sehen wir als den vorzüglichsten selbst erworbenen Besitz an und brüsten uns damit […]. Der kluge Engländer verwandelt ihn durch ein Patent sogleich in Realitäten und überhebt sich dadurch alles verdrießlichen Ehrenstreites.«50 Dass diese von Goethe gelobte Verwirklichung in England Mitte des 19. Jahrhunderts gerade nicht unverdrießlich und ehrenhaft geschieht, haben Bain und Bakewell deutlich vor Augen geführt. Das britische Patentsystem war dem Patentansturm während der Industriellen Revolution nicht mehr gewachsen und konnte sich den veränderten und verändernden Anforderungen und Bedingungen nur langsam anpassen.51 »Patentrechtsstreitigkeiten«, so Kümmel-Schnur, »sind in dieser Situation die Regel, nicht die Ausnahme.«52 Der hier rekonstruierte Urheberrechtsstreit ist vor diesem Hintergrund zwar sowohl als Ehrenstreit wie auch als Kritik am bestehenden Patentsystem zu verstehen. Zugleich geht er darüber hinaus, indem er eine produktive Eigendynamik entwickelt, die sich abschließend wie folgt zusammenfassen lässt: Mit Bain und Bakewell stehen sich vollkommen gegensätzliche Vorstellungen von Erfinder, Erfindung und Patent gegenüber. Gerade im Prozess der Erfinderkonstruktion konnten dabei selbst erfinderische Züge deutlich gemacht werden, die sich nicht nur auf eine Abwertung des anderen reduzieren lassen, sondern auch als kreativer Selbstbestimmungsprozess zu verstehen sind. Alexander Bain stilisiert sich als unangreifbare Idealfigur, die über den Dingen steht und sie dadurch ins rechte Licht zu rücken vermag. Frederick Bakewell zieht hingegen Beweis- und Argumentationskraft allein aus den realen Fakten. Dementsprechend unterscheidet sich auch das jeweilige Verständnis von Erfindung massiv: Für Bain liegt sie in einer abstrakten Idee, für Bakewell in der konkreten Ausführung. Eine besondere Rolle spielen aber auch die Patente selbst. Beide Kontrahenten meinen, ein positives Recht an ihren Erfindungen zu haben, führen dieses aber gerade durch ihren Streit ad absurdum: A patent of invention is a monopoly granted by the State which […] gives the owner the right for a limited time to stop others using the patented invention. It does not […] give the owner a positive right to use the invention. It could 50 51
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Goethe 1993 (1833): 398. Das zeigt sich auch an der Bildung von abolition movements, die das Patentsystem insgesamt abschaffen wollten, vgl. hierzu etwa Dutton 1984: S. 17–29. Kümmel-Schnur 2012.
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not do so because if the invention were an improvement in one already patented by someone else, it could only be used by agreement with the owner of the earlier patent.53
Außerdem unterscheidet sich die Funktion, die den Patentschriften für die jeweilige Argumentation zugesprochen wird, deutlich: Für Bakewell sind sie tatsächlich Verkörperungen von eigenem und fremdem Rechtsanspruch sowie Beweismittel, während sie von Bain, der ja de facto gar keine Rechte mehr an seiner Erfindung besitzt, eher als Mittel zum Zweck eingesetzt werden, er aber auf der ganz anderen Ebene der rein geistigen Urheberschaft argumentiert. Schließlich liegt das Bemerkenswerteste an diesem Streit in seinem modus operandi. Der Gerichtssaal wird durch die Öffentlichkeit ersetzt, die zwar sicher nicht als rechtsfreier Raum zu begreifen ist, aber doch nach anderen Regeln und Gesetzen funktioniert und andere Argumentationsstrategien erfordert. Man hat hier kein Recht zu verlieren, sondern einen Ruf: »Mr. Bain […] has therefore no resource but throwing himself on the impartial judgement of the scientific world, who alone are really capable of giving a just verdict in his cause. […] He cannot compete with his opponents in the warfare of the periodical press.«54 Berücksichtigt man, dass der Streit in Form von offenen Briefen ausgetragen wird, stellt er letztlich sogar eine Subversion des mittels letters patent funktionierenden Patentsystems dar. Indem Bain und Bakewell sozusagen von unten implizit eigene Patentregeln einfordern, üben sie Patentrechts- bzw. Herrschaftskritik. Während das letters patent als erteilter Anspruch in nur eine Richtung erfolgt – vom Souverän an den Erfinder –, machen Bain und Bakewell daraus einen regelrechten Briefwechsel: Sie erfinden und tauschen im Mechanics’ Magazine ihre eigenen letters patent aus, die wie die ursprünglichen als Machtinstrument eingesetzt werden – hier allerdings im Sinne eines eigenmächtigen Eintretens für die eigene Person und vor allem für den eigenen Ruf.
53 54
Davenport 1979: 13, Hervorhebung SW. Finlaison 1843: 40.
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Abbildungen Abb. 1: Konstruktionszeichnung aus Bains Patent Nr. 9.745, 1843. In: Bain, Alexander 1843: Patentschrift GB 9.745. Sheet 6, Fig.1 und 2. Abb. 2: Konstruktionszeichnung aus Bakewells Patent Nr. 12.352, 1848. In: Bakewell, Frederick 1848: Patentschrift GB 12.352. Sheet 1, Fig. 1 und 2. Abb. 3: Bain’s Patent Electro-Chemical Copying Telegraph. In: Mechanic’s Magazine, 1383 (9. Februar 1850). S. 103, Fig. 2.
A PPAR AT
CHRISTIAN KASSUNG/FRANZ PICHLER
Die Übertragung von Bildern in die Ferne. Erfindungen von Arthur Korn
Die Anfänge der Bildtelegraphie Die telegraphische Übertragung von Bildern und das telegraphische »Schreiben in der Ferne« haben ihre gemeinsamen Wurzeln in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.1 Weshalb sich die Technikgeschichte der Bildtelegraphie an der Spannung zwischen Bild und Schrift, zwischen Zeichnen und Schreiben abarbeitet. Die ersten Patente für ein entferntes Schreiben in der Fläche – und nicht nur wie der Telegraph in einer Dimension – stammen von Alexander Bain (1843), Frederick Bakewell (1848) und Giovanni Caselli (1863).2 Das Schreiben bzw. Zeichnen geschieht hier auf elektrochemischer Basis. Näher an der Morse-Telegraphie (William Fothergill Cooke/Charles Wheatstone 1837, Samuel Morse 1840) dagegen operieren elektromagnetische Kopiertelegraphen, bei denen ein vom Empfangsmagneten geführter Schreibstift die Zeichnung auf Kohlepapier (Jean Joseph Étienne Lenoir, 1867) oder direkt auf Papier (H. Carbonelle) ausführt.3 Gab es damit um 1850 eine Vielzahl konkurrierender Lösungsversuche für das prinzipielle Problem der Steuerung eines räumlich entfernten Schreibvorgangs, so galt es andererseits Strategien zu entwickeln, um die Leistungsfähigkeit der Bildübertragung – schlussendlich im Fernsehen kulminierend – zu steigern und latente Störungen wenn nicht zu eliminieren, so doch zu reduzieren. Dabei griffen die Ingenieure und Erfinder wie so oft auf apparative Strategien zurück, die sich in anderen Bereichen bereits bewährt hatten. Um hier zunächst nur ein Beispiel für diese Vernetzung von Technikgeschichte zu nennen: Es gab elektromagnetische Kopiertelegraphen, bei denen im Empfänger ein an der Telephonmembrane befestigter Schreibstift die Zeichnung ausführ1 2 3
Vgl. Schellen 1870: 554–594. Vgl. Bain 1843, Bakewell 1848 und Caselli 1863. Vgl. zum Patent Casellis den Beitrag von Julia Zons im vorliegenden Band. Vgl. Cooke/Wheatstone 1837, Morse 1840, Lenoir 1867, Schellen 1870: 240–665 und Korn 1923: 19f.
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te – eben genau wie bei Graham Bells Telephonpatent von 1876.4 Diese technologische Anleihe des Bildes bei der Stimme erlaubte eine Geschwindigkeitserhöhung von bisher etwa einige hundert Zeichen auf einige tausend Zeichen pro Sekunde. Kopiertelegraphen sind im heutigen Verständnis als digitale Übertragungsmedien zu verstehen. Das heißt, um Bilder überhaupt elektrisch übertragen zu können, müssen diese zunächst digitalisiert werden. Dabei waren die sehr unterschiedlichen Digitalisierungsformen mit unterschiedlichen Störeinflüssen und unterschiedlichen Übertragungsproblemen verbunden: von der direkten Trennung einer horizontalen und einer vertikalen Koordinate beim Schreiben im Telautographen über das Zerschneiden und elektrochemische Ab- und Aufwickeln einer Übertragungsvorlage auf einem Zylinder bis hin zur Rasterung von Photographien im heutigen binär-digitalen Sinne. 1895 schlug Noah S. Amstutz diese moderne Form der Rasterung vor: Eine Photographie sollte durch ein Linienraster hindurch kopiert und das so gerasterte Bild anschließend übertragen werden.5 Doch erst einem weiteren Aktanten dieser Netzwerkgeschichte, Arthur Korn, gelingt die erste tatsächlich erfolgreiche Übertragung gerasterter Photographien.6 Von diesem Knotenpunkt ausgehend, seien im Folgenden die technologischen Verflechtungen der Geschichte der Kopiertelegraphie mit Blick auf das Fernsehen rekonstruiert.7
Galvanometrie und binäre Bildübertragung Bildinformationen sind sensible Informationen. Werden sie in elektrische Stromschwankungen verwandelt, so sind diese aufgrund noch fehlender Verstärkertechnologien im 19. Jahrhundert nur sehr schwer handhabbar. Laut den historiographischen Schriften des deutschen Physikers und Mathematikers basiert der erste Vorschlag für eine photographische Aufzeichnung von Morsezeichen von George Little (1867) auf einem Spiegelgalvanometer, dem sich bis zur Jahrhundertwende noch 4 5
6 7
Vgl. Carbonelle 1907 und Bell 1876. Vgl. Amstutz 1895 und Korn 1923: 93f. Tatsächlich ist die Priorität nicht so eindeutig, wie von Korn in seiner Historiographie der Bildtelegraphie dargestellt, vgl. etwa Ives 1880 und Meisenbach 1882. Vgl. Korn 1902. Die Begriffe Kopier- und Bildtelegraphie werden hier synonym verwendet. Arthur Korn schlägt vor, mit Telautograph alle Geräte zur Schwarz-WeißÜbertragung zu bezeichnen, vgl. Korn 1923: 6.
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weitere, nicht praktisch umsetzbare Ansätze anschließen.8 Erst 1902 gelingt es dann Korn selbst, einen praxistauglichen photographischen Empfänger zu bauen. Korns erster Apparat ruft technikhistorisch die Gasentladungsröhre auf. Ähnlich wie Julius Plücker, Johann Hittorf und William Crookes mit leuchtenden Kathodenstrahlen experimentierten, verwendet Korn zur Belichtung des Photomaterials eine Glimmröhre, die mittels der hochfrequenten Hochspannung eines Tesla-Transformators zum Leuchten gebracht wurde. Das Ein- und Ausschalten der Tesla-Ströme erfolgte durch ein spezielles Relais, das vom ankommenden Linienstrom gesteuert wurde und damit eine wenn auch stark unzuverlässige Form der Stromverstärkung darstellte: »Man kann nun die in der Röhre ankommenden Schwingungen dadurch verändern, dass man die Funkenstrecke l' m' grösser oder kleiner macht.«9 Abbildung 1: Saitengalvanometer nach Arthur Korn.
Schwache Empfangssignale sind nicht nur ein Problem der Bildtelegraphie. Auch die Telephonie und die Telegraphie – speziell über lange Seekabel – hatte mit verzerrten, ineinanderfließenden und sehr schwachen Signalen zu kämpfen. Von dem französischen Ingenieur Clement Ader stammt ein Patent aus dem Jahr 1895, das zur Registrierung der Empfangssignale in der Seekabeltelegraphie eingesetzt wurde und vom physikalischen Standpunkt gesehen als ein äußerst empfindliches Saitengal8
9
Bis 1869 konnten für das United States Patent Office nur zwei weniger relevante Patente von George Little recherchiert werden (1868, 1869). Vgl. Korn 1923: 22 sowie Korn/Glatzel 1911: 13. Korn 1902: 2. Vgl. auch Korn 1903.
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vanometer angesehen werden kann.10 Korn verwendet dieses Prinzip der Transformation von elektrischen in mechanische Informationen in unterschiedlichen Ausführungen: Mal wird ein Aluminiumblättchen auf zwei dünne, gespannte Kupferbänder gespannt, mal wird nur ein einziger Metallfaden als Blende verwendet. Immer aber verändert das Magnetfeld die Lage eines Fadensystems, wodurch das Licht einer NernstLampe entweder durch einen Spalt fallen kann oder nicht, d. h. binär moduliert wird: Die Einstellung wird so gemacht, daß der Schatten des Fadens, der durch eine Linse auf einen in den Empfangskasten führenden Spalt abgebildet wird, gerade diesen Spalt verdeckt, wenn kein Strom vom Geber ankommt, dagegen diesen Spalt freimacht, wenn ein Strom vom Geber zum Empfänger gesandt und der Faden des Saitengalvanometers abgelenkt wird.11
Statt des pencil of nature schreibt sich also eine binär codierte Nachricht auf den photographischen Übertragungsfilm.
Chemie und analoge Bildübertragung Dabei ist Schreiben durchaus wörtlich zu nehmen: Mit Hilfe von Autotypie und Saitengalvanometer lässt sich eine Photographie in »an impression in pure line or stripple« übertragen, und das heißt eben »pure« oder binär.12 Die frühen Kopiertelegraphen übertragen ausschließlich streng gerasterte Schwarzweißbilder und eben nicht das analoge Grauwert- oder Farbspektrum einer Photographie. Um diese, wie man heute sagen würde, 2-bit-Codierung aufzubrechen, muss im Sender bei der Aufnahme einer Photographie für jedes Bildelement dessen Helligkeit bzw. Grauwert in einen entsprechenden analogen elektrischen Spannungswert verwandelt werden. Neben anderen Methoden – statistische Methode, Reliefmethode – hat sich vor allem die Selenmethode von Arthur Korn, und hier speziell die Erfindung des Selenkompensators, in der praktischen Umsetzung bewähren können. 1817 entdeckte der schwedische Chemiker Jöns Jakob Berzelius ein neues Metall, dem er den Namen Selen gab.13 Gut fünfzig Jahre später, anlässlich von Messungen an Seekabeln, bemerken der Ingenieur Willoughby Smith und sein Assis10 11 12 13
Vgl. Ader 1895. Korn 1923: 28, vgl. hierzu Abbildung 1. Ives 1880. Vgl. Berzelius 1818.
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tent Joseph May, dass sich die elektrische Leitfähigkeit des Selens in Abhängigkeit von seiner Beleuchtung verändert.14 Dieser sogenannte photoelektrische Effekt konnte also genutzt werden, um Helligkeitswerte in Stromschwankungen zu transformieren, um Bilder in Elektrizität zu übersetzen. Nur folgerichtig tritt wenige Jahr später, 1881, der englische Physiker und Erfinder Shelford Bidwell mit dem Vorschlag an die Öffentlichkeit, Selenzellen für die Phototelegraphie einzusetzen.15 Doch Bidwells Vorschlag funktionierte – wie so oft in der Geschichte des Wissens – vorerst nur auf dem Papier. Erst Arthur Korn verknüpft 1904 sämtliche technologischen Stränge zu einem funktionierenden Apparat. Abbildung 2: Erstes System für die Phototelegraphie mit Selen nach Arthur Korn.
Das fokussierte Licht einer Nernst-Lampe (10 und 11) fällt durch die auf den Gebezylinder (5) aufgespannte transparente Photographie hindurch auf einen Spiegel (8), der sich genau in der Rotationsachse des Zylinders befindet. Dadurch wird das Licht auf die Selenzelle (9) geworfen und die dem Helligkeitswert analoge elektrische Spannung über die Leitung (14) zum Empfänger übertragen. Dort werden die Bildinformationen über einen Drehspulgalvanometer nach Jacques-Arsène D’Arsonval und Marcel Desprez (15), an einen Stufenschalter (16) weitergegeben, der in die von einem Tesla-Transformator (17) erzeugte Hochspannung berührungslos unterschiedliche Widerstände einschaltet.16 Damit wird 14 15 16
Vgl. Gerstl 1873 und Clark 1873. Vgl. Bidwell 1881. Vgl. Desprez/D’Arsonval 1882.
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die Leuchtröhre (20) entsprechend dem Helligkeitswert des Bildes aufoder abgedimmt und der photographische Film (22) des Empfangszylinders belichtet. Korn schreibt: Es gelang mir mit Hilfe dieser ersten Anordnung zum ersten Male im Jahre 1904 eine einfache Photographie, ein Portrait, über die Telephonschleife München-Nürnberg-München zu übertragen, allerdings mit einer Übertragungszeit von 42 Minuten.17
Mit anderen Worten wurde die wesentlich höhere Informationsdichte der analogen Bildcodierung quasi erkauft durch eine längere Übertragungszeit – ein Dispositiv, das 1949 von Claude Shannon und Ralph Hartley mit dem Begriff der Kanalkapazität formalisiert wurde.18 Arthur Korn dagegen geht das Problem von der rein praktischen Seite her an. Er erkennt einen wesentlichen Grund für die geringe Übertragungsgeschwindigkeit in der von Korn so benannten Trägheit der Selenzelle. Abbildung 3: Differenzwirkung des Selenkompensators nach Arthur Korn.
Selen hat die Eigenschaft, dass die Änderung der elektrischen Leitfähigkeit bei Belichtung nicht sofort, sondern zeitlich verzögert – vergleichbar mit dem Anstieg der Ladung eines Kondensators über einen Widerstand – erfolgt. Ebenso fällt nach Ende der Belichtung die Leitfähigkeit nicht sofort auf ihren Ausgangswert zurück, sondern erreicht diesen über eine exponentielle Abfallkurve. Diese Trägheit des Selens vermindert die Übertragungsgeschwindigkeit empfindlich und muss demzufolge für Korn technisch kompensiert werden, um einen hinreichenden Datendurchsatz zu gewährleisten.19 Korns Trick besteht in einer Brückenschaltung der Selenzelle (der Fühlerzelle) mit einer weiteren Selenzelle (Kompensationszelle), deren Belichtung über ein an die Sendeleitung eingeschaltetes Saitengal17 18 19
Korn 1923: 73f. Vgl. Shannon/Weaver 1998. Vgl. Korn 1906.
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vanometer gesteuert wird. Zum Selenkompensator kommt dann noch ein Saitengalvanometer oder Lichtrelais hinzu, das den Stufenschalter von 1904 ersetzt, d. h. es geht in den Patenten immer um einzelne Bauteile des großen Ensembles Kopiertelegraph, um dessen schritt- oder teilweise Optimierung in Bezug auf Störanfälligkeit, Übertragungsgeschwindigkeit und als davon abhängiger Größe in Bezug auf die Übertragungsdistanz. So berichtet Korn für das Jahr 1907 von ersten praktischen Versuchen zwischen Berlin und München. Es ist dies der Zeitraum, in dem sich die Bildtelegraphie praxistauglich etabliert, und zwar zuerst innerhalb der Medien, in denen die Übertragungskosten auch realisiert werden konnten, also nicht für den Privatbereich. So wurde im Herbst desselben Jahres eine regelmäßige Bildübertragung zwischen Berlin und Paris sowie zwischen Paris und London für die illustrierte Presse beschlossen, bei Übertragungszeiten von rund zehn Minuten pro Bild.
Zwischenklischees und digitaler Übertragungscode Nun könnte man annehmen, dass diese technologische Erfolgsgeschichte der Bildübertragung von ihren Anfängen bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts mit einer Verdrängung der binären Codierung durch die analoge Bildtelegraphie einhergegangen ist. Tatsächlich aber ist von einer Koexistenz beider Technologien auszugehen, was sich am Beispiel dersogenannten »Methode der Zwischenklischees« verdeutlichen lässt.20 Diese basiert auf einer Einteilung der zu übertragenden Photographie in einzelne Quadrate, wobei für jedes Quadrat der Helligkeitswert mit einem telegraphischen Codewort gekennzeichnet wird. Dass dabei eine gleitende Helligkeitsskala auf diskrete Codezeichen hin zerschnitten werden muss, ist natürlich ebenso selbstverständlich wie die Tatsache, dass diese Zeichen anschließend über ein gängiges Telegraphiesystem übertragen werden können. Der technische Vorteil gegenüber der vorher behandelten – analogen – Selenmethode liegt, dem damaligen Stand der Technik gemäß, in der nunmehr gegebenen Möglichkeit der Verstärkung und Korrektur der empfangenen Zeichen mittels Telegraphenrelais. Von Emil Fortong wurde 1904 ein Vorschlag für eine Realisierung dieser Methode mittels Selenzellen eingebracht, also zeitgleich zu Korns Kompensationsmethode.21 Ein zweiter Vorschlag stammte drei Jahre später von Jo20 21
Vgl. Korn 1923: 98–114. Vgl. Fortong 1904.
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hannes Adamian und ist insofern interessant, als darin Elemente der Bildspeicherung und des Fernsehens zusammenkommen.22 Mit Hilfe einer Nipkow-Scheibe, also dem Grundelement des frühen mechanischen Fernsehens, wird ein Objekt in Bildpunkte zerlegt, die von einer ganzen Anzahl von Selenzellen – heute würde man sagen einem CCD-Sensor – in entsprechende Spannungswerte übersetzt werden:23 Hinter der [Nipkow-] Scheibe […] ist ein schachbrettartig angeordnetes System von Selenzellen […] angebracht, dessen Größe der Größe des auf den Schirm […] fallenden Bildes gleich gemacht ist und dessen einzelne Zellen den punktförmigen Bildelementen entsprechen, die übertragen werden sollen.24
Wie stark in dieser Zeit analoge und digitale Übertragungsstrategien miteinander verwoben sind, zeigt die folgende Umcodierung Adamians, um die Bilder speichern zu können: Ein Oszillograph wird durch die Selenzellen in seiner Helligkeit moduliert, wodurch der Lichtstrahl eine Kurve auf einen photographischen Film zeichnet, welche die Bildinformationen enthält. Anschließend wird im Empfänger diese analoge Bildkurve ebenfalls über einen komplizierten Übersetzungsprozess in das digitale Bild einer Nipkow-Scheibe zurückverwandelt. Und auch bei Arthur Korn ist die analog-digitale Gemengelage der Bildübertragung noch deutlich in den Apparaten und Patenten spürbar. Seine Variante der »Methode der Zwischenklischees« greift auf wesentliche Elemente der Patentschrift von Fortong zurück. Denn im Kern wird hier bereits die Grundidee klar benannt, nämlich die »Zerlegung des Sendebildes in einzelne Lichttonpunkte unter gleichzeitiger selbsttätiger Registrierung dieser Punkte in Form von skalaartig angeordneten Zahlennoten, welche dann per Telegramm nach beliebigen Fernorten übermittelt […] werden.«25 Doch ist Fortongs Apparat eine reine Papiermaschine geblieben, weil es seinerzeit nicht möglich war, die elektrischen Ströme einer Selenzelle so zu verstärken, dass damit beispielsweise ein Stanzstempel hätte gesteuert werden können. Genau an diesem Punkt setzt Arthur Korn an und gibt dem entsprechenden Bauelement den vielsagenden Namen »quantitatives Relais«: eine analoge Stromverstärkung, die im Namen eindeutig ans binäre Schalten erinnert.26 22 23 24 25 26
Vgl. Adamian 1907. Vgl. Nipkow 1884. Adamian 1907. Fortong 1904: 1. Korn 1923: 101. Vgl. die Patentschrift Korn 1903 sowie einen medienhistorischen Überblick zum Relais bei Siegert 2004.
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Wie eng Korn am cutting edge der technologischen Entwicklung arbeitet, wird daran erkennbar, dass er zur Lösung dieses Problems auch die Verwendung einer Lieben-Röhre erwägt – also derjenigen Technologie, die sich wenige Jahre später durchsetzen und im Halbleiter nach dem Zweiten Weltkrieg dramatisch miniaturisieren wird –, dies jedoch verwirft, weil der Röhrenverstärker zum Zeitpunkt seiner Patentierung 1906 für seine Zwecke »nicht konstant genug« funktioniert.27 Korn also verwendete ein »sauber und genügend rasch arbeitendes Stufenrelais«, um die Teslaströme entsprechend der unterschiedlichen Bildhelligkeiten diskret zu steuern.28 In Abbildung 4 ist die hierfür im Sendeteil eingesetzte Schaltung dargestellt, wobei der Einfachheit halber die Codierung auf drei Helligkeitswerte reduziert ist. Abbildung 4: Umsetzung der Helligkeitswerte in telegraphische Zeichen nach Arthur Korn.
Je nach Helligkeit des jeweiligen Bildelementes schlägt die Drehspule (15) unterschiedlich weit aus. Dadurch kann ein sehr feiner Funkenstrom zwischen den einzelnen Kontaktpaaren (18, 23), (19, 22) bzw. (20, 21) fließen und die entsprechenden Lichtbogenstrecken (3), (4) bzw. (5) durchschalten. In diese jeweiligen Starkstromkreise sind die Stanzmagnete (6), (7) bzw. (8) für einen Lochstreifen eingeschaltet. Das Ganze funktioniert damit als diskreter Verstärker oder Stufenrelais:
27 28
Ebd.: 103. Vgl. Lieben 1906. Korn 1923: 103.
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Wir erhalten also tatsächlich hier ein Stufenrelais, durch welches wir je nach der Stellung der Galvanometernadel, also je nach der Stärke der Bildströme wesentlich stärkere Wirkungen in gewünschter Abstufung erhalten können.29
Abbildung 5 zeigt einen nach diesem Prinzip gestanzten Lochstreifen, wie er seinerzeit im Siemens’schen Schnelltelegraphen verwendet wurde.30 Auf diese Weise konnten 32 unterschiedliche Helligkeitswerte codiert werden, Arthur Korn verwendetet hiervon im praktischen Betrieb jedoch nur 15 Werte. Der Empfänger bestand bei diesem System aus der gewöhnlichen, im Siemens’schen Schnelltelegraphen verwendeten Ausgabeeinheit, jedoch wurden anstatt alphanumerischer Zeichen Quadrate gedruckt, deren Größe dem jeweils gesendeten Helligkeitswert entsprach. Abbildung 5: Lochstreifen zur telegraphischen Übertragung von Photographien.
So kompliziert der Übersetzungsprozess der Zwischenklischees ist, so schlagend sind die Vorteile eines digitalen Datenträgers. Erstens entfällt die aufwendige und immer störanfällige Synchronisation zwischen Sender und Empfänger aufgrund der Speicherung der Übertragung. Was als gespeicherte Botschaft vorliegt, benötigt keinen zeitkritisch operierenden Boten. Deshalb sind zweitens auch lange Kabelstrecken kein Problem, denn die Zeichen müssen nicht verstärkt, sondern allenfalls kontrolliert werden, beispielsweise durch die Mitversendung von Prüfsummen. Die Zwischenklischee-Methode erlaubt es, Bilder »zu einer beliebigen Zeit und mit einer beliebigen Geschwindigkeit« zu übertragen.31 Und drittens sind Lochstreifen ein Medium, das die drahtlose Übertragung von Photographien relativ unproblematisch ermöglicht. 29 30 31
Korn 1923: 103. Vgl. hierzu Franke 1913. Korn 1923: 103.
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Äther und digital-analoge Bilder Knapp fünfzig Jahre lang galt Guglielmo Marconi im rechtlichen Sinne als Erfinder der drahtlosen Telegraphie, bis 1943 der serbische Erfinder Nikola Tesla vom Supreme Court rehabilitiert wurde. Ohne diese Patentfehde hier weiter entfalten zu können, zeigt sie bereits als bloßes Faktum, wie viele zum überwiegenden Teil bereits vorhandene Technologien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf immer neue – oder eben nicht neue – Art und Weise verbunden wurden, um so einen Apparat zur drahtlosen Übermittlung von Nachrichten herzustellen.32 Insofern stellt die drahtlose Bildtelegraphie auch im Grunde keine Weiterentwicklung der Funktelegraphie dar, sondern war vielmehr von Anfang an ein fester Agent im technischen Feld – von getrennten Entwicklungen zu sprechen, macht hier schlichtweg keinen Sinn. Seit der Jahrhundertwende also etabliert sich ein funkbasierter Nachrichtenverkehr zwischen dem Festland und Schiffen auf hoher See, zwischen dem Festland und Inseln und auch zwischen den Kontinenten in der Praxis. Parallel gelingt Arthur Korn bereits im November 1907 eine telautographische Funkbildübertragung zwischen Paris und London. Dabei ist das Synchronismusproblem jedoch unabhängig von der Beschaffenheit des Übertragungskanals: Es lag deshalb an und für sich nahe, für Fernbildübertragungen ein System zur Anwendung zu bringen, bei dem man einerseits von dem Synchronismus zwischen Sende- und Empfangsstation unabhängig ist und bei dem andererseits eine Reihe der erwähnten Störungen ausgeschaltet werden.33
Andererseits aber ist »für die Uebertragung von Schwarz und Weiß […] die Selenmethode weniger geeignet, weil sie die scharfe Zeichnung verwischt, und man bedient sich hier besser im Geber der telautographischen Methode«.34 Wir haben es also in der Zeit seit seiner Berufung an die Technische Universität Berlin 1914 mit einer Konkurrenz von telautographischer und Zwischenklischee-Methode zu tun, jede mit ihren jeweils spezifischen Vor- und Nachteilen zwischen analoger und digitaler Codierung. Besonders nach dem Ersten Weltkrieg widmet sich Korn der Weiterentwicklung der Zwischenklischee-Methode, die erstmals 1922 auf große Entfernung erprobt wurde. Dass es das italienische Marineministerium ist, welches »für den Selengeber die drahtlose Station von 32 33 34
Vgl. v. a. Tesla 1897 und Marconi 1900. Lertes 1926: 67. Korn 1924a: 535.
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Centocelle bei Rom zur Verfügung« stellte, um von dort aus über Nauen und Bar Harbor nach New York zu senden, zeigt gleich auch ein entsprechendes Nutzerinteresse an der drahtlosen Bildtelegraphie.35 Doch auch die analogen Übertragungstechniken bleiben weiterhin im Blickfeld Korns, werden jedoch erst mit Stabilisierung der Verstärkertechnologie durch Kathodenröhren praxistauglich. In seinem Patent vom 4. Dezember 1924 schlägt Korn eine Methode für die Funkübertragung von Bildern vor, bei der die verschiedenen Tönungen eines Bildes durch unterschiedliche Signalfrequenzen gekennzeichnet werden, mit denen anschließend der Röhrensender moduliert wird.36 Im heutigen Sprachgebrauch würde man hier von der Frequenzmodulation eines Senders sprechen. Dass die Patentschriften Korns – im Gegensatz zu vielen anderen Patenten – durchaus in eine alltägliche Gerätetechnologie münden konnten, zeigt seine Zusammenarbeit mit der Firma Lorenz A. G. in Berlin ab 1926. Dabei stellt das Bildfunksystem Lorenz-Korn wiederum einen Knotenpunkt einer Vielzahl von bereits etablierten technischen Agenten dar. So schlug beispielsweise Rosenthal 1908 in München vor, statt der relativ trägen Selenzellen als Material für die negativen Elektroden Alkalimetalle zu verwenden. 37 Da jedoch die relativ geringen Stromschwankungen ohne eine entsprechende Verstärkertechnologie nicht nutzbar gemacht werden konnten, ruhte diese Idee zunächst für mehrere Jahre, um dann u. a. von Arthur Korn wieder aufgenommen zu werden. Mit dem System Lorenz-Korn konnte eine übliche Photographie im Sendezylinder verwendet werden, wobei die Aufnahme der Helligkeitswerte durch das von der Photographie reflektierte Licht erfolgte.38 Die Generierung der Bildinformation geschah mit dem Verfahren der Telautographie, für Photographien wurde die Rastermethode verwendet. Mit dem Bildsignal wurde ein 4.000-Hz-Oszillator getastet und anschließend ein Röhrensender moduliert. Im Empfänger wurde als Lichtrelais das bereits bekannte Korn’sche Saitengalvanometer eingesetzt. Die ersten erfolgreichen Versuche fanden zwischen Berlin und Breslau mit einem 400-Watt-Sender auf Wellenlänge 1124 Meter statt. In den Abbildungen 6 und 7 sind der Bildsender und der Bildempfänger des Bildfunksystems Lorenz-Korn gezeigt. Abbildung 8 zeigt in einer Übersicht die Lorenz-Korn-Bildfunkanlage im Polizeipräsidium Berlin vom 35 36 37 38
Korn 1924a: 534. Vgl. Korn 1924b. Vgl. Korn 1930: 6f. Vgl. C. Lorenz Aktiengesellschaft. Berlin-Tempelhof 1930: 319.
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Jahre 1928. Schließlich ist in Abbildung 9 ein Beispiel für die Übertragung einer Photographie mit Fingerabdruck und Text mit diesem System aus dem Jahre 1928 gezeigt. Abbildung 6: Bildsender der Lorenz-Korn-Bildfunkanlage.
Abbildung 7: Bildempfänger der Lorenz-Korn-Bildfunkanlage.
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Abbildung 8: Lorenz-Korn-Bildfunksystem des Polizeipräsidiums Berlin im Jahre 1928.
Abbildung 9: Bildübertragung mit dem Lorenz-Korn-System.
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Die Enden der Bildtelegraphie Im Fernsehen kommt die Bildtelegraphie an ihr medienlogisches Ende, jedenfalls solange man vom Computer absieht. Fernsehen heißt, dass die Bilder unterhalb des medialen Aprioris übertragen werden müssen, also mindestens etwa 15 Bilder pro Sekunde. Korn schreibt geradezu lapidar: »Die gewöhnliche Bildtelegraphie hat es im übrigen leichter; 1–2 Minuten für ein Bild gegenüber 12½ Bildern in der Sekunde bedeutet aber eine 750–1500fache Erleichterung der Aufgabe«.39 Dieser nüchterne Befund mündet in zwei unterschiedlichen Strategien der Erfinder: entweder die für die Bildtelegraphie bereits entwickelten Verfahren massiv schneller zu machen oder aber eine neue Methode der Fern(seh)bildübertragung zu entwickeln. Da es in diesem Beitrag v. a. um die Verflechtung unterschiedlichster technischer Agenten geht, möchten wir hier zwei Beispiele für die erste Strategie eingehender diskutieren: das von Paul Nipkow vorgeschlagene, bereits kurz angesprochene Elektrische Teleskop und das von Boris Rosing patentierte Verfahren mit Drehspiegeln zur Bildaufnahme sowie Braun’scher Röhre für die Bildwiedergabe. Dass beide Verfahren noch weit von jeder alltagstauglichen Implementierung entfernt waren, versteht sich dabei im Grunde von selbst. Ab 6. Januar 1884 reichte der im Pommerschen Lauenburg geborene Erfinder Paul Nipkow eine Patentschrift unter dem Titel »Elektrisches Teleskop« ein.40 Punkt 1 der Patentansprüche kennzeichnet seine Erfindung wie folgt: Zur elektrischen Wiedergabe leuchtender Objecte die Verbindung eines Gebers, bei welchem eine mit auf einer Spirale liegenden Oeffnungen versehene und gleichmässig gedrehte Scheibe T zwischen dem wiederzugebenden leuchtenden Gegenstand und einer in einen elektrischen Stromkreis eingeschalteten Selenzelle L liegt, mit einem Empfänger, bei welchem eine mit derselben Geschwindigkeit wie T gedrehte Scheibe T1 von gleicher Beschaffenheit wie T zwischen dem Beobachter und einer Lichtquelle sich bewegt, während der durch die Selenzelle L gehende Strom auf die Rotationsebene eines circularpolarisirenden Mittels wirkt, welches zwischen Beobachter und Lichtquelle im Empfänger eingeschaltet ist.41
Nipkow schlägt also vor, am Sendeort mithilfe einer spiralförmigen Lochscheibe – später allgemein als Nipkow-Scheibe bezeichnet – ein Bild 39 40 41
Korn 1930: 91. Vgl. Nipkow 1884. Ebd.: 3.
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zeilenweise abzutasten und so ein serielles Lichtsignal zu erhalten, das von einer Selenzelle in ein elektrisches Signal übersetzt wird. Am Empfangsort wird dieser elektrische Nachrichtenstrom durch einen Polarisationsapparat in ein Lichtsignal verwandelt, der dann auf eine identische rotierende Lochscheibe trifft. Wenn beide Scheiben mit exakt der gleichen Geschwindigkeit rotieren, kann man im Empfänger aufgrund der Trägheit des Auges das entfernte, bewegte Bild sehen.42 In Punkt 2 und 3 der Patentansprüche geht Nipkow auf verschiedene Möglichkeiten der Realisierung dieser Grundidee ein – eine für die damalige Zeit durchaus übliche Vorgehensweise der Erfinder und ihrer Patentanwälte, um eine möglichst breite Abdeckung des Patentes zu erreichen. Allerdings war der technologische Entwicklungsstand am Ende des 19. Jahrhunderts weit davon entfernt, Nipkows Idee realisierbar werden zu lassen. Erst etwa 50 Jahre später verwandelte sich seine Papiermaschine in einen mechanischen Fernseher, und es wurde die NipkowScheibe am Schnittpunkt vieler technischer Agenten zum Synonym für eine fernsehende Bildzerlegung: Die Lochscheiben mussten mit hoher Genauigkeit produziert werden, der Antrieb mit Synchronmotoren garantierte den Gleichlauf der beiden Scheiben, an Stelle der – trägen – Selenzelle trat die Photozelle, und die Funktion des Polarisationsapparates konnte von einer Flächenglimmlampe oder von einer Kerrzelle übernommen werden. Die Breitbandverstärkung der Signale war mithilfe von Elektronenröhren möglich und die Signale konnten per Funk übertragen werden. Als der schottische Erfinder John Logie Baird 1926 den ersten funktionierenden mechanischen Fernseher nach dem Nipkow-Prinzip baute, war zwar das öffentliche Interesse groß.43 Doch schon Mitte der 1930er Jahre war der Druck durch die konkurrierende Braun’sche Röhre so groß geworden, dass die Sender ihre mechanischen Fernsehausstrahlungen einstellten. Schauen wir uns deshalb einen der vielen Entwicklungsstränge der Kathodenstrahlröhre etwas genauer an. Am 26. November 1907 ließ sich der Sankt-Petersburger Physiker Boris Lwowitsch Rosing ein »Verfahren zur elektrischen Fernübertragung von Bildern« patentieren.44 Bei Rosing besteht der Geber (Sendeteil, Kamera) aus zwei rotierenden Vielfachspiegeln, mit deren Hilfe das Bild zeilenweise abgetastet wird. Die so gewonnenen Bildinformationen werden in einem optischen Sys42
43 44
Nipkow geht auf das Synchronisationsproblem der beiden Scheiben nicht näher ein, vgl. hierzu den Beitrag von Wladimir Velminski in diesem Band. Vgl. Baird 1928. Vgl. Rosing 1907.
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tem fokussiert, einem photoelektrischen Empfänger zugeführt und dort in ein entsprechendes elektrisches Signal übersetzt. Der Empfänger besteht in diesem Patent aus einer Braun’schen Röhre, die magnetisch und elektrostatisch das empfangene Signal zeilenweise über einen fluoreszierenden Bildschirm führt, wodurch ein für das menschliche Auge wahrnehmbares Bild entsteht.45 Auch Rosings Idee blieb eine Papiermaschine. Zwar gelang es ihm, einige einfache geometrische Figuren innerhalb seines Labors zu übertragen, doch in der Praxis konnte sich sein Prinzip des Fernsehens erst behaupten, nachdem Rosing 1931 wegen einer vermeintlichen Unterstützung konterrevolutionärer Aktivitäten nach Archangelsk verbannt worden war. So emigrierte Rosings Schüler Vladimir Zworykin nach dem Ersten Weltkrieg in die USA, um dort 1933 den Senderteil, das Ikonoskop oder elektrische Auge zu realisieren.46 Weitere technologische Agenten traten hinzu. Für die Verstärkung und Übertragung des Bildsignals gab es seinerzeit bereits geeignete Röhrenverstärker sowie Röhrensender, die über kurze Wellen eine effektive Übertragung des Signals ermöglichten. Der Empfangsteil des Fernsehens stammte damit technologisch besehen vom Radio ab. Die Kathodenstrahlröhre hatte zu dieser Zeit bereits eine Entwicklung in Richtung der heute sukzessive verschwindenden Fernsehbildröhre durchlaufen, es sei hier beispielsweise an Manfred von Ardenne und die Firma Leybold erinnert. Welche Schlüsse lassen sich aus dieser äußerst verkürzten Darstellung der Verbindungslinien zwischen Bildtelegraphie und Fernsehen ziehen? Die wichtigste Folgerung ist sicherlich, dass Technikgeschichte ein Mythos ist, solange sie die Apparate als monadische Agenten auftreten lässt. Eine vermeintliche Linearität der Erfindungen verschwindet schnell, sobald man nur ein wenig genauer hinschaut – wozu der vorliegende Beitrag im Grunde nur eine Hintergrundfolie bieten kann. So waren bei den Olympischen Spielen des Jahres 1936 in Berlin für die Übertragung der Sportbilder beide Systeme, das Nipkow-Fernsehen mit in Vakuum laufenden Scheiben sowie Linsenkranzabtaster von Emil Mechau und die elektronische Variante als Rosing-Fernsehen mit der schwenkbaren Ikonoskopkamera, nachentwickelt bei Telefunken, simultan im Einsatz. Die Entscheidung zwischen dem mechanischen Fernsehen und dem elektronischen Fernsehen war damals, nach fast einhundert Jahren Bildübertragung, noch keineswegs gefallen. Heute scheint es so, als wenn die Elektronik über die Bilder gesiegt hätte. Doch erstens 45 46
Vgl. Braun 1897. Auch hier lag die Patentschrift bereits seit einigen Jahren vor, vgl. Zworykin 1925.
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gibt es nach wie vor Anwendungen der Nipkow-Scheibe im High-EndBereich von Raumfahrt und Mikroskopie und zweitens haben digitale und spezielle binäre Codierungen keineswegs analoge Speicherverfahren verdrängt. Eine zweite Folgerung lässt sich als Handlungsanweisung für den vorliegenden Band verstehen: Es macht keinen Sinn, Technikgeschichte auf der Ebene von Apparaten und Geräten zu betreiben. Diese müssen zerlegt werden in ihre Bestandteile, die allzuoft Papiermaschinen(-teile) sind oder geblieben sind. Die Patente erzählen oftmals eine ganz andere Geschichte der Erfindungen als die Apparate, die in Museen überlebt haben.
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Abbildungen Abb. 1: Saitengalvanometer nach Arthur Korn. In: Korn, Arthur 1923: Bildtelegraphie. Berlin/Leipzig: Walter de Gruyter. S. 25, Fig. 7. Abb. 2: Erstes System für die Phototelegraphie mit Selen nach Arthur Korn. In: Ebd. S. 71, Fig. 27. Abb. 3: Differenzwirkung des Selenkompensators nach Arthur Korn. In: Ebd. S. 75, Fig. 28. Abb. 4: Umsetzung der Helligkeitswerte in telegraphische Zeichen nach Arthur Korn. In: Ebd. S. 105, Fig. 36. Abb. 5: Lochstreifen zur telegraphischen Übertragung von Photographien. In: Fuchs, Gerhard 1928: Die Bildtelegraphie. Berlin: Verlag Georg Siemens. S. 89, Fig. 31. Abb. 6: Bildsender der Lorenz-Korn-Bildfunkanlage. In: C. Lorenz Aktiengesellschaft Berlin-Tempelhof 1930: 50 Jahre Lorenz. 1880– 1930. Festschrift. Berlin. S. 320, Abb. 1. Abb. 7: Bildempfänger der Lorenz-Korn-Bildfunkanlage. In: Ebd. S. 323, Abb. 3. Abb. 8: Lorenz-Korn-Bildfunksystem des Polizeipräsidiums Berlin im Jahre 1928. In: Ebd. S. 329, Abb. 13. Abb. 9: Bildübertragung mit dem Lorenz-Korn-System. Ebd. S. 326, Abb. 7.
HANS-DIETER SCHMIDT
Der verbindende Draht
Die einsamen Maschinen Telegrafisten der vorelektrischen Zeit arbeiteten immer nur an singulären Maschinen, indem sie ihnen ihre Gedanken, Worte und Zeichen durch erfundene und vereinbarte Codes aufdrückten und zu mechanisch erzeugten, optischen Äußerungen an ihre anonyme Umgebung veranlassten. Letztlich war es mehr zufällig, wenn ihre optischen Signale wahrgenommen und wieder zurückcodiert werden konnten. Den Nachrichtenübertragungsweg selbst überließ man notgedrungen den Launen der Natur. Menschliche Schwächen wie Unaufmerksamkeit, Müdigkeit oder Fehlerhaftigkeit machten alles noch unsicherer. So wie Ernst Feyerabend 1933 ernüchternd feststellt: Die optische Telegraphie gleicht jedoch der Verständigung zwischen zwei Taubstummen, die sich körperlich nicht berühren können. Wenn der eine den anderen nicht ansieht oder durch Anstoßen nicht aufmerksam machen kann, ist ein Verkehr zwischen ihnen nicht möglich.1
Alle diese Nachrichtenmaschinen standen – auch wenn sie in einer gewissen Linie angeordnet waren – einsam in der Natur. Es fehlte ihnen eine dem System eigene, feste, stetige und zuverlässige Verbindung. Das mehr oder weniger glückende Zusammenspiel Technik–Natur–Technik konnte kein System bilden. Es war nicht in sich durchgängig und geschlossen, sondern hatte quasi so viele offene Stellen wie Stationen. Nachrichten konnten im Medium Luft spurlos verloren gehen, ohne dass man es überhaupt bemerkte. So sind auch die Maschinen samt ihrer früher üblichen Bezeichnung Semaphor (griechisch: sema = Zeichen, phoros = tragend) – volkstümlich als Holztelegraph verspottet – aus der Erinnerung verschwunden.
1
Feyerabend 1933: 2.
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Der verbindende Draht Konnte nur ein Systemsprung die zeitweise und gestörte Sprachlosigkeit verbessern? Zwei grundlegende Entdeckungen ermöglichten die planvolle Entwicklung elektrisch arbeitender Telegrafen: Elektrische Energie ist künstlich erzeug- und speicherbar sowie durch einen metallischen Leiter – etwa einen Metalldraht – nahezu beliebig weit transportierbar. Schon Alessandro Volta ließ elektrischen Strom aus seiner Batterie durch Drähte fließen. Diese – in Wasser getaucht – ließ ihn 1800 die elektrolytische Zerlegung in Wasserstoff und Sauerstoff entdecken. Samuel Thomas Sömmerring – Mitglied der Akademie der Wissenschaften in München – verwandte diese Kenntnis für seinen 1809 konstruierten und über mehrere hundert Meter arbeitenden Elektrolysetelegrafen. Er erkannte auch das mit der Telegrafie verbundene zweite Problem, die Überbrückung der Entfernung. Er wollte ja nicht nur einen auf dem Labortisch, sondern über größere Entfernung arbeitenden Telegrafen bauen. Drähte brauchte er – ja 27 sogar isolierte Drähte – um 1812 schließlich durch die Isar hindurch rund 3 km weit telegrafieren zu können. Er experimentierte mit Siegelwachs und Kautschuk als Isoliermaterial, den damals einzig verwendbaren Naturmaterialien. Mehr oder weniger durch Zufall entdeckte 1819 Hans Christian Oersted, Professor an der damals dänischen Universität in Kiel, den Zusammenhang zwischen Elektrizität und Magnetismus bei der Ablenkung einer Magnetnadel neben einem stromdurchflossenen Draht. Seine Veröffentlichung löste 1820 eine außerordentliche Wirkung auf die zeitgenössischen Wissenschaftler aus. »Alle anderen Probleme traten gegenüber der neuen Entdeckung zurück, die Physiker sprachen und schrieben damals ausschließlich über den Einfluss des elektrischen Stroms auf Magnetnadeln.«2 Schnell erkannten z. B. Johann Salomo Christoph Schweigger in Halle und der Physiker Johann Christian Poggendorf in Berlin die verstärkende Wirkung auf die Magnetnadel, wenn man mehrere Windungen Draht um sie legte. Die erste längere, dauerhaft betriebene Blankdrahtverbindung über rund 1.000 m bauten 1833 der Mathematiker Carl Friedrich Gauß und der Physiker Wilhelm Eduard Weber zwischen ihren Arbeitsräumen im Physikalischen Kabinett und der Sternwarte in Göttingen – hoch über den Häusern der Stadt. Die zweidrähtige Leitung bestand anfangs aus dünnem, später aus dickerem Kupferdraht, der aber wegen Witterungseinwirkungen durch einen 1 mm starken Stahldraht ersetzt wurde. An Häsuergiebeln und am Kirchturm waren Querträger mon2
Fürst 1923: 16.
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tiert, auf diesen die beiden Drähte abgespannt und damit gegenseitig und zur Erde hin genügend isoliert. Die Leitung wurde in beiden Richtungen betrieben, denn an ihren Enden waren jeweils ein Geber und Empfänger parallel angeschlossen.3 Sender war ein Induktor zur Erzeugung von Stromimpulsen – ein in einer Spule senkrecht beweglicher Magnetstab – und ein Kommutator zur Änderung der Stromrichtung. Empfänger war ein großes Spiegelgalvanometer – ein waagerecht aufgehängter Stabmagnet, umgeben von einer Spule – das je nach Stromimpulsrichtung nach links oder rechts ausschlug. Die Übertragungsgeschwindigkeit lag bei ca. 9 Buchstaben pro Minute mit einem leicht erlernbaren Code. Hier wurde den Bewohnern Göttingens erstmals die doppelte Drahtverbindung als Telegrafenleitung quer über die Stadt in ihrer Bedeutung täglich bewusst. 1845 setzte allerdings ein Blitzschlag dieser weltweit ersten Telegrafenverbindung ein Ende.4 Nach den praktischen Erfahrungen mit diesem elektromagnetischen Telegrafen erwog 1835 sogar das Direktorium der Leipzig-Dresdner Eisenbahn, beim Bahnbau einen Kupferdraht von 1,6 mm oder einen Eisendraht von 3,8 mm Stärke (mit den Schienen als Rückleiter) auszulegen. Wegen zu hoher Kosten verwarf man den Plan jedoch. Wohl vielen Konstrukteuren elektrischer Telegrafen war um diese Zeit der physikalisch-mathematische Zusammenhang zwischen der an einer Daniell’schen oder Bunsen’schen Batterie anliegenden elektrischen Spannung und dem über die angeschlossene Leitung fließenden Strom noch nicht recht klar. »Durch Theorie und Versuche«, so stellt Heinrich Schellen fest, »ist nachgewiesen, daß der Strom, wenn er auf seinem Wege auch noch so verschiedene Leitungswiderstände antrifft, dennoch in allen Theilen der Leitung, wenn sie auch noch so weit von der Quelle der Elektricität, der Batterie, entfernt sind, dieselben Wirkungen auszuüben im Stande ist, welche er in der Nähe der Batterie äußern kann. [...] Beide – eine Hin- und eine Zurückleitung – müssen, wenn ein Strom durch sie hindurchgehen soll, nothwendig ein continuirlich zusammenhängendes, die Elektricität leitendes Ganze bilden; aber es kann die Leitung aus zwei oder mehreren leitenden Theilen, z. B. theils aus Kupfer, theils aus Eisen oder feuchter Erde, Wasser u. s. w. bestehen.«5
Der schon 1828 nach dem Entdecker des Gesetzes der Stromleitung Georg Simon Ohm benannte mathematische Zusammenhang zwischen elektrischer Stromstärke und Widerstand erlaubte die Hintereinander3 4 5
Vgl. Feyerabend 1933: 50f. Vgl. Gööck 1988: 41. Schellen 1861: 115f.
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schaltung unterschiedlichster elektrischer Leiter. Nur die Summe der Leiterwiderstände bestimmte bei einer vorgegebenen Spannung die Stromstärke und damit die erreichbare Länge der Übertragungslinie.
Die vernetzende Leitung Durch die Göttinger Telegrafenanlage angeregt, machte sich 1837 Carl August Steinheil, Professor für Mathematik und Physik in München daran, vier seiner Wirkungsstätten unterirdisch zu verbinden. Er verlegte in Leinöl abgebrannten Eisendraht in Wasserkanälen direkt im Boden. Doch stellte er in einer Meldung an den bayerischen König ernüchtert fest: »Die Drahtleitung kann nicht ohne besondere Isolierung unter dem Boden geführt werden, weil die Erde dahier halb leitend eine störende Verbindung bewirkt. Vollkommene Isolierung aber würde die Mittel überschritten haben«.6 Reumütig baute er im Jahr darauf insgesamt 6 km lange zweidrähtige oberirdische Telegrafenleitungen zwischen den vier über die Stadt verteilten Stationen. Bei einer maximalen Spannweite von 350 m wurden die Drähte um Holzquerträger an Stangen geschwungen, mit Filz als Zwischenlage. Auch hier sind die dem System noch anhaftenden Störungen klar erkennbar. Das Übertragungssystem Maschine–Draht–Maschine hatte Löcher. Der in feuchter Erde verlegte und an nass werdenden Filzunterlagen befestigte Eisendraht hatte – elektrisch gesehen – undichte Stellen, durch die die zu übertragende Nachricht praktisch in die Erde versickerte. Das Problem bestand darin, das nachrichtentechnische System auch auf große Entfernung in sich geschlossen zu halten und von natürlichen Einflüssen möglichst abzuschirmen. Drähte, die Maschinen elektrisch verbinden, bildeten in München erstmals ein Übertragungsnetz. Eigentlich ermöglichten erst diese längeren Drahtverbindungen wirkliche Tele-Grafie. Als Steinheil 1849 als Gutachter für die Errichtung eines Staatstelegrafen in Bayern beauftragt wurde, empfahl er nicht nur Morse-Apparate, sondern auch unterirdisch geführte mit Guttapercha isolierte Leitungen, für die Eisenbahntelegrafie jedoch bedeutsamerweise oberirdisch geführte Drähte.7
6 7
Zitiert nach Feyerabend 1933: 62. Vgl. ebd.: 59.
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Die isolierte Leitung Nachdem das Ohm’sche Gesetz langsam Allgemeingut wurde, waren sich Staat und Unternehmer als Auftraggeber im Klaren darüber, dass besonders in ausgedehnteren Netzen die Isolation der einzelnen Drähte möglichst gut, d. h. der Isolationswiderstand der einzelnen Ader hochohmig sein musste. Oberirdisch geführte Linien hatten zwar auf ihrer Spannlänge einen hohen Widerstand gegenüber der Luft, durften aber am Aufhängepunkt weder bei Wind, Regen, Nebel noch feuchter Luft einen Ableitstrom gegen Erde aufweisen. Unterirdisch oder im Wasser verlegte Linien mussten auf ihrer gesamten Länge eine stabile Isolation gegenüber ihrer oft aggressiven Umgebung haben. In einer Denkschrift an den preußischen Generalstab von 1839 wird empfohlen, dass »Leitungen auf größere Entfernungen nicht durch die Luft geführt werden können, wo sie gegen Zufälligkeiten, Mutwillen und absichtliche Unterbrechungen nicht geschützt wären«8. Aus Gründen der Staatssicherheit kamen die Drähte also in den Untergrund, isoliert mit harziger Asphaltmasse. Und dies, obwohl man von etlichen fehlgeschlagenen aktuellen Unternehmungen von mit Hanf und Pech isolierten Drähten wusste. Ein weiterer Vorschlag 1840 nannte »die Umspinnung der Drähte mit Hanf oder Baumwolle, welche dann mit harzigen Substanzen, am besten mit Kautschuk bedeckt werden.«9 Die Leitungen sollten – statt wie in London in Eisenrohre – in Asphaltröhren verlegt werden, denn der Physiker Charles Wheatstone riet von oberirdischer Führung ab. Man kam 1842 zu dem Schluss, dass bei »durch die Luft geführten Drahtleitungen [...] das Telegraphieren Unterbrechungen erleidet, welche denen gleichkommen, die bei ungünstiger Beschaffenheit der Luftschicht in einer optischen Telegraphenlinie vorkommen«.10 Ein sehr entmutigender Vergleich mit dem Holztelegraphen. Werner Siemens brachte das Problem auf den Punkt, als er schrieb: Der Gelehrte konnte leicht Methoden und Kombinationen ersinnen, welche telegraphische Mitteilungen möglich machten, und welche sich auch, im Zimmer versucht, trefflich bewährten. In Wirklichkeit trat aber ein neues schlimmes Element hinzu, welches seinen Plan durchkreuzte – die isolierte Leitung zwischen den telegraphisch zu verbindenden Orten.11
8 9 10 11
Zitiert nach ebd.: 137. Kunert 1940: 7. Feyerabend 1933: 122. Zitiert nach Fürst 1923: 84.
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Große Schwierigkeiten, Kupferdraht wirksam zu isolieren, verzögerten die Ausführung der preußischen Kabinettsorder von 1845, so dass die beauftragte 3,7 km lange zweiadrige Linie Berlin–Schöneberg erst 1847 fertig wurde. Eine Ader war mit Kautschuk, die andere mit Wachs und terpentingetränkter Baumwolle isoliert. Die letztere Isolierung war so schlecht, dass diese Leitung gar nicht in Betrieb ging. Die erstere war in nassem Erdreich nicht immer ausreichend, so dass die Versuche mit Kautschuk-Isolation aufgegeben wurden.12 Bilder per Draht werden mit den ersten Kopiertelegraphen des in London lebenden Schotten Alexander Bain zum Thema. Er dachte nicht nur an seinen neuartigen Apparat, an dem er seit einigen Jahren tüftelte, sondern auch an die für die Übertragung nötige Fernleitung. Am 7. Juni 1842 erhielt er ein Patent auf einen in einem Asphaltrohr eingelegten Draht, der in etwa 70 bis 90 cm Tiefe eingegraben werden sollte. The unctuous property of asphaltum renders it impermeable to water, and its readily yielding any casual pressure prevents the chance of such a fracture as would admit the smallest portion of moisture to run along the wire. This patented right of Mr. Bain to insulation, by means of asphaltum or any similar cement, explains the reason why Mssrs. Cooke and Wheatstone are now driven to the preposterous expedient of long poles.13
Er vertraute aber anscheinend nur theoretisch auf die Bruchfestigkeit und Feuchtigkeitsdichte der Asphaltmasse, denn er nennt als Isolierung auch »irgend eine ähnliche Masse«. Von einer erfolgreichen Fernübertragung wird nicht berichtet. Allerdings hatte auch Samuel Finley Breese Morse 1843 mit seinem Patent keinen Erfolg – er wollte Washington mit Baltimore verbinden: zwei in ein Bleirohr eingezogene, mit Baumwolle und Gummioder Schelllack isolierte Kupferdoppelleitungen, von denen er etwa 16 km auslegte, um dann den Versuch abzubrechen.14 Er versuchte es wieder oberirdisch. Etwas erfolgreicher war anscheinend 1845 der Versuch des Amerikaners Cornell mit einer mit kautschukisolierten Bleiumhüllung.15 Alle diese und weitere Versuche, einen Draht mit natürlichen Faserstoffen zu isolieren, sei es Hanf, Baumwolle, Seide oder auch Papier – getränkt mit Naturprodukten wie Schellack, Gummilack, Wachs, Talg, Harz, Kolophonium, Terpentin oder eingebettet in Pech, Teer oder As12 13 14 15
Vgl. Kunert 1940: 9. Finlaison 1843: 20f. Vgl. Feyerabend 1933: 87. Vgl. Roscher 1911: 77.
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phalt – lieferten auf Dauer keine brauchbaren Telegrafenleitungen. Naturfasern sind per se hygroskopisch, d. h. sie nehmen abhängig von der Feuchtigkeit der sie umgebenden Luft Wasser auf. Der Draht bekam früher oder später ein elektrisches Leck, und die härteren Materialien wurden rissig oder spröde. Der preußische und auch anderweitige Misserfolg mit unterirdisch verlegten Leitungen hatte auch sein Gutes. Um wenigstens Telegrafenapparate möglichst bald testen zu können, baute man 1846 die erste oberirdische zweidrähtige Kupferlinie für die Staatstelegrafie. Kurze Röhren aus Guttapercha – dem modernsten Produkt auf dem Gebiet der Isolation –, mittels einer Klammer und zwei Schrauben an Telegrafenstangen befestigt, isolierten die Drähte. Doch schon zwei Jahre früher, 1844, wurde auf Vorschlag von William Fardely entlang der Taunusbahn eine Freileitung gebaut. Ein 1,5 mm starker »Kupferdraht ruhte auf niedrigen Stangen in einem am oberen Ende angebrachten Einschnitt und wurde durch Holzkeile festgehalten. Die Schnittstelle und die Keile waren geteert und durch eine kleine aufgenagelte Blechkappe gegen Feuchtigkeit geschützt.«16 Im Jahr 1844 erfuhr man auch von den ersten oberirdischen Anlagen in Petersburg und Amerika. Man verwandte dort erstmals Glasisolatoren als Träger an Holzmasten.17 Ein Jahr später war Amerika von rund 3000 km oberirdischer Linien vernetzt. Frankreichs erste Leitung mit ca. 150 km Länge wurde 1845 zwischen Paris und Rouen gebaut. Charles Wheatstone und William Cooke errichteten 1846 die erste Linie Belgiens zwischen Antwerpen und Brüssel mit rund 45 km Länge. Ab 1847 wurde in Württemberg begonnen, entlang der Bahn eine Freileitung zu bauen. Der 1,5 mm starke Kupferdraht wurde unterhalb eines Blechdachs durch ein Loch im Mast geführt, dort mit Guttapercha umhüllt und festgekeilt. Vier Jahre später liefen die Drähte durch Steingut-Hülsen.18 Die Fragen zu grundlegenden Problemen blieben dennoch: – der oberirdisch geführte Draht, der nicht verwitterte, gute Leitfähigkeit besaß und dennoch weder zu weich noch zu spröde war, um über größere Feldlängen gespannt zu werden; – der richtige Durchhang der Drähte zwischen gegenseitiger Berührung und Bruch bei Witterungsextremen;
16 17 18
Feyerabend 1933: 138. Vgl. ebd. Vgl. ebd.: 146f.
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– das wetterfeste Material für Isolatoren sowie deren optimale Form gegen die Bildung leitenden Belags und ihre dauerhaft stabile Befestigung; – die Konservierung der Telegrafenmasten gegen Fäulnis über acht Jahre hinaus. Auf allen Linien der Staats- und Bahntelegrafen in Europa wie in den USA war vor 1850 der technische Stand der oberirdisch geführten Linien gleich. Sie waren zwar nicht sicher gegen witterungsbedingte und mutwillige Beschädigungen, doch einigermaßen genügend standfest für einen relativ anspruchslosen Betrieb und erheblich kostengünstiger als im Boden verlegte Leitungen. Zauderndes Tasten also auf beiden Seiten des Atlantiks: oberirdische oder unterirdische Linienführung? Oder gleich zwei entwicklungstechnische Sackgassen? Auf welchem Weg sollte man einen guten Draht zueinander finden? Dabei fanden sich Visionäre wie Wheatstone, der schon 1840 von einer unterseeischen Verbindung durch den Kanal träumte, und Morse, der 1843 sogar die kühne Verbindung zwischen Amerika und Europa anregte.19 Sie setzten Kabel voraus, für die noch nicht einmal die erforderliche Isolation um den verbindenden Draht gefunden war, ganz zu schweigen von deren Herstellungs-, Verlege- und Betriebsproblemen.
Die rettende Pflanze »Isonandra gutta« nannte 1847 der Botaniker William Jackson Hooker, Leiter der Königlichen Botanischen Gärten London, einen in Malaisia beheimateten Baum, dessen eingetrockneter Milchsaft 1843 in Großbritannien aufgetaucht war. Malaien wie Europäer schätzten das beim Erwärmen auf etwa 50° C plastisch werdende Naturprodukt als dekoratives Material für Spiegel, Tabletts, Schreibtischgarnituren, Figürchen u.v.a.m. Wegen seiner vielfältigen Verwendung wurden in England 1845 schon rund 11 Tonnen eingeführt.20 Wheatstone erkannte und erprobte seine isolierenden Eigenschaften. Zwar war er glücklos, weil es ihm nicht gelang, einen Kupferleiter fest mit dem oder der Guttapercha (von malaisch: geta Gummi und perch Baum) zu umpressen.21 Doch 1846 wagte sich die Firma S. W. Sil19 20 21
Vgl. Zetsche 1877: 154. Vgl. Bibliographisches Institut 1904: 525. Vgl. Roscher 1911: 78.
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ver & Co. an die Ausführung seines schon Jahre gehegten Wunschtraums, die Insel per Telegrafendraht mit dem Kontinent zu verbinden. Von den erfolgreichen Vorversuchen im Hafen von Portsmouth erfuhr Werner Siemens – Leutnant der preußischen Telegrafenkommission – durch seinen in London arbeitenden Bruder. Von ihm erhielt er auch erste Proben dieser in Blöcken von 10 bis 20 kg gepressten Kuriosität, die die englische Firma als Isolation für das neue Kabel verwendete.22 Was Siemens in den Händen hielt, war zwar wieder eines der vielen Produkte aus der Natur, doch eines mit gravierend anderen Eigenschaften. Das dunkelfarbene, geschmacklose, zähe und wenig dehnbare und etwa wasser-schwere Rohprodukt kann bei 25° C gebogen, bei 48° C unter starkem Druck geknetet und bei 55–60° C plastisch zu Röhren, Bändern und Fäden ausgezogen werden. Erst bei 100° C wird es klebrig und nimmt in kochendem Wasser 5–6 % Feuchtigkeit auf, die – langsam zwar – wieder an die Luft abgegeben wird, um bei 130° C zu schmelzen. Seine für die Leitungs-Herstellung so markanten Eigenschaften fand man schnell heraus: dauerhaft formbeständig nach dem Erkalten, unlöslich in Wasser und Öl, teillöslich in Alkohol und Äther, löslich in Benzin und Terpentin, leicht löslich in Schwefelkohlenstoff und Chloroform, widersteht Alkali- und Salzlösungen, verdünnten Säuren und Chlor, zersetzt sich aber in konzentrierter Schwefel- und Salpetersäure. Dazu kommt seine überragende Eigenschaft der geringen Leitfähigkeit der Wärme und vor allem der Elektrizität. Allerdings oxidiert es an Luft und Licht und wird bald brüchig, nicht jedoch im Dunkeln und unter Wasser, namentlich Seewasser.23 Das ideale Material also, um unterirdische wie unterseeische Telegrafenleitungen zu fertigen und zu verlegen? Ja! An das Isolationsmaterial selbst konnte man zu dieser Zeit kaum höhere Anforderungen stellen. Werner Siemens schreibt in seinen »Lebenserinnerungen«: Die ausgezeichneten Eigenschaften dieser Masse, im erwärmten Zustand plastisch zu werden und, wieder erkaltet, ein guter Isolator der Elektrizität zu sein, erregten meine Aufmerksamkeit. Ich überzog einige Drahtproben mit der erwärmten Masse und fand, daß sie sehr gut isoliert waren.24
Nur das Problem der perfekten Aufbringung auf den Kupferdraht, an der Wheatstone schon gescheitert war, forderte den Ingenieur Werner Siemens heraus. Auch drängten die unruhigen politischen Verhältnisse 22 23 24
Vgl. Kunert 1940: 5. Vgl. Bibliographisches Institut 1890: 951ff. Siemens 1956: 51.
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in Deutschland auf schnell zu realisierende, sichere und weitreichende Telegrafenverbindungen. Eine Guttaperchaumkleidung mittels gekehlter Walzen brachte 1846 nur höchst unvollkommene Ergebnisse. Die beiden Längsverbindungsnähte des Überzugs waren nicht dicht zu bekommen und lösten sich schnell. Werner Siemens, der seinen neu entwickelten, patentierten Zeigertelegrafen ins Geschäft bringen wollte, wurde 1847 erlaubt, entlang der Bahnstrecke zwischen Berlin und Potsdam (ca. 24 km) statt der bestehenden kostenintensiven oberirdischen Drahtverbindung eine unterirdische zu bauen. Eine verbesserte Maschine mit gekerbten Walzen und wasserfreier Guttapercha brachten endlich den gewünschten Erfolg. Bis auf wenige unvollkommen gefertigte Stellen blieb die Verbindung vorläufig elektrisch stabil. Daraufhin erhielt er den Auftrag, zwei je 3,75 km lange Versuchsleitungen mit Guttaperchahülle in den Damm der Anhaltischen Bahn zu legen – die eine rund 25 cm und die andere rund 80 cm tief, um die atmosphärischen Einflüsse beobachten zu können. Die Berliner Firma Fonrobert und Pruckner lieferte den 7,5 km langen Kupferdraht. Die Isolierung bestand diesmal aus zwei Guttaperchahalbzylindern, in die der Draht fortlaufend eingewalzt wurde. Die so ummantelte Ader wurde anschließend durch ein erwärmtes Zieheisen und durch ein weiteres Walzenpaar gezogen. Zur größeren Sicherheit ließ Siemens die Adern vor dem Auslegen noch mit einer Mischung aus sogenanntem Marineleim, Steinkohlenteer und Kolophonium bestreichen. Die Verlängerung nach demselben Verfahren erfolgte kurz darauf bis Großbeeren (ca. 19 km). Abbildung 1: Mit Guttapercha isolierte Ader
Dies war – Anfang 1848 – die erste längere unterirdische Guttaperchaleitung. Alle Erwartungen schienen erfüllt, doch nach mehreren Monaten verschlechterte sich der Isolationswert rapide, weil sich die beiden Nähte der Halbschalen stellenweise wieder gelöst hatten. Der unterirdisch verbindende Draht war wieder nur Wunschtraum geblieben.25
25
Vgl. Kunert 1940: 10f.
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Der Guttapercha-Draht Den Erfinder spornte dieser erneute Misserfolg an. Die Guttapercha musste, um nahtlos, mechanisch homogen und damit dauerhaft elektrisch isolierend den Kupferdraht zu umhüllen, kontinuierlich rundum aufgebracht werden. Nach dieser genialen Idee konstruierte Siemens Ende 1847 das mit der Hand zu bedienende Modell einer Presse, mit dem man zwar keine sehr langen, jedoch konzentrisch isolierte Kupferdrähte herstellen konnte. Beliebig langen unterirdischen Telegrafenleitungen stand anscheinend nichts mehr im Weg.26 Die schon mit den vorangegangenen Arbeiten beauftragte Berliner Fabrik baute nach diesem Modell eine große Presse zur industriellen Fertigung. Dabei gelang es, bis zu 9 mit Guttapercha ummantelte Kupferadern gleichzeitig herzustellen. Wohl im Erfolgsgefühl versäumte Werner Siemens, sich sein Verfahren sogleich patentieren zu lassen. Erst 1850 beantragte und erhielt er in England ein Patent auf seine Guttaperchapresse. Abbildung 2: Modell der Guttaperchapresse.
26
Vgl. Siemens 1956: 51.
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Abbildung 3: Prinzip der Guttaperchapresse.
Die 33-seitige Patentschrift Nr. 13.062 vom 23. April 1850 schützt »Improvements in Electric Telegraphs« des »Electric Engineer Ernst Werner Siemens« in »England, Wales and the Town of Berwick-upon-Tweed, and in the Islands of Jersey, Guernsey, Alderney, Sark and Man, and also in all Colonies and Plantations abroad«.27 Auffällig an dieser Patentschrift ist die große Zahl verschiedenster Erfindungen. Von 22 der ab Seite 30 aufgeführten Ansprüche beziehen sich nur drei auf die Guttaperchaisolation. Die vorausgehenden Patentbeschreibungen beziehen sich auf zehn ganz unterschiedliche Erfindungen: Form und Ausführung von Elektromagneten ab Seite 2, elektrodynamische Maschine mit Spulen aus mit Seide umwickeltem Draht ab Seite 4, Kontaktmaterial für Schalter und Tasten auf Seite 6, Anzeigeinstrument ab Seite 6, Drucktelegraf ab Seite 10, Übertragungsrelais ab Seite 13, Alarmgeber auf Leitungen ab Seite 16, Dreifachausnutzung einer Doppelleitung gegen Erde auf Seite 19, Kombination zwischen Nadel- und chemischem Telegrafen ab Seite 19, Verlegung unterirdischer Linien ab Seite 21 und endlich ab Seite 25 die Guttaperchaisolierung von Drähten. Die Neuheit seines Patentanspruchs begründet er mit dem Einsatz von zwei gegenständigen Zylindern, die einen ringsum gleichmäßigen 27
Vgl. Siemens 1850.
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Druck der Guttaperchamasse um den Leitungsdraht erzeugen und es erlauben, beliebige Längen zu fertigen. Die Zylinder sind austauschbar, d. h. wenn ein Zylinder leergepresst ist, kann er per Kran durch einen gefüllten ersetzt werden. Die Produktion steht dann zwar für kurze Zeit still, doch die Guttapercha kann weiterhin ohne Unterbrechung auf den Draht aufgebracht werden. Die handwerkliche Herausforderung liegt besonders darin, die beiden Guttaperchaoberflächen (Ende des vorauslaufenden Strangs und Beginn des nachfolgenden Strangs) völlig ohne Lufteinschlüsse aneinander zu pressen. Die Zylinder werden in einer von Dampf durchströmten Ummantelung so beheizt, dass die Guttapercha die richtige Presstemperatur hat. Der Draht wird vertikal von unten nach oben durch die Presse gezogen. Die Patentschrift spricht von zwölf Ziehlöchern, um gleichzeitig bis zu zwölf ummantelte Drähte zu erzeugen.28 Abbildung 4: Guttapercha-Presse mit Doppelzylinder.
C. Stille beschreibt die Funktion so: »In einem starkwandigen, durch Dampf erwärmten eisernen Zylinder bewegt sich ein Kolben, der durch Dampfkraft langsam vorgeschoben wird.« Etwas später merkt er an, Kolbenmaschinen können bei Verwendung von zwei Zylindern dauernd arbeiten. [...] An dem vorderen Teil des Zylinders befindet sich ein massiver Kopf mit dem zur Durchführung des Drahtes bestimmten Mundstück, das oben ein wenig enger gehalten ist. Der Draht läuft durch ein starkes Metallstück hindurch. Die Guttapercha wird gleichzeitig aus dem Inneren des Zylinders durch den ringförmigen konischen Raum herausgepreßt und tritt dann mit dem Draht aus dem Mundstück heraus, so daß sie diesen konzentrisch fest umgibt.29
28 29
Vgl. Siemens 1850: 26. Stille 1911: 69f.
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Die Patentschrift enthält eine heute abenteuerlich anmutende Methode, um während der Fertigung die elektrische Qualität der Isolierung zu überwachen. Der Anfang des Guttaperchadrahts wurde über eine Induktionsspannungsquelle leitend mit einem Arbeiter verbunden, der einen Finger in einen mit Wasser gefüllten Bottich hielt, durch den der frisch ummantelte Draht lief. Tauchte eine defekte Stelle in das Wasser ein, bekam das menschliche Messinstrument einen elektrischen Schlag und hielt die Maschine an, damit der Fehler korrigiert werden konnte.30 Diese umfassende Patentschrift barg den Schlüssel für eine praktisch weltweit führende Stellung auf dem prosperierenden Telegrafiemarkt.
Die tote Leitung Die sich 1848 ankündigenden politischen Unruhen veranlassten die preußische Regierung, möglichst schnell von Berlin aus je eine Telegrafenleitung nach Frankfurt am Main – dort tagte die deutsche Nationalversammlung – und nach Köln zu verlegen. Unterirdisch und meist längs von Eisenbahnlinien sollten sie verlaufen, denn man befürchtete mit Recht, dass oberirdisch geführte Leitungen häufig sabotiert werden würden. Schon nach einem halben Jahr – im März 1849 – konnte die Linie nach Frankfurt offiziell eröffnet werden, sodass der heiße Draht am 28. April die Wahl des Deutschen Kaisers Friedrich Wilhelm nach Berlin telegrafieren konnte. Das Rheinland war im Juni erreichbar. Mit einer unglaublichen politischen und finanziellen Anstrengung wurden von Berlin aus in den beiden folgenden Jahren Linien mit 2.714 km Guttaperchaadern fertig gestellt. Von einem Telegrafennetz konnte man erst Ende 1850 sprechen, als die fünf auf Bahnhöfen endenden Linien unterirdisch verlängert und in der Telegraphenzentralstation im Hauptpostgebäude zusammengefasst wurden.31 Dieses weltweit einzigartige Telegrafen-Netz erregte Aufsehen im westlichen Europa, sogar in Russland und Nord-Amerika. Der englische Guttapercha-Lieferant, die Gutta Percha Company London, machte sich die ihr unbekannte Verwendung ihres Rohmaterials zu Eigen und verwendete das Siemens’sche Umpressungsverfahren – Werner Siemens hatte es noch nicht patentieren lassen.32 Voller Überzeugung in ein zuverlässiges Netz gründeten Preußen, Österreich, Bayern und Sachsen 30 31 32
Vgl. Siemens 1850: 29. Vgl. Kunert 1940: 14ff. Vgl. ebd.: 38.
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im Juli 1850 den Deutsch-Österreichischen Telegraphenverein zur Verbindung und Nutzung ihrer Telegrafensysteme mit Morse-Apparaten.33 6.870 km Telegrafenlinien standen diesem Verbund zur Verfügung, wobei, außer Preußen, die anderen Mitglieder fast nur oberirdische betrieben. Hatte Preußen nun – nachdem so ziemlich alle deutsche Staaten, Österreich und sogar Frankreich angeschlossen waren – alle Drähte in der Hand und damit einen kurzen Draht zu den Grenzen des Reichs und den verbündeten Regierungen? Abbildung 5: Unterirdisches Liniennetz 1850.
Was geschah aber? Der plötzlich große Bedarf an Guttapercha und die Monopolstellung der englischen Gutta Percha Company verleiteten dazu, auch weniger gutes Material zu verwenden. Nicht völlig frei von Wasser, Luft und Verunreinigungen verarbeitetes, oftmals sogar verdorbenes Guttapercha minderte bald den Isolationswert. Die Verlegetiefe mit anfangs ca. 45 cm und später mit 60 cm war zu gering gegenüber atmosphärischen Einflüssen. Mechanischer Schutz durch Eisen- und Tonrohre war wegen zu hoher Kosten abgelehnt worden. Um die Einwirkungen der Luft zu verringern, entschloss sich Werner Siemens, die Guttapercha unter Hitze mit Schwefel zu versetzen – also wie Kautschuk zu vulkanisieren. Ein fataler Fehler: Das sich bildende Schwefelkupfer durchsetzte die Hülle und leitete sogar selbst Strom. Auch mit 33
Vgl. Feyerabend u. a. 1929, 1: 226f.
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der Guttaperchapresse lag der Draht nicht immer zentrisch in der Umhüllung, sondern oft knapp unter der Oberfläche.34 Die Linien wurden zu ständigen Baustellen, denn die Fehler häuften sich zunehmend. Auch die auf die gleiche Art hergestellten Leitungen in Sachsen, Bayern und Österreich (1.410 km) verloren ihre Zuverlässigkeit. Werner Siemens erklärt in einer Schrift die Hauptfehler des Versagens:35 zu hoher Schwefelanteil, asymmetrische Lage des Leiters, mangelhafte Ausführung durch Eile, ungeübte Arbeitskräfte, fehlende Bewehrung und zu geringe Verlegetiefe sowie ungenügende Beaufsichtigung. Er beklagt, »daß durch diese ungünstigen Resultate ein sehr allgemeines und unbegründetes Vorurteil gegen das System unterirdischer Leitungen überhaupt hervorgerufen ist.«36 Auch die zwischenzeitliche Erfindung bleiummantelter Kabel konnte dieses Verhängnis nicht mehr aufhalten. John Chatterton aus Birmingham erhielt 1851 das englische Patent Nr. 13.660. »Er ließ das aus der Bleipresse kommende heiße Bleirohr zur Abkühlung durch einen Wassertrog gehen und zog es darauf mit einer Schnur oder Kette über einen blanken Draht und dann über die Guttaperchaader.«37 Auch Werner Siemens versuchte 1851, »die Guttapercha-Adern dadurch zu schützen, daß er sie in Bleirohre einzog.«38 Das Verfahren war umständlich, da sich nur kurze Längen herstellen ließen. Abbildung 6: Guttaperchaader mit Bleimantel.
1851 – also nach nur drei Jahren großer Erwartungen an ein umfassendes funktionsfähiges und letztlich staatstragendes mitteleuropäisches Telegrafensystem – konnte man plötzlich niemanden mehr damit auf Draht bringen. »Es mochten wohl die damaligen politischen Verhältnisse gewesen sein, welche die schnelle Herstellung eines den ganzen Staat umfassenden Telegraphennetzes selbst auf die Gefahr hin geboten, daß 34 35 36 37 38
Vgl. Kunert 1940: 20f. Vgl. ebd.: 21f. Zitiert nach ebd.: 22. Ebd.: 25. Ebd.
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dasselbe nicht von langer Dauer wäre […]. Es blieb bei dem provisorischen Charakter der ersten Versuchsanlagen«, schreibt Werner Siemens in seinen Lebenserinnerungen.39 Im Herbst 1851 genehmigte Preußen grundsätzlich wieder oberirdische Linien. Ein Jahr später sollten sogar alle unterirdischen außer Betrieb gehen. Die aufgegebenen Leitungen wurden bis auf wenige Strecken wieder ausgegraben. Nur dort, wo unbedingt Kabel verlegt werden mussten – durch Flüsse, Seen und Meer – wurden diese beibehalten.40 Das übrige Deutschland und Österreich folgten dem Beispiel Preußens, so dass 1852 unterirdisch betriebene Linien fast wieder verschwunden waren.41 Auch England und dem übrigen Ausland blieben diese bitteren Erfahrungen nicht erspart. Waren die einige Jahre vorher gehegten Bedenken vergessen? Nun, die politische Lage hatte sich stabilisiert – der Staat war wieder auf Draht – und die konkurrierende und preiswerter zu erstellende oberirdische Linie konnte inzwischen etwas sicherer und zuverlässiger betrieben werden. Der ab 1850 rasant zunehmende geschäftliche und private Verkehr übte weiteren Druck aus, die Netze leistungsfähiger zu machen. Die Nachrichtenagenturen Associated Press in New York, Wolff in Berlin und Reuter in London boten in großen Mengen die Handelsware Nachricht zum Vertrieb und zum Verkauf an.
Der blanke Draht Ein Rückschritt? Aus den früheren Schwierigkeiten und Problemen mit oberirdisch geführten Blankdrahtleitungen hatte man inzwischen gelernt. Die Tragmasten wurden mit Kupfervitriol, Chlorzink und Teerölen in Druckbehältern gegen Fäulnis imprägniert, um eine längere Standzeit zu garantieren. Die Isolatoren durchliefen mannigfache Entwicklungen, ihre Anbringung, das Material, die Form und die Art der Drahtbefestigung betreffend. Steingut, Porzellan und Glas, ein- und zweiteilige Doppelglocken, Kopf- und Halsbindung sowie hängende Befestigung des Drahtes sind die anfänglichen Varianten. Das Ziel war, einen möglichst langen und gegen Witterungseinflüsse geschützten Weg zwischen Glocken- und Drahtbefestigung zu finden, um Kondensation,
39 40 41
Siemens 1956: 79. Vgl. Kunert 1940: 27. Vgl. ebd.: 29ff.
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Regen und Staub keine Möglichkeit zu geben, die Isolation zwischen Draht und letztlich der Erde zu mindern. Die ersten recht zerbrechlichen Isolatoren verursachten erhebliche Betriebskosten. Deshalb fertigte die Firma Siemens und Halske ab 1852 sogenannte Isolierhüte aus Gusseisen, die innen isolierend emailliert waren. Der Emailleguss bekam jedoch wegen der Temperaturdifferenzen Haarrisse, in denen bei rascher Abkühlung Wasser kondensierte, was die Isolation stark minderte. Daraufhin kittete man in den IsolierHut einen Porzellanisolator und in diesen einen nach unten ragenden eisernen Träger mit Halteschlaufe für den Telegrafendraht. Auf Dauer bot aber das kurze Porzellanstück insbesondere bei feuchter Witterung immer weniger Isolierung. Abbildung 7: Deutsche Doppelglocke nach Chauvin.
Laut Heinrich Schellen fertigte die Electric Telegraph Company 1856/57 in England die ersten wirklich zuverlässigen Doppelglocken aus Porzellan.42 Der Königlich-Preussische Telegraphen-Director Franz Alphons Desiderius Chauvin übernahm diese Form kurz darauf für die Telegrafenlinie von Berlin nach Köln.43 Patentschutz gab es in Deutschland ja erst ab 1877.44 Glas, Steingut und besonders Porzellan erkannte man als die besten Materialien zur Herstellung der Isolatorglocken, weil sie nicht nur gute elektrische Eigenschaften aufwiesen, sondern auch die hohe Belastung der schwingenden Drähte aushielten. Als Leitung wurde wegen der geringeren Diebstahlgefahr gegenüber Kupfer auf internationalen Linien 5 mm, auf Fernlinien 4 mm und 42 43 44
Vgl. Schellen 1861: 123f. Vgl. ebd. Vgl. hierzu den Beitrag »Patent und Amt« im vorliegenden Band.
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auf Nebenlinien 3 mm starker Eisendraht verwendet. Einigermaßen stetig wurde so ein umfassendes europäisches oberirdisches Telegrafennetz aufgebaut, das 1878 in Deutschland rund 47.000 km Länge mit 162.000 km Leitungen umfasste.45
Der Draht im Untergrund Auf dem Land konnte man jetzt stabile oberirdische Linien betreiben, doch Flüsse und Meere trennten Orte, Inseln und Erdteile vom gemeinsamen telegrafischen Verkehr. Zur Lösung des Isolierungsproblems kamen Forscher und Ingenieure trotz des Misserfolgs immer wieder auf die Guttapercha zurück. Es galt, die erkannten Fehler zu beseitigen: unreines Kupfer, hohe Steifigkeit des Leiters, niedrige Qualität der Guttapercha und deren laienhafte und nachlässige Verarbeitung, Eindringen von Luft und Wasser in die Isolation und nicht zuletzt nicht perfekt arbeitende Fertigungsmaschinen, unerfahrene Verlegekräfte und wenig aussagekräftige Messvefahren.46 Eine große Zahl von Erfindungen und technischen Neuerungen brachte der unterirdischen Bauweise merkbar höhere Qualität, Lebensdauer und größere Übertragungsmengen. Eine patentierte Erfindung sei herausgegriffen, die »Insulating Telegraphic Conductors« vom 10. Dezember 1859, Nr. 2.809 von John Chatterton, dem Werksleiter der Gutta Percha Co. und Willoughby Smith. Sie bemängeln »when telegraphic wires or conductors are insulated with a covering of gutta percha, it is found that minute pores in many cases exist in the covering«, und schlugen vor: »Now, according to this invention, we fill the pores in the gutta percha with an insulating liquid.«47 Sie benutzten eine Mischung aus Guttapercha, Holzteer und Harz in unterschiedlichem Verhältnis als Tränkung, um jegliche Porenbildung zu verhindern. Zur Qualitätssteigerung konnte dann wegen der besser haftenden Oberfläche ein zweiter Guttaperchamantel aufgebracht werden. Unter dem Namen »Chatterton Compound« wurde dieses neue Verfahren weltweit angewandt, auch beim Atlantikkabel von 1865/66.48 »Man lernte, die Guttapercha von schädlichen Beimengungen zu befreien und erfand Verfahren und Geräte, diesen Stoff zu verarbei45 46 47 48
Vgl. Haupt-Telegraphen-Amt Berlin 1925: 45. Vgl. Kunert 1940: 35f. Chatterton/Smith 1859: 1. Vgl. Kunert 1940: 38.
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ten«, schreibt Kunert und verweist auf Dinglers »Polytechnisches Journal«, Band 120 von 1851. »Die als schädlich erkannte Beimengung von Schwefel wurde aufgegeben.«49 Dem Kupfer wandte man besondere Aufmerksamkeit zu. Beimengungen, die Festigkeit und Leitfähigkeit stark beeinträchtigten, wurden eliminiert. Die Ziehvorrichtungen wurden so weit verbessert, dass weder Risse noch Splitter auftraten und ein gleichmäßiger Draht 1/100 mm genau hergestellt werden konnte. Statt eines Runddrahts verwendete man Litze aus mehreren Einzeldrähten. Dies minderte die Bruchgefahr und das eventuelle Durchstoßen der Umhüllung.50
Der bewehrte Draht Die durch eine oberirdische Linie realisierte internationale Verbindung von Berlin über Frankfurt nach Verviers musste 1853 den Rhein bei Köln per Kabel kreuzen. Die auf Taue und Drahtseile spezialisierte Firma Felten & Guilleaume, Köln fertigte dafür das erste in Deutschland – wohl auch das erste auf dem europäischen Festland – verlegte Guttaperchakabel mit einer Bewehrung von zehn Litzen aus je sechs 2 bzw. 3 mm dicken Eisendrähten. Die Kabelseele bildeten drei mit je drei Lagen Guttapercha isolierte und miteinander verseilte 2,2 mm dicke Kupferrunddrähte, die gegenüber der Bewehrung mit zwei Lagen Jute abgepolstert waren. 36 mm stark war das sogenannte Telegraphentau.51 Abbildung 8: Flusskabel durch den Rhein bei Köln.
49 50 51
Ebd.: 41. Vgl. ebd.: 37f. Vgl. ebd: 56.
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Dies war der Anfang für eine schließlich weltweit agierende Firma auf dem Gebiet der Kabelfertigung. Große Städte wie Berlin, Hamburg oder München sahen in diesen Telegraphenseilen die einzige Möglichkeit, das Leitungsgewirr über den Dächern und Straßen in den Untergrund zu verbannen. Unter anderen folgten Frankreich, Großbritannien, die Schweiz und die Niederlande diesem Beispiel. Der 1864 von Franz Carl Guilleaume geäußerte Vorschlag, durch eine zu gründende Gesellschaft ganz Preußen mit unterirdischen Telegrafenlinien zu überziehen, die sie betreiben und vermieten sollte, wurde abgelehnt.52 Auch die Natur trug dazu bei, das neue Medium Kabel zu forcieren. Kunert beschreibt deutlich ihren Einfluss: Heftige Stürme, Rauhreif, Blitzwirkungen setzten oft ganze Linien längere Zeit außer Betrieb und schnitten wichtige Verkehrsmittelpunkte ab. Auch ohne solche außergewöhnlichen Naturereignisse verursachten die unvermeidlichen zahlreichen Stützpunkte (gemeint sind die Telegrafenstangen) erhebliche Stromverluste, besonders bei Tau, Nebel und Regenfällen. Selbst mutwillige und unabsichtliche Zerstörungen wichtiger Teile der Anlagen waren möglich und kamen wiederholt vor.53
Verwaltung und Benutzer forderten ein zuverlässiges Telegrafennetz und erhielten es allmählich in den 1850er und 1860er Jahren. Dennoch musste erst ein Visionär wie Heinrich Stephan kommen, dem 1875 die Leitung des preußischen Telegrafenwesens übertragen wurde, damit Deutschland ein modernes, betriebssicheres und nach strategischen Gesichtspunkten angelegtes unterirdisches Telegrafennetz erhielt. Es verband nach 58 Monaten Bauzeit 250 Städte. Nachdem 1889 Stuttgart und 1890 München – also Württemberg und Bayern – einbezogen wurden, konnte man auf ein ausgedehntes Netz mit etwa 40.000 km Leitungslänge auf rund 6.000 km langen Linien telegrafieren. Neben Felten & Guilleaume, Mülheim fertigte auch Siemens & Halske die Kabel für das große Guttaperchakabelnetz. In Einzellängen von 800 m geliefert, enthielten sie sieben oder vier isolierte Leitungsdrähte, von denen jeder zur Erhöhung seiner Biegefähigkeit und Bruchfestigkeit aus einer Litze von 7 Kupferdrähten von 0,66 mm (bei Flußkabeln 0,77 mm) Durchmesser bestand. Die Litzen waren mit einer doppelten Guttaperchahülle und zwei Lagen Chatterton Compound derart umpreßt, daß die erste Lage des letzteren Stoffes zwischen der Kupferlitze und der die-
52 53
Vgl. ebd.: 69. Ebd.: 70.
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se zunächst umgebenden Guttaperchaschicht, die zweite zwischen den beiden Guttaperchaschichten angebracht war. Durch eine Umspinnung mit geteertem Hanf wurden die auf diese Weise isolierten Drähte, deren jeder also fast 5 mm stark war, zu einem Kabel von 17 mm Durchmesser vereinigt, das sodann eine Bewehrung von 16 verzinkten Eisendrähten von 4 mm Durchmesser in der Weise erhielt, daß die Schutzdrähte auf 23-26 cm Kabellänge einen Umgang um das Kabel bildeten und völlig dicht aneinander schlossen. Die in Flussbetten zu verlegenden Kabelabschnitte wurden, um sie vor Beschädigung zu schützen, mit einer zweiten Bewehrung von 8,6 mm starkem verzinkten Eisendraht versehen.54
Abbildung 9: Netz der großen Telegraphenlinien bis 1891.
Diese Guttaperchakabel bildeten neben den vorhandenen oberirdischen Linien bis nach dem Ersten Weltkrieg das tragende Netz der telegrafischen Kommunikation, auch wenn diese ständig technischen Neuerungen angepasst wurde. Es war Vorbild für zahlreiche andere Staaten. In Frankreich baute man in den 1880er Jahren für Telegrafiezwecke ein umfangreiches Kabelnetz mit Litzenadern in doppelter GuttaperchaIsolierung zur Verbindung der wichtigsten Handels- und Verkehrsorte. In England und Österreich wurden ebenfalls ausgedehnte GuttaperchaKabelnetze ausgelegt.55 54 55
Haupt-Telegraphen-Amt Berlin 1925: 47. Vgl. Stille 1911: 1f.
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Abbildung 10: Siebenadriges Guttaperchakabel.
Das Kabel im Bleimantel Am 11. Dezember 1869 erhielt der Ingenieur William Alfred Marshall das Patent Nr. 3.587 für »Electric Telegraph Cables«: I employ one or more conducting wires on which I wind spirally two or more cords or strands at a time of cotton or other non-conducting fibrous substance, leaving intervals or spaces between each spiral, and then apply another layer composed of a similar number of cords or strands, which are laid in the contrary direction to the first layer.56
Diese zweifach gegenläufig mit Baumwolle umwickelten Drähte werden in Paraffin ausgekocht, in ein Bleirohr eingezogen, auf eine Trommel gewickelt und dann in ein mit heißem Paraffin gefülltes Gefäß gelegt. Am freien Ende des Kabels wird Unterdruck erzeugt, der das Paraffin am anderen Ende aus einem ebenfalls mit flüssigem Paraffin gefüllten Tank eindringen lässt, so dass schließlich alle Hohlräume ausgefüllt werden. Weniger technische als wirtschaftliche Überlegungen ließen neben der erfolgreichen Guttaperchaisolierung Konstrukteure und Er56
Marshall 1869: 1f.
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finder nach anderen Verfahren suchen. Es fehlte ein großtechnisches und wirtschaftliches Verfahren, große Längen eines bleiummantelten Faserstoffkabels herzustellen. Guttaperchadrähte eigneten sich wegen der zu hohen Temperatur des Bleis beim Umpressen nicht. Faserstoffdrähte waren nicht dauernd gegen eine feuchte und aggressive Umgebung zu schützen. Die ideale Kombination bestand aus faserstoffisolierten Adern und einem nahtlosen Bleiüberzug. Aus dieser Erkenntnis entwickelte die Firma Siemens & Halske das sogenannte Patent-Bleikabel, auf das sie am 4. März 1880 das deutsche Patent Nr. 12.178 erhielt.57 Die Tränkung der Faserstoffisolierung erfolgt im Vakuum mit Kautschuköl o. ä. bei Anwesenheit von Schwefelsäure zum Entzug der Feuchtigkeit. Der 1,76 mm starke Rundkupferleiter wird mit Jutegarn (Baumwolle, Flachs, Hanf) bis auf die Stärke von 4 mm umsponnen. Sieben dieser Adern werden miteinander verseilt, mit geteerter Jute umwickelt, dann mit einem 0,9 mm dicken Bleimantel umpresst und abschließend mit asphaltierter Jute oder zwei Lagen 1 mm starkem, lückendeckendem Bandeisen geschützt. Für die Bleipresse erhielt Siemens & Halske am 23. November 1882 das Patent Nr. 23.176. Sie »bietet den Vortheil geradliniger Einführung von sehr starken und wenig biegsamen Kabelseelen«.58 Sollte das Kabel zum Telefonieren mit Doppelleitungen gebraucht werden, so wird jeweils ein Paar verdrillt und dann mit anderen Paaren verseilt. Ähnliche Patente anderer Firmen belegen den Wettlauf, diese Art von Kabeln auf den Markt zu bringen.59 Wegen des ansteigenden Nachrichtenaufkommens brauchte man pro Kabel erheblich mehr Adern, besonders auf den kurzen Strecken in Gebäuden und zwischen diesen. Die Isolierhülle aus getränkter Baumwolle-, Hanf- oder Juteumspinnung war nicht nur erheblich preisgünstiger, sondern bei gleichem Isolationswert auch sehr viel dünner. Zudem war sie wenig hygroskopisch und beständiger gegenüber Umwelteinflüssen. Ab 1895 bis nach dem Ersten Weltkrieg entschied sich die Reichstelegrafenverwaltung dafür, solche Kabel für die Auslegung in Erde, Röhren und Flussbetten zu verwenden. Die Adernzahl betrug erst 4, 7 oder 14, später 28, 56 oder 112, noch später ein Vielfaches von 5 oder 10.60 Die weitere Entwicklung der Adernisolierung ging Richtung Papier, da man damit kapazitätsärmere Kabel herstellen und somit bessere Übertragungseigenschaften erzielen konnte. Aus den USA brachte 57 58 59 60
Vgl. Siemens 1880: 1f. Siemens 1882: 1. Vgl. Kunert 1940: 120ff. Vgl. Stille 1911: 77f.
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Anfang der 1890er Jahre Theodor Guilleaume ein sehr zähes, aus reinem Manilahanf hergestelltes Papier mit hoher Isolationsfähigkeit mit. Seine Firma entwickelte ein Kabel mit möglichst viel Luftraum um den Leitungsdraht. Gedacht war es primär für Fernsprechzwecke, war aber auch für die Telegrafie geeignet. Am 13. April 1892 wurde der Firma Felten & Guilleaume in Mülheim darauf das Patent Nr. 65.311 erteilt. »In einem einzigen Hergange werden mehrere Leitungsdrähte mit einem Isolierkörper so zusammengeführt, daß keine gegenseitige Berührung der Drähte möglich ist, und das Ganze um seine Längsachse verdreht, bis daß mehr oder weniger enge Schraubengänge entstehen, in deren Rinnen die Leitungsdrähte sicher geborgen liegen«, so wird der Vorteil des neuen Verfahrens beschrieben.61 Auf diese Weise konnten auch vier Drähte isoliert miteinander verdrillt werden, wenn man Isolierband von sternförmigem Querschnitt wählte. Im Zug der Vereinheitlichung der Kabeltypen wurde dieses Kabel nur etwa 10 Jahre gefertigt. Anders gefaltetes oder um den Leiter gewickeltes getränktes Papier bestimmte weiterhin den Kabelaufbau. Man blieb noch Jahrzehnte bei der erfolgreichen Papier-Luftraumisolierung, die geringe elektrische Verluste verursachte. Diese frühen Bleipapierkabel erlaubten innerstaatliche und grenzüberschreitende Telegrafie, jedoch kaum Telefonie. Hierfür wurden eigene Fernsprechkabel hauptsächlich für den Ortsverkehr entwickelt, zwar ebenfalls mit der bewährten Papierisolation und dem dichtenden Bleimantel, jedoch mit weit geringerem Durchmesser von 0,8–1,0 mm. Ab 1898 wurden sie wegen der beim Fernsprechen wesentlich höher verlangten Störsicherheit nur als Doppelleitungskabel hergestellt. Von der Erde als Rückleiter hatte man sich notgedrungen gelöst. Jeder Sprechkreis erhielt einen Hin- und einen Rückleiter, so dass man von einer Doppelader spricht und die Kabel auch nach ihnen einteilt, also nach 4, 7, 14, 28, 56, 112, 168 und 224-paarigen. Diese Doppeladern wurden verseilt und in konzentrischen Lagen angeordnet. Die mehr oder weniger dicke Kabelseele wurde mit Baumwollband umwickelt und mit einem Bleimantel umpresst. Die durch sieben teilbare Zahl der Doppeladern rührt noch von der Fabrikation der Telegrafenkabel, weil mit sieben Adern die günstigste Ausnutzung des Kabelquerschnitts erreicht wurde. Später wurde ein Vielfaches von 10 Doppeladern mit nur 0,6 mm Stärke lagenweise verseilt, was bis zu 1200 Doppeladern pro Kabel ermöglichte, das noch in ein 100 mm großes Kabelrohr eingezogen werden konnte.62 61 62
Felten & Guilleaume 1892: 1f. Vgl. Feyerabend 1927: 105ff.
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Abbildung 11: Kabel mit Luftraum-Isolierung.
Das Rheinlandkabel Das Guttaperchakabelnetz genügte ab der Jahrhundertwende spürbar nicht mehr den betrieblichen und technischen Anforderungen. Die modernere Telegrafentechnik und das wesentlich gestiegene Telegrammaufkommen nicht nur im innerstaatlichen Bereich, sondern auch im Durchgangsverkehr mit dem übrigen Europa erzwangen ein neues Netz. Fernsprechkabel konnten wegen hoher Dämpfung den Weitverkehr nicht bewältigen, der deshalb auf schweren Freileitungen mit 3–5 mm Bronze- oder Hartkupferdraht abgewickelt werden musste, die wegen des beschränkten Platzes entlang der Straßen nicht mehr erweitert werden konnten. Bis zu 1000 km weit konnte man auf ihnen telefonieren. Erst als im Winter 1909 große Teile des oberirdischen Liniennetzes durch Schneesturm zerstört wurden und der Westen des Reiches wochenlang fast vollständig von der Hauptstadt abgeschnitten war, entschloss sich 1911 die Reichstelegrafenverwaltung, den großen Fernverkehr zum Rheinland über ein Kabel abzuwickeln, das in der Fachwelt den Namen Rheinlandkabel erhielt. Vorbild waren die USA und England mit ihrem Fernkabelnetz.63 Zwei gravierende Neuerungen galt es zu berücksichtigen. So widmete sich der amerikanische Physiker Michael Pupin dem Problem der hohen Leitungskapazität auf Kabeln, die deren Reichweite auch bei 3 mm dicken Adern auf etwa 600 km begrenzte. Künstliche Induktivität als Kompensation war sein Rezept, das er sich 1900 patentieren und teuer bezahlen ließ. Das erste pupinisierte Kabel wurde 1901 zwischen Berlin und Potsdam in Betrieb genommen. August Ebeling entwickelte bei der Firma Siemens & Halske dieses Verfahren weiter und dehn63
Vgl. Anonymus 1925: 95.
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te es auf die unten beschriebene spezielle Verseilung von vier Doppeladern aus. Hierauf erhielt die Firma am 6. August 1908 das Patent Nr. 209.655 – das sogenannte Ebeling-Patent. Die nach Pupin benannten Spulen wurden in berechneten Abständen in jede Doppelader des Kabels eingeschaltet. Spulenkästen im Abstand von anfangs 20 km lagen wie Perlen entlang des Fernkabels. Etwa 1000 km Reichweite ähnlich wie auf Freileitungen konnte man mit diesem System praktisch erzielen. Abbildung 12: Krarup-Kabel.
Auch Carl Emil Krarup löste 1902 das Problem der elektrischen Kapazität durch eine Erhöhung der Induktivität entlang der Kabelader. Mit einem 0,2–0,3 mm Eisendraht umwickelte Kupferleiter von 1,2 mm Dicke waren sein Patent. Der angestrebte Effekt war jedoch nur mit höherem Material- und Fertigungsaufwand sowie durch ein dickeres und schwereres Kabel zu erreichen, was jedoch für ein Seekabel unerheblich war. Auf die zweite Neuerung erhielten William Dieselhorst und Arthur William Martin am 18. Juni 1903 das Patent »Ein Verfahren zur Herstellung von Vielfachkabeln für Schwachstrom« – harmlos klingend, doch überaus folgenreich und kostenmindernd. Ihre Erfindung schafft einen sogennanten Phantomkreis aus jeweils einem Doppeladerpaar, d. h. aus zwei physikalischen Sprechkreisen werden insgesamt drei gewonnen. Da Kabeladern, weil sie eng beieinander liegen, sich gegenseitig beeinflussen und damit störendes Nebensprechen untereinander er-
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zeugen, müssen sie als zusammengehöriges Paar jeweils verseilt werden, wobei sie einen sogenannten DM-Vierer bilden. Beim Phantomkreis liegt nun die entscheidende Idee darin, den Drall, d. h. die Schlaglänge der beiden zu verkoppelnden Doppeladern unterschiedlich zu deren Schlag zu machen, womit sich die schädliche Induktion aufhebt: »So könnte man den Drall abwechselnd vergrößern und verkleinern. Wesentlich ist es nur, daß bei zwei aufeinander folgenden Verseilungen der Drall nicht dieselbe Größe hat.«64 Abbildung 13: Fernkabel mit sieben DM-Vierern.
Bei Kriegsbeginn 1914 war das Teilstück bis Hannover fertig. 24 Doppeladern mit 3 mm und 28 Doppeladern mit 2 mm Kupferleitern enthielt der erste Abschnitt des Rheinlandkabels, also 52 physikalische Sprechkreise in DM-Verseilung, über die man sich praktisch auf 800 km verständigen konnte. Um jeden Kupferleiter war in Längsrichtung ein überlappender Papierstreifen gelegt, der durch einen spiralig herumgewickelten Faden zusammengehalten wurde und eine ebensolche Einkerbung erzeugte. Dies bewirkte neben der hohen Luftisolierung eine geringe Kapazität und eine Zentrierung der Ader. Sie wurde wegen ihres Aussehens Ballonader genannt.65 Erst 1920 konnte es – nun mit 71 Aderpaaren ausgestattet – weiter gebaut und 1921 dem Betrieb übergeben werden. Den Kern bildeten eine Doppelader aus Aluminium und sechs aus Kupfer von je 1,5 mm Stärke, die weiteren Lagen mit 2 bzw. 3 mm starken Adern aus Kup64 65
Dieselhorst u. a. 1903: 1. Vgl. Dohmen 1954: 11f.
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fer und Aluminium. Dieses Kabelstück bot also 71 Aderpaare mit insgesamt 98 Stromkreisen für Telefonie und Telegrafie.66 Magdeburg, Braunschweig, Hannover, Minden, Bielefeld, Dortmund, Essen, Düsseldorf, Barmen-Elberfeld und Köln sowie etliche weitere Städte waren damit zukunftsicher mit Berlin und untereinander verbunden, 411 dazwischen geschaltete Pupinspulenkästen im Abstand von rund 1700 m sorgten dafür. Auf die gesamte Strecke war das unbewehrte, mit Bleimantel von 82 bzw. 72 mm Durchmesser versehene Kabel durch einen zweizügigen Zementkanal geschützt.67 Der Vorteil der großen Reichweite wurde jedoch mit einem ernst zu nehmenden Nachteil erkauft: Die Übertragungsfrequenz auf der Zweidrahtleitung reichte von 300 bis nur 2.000 Hertz, auf der Viererleitung bis 2.200 Hertz, was eine unbefriedigende Sprachverständlichkeit zur Folge hatte. Eine geringere Spuleninduktivität sollte die Werte bei weiteren Kabeln auf 2.400 Hertz anheben.68
Das Normalkabel Noch eine dritte Neuerung beeinflusste die Entwicklung erheblich. Robert von Lieben hatte am 4. März 1906 das Patent Nr. 179.807 auf die Verstärkerröhre erhalten und entwickelte 1911 einen Telefonverstärker für die Praxis. Jetzt war es möglich geworden, auf dünnen Adern fast beliebig große Entfernungen zu überbrücken. In den USA hatte man die Ost- mit der Westküste schon 1915 über eine Entfernung von 5.400 km verbunden. Die Deutsche Reichspost plante deshalb für die erste Hälfte der 1920er Jahre ein umfassendes maschenförmiges Kabelnetz, das alle technischen Neuerungen und betrieblichen Anforderungen sowohl des Telegrafen- wie des Fernsprechverkehrs befriedigen konnte. Rund 6.000 km Fernkabel errechnete man, auf denen im Abstand von 75 km für 0,9 mm oder von 150 km für 1,4 mm Aderdurchmesser Verstärker eingebaut werden sollten.69 Um die großen Mengen an Kabel vieler Hersteller einheitlich verlegen zu können, wurde das 98-paarige Normalkabel konzipiert:
66 67 68 69
Vgl. ebd.: 33f. Vgl. Fürst 1923: 216. Vgl. Dohmen 1954: 134f. Vgl. Anonymus 1925: 96f.
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Im Kern ein Vierer mit 1,4 mm starken Leitern und Bleimantel, erste Lage mit 7 Vierern 1,4 mm stark, zweite Lage mit 13 Vierern 1,4 mm stark und dritte Lage mit 28 Vierern 0,9 mm Drahtstärke, insgesamt 98 Doppelleitungen in DM-Verseilung.70
Abbildung 14: DM-Verseilung.
Dieser Form A genannte Kabeltyp wurde noch durch die Normalkabeltypen Form B mit 166 und Form C mit 52 Doppeladern in gleicher Bauart ergänzt.71 Die bauliche Verwirklichung übernahm die 1921 gegründete Deutsche Fernkabelgesellschaft m. b. H.72 Ende 1925 waren rund 5.000 km Kabel mit 724.000 Sprechkreisen fertiggestellt – nahezu so viele wie 1921 als oberirdische Leitungen geführt waren.73 Die Ende des Jahrzehnts entwickelten neueren Formen des Normalkabels unterschieden sich neben der Doppeladerzahl durch den Kern, der in einem Bleimantel zwei metallisch abgeschirmte Paare statt eines Vierers enthielt, die als Musikleitungen bestimmt waren. Der dickere Kern ermöglichte höherpaarige Kabel mit 130 oder 196 Doppeladern.74 Die anderen verkehrsreichen Länder Europas sowie die USA gingen den gleichen Weg, um ihre Kommunikationsnetze leistungsfähig und wirtschaftlich zu betreiben.
70 71 72 73 74
Dohmen 1954: 67. Vgl. ebd.: 68. Vgl. ebd.: 134f. Vgl. Anonymus 1925: 97f. Vgl. Dohmen 1954: 47ff.
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Abbildung 15: Normal-Fernkabel 98-paarig.
Das Innenkabel Alle Kabel und alle Blankdrahtleitungen – so einfach sie auch ausgeführt sein mögen – können wegen ihres Gewichts, ihrer Größe und ihrer Starrheit nicht innerhalb von Gebäuden installiert werden. Sie beginnen und enden immer in einem Kellerraum oder einem Dachgestänge des schützenden Gebäudes und führen zu Kellern oder Isolatoren an der Außenseite der angeschlossenen Häuser. Die unumgänglichen Verknüpfungen einerseits zwischen oberirdischer oder unterirdischer Leitung mit den Schalt-, Fernsprech-, Telegrafen- und Verstärkereinrichtungen sowie andererseits mit den Endapparaten müssen durch leicht bewegliche, einfach zu handhabende und kostengünstige Leitungen hergestellt werden. Wie anfangs geschildert, machte man schon um 1840 Versuche, Drähte mit Hanf- oder Baumwollgarn zu umspinnen und mit harzigen Substanzen zu isolieren. Diese Art von Installationsdraht hielt sich als sogenannter Wachsdraht für die Verlegung in Wohnungen noch bis in die Zeit der ersten Fernsprechapparate. Zur sicheren Isolierung gegen die Wände wurde die Zimmerleitung später bis in die 1920er Jahr an Porzellanröllchen befestigt. Schon in den 1850er Jahren wurden ein- bis vieradrige Guttaperchakabel mit Bleimantel in relativ kurzen Längen gefertigt. Die weitere Entwicklung der Innenkabel war angelehnt an die jeweiligen Konstruktionen der Außenkabel. Eine einheitliche Form konnte wegen der unterschiedlichen örtlichen und betrieblichen Verhältnisse nicht gewählt werden. Um etwa 1900 wurde für Zimmerleitungen in Telegrafenbe-
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triebsstellen sowie zur Einführung von Fernsprechverbindungsleitungen ein Bleirohrkabel verwendet, dessen 1 mm starker Leiter mit einer Lage Papier, darüber mit einer Baumwollbespinnung, nochmals mit Papier und schließlich mit einer Zwirnumklöppelung bedeckt war. Beim vieradrigen Kabel waren vier solcher Adern gemeinsam verseilt, mit einer Juteumspinnung umgeben und mit Compoundmasse getränkt, ehe es mit einem 1 mm starken Bleimantel umpresst wurde. Eine ähnliche, etwas leichtere Form wurde zur Einführung oberirdischer FernsprechAnschlussleitungen verwendet. Jede der 0,8 mm starken Adern wurde mit zwei Lagen Papier und zwei entgegengesetzt gerichteten Baumwollumspinnungen versehen und mit einer harzigen Masse getränkt. Ein 0,6 mm starker Bleimantel schützte das elliptische Kabel, das mit Schellen an der Wand befestigt wurde.75
Das Breitband-Kabel Als 1920 – gleichzeitig mit den ersten Versuchen in den USA – die Deutsche Reichspost von Königswusterhausen aus drahtlos »wohlgelungene Darbietungen zur Unterhaltung« ausstrahlte und ab 1923 öffentlicher Rundfunk betrieben wurde, brauchte man zwischen Sendern und den sogenannten Besprechungsstellen, d. h. den Funkstudios, Verbindungsleitungen mit höherer Frequenzbandbreite für die Musikübertragung.76 Nach anfänglicher Nutzung geeigneter oberirdischer Leitungen wurden schnell leicht pupinisierte Kernviereradern der Fernkabel dazu verwendet. Dies war der Anstoß, neue Fernkabel mit einem Kern aus zwei metallisch abgeschirmten Musikleitungen mit 1,4 mm Drahtdurchmesser in einem eigenen Bleimantel zu bauen,77 der ab 1930 aus Gründen der Gewichts- und Kostenersparnis durch metallisiertes Papier und einen Kupferbandwickel ersetzt wurde.78 Eine weitere Ausdehnung des Frequenzbands bis 4.000 Hertz forderten die ersten Fernsehversuche, wodurch papierisolierte Kabeladern wegen ihrer mit steigender Frequenz höher werdenden Dämpfung nicht mehr gebraucht werden konnten. Neue Isolationswerkstoffe mit niedrigen dielektrischen Verlusten, die wenig hygroskopisch und dazu elastisch sind, wurden entwickelt und 75 76 77 78
Vgl. Stille 1911: 123f. Feyerabend u. a. 1929, 2: 333f. Vgl. Dohmen 1954: 136. Vgl. ebd.: 143f.
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dann Anfang der 1930er Jahre patentiert: Polystyrol, daraus Styroflex und Trolitul oder Frequenta aus gebranntem Steatit.79 Abbildung 16: Symmetrisches Breitbandkabel im innenliegenden Bleimantel.
Abbildung 17: Deutsches Fernkabelnetz 1927.
79
Vgl. ebd.: 236ff.
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Doch das ein wirklich breites Übertragungsband bietende Kabel war ein ganz neuer Typ – oder auch ein ganz alter? Nicht mehr das symmetrische Adernpaar, sondern ein von einem Kupferrohr isoliert umhüllter Innenleiter – das Koaxialkabel – sollte das Übertragungsmedium der zukünftigen Jahrzehnte sein. Neu? Schon am 15. September 1855 hatte Werner Siemens das englische Patent Nr. 2.089 auf eine koaxiale Leitung erhalten, die er allerdings nur für schmalbandige Telegrafieübertragung nutzen wollte. Das neu entwickelte Koaxialkabel für die Fernsehleitung bestand aus einem 5 mm dicken Kupferdraht, einer ihn konzentrisch umgebenden 0,5 mm dicken Kupferbandhülle und einer dazwischen liegenden 1,4 mm dicken Styroflex-Wendel. Das diese Konstruktion schützende Patent Nr. 650.837 vom 16. November 1934 für Felten Guilleaume beschloss eine etwa 125-jährige Entwicklung der drahtgebunden Kommunikation sowie gleichzeitig einen bedeutenden geschichtlichen Wandel und eröffnete ein neues Zeitalter des Nachrichten übermittelnden Drahts. 80
80
Vgl. ebd.: 242ff.
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Literatur Anonymus 1925: Das deutsche Telegraphen-, Fernsprech- und Funkwesen 1899–1924. Berlin: Reichsdruckerei. Bibliographisches Institut (Hrsg.) 1890: Meyers Konversations-Lexikon: eine Encyklopädie des allgemeinen Wissens. 4. Aufl., Bd. 7: Gehirn– Hainichen. Leipzig u. a.: Bibliographisches Institut. Bibliographisches Institut (Hrsg.) 1904: Meyers Großes KonversationsLexikon: ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. 6. Aufl., Bd. 8: Glashütte bis Hautflügler. Leipzig u. a.: Bibliographisches Institut. Chatterton, John/Smith, Willoughby 1859: Insulating Telegraphic Conductors. Patentschrift GB 2.809 vom 1. Juni 1860. Dieselhorst, William u. a. 1903: Verfahren zur Herstellung von Vielfachkabeln für Schwachstrom. Patentschrift DE 153.162 A vom 5. Juni 1904. Dohmen, Karl 1954: Das Deutsche Fernkabel bis 1945. Berlin: Deutsche Fernkabel-Gesellschaft. Felten & Guilleaume 1892: Verfahren zur Herstellung elektrischer Leitungskabel mit Lufträumen. Patentschrift DE 65.311 A vom 4. November 1892. Feyerabend, Ernst 1927: Fünfzig Jahre Fernsprecher in Deutschland, Berlin: Reichspostministerium Berlin. Feyerabend, Ernst u. a. (Hrsg.) 1929: Handwörterbuch des elektrischen Fernmeldewesens. Bde. 1 (Deutschland) und 2 (Rundfunk). Berlin: Julius Springer. Feyerabend, Ernst 1933: Der Telegraph von Gauß und Weber. Berlin: Reichspostministerium Berlin. Finlayson, John 1843: An Account Of Some Remarkable Applications Of The Electric Fluid To The Useful Arts, By Mr. Alexander Bain; With A Vindication Of His Claim To Be The First Inventor Of The Electro-Magnetic Printing Telegraph And Also Of The Electro-Magnetic Clock. London: Campman and Hall. Fürst, Artur 1923: Das Weltreich der Technik. Berlin: Ullstein. Gööck, Roland 1988: Die großen Erfindungen – Nachrichtentechnik, Elekronik. Künzelsau u. a.: Sigloch. Haupt-Telegraphen-Amt Berlin (Hrsg.) 1925: Fünfundsiebzig Jahre Berliner Haupt-Telegraphen-Amt 1850–1925. Berlin: Ernst Litfass’ Erben. Knebel, Kurt 1959: Fernsprechkabel für den Weit- und Bezirksverkehr. Goslar: Erich Herzog. Kunert, Artur 1940: Telegraphen-Landkabel einschließlich der Flußkabel. Berlin: Mittler & Sohn.
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Marshall, William Alfred 1869: Electric Telegraph Cables. Patentschrift GB 3.587 vom 3. Juni 1870. Roscher, Max 1911: Die Kabel des Weltverkehrs. Berlin: Puttkammer & Mühlbrecht. Schellen, Heinrich 1861: Der elektromagnetische Telegraph. Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn. Siemens, Werner von 1850: Improvements in Electric Telegraphs. Patentschrift GB 13.062 vom 23. Oktober 1850. Siemens, Werner von u. a. 1880: Neuerungen in dem Verfahren zur Herstellung isolirter Leitungen. Patentschrift DE 12.178 A vom 19. Januar 1881. Siemens, Werner von u. a. 1882: Hydraulische Presse zum Umziehen elektrischer Leitungen mit Weichmetall. Patentschrift DE 23.176 A vom 11. August 1883. Siemens, Werner von 1956: Lebenserinnerungen. München: Prestel Verlag. Stille, Carl 1911: Telegraphen- und Fernsprechkabelanlagen. Braunschweig: Friedrich Vieweg und Sohn. Veredarius, O. (Ferdinand Hennicke) 1885: Das Buch von der Weltpost. Berlin: Verlag von Herm. J. Meidinger. Zetsche, Karl Eduard 1877: Geschichte der elektrischen Telegraphie. Berlin: Julius Springer.
Abbildungen Abb. 1: Mit Guttapercha isolierte Ader. In: Kunert, Artur 1940: Telegraphenlandkabel einschließlich der Flußkabel. Berlin: Mittler & Sohn. S. 11. Abb. 2: Modell der Guttaperchapresse. In: Siemens Corporate Archives, München. Abb. 3: Prinzip der Guttaperchapresse. In: Ebd. Abb. 4: Guttaperchapresse mit Doppelzylinder. In: Siemens, Werner von 1850: Improvements in Electric Telegraphs. Patentschrift GB 13.062 vom 23. Oktober 1850. Abb. 5: Unterirdisches Liniennetz 1850. In: Kunert, Artur 1940: Telegraphen-Landkabel einschließlich der Flußkabel. Berlin: Mittler & Sohn. S. 19. Abb. 6: Guttaperchaader mit Bleimantel. In: Ebd. S. 26. Abb. 7: Deutsche Doppelglocke nach Chauvin. In: Veredarius, O. (Ferdinand Hennicke) 1885: Das Buch von der Weltpost. Berlin: Verlag von Herm. J. Meidinger. S. 256.
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Abb. 8: Flusskabel durch den Rhein bei Köln. In: Kunert, Artur 1940: Telegraphen-Landkabel einschließlich der Flußkabel. Berlin: Mittler & Sohn. S. 57. Abb. 9: Netz der großenTelegraphenlinien bis 1891. In: Ebd. S. 86. Abb. 10: Siebenadriges Guttaperchakabel. In: Sammlung Schmidt, Konstanz. Foto: Tobias Baader. Abb. 11: Kabel mit Luftraum-Isolierung. In: Kunert, Artur 1940: Telegraphen-Landkabel einschließlich der Flußkabel. Berlin: Mittler & Sohn. S. 125. Abb. 12: Krarup-Kabel. In: Sammlung Schmidt, Konstanz. Foto: Tobias Baader. Abb. 13: Fernkabel mit Sieben DM-Vierern. In: Sammlung Schmidt, Konstanz.Foto: Tobias Baader. Abb. 14: DM-Verseilung. In: Dieselhorst, William u.a. 1903: Verfahren zur Herstellung von Vielfachkabeln für Schwachstrom. Patentschrift DE 153.162 A vom 5. Juni 1904. Abb. 15: Normal-Fernkabel 98-paarig. In: Knebel, Kurt 1959: Fernsprechkabel für den Weit- und Bezirksverkehr. Goslar: Erich Herzog. S. 129. Abb. 16: Symmetrisches Breitbandkabel im innenliegenden Bleimantel. In: Dohmen, Karl 1954: Das Deutsche Fernkabel bis 1945. Berlin: Deutsche Fernkabel-Gesellschaft. S. 407. Abb. 17: Deutsches Fernkabelnetz 1927. In: Feyerabend, Ernst 1927: Fünfzig Jahre Fernsprecher in Deutschland. Berlin: Reichspostministerium Berlin. S. 120.
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Steinheils Waage, Bains Schieber, Hipps Taster. Zur Genese des Schalters bei Elektrouhren 1840–1860 Elektrische Geräte entstehen um die Mitte des 19. Jahrhunderts nicht im luftleeren Raum abstrakter Ingenieursträume, sondern sind auf vielfältige Weise mit ihrer Zeit verknüpft. Schaut man sich beispielsweise das Design der elektrischen Schalter an, so erinnern diese Drehknöpfe vielmehr an Gashähne als an heutige Kippschalter. Dieser sehr allgemeine Befund der historischen Kulturalität von Technik(geschichte) soll im Folgenden am Beispiel der elektrischen Uhr und noch genauer der dabei verwendeten elektrischen Schalter näher untersucht werden. Die Erfinder von elektrischen Uhren ließen sich von erprobter Technik leiten, um das neuartige Problem eines zuverlässigen Kontaktschlusses zu lösen, das die Uhrenwelt bis zum Einsatz von Halbleiterdioden über ein Jahrhundert beschäftigen sollte.1 Wieso sahen die ersten Schalter so aus, wie sie waren, und nicht anders? Und: Wie erklären Erfinder die neuartigen Bauelemente bei Uhren? Als eine der ersten Anwendungen der Telegraphie wurden um 1840 die elektrischen Uhren entwickelt. Dabei handelt es sich zum einen um im engeren Sinne telegraphische Uhren, das heißt um Zeitübertragung an einen entfernten Ort, bei der verschiedene Zeitanzeigen miteinander synchronisiert wurden. Darüber hinaus entstanden aber auch erste Uhren, die nicht mehr mechanisch, sei es durch eine Feder, sei es durch Gewichte, aufgezogen werden mussten, sondern die durch eine Batterie in Gang gehalten wurden. Mit der eigentlichen Telegraphie haben diese elektrisch angetriebenen Uhren allerdings kaum noch etwas zu tun. An der Idee, die neue Elektrotechnik für die Übermittlung von Zeitsignalen und Uhren zu nutzen, arbeiteten Carl August Steinheil in München und Alexander Bain in London praktisch parallel und offensichtlich ohne gegenseitiges Wissen, so dass sie auch beide ihre Ideen patentieren ließen. Auch der Streit von Alexander Bain mit einem anderen Pionier im Bereich Telegraphie, Charles Wheatstone, um die Ehre und natürlich um die finanziellen Interessen an der Erfindung der elektrischen Uhr zeugt davon, dass die Idee einer elektrischen Uhr in 1
Vgl. Weaver 1982: 16.
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ganz Europa diskutiert wurde. Außer über Alexander Bain, über den vor allem anlässlich seines hundertsten Todestages 1977 eine ganze Reihe von Aufsätzen erschienen sind, ist über frühe Versuche mit elektrischen Uhren wenig geforscht worden. Bereits in dem 1850 erschienenen Werk über die Telegraphie von Heinrich Schellen erwähnt der Autor neben Steinheil, Bain und Wheatstone auch P. Garnier in Paris, Weare in England, Gläsener in Lüttich, Fardely in Mannheim sowie E. Stöhrer und W. Scholle in Leipzig. Über die meisten von ihnen ist bis auf den Namen nichts bekannt. Abbildung 1: Elektrouhr, Alexander Bain.
Die Folgenlosigkeit der Pioniere erklärt sich aus den unterschätzten Problemen mit elektrischen Kontakten und Leitungen, die dazu führten, dass viele dieser Uhren sehr unzuverlässig waren.2 Auf der legendären Londoner Weltausstellung 1851 erlitt das Ansehen der Elektrouhren einen empfindlichen Rückschlag: Die zur Zeitanzeige vorgesehenen mechanischen Uhren mit patentiertem elektrischem Aufzug von Charles Shepherd versagten kläglich. Erst im Folgejahr konnte Shepherd mit sei2
Vgl. hierzu den Beitrag in diesem Band von Hans-Dieter Schmidt.
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ner berühmten und bis heute in Betrieb befindlichen Nebenuhr als Zeitanzeige am Tor der Sternwarte von Greenwich die Zukunftsträchtigkeit der Elektrizität für Uhrenanlagen unter Beweis stellen.3 Im Crystal Palace jedoch dienten nochmals herkömmliche mechanische Uhren als Symbol der neuen Zeit. Ihr Erbauer Lord Grimthorpe, der mit dem Entwurf für die Uhr des Big Ben Berühmtheit erlangte, urteilt in seinem Buch »Clocks, Watches and Bells« vernichtend über elektrische Uhren: These clocks never answered in any practical sense; nor would anything but the strongest evidence, independent of the inventor, convince me that any independent pendulum directly maintained by electricity succeed in keeping good time for any considerable period.4
Diese Einstellung gegen Elektrouhren prägte die Wahrnehmung der Zeitgenossen für die nächsten Jahre. Erst in den 1860er Jahren sollte Matthäus Hipp in der Schweiz die ersten zuverlässigen elektrischen Uhren und Uhrenanlagen bauen. Doch die Skepsis gegenüber der neuen Technik bestand bei vielen Verantwortlichen, insbesondere bei der Errichtung von Uhrenanlagen für ganze Städte, noch für Jahrzehnte weiter. Lieber setzte man, wie in Paris, auf tradierte Technik und kontrollierte den Uhrenstand auf bewährte Weise mit Luftdruck. Auf breiter Front konnte sich die Elektrotechnik bei Uhren und Uhrenanlagen erst Ende des 19. Jahrhunderts durchsetzen. Funktionssichere Elektrouhren für den Massenmarkt standen noch weit später, erst Mitte des 20. Jahrhunderts, zur Verfügung.
Die Waage Am 2. Oktober 1839 erhielt Carl August Steinheil ein königlich-bayrisches Privileg auf »galvanische Uhren«.5 Veröffentlicht wurde dieses Patent jedoch erst vier Jahre später, so dass es andere Pioniere der Zeitverteilung wie Alexander Bain, die um 1840 ähnliche Ideen äußerten, nicht gekannt haben können. Dieses Patent gilt als die erste Funktionsbeschreibung einer Uhrenanlage zur Synchronisation verschiedener,
3 4 5
Vgl. Aked 1976: 10. Zitiert nach ebd. Steinheil 1843.
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räumlich entfernter Zeitanzeigen. Sie bestand – wie Steinheil in seinem Patent schreibt – aus vier Elementen: 1.) der Leitungskette, 2.) der Daniell’schen Batterie, 3.) dem Stromwechsler (Gyrotrop) und der Hauptuhr, 4.) den Zeigerwerken, welche die Hauptuhr zu imitiren haben.6
Bei den ersten beiden Punkten handelt es sich um Stromkabel (1) und Stromquelle, eine galvanische Zink-Kupfer-Batterie, die vom englischen Chemiker John Frederic Daniell erfunden wurde und in vielen frühen telegraphischen Anlagen Verwendung fand (2). Die beiden letzten Punkte beziehen sich auf die eigentliche Uhrenanlage, eine Hauptuhr (3) und mehrere Nebenuhren (4). Abbildung 2: Der Commutator oder Impulsgeber bei Steinheil, 1839.
Als Hauptuhr verwendete Steinheil eine präzise mechanische Pendeluhr mit einer täglichen Abweichung von wenigen Sekunden. Anders als bei späteren Hauptuhren üblich, griff Steinheil nicht in die Konstruktion der mechanischen Pendeluhren ein. Der Schaltmechanismus für die Nebenuhren war vollständig von der Uhr getrennt. Er befand sich in einem Kästchen unterhalb des Pendels. Das Kästchen bestand aus zwei Teilen, einem Sockel und einem dünnen Deckplättchen, das auf einer Schneide beweglich gelagert war. Auf der Oberseite war eine Stahlfeder angebracht. Bei jedem Pendelschwung wurde die Feder entweder nach links oder rechts mitgenommen, wodurch das Deckplättchen ebenfalls in die gleiche Richtung umkippte. Die Kontakte bestanden aus Nägeln auf der linken und rechten Unterseite der Deckplatte, die in kleine Näpfchen mit Quecksilber auf dem Sockel eintaucht. Die Kontakte waren so 6
Steinheil 1843: Spalte 130.
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verschaltet, dass, egal in welche Richtung das Pendel sich bewegte und damit auch das Deckplättchen kippte, die Richtung des Stromflusses gleichblieb. Folgerichtig bezeichnete Steinheil den Schaltmechanismus als Commutator, Stromwechsler oder Gyrotrop. Wie fast allen frühen Uhrenanlagen war auch Steinheils Haupt-/ Nebenuhrsystem kein wirtschaftlicher Erfolg beschieden. Heute sind nur noch zwei seiner Nebenuhren im Deutschen Museum vorhanden.7 Einen Commutator scheint es nicht mehr zu geben. Steinheil kannte den Stromwechsler aus seiner Arbeit am Telegraphen, hatten doch Carl Fr. Gauß und Wilhelm Weber in ihrem Telegraphen von 1833 bereits einen Gyrotrop verwendet. Zum Zeitpunkt der Patenterteilung war das Gyrotrop also längst bekannt, aber in seiner Funktion noch nicht explizit beschrieben worden. Deshalb erklärt Steinheil in einem kurzen Exkurs die Funktionen des Gyrotrops: »Seine Einrichtung, obschon häufig ausgeführt, ist nirgends öffentlich beschrieben. Ich muß daher die Anordnung hier durch einige Linien anschaulich machen.«8 In seiner Privilegienbeschreibung stellt Steinheil also nicht nur seine eigene Leistung dar, sondern benennt auch den Anteil anderer mit Namen. Sensibilisiert durch die Möglichkeit, die geistige Leistung unter Rechtsschutz stellen zu lassen, meldet er quasi nachträglich für Gauß ein Patent an. Diese Beschreibung ist über die faktische Nennung der Verdienste von Gauß hinaus aufschlussreich in seiner Wortwahl. Steinheil veröffentlicht in seinem Patent keine detaillierte Konstruktionszeichnung zum Bau eines Stromwechslers, sondern er beschreibt, auch mit den beigefügten Abbildungen, lediglich ein Funktionsprinzip. Darauf hat Christian Kassung in seinen Ausführungen zu Steinheil bereits hingewiesen: Es handelt sich hierbei weniger um einen bestimmten Apparat denn um ein Konzept, insofern die elektrischen »Zeigerwerke, welche die Hauptuhr zu imitieren haben« eher qualitativ ausgeführt sind und auch das taktgebende Pendel selbst nur als Leerstelle auftritt.9
Steinheil hat mit seinem Patent und seinen Versuchen zur Zeitübertragung folglich weniger die Entwicklung einer bestimmten störungssicheren, alltagstauglichen Uhrenanlage im Sinn gehabt als den Beweis, dass die Übertragung von Zeit an verschiedene, räumlich entfernte Uhren im Prinzip möglich ist. Die Schwierigkeiten, die bei der konkreten techni7 8 9
Deutsches Museum, Inv. 14161 und 14162. Steinheil 1843: S. 134. Kassung 2007: 327.
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schen Umsetzung entstehen, werden ausgeklammert – wie zwangsläufig bei einer Patentschrift, mit der die nachträgliche Kopie eines Apparates zumindest erschwert werden soll. Obwohl die technische Realisierung explizit ausgeklammert wird, entstammen die Ideen direkt aus Steinheils Uhrmacherpraxis. Die Form des Schalters ist eine Referenz an die Technologie der Waage, wie bereits in der Bezeichnung des beweglichen Teils als Waagebalken deutlich wird. Das buchstäbliche Zünglein ist hierbei die Feder, die dafür sorgt, dass beim Pendelschwung der Waagbalken von der einen Seite auf die andere umkippt. Dass Steinheil seinen Kippschalter als Waage konzipierte, beruht wohl auf seinen eigenen Forschungen zur Referenzgewichtsmessung. Steinheil war nicht nur Pionier der Telegraphie und elektrischer Uhren, sondern einer der wichtigsten Konstrukteure von Präzisionswaagen. In den 1830er und 1840er Jahren entwarf er Waagen nach unterschiedlichsten Prinzipien.10 Der Schalter war folglich keine Kopfgeburt, sondern stark an der eigenen Erfahrung orientiert. Steinheil konnte hier sein experimentelles Wissen aus dem Waagenbau einbringen, um eine möglichst geringe Beeinflussung des Pendels zu erreichen. So ist es durchaus ernst zu nehmen, wenn Steinheil behauptet, der Schwerpunkt des Commutators solle so gelegt sein, dass der Balken schon bei leisester Berührung durch das Pendel umfalle. Laut seinen Angaben könne der »Gang (Umschlag) so leicht gemacht werden […], daß er nicht 1/100 der Kraft beträgt, welche der Anker dem Pendel bei jeder Schwingung mitteilt.«11 Die Wahl eines Waagbalkens als Schaltelement ist aber auch in Hinblick auf die Geschichte der Räderuhr insgesamt bezeichnend. Denn die sogenannte Balkenwaag regulierte vor dem Pendel die ersten Räderuhren. Bei der Balkenwaag handelt es sich um einen in der Horizontalen um die Mittelachse schwingenden Balken mit Einkerbungen für Ausgleichsgewichte zum Regulieren der Uhr. Indem Steinheil das archaische Bild der Balkenwaag als Urform der Uhr assoziierte, übersetzte er die Funktion des neuartigen Bauelements in eine Sprache, die den Zeitgenossen vertraut war. Selbst wer von Elektrotechnik keine Ahnung hatte, verstand intuitiv, dass die Waage die Nebenuhren regulierte. Vor diesem Hintergrund ist die Gestaltung des Schalters als Waage auch ein unbewusst ironischer Kommentar auf die Folgenlosigkeit 10
11
Neben Kugelwaagen, Balkenwaagen und Zylinderwaagen nach dem Prinzip der Neigungswaage gehörte dazu auch eine Getreidewaage nach dem Prinzip der Laufgewichtswaage. Vgl. Jenemann 1994. Zitiert nach Schindler 1959: 12.
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der Steinheil’schen Konstruktion. Wie die Balkenwaag wegen der starken Störung des Gleichlaufs in der Uhr hoffnungslos veraltet war, als das Pendel mit Ankerhemmung zur Verfügung stand, so musste auch der Steinheil’sche Commutator den Pendelschwung massiv beeinflusst haben. Praxistauglich war Steinheils Schalter also keinesfalls.
Der Schieber Obwohl Steinheil erstmals mithilfe von Elektrizität Zeit von einem Ort zum anderen übertragen hat, gilt Alexander Bain als eigentlicher Erfinder der Elektrouhr. Bains Patent von 1841, das er zusammen mit dem Uhrmacher John Barwise erhielt, benennt nicht nur eine Art der Nutzung von Elektrizität im Uhrenbau wie Steinheil, sondern erläutert konkrete Möglichkeiten zum Antrieb von Einzeluhren und Schlagwerken, zur Konstruktion von Uhrenanlagen aus Haupt- und Nebenuhren sowie der Übertragung von Signalen an Uhren. Es nimmt damit die meisten späteren Entwicklungen zur Elektrouhr im Keim vorweg. Bain listet aber nicht nur die einzelnen Möglichkeiten für den Einsatz von Elektrizität beim Uhrenbau auf, sondern er beschließt den Patenttext mit der Vision einer Uhrenanlage, die von der Sternwarte Greenwich ausgehend landesweit die Zeitanzeigen und Signale miteinander synchronisiert, indem sie die zuvor beschriebenen Möglichkeiten miteinander kombiniert. Im Prinzip präsentiert er damit einen Lösungsvorschlag für das Problem der Taktung des Alltags, das Mitte des 19. Jahrhunderts eine der dringlichsten Fragen der sich entwickelnden industriellen Gesellschaft war. Und in der Tat wurde dieses Problem mithilfe der elektrischen Uhren und Uhrenanlagen sowie der Schaffung von überregionalen Einheitszeiten gegen Ende des 19. Jahrhunderts technisch gelöst: Suppose the regulation clock (Figure 1, Sheet A,) to mark Greenwich time, the pendulum vibrating seconds, the wires S, T (Figure 3, Sheet A,) may extend to any distant station (say twenty miles); a clock at that station would indicate Greenwich time, this clock, having a source of electricity connected with it, may by an apparatus (as shewn at q, R, Figure 3, Sheet a,) transmit the electric currents to a second distant station; a clock at this distant station, having also a source of electricity connected with it, and provided with an apparatus as q, R, Figure 3, Sheet A), will transmit the electric current to any third distant station, and so on; thus Greenwich time would be indicated at each succeeding station to any required distance, Further, all the clocks in the neighborhood of each station could be worked by the source of electricity connected therewith, each being provided with an arrangement of wires and
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apparatus similar to that represented in Figure 1, 2, and 3, Sheet A, and thus a perfect uniformity of time, or Greenwich time, would be shewn by all the clocks throughout the country.12
Alexander Bain setzte seine Idee der Zeitvereinheitlichung via Telegraphie entlang der Eisenbahnen 1846 in die Tat um. In diesem Jahr errichtete er eine Telegraphenlinie von Edinburgh nach Glasgow, um die Praxistauglichkeit seiner Telegraphenapparate unter Beweis zu stellen.13 Auf dieser neuen Strecke bewies Bain, dass eine Hauptuhr in Edinburgh durch elektrische Signale eine Nebenuhr im 64 Meilen entfernten Glasgow so steuern konnte, dass sie die gleiche Zeit anzeigte. Bains Patent von 1841 markiert demnach den technisch-industriellen Ursprung der Synchronisierung des öffentlichen und privaten Lebens. Der Patenterteilung vorausgegangen waren heftige Auseinandersetzungen über die Frage, wem der Anspruch auf die Erfindung der Elektrouhr gebührt.14 Alexander Bain hat nach seinem bahnbrechenden ersten Patent 1843, 1845, 1847 und 1852 weitere veröffentlicht, die bereits im Titel auf Uhren hinweisen. Darüber hinaus finden sich Hinweise auf die Verwendung von Uhren in Verbindung mit Elektrizität auch in vielen seiner anderen Patente.15 Ich möchte mich im Folgenden auf die Entwicklung des elektrischen Schalters für den elektrischen Pendelantrieb von Einzeluhren konzentrieren, da es sich bei dem Regulierungsmechanismus – wie Bain 1852 schreibt – um eine entscheidend wichtige Eigenschaft seiner Erfindung handelt: »This governing principle of the break is a most important feature in the invention«.16 Wohl kaum ein anderes Bauteil der Elektrouhren scheint ihn mehr beschäftigt zu haben, denn einschränkend gibt er wenige Seiten später zu bedenken, dass es sich nicht nur um den wichtigsten, sondern auch heikelsten Teil seiner Erfindung handelt: »The break is the most important, and at the same time the most delicate, action of the electric clock.«17 Die Bedeutung, die Bain dem Schalter bei Elektrouhren später zumisst, sucht man im ersten Patent von 1841 noch vergebens. Gegenüber den verschiedenen Möglichkeiten der Zeitübertragung spielt der elek12 13 14 15
16 17
Bain 1841: 13. Hackman 1973: 22ff. Vgl. zur Geschichte des Patentstreites zwischen Alexander Bain und Charles Wheatstone den Beitrag von Simone Warta in diesem Band. Eine umfassende Beschreibung und Betrachtung seiner zahlreichen Ideen gab bereits Hackman in der Einleitung zum Nachdruck von Bains A Short History Of the Electric Clocks, vgl. Hackman 1973. Ebd.: 19. Ebd.
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trische Pendelantrieb hier noch eine relativ unbedeutende Rolle. Nur eine Abbildung auf der letzten von fünf Tafeln zeigt den Antrieb, auf die wesentlichen Neuerungen reduziert. Trotzdem ist diese erste Beschreibung einer elektrischen Pendeluhr wichtig, da sich Bain in den Folgepatenten der immer gleichen Elemente bedient. Im Prinzip besteht sein elektrischer Pendelantrieb auch in späteren Ausführungen aus den immer gleichen Teilen. Abbildung 3: Elektromagnetischer Pendelantrieb aus dem Patent von 1841.
Bain setzt die Funktion des Zeigerwerks einer Uhr als bekannt voraus und beschreibt lediglich diejenigen Teile, die zum elektrischen Antrieb notwendig sind. Am Pendelstab ist ein Weicheisen b befestigt, das in periodischen Abständen von einem Elektromagneten a angezogen wird und so die notwendige Antriebsenergie erhält. Außerdem befindet sich am Pendelstab eine Klinke G, die ein Zahnrad bei jedem Hin- und Herschwingen ein Stückchen weiterschiebt. Über ein Getriebe werden so die verschiedenen Zeiger bewegt. Gegen ein willkürliches Verschieben des Schaltrades ist die Uhr durch die Sperrklinke d gesichert. Trotz der wenig herausgehobenen Position der Uhr innerhalb seines Patents hat Bain scharfsinnig erkannt, worin der revolutionäre Vorteil einer solchen Uhr besteht: Eine elektrisch angetriebene Uhr besitzt keine Feder oder Gewichte mehr; sie muss nicht mehr von Hand aufgezogen werden; etwas, das uns heute selbstverständlich ist, damals aber radikal mit der Tradition gebrochen hat:
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Figure 1 is the front view of the improved parts of a timepiece that has its pendulum worked by the soft iron magnet when influenced by the electric current, which working or vibration of the pendulum causes the escapement wheel to move round, and thereby to give motion to a timepiece without the aid of a main spring or weight.18
Als weiteren Teil des elektrischen Antriebs beschreibt Bain den Schalter, der den Strom an- und abschaltet. Dieser besteht aus einem verschiebbaren Metallstab ee, der in zwei Halterungen ff läuft. Eine schmale Feder g schließt bei Berührung des Bolzens h den Kontakt. Damit wird das Weicheisen b und das Pendel in Richtung Elektromagnet angezogen. Kurz bevor das Weicheisen den Elektromagneten berührt, wird der Kontakt durch die vorstehende Leiste o1 unterbrochen, indem der Metallstab ee und damit die Feder g nach rechts geschoben werden. Beim Zurückschwingen des Pendels berührt der Mitnehmer l die vorstehende Leiste o2 und verschiebt sie nach rechts, bis der Kontakt erneut geschlossen wird. Auf diese Weise erhalten sowohl das Pendel als auch die Nebenuhren bei jeder Linksschwingung einen Antriebsimpuls. In Bains nachfolgendem Patent von 1843 finden sich nur sehr vage Ausführungen zum Schaltmechanismus. Bain schlägt vor, durch einen Ball beim Hin- und Herschwingen des Pendels den Stromkreis zu schließen oder zu unterbrechen, indem dieser eine Schraube berührt.19 Bedeutung für die Geschichte der Elektrouhr hat dieses Patent vor allem deshalb, weil Bain hier den Pendelantrieb vom oberen Teil der Pendelstange nach unten in den Bereich der Pendellinse verschoben hat. Die Pendellinse ist dabei als Elektromagnet ausgebildet, die zwischen zwei Hufeisenmagneten schwingt.20 Bei Kontaktschluss erhält das Pendel die notwendige Antriebsenergie. Dieses Wechselspiel zwischen Magneten und Spulen im Bereich der Pendellinse kennzeichnete nicht nur sämtliche von Bain überlieferte Uhren, sondern bestimmte auch die weitere Entwicklung der Elektrouhren maßgeblich. In zahlreichen Varianten war diese Anordnung bis weit ins zwanzigste Jahrhundert hinein verbreitet. In seinem Patent von 1845 stellt Bain auf Blatt 8 eine Variante dieses Antriebs vor. Im gleichen Patent präsentiert er auch eine Neuentwicklung seines Schalters. Zwei Halterungen aus Messing EE, die teils verziert und vergoldet sind, sind an der Rückseite der Uhr befestigt. Von 18 19 20
Bain 1841: 8. Vgl. Bain 1843: 6f. und Sheet 4. Vgl. in diesem Zusammenhang im vorliegenden Band den Beitrag von Julia Zons zum Pantelegraphen von Caselli.
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den Halterungen führt je ein Draht zu einem Pol der Batterie. In die Halterungen wird die quaderförmige Basis des Kontakts H mit Schrauben befestigt, die zum überwiegenden Teil aus isolierendem Material, Holz oder Elfenbein, besteht. Auf den Quadern befinden sich zylindrisch geformte Aufsätze c aus dem gleichen Material wie die Basis. Abbildung 4: Pendelantrieb im Patent 1845.
Zur Stabilisierung sind die beiden Quader links und rechts durch einen Rundstab K miteinander verbunden. An der Rückseite jedes Quaders ist ein Messingplättchen angebracht, das mit Kontakten an der Oberfläche der Zylinder verbunden ist. Der Kontakt wird über einen winkelförmigen Metallbalken LL geschlossen, der links und rechts mit Goldkontakten auf den Zylindern aufliegt, in der Mitte auf einem Mitnehmer, der an der Pendelstange befestigt ist. Durch die Pendelschwingung wird der Stahlbalken nach links und rechts verschoben, wobei der Stromkreis periodisch geschlossen und unterbrochen wird. Bei geschlossenem Stromkreis wird dem Pendel elektromagnetisch Antriebsenergie zugeführt. Dieser knochenförmige Schalter, der mit zwei Halterungen an der Rückseite des Gehäuses befestigt ist, und der aufliegende winkelförmige Metallbalken sind charakteristisch für alle erhalten gebliebenen BainUhren, wie bereits Hackman zeigen konnte.21 Natürlich unterscheiden 21
Vgl. Hackman 1973: XIVf.
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sich die Uhren im Detail, doch kann man von zwei grundsätzlich verschiedenen Prinzipien des Kontaktschlusses ausgehen, die in den Patenten von 1845 und 1847 beschrieben werden. 1845 ist in den zylinderförmigen Aufsatz der rechten Seite ein Stück Gold eingelassen, das als konkave Rille in Richtung der Pendelschwingung ausgearbeitet ist. Von dort besteht über einen Draht eine Verbindung zur leitenden Rückplatte. Auf dem linken Aufsatz befindet sich eine Platte aus isolierendem Material (Achat o. ä.), die ebenfalls eine Rille aufweist. In den Achat ist eine Bohrung für ein nagelförmiges Stück Gold eingefügt, das von der Oberseite bis an die Unterseite reicht und von dort durch einen Draht mit der Kontaktplatte an der Rückseite verbunden ist. An der Oberfläche des Achates erscheint der Goldstift punktförmig. Die rillenförmigen Vertiefungen links und rechts dienen als Führungen für den gekrümmten Stahlbalken LL, der auf einem an der Pendelstange befestigten Stift aufliegt. Durch die Pendelschwingung wird der Stahlbalken nach links und rechts verschoben, wobei der Stromkreis nur dann geschlossen ist, wenn sich der Goldkontakt des Stahlbalkens über dem punktförmigen Goldkontakt der linken Basis befindet. Vieles bleibt in diesem Patent unklar, da einige Erklärungen auf bezeichnete Teile rekurrieren, die in der Zeichnung gar nicht vorhanden sind. Andere Teile wiederum, wie z. B. die Räder MM in Höhe des Stahlbalkens links und rechts von der Pendelstange tauchen in den Beschreibungen nicht auf. Offensichtlich sind hier einige Vorüberlegungen eingeflossen, die sich praktisch nicht bewährt haben oder von Bain nicht weiter verfolgt wurden. Es ist auch durchaus möglich, dass Bain hier ganz bewusst einiges im Unklaren gelassen hat, um mögliche Nachahmer wie seinen Erzkonkurrenten Charles Wheatstone in die Irre zu leiten.22 Ein Indiz für diese Vermutung kann man darin erkennen, dass der entscheidende Vorteil gegenüber seinem Schalter von 1841 im Patent nicht erwähnt wird. 1841 wurde der Kontakt zu dem Elektromagneten bei jeder Linksschwingung des Pendels geschlossen, wodurch das Pendel in regelmäßigen Abständen einen bestimmten Antriebsimpuls erhielt. Dieser Zwangsantrieb widerspricht jedoch der Erfahrung eines jeden Uhrmachers, dass eine Pendeluhr umso genauer geht, je freier von äußeren Einflüssen ein Pendel schwingt. Aufgrund der massiven Störungen des Pendels durch den elektrischen Aufzug musste Bains erste elektrisch angetriebene Pendeluhr jeder anderen herkömmlichen und sorgfältig gearbeiteten Pendeluhr mit Gewichts- oder Federaufzug unterlegen gewesen sein. Bains Patent von 1845 benennt die entschei22
Vgl. hierzu den Beitrag von Martin Straub im vorliegenden Band.
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dende Verbesserung des elektrischen Antriebs in diesem Punkt nicht. Den Fortschritt beim elektrischen Antrieb erkennt man erst, wenn man den Schalter bei einer erhalten gebliebenen Uhr in Betrieb verfolgt oder Bains detaillierte Erklärung in »A Short History of the Electric Clock« von 1852 liest.23 Das Pendel erhält nun nicht mehr bei jedem Pendelschwung einen gleichen Antriebsimpuls, sondern unterschiedliche, abhängig von der Amplitude. Die impulsabhängige Steuerung des Pendels erreicht Bain, indem der Mitnehmer T, der am Pendel befestigt ist, nicht fest in den winkelförmigen Schieber LL eingreift, sondern erheblich Spiel hat, in etwa die doppelte Breite des Pendelstabes. Aufgrund dieses Spiels verbleibt der Schieber für eine gewisse Zeit an dem Ort, bis zu dem der Mitnehmer ihn geführt hat. Erst nachdem der Mitnehmer beim Zurückschwingen des Pendels den u-förmigen Zwischenraum überwunden hat, wird der Schieber in die entgegengesetzte Richtung mitgenommen. Da sich die Position des Schiebers in Abhängigkeit zur Amplitude der Pendelschwingung verändert, streicht bei großer Schwingungsweite der Goldkontakt am Schieber schnell über den Goldkontakt in der linken Basis, so dass der Strom nur kurzzeitig durch die Spulen fließen kann, und das Pendel erhält nur einen kleinen oder gar keinen neuen Impuls. Erst wenn die Amplitude des Pendels so weit abgesunken ist, dass bei einer Rechtsschwingung die beiden Goldkontakte von Schieber und Basis länger in Verbindung sind, erhält das Pendel durch das Magnetfeld deutlich mehr neue Antriebsenergie. Der selbststeuernde Antrieb ist Grundlage auch des Patents von 1847. Abweichend beschreibt Bain darin eine neue Form des Kontaktschlusses, die ein wesentliches Problem seiner Konstruktion von 1845 beseitigen sollte. Er habe in Experimenten herausgefunden, dass die Kontakte auf den Oberflächen der Zylinder dazu neigen, zu verstauben und so die einwandfreie Funktion des Apparates zu behindern: »But I have found by experience that such surfaces are liable to have accumulations of dust thereon, which is calculated to interfere with the correct working of the apparatus.«24 Dies mag der Grund dafür sein, dass einige Uhren von Bain heute noch Messingkappen über den Zylindern aufweisen, die nur einen schmalen Schlitz für die Goldkontakte des verschiebbaren Balkens freilassen.25 Für seine weiterentwickelte Kontakteinrichtung im Patent von 1847 feilte Bain die Goldkontakte nicht mehr bündig mit den zylinderför23 24 25
Wiederabgedruckt in Hackman 1973. Bain 1847: 5. Vgl. Bain 1845: 8, Fig. 1 und 2.
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migen Aufsätzen der Schalterbasis ab, sondern ließ sie ein Stück aus der Oberfläche herausstehen. Der winkelförmige Schieber war nun wie ein Satteldach geformt, das die Kontakte gegen Staub abschirmte. Auch hier ist eine Seite des Schiebers, die linke b1, im ständigen Kontakt mit dem einen Kabelende a, das wiederum mit einem Batteriepol verbunden ist. Auf der rechten Seite stehen drei Stifte unterschiedlich hoch aus der zylinderförmigen Erhebung der Kontaktbasis hervor. Der Stift e endet im isolierenden Material. Die beiden anderen Stifte b und d sind mit dem anderen Batteriepol verbunden, wobei d in Verbindung mit dem Pendel oder Zeitmesser ist, zu dem dieser Apparat gehört, und c dafür verwendet wird, um eine andere Uhr anzusteuern. Je nachdem, in welcher Position der Schieber sich befindet, wird entweder ein Signal an eine Nebenuhr oder ein Antriebsimpuls an das Pendel gegeben. Um diesen Wechsel zu gewährleisten, ohne einen Kurzschluss zu verursachen, ist der Schieber auf der rechten Seite im schrägen Winkel abgeknickt, so dass eine kleine Stufe entsteht. Beim Pendelschwung nach links stößt der Schieber im Bereich der Stufe auf den Stift d, wodurch der gesamte Schieber leicht angehoben wird und der Kontakt zu c im Bereich b2 unterbrochen wird. Die Nebenuhr erhält nun keinen Impuls mehr. Beim weiteren Verschieben nach links wird auch der Kontakt zu d unterbrochen, sobald der schräge Winkel überwunden ist. Der Schieber bewegt sich mit dem waagerechten Teil b3 über die leitende Stifte hinweg, da der im isolierenden Material endende Stift e etwas weiter aus der Oberfläche der Basis heraussteht als d. Die Uhr erhält keinen Antriebsimpuls mehr und der Pendelschwung kehrt sich um. Mit der Bewegung nach rechts wird nun umgekehrt zunächst der Kontakt d geschlossen und schließlich mit c, wobei der gesamte Vorgang von vorne beginnt. So unterschiedlich die Schalter von 1845 und 1847 im Detail sind, so sehr gleichen sie sich von außen. In beiden Fällen wird der Stromkreis durch einen charakteristisch geformten Schieber geschlossen und unterbrochen, der vom Pendel auf einer knochenförmigen Basis hinund hergeschoben wird. Aufgrund der bereits von Bain experimentell belegten Unzuverlässigkeit des Kontaktschlusses, die zu der Variante von 1847 führte, hatte diese Form des Schalters keine Zukunft. Wieso aber hielt Bain daran fest und entwickelte nicht alternative Formen weiter, z. B. den Federkontakt oder den Kontaktschluss durch einen Metallball, wie er sie als Idee bereits in seinen Patenten von 1841 und 1843 skizziert hatte? Betrachtet man die Beschäftigung Bains mit Schiebeschaltern nicht nur im engeren, technikhistorischen Kontext der Telegraphie, der elektrischen Uhren oder der Elektrotechnik, sondern vor dem weiteren kul-
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turellen Hintergrund der technologischen Entwicklung insgesamt, so erscheint die Verwendung von Schiebeschaltern als naheliegend. Bei der Dampfmaschine und der Eisenbahn als der Leittechnik des 19. Jahrhunderts schlechthin waren Schieber in unterschiedlichsten Ausführungen die gängigen Steuerungsmechanismen. Mit ihnen konnte sowohl die Intensität des Dampfdrucks als auch die Dampfverteilung innerhalb der Dampfmaschinen geregelt werden. Zum besseren Verständnis der Schiebertechnologie werden im Folgenden die entscheidenden Schritte der Entwicklung kurz dargestellt. Die größte Verbreitung unter den Schiebern fand der von Matthew Murray 1802 patentierte Muschelschieber, der aus einer ebenen Platte, dem Schieberspiegel, und einem muschelförmigen Aufsatz bestand. Alle Röhren für die Zuführung und Ableitung des Dampfes endeten auf dem Schieberspiegel. Der Muschelschieber sorgte dafür, dass diese Dampfröhren, je nach Stellung des Schiebers, in geeigneter Weise miteinander in Verbindung standen. Durch die Bewegung des Schiebers auf dem Spiegel konnte abwechselnd der Dampf von den beiden seitlichen Röhren zum Kondensator oder Schieberkasten geführt werden und so die Bewegung des Kolbens in geeigneter Weise beeinflusst werden. War die Dampfmaschine von Watt durch ihre komplizierte Steuerung mit mehreren Ventilen noch sehr wartungsintensiv, so konnte durch die Erfindung des Schiebers der Betrieb entscheidend vereinfacht werden. Conrad Matschoss urteilt deshalb in seinem Standardwerk zur Geschichte der Dampfmaschine: Durch die Anwendung des einfachen Muschelschiebers für die Dampfverteilung wurde die ganze Anordnung, die Ausführung und der Betrieb sehr vereinfacht, was natürlich auch zur schnelleren Verbreitung der Dampfmaschine wesentlich beitrug.26
1843 revolutionierte die von James Howe erfundene und noch im selben Jahr von Robert Stephenson im Lokomotivbau eingeführte Kulissensteuerung die Gangschaltung bei Lokomotiven. Durch eine geschickte Kombination der Schiebersteuerung mit einem ausgeklügelten Gestänge war es nun mit nur einem Hebel möglich, von Vorwärtsauf Rückwärtsgang umzuschalten. In kürzester Zeit setzte sich die Stephenson’sche Kulissensteuerung im Lokomotivbau durch. Diese entscheidende Erfindung dürfte Alexander Bain nicht entgangen sein, zumal er bereits den Zeitgenossen als eifriger Leser und Beiträger in populären technischen Zeitschriften wie dem Literary Magazine 26
Matschoss 1983: 121.
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und dem Mechanic’s Magazine bekannt war.27 Warum sollte sich Bain bei der Lösung der Steuerungsprobleme bei Elektrouhren nicht an der Leittechnik seiner Zeit orientieren? Abbildung 5: Muschelschieber.
In seinem Patent von 1845 beschreitet Bain einen neuen Weg der Steuerung von Elektrouhren, indem er Aussehen und Funktion des Muschelschiebers auf den Bau eines elektrischen Schalters überträgt, und zwar auf eine charakteristische Weise. Er orientiert sich dabei nicht an den realen Ausführungen der Muschelschieber, sondern an den Funktionsbeschreibungen und Diagrammen. In der zeitgenössischen technischen Literatur wird der Schieber meist nicht als muschelförmiger Aufsatz dargestellt, sondern als Querschnitt durch eine Muschel, also als Hohlraum, der an den Rändern zwei glatte Flächen aufweist. Der Schieberspiegel, auf dem in der dreidimensionalen Welt die Röhren enden, erscheint im Schnittbild als Fläche von miteinander unverbundenen Trägern und Hohlräumen. Bain dienen diese Diagramme als Folie für das Aussehen und die Funktion seines elektrischen Schieberschalters. Wie im Schnittbild alle Zu- und Ableitungen der Dampfröhren auf dem Schieberspiegel enden, führen bei Bain sämtliche Kabel auf die Schalterbasis. Auf der Schalterbasis bewegt sich der Schieber, der je nach Stellung nun nicht mehr die Dampfverteilung, sondern den Strom27
Vgl. Finlaison 1843: 109–114.
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fluss steuert. Selbst die winkelförmige Form des Schiebers gleicht den Abbildungen des Muschelschiebers, nur dass der Schieber bei Bain bezeichnenderweise auf den Kopf gestellt wurde. Wie bereits Steinheil erwies sich Bain bei seiner Erfindung auf vielfältige Weise als Kind seiner Zeit. Er entwickelte seine Ideen nicht im luftleeren Raum, sondern in produktiver Auseinandersetzung mit bereits etablierten Technologien. Ob Bain die Analogie zur so wirkungsmächtigen Schiebertechnik im Dampfmaschinenbau bewusst gezogen hat oder unbewusst von ihr beeinflusst wurde, ist dabei nicht wesentlich. Entscheidend ist, dass er seine Schieber offensichtlich aus Schnittbildern und Funktionsbeschreibungen der Muschelschieber entwickelt hat. Die noch sehr junge Textgattung Patentschrift verweist hier auf sich selbst, indem bereits vorhandene Darstellungs- und Beschreibungsformen übernommen und produktiv gemacht wurden. Die Seriosität und Überzeugungskraft von Bains Erfindung insbesondere für das Patentamt und andere Erfinder, die eifrige Leser von Patenten sind, könnte deshalb zu einem gewissen Teil darauf beruht haben, dass sich Bain formal korrekt an die Vorgabe der Textgattung hielt. Trotz aller rhetorischen Anstrengung blieb der Erfolg für Bain aus. Denn obwohl die Analogie zwischen Schieber und Schalter naheliegend war, führte sie technologisch in eine Sackgasse.
Der Taster Zu den Gründungsmythen der elektrischen Uhr zählt, dass Matthäus Hipp 1844 auf der Berliner Gewerbeausstellung eine elektrisch angetriebene Uhr ausgestellt habe. Diese Uhr sei die Grundlage für ein neues System von Uhren gewesen, das »échappement électrique à palette«.28 In ihrem einflußreichen Aufsatz zu Hipp behaupten Keller und Schmid, dass diese Uhr bereits die wegweisen28
Keller u. a. 1961: 13. In ihrem die Rezeption bis heute prägenden Aufsatz »Matthias Hipp 1813–1893« beschreiben Walter Keller und Hans Rudolf Schmid 1961 unter anderem den angeblichen Weg Hipps »Von der elektrischen Pendeluhr zum Telegraphen«. (Ebd.: 12) Obwohl dieser Aufsatz ohne Anmerkungen und weitgehend ohne Quellenangaben auskommt, ja die Reihe insgesamt eher hagiographisch als kritisch die Gründerväter der Schweizer Industrie vorstellt, sind die dort behaupteten Zusammenhänge bis in die jüngere Vergangenheit hinein unkritisch übernommen worden, insbesondere in der fremdsprachigen Literatur, z. B. bei Aubry 2002.
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de elektrische Kontakteinrichtung enthalten habe: »Unter Mitbenützung seiner schon 1834 erdachten und 1842 ausgeführten Erfindung gelang es ihm die vollkommensten, elektrischen Pendeluhren zu konstruieren.«29 Uhren mit diesem elektrischen Pendelantrieb und der sehr zuverlässigen Kontaktauslösung, der Hippsch’en Wippe, wurden noch bis 1975 bei der Nachfolgefirma FAVAG gebaut. Die legendäre Erfindung dieses Pendelantriebs fand nach Keller und Schmid also fast ein Jahrzehnt vor Hipps Ernennung zum Leiter der Eidgenössischen Telegraphenwerkstätte statt. In dieser Stellung und ab 1860 als Inhaber einer eigenen Fabrik konnte Hipp mit vielfältigen Erfindungen, unter anderem einem elektrischen Webstuhl, einem elektrischen Klavier und nicht zuletzt mit seinem berühmten Chronoskop – dem ersten Kurzzeitmesser für Tausendstelsekunden –, der in den experimentellen Naturwissenschaften bis zum Ersten Weltkrieg eine entscheidende Rolle spielte, weit über die Schweiz hinaus enormen Einfluss auf verschiedene Gebiete der Elektrotechnik nehmen. Im Bereich der Elektrouhren galten seine Produkte um 1880 als die am weitesten verbreiteten. Die bei Keller und Schmid behauptete Reihenfolge – zunächst die Erfindung seines berühmten Pendelantriebs, erst zehn Jahre später seine einflussreiche Zeit als Leiter der Eidgenössischen Telegraphenwerkstätte – ist durch die Forschungen von Helmut Kahlert in den 1980er Jahren als Missverständnis entlarvt worden.30 Seit Kahlert kann als gesichert gelten, dass die Entwicklung des Pendelantriebs in zwei zeitlich voneinander abgegrenzten Etappen erfolgte, erst eine Uhr mit mechanischem Pendelantrieb, später der elektromagnetische Impulsgeber.31 Hier soll nun unter Verwendung der Patente und von Uhren, die nach den dort beschriebenen Prinzipien gebaut wurden, die Entwicklung des Pendelantriebs hergeleitet werden. Alles deutet darauf, dass Hipp wohl erst in den 1860er Jahren elektrische Uhren konstruiert hat, aufbauend auf seinen Erfahrungen in der Eidgenössischen Telegraphenwerkstätte. 1840 wurde Matthäus Hipp mit dem technischen Jahrespreis der württembergischen »Centralstelle des landwirtschaftlichen Vereins« ausgezeichnet. Bei seinem neuen »Prinzip zur Erzielung eines gleichförmigen Pendelgangs« erhielt das Pendel »nach Maßgabe der Verminderung seiner Bewegungskraft periodisch eintretende neue Anregungen 29 30
31
Keller u. a. 1961: 30. Vgl. Kahlert 1987 und ders. 1989. Aufgrund der relativ entlegenen Publikationsorte haben sich die Ergebnisse dieser soliden Quellenstudien bislang noch nicht allgemein durchgesetzt. Vgl. Kahlert 1989: 299.
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durch ein Gewicht«.32 Dieser Konstruktion lag die Erkenntnis zugrunde, dass eine Pendeluhr umso genauer ist, je weniger das Pendel in seiner Schwingung gestört wird. Bei den bis dato üblichen Pendeluhren wurde dem Pendel in regelmäßigen Abständen, d. h. in der Regel bei jeder Schwingung, durch ein Gewicht oder eine Feder Energie zugeführt, damit das Pendel andauernd in Bewegung blieb. Hipp hingegen hatte einen Mechanismus ersonnen, bei dem das Pendel nur dann Energie erhielt, wenn die Amplitude unter einen gewissen Wert gesunken war. Je nach Bauart des Pendels konnte der Impuls – wie Hipp 1880 schreibt – von zwei bis 120 Sekunden variieren.33 Wie eine solche Uhr aussah, hat Hipp erstmals 1843 in Dinglers »Polytechnischem Journal« beschrieben. Abbildung 6: Der Hipp’sche Pendelantrieb, 1843.
Diesem Aufsatz liegt sein württembergisches Patent vom 8. Februar des gleichen Jahres zugrunde.34 Das Uhrwerk besteht aus zwei getrennten Modulen, einem Antrieb und einem Pendelmechanismus, der die Zeiger bewegt: Die Uhr zerfällt in zwei Theile, deren einer die Function hat, dem Pendel die durch Reibung u. s. w. verloren gegangene Kraft wieder zu ersetzen, und de-
32 33 34
Zitiert nach ebd.: 291. Vgl. Hipp 1880: 112. Vgl. Hipp 1843: 258, Anm. 1.
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ren anderer dazu dient, die Bewegung des Pendels auf die Zeiger zu übertragen; somit hat man ein Impulsionswerk und ein Zeigerwerk.35
An der Schnittstelle zwischen beiden Werkteilen befindet sich seine neuartige Palettenhemmung, die die Energiezuführung an das Pendel steuert. Das Kernstück dieses »echappement à palette« besteht aus zwei Bauteilen, einem Metallhaken s, der mit dem Pendel verbunden ist, und einer Erhöhung auf dem Antriebsmechanismus, die an ihrer Oberseite eine Kerbe aufweist. Der Haken s wird von Hipp als »Schlempe« oder »Schlüssel« bezeichnet. Dieser ist an seinem oberen Ende beweglich gelagert, oder – wie Hipp hier sagt – »leicht um seinen Zapfen beweglich«. Der Abstand zwischen dem Schlüssel und der Erhöhung auf dem Antriebsmodul ist dabei so gewählt, dass im Regelfall der Haken s bei der Schwingung des Pendels nach links oder rechts gedreht wird und dabei über die Erhöhung streift. Erst wenn die Amplitude auf ein gewisses Maß abgesunken ist, wird der Schlüssel auf der Erhöhung in die Kerbe eingreifen, so dass bei zurückschwingendem Pendel der Schlüssel nach oben gedrückt und das Antriebsrad AA freigegeben wird. Nun erhält das Pendel über eine Spindel einen Antriebsimpuls. Beim Weiterschwingen des Pendels wird der Schlüssel aus der Kerbe gezogen und der gesamte Vorgang wiederholt sich. Abbildung 7: Mechanischer Pendelantrieb einer Hipp-Uhr, wohl 1844.
Noch Helmut Kahlert musste sich bei seinen Studien zu Hipp mit Patentbeschreibungen begnügen. Überraschenderweise ist 2005 auf einer Auktion in Frankfurt am Main eine mechanische Pendeluhr, wie sie 35
Ebd.: 258f.
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Hipp 1843 beschrieben hat, verkauft worden.36 Möglicherweise handelt es sich dabei um das Stück, das 1844 auf der Allgemeinen Deutschen Gewerbe-Ausstellung in Berlin gezeigt wurde.37 Auf einem der Auktion beigefügten Foto wird deutlich, wie beide Teile des Pendelantriebs angeordnet sind, das Pendel im Vordergrund und das Antriebsmodul im Hintergrund. Diese Uhr beweist, was Helmut Kahlert aufgrund der Quellenlage nur aus Indizien herleiten konnte: dass es sich bei den ersten Uhren mit Hipp’scher Palettenhemmung nicht um elektromagnetische Pendeluhren handelte, sondern um rein mechanische Werke. Wann Hipp seine Idee für den Pendelantrieb auf den Bau elektrischer Uhren übertragen hat, lässt sich nicht genau rekonstruieren. Dass er sich bereits in den 1840er Jahren intensiv mit dem Einsatz von Elektrizität im Uhrenbau auseinandergesetzt hat, zeigt sein Chronoskop von 1847.38 Trotz dieser frühen Beschäftigung mit Elektrotechnik dürften die ersten Elektrouhren von Hipp nicht vor der Gründung seiner eigenen Fabrik 1860 entstanden sein. Dafür sprechen verschiedene Gründe. Zum einen erwähnt Hipp in einer eigenen Auflistung der von ihm installierten Uhrenanlagen keine Uhr mit elektrischem Antrieb vor 1868. Zwar hatte er bereits 1862 in Genf, 1864 in Neuenburg, 1865 in Zürich und 1867 in Stuttgart erste Uhrenanlagen installiert; als Hauptuhr für die Steuerung von Nebenuhren dienten allerdings noch mechanische Normaluhren. Erst 1868 wird in Bad Schinznach eine Uhrenanlage mit einer »gewöhnlichen elektrischen Halbsekundenpendeluhr« geliefert, wie das firmeneigene »Verzeichniss der in verschiedenen Städten aufgestellten electrischen Uhren System Hipp« belegt.39 Zum anderen wurde ein Patent auf den elektrischen Pendelantrieb in Frankreich laut mündlicher Aussage von Jaime Wyss erstmals 1863 angemeldet. In diesem Patent wird, so ist in einer kleinen Abbildung der Patentzeichnung mehr oder minder deutlich zu erkennen, eine Urform der Hipp’schen Wippe für den elektromagnetischen Pendelantrieb beschrieben.40 Dieser Schalter unterscheidet sich noch deutlich von den späteren Serienmodellen und konnte bislang nur bei zwei Uhren, womöglich dem Patentmodell und einer anderen Uhr aus Privatbesitz in Großbritannien, nachgewiesen werden. Bei den ersten elektrischen Uhren aus den frühen 1860er Jahren sitzt der Schlüssel oder die Palet36 37 38 39 40
Vgl. Crott 2005: Nr. 535. Vgl. Anonym 1846: Bd. 2, 443. Vgl. beispielsweise Oelschläger 1848. Abgedruckt in Keller u. a. 1961: 31. Vgl. Wyss 2005: 39.
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te noch unter dem Pendel, während die auf dem Boden des Gehäuses befestigte Basis oder Contre-Palette mit der Kerbe auf dem eigentlichen Schalter sitzt. Abbildung 8: Schalter für den elektrischen Pendelantrieb, um 1865.
Bei den späteren Serienmodellen wird diese Anordnung genau umgekehrt. An der Pendelstange sitzt die Contre-Palette, die sich mit dem Pendel bewegt und dabei über den beweglichen Schlüssel streift, der am Werkträger oder der Hinterseite des Gehäuses befestigt ist. Das Prinzip des Kontaktschlusses bleibt bei allen drei Varianten das gleiche: Sobald die Amplitude des Pendels unter einen gewissen Wert gefallen ist, greift die Palette in die Kerbe ein; beim Zurückschwingen löst das Pendel den Antriebsimpuls aus. Anschließend löst sich die Palette aus der Kerbe; die Impulsabgabe wird unterbrochen. Aufgrund des Datums der Patenterteilung und der Tatsache, dass sich die Patentzeichnung deutlich von den späteren Serienprodukten
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unterscheidet, kann als gesichert gelten, dass Hipp wohl erst nach seinem Weggang als Leiter der Eidgenössischen Telegraphenwerkstätte und der Gründung seiner eigenen Fabrik, also nicht vor 1860, zielstrebig Elektrouhren hergestellt und damit seinen elektrischen Pendelantrieb zur Serienreife entwickelt hat. Gestützt wird diese These auch durch die Bauart des Schalters, der im Patent von 1863 Form und Funktion der Taster für den Telegraphendienst adaptiert. Mit solchen Tastern, die zu den ersten zuverlässigen elektrischen Schalterkonstruktionen überhaupt gehörten, hatte Hipp durch seine eigenen Telegraphenkonstruktionen bereits in den späten 1840er Jahren sowie als Leiter der Eidgenössischen Telegraphenwerkstätte fundierte Erfahrung sammeln können. Abbbildung 9: Morsetaster, um 1850.
Der klassische Morsetaster besteht in seiner Grundform aus einer Wippe, die in der Mitte gelagert ist. An einem Ende ist die Wippe mit einem Knopf zum Drücken des Tasters versehen. Ein Gegengewicht an der anderen Seite oder eine Feder sorgen dafür, dass die Wippe nach Loslassen des Knopfs wieder in die Ursprungsposition zurückschwingt. Der Kontakt zur Telegraphenleitung wird bei gedrücktem Knopf geschlossen. Durch geschicktes Drücken und Loslassen entstehen kurze und lange Stromstöße, die telegraphischen Signale. Solche Taster hat auch die Eidgenössische Telegraphenwerkstätte hergestellt.41 Was lag näher, als die Taster, die 1860 bereits eine jahrzehntelange Entwicklung und Er41
Vgl. Generaldirektion PTT 1952: 237f.
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probung hinter sich hatten, als Vorbild für den Schalter bei Elektrouhren zu verwenden? Die frühen Hipp-Wippen weisen offensichtliche Parallelen zu den klassischen Tastern auf. Lediglich der Knopf zum Drücken des Tasters ist hier durch die Palette und die Contre-Palette ersetzt. Alle anderen Teile sind funktionell sehr ähnlich. Wie bei den Tastern ist der Grundaufbau auch hier eine in der Mitte gelagerte Wippe, die an einem Ende aufliegt, da sie durch eine Feder heruntergezogen wird. Sobald an der anderen Seite die Palette in die Kerbe eingefallen ist, wird beim Zurückschwingen des Pendels wie durch einen Finger Druck auf die Wippe ausgeübt. Die Wippe kippt um. Dadurch wird der Kontakt geschlossen, so dass dem Pendel elektromagnetisch Energie zugeführt wird. Anschließend löst sich die Palette wieder aus der Kerbe. Die Wippe fällt in die Ausgangsposition zurück, und der Stromfluss wird unterbrochen. Bei den späteren Serienmodellen ist die Analogie zum Morsetaster nur mehr rudimentär sichtbar, obwohl das Prinzip der Kontaktauslösung gleich geblieben ist. An die Stelle der Wippe tritt eine einseitig an der Rückwand bzw. dem Werkhalter befestigte Blattfeder, die auf der anderen Seite in einer Nut frei schwebt. Auf der Blattfeder ist hängend die Palette angebracht, unter der sich mit dem Pendel die Contre-Palette bewegt. Nachdem die Palette in die Kerbe eingerastet ist, wird bei rückschwingendem Pendel die Blattfeder nach oben gedrückt, so dass der Kontakt in der Nut auf der rechten Seite geschlossen wird. Diese Ausführung ähnelt eher einem Relais, wobei an die Stelle des Elektromagneten das Wechselspiel von Palette und Contre-Palette getreten ist, das den Kontakt herstellt. Durch den langen Hebelarm ist der Anpressdruck und damit die Kontaktsicherheit dieses Schalters sehr gut.42 Die Funktionalität wird noch verstärkt durch den reinigenden Effekt, den das andauernde Schleifen der Palette über die Contre-Palette ausübt. Da außerdem die Eigenschwingung des Pendels nur relativ selten von den Impulsen zur Energiezuführung beeinträchtigt wurde und die Uhr deshalb gute Gangergebnisse hatte, verwundert es nicht, dass die Palettenhemmung bis lange nach dem Zweiten Weltkrieg bei der Hipp’schen Nachfolgefirma FAVAG verwendet wurde. Es war der erste auf Dauer betriebssichere Kontakt für elektrische Uhren.
42
Vgl. wie auch zum Folgenden Wyss 2005: 40.
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Abbildungen Abb. 1: Elektrouhr, Alexander Bain, Gehäuse 1845. In: Deutsches Uhrenmuseum, Inv. 2004-162. Abb. 2: Der Commutator oder Impulsgeber bei Steinheil, 1839. In: Steinheil, Carl August 1843: Beschreibung und Abbildung der von dem k. Akademiker und Conservator, Professor Dr. Steinheil erfundenen galvanischen Uhren. In: Kunst- und Gewerbeblatt des polytechnischen Vereins für das Königreich Bayern, 29 (1843). Spalte 133f. Abb. 3: Elektromagnetischer Pendelantrieb aus dem Patent von 1841. In: Bain, Alexander 1841: Improvements in the Application of Moving Power to Clocks and Timepieces. Patentschrift GB 8.783 vom 11. Januar 1841. Sheet 5, Fig. 1 (Detail). Abb. 4: Pendelantrieb im Patent von 1845. In: Bain, Alexander 1845: Electric Clock and Telegraphs, etc. Patentschrift GB 10.838 vom 25. September 1845. Sheet 8, Fig. 1 (Detail). Abb. 5: Muschelschieber. In: Deinhardt, Kurt/Schlomann, Alfred 1908: Illustrierte technische Wörterbücher in sechs Sprachen: Deutsch, Englisch, Französisch, Russisch, Italienisch, Spanisch. Bd. 3: Dampfkessel, Dampfmaschinen, Dampfturbinen. München u. a.: R. Oldenbourg. S. 660. Abb. 6: Der Hipp’sche Pendelantrieb, 1843. In: Polytechnisches Journal, 88 (1843). Taf. IV (Detail). Abb. 7: Mechanischer Pendelantrieb einer Hipp-Uhr. In: Crott 2005: Auktionskatalog der 70. Auktion im Sheraton Hotel Frankfurt am 7. Mai 2005. Mannheim: Auktionen Dr. H. Crott. Nr. 535. Abb. 8: Schalter für den elektrischen Pendelantrieb, um 1865. Foto: Thomas Schraven. Abb. 9: Morsetaster, um 1850. In: Schellen, Heinrich 1850: Der elektromagnetische Telegraph in den einzelnen Stadien seiner Entwicklung und in seiner gegenwärtigen Ausbildung und Anwendung, nebst einer Einleitung über die optische und akustische Telegraphie und einem Anhange über die elektrischen Uhren. Braunschweig: Vieweg. S. 219, Fig. 125.
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Verschlüsselte Bilder. Édouard Belin und die Geheimhaltung von Bildtelegrammen
Einleitung Am 1. November 1922 verkündete der »Matin« in Paris, dass es von nun an dank einer Erfindung des französischen Ingenieurs Édouard Belin möglich sei, Bildtelegramme geheim zu übertragen. Die knappe, aber euphorische Erfolgsmeldung lässt keinen Zweifel daran, dass damit ein drängendes Problem gelöst wurde, schließlich – »on le sait«1 – ist die drahtlose Übertragung jedweder Information äußerst unsicher. Auch in der Bildtelegraphie müsse man davon ausgehen, dass unerwünschte Empfänger vertrauliche Sendungen aufzeichnen, und daher geeignete Maßnahmen treffen, dies zu verhindern. Die bildtelegraphischen Systeme scheinen 1922 also bereits so weit entwickelt und verbreitet, dass die Übertragung von Bildern zur Routine geworden ist. Damit nämlich überhaupt eine Notwendigkeit besteht, Bildtelegramme zu verschlüsseln, muss selbst jemand, der keinen weiteren Kommunikationskanal zum Sender unterhält, in der Lage sein, sie zu empfangen. Es entspräche durchaus dem wirtschaftlichen Interesse Belins, dies seine Zeitgenossen glauben zu lassen. Der rhetorische Anteil der Nachricht im »Matin« darf daher nicht vernachlässigt werden, und wenn es darum geht, den technischen Fortschritt der Bildtelegraphie zu Beginn der Zwanzigerjahre des 20. Jahrhunderts zu beurteilen, muss sie zumindest skeptisch gelesen werden. So offenbart denn auch der Blick in die Patentschrift, auf die sie sich bezieht, eine Unstimmigkeit: Es ist laut dem Patent nicht erst seit November 1922 möglich, Bildtelegramme zu verschlüsseln, sondern bereits seit acht Jahren, seit dem Dezember 1914, als Belin seine Erfindung dem Patentamt vorlegte.2 Die Datierung dieser Erfindung auf den Beginn des ersten Weltkrieges verweist sie nun in einen Kontext, in dem sie zu mehr dient, als noch einmal den 1 2
Anonym 1922: 1. Belin 1914.
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Fortschritt der Bildtelegraphie zu untermauern. Vielmehr legt die Erfindung zu diesem Zeitpunkt die Frage nahe, ob es möglich wäre, die Bildtelegraphie als Kommunikationstechnik im Krieg einzusetzen und an ihre Sicherheit ähnliche Maßstäbe anzulegen, wie an die Sicherheit der Telegraphie von Texten. Wie diese Frage schließlich beantwortet wurde, ob die Bildtelegraphie im ersten Weltkrieg also eine Rolle spielte und eventuell sogar Belins Vorrichtung zur Geheimhaltung der Übertragung angewandt wurde, lässt sich hier jedoch nicht entscheiden. Weder die Zeitungsmeldung, noch die Patentschrift, noch die hauptsächlich an der Funktion von Belins Bildtelegraphen interessierte Literatur geben hierüber genügend Auskunft.3 Diese auf die Erfolgsgeschichte der Technik fixierte Frage soll auch in den Hintergrund treten, würde sie doch den Blick für die sehr viel interessantere Frage danach verstellen, wie sich die Bildtelegraphie gegenüber anderer Verschlüsselungstechniken ihrer Zeit positioniert. Wie verhält sich Belins Apparat gegenüber Techniken, mit denen die Übertragung von Funksprüchen gesichert wurde? Auf welche Weise macht er glaubhaft, dass Bilder so sicher wie Texte übertragen werden? Dies sind Fragen, die weniger die Verwirklichung oder Funktion der Apparate betreffen als vielmehr ihre Rhetorik, ihr »Plappern und Palavern« untereinander.4 Ihnen will dieser Aufsatz nachgehen, indem er nach einem kurzen Exkurs zu kryptographischen Methoden, die auf Texte angewandt wurden, Belins Erfindung von 1914 und eine spätere, die ebenfalls die Geheimhaltung von Bildern betraf, bespricht. Dabei soll gefragt werden, wie Belins Apparate und Methoden sich einerseits an die überkommene apparative Umsetzung der Bildtelegraphie anlehnen und wie sie andererseits textkryptographische Methoden aufnehmen.
Transposition und Substitution Die Kryptographie stellte seit jeher eine wichtige Kriegstechnik dar, ihre Bedeutung wuchs allerdings immens mit der Erfindung der Funktechnik. Mussten in früheren Jahrhunderten noch Boten und Briefe abgefangen und auch seit der Erfindung der drahtgebundenen Telegraphie noch Leitungen manipuliert und angezapft werden, bevor die Kryptologen zum Zuge kamen, erreichen gefunkte Nachrichten Feinde und Ver3 4
Vgl. z. B. Aisberg 1930. Kassung 2005: 209.
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bündete ohne Unterschied. Der große Vorteil der Radiotechnik, nicht an irdische Übertragungswege gebunden zu sein und potentiell unbegrenzt viele Empfänger zu erreichen, gerät ihr so zugleich zum großen Nachteil. Als im August 1914 das deutsche Heer in Frankreich einfiel, das heimische Telegrafennetz verließ und fortan per Funk kommunizierte, konnte sich der französische Geheimdienst aus dem Feld nach Paris zurückziehen.5 Hier arbeitete er nicht mehr daran, Nachrichten abzufangen, sondern daran, die empfangenen Funksprüche zu entschlüsseln, während auf der anderen Seite der deutsche Geheimdienst nicht länger nach sicheren Reiserouten für seine Kuriere suchte, sondern nach komplexen Chiffriermethoden und -apparaten. Auf diese Weise entwickelte sich ein Wettlauf der Geheimdienste, in dem Kryptographen und Kryptoanalytiker parallel zur Entwicklung neuer Übertragungstechniken Methoden und Apparate der Zeichenmanipulation erfanden, die über die Enigma, Turings Bombe und die Shannon’sche Informationstheorie bis in die heutige Computertechnik reichen.6 Die Kryptographie basiert trotz aller Komplexität, die sie im Laufe der Zeit annahm, auf einfachen Grundlagen. So arbeiten die Kryptologen mit der fundamentalen Eigenschaft jedes geschriebenen Textes, aus diskreten Token zu bestehen, die einer begrenzten Menge von Typen entnommen sind. Den Token entsprechen im Text die einzelnen, nachund untereinander notierten Buchstaben und den Typen die Zeichen des Alphabets, das verwandt wird.7 Jede kryptographische Methode beschreibt nun eine Reihe von Regeln, mit denen ein solcher Text diskreter Token in einen anderen umgewandelt wird. Hierbei liegen insbesondere zwei Zeichenoperationen, verschieden komplex und zumeist untereinander kombiniert, so gut wie jeder dieser Abbildungen zu Grunde: Substitution und Transposition.8 Substitution bedeutet, dass in einem Text der Typ jedes Zeichens durch einen anderen ersetzt wird. Für einen alphabetischen Text bedeutet dies, dass jeder Buchstabe durch einen bestimmten anderen Buchstaben oder auch eine Kombination mehrerer Buchstaben ersetzt wird. Ihre einfachste Form ist die Cäsar-Verschlüsselung, bei der jeder Buchstabe durch den Buchstaben an dritter Stelle im Alphabet nach ihm ersetzt wird. Ihre Abbildungstabelle sieht so aus: 5 6 7 8
Vgl. Kahn 1996: 298ff. Zur Entwicklung der Kryptologie und ihrer Apparate vgl. Beyrer 1999 und Kahn 1996. Zu den Eigenschaften solcher Texte unter dem Stichwort des Digitalen vgl. Haugland 2004. Für eine Darstellung solcher Methoden aus der Zeit, da auch Belin die hier besprochenen Erfindungen vorstellte, vgl. Givierge 1925: 5ff.
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Klartext: abcdefghijklmnopqrstuvwxyz Chiffriertext: d e f g h i j k l m n o p q r s t u v w x y z a b c Und der Name »Édouard Belin« würde folgendermaßen verschlüsselt werden: Klartext: Edouard Belin Chiffriertext: hgrxdug eholq Eine solch einfache Cäsar-Verschlüsselung kann mit statistischen Methoden relativ schnell aufgedeckt werden. Substitutionen können sich jedoch komplexer gestalten. So werden zum Beispiel Alphabete anderer Ordnung oder Größe verwandt. Ist die Position jedes Token im Text eindeutig bestimmt, werden sie also gezählt oder sind sie sogar einzeln addressierbar, kann auch auf jeden Token eine eigene Substitutionsregel angewandt werden. Auf einer solchen polyalphabetischen Verschlüsselung basierte beispielsweise die für den Verlauf des zweiten Weltkrieges so bedeutende Enigma. Bei ihr wurde auf einem Tastenfeld der Klartext getippt, und abhängig von der Stellung mehrerer hintereinander geschaltetet Walzen ein Typenrad gesteuert, das den Buchstaben im Chiffriertext druckte. Die Walzen drehten sich nach jedem Anschlag in eine andere Stellung und erzeugten so für jedes Zeichen eine neue Substitutionsregel.9 Bei der reinen Transposition verändern sich die Typen der Token nicht, stattdessen wird die Position der einzelnen Token im Text neu bestimmt. Eine einfache Methode, um einen Klartext per Transposition zu verschlüsseln, könnte zum Beispiel darin bestehen, den Klartext in einem Zwischenschritt in Zeilen zu je vier Zeichen Länge zu notieren und hieraus anschließend den Chiffriertext durch spaltenweises Abschreiben zu erzeugen. Für den Namen »Édouard Belin« würde dies so aussehen: Klartext: Edouard Belin Transposition: E d o u ard* Beli n*** Chiffriertext: EaBndre*odl*u*i* Eine einfache Transposition kann gelöst werden, indem in der Hoffnung, auf den Klartext zu stoßen, verschiedene Anagramme aus den 9
Vgl. Scherbius 1923.
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Zeichen des Chiffriertextes erstellt werden. Selbstverständlich sind aber auch hier Möglichkeiten denkbar, bei denen die Transposition nach sehr viel komplexeren Anweisungen vorgenommen wird. Chiffriermethoden, die eine größere Sicherheit bieten, kombinieren in der Regel Transposition und Substitution. So durchliefen in der ADFGV-Verschlüsselung, die die deutschen Truppen im ersten Weltkrieg verwandten, die Zeichen zuerst eine Substitution, in der jedes Zeichen durch ein Paar aus den besonders einfach zu telegraphierenden Zeichen A, D, F, G und V ersetzt wurde. Anschließend unterlief der neue, nun doppelt so lange Text eine Transposition, in der die Zeichenpaare wieder auseinander gerissen wurden. Auf diese Weise konnte der Chiffriertext weder durch eine statistische Analyse, noch durch versuchsweise erstellte Anagramme allein aufgelöst werden.10 Die Kryptographie arbeitet an der opaken Oberfläche des Textes. Solange sie im »Operationsraum Schrift«11 Zeichen in regelgeleiteter Form manipuliert, verschiebt und ersetzt, ignoriert sie den Sinn des Textes, dessen Sprachlichkeit sie nicht zu interessieren braucht. In ihren Techniken, die im einfachsten Fall bloß Stift und Papier benötigen, bezieht sie sich alleine auf die grundlegende Eigenschaft zeichenhafter Texte, aus diskreten Token bestimmter Typen zu bestehen. Diese Eigenschaft fehlt jedoch den Bildern, deren Verschlüsselungsmethoden im Folgenden betrachtet werden.12 Als kontinuierliche Farbverläufe auf einer nicht per se strukturierten Fläche bilden sie keinen ähnlichen Operationsraum, in dem Regeln zur Zeichenmanipulation beschrieben und angewandt werden könnten. Es bleibt daher im Folgenden zu betrachten, wie Belin in seinen Bildchiffrierapparaten mit dieser Differenz umgeht und ob und in welcher Weise die Techniken, die seine Apparate umsetzen, sich trotz dieser Differenz auf textkryptographische Techniken beziehen.
Retardierte Synchronisation Mit dem Patent, das Belin am 24. Dezember 1914 dem französischen Patentamt vorlegte, kündigt er eine Vorrichtung an, die das Geheimnis telegraphischer, teleautographischer und fototelegraphischer 10 11 12
Vgl. Kahn 1996: 339ff. Zum »Operationsraum Schrift« vgl. Krämer 2005. Sofern sie nicht beispielsweise mit der Methode der Zwischenklischees in Texte umgewandelt wurden (vgl. Kassung 2007: 348).
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Übertragungen, ob drahtlos oder nicht getätigt, sichern würde.13 Tatsächlich bezieht sich das Patent jedoch in erster Linie auf die drahtlose Bildtelegraphie. Wie sich im Aufbau des Apparates zeigen wird, hängt seine Funktion nämlich eng mit der Lösung des für die Bildtelegraphie spezifischen Synchronisationsproblems zusammen. Seine Anwendung auf andere telegraphische Systeme ergäbe nur dann Sinn, wenn sie in ihrer Funktion der Bildtelegraphie angeglichen werden und insbesondere auch deren Synchronisationsvorrichtung aufnehmen. Dass zudem nur die drahtlose Übertragung gemeint sein kann, wird daran deutlich, dass in der drahtgebunden Bildtelegraphie das Sicherheitsproblem nur eingeschränkt besteht. Jedes Anzapfen der Leitung würde sofort durch einen beträchtlichen Spannungsabfall bemerkt werden. Wenn nur eine Leitung vom Sender zum Empfänger führt, kann der Empfänger sie kappen, wann immer er Unregelmäßigkeiten bemerkt, und somit die größtmögliche Störung in der Übertragung auslösen. Erst dort, wo verstärkt und gefunkt, wo ein Signal in den unkontrollierten Raum gesendet und von unbestimmt vielen Empfängern verstärkt wird, ist ein heimliches Mitlesen möglich und muss auf andere Weise verhindert werden. Die Beziehung dieser Erfindung zur Bildtelegraphie verdeutlicht ein Blick auf die dem Patent beigelegten Zeichnungen. Drei von ihnen führen Details aus (z.B. Abb. 3), die anderen beiden stellen den Geber (Abb. 1) und den Empfänger jeweils zur Gänze dar. Diese letzten beiden unterscheiden sich nur in den Uhren, die die Synchronisationsvorrichtung steuern und als einzige Bauteile in den Übersichtszeichnungen plastisch gezeichnet sind. Dass das Patent beide Zeichnungen dennoch vollständig enthält und nicht stattdessen die unterschiedlichen Uhren nur in Detailzeichnungen wiedergibt, zeigt zweierlei: Erstens, wie wichtig diese Uhren und mit ihnen die Synchronisation für die Funktion der Vorrichtung sind, und zweitens, dass Geber und Empfänger, so ähnlich sie sich sein mögen, in jedem Fall als zwei unterschiedliche Apparate gedacht werden. Sie arbeiten hier immer getrennt, aber gleichzeitig und niemals in der Art eines kryptographischen Apparats – wie beispielsweise der Enigma – vereint in einem Gerät, sondern nacheinander. In der Abbildung des Gebers fällt zuerst auf, dass vieles fehlt, was üblicherweise zu einem Bildtelegraphen gehört. Es wird weder eine Vorrichtung zum Ablesen des Bildes noch eine zur Übertragung des Signales gezeigt. Ebenso fehlen auf der Empfängerseite die Vorrichtungen zum Empfangen und zur Aufzeichnung des Signales. An beiden Seiten ist all dieses auf die Walze A reduziert. Sie muss für den Leser, 13
Vgl. Belin 1914.
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dessen Vertrautheit mit anderen bildtelegraphischen Apparaten vorausgesetzt wird, pars pro toto Abtastung, Übertragung und Aufzeichnung vertreten und gibt damit Leerstellen vor, die auf beliebige Weise gefüllt werden können. Ob das Bild mit Hilfe einer Fotozelle oder per Reliefabtastung die Stärke des Stromes beeinflusst, ist ebenso freigestellt wie die Entscheidung für eine fotochemische oder eine andere Aufzeichnungsform. Von Bedeutung ist alleine, dass das Bild von einer Walze abgelesen und auf einer Walze aufgezeichnet wird, und auf welche Weise diese Walzen angetrieben werden. Abbildung 1: Der Geber.
Wenn das flächige Bild in der Bildtelegraphie auf den zeitlich linearen Wechsel stärkerer und schwächerer Ströme reduziert wird, geht jede Information über die Zuordnung eines Zeitpunktes zu einem bestimmten Bildpunkt verloren. Es muss daher sichergestellt werden, dass Geber- und Empfängerwalze mit gleicher Geschwindigkeit drehen, da der Empfänger andernfalls nur ein unverständliches Durcheinander verschieden gefärbter Zeilen aufnimmt. Seit den ersten Kopiertelegra-
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phen von Alexander Bain und Frederick Bakewell stellt diese Synchronisation aber ein bedeutendes Problem dar. Gegenüber der idealen Physik, nach der es genügt hätte, hierfür die gleichmäßige Schwingung eines Pendels zu nutzen, eignete der apparativen Umsetzung nämlich immer eine störende Ungenauigkeit.14 Belin sah sich in seinen Systemen damit konfrontiert, dass es nicht möglich schien, zwei Motoren, selbst wenn sie zur selben Zeit gestartet wurden, während der gesamten Übertragung in gleicher Geschwindigkeit laufen zu lassen. Er löste dieses Problem durch eine synchronisation par bloquage, in der die Empfängerwalze etwas schneller lief als die Geberwalze, beide Walzen nach jeder Umdrehung anhielten und von synchronisierten Uhren gesteuert gleichzeitig die nächste Umdrehung begannen.15 Nachdem er also zuerst die Unwägbarkeiten der Mechaniken in einen ungenauen Teil, den Kraft liefernden Antrieb, und in einen gleichmäßig laufenden Teil, die feinmechanisch getriebenen Uhren, aufgeteilt hatte, verhinderte er so, dass sich die Unregelmäßigkeiten des Motores von Zeile zu Zeile aufaddierten. Genaugenommen verschob er damit das Problem nur; statt der Motoren galt es nun den Einfluss der Uhren auf die Drehung der Walzen zu synchronisieren. Da Belin aber davon ausgehen konnte, dass seine Uhren über einen genügend langen Zeitraum gleich lange Takte gaben, konnte er es darauf reduzieren, im selben Moment am Geber und Empfänger den Beginn einer ersten Zeile durch die Taktschlag der Uhren auszulößen, worauf alle späteren Zeilen ebenfalls synchron übertragen werden. Die Uhr am Geber, im Patent als einfacher Kasten 11 (Abb. 1) gezeichnet, wird hierfür nicht weiter beeinflusst. Sie schließt in regelmäßigen Abständen einen Stromkreis, durch den eine Sperre an der Achse 6 gelöst wird und die Übertragung der nächsten Zeile beginnt. Die Uhr am Empfänger, von Belin als Pendeluhr 14 (Abb. 2) gezeichnet, schließt zwar ebenfalls in regelmäßigen Abständen einen Stromkreis, löst hierdurch allerdings nur die Sperre an der Synchronisationsvorrichtung C, die erst nach einer frei einstellbaren Dauer jenen Stromkreis schließt, der auch die Blockierung der Achse 6 des Empfängers freigibt. Nun geht es darum, die Verzögerung durch die Vorrichtung C so einzustellen, dass sie genau der Zeit zwischen den Taktschlägen beider Uhren entspricht und somit die Achsen 6 am Geber und Empfänger zur selben Zeit gelöst werden. Um dies zu erreichen, wird über einen anderen, meist akustischen Kanal der Impuls der Uhr am Geber zum Empfänger übertragen, der nun die Vorrichtung C so einstellen kann, dass sich die Impulse des Gebers mit denen der Vorrichtung C 14 15
Vgl. Kassung 2005. Vgl. Aisberg 1930: 94ff.
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genau überlagern. Vorausgesetzt, die Uhren geben Takte gleicher Länge, werden auf diese Weise bis zum Ende der Übertragung die Achsen 6 jeweils im selben Moment freigegeben.16 Abbildung 2: Die Uhr am Empfänger mit der Synchronisationseinrichtung C.
Aus dieser Lösung des Synchronisationsproblemes entwickelte Belin seine Vorrichtung, um die Bilder sicher zu übertragen. In anderen bildtelegraphischen Apparaten würden die Achsen 6 nämlich selbst die Walzen A drehen, auf denen das Bild und seine Kopie aufgespannt sind. In Belins Vorrichtung setzen sie aber stattdessen sowohl im Geber als auch im Empfänger erst einen Mechanismus in Gang, der analog zur Verzögerung durch die Synchronisationseinrichtung C noch eine weitere Verzögerung bewirkt. An den Achsen 6 ist hierfür ein Kontaktblatt 9 befestigt, das sich innerhalb von sechs Ringen 5 dreht. In jedem Ring sitzt ein Kontaktzapfen 8, und erst in dem Moment, in dem das Kontaktblatt einen bestimmten dieser Kontaktzapfen streift, wird der Stromkreis geschlossen, der die Blockierung der Walze freigibt. An welchem Kontaktzapfen der Stromkreis jeweils geschlossen wird, hängt dabei von der Stellung des Schleifkontaktes 10 ab, der nach jeder Umdrehung des 16
Diese Methode, zwei taktgebende Uhren zu synchronisieren, meldete Belin 1913 zum Patent an (vgl. Belin 1913).
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Kontaktblattes, also nach jeder Zeile, den Stromkreis über einen anderen Kontaktzapfen schließt. Indem nun die Ringe 5 mit den Kontaktzapfen 8 in eine bestimmte Stellung gebracht werden, lässt sich für jede Zeile genau einstellen, wieviel Zeit zwischen der Freigabe der Achsen 6 und der Drehung der Walzen liegt (Abb. 3). Selbstverständlich müssen Geber und Empfänger die Ringe in gleicher, von Belin als Nummernkombination ausgedrückter Weise einstellen, so dass die Verzögerung bei beiden gleich lang ist. Ansonsten beginnt der Geber bereits mit der Übertragung einer Zeile, bevor die Empfängerwalze zu drehen beginnt, oder beginnt umgekehrt der Empfänger bereits mit der Aufzeichnung, während der Geber noch kein Signal oder nur ein Störsignal sendet. Ein unerwünschter Empfänger, der die Stellung der Kontaktringe nicht kennt, wird die Verzögerung der Drehung nicht richtig einstellen können und seine Empfängerwalze immer zu früh oder zu spät mit der Drehung beginnen. Er wird daher nur unvollständige und zueinander versetzte Zeilen aufzeichnen. Belins Methode, Bilder geheim zu übertragen, schließt an die historisch gewachsene apparative Umsetzung der Bildtelegraphie an. Das Problem der Synchronisation entstand in ihr, weil das übertragene Signal nicht getaktet und nicht gezählt wird. Im Gegensatz zu Texten, in denen jeder Buchstabe einen bekannten Ort einnimmt, ist das Signal der Bildtelegraphie gleichförmig linear und enthält keine Informationen, die es einem Ort im Bild zuordnen würden. In der synchronisation par bloquage wird dieses Problem umgangen, indem sie das Signal eben doch taktet und das Bild in diskrete Zeilen auflöst. Um Bilder zu übertragen, werden nun allerdings immer zwei Informationen benötigt: Das lineare Signal mit den Bildinformationen einerseits und der Zeitpunkt, an dem eine neue Zeile beginnt, als Takt andererseits. Solange beide nicht zusammen in einem Kanal übertragen werden, wie es später durchaus üblich wurde,17 musste der Takt, in dem Geber und Empfänger jede Zeile beginnen, über die Synchronisation der entsprechenden Impulse gespeichert werden.
17
Hierbei wurde nach jeder Umdrehung der Geberwalze ein stärkerer Stromstoß (»top de synchronisation«) übertragen. Dieser zog beim Empfänger einen Elektromagneten an, durch den die Empfängerwalze freigegeben wurde (vgl. Aisberg 1930: 94ff.).
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Abbildung 3: Die Kontaktringe.
Diesen Umstand macht sich Belin zu Nutze, wenn er in seiner Vorrichtung zwar nicht das Bildsignal selbst, stattdessen aber die gespeicherten Taktangaben verschlüsselt. Hierzu ersetzt er die sofortige Auslösung der Walzendrehung nach dem entsprechenden Impuls durch eine bestimmte Zeit, die zwischen Impuls und Drehung noch vergehen muss. In den sechs Nummernrädern, die die äußere Form späterer Rotormaschinen wie der Enigma vorwegnehmen, erhält die Länge dieser Zeit einen diskreten Wert, der zur Chiffre der Übertragung wird. In den Begriffen der Kryptographie ausgedrückt, unterzieht Belin den gespeicherten Takt, der außer seiner Länge und seinem Beginn nur die Nullinformation »sofort« enthielt, einer Substitution, die das »sofort« durch einen beliebigen anderen Wert aus einer begrenzten Menge diskreter Werte ersetzt. Die Ähnlichkeit dieser Vorrichtung mit textkryptographischen Methoden bleibt dennoch wage. Belins Verschlüsselung von Bildern wird nicht auf der symbolischen Ebene oder einem anders gearteten »Operationsraum Bild« vollzogen, sondern im Apparat und der Übertragung selbst. In Texten ist es gerade die Arbitrarität und Diskretheit der Symbole, die eine beliebige Zuordnung und Umwandlung erlaubt. In der Bildtelegraphie, die zwar den Klartext Bild in den Chiffriertext elektrisches Signal umwandelt, ist diese Umwandlung jedoch nicht beliebig, sondern stets kontinuierlich und proportional. Diskret ist hier nur das Taktsignal und die Nummer, die als Chiffre die Länge der Verzögerung bestimmt. Indem der Takt nun aber maßgeblich für die Verschlüsselung wird, bleibt die Verschlüsselung immer an die Zeitlichkeit der Übertragung gebunden. Ein speicherbares und auf beliebige Weise zu transportierendes Bild ähnlich einem archivierbaren Chiffriertext wird hierbei nicht erzeugt. Dieses entsteht erst gegen Ende der zwanziger Jahre in einem Apparat, mit dem Belin noch einmal das Problem der Verschlüsselung von Bildern aufnimmt.
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Ein »Wirrwarr« von Linien Die Patentschrift, mit der Belin seine »Méthode et appareil pour le chiffrage et le déchiffrage de tous documents« im Frühjar 1929 zum Patent anmeldet, schließt an eine aus der klassischen Kryptographie bekannte Situation an: [L]e document remis par l‘auteur pour la transmission sera illisible même pour l‘opérateur chargé du fonctionnement du poste transmetteur et de même à l‘arrivée l‘opérateur de réception ne recevra qu‘un document illisible; seul le destinataire pourra le transformer en une pièce claire.18
Wie Briefe verschlüsselt werden, bevor der Bote sie überträgt, sollen nun auch unleserliche Bilder entstehen, bevor die eigentliche Übertragung beginnt. Nur der Sender und der Empfänger kennen den Schlüssel, mit dem aus dem Klarbild das Chiffrierbild und daraus umgekehrt wieder das Klarbild erzeugt wird. Jeder andere, der zwar das verschlüsselte Bild und sogar die Methode kennt, nach der es verschlüsselt wurde, kann auf ihm nichts erkennen. Im Gegensatz zu der Vorrichtung von 1914, bei der Ver- und Entschlüsselung noch gleichzeitig, aber in verschiedenen Apparaten abliefen, leistet der neue Apparat, den Belin hier vorstellt, beides, jedoch zeitversetzt. An die Zeitlichkeit der bildtelegraphischen Übetragung ist er nicht gebunden, und so ist denn auch nebensächlich, wie die verschlüsselten Bilder vom Sender zum Empfänger gelangen. Hier können menschliche Boten und Kuriere genauso zum Einsatz kommen wie bildtelegraphische Systeme. Die Telegraphie der Bilder fällt auf diese Weise aus der Funktion des Apparates heraus, dennoch ähnelt er den älteren bildtelegraphischen Systemen (Abb. 4): Eine Geber- und eine Empfängerwalze tragen das Original und die Kopie, mit Hilfe eines optischen Systems liest der Apparat das Bild von der Geberwalze 1 und schreibt es auf die Empfängerwalze 6, und selbst die Schraubenlinie, in der das Licht in anderen Bildtelegraphen über das Bild gleitet, findet sich in einer schraubenförmigen Öffnung 8‘ auf der Einfassung 8 der Empfängerwalze wieder. Belins neuer Apparat, der kein Bildtelegraph mehr sein will, der die Übertragung vom Akt der Verschlüsselung trennt, ist hierin deutlich als Derivat der Bildtelegraphie zu erkennen. 18
»Das von seinem Urheber zur Übertragung vorgesehene Dokument ist selbst für den Betreiber des Sendepostens unleserlich. Ebenso empfängt bei seiner Ankunft der Bediener des Empfangspostens nichts als ein unleserliches Dokument. Allein der Adressat kann es in ein erkennbares Bild transformieren.« (Übersetzung NSV).
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Abbildung 4: Der Chiffrierapparat von 1929 (Darstellung aus der US-amerikanischen Patentschrift).
Der neue Apparat überträgt das Bild von der Geber- zur Empfängerwalze auf optischem Wege, ohne es zwischenzeitlich in elektrische Ströme umzuwandeln. Anstatt dabei einer kontinuierlichen Linie zu folgen, die sich um beide Walzen schraubt, teilt er es in einzelne Linien auf, die parallel zu den Achsen der Walzen liegen, und überträgt es so Spalte für Spalte. Die Übertragung jeder einzelnen Spalte teilt sich zudem in zwei Vorgänge, deren Dauer jeweils einer halben Umdrehung der Antriebsachse M entspricht. Während der ersten halben Umdrehung wird die betreffende Spalte des ursprünglichen Bildes in das verschlüsselte Bild kopiert: Hierbei wird eine Mantellinie der Geberwalze 1 von dem flächig gebündelten Licht einer künstlichen Lichtquelle S angestrahlt und reflektiert dieses Licht über einen Spiegel 35 auf die Einfassung 8 der Empfängerwalze.19 Durch die Konstruktion der Einfassung wird erreicht, dass 19
In der Zeichnung, die der französischen Patentschrift beiliegt, fehlt die Darstellung des Strahlengangs ebenso wie seine Beschreibung im Text. In der in diesem Artikel wiedergegebenen Zeichnung aus der US-amerikanischen Patentschrift ist der Strahlengang zwar dargestellt, jedoch im Widerspruch zur Beschreibung im selben Patent. In der Zeichnung scheint das Licht nur von einem Punkt der Geberwalze auf ebenfalls nur einen Punkt der Empfängerwalze reflektiert zu werden, während
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jeweils nur ein Punkt belichtet wird. Auf ihrer einen Hälfte zieht sich nämlich schraubenförmig von einem Ende zum anderen die Öffnung 8’ und fährt, während die Einfassung von der Achse M um die Empfängerwalze 6 gedreht wird, über die schlitzförmige Öffnung 7’ einer inneren, stillstehenden Einfassung 7. Wo sich nun die schraubenförmige Öffnung 8’ und der Schlitz 7’ kreuzen, wird ein Punkt auf der Empfängerwalze belichtet, der sich während einer halben Drehung der Einfassung 8 und der Achse M von einem Ende des Schlitzes zum anderen bewegt. Auf diese Weise überträgt sich die ganze Mantellinie von der Geberwalze auf die Empfängerwalze. Da jedoch während dieser Übertragung die Achse M gleichzeitig den Spiegel 35 über ein System verschiedener Zahnräder (28, 33, 27, 34, 39) bewegt, erscheint die übertragene Linie auf der Empfängerwalze verzerrt. Während der zweiten Hälfte der Umdrehung der Achse M werden Geber- und Empfängerwalze für die Übertragung einer neuen Mantellinie weiterbewegt. Die Bewegung der Geberwalze 1 setzt ein, wenn die Achse M an einem Punkt ihrer Drehung den Kontakt 17 schließt. Hierüber wird ein Stromkreis geschlossen, der den Elektromagneten 3 auslöst. Mit dem Elektromagneten ist eine Klinke 2a verbunden, die das mit der Geberwalze 1 verbundene Zahnrad 2 um einen Zahn weiterbewegt, so dass sich die Geberwalze um die Breite einer Linie weiterdreht. Die Empfängerwalze dreht sich in derselben Zeit um eine beliebige Anzahl von Linien weiter. Eine von der Achse M angetriebene Klinke bewegt hierzu das Zahnrad 20, das mit der Empfängerwalze fest verbunden ist. Wieweit die Klinke das Zahnrad weiterdreht, hängt dabei aber von der Höhe eines Stiftes p ab, auf dem sie ruhte, während die letzte Linie übertragen wurde. Insgesamt sieht Belins Entwurf zehn verschieden hohe Stifte p vor, von denen nach jeder übertragenen Linie ein anderer die Klinke 23 hält, und so wird die Empfängerwalze nach jeder übertragenen Linie um eine verschieden große Anzahl von Linien weitergedreht. Aufgrund der Art, in der die Empfängerwalze gedreht wird, könnte der Fall eintreten, dass Linien der Empfängerwalze, die schon belichtet sind, unter dem Spalt 7 zum Ruhen kommen und erneut belichtet werden. Um dies zu verhindern, ist eine weitere Vorrichtung 36 notwendig, die sich rechts neben der Empfängerwalze befindet. Sie trägt für der Text von einem »plane beam«, einem flächigen Strahl, spricht (Belin 1930: 1). Die Darstellung in der Zeichnung ist offensichtlich fehlerhaft. Dies lässt sich zudem daran erkennen, wie die Strahlen, die von einem Punkt der Mantellinie der Geberwalze ausgehen, sich auf ihrem Weg zum Spiegel auffächern und von diesem reflektiert sich bereits wieder bündeln, noch bevor sie die Linse O passieren.
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jede Linie der Empfängerwalze einen verschiebbaren Kontaktstift 41. In seiner Ausgangslage schließt der Kontaktstift einen Stromkreis, in dem ein Elektromagnet die Blende 19 aus dem Strahlengang des Lichtes zieht und so die Belichtung ermöglicht. Nach der Belichtung wird der Kontaktstift verschoben, und schließt von nun ab den Stromkreis nicht mehr, wenn zu einem späteren Zeitpunkt dieselbe Linie noch einmal belichtet würde. Die Blende wird dann also nicht aus dem Strahlengang des Lichtes gezogen, unterbricht ihn und verhindert damit die erneute Belichtung. Belins neuer Chiffrierapparat verschlüsselt das Bild, während er es kopiert, auf zwei Arten: Zum Ersten wird jede einzelne Linie im Kopiervorgang verzerrt und zum Zweiten werden die Linien in der Kopie in einer anderen Reihenfolge als im Original aufgezeichnet. Belin nennt das Ergebnis ein »imbroglio«, ein »Wirrwar«, in dem die ursprüngliche Darstellung nicht mehr erkannt wird.20 Der Apparat ruft es auf eine Weise hervor, die ihn deutlich von früheren Bildtelegraphen unterscheidet. Während dort nämlich noch das Original in einer kontinuierlichen Linie abgelesen und die Kopie ebenso kontinuierlich, wenn auch zeitlich getaktet, aufgezeichnet wird, behandelt dieser Apparat jede einzelne Linie als diskrete Einheit.21 Indem der neue Apparat den Kopiervorgang einer Linie von der Fortbewegung der Walzen trennt, wird die Trennung zwischen dem Takt, in dem eine Linie der nächsten folgt, und der kontinuierlichen Übertragung jeder einzelnen Linie absolut. Statt gleichlaufender Bewegung werden nun einzelne Ereignisse synchronisiert, und es zählt fortan alleine, dass die korrekte Reihenfolge zwischen Übertragung und Drehung eingehalten wird. Die Geschwindigkeit, in der beides erfolgt, verliert dagegen ihre Bedeutung und mit ihr die der früheren Bildtelegraphen inhärente Dimension der Zeit. Ein Binärspeicher, der für jede Linie speichert, ob sie belichtet oder unbelichtet ist, und so verhindert, dass einzelne Linien überschrieben werden, ersetzt die Uhren, die einst Ordnung stifteten, indem sie bewirkten, dass jeder Punkt dort auf der Kopie erscheint, wo er im Original gelesen wurde. An die Stelle der kontinuierlichen Verortung der übertragenen Punkte in der Zeit tritt damit die Addressierbarkeit einzelner Linien und die Speicherbarkeit ihrer Zustände.
20 21
Belin 1929: 1. Zum Gleichlauf der Apparate vgl. auch den Text »Technischer Gleichlauf zwischen Sendung und Empfang« von Albert Kümmel-Schnur in diesem Band.
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Der neue Apparat positioniert sich deutlicher als der Apparat von 1914 in der Nähe klassischer Kryptographie. Während es im früheren Patent erst an später Stelle im Text heißt, dass ein Bild »indéchiffrable« wäre, trägt das neue Patent die »chiffrage«, die »déchiffrage« und damit die »chiffre«, die Zahl oder das Zeichen schon in seinem Titel.22 Und während die Funktion des früheren noch eng mit der überlieferten Form des Bildtelegraphen zusammenhing, erscheint der neue eher als die apparative Umsetzung von Methoden, die auch auf Texte angewendet werden. Die Verschiebung der diskreten Linien im verschlüsselten Bild entspricht dabei der Transposition in Texten. Wie diese Transposition im Text die ursprüngliche Reihenfolge der Buchstaben auflöst und sie in eine neue Ordnung bringt, verteilen sich auch hier die Linien in neuer Weise. Die Verzerrung der Linien durch die Bewegung des Spiegels kann sogar in zweifacher Weise, entweder als Transposition oder als Substitution verstanden werden. Im Sinne einer Transposition würde jeder Punkt der Linien einen neuen Platz einnehmen, im Sinne der Substitution würde dagegen eine ganze Linie durch eine andere, eine verzerrte Version ihrer selbst, ersetzt werden. Die Chiffre des Bildes, die zu kennen notwendig ist, um es zu entschlüsseln, liegt dabei in der Kombination der Zahnräder, die den Spiegel bewegen, und der Höhe der einzelnen Stifte, die bestimmen, um wie viele Linien sich die Empfängerwalze nach jeder Belichtung weiterdreht. Gerade die doppelte Funktion, die die Verzerrung der Linien hat, zeigt aber auch, dass die kryptographischen Methoden, die der neue Apparat Belins umsetzt, nicht exakt den textkryptographischen entsprechen. Dass sich nicht deutlich entscheiden lässt, ob es sich hier um eine Substitution oder eine Transposition handelt, hängt damit zusammen, dass jede einzelne Linie kontinuierlich verläuft und sich nicht aus diskreten, addressierbaren Punkten zusammensetzt. In einer Transposition von Texten wechseln die Buchstaben nämlich nicht einfach nur ihren Ort, sondern wechseln vor allem auch ihre Reihenfolge. Diese bleibt aber in der Stauchung und Streckung der Linie erhalten. Ebenso stellt auch die Substitution eines Buchstaben durch einen anderen aus einem bestimmten Alphabet kein Äquivalent für die Verzerrung einer Linie dar. Die Substitution basiert gerade darauf, dass der neue Buchstabe keinen inneren Bezug zu dem ersetzten hat. Die verzerrten Linien stehen dagegen immer in einem proportionalen Zusammenhang mit dem Original. Von einer Vertauschung unterschiedener, endlich abzählbarer Token kann daher nicht gesprochen werden. In dieser Schwierigkeit, die Verzerrung der Linien mit der Substitution oder Transposi22
Belin 1929: 1.
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tion von Texten gleichzustellen, bleiben die Unterschiede deutlich, die trotz der Ähnlichkeit zur klassischen Kryptographie, um die sich Belins Apparat und Methode bemühen, weiterhin bestehen.
Das codierte Bild Zu Beginn des ersten Weltkrieges übertrug das Militär Nachrichten erstmals in einem bedeutenden Ausmaß drahtlos. Die Sicherheit der Übertragung wurde dadurch zu einem drängenden Problem, auf das die Entwicklung neuer kryptographischer Methoden antwortete. Auch Belin reagierte auf dieses Problem, als er im Dezember 1914 seinen ersten Bildchiffrierapparat zum Patent anmeldete und darstellte, wie sich Nachrichten mit den Mitteln der Bildtelegraphie geheim übertragen ließen. In diesem Patent lag dabei nicht nur die Behauptung, man könne die Bildtelegraphie in absehbarer Zeit als militärisches Kommunikationsmittel einsetzen, sondern vor allem auch die, dass sie der Telegraphie von Texten unter dem Aspekt der Sicherheit durchaus ebenbürtig, wenn nicht sogar überlegen sei. Wenn man die Bildtelegraphie unter dem Sicherheitsaspekt in Konkurrenz zur Telegraphie von Texten betrachtet, trägt die Differenz von Bild und Text eine ganz eigene Rethorik: Einerseits kann man diese Differenz verleugnen und Gemeinsamkeiten erzeugen, um zu zeigen, dass sich Bilder in gleicher Weise wie Texte manipulieren ließen, andererseits kann man die Differenz aber auch betonen, um den Vorrang der Bildtelegraphie herauszustellen. Diese Rethorik wird zwar in keinem der beiden behandelten Patente selbst explizit, doch tritt sie in den möglichen Methoden zur Verschlüsselung von Bildern hervor. So basieren diese Methoden entweder auf der apparativen Grundlage der Bildtelegraphie selbst, oder sie setzen klassische Verfahren der Kryptographie apparativ um und wenden sie auf Bilder an. Diese gegensätzlichen Strategien verfolgen auch die beiden Patente von Belin: Während das von 1914 noch in erster Linie eine bereits vorhandene Synchronisationsvorrichtung der Bildtelegraphie weiterentwickelt, wendet jenes von 1929 vielmehr explizit textspezifische Verfahren auf Bilder an. Bereits eingangs wurde behauptet, dass die textkryptographischen Verfahren, kombinierte Transpositionen und Substitutionen, auf der vermeintlichen Eigenschaft von Texten basieren, aus diskreten Token einer begrenzten Menge arbiträrer Typen zu bestehen. In diesem Sinne wäre es fraglich, wie überhaupt solche Verfahren auf Bilder angewandt werden könnten, wo Bilder doch ganz anderer Art als Texte
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sind. Es läge nahe zu behaupten, dass Belin in seinem Apparat von 1929 zwar textkryptographische Verfahren auf Bilder anwendet und Bilder damit wie Texte behandelt, dass aber eine grundlegende Differenz sich nicht aufheben ließ. Während also der frühere Apparat der Differenz von Bild und Text Rechnung trägt und als organische Ergänzung einer bereits vorhandenen Technik gelten darf, hätte der spätere Apparat nur in künstlicher Analogie zur Kryptographie gearbeitet, die nachgeahmten Techniken selbst aber nicht aufgenommen. Diese Betrachtungsweise rückt die vermeintlich natürlichen Eigenschaften der Medien Bild und Text in den Mittelpunkt und leitet daraus ab, welche Verschlüsselungstechniken diesen Medien jeweils angemessen sind. Umgekehrt ließen sich jedoch auch die Apparate und die in ihnen umgesetzten Methoden in den Mittelpunkt rücken, wodurch die natürlichen Eigenschaften der Medien zugunsten der Verschlüsselungsverfahren, die auf beide angewandt werden, an Bedeutung verlören. Man könnte dann behaupten, dass nicht die Eigenschaften von Texten und Bildern bestimmte Verfahrensweisen bedingen, sondern, dass umgekehrt den Texten oder Bildern erst die entsprechenden Eigenschaften verliehen werden, um auf bestimmte Weise mit ihnen verfahren zu können. Für die Bildtelegraphie ist dies evident. So bestehen Bilder nicht aus einer kontinuierlichen Linie, die sich um eine Walze schraubt, sondern erst eine bestimmte apparative Verwirklichung der Bildtelegraphie, eine Verfahrensweise, transformiert das Bild in eine solche Line. In gleicher Weise prädestiniert auch nicht die Linearität eines Textes den Text für die telegraphische Übertragung über einen einzelnen Kanal, sondern der Text, der als Schriftbild auf einer zumeist zweidimensionalen Seite vorliegt, wird erst, um ihn so übertragen zu können, in eine rein lineare Abfolge von Zeichen transformiert. In Bezug auf Belins Bildchiffrierapparate bedeutet diese Betrachtungsweise, dass nicht nach der Differenz oder Ähnlichkeit von Bild und Text gefragt wird, sondern nach Unterschieden und Gemeinsamkeiten in den kryptographischen Techniken, die auf sie angewandt werden. Die Vorrichtung von 1914 zur Verschlüsselung von Bildern hat sich direkt aus der apparativen Verwirklichung der Bildtelegraphie und dem Umgang mit dem Synchronisationsproblem ergeben. Sie transformiert das Bild daher auch in nicht viel anderer Weise, als es die Bildtelegraphie schon zuvor tat. Die zweite wendet hingegen bestimmte Verfahrensweisen, die zuvor nur auf Texte angewandt wurden, auch auf Bilder an. Indem sie die Bilder dafür in diskrete Elemente zerlegt, verlieh sie auch ihnen eine Eigenschaft, die Texten seit jeher zugesprochen wird, ohne dass jedoch die Zerlegung in diskrete Elemente dem Bild in irgendeiner Form weniger oder stärker angemessen wäre als die
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Umwandlung in eine kontinuierliche Linie. Belins Erfindung wäre in dieser Hinsicht keine künstliche Nachahmung textkryptographischer Methoden mit bildtelegraphischen Mitteln, sondern eine adäquate Umsetzung dieser Methoden und die erfolgreiche Erweiterung bildtelegraphischer Apparate um diskrete Elemente.
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Abbildungen Abb. 1: Der Geber. In: Belin, Édouard 1914: Dispostitif pour garantir le secret des transmissions télégraphiques, télautographiques et téléphotographiques avec ou sans fil. Patentschrift FR 476.840 vom 2. November 1915. S. 5, Fig. 4. Abb. 2: Die Uhr am Empfänger mit der Synchronisationseinrichtung C. In: Ebd. S. 5, Fig. 5 (Detail). Abb. 3: Die Kontaktringe. In: Ebd. S. 5, Fig. 2. Abb. 4: Der Chiffrierapparat von 1929. In: Belin, Édouard 1930: Method and Apparatus for Coding and Decoding. Patentschrift US 1.851.748 vom 29. März 1932. S. 6f., Fig. 1.
MARIUS HUG
Die Übertragung wagen. Der Patentanmelder Arthur Korn
Von der Bildtelegraphie … Ein Buch zum Thema Bildtelegraphie und Patentwissen kommt an Arthur Korn nicht vorbei. Dieser hatte in den ersten 30 Jahren des 20. Jahrhunderts über 40 Bildtelegraphie-Patente angemeldet. Seine Erfindungen ermöglichten nicht nur den täglichen Einsatz der Technik durch diverse illustrierte Zeitungen – berühmt wurde der Fall, in dem das Bild eines von Frankreich nach England fliehenden Juwelendiebes demselben vorausgeeilt war, er also bei seiner Ankunft bereits bekannt war und in Empfang genommen wurde –, sondern auch die erste transatlantische Bildübertragung per Funk im Jahr 1922. Korn ist der Pionier der Bildübertragung, seine technischen Entwicklungen stehen an der Schwelle zur Übertragung lebendiger Bilder, die heute durch das world wide web längst überholt ist: dem Fernseher.1 Im Juni 1909 begann Korns letzter Sommer in München. Nach 14 Jahren als Privatdozent an der Philosophischen Fakultät der LudwigMaximilians-Universität zog es ihn nach Berlin. Der aus Breslau stammende Arthur Korn hatte in Freiburg und Leipzig Mathematik und Physik studiert und lehrte seit dem Wintersemester 1895/96 in München, hauptsächlich analytische Mechanik und theoretische Physik. Dort nutzte er seine akademischen Freiheiten, um sich an der Universität ein bildtelegraphisches Labor einzurichten. Dieser damals auf eine knapp 60-jährige Geschichte zurückblickenden Technik verhalf Korn innerhalb von nur fünf Jahren Entwicklung zu einem kommerziellen Einsatz. Es handelte sich um eine Zeit, in der das allgemeine Interesse an Bildern bzw. das Interesse an bebilderten, d. h. illustrierten Zeitungen auch aufgrund der Erfolge auf dem Gebiet der Photographie immens angestiegen war. 1
Ob und inwiefern Korn tatsächlich als trailblazer to television verstanden werden kann, soll im Rahmen dieses Beitrags nicht weiter erörtert werden. Siehe dazu den Text von Christian Kassung und Franz Pichler im vorliegenden Band.
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Nun ist es bei dieser Technik wie bei anderen auch: Das Labor verlässt, was Rentabilität verspricht. Bevor die technische Bildübertragung aber rentabel werden konnte, mussten einige notwendige Voraussetzungen erfüllt sein. Zunächst musste die Technik über die Störung siegen. Das Ergebnis der Bildübertragung musste dazu als Kopie des Originals erkennbar sein. Freilich war dies alles andere als trivial. Auf der einen Seite bedeutete das die Forderung nach größtmöglicher Ähnlichkeit mit dem master. Auf der anderen Seite aber musste die Kopie als solche erkennbar sein, was häufig nicht beachtet wird, weshalb aber beispielsweise eher ein Portrait des Kaisers als vom unbekannten Nachbarn übertragen wurde. Zweitens musste die Bildübertragung bezüglich ihrer erforderlichen Übertragungszeit einen gewissen Schwellenwert erreichen, d. h. sie musste mindestens schneller als die bestehenden Transportmittel sein. Ansonsten hätte man ja auch den Postboten bemühen können. Auf den ersten Blick erscheint diese Forderung von der ersten Übertragung an erfüllt. Wie lange könnte es schon gehen, ein beliebiges Bild in München abzutasten, über die Leitung nach Berlin zu schicken und dort zu reproduzieren? Doch wohl sicherlich nicht so lange, wie die Post für diese Aufgabe benötigen würde.2 Doch so einfach ist es nicht. Erstens ist es mit diesem Dreischritt – Abtastung, Sendung, Aufzeichnung – keineswegs getan. Zunächst waren es alles andere als beliebige Bilder, die zur Übertragung verwendet wurden. In aller Regel waren dazu auf die jeweilige Übertragungstechnik abgestimmte Zwischenklischees notwendig, die man freilich erst herstellen musste. Das zweite Problem war die Übertragung selbst. Für diese wurde das Anfang des 20. Jahrhunderts vorhandene Telefonnetz genutzt. Da sich die reine Übertragungszeit pro Bild aber anfänglich auf bis zu 45 Minuten belief und jede Störung auf eventuellen Nebenleitungen die Sendung garantiert unbrauchbar machte, mussten dafür die Nachtstunden herhalten, was natürlich wiederum einen besonderen organisatorischen Mehraufwand bedeutete.3 2 Hierbei handelt es sich tatsächlich um die Einführung eines weiteren Schwellenwertes. Denn erst ab einer gewissen Distanz macht der Einsatz dieser aufwendigen Technik überhaupt Sinn. Freilich gilt diese praktische Grenze auch nach oben, denn je länger die Distanz, desto größer die technischen Schwierigkeiten bzw. umso höher die Anforderungen an die apparative Umsetzung. 3 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war man noch weit entfernt von europaweiten flat rates. Die Nutzung einer Telefonleitung über 45 Minuten war alles andere als ein billiges Unterfangen. Seit dem 1.4.1900 galt ein neues Tarifsystem, das die Dreiminuteneinheit für ein Ferngespräch über 500 km mit 100 Pf. abrechnete. Die für die 45 Minuten anfallenden 1500 Pf. würden heute ca. 66 Euro entsprechen.
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Zweitens bricht gerade in dieser Zeit, das heißt ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, die Beschleunigung des Fernverkehrsnetzes alle Rekorde. Zum Vergleich hier ein paar exemplarische Reisezeiten für die Strecke München–Berlin (650 km), auf der auch die erste tatsächliche Bildübertragung von Arthur Korn stattgefunden hatte: 1830 benötigte die Postkutsche rund 100 Stunden für die Strecke. Nur 30 Jahre später schaffte der Zug die 650 km in gerade mal einem Viertel der ursprünglichen Zeit. Und der D-Zug raste schon im Jahr 1875 in nur 18 Stunden von München nach Berlin.4 Und ab 1912 wurden in Deutschland erstmals Postsendungen durch Flugzeuge und Luftschiffe befördert, beispielsweise von Mannheim nach Heidelberg oder von Frankfurt am Main nach Darmstadt, Worms und Mainz. Die Forderung nach einer Beschleunigung der Bildübertragung war also von Beginn an konstitutiv für die technische Entwicklung bzw. für den Erfolg der Technik. 1907 waren diese Voraussetzungen scheinbar erfüllt, sodass die ersten illustrierten Zeitschriften von der Korn’schen Technik Gebrauch machten. Es war der zum Scherl Verlag gehörende Berliner Lokal Anzeiger, die L’Illustration in Paris und der Londoner Daily Mirror, die die neuen Möglichkeiten der technischen Bildübertragung nutzten bzw. die den Bildtelegraphen Arthur Korns im alltäglichen Einsatz erprobten. Damit hatte Korn weit über die Grenzen hinweg Bekanntheit erlangt, mehr als er es je durch Publikationen erreicht hätte. Und seit er im Februar 1908 von der Technischen Universität in München ausgeschieden war, konnte er sich voll und ganz auf seine Bildübertragungen konzentrieren. Sollte sich also die Enthebung von allen Ämtern an der Münchener Universität direkt in einem Fortschritt in der erfolgreichen Entwicklung der Korn’schen Bildübertragungstechnik widerspiegeln? Ein Blick auf die Patentlisten aus dieser Zeit liefert uns keine Hinweise. Zumindest meldet Korn im Jahre 1908 nicht signifikant mehr Patente an, als zur Zeit, als er noch an der Universität beschäftigt war. Auch ein Blick auf die Publikationsliste zeigt, dass Korn im Jahr 1907 deutlich produktiver gewesen war, als im vermeintlich freien Jahr 1908. Eine bislang fehlende umfangreiche Biographie zu Arthur Korn könnte möglicherweise klären, worin der Grund dieser Lücke im Lebenslauf besteht. Möglicherweise nutzte Korn die Auszeit im Jahr 1908 dafür, einen neuen, distanzierten Blick auf die Situation zu werfen. Eine Distanz, die für eine Produktivität verantwortlich zeichnen könnte, wie wir sie ab 1909 wieder erleben. Dass ein solcher Blick mit anderen Augen die einer ak4
Um diese Zeit abermals zu halbieren, benötigte man weitere 50 Jahre. 1937 legte der Schnelltriebwagen die Strecke in nur noch 6 Stunden, 44 Minuten zurück.
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tuellen Technik tatsächlich zugrunde liegenden Phänomene erst ans Tageslicht zu holen vermag, ist zunächst wenig überraschend. Im Folgenden möchte ich eine Übertragung durchführen, die an einem konkreten Beispiel die Mechanismen eines solchen Innovationsschubs analysiert.
… zur verhinderten Seekrankheit Ein gutes Jahr später, am 15. Juni 1909 meldet Arthur Korn in München eine »Vorrichtung zum Aufheben der senkrechten Bewegung von Schiffskabinen«5 zum Patent an. Ob er dabei in Gedanken bei Kaiser Wilhelm II. war, der am selben Tag von Kiel aus in See stach, um den russischen Zaren Nikolaus II. zu treffen, ist nicht verbürgt. Ebensowenig, ob sich Korn aus dieser Erfindung einen ganz persönlichen Nutzen versprach. Klar ist nur, dass Korn tatsächlich Erfahrungen mit längeren Seereisen gemacht hatte. Im Sommer 1895 hatte er eine dreimonatige Amerikareise unternommen. Zur Beantwortung der möglichen Frage nach Sinn und Zweck einer solchen Erfindung hier die passende und eindrückliche Passage aus dem Damen Conversations Lexikon von 1837: Die Empfindung ist unbeschreiblich fürchterlich, besonders im Augenblicke, wo das Schiff mit einer Welle herabsinkt; dann will das Herz zerspringen, man möchte sich mit den Nägeln in die Pfosten eingraben, um dem Falle zu begegnen, der so schnell scheint; die Sinne schwinden, die Luft zum Leben und selbst die Gefühle für das Theuerste hören auf; nur der Wunsch ist lebendig, daß die Qual enden möge, sei es auch durch den Tod.6
Sollte Korn also mit seiner Erfindung die Erlösung von einer Qual ermöglicht haben, für deren sofortiges Ende man – bzw. zumindest frau – gar den Tod in Kauf nähme? Eines steht fest: Sowohl der Eintrag wie auch Korns bewilligtes Patentgesuch nehmen sich des Phänomens Seekrankheit an. Korn, der Pionier der Bildtelegraphie zu Beginn des 20. Jahrhunderts, ließ sich also im Sommer 1909 eine »Vorrichtung zur Feststellung und Verhinderung der senkrechten Bewegungen von Schiffskabinen«7 patentieren. Denn soviel ist klar: Das, was einem tatsächlich zu Kopfe steigt bei einer ordentlichen Brise, das ist das ständige Auf und Ab. 5 6 7
Vgl. Korn 1909. Anonym 1837: 191. Vgl. Korn 1909: 1.
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Wenn es also gelingen würde, diese Auf- und Abbewegungen zu verhindern, so wäre damit dem Wohle der Menschheit gedient. Abb. 1: Gesamtansicht der Vorrichtung.
Nun ist es ein Ding der Unmöglichkeit, wollte man ein Schiff bei entsprechendem Wellengang daran hindern, diese senkrechte Bewegung aufzunehmen. Dazu müsste es die Wellen buchstäblich durchschneiden, was geradezu der technischen Definition von Schiff widerspricht. Wenn aber die Umwelt nicht daran gehindert werden kann, Einfluss auf das System zu nehmen, so muss eben ein Subsystem die Lösung bringen: »Bei derartigen Vorrichtungen ist es bekannt, die Schiffskabine bzw. deren Rahmen aufzugsartig einzurichten«8 Mit Hilfe eines Aufzuges wird also im System Schiff ein zweites System Kabine derartig eingerichtet, dass die Bewegung des einen relativ unabhängig von der Bewegung des anderen vonstatten gehen kann, zumindest theoretisch. Denn praktisch würde das ja genau keinen Sinn ergeben und genau darauf rekurriert Korn, wenn er den Kern seiner Erfindung (s. Abb. 1) wie folgt beschreibt: Gemäß vorliegender Erfindung ist nun der Schiffskörper mit einer Vorrichtung versehen, bei welcher zwischen fest an der Kabine bzw. dem Schiffskörper angeordneten Punkten Körper fallen gelassen werden, gemäß deren Fallzeit zwischen den festen Punkten oder Ebenen elektrische Widerstände eingestellt werden, vermittels welcher der Kabine Bewegungen erteilt werden können, die den Bewegungen des Schiffskörpers in der Größe nahezu entsprechen, denselben aber entgegengesetzt sind.9 8 9
Korn 1909: 1. Ebd.
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Damit ist alles gesagt: Korn baut die Schiffskabinen als Aufzug. Dieser wird automatisch gesteuert und zwar von den senkrechten Bewegungen des Schiffes selbst. Wenn sich die Aufzugkabinen dann mit der gleichen Geschwindigkeit bewegen, und zwar entgegengesetzt, d. h. mit anderem Vorzeichen, so ist die Gesamtbewegung aufgehoben. Die dahinter steckende Gleichung ist primitiv: x + (-x) = 0. Doch was hat es mit den Körpern auf sich, die fallen gelassen werden? Woher kommen die variablen elektrischen Widerstände? Wie genau geht der Vorzeichenwechsel vonstatten? Und wie kann man sich das überhaupt vorstellen, diese Bewegungen, die den Bewegungen des eigentlichen Schiffskörpers entgegengesetzt sind? Ist das nicht ein noch viel schlimmeres, nämlich ruckeliges Auf und Ab, schlimmer als jede Achterbahnfahrt, die ja vor allem deswegen erträglich ist, weil man sich buchstäblich auf Kurven bewegt?10 Also der Reihe nach: Bevor überhaupt die äußeren Bewegungen festgestellt und darauf (senkrecht) reagiert werden kann, ist es zwingend notwendig, dass die Kabine selbst lotrecht ausgerichtet ist. Die nächstliegende Lösung ist die Konstruktion einer kugelförmigen Kabine (s. Abb. 2). An der Unterseite beschwert, sorgt diese zu jedem Zeitpunkt ganz automatisch für eine senkrechte, d. h. aufrechte Lage. Korn bedient sich also eines Pendels im Ruhezustand. Abb. 2: Kugelförmige Kabine in vertikaler Führung.
10
Stetige Kurven, auch Achterbahnkurven, zeichnen sich dadurch aus, dass an jeder Stelle eine Tangente angelegt werden kann. Anders formuliert: Wenn es für einen Knick keine definierte Tangente gibt, dann würde eben spätestens das Fehlen der Tangente an einer beliebigen Stelle der Achterbahnfahrt diese zum Höllentrip machen.
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Schritt zwei ist das »Sichtbarmachen der Kabinenbeschleunigungen«.11 Hier ist keine Rede mehr vom Feststellen der senkrechten Bewegung der Kabine, vielmehr ist es die Beschleunigung, die zentral ist: Der Grund für diese Präzisierung ist ein ganz praktischer. Das ruckartige Schwanken eines Schiffes lässt die Registrierung der eigentlichen Bewegungen kaum zu, geschweige denn, dass es möglich wäre, diesen dann entgegenzusteuern. Schon aus dem einfachen Grund, weil sich die Bewegung längst wieder geändert hätte, bevor man sie fixieren kann. Deshalb untersucht Korn die Beschleunigung der Kabine, d. h. die mittlere Änderung der Geschwindigkeit des Körpers. In diesen Überlegungen erkennt man den theoretischen Physiker Arthur Korn. Diese Vorrichtung also soll es ermöglichen, »die Vertikalbewegung der Kabine entsprechend ihren Vertikalbeschleunigungen zu verhindern«.12 Und bei der Frage nach dem Wie sind wir bei den fallenden Körpern und den elektrischen Widerständen. Wie misst Korn aber die Änderung der Beschleunigung? Das Prinzip der Vorrichtung besteht darin, daß die Zeit, in welcher ein schwerer Körper zwischen zwei mit der Kabine fest verbundenen waagerechten Ebenen fällt, genau gemessen wird; hat während der Fallzeit die Kabine Beschleunigung senkrecht nach oben empfangen, so wird die Fallzeit kleiner, im entgegengesetzten Falle größer sein als ein bestimmter, sehr genau zu messender Mittelwert.13
Die fallenden Kugeln sind nichts anderes als eine Uhr. Und die dahinter steckende Physik ist reinste Newton’sche Mechanik. Wenn sich also unser Aufzug mit einer konstanten Geschwindigkeit nach unten bewegt, so bleibt auch die Fallzeit der Kugeln konstant. Allein bei einer beschleunigten Bewegung ändert sich diese und lässt präzise Rückschlüsse über die von außen hereinbrechenden Kräfte zu. Es handelt sich also im wesentlichen darum, die Zeit zu messen, welche zwischen der Erregung des Elektromagneten 21 und der Erregung des Elektromagneten 22 vergeht. Hierzu dienen die beiden Walzen 15 und 18, welche durch einen Motor durch Reibungskupplung in Drehung versetzt und nach jeder vollen Umdrehung festgehalten werden.14
Diese Konstruktion ist der Kern der Korn’schen Erfindung: Es wird die äußerliche Bewegung festgestellt und gewissermaßen mit einer virtuel11 12 13 14
Korn 1909: 1. Ebd. Ebd.: 2. Ebd.
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len Bewegung der Kabine synchronisiert, und zwar mittels zweier Walzen 15 und 18 (s. Abb. 3). Der Beginn des Falls der Kugel gibt das Signal, woraufhin sich die Walze 15 in Bewegung setzt. Konkret geschieht dies, indem ein Elektromagnet aktiviert wird, der einen kleinen Relaishaken zurückzieht. Solange die Kugel ihren Fall nicht beendet hat, wird die zweite Walze durch einen weiteren Relaishaken festgehalten. Genau in dem Moment, in dem die Kugel unten angekommen ist, wird der Relaishaken zurückgezogen und die Walze 18 mittels Reibungskupplung in Bewegung versetzt, d. h. aus zwei Walzen wird eine. Abb. 3: Teilansicht der Walzen samt Reibungskupplung.
Nun ist Walze 18 so konstruiert, dass sie an einem ihrer Enden einen Kollektor besitzt, der abwechselnd aus leitenden und nicht leitenden Sektoren besteht. Wenn die Walze 18 die Bewegung der Walze 15 aufnimmt, befindet sich der Schleifkontakt 20 an einer bestimmten Stelle, z. B. des kollektorartigen Teiles 19 der Walze 18, und es drehen sich beide Walzen 15 und 18 gemeinsam, wobei während dieser Drehung stets derselbe Widerstand 32 eingeschaltet ist.15 Angenommen, unser Schiff passiert bei hohem Seegang den Kamm einer Welle und fällt sodann förmlich in die Tiefe, so wird die fallende Kugel natürlich deutlich mehr Zeit benötigen, um die gleiche Strecke zurückzulegen, als wäre das Schiff im Trockendock. Mehr Zeit bedeutet, dass sich die Walze 15 weiter dreht, als es ihrem mittleren Wert entspräche, d. h. die vereinte Walze 15|18 wird auf einen divergenten Widerstand eingestellt. Und dieser Widerstand bewirkt instantan die seiner 15
Ebd.: 3.
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Größe entsprechende und damit der äußerlichen Bewegung entgegengesetzte Kraft auf die Kabine. Wenn das soweit funktioniert,16 muss nur noch sichergestellt werden, dass sich diese Kompensation17 möglichst zu jedem Zeitpunkt ereignet: Damit ein Überblick über die Kabinenbeschleunigungen in jedem Augenblick gewonnen wird, wiederholt sich das Spiel des Fallens der Metallkugel periodisch in kleinen Zeiträumen, z. B. alle halbe Sekunde.18
Die Diskussion darüber, ob ein zweimaliges Wiederholen pro Sekunde bereits ein kontinuierliches Ganzes beschreibt, verneint Korn direkt im Anschluss an diese Passage selbst; er schlägt vor, diese Einrichtung zu verdoppeln, damit jeweils wenigstens eine im Einsatz ist, periodisch wechselnd, versteht sich.19 Abb. 4: Vorrichtung zur selbsttätigen Aufhebung der Kabinenbeschleunigung.
16
Ob Korns Patent technisch besehen überhaupt funktionieren kann, ist nicht Gegenstand meiner Untersuchung. Darauf werde ich später noch zurückkommen. 17 Kompensation ist ein ganz zentraler Begriff und ist buchstäblich verbunden mit dem Erfolg Arthur Korns in der Bildtelegraphie. Auch hierzu später mehr. 18 Korn 1909: 2. 19 Vier Wiederholungen pro Sekunde erzeugen damit zumindest ein praktikables Kontinuum. Hier sei nur am Rande bemerkt, dass Korn auch »trailblazer to television« genannt wird und dass im Fernseher 23 Bilder pro Sekunden zu einer Bewegung verschmelzen.
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Was bisher noch nicht beschrieben wurde, ist die Rolle des in Abb. 4 sichtbaren Galvanometers. Es ist dieser Galvanometer, der als Selbstanzeiger das Ablesen der automatisiert erfassten Beschleunigung ermöglicht. Hierbei ergibt sich ein nicht triviales Problem: Zum Ablesen des Selbstanzeigers ist ein Maschinist nötig, »welcher den Aufzugsmotor bedient«, mit Hilfe dessen er die notwendigen entgegengesetzten Beschleunigungen hervorrufen kann.20 Es ist klar, dass damit die doppelt halbsekündlich angedachte Kompensation der Bewegungsrichtung zur reinen Wunschvorstellung wird. Allerdings zeigt sich hier deutlich, wie schwierig es ist, wenn man den mit Latour Subjekt genannten Akteur wirklich aus einer Apparat genannten Technik heraushalten will. Korns Erfindung setzt dem Wunsch, lieber zu sterben als den fürchterlichen Zustand der Seekrankheit noch länger ertragen zu müssen, ein für allemal ein Ende: In einer hochtechnisierten Schifffahrt gibt es keine Seekrankheit mehr. Auf die Frage nach dem expliziten Wissen des Patents haben wir eine Antwort erhalten, die damit reichlich wenig zu tun hat: Die Einrichtung gestattet es eben, »die den Beschleunigungen der Kabine entsprechenden Widerstände zu benutzen, um die Aufzugsgeschwindigkeit selbsttätig derart einzustellen, daß die senkrechte Bewegung der Kabine nahezu verhindert wird.«21 Nahezu … und sie bewegt sich also doch, die Kabine, nur vielleicht etwas weniger. En détail wird das erreicht mit einer Apparatur, die aus vielen Einzelteilen besteht. Neben vielen hier außer Acht gelassenen Bestandteilen, die schlicht dazu beitragen, dass die Apparatur zusammenhält, sind dies v. a. eine Walze, die Reibungskupplung, das Galvanometer, sowie verschiedene Nocken und Relaishaken. Zentrale Techniken sind dabei die Kompensation der Bewegung, aber eben auch die Synchronisation zweier Bewegungen mit Hilfe periodischer Unterbrechungen. Und was hat das alles mit der Bildtelegraphie zu tun?
… zurück zur Bildtelegraphie Am 15. April 1907, also gut zwei Jahre vor dem Schiffskabinenpatent, meldet Korn in England ein Patent an: »An Improved Method of Telegraphically Transmitting Photographs and the like and System therefor«22 (s. Abb. 5). Dieses Patent mit der Nummer GB 8.727 ist nur 20 21 22
Korn 1909: 2. Ebd.: 3. Vgl. Korn 1907.
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eines von zig Kornschen Patentschriften zur Bildtelegraphie. Und obwohl die Wahl auch auf ein anderes Patent hätte fallen können, gibt es viele Gründe für dieses Patent. Abb. 5: Gesamtansicht des Korn’schen Übertragungssystems.
Erstens ist das Jahr 1907 ein wichtiges Jahr in der Geschichte der Bildtelegraphie. Vor allem im November dieses Jahres scheint ein markanter Schritt in der Entwicklung der Technik getan. Die »Times« veröffentlicht am 8. November 1907 einen Artikel zum Thema mit dem kurzen Titel: »Telegraphing Photographs«.23 Darin wird von einem erfolgreichen Übertragungsversuch zwischen Paris und London berichtet, der am Abend zuvor stattgefunden habe. Worin aber besteht der Unterschied, schließlich ist es auch hier nur eine demonstration und nicht etwa, wie längst erwartet, der Startschuss für eine regelmäßige Übertragung? Zudem scheint es noch immer technische Schwierigkeiten zu geben – wie anders lässt sich sonst Korns Hoffnung erklären: to improve both the speed and the quality of the transmission, and also to succeed in working his method over long submarine cables, which at present cannot be done.24
An dieser Stelle seien nur zwei Indizien angeführt: Erstens bringt nur zwei Wochen später am 24. November die New York Times in großer Aufmachung eine Story mit dem imposanten Titel: »Photographs 23 24
Vgl. Anonymus 1907a. Ebd.
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by Telegraph: Television Next? Successful Test of Prof. Korn’s Remarkable Invention Indicates the Possibility of Another Field for the Scientific Discoverer. If Pictures Can be Flashed by Wire from One Country to Another, Why Not Transfer Views in the Same Way?« Und hier viel wichtiger ist zweitens, dass nur einen Tag nach dem Times-Artikel am 9. November in eben dieser Zeitung ein kurzer, jedoch vielsagender Artikel zum Thema »Telegraphing Photographs« erscheint, der hier in voller Länge wiedergegeben werden soll und als Beleg dafür dient, dass Korn wohl tatsächlich etwas Entscheidendes erreicht haben muss. Wie anders wohl lässt sich der Konkurrenzdruck erklären, der in folgendem Ausschnitt zum Ausdruck kommt: Particulars are published to-day by the Echo de Paris and the Matin of a new system of transmitting photographic images by the ordinary telegraph line which is said to give much clearer definition than the system of Prof. Korn of Munich. According to the discoverer of the new process M. Edouard Belin, a French engineer, his system, which is quite independent of that of Professor Korn, will shortly be tried on a telegraphic line such as that between Paris and Marseilles. With this present apparatus for »telestereographie« he is able to transmit photographs to a distance of 1,500 kilomètres.25
Andererseits, und damit zurück zum Korn-Patent von 1907, handelt es sich hierbei auch um eine bemerkenswerte Patentschrift im buchstäblichen Sinne, denn neben der eigentlichen Erfindung ermöglicht diese Schrift zugleich einen guten Einblick in die spezifische Patentrhetorik. Was damit gemeint ist, werde ich im Folgenden diskutieren. Mit einem kleinen Augenzwinkern könnte man sagen, dass wir es hier im doppelten Sinne mit dem ersten wirklich funktionierenden Patent in der Geschichte der Bildtelegraphie zu tun haben. Allein am Titel ist dreierlei bemerkenswert: »An improved method« macht natürlich nur Sinn, wenn es sich tatsächlich um eine Weiterentwicklung, also um eine Verbesserung einer bereits vorhandenen Technik handelt. Hierbei handelt es sich um eine für Patente ganz typische Formulierung. Die Technik des »Telegraphically Transmitting Photographs« beschreibt eher allgemein formuliert die Möglichkeiten der telegraphischen Übertragung von Bildern, wobei natürlich die Übertragung per Telegraphenkabel am nächsten liegt.26 Korn belässt es nicht bei dieser allgemeinen Formulierung, sondern deutet mit der Formel 25 26
Anonymus 1907b. Dass das genau so nicht funktionierte, dass also für bildtelegraphische Übertragungen immer Telephonkabel genutzt wurden, ist höchst bemerkenswert und einer genaueren Untersuchung wert.
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»and the like« an, dass hier möglicherweise noch mehr angedacht ist, als in der Patentschrift expliziert wird.27 Und nicht zuletzt wird neben der konkreten »Method« des Übertragens noch gleich das gesamte dafür notwendige »System« patentiert. Schauen wir uns das Patent genauer an. Gleich auf der ersten Seite stellt der Erfinder Korn die beiden zentralen Agenten seiner Erfindung vor. Die »Improved Method« besteht auf Senderseite aus einer aufwendigen Selenkompensationsschaltung, aufseiten des Empfängers aus einem ausgeklügelten Lichtrelais. Beide sind in Abb. 5 dargestellt: links der Sender, bestehend aus der eigentlichen Abtastvorrichtung und der rechts davon abgebildeten Kompensationsschaltung. Und rechts der Empfänger mit der Beleuchtungseinheit oben, der mit dem zu belichtenden Film bespannten Walze in der Mitte, und dazwischen ist das Lichtrelais angedeutet. Ich beschränke mich im Wesentlichen, neben ein paar wenigen kurzen Erläuterungen zum allgemeinen Verständnis der Übertragungstechnik, auf diese beiden Agenten. Sender und Selenkompensationsschaltung. Im Sender werden die zu übertragenden Photographien mit einem Lichtstrahl abgetastet (s. Abb. 6). Nachdem der abtastende Lichtstrahl der Lampe 23 das auf die Trommel 4 aufgespannte Bild passiert hat, fällt dieser auf eine Selenzelle 2, welche auf die graduellen Helligkeitsunterschiede in der Vorlage mit dem jeweiligen Verändern ihres Widerstandes reagiert. Die Kompensationsschaltung ist dabei die Reaktion Korns auf das erneute Nichtfunktionieren seines Systems. Korn wird immer mit dem erfolgreichen Einsatz der Selenzelle in Verbindung gebracht. Die Selenzelle war es, die endlich die Übertragung gradueller Helligkeitsunterschiede und somit im Optimalfall das telegraphische Versenden von Photos ermöglichte. Dass die Verwendung dieser lichtempfindlichen Zellen einen Einschnitt in der Geschichte der Bildübertragung darstellte, ist somit kaum von der Hand zu weisen. Allerdings war Korn keineswegs der Erste, der davon Gebrauch machte.28
27
28
Es ist u. a. diese hier ganz konkret untersuchbare Differenz zwischen implizitem und explizitem Wissen, die Patentschriften in einem kulturwissenschaftlichen Diskurs so wertvoll machen. Hier nur eine kurze Auswahl derjenigen, die schon vor Arthur Korn die Idee hatten, dass man Selenzellen zur Übertragung von Bildern nutzen könnte: C. M. Perosino 1879, S. Bidwell 1881, M. Tietz 1898.
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Abb. 6: Sendeapparatur.
Richtiger wäre es vielmehr, Korn als denjenigen herauszustellen, der auf ein v. a. für die Bildtelegraphie prinzipielles Problem einer jeden Selenzelle aufmerksam gemacht hat: die Trägheit.29 Und die Lösung für die29
Trägheit der Selenzelle bedeutet, einfach ausgedrückt, immer zwei Dinge. Erstens: Selen reagiert beim Anschalten der Lichtquelle, d. h. bei auftreffendem Licht nicht instantan, sondern mit einer Zeitverzögerung. Und das ist nicht zu verwechseln mit zweitens: Selen reagiert auch im Moment das Abreißens der Lichtzufuhr nicht direkt, sondern verharrt noch etwas, verhält sich also eine gewisse Zeit so, als würde noch immer Licht auf sie einwirken. Diese beiden Phänomene können sehr gut visualisiert werden mittels einer Reaktionskurve Strom gegen Zeit.
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ses Problem lieferte er mit seiner Kompensationsschaltung gleich mit (s. Abb. 7). Korn macht aus der Idee der Kompensation ein zentrales Bauteil seiner Apparatur. Eine zweite Selenzelle 32 wird durch die Lampe 38 belichtet. Die für die Stärke der Belichtung verantwortliche Blende 59 wird aber de facto durch den mittels der ersten Selenzelle 2 (s. Abb. 6) verursachten Strom variiert. In der Patentschrift verweist Korn dabei auf ein anderes Patent mit der Nummer GB 16.343: »Improvements relating to Methods of Measuring the Exposure of a Selenium Cell, and to the Application to Photometry, Phototelegraphy and the like«30. Dabei handelt es sich – wenig verwunderlich – ebenfalls um ein Korn’sches Patent.31 Die Erfindung kann man sich bildlich vorstellen. Die Selenzelle im Sender ist träge. Dieses Phänomen erschwert die Synchronisation der Übertragung, also die Synchronisation von Sender und Empfänger. Deswegen baut Korn eine Kompensationsvorrichtung im Empfänger, die die Trägheit der Senderzelle kompensiert und damit die Synchronisation und also überhaupt eine erfolgreiche Übertragung ermöglichen soll. Abb. 7: Selenkompensation.
30 Korn 1906. 31 Die Technik des Zitierens ist eine sehr gängige Möglichkeit, Verlinkungen zwischen Erfindungen herzustellen. So wird einerseits auf eine vorhergehende (eigene) Erfindung verwiesen und diese so ins Gedächtnis gerufen. Andererseits wird aber einer wichtigen Forderung der Patentanmeldung Rechnung getragen, dass nämlich zur Kenntnis genommen sein muss, was schon patentiert ist. Diesbezüglich wäre es tatsächlich ein interessantes Projekt, ein Netzwerk von Patentverweisen sichtbar zu machen.
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Das Problem ist dabei jedoch, dass die Synchronisationsproblematik hier ein unerwartetes re-entry erlebt. Während die Kompensation die Synchronisationsschwierigkeiten bezüglich der Trägheit der Selenzelle beseitigen sollte, stellte man fest, dass diese neue Schaltung nur mäßig funktionierte, zumindest so lange, wie sie – und genau so wurde das im Patent GB 16.343 beschrieben – zwischen Sender und Empfänger kompensiert, d. h. die neuartige Schaltung de facto im Empfänger eingebaut war. Die »Improved Method« besteht hier schlicht darin, die Kompensationsschaltung in den Sender zu integrieren (s. Abb. 5). Dann muss diese Schaltung nur einmal synchronisiert bzw. optimiert werden. Und erst dann hat man es mit einem tatsächlich unabhängigen Sender zu tun, womit auch eine gewisse Flexibilität und Mobilität gewährleistet wäre. Die Anfänge der Bildübertragung muss man sich ganz laboratorisch vorstellen. Sender und Empfänger werden von der gleichen Welle angetrieben. Das ist deutlich zu sehen auf Abb. 8. Hierbei handelt es sich um einen Bildtelegraphen der Lorenz-Korn AG aus den späten 1920er Jahren, der sich im Depot des Deutschen Museums in München befindet. Der Praxistest dieser Apparatur bestand darin, das Verbindungskabel zwischen Sender und Empfänger zu verlängern. Im nächsten Schritt nutzte man tatsächlich ein mehrere hundert Kilometer langes Telephonkabel. Probleme mit der Synchronisation gab es aber keine, da nach wie vor nur ein Motor verwendet wurde. Erst in späteren Diskussionen über einen tatsächlichen praktischen Einsatz der Technik wurde der Sender und der Empfänger zu einem eigenständigen Gerät. Und erst dann gab es konkrete Überlegungen bezüglich unterschiedlicher Anwendungsszenarien. Grob gesprochen lassen sich zwei unterschiedliche Szenarien skizzieren. Erstens ein großer, leistungsstarker Sender und viele kleine, leichte, billige Empfänger (Bildfunk). Zweitens viele oder zumindest mehrere einfach zu bedienende, leichte Bildsender und eine zentrale Empfangsstation. Während bis zum Bildfunk noch knapp 20 Jahre vergehen sollten – dieser wurde Ende der 1920er Jahre eingeführt, hat sich nie etabliert und wurde direkt vom Fernsehen überrollt –, schlug Arthur Korn das zweite Szenario beispielsweise als Kriegstechnik vor. Man könnte also Ballons oder Flugschiffe mit mobilen Bildsendern bestücken, aus der Vogelperspektive Croquis der feindlichen Linien anfertigen und diese direkt ins Hauptquartier schicken.
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Abb. 8: Korn’scher Bildtelegraph.
Geber und Lichtrelais. Der zweite Agent neben der Kompensationsschaltung betrifft die Empfangsvorrichtung. Es galt, die senderseitig hervorgerufenen unterschiedlichen Ströme wieder in unterschiedliche Lichtstärken zurückzuübersetzen. Wenn also im Sender die Abtastung eines hellen Bildpunktes einen starken Strom bewirkt, so musste umgekehrt im Empfänger dieser Bildstrom einen hellen Fleck auf dem Film hinterlassen. Das funktioniert zunächst ganz intuitiv: Ein starker Strom sorgt dafür, dass der Film stärker belichtet wird, und zwar indem die Lampe heller leuchtet. So sollten tatsächlich die ersten Apparate Korns um 1902 funktionieren. Hier wiederholt sich die Geschichte. Oder anders ausgedrückt: Intuition und Technik bilden ein streitbares Agentenpaar. Und so geht Korn schnell dazu über, im Empfänger mit einer konstanten Lichtquelle zu arbeiten und stattdessen eine variable Blende einzusetzen. Dies ist das sogenannte Saitengalvanometer (s. Abb. 9). Die in einem lichtdichten Kasten drehbar angebrachte Empfängerwalze 66 wird durch die Lampe 69 belichtet. Die von der Selenzelle im Sender hervorgerufenen und der jeweiligen Helligkeit entsprechenden Ströme werden auf Empfängerseite in das Saitengalvanometer 71 eingespeist und sorgen dort für einen Ausschlag der Blende 77|78. Die Blende besteht aus einem Metalldraht, der beweglich zwischen den beiden Armen eines Elektromagneten gespannt ist. Fließt ein Strom durch den Draht, bewegt er sich vertikal zur Stromrichtung. Die Blende lässt dadurch unterschiedlich viel Licht passieren und zwar immer genau so viel, wie dem auf Geberseite abgetasteten Bildpunkt entspricht. Wenn sich der Sender und der Empfänger synchron drehen, kann mit diesem Apparat eine vollständige Reproduktion der Vorlage gefertigt werden. Wenn …
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Abb. 9: Empfängerwalze samt Reibungskupplung; Saitengalvanometer als Belichtungsvorrichtung.
Synchronisation zwischen Sender und Geber. … denn ein dritter, der eigentlich zentrale Agent einer jeden Bildtelegraphie ist die Synchronisationsvorrichtung. Die Patentschrift gibt detailliert Aufschluss über den Mechanismus. Darüber hinaus stellt das gleich folgende Zitat ein weiteres Beispiel der typischen Patentrhetorik dar. Folgen wir also der detaillierten Beschreibung des Patents. Es funktioniert beinahe wie Kindermalbücher, in denen erst das Verbinden verschiedener Punkte in der richtigen Reihenfolge das Bild erkennen lässt. Hier ist das Bild statisch
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bereits vorhanden, und das durchnummerierte Lesen entlang der einzelnen Bauteile entspricht deren Zusammenwirken (s. Abb. 10).32 A helical spring 107 tends to turn the pawl 106 out of the path of the tooth 100 by means of a stud 108, which bears on one end of the slot in the stop 104. The electromagnet 103 is adapted on being energised to attract the pawl 106 and to bring it into the path of the tooth 100. In this case the stud 108 will bear on the other end of the said slot, which is so shaped as to keep the pawl 106 out of contact with the periphery of the disk 84, so as to avoid an unnecessary friction.33
Abb. 10: Synchronisationsvorrichtung.
Telegraphische Bildübertragung funktioniert genau dann, wenn die Synchronisation zwischen Geber und Empfänger gewährleistet ist. Nur im Labor konnte dieses Problem mit dem einfachen Trick umgangen werden, dass Sender und Empfänger auf der gleichen Achse sitzen. Eine relative Unabhängigkeit zwischen den beiden Apparaten konnte aber nur erreicht werden, wenn sie ihren jeweils eigenen Antrieb besaßen. Die Crux bestand darin, dass die beiden Antriebe nicht dieselben sein durften, aber doch die gleichen sein mussten. Es musste sich also um zwei absolut baugleiche Motoren handeln. Und diese wiederum mussten zu Beginn der Übertragung gegeneinander synchronisiert werden und von da an zumindest für die Dauer einer jeweiligen Übertragung in diesem Zustand verharren. Dann wäre es möglich, das Bild auf der einen Seite abzutasten, per Kanal weiterzuleiten und auf der anderen Seite wieder aufzuzeichnen. 32 33
Vgl. zur narrativen Dimension technischer Zeichnungen den Beitrag von Steffen Bogen im vorliegenden Band. Korn 1907: 6.
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Das Problem bestand darin, dass genau diese Synchronisation auf Dauer, auch wenn baugleiche Bestandteile zum Einsatz kamen, zu keiner Zeit sichergestellt werden konnte. Und der Ausweg aus dem Dilemma: Man machte einfach aus dem unumgänglichen bug ein feature. Wenn schon beide Motoren eine, wenn auch minimale, so doch entscheidende Laufzeitdifferenz besaßen, so benötigte man eben eine andere Philosophie der Kontinuität. Statt der einmaligen Synchronisierung und der quasi als perpetuum mobile ablaufenden Bewegung würde man die Synchronisierung kontinuierlich erneuern. Und so sollte sich der Empfänger um 2 % schneller drehen als der Geber und würde nach jeder Umdrehung angehalten werden, um auf die vollständige Umdrehung des Senders zu warten. Genau dieser Start-Stopp-Mechanismus beschreibt die Kornsche Synchronisationsvorrichtung (s. Abb. 10). Die Nase 100 wird einmal pro Umdrehung genau so lange vom Haken 106 aufgehalten, bis die beiden Walzen wieder im Gleichlauf sind. Und da am Anfang jeder Zeile alles immer wieder auf Null gestellt wird, ist das Synchronisationsproblem damit aus der Welt. Denn so weit können die beiden Apparate gar nicht aus dem Takt geraten, dass innerhalb einer einzigen Zeile ein Laufzeitunterschied die Reproduktion unkenntlich machen könnte.
Ein Zusammenschluss Ein Erfinder, zwei Erfindungen. Was hat Arthur Korn, die zentrale Figur in der Geschichte der Bildtelegraphie im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts, dazu bewogen, ein Schiffskabinenpatent anzumelden? Handelt es sich dabei um eines dieser wacky patents, über die man sich heute in Feuilletons so gerne lustig macht? Und warum wird genau diese Patentschrift hier im Rahmen einer Aufsatzsammlung zum Thema Bildtelegraphie neu aufgelegt? Fällt das Patent nicht schlichtweg aus der Reihe? Doch, genau das tut es. Und genau diese Reibung, die entsteht, wenn zwei so unterschiedliche Erfindungen aus derselben Werkstatt nebeneinander gestellt werden, sollte einen neuen Blick auf die Gattung Patentschrift ermöglichen. Es ist tatsächlich keineswegs so, dass das Schiffskabinenpatent, wie das auf den ersten Blick zu vermuten war, ein schwarzes Schaf unter Korns Patenten darstellt. Vielmehr fügt es sich ganz konsequent in die Reihe der bildtelegraphischen Patentschriften ein. Die obige detaillierte Analyse sollte genau das zeigen. Korns alles beherrschendes Grundprinzip ist die Kompensation. Was sich störend in eine bestimmte Richtung bewegt, wird kompen-
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siert, d. h. aufgehoben, indem ihm mit umgekehrtem Vorzeichen begegnet wird. Das betrifft sowohl die Trägheit der Selenzelle wie auch die Bewegung des Schiffes. Kompensiert werden kann aber nicht ohne die Gewährleistung der Synchronisation. Beide Erfindungen nutzen eine Technik der Synchronisation durch periodische Unterbrechungen. Dem bildtelegraphischen Abtasten einer vertikalen Zeile entspricht dabei eine senkrechte Spalte in der Schiffskabinenkonstruktion, entlang derer eine Kugel fällt. Ein immer wiederkehrender Bestandteil Korn’scher Erfindungen ist die Reibungskupplung. Während die Walze seit Bakewells Patent aus dem Jahr 1848 aus den Bildtelegraphen nicht mehr wegzudenken ist, verlangte die Synchronisation nach einer Vorrichtung, die möglichst gezielt in die Mechanik eingreift, ohne allzu viel Störung anzurichten.34 Der Ausweg bestand in diesem Fall aus der Reibungskupplung. Nur ein Teil der Walze wird kontinuierlich und aktiv angetrieben. Der zweite Teil dreht sich immer nur mit, außer er wird mechanisch daran gehindert. Und schließlich nutzt Korn das Galvanometer als wichtigen Agenten in seinen Erfindungen. Es dient gleichzeitig als Anzeige- und Steuerelement. Und das funktioniert beim Bildtelegraphen genauso wie in der Schiffskabine. Das Wie und das Warum des Schiffskabinenpatents ist demnach alles andere als ein Zufall. Die »Vorrichtung zum Aufheben der senkrechten Bewegung von Schiffskabinen« ist nur ein weiterer Korn’scher Bildtelegraph.
34
Siehe dazu den Beitrag »Technischer Gleichlauf zwischen Sendung und Empfang« von Albert Kümmel-Schnur im vorliegenden Band.
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Literatur Anonymus 1837: Seekrankheit. In: Herloßsohn, Karl (Hrsg.): Damen Conversations Lexikon, 19 (1837). Leipzig: Volckmar. S. 191. Anonymus 1907a: Telegraphing Photographs. In: The Times, 8. Nov. 1907. Anonymus 1907b: Telegraphing Photographs. In: The Times, 9. Nov. 1907. Bidwell, S. 1881: Telephotography. In: Nature, Bd. 23. S. 344–346. Korn, Arthur 1906: Improvements relating to Methods of Measuring the Exposure of a Selenium Cell, and to the Application to Photometry, Phototelegraphie and the like. Patentschrift GB 16.343 vom 7. März 1907. Korn, Arthur 1907: An Improved Method of Telegraphically Transmitting Photographs and the like and Systems therefor. Patentschrift GB 8.727 vom 12. September 1907. Korn, Arthur 1909: Vorrichtung zum Aufheben der senkrechten Bewegung von Schiffskabinen. Patentschrift DE 235.648 vom 17. Juni 1911. Perosino, C. M. 1879: Telefotografo ad un solo filo. In: Reale accademia delle scienze di Torino, Bd. (1879). S. 574–585. Tietz, M. 1898: Die Abstimmung bei der Funkentelegraphie ohne Fritter. In: Elektrotechnische Zeitschrift, 19 (1898). S. 562–565.
Abbildungen Abb. 1: Gesamtansicht der Vorrichtung. In: Korn, Arthur 1909: Vorrichtung zum Aufheben der senkrechten Bewegung von Schiffskabinen. Patentschrift DE 235.648. Abb. 2: Kugelförmige Kabine in vertikaler Führung. In: Ebd. Fig. 1. Abb. 3: Teilansicht der Walzen samt Reibungskupplung. In: Ebd. Fig. 2. Abb. 4: Vorrichtung zur selbsttätigen Aufhebung der Kabinenbeschleunigung. In: Ebd. Fig. 4. Abb. 5: Gesamtansicht des Korn’schen Übertragungssystems. In: Korn, Arthur 1907: An Improved Method of Telegraphically Transmitting Photographs and the like and Systems therefor. Patentschrift GB 8.727. Fig. 1. Abb. 6: Sendeapparatur. In: Ebd. Fig. 3. Abb. 7: Selenkompensation: In: Ebd. Fig. 4.
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Abb. 8: Korn’scher Bildtelegraph. In: Archiv des Deutschen Museums München. Foto: Marius Hug. Abb. 9: Empfängerwalze samt Reibungskupplung; Saitengalvanometer als Belichtungsvorrichtung. In: Korn, Arthur 1907: An Improved Method of Telegraphically Transmitting Photographs and the like and Systems therefor. Patentschrift GB 8.727. Fig. 11. Abb. 10: Synchronisationsvorrichtung. In: Ebd. Fig. 12.
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Triumph des Symbolischen. Fernsehgraphische Leidenschaften in der frühen Sowjetunion
Ferne Glückwünsche Mit »Liebe Genossen!« fängt der Artikel auf der ersten Seite der Pravda vom 29. November 1981 an, dessen Überschrift »Den Arbeitern des sowjetischen Fernsehens, der Kommunikation und der Fernsehindustrie« die Adressaten direkt anspricht. Der Verfasser fährt fort: »Ich gratuliere Ihnen von ganzem Herzen zu dem großen Ereignis – 50 Jahre seit Beginn der regulären Fernsehausstrahlung!«1 Autor des Artikels ist Leonid Iljitsch Breschnew, vierfacher Held der Sowjetunion und zu diesem Zeitpunkt bereits siebzehn Jahre Generalsekretär der KPdSU. Hier wendet er sich öffentlich an »Journalisten und Redakteure, Regisseure und Kameraleute, Ingenieure, Techniker und Arbeiter«, vor denen »heutzutage mittels Massenkommunikation und Propaganda wichtige Aufgaben stehen«. Breschnew stellt fest, dass die Sowjetunion zum gegebenen Zeitpunkt über das größte Fernsehsystem der Welt verfügt, »das sich ständig entwickelt und modernisiert« und in dem sich die »materialistisch technische Grundlage festigt und verbreitet«.2 Die Glückwünsche des Generalsekretärs hätten auch ein halbes Jahr früher erscheinen können, da die erste Ausstrahlung einer Fernsehsendung auf dem Gebiet der UdSSR bereits am 29. April 1931 stattgefunden hatte, bevor das Programm dann ab dem 1. Oktober desselben Jahres regelmäßig ausgestrahlt wurde.3 Doch sowohl die geregelte Fernsehübertragung des Jahres 1931 als auch die darauf bezogenen Jubiläumsglückwünsche des Generalsekretärs Breschnew weisen einen Widerspruch auf. Ein Paradoxon, das darin besteht, dass, obwohl die regelmäßige Übertragung von Nachrichten und Propagandabotschaften 1931 begann, die sowjetische Industrie seinerzeit noch kein einzi-
1 2 3
Brežnev 1981: 1. (Alle Übersetzungen WV). Ebd. Vgl. Archangel’skij 1933.
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ges Fernsehgerät hervorgebracht hatte.4 Einzig in den Werkstätten von Amateuren und Bastlern entstanden optisch-mechanische Fernseher nach patentierten Plänen des russischen Bildtelegraphieforschers Oganes Abramoviþ Adamjans. In technischen Zeitschriften, Tageszeitungen und kleinen Broschüren (Abb. 1) kursierten Adamjans Entwürfe als Gebrauchsanweisungen durch das Land und verhalfen dem homo sowjeticus, im eigenen Heim ein Fernsehlaboratorium einzurichten.5 In dieser Konstellation entfalten sich die Lektüren von televisionären Entwürfen nicht etwa als ein reaktives Transportmedium zur Vereinfachung schwieriger elektrotechnischer Inhalte, sondern verorten und transformieren die neuen Erkenntnisse durch De- und Rekontextualisierungen mit dem Ziel, die Antennen des Volkes aufzurichten, um die Botschaften des neuen sowjetischen Denkens zu empfangen.6 Die Grundlage dieser technischen Lektüren, in denen gerade die Sichtbarkeit der Apparatur verankert war und die auf Entwürfen und Patenten von sehenden Maschinen beruhte, wird im Folgenden auf ihre kulturtechnischen Bestände und interferierenden Praktiken hin historisch betrachtet und analysiert.7 Abbildung 1: Fernseher selbst gemacht.
4 5 6 7
Der erste sowjetische Fernseher B2 (mechanisches Modell) wurde im April 1932 produziert. Vgl. Archangel’skij 1936: 10–16. Vgl. Šefer 1937. Vgl. Schwartz u. a. 2008. Der Ausdruck bezieht sich auf Walter Benjamins bahnbrechenden Aufsatz »Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit«, in dem der Autor am Beispiel des Kinos und der damit gekoppelten ideologischen Strategie von der Unsichtbarkeit der Technik spricht. (Benjamin 1972).
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Das geistige Eigentum Das Jahr, in dem Eadweard Muybridge das Zoopraxiscope entwickelte, um seine bis dahin nur auf Glasdiapositiven fixierten Serienaufnahmen zu projizieren, und in dem George Carey seine Modellvorschläge zur elektrischen Fernübertragung von Visuellem veröffentlichte, in diesem Jahr 1879 wird am 17. Februar der spätere Wegbereiter des sowjetischen Fernsehens Oganes Abramoviþ Adamjan (dt. Johannes Adamian) geboren (Abb. 2). Seine wohlbehütete Kindheit verbringt Adamjan als Sprössling einer Kaufmannsfamilie in der armenischen Stadt Baku. Hier, an der Westküste des Kaspischen Meeres, erhielt er seine Schulbildung, bevor er zum Studieren nach Zürich und später nach Paris ging. Nach seinem Studium der Physik, das bei ihm das Interesse für das Senden und Empfangen von Bildern geweckt hatte, ging er nach St. Petersburg, wo er gut dreißig Jahre forschte, bevor er am 12. September 1932 an Lungenkrebs starb. Abbildung 2: Adamjan vor seinem Fernseher.
Dass Adamjan nach seinem Studium nach St. Petersburg zog, wird mehrere Gründe gehabt haben. Die Stadt war bereits seit dem 18. Jahrhundert zum russischen Zentrum der neuzeitigen Wissenschaften aufgestiegen.8 An der St. Petersburger Akademie begegnete man dem Entwickler 8
Vgl. Schlögel 2009: 87–96.
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der chemischen Elemententafel Dmitrij Ivanoviþ Mendeleev oder dem Erforscher der Verhaltenspsychologie Ivan Ivanoviþ Pavlov. St. Petersburg war aber auch die Stadt, in der vor allem nach Aleksandr Stepanoviþ Popovs erfolgreichen Radioexperimenten – in denen nicht nur die Vision der baldigen Bildübertragung reifte, sondern auch die Möglichkeit von Telepathie und Hellsehen betrachtet wurde – die drahtlose Telegraphie zuhause war.9 St. Petersburg war also der im wahrsten Sinne des Wortes geistig richtige Ort, um Televisionen zu entfalten. Adamjan verließ die Stadt an der Neva nur selten: für den Urlaub im heimischen Baku oder für eine Reise nach Berlin, um die angesammelten Erfindungen auf dem Gebiet der Bildtelegraphie mit seinen Kollegen und Konkurrenten zu besprechen und gegebenenfalls schnell zu patentieren.10 Dass das zaristische Russland sich wenig um den Schutz geistigen Eigentums kümmerte, hat Adamjan sicherlich am Beispiel Popovs erfahren, der die Priorität seiner Erfindung der drahtlosen Telegraphie an Guglielmo Marconi abgeben musste.11 Im Zuge der Revolution und des Bürgerkrieges im postzaristischen Russland war das bis dahin wenig wirkungsvolle Schutzrecht des geistigen Eigentums, das stets als ein Privilegium gekennzeichnet worden war, aufgelöst worden. Erst am 30. Juni 1918 sollte ein Dekret »Über die Erfindungen« (russ. »Ob izobretenijach«, 1919) von Lenin persönlich verfasst und unterzeichnet werden und als solches aus vier grundlegenden Prinzipien bestehen: 1. Die Einführung einer neuen Form des gesetzlichen Schutzes von Erfindungen. Dazu gehört die Bescheinigung einer Autorschaft, welche die optimale
9 10 11
Vgl. Rodovskij 2009: 219–233. Zum Einfluss des Radios auf die sowjetische Kultur vgl. Murašov 2003 und ders. 2004. Vgl. Tovmasjan 1971: 54–58. Im Januar 1896 veröffentlichte Popov einen Artikel, in dem er das Schema und eine detaillierte Beschreibung des weltweit ersten Radioempfängers liefert (Popov 1896). Eine erfolgreiche praktische Umsetzung des Geräts bewies, dass er elektromagnetische Wellen aus der Atmosphäre auffangen konnte. Am 24. März 1896 demonstrierte Popov in der St. Petersburger Akademie der Wissenschaften die schnurlose Übertragung von Signalen über eine Entfernung von 250 Metern (vgl. Rodovskij 2009: 111–124). Im Juni 1896 patentierte Guglielmo Marconi eine Erfindung in England, die das Schema des zuvor in der Publikation Popovs veröffentlichten Geräts wiederholte. Dies bewog Popov zu einer Reihe von Stellungnahmen in der eigenen und der internationalen Presse, in denen er sein Prioritätsrecht verteidigte. Zwar wurde er dafür auf dem Pariser Elektrotechnischen Kongress im Jahre 1900 geehrt, im öffentlichen Bewusstsein gilt jedoch Marconi wegen seines Patents weiterhin als Erfinder des Radios (vgl. Rodovskij 2009: 173–194).
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Vereinigung zwischen dem Privatrecht des Erfinders und den Interessen des Staates sicherstellen sollte. 2. Die Zulassung von Funktionen für die Staatsorgane, die mit der geplanten Nutzbarmachung der Erfindung verbunden ist. 3. Die Begünstigung guter Bedingungen für die breite Entwicklung eines erfinderischen Schaffens und einer möglichst vollständigen Verwirklichung von Resultaten für das Alltagsleben mit dem Ziel, die Volkswirtschaft des Landes zu entfalten. 4. Gewährleistung von Rechten für die augenscheinlichen Schöpfer von Erfindungen, deren moralische und materielle Stimulierung.12
Diese Grundlage des sowjetischen Patentwesens sollte das Ende der bis dahin wirkenden Privilegien markieren und den Staat als alleinigen Profiteur einsetzen. Vor dieser Konstellation ist es nahezu erstaunlich, dass Adamjan seine bildtelegraphischen Erfindungen in der Sowjetunion patentieren ließ.13 Vielleicht war er vom neuen Regime überzeugt, wie es seine in der Sowjetunion verfassten Biographien schildern. Oder aber er war sich gewiss, dass seine bereits 1907 und 1908 in industriell starken Ländern wie Deutschland, England und Frankreich patentierten Erfindungen auf dem Gebiet des Fernsehens vielversprechender waren als seine Privilegien in Russland.
Bilder, Löcher, Signale Schon zu Beginn des 20. Jahrhunderts war sich Adamjan im Klaren darüber, dass die bereits seit dem 19. Jahrhundert praktizierte Bildtelegraphie mit dem kinematographischen Prinzip der Bildsequenz verbunden werden musste, um fernsehen möglich zu machen. Es sind eben diese Techniken, die er wahrscheinlich während seines Berlinbesuchs im Frühling des Jahres 1907 mit Arthur Korn diskutiert, um anschließend seine »Einrichtung zum Festhalten und zur wiederholten Wiedergabe von elektrischen Bildern und Bildfolgen« im Kaiserlichen Patentamt
12 13
Lenin: »Ob izobretenijach (Položenie)« – 30. Juni 1919. Zitiert nach Kolesnikov 2005: 62. Im russischen Patentamt (ROSPATENT) sind 37 Patente auf Adamjan gemeldet, die Hälfte davon im Bereich der Bildtelegraphie, u. a. »Ein Apparat für die Übermittlung von Bildern auf Entfernung« vom 14. Juni 1920 (Adamian 1920).
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einzureichen.14 Bevor in der Patentschrift auf die technischen Details eingegangen wird, erörtert der erste Absatz den Nutzen des Apparats: Die Erfindung betrifft eine Einrichtung zum Festhalten und zur wiederholten Wiedergabe von Bildern oder Bildfolgen, welche mit Hilfe bekannter Vorrichtungen durch Vermittlung elektrischer Leitungen in die Ferne übertragen worden sind. Die Einrichtung setzt einen Geber voraus, der das Bild oder die Bildfolge in eine beliebige Anzahl von punktförmigen Elementen auflöst und nacheinander Stromschwankungen in der Streckenleitung erzeugt, deren Amplituden den Lichtintensitäten der einzelnen nacheinander übertragenen Bildelemente näherungsweise proportional sind.15
Im Wesentlichen besteht Adamjans Erfindung aus vier Vorrichtungen: einem Sender, der die Bilder in Strom umwandeln kann, einem Empfänger mit vollelektronischen Übertragungsstrecken, einem Registriergerät und einem Apparat, um den empfangenen Strom in Bilder umzuwandeln und wiederzugeben. Abbildung 3: Beigefügte Zeichnung zur Patentschrift.
Der schematische Entwurf des Senders gibt die der Patentschrift beigefügte Fig. 1 (Abb. 3) wieder. Das zu übertragende Bild (1) wird von einem Fotoobjektiv (2) eingefangen und auf den Schirm (3) geworfen. 14 15
Vgl. Archangel’skij 1935. Adamian 1907b: 1.
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Immediat hinter bzw. vor dem Schirm »befindet sich eine drehbar gelagerte Scheibe (4), deren Rand mit Löchern (5) besetzt ist«16 – Adamjans Patentschrift verweist an dieser Stelle darauf, dass es keinen Unterschied macht, ob die Scheibe vor oder hinter dem Schirm platziert wird.17 Ohne sie namentlich zu erwähnen, beschreibt die Patentschrift die Funktionalität der Scheibe: Die Löcher [der Scheibe] sind in bekannter Weise in Spirallinien angeordnet, so daß also zum Beispiel das in der Zeichnung sichtbare Loch dem Rand der Scheibe am nächsten steht und jedes folgende etwas näher der Achse. Hinter der Scheibe (4) ist ein schachbrettartig angeordnetes System von Selenzellen (6) angebracht, dessen Größe der Größe des auf den Schirm (3) fallenden Bildes gleich gemacht ist und dessen Zellen den punktförmigen Bildelementen entsprechen, die übertragen werden sollen. Sämtliche Selenzellen sind nebeneinander geschaltet gedacht und liegen zwischen den Leitungen (7) und (8). In die Leitung (8) ist eine Stromquelle geschaltet, deren freier Pol mit Erde verbunden ist.18
Es ist die Formulierung, die Löcher seien in »bekannter Weise« angeordnet, welche die »technische Keimzelle des Fernsehens«, ohne sie beim Namen zu nennen, hervorhebt.19 Die von Paul Nipkow entwickelte Scheibe war ein wesentliches Element seines im Jahr 1884 patentierten »Elektrischen Teleskops« und wurde unter dem Namen »NipkowScheibe« ein essentieller Bestandteil fast jedes televisionären Projekts.20 Diese Umwandlung der Bilder in Ströme markiert den ersten wesentlichen Punkt in der Entwicklungsgeschichte des Fernsehens.21 Die Zerlegung des Bildes mittels der Nipkow-Scheibe führt auf der Seite des Senders zu einer kompletten Auflösung in Höhe und Breite, um in der umgewandelten Gestalt von Einzelpunkten, ähnlich einem Morsecode, übermittelt zu werden. Die Empfängerseite sollte die in Signale zerlegten Bilder mittels einer gleichgearteten und mit der ersten synchronisierten Nipkow-Scheibe das übertragene Bild wieder zusammensetzen. Die um ihre Achse drehbare Scheibe wanderte also Bildpunkt für Bildpunkt in einer annähernd geraden Linie über den Schirm und schrieb so eine Bildzeile:
16 17 18 19 20 21
Ebd. Ebd. Ebd. Bergmann/Zielinski 1999: 13. Vgl. Zielinski 1995. Vgl. Kittler 1999: 290.
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Ist ein Punkt am linken Rand des Bildfensters verschwunden, hat der in der Spirale folgende, um einen Zeilenabstand zum Mittelpunkt hin versetzte nächste Punkt den rechten Rand des Bildfensters erreicht und beginnt direkt anschließend mit der Beschreibung der folgenden Zeile. Der Winkelabstand der Löcher entspricht also der Breite des Bildfensters, die Differenz des Abstandes des ersten und des letzten Loches vom Scheibenmittelpunkt definiert die Höhe des Bildfensters, das zwangsläufig eine mehr oder weniger trapezartige Form annimmt.22
Beim schnellen Rotieren der Scheibe – ca. 15 Mal in der Sekunde – sorgt die Trägheit des menschlichen Auges dafür, dass der Betrachter des empfangenen Bildes die einzelnen Punkte nicht mehr wahrnimmt und das Bild sich gewissermaßen zusammensetzt. Eben dieses Verfahren ist für die Wirkung des Senders zuständig, den Adamjan mit seiner ersten Figur beschreibt. Indem also der durchlöcherte Rand der Nipkow-Scheibe hinter dem Schirm vorbeiläuft, »werden fortlaufend einzelne punktförmige Elemente des Bildes durchgelassen und fallen auf die dahinter angeordneten Selenzellen«,23 die wiederum durch unterschiedliche Belichtung ihren Widerstand verändern und eine zugehörige Stromschwankung in der Leitung erzeugen.24 Obwohl Jakob Berzelius das chemische Element Selen bereits 1817 entdeckt hat, wurden dessen fotosensitive Eigenschaften erst 1873 vom britischen Ingenieur Willoughby Smith und seinem Assistenten Joseph May nachgewiesen.25 Die Lichtempfindlichkeit der Selenzellen wusste auch Nipkow zu gebrauchen und in Spannungsimpulse zu übertragen. Ganz ähnlich registriert Adamjan in seiner Konstruktion diese Schwankungen des Empfängers (Abb. 4), der laut der Patentschrift aus einem »Siemensschen Oszillographen« (10) besteht und der zwischen die Streckenleitungen geschaltet ist. Eben an dieser Stelle wird den »Bildern mit durchschlagendem Erfolg die zeilendiskrete Form eines Buchs oder Telegramms aufgezwungen«, wie Friedrich Kittler in Bezug auf Nipkows Erfindung pointiert zusammenfasst.26 Der vom Spiegel (11) des Oszillographen ausgehende Lichtstrahl wird auf einen fotografischen Film (26) projiziert, der fortlaufend vorbeigezogen wird. So hält der Film eine Kurve
22 23 24 25 26
Simmering 1989: 13f. Vgl. dazu auch Dillenburger 1950: 130–135 und ders. 1975. Adamian 1907b: 1. Ebd. Vgl. dazu Budrjad u. a. 1975: 35–44. Vgl. auch den Beitrag von Marius Hug in diesem Band. Kittler 1999: 293.
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fest, die »alle Elemente des Bildes in zeitliche oder räumliche Aufeinanderfolgen zerlegt enthält.«27 Abbildung 4: Beigefügte Zeichnung zur Patentschrift.
Abbildung 5: Beigefügte Zeichnung zur Patentschrift.
Nachdem Adamjan die vor ihm bereits erfundenen Sender und Empfänger detailliert beschrieben hat, kommt er zum eigentlichen Gegenstand seiner Erfindung (Abb. 5), die dazu dient, das Bild nach der photographierten Kurve möglichst schnell und verzerrungsfrei wiederzugeben: Sie besteht aus einer Apparatur (27) zur Erzeugung von schnellen Funkenentladungen, nämlich einem Rühmkorffschen Funkengeber, einer Leydener Flasche, einer Funkenstrecke und einer Induktionsspule, ferner aus einer umlaufenden Lochscheibe (28) mit einem Diopter (Durchblickvorrichtung) (29) und
27
Adamian 1907b: 1.
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einer Geißlerschen Röhre (30). Mit dem Funkenerzeuger und der Geißlerschen Röhre ist eine Einrichtung (31) bis (33) in Reihe geschaltet. Es ist (31) eine Reihe von Widerständen, die ihrer Größe nach abgestuft sind und von denen je ein Ende an die Leitung angeschlossen ist und das andere in eine Spitze ausläuft. Die Spitzen sind kammartig über einer Walze (32) angeordnet, und auf dieser Walze wird der Papierstreifen oder Film (26) aufgewickelt, nachdem die darauf photographierte Kurve leitend gemacht worden ist. Einem beliebigen anderen Punkte des Films steht die andere Elektrode der Leitung gegenüber.28
Wenn nun das Bild wiedergegeben werden soll, »so wird die Lochscheibe (28) in Drehung versetzt und der Funkenapparat (27) eingeschaltet.«29 Der Funkenstrom geht in die Geißler’sche Röhre über und anschließend durch den Stufenwiderstand, kann aber »immer nur denjenigen Zahn des Kammes (31) verlassen, der einem Kurvenstück gegenübersteht, da nur die Kurve selbst leitend ist.«30 Während sich die Walze dreht, wird die Kurvenordinate in analoge Widerstandsänderungen der Leitungen übersetzt. Den Widerstandsänderungen entsprechen somit »Intensitätsänderungen der Helligkeit des Funkenstroms in der Geißlerschen Röhre«.31 Wird also gleichzeitig die Lochscheibe (28) mit einer Geschwindigkeit gedreht, die mit der Drehungsgeschwindigkeit der Walze (32) in der richtigen Beziehung und mit der Kurve in der richtigen Phase ist, so sieht das Auge das Bild oder auch die Bildfolge, die zur Herstellung der Kurve gedient hat.32
Diese Praktiken und Strategien des Aufzeichnens, wie sie in den Modellen des technischen Fernsehens entwickelt und verifiziert werden, stehen in unmittelbarer Nachbarschaft zu den okkulten Experimenten, wie sie in der Zeit en vogue waren.33 Auch im vor- und nachrevolutionären Russland waren spiritistische Sitzungen an der Tagesordnung, bei denen nicht nur leichtgläubige Zeitgenossen, sondern auch führende Experten 28 29 30 31 32 33
Ebd.: 1f. Ebd.: 2. Ebd. Ebd. Ebd. Wolfgang Hagen hat in seinen Studien deutlich gemacht, dass zwischen dem Okkultismus und den Naturwissenschaften, insbesondere in der Entwicklung des Rundfunks, zahlreiche Überschneidungen gegeben sind, die einander bedingen. Vgl. Hagen 2005, ferner dazu auch Daniels 2002. Zur historischen und kulturtechnischen Beziehung zwischen dem Fernsehen und Hellsehen vgl. Andriopoulos 2002.
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der den Okkultismus überschneidenden Disziplinen – z. B. aus der Psychologie, Physiologie, Physik und Radiotechnik – vertreten waren. Laut den Sitzungsprotokollen hat auch »Genosse Oganes Abramoviþ Adamjan« mehrmals an den Sitzungen teilgenommen.34
Fernsehgraphische Exkursion Für gewöhnlich trafen sich die Experten der materiellen Wirklichkeit und des immateriellen Phantoms in der St. Petersburger Wohnung des über die Grenzen Osteuropas berühmt gewordenen Dompteurs Vladimir Durov. In einem seiner zahlreichen Versuche versucht der Tierbändiger, einem Hund gedanklich zu übermitteln, zu einem Tisch zu laufen, dort ein Buch zwischen die Zähne zu klemmen und es ihm, dem Befehlenden, zu bringen. Um dies zu erreichen, kralle ich mich mit strengem Blick in seine Augen, als ob diese mit meinen verwachsen sind. Der Wille des Hundes ist paralysiert. Ich bündele die ganze Kraft meiner Nerven und konzentriere mich nur auf einen Gedanken, wobei ich die Welt um mich herum vollkommen vergesse. Der Gedanke besteht darin, dass ich mir die Kontur des mich interessierenden Gegenstandes so stark einprägen muss (in diesem Fall des Tisches und des Buches), dass der Gegenstand vor mir steht wie echt, wenn ich meinen Blick von ihm gelöst habe. Und das mache ich. Ungefähr eine halbe Minute, als ob ich den Gegenstand mit den Augen buchstäblich »auffressen« würde, speichere ich alle kleinsten Details: die Falten der Tischdecke, Risse auf der Buchbindung, die Verzierung der Tischdecke usw. Ausreichend, gespeichert!35
Diese sorgfältig vorbereitete gedankliche Experimentalanordnung Durovs trägt der Neurologe und Psychiater Vladimir Bechterev 1919 auf einer Konferenz am Institut zur Erforschung des Gehirns vor, auf der er »Von Versuchen über die gedankliche Einwirkung auf das Verhalten von Tieren« berichtet. Nachdem er in seinem Vortrag einen Forschungsüberblick über die Ergebnisse der Wissenschaftler im In- und Ausland gegeben hat, stellt Bechterev eine Reihe von Experimenten vor, die er zusammen mit Durov und weiteren Kollegen in seiner Wohnung unternommen hat. Er beschreibt, wie Durov dem Hund in die Augen schaut, oder, um mit Durov zu sprechen:
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Kažinskij 1962: 20. Bechterev 1919: 10.
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durch die Augen hindurch in irgendetwas Inneres, Tiefes. In Lords Gehirn fixiere ich das, was ich gerade in meinem Gehirn fixiert habe. Ganz ruhig zeichne ich ihm in Gedanken den Teil des Bodens, der zum Tisch führt, dann das Tischbein, dann die Tischdecke und zuletzt das Buch. Der Hund fängt an, nervös zu werden, wird unruhig, versucht, sich zu befreien. Nun gebe ich ihm in Gedanken den Befehl, einen gedanklichen Stoß: »Geh!« Lord reißt sich los, wie ein Automat läuft er zum Tisch und greift das Buch mit den Zähnen. Die Aufgabe ist erfüllt.36
Derartige Experimente führten die Experten auch an Menschen durch, wobei sich leicht reizbare, nervöse Persönlichkeiten Bechterevs Ansicht nach besonders dafür eigneten. Auf Grundlage der Versuche macht Bechterev eine »unmittelbare Einimpfung von Ideen, Gefühlen, Emotionen und anderen psychophysischen Zuständen in die psychische Sphäre einer Person« aus »unter Umgehung des Bewusstseins und der Urteilskraft«.37 Die im Gehirn verursachten Reize lösten eine Reaktion aus, ein Verhaltensmuster, das Bechterev seiner Erforschung der Kettenreflexe zuordnete. Auch wenn die technische Implementierung derartiger telepathischer Kommunikationsformen keine hinreichende Bedingung für die Etablierung des Fernsehens darstellt, weisen die unmittelbaren Interferenzen von Praktiken und Kulturtechniken auf die Implementierung von Televisionen hin, wie sie Adamjans Entwürfen zu entnehmen sind.
Lichter, Winkel, Intensitäten Eine weitere Erfindung, die Adamjan noch während seines Berlinaufenthaltes im Jahr 1907 beim Kaiserlichen Patentamt einreichte, betraf einen elektrischen Fernseher. Darin schlägt er die Konstruktion eines Apparats vor (Abb. 6), der an die Vorrichtungen gekoppelt wird, »bei denen die verschiedene Helligkeit der einzelnen Punkte eines gesehenen Bildes benutzt wird, um Stromschwankungen in einem elektrischen Leitungskreis hervorzubringen«.38 Seine »Vorrichtung zur Umsetzung der örtlichen Schwankungen eines von dem Spiegel eines Oscillographen ausgehenden Lichtbündels in Helligkeitsschwankungen einer Geißlerschen Röhre« wird dazu dienen, »an dem [über eine elektri-
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Ebd. Bechterev 2001: 24. Adamian 1907a: 1.
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sche Leitung verbundenen] Empfangsort das am Geber gesehene Bild wiederzugeben«.39 Abbildung 6: Beigefügte Zeichnung zur Patentschrift.
Das bekannte Verfahren, nach dem eine Anzahl von schachbrettartig angeordneten kleinen Selenzellen blitzschnell beleuchtet wird und somit den optischen Gesamteindruck des Bildes in eine Reihe zeitlich aufeinanderfolgender von einem Oszillografen registrierten Stromschwankungen zerlegt, ist auch in dieser Patentschrift der integrierende Bestandteil der Erfindung. Auch hier setzt der Spiegel des Oszillografen die Stromschwankungen zunächst in »räumliche Schwankungen eines von einer geeigneten Lichtquelle ausgehenden, beliebig starken Lichtbündels« um.40 Genau an dieser Stelle greift nun Adamjans eigentliche Neuentwicklung: Die Erfindung ist eine Einrichtung, durch welche die Winkelschwankungen dieses Lichtbündels im Empfangsapparat in Intensitätsschwankungen einer oder mehrerer Lichtquellen, beispielsweise Geißlerscher Röhren, umgesetzt werden, die dann in bekannter Weise derart zusammengefügt werden können, daß das am Geber aufgenommene Bild für das Auge oder für die photographische Kamera am Empfänger wiedergegeben wird.41
39 40 41
Ebd. Ebd. Ebd.
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Adamjan schlägt vor, zwei Lichtquellen in unterschiedlicher Farbe anzuwenden, vorzugsweise weiß und rot, wobei deren Anordnung so eingestellt werden muss, »daß die helleren Töne von der einen Lichtquelle weiß wiedergeben werden und die weniger hellen von der anderen rot oder rötlich.«42 Dabei denkt der Erfinder an die Wiedergabe der Abbildung eines menschlichen Gesichts, »dessen natürliche Farben durch diese Farbabstufungen bis zu einem gewissen Grad nachgeahmt werden sollen.«43 Die Wirkung der Apparatur, die im Wesentlichen die Bilder präziser übermitteln soll als die erste, ist folgende: Wird die Fernleitung (1) von Stromschwankungen durchflossen, so wird der Spiegel (3) und damit das von der Lampe (4) ausgehende Lichtbündel entsprechend abgelenkt. Wenn also beispielsweise der Spiegel so eingestellt ist, daß das Lichtbündel in der Ruhestellung zunächst noch keine der Selenzellen bescheint, so lassen sich mit der dargestellten Ausführungsform des Apparates fünf verschiedene Helligkeitsgrade übertragen. Je nachdem wie das Lichtbündel die erste oder zweite Zelle der ersten oder zweiten Zellengruppe bescheint, ändert sich der Widerstand des ganzen Zellensystems und zwar wird es beispielsweise umso kleiner, je weiter das Lichtbündel nach rechts rückt. Dem Widerstand des Zellensystems umgekehrt entsprechend, nimmt der Strom, der die beiden Geißlerschen Röhren durchfließt und erleuchtet, zu oder ab.44
Zusammen mit dem Hinweis, dass sich auch die Farbe des »ausgesandten Lichtes« ändert, da die Widerstände der unbeleuchteten Zellen keinen Strom durchlassen und die weiße Röhre solange dunkel bleibt, bis das Lichtbündel die rechte Zellengruppe erreicht, ist eben dieser Präzisionsapparat öffentlich zugänglich. Das sowjetische Patentwesen ermöglichte es dem Staat, das geistige Eigentum eines Einzelnen ohne Umschweife dem Allgemeinwohl zukommen zu lassen, an das Volk weiterzugeben. Was der Grund dafür ist, dass viele Bauanweisungen rund um das Fernsehen in den Printmedien erscheinen: Texte, aus denen Tüftler eine Vorrichtung konstruieren können, um eine Nipkow-Scheibe zu erstellen (Abb. 7); Entwürfe, aus denen Bastler Röhren, Lampen und Selenzellen aufeinander einstellen können (Abb. 8); oder Schaltpläne, nach denen Leser ein Gerät zusammenlöten können, um die zwischen weiß und schwarz wechselnden und in ihrer Form immer noch unheimlichen Signale des technischen Zeitalters empfangen zu können.
42 43 44
Ebd. Ebd. Ebd.: 2.
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Abbildung 7: Vorrichtung zur Konstruktion eine Nipkow-Scheibe.
Abbildung 8: Televisionäre Entwürfe.
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Auf Sendung In der Nacht vom 29. auf den 30. April 1931 versuchen die Laboranten um Adamjan, die in der neuen Hauptstadt, in Moskau, saßen, die erste drahtlose Fernsehsendung in der Sowjetunion zu starten. Die Fernsehlaboranten sendeten die sie umgebenden Werkzeuge und Gegenstände, die für den Aufbau und das Funktionieren von Sehmaschinen notwendig waren, sowie deren Bediener (Abb. 9), also sich selbst, als wären sie Geisterscheinungen.45 Zwar war die Qualität der übertragenen Bilder noch ziemlich minderwertig, denn die empfangenen Fernsehgraphien bestehen lediglich aus 30 Zeilen, gerechnet auf die Größe einer Streichholzschachtel, doch die Formen und Konturen des Gesendeten waren klar zu erkennen.46 Am nächsten Morgen berichtet die »Wahrheit übermittelnde« Zeitschrift Pravda von dem Erfolg des Experiments und macht ihre Leser auf das in der folgenden Nacht stattfindende erste öffentliche Experiment aufmerksam: Morgen wird in der UdSSR zum ersten Mal eine experimentelle televisionäre Botschaft (des fern Sehens) über das Radio gesendet. Vom Kurzwellensender RVEI-1 des Allunionselektrotechnischen Instituts (Moskau) auf der Welle 56,6 Meter wird ein lebendiges Gesicht und eine Photographie übermittelt.47
Abbildung 9: Fernsehlaboranten bereiten das Gerät zur TV-Séance.
Anders als beispielsweise im kapitalistischen Deutschland, wo freizügige Badenixen vor dem Fernseher wie hinter der Kamera begehrende 45 46
47
Vgl. Archangel’skij 1933: 9. Bis zum Ausbruch des zweiten Weltkrieges in der Sowjetunion gingen die Seancen jeden Tag von 23 Uhr bis 5 Uhr auf Sendung. Die technische Kapazität der Übertragung lag für die Aufnahmen von 4:3 und zwölfeinhalb Bilder in der Sekunde bei 30 Bildzeilen. Gesendet wurde auf der Frequenz 271 kHz bzw. 1304 kHz. (vgl. Glejser 1965: 35). Anonym 1931: 1.
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Männerblicke auf sich zogen, waren die ersten Testbilder der zum Kommunismus strebenden Sowjetunion anderer Natur.48 Neben der am Tag zuvor gesendeten Séance wird also darauf aufmerksam gemacht, dass in der Nacht zum 1. Mai neben dem Bild eines Menschen noch ein anderes Bild gesendet wird. Das Bild, das den Triumph des Gesendeten symbolisieren sollte, war kein bewegtes Bild, sondern eine Photographie: die Photographie einer hyperbolischen Antenne, die in einer Höhe von 150 Metern realisiert worden war und nicht, wie vom Konstrukteur Vladimir Grigor’eviþ Šuchov in seinem Entwurf von 1919 – vor der Weltwirtschaftskrise und dem Bürgerkrieg – vorgesehen, 350 Meter (Abb. 10). Dieser Funkturm sendete bereits seit neun Jahren ein Radiosignal aus und war durch die von ihm in der Öffentlichkeit kursierenden Bilder eine Ikone des sowjetischen Fortschritts geworden. Es sind die Bilder Aleksandr Rodþenkos, die den Šuchov-Turm in seiner konstruktivistischen Form festhalten und nun ganz im Sinne des auf Papier gegossenen Objekts gesendet wurden. Abbildung 10: Šuchov-Turm.
48
Birgit Schneider hat am Beispiel der ersten Fernsehsendungen in Berlin darauf hingewiesen, wie die zu sendenden Testmädchen mediengerecht eingefärbt und hergerichtet wurden, um bei der geringen Bildqualität überhaupt etwas erkennen zu können. Vgl. Schneider 2002: 61–70.
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Abbildungen Abb. 1: Fernseher selbst gemacht. In: Šefer, B. 1937: Samodel’nyj televisor. Moskau. Titelseite. Abb. 2: Adamjan vor seinem Fernseher. In: Rochlin Archiv, Moskau. Abb. 3: Beigefügte Zeichnung zur Patentschrift. In: Adamian, Johannes 1907b: Einrichtung zum Festhalten und zur wiederholten Wiedergabe von elektrischen Bildern und Bildfolgen. Patentschrift DE 197.443 vom 11. April 1911. Fig. 1. Abb. 4: Beigefügte Zeichnung zur Patentschrift. In: Ebd. Fig. 2. Abb. 5: Beigefügte Zeichnung zur Patentschrift. In: Ebd. Fig. 3. Abb. 6: Beigefügte Zeichnung zur Patentschrift. In: Adamian, Johannes 1907a: Vorrichtung zur Umsetzung der örtlichen Schwankungen eines von dem Spiegel eines Oscillographen ausgehenden Lichtbündels in Helligkeitsschwankungen einer Geißler’schen Röhre. Patentschrift DE 197.183 vom 31. März 1908. Abb. 7: Vorrichtung zur Konstruktion eine Nipkow-Scheibe. In: Šefer, B. 1937: Samodel’nyj televisor. Moskau. Abb. 8: Televisionäre Entwürfe. In: Ebd. Abb. 9: Fernsehlaboranten bereiten das Gerät zur TV-Séance. In: Rochlin Archiv, Moskau. Abb. 10: Šuchov-Turm. In: Aleksandr Rodþenko, 1929.
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Künste und Maschinen. Zwei Leonardos des 19. Jahrhunderts Noch immer sind wir als Kinder der Moderne versucht anzunehmen, dass sich die eine Kunst im Singular scharf gegen die vielen, zur Technik zusammengefassten Künste im Plural abgrenzen ließe. Diese Annahme verstellt nicht nur den Blick auf die eigene hoch-technologische Gegenwart, sondern ist auch eine ungeeignete Einstellung, um die historischen Zusammenhänge von Kunst- und Technikgeschichte unter die Lupe zu nehmen. So ist eine andere Epochenschwelle der westlichen Kultur, die im 16. Jahrhundert kulminiert und die seit dem 19. Jahrhundert als Renaissance bezeichnet wird, geradezu umgekehrt durch die Integration und Zusammenführung von Zeichnungen technischen und wissenschaftlichen Inhalts und anderen, religiös motivierten Formen des Bildes charakterisiert.1 Die lange Verbindung von Kunst und Technik lässt sich schlaglichtartig mit einigen etymologischen Überlegungen beleuchten: Wer mit Kunst einen konkreten Gegenstand und nicht eine menschliche Kompetenz bezeichnete, meinte damit bis ins 18. Jahrhundert eine Maschine zum Heben von Wasser: Kunst heisset überhaupt in der Mechanick eine Maschine, wodurch das Wasser aus der Tiefe in die Höhe gebracht werden kan; Insbesondere aber wird dieses Wort in den Bergwercken von derjenigen Maschine gebrauchet, womit vermittelst einer äusserlichen Krafft, welches Menschen, Thiere, Wind, Feuer oder Wasser seyn können, die Wasser aus der Grube gehoben werden, daß derselben ihre Gänge und Strecken nicht ersauffen.2
Umgekehrt bezeichnet noch Delacroix seine monumentalen Leinwandgemälde als »grande machine« – ein Terminus, der von Diderot in die Salonkritik eingeführt wurde und dort zum Teil mit abwertendem Unterton verwendet wurde.3 Bis ins 19. Jahrhundert hinein steht die Verwendung jedoch in einer Tradition der Kunsttheorie, in der der Begriff positiv besetzt war. So spricht Charles Alphonse Du Fresnoy Mitte des 17. Jahrhunderts von der »Maschine eines Tafelgemäldes« 1 2 3
Vgl. zu dieser These Edgerton 1991 und Bogen 2006. Wolff 1747: 769. Vgl. Delacroix/Flat 1982 und Garms 1971.
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(»machine de tableau«).4 Sein Übersetzer und Kommentator Roger de Piles führt aus: Ce n’est pas sans raison ni au hasard que notre auteur se sert du mot de machine. Une machine est un juste assemblage de plusieurs pièces pour produire un même effet. Et la disposition dans un tableau n’est autre chose qu’un assemblage de plusieurs parties dont on doit prévoir l’accord et la justesse pour produire un bel effet.5
Diese Definition nimmt Jacques Lacombe 1751 in seinen »Dictionnaire Portatif des Beaux-Arts« auf und führt »machine« als Synonym für Komposition an. L’on se sert de ce terme [machine], en Peinture, pour marquer l’assemblage de plusieurs parties d’un Tableau, qui concourent à former un tout parfait, comme les Piéces d’un Ouvrage méchanique, tendent à produire par leur arrangement une même signification, à peu près, que composition. L’on appele encore grande Machine, un Tableau d’une vaste & riche ordonnance.6
Die Definition von Lacombe macht deutlich, dass nicht nur Maschinen auf der Grundlage von technischen Zeichnungen gebaut werden konnten, sondern dass umgekehrt das Bild über das Thema einer technischen Konstruktion überhaupt als ein gebautes »Ganzes« neu reflektiert werden konnte.7 Das Zeichnen von Maschinen und technischen Konstruktionen konnte somit einen Beitrag zu einer selbstreflexiven Form von Kunst leisten, wie sie beispielhaft im neuzeitlichen Tableau hervortritt.8 Die Kulturgeschichte des technischen Zeichnens sieht in ihren Beispielen jedoch meist eine überhistorisch abgrenzbare Sonderform der 4 5
6
7 8
Du Fresnoy/Piles 1668, zitiert nach Becq 1982: 274. Ebd. »Es ist nicht ohne Grund oder zufällig, dass unser Autor sich des Wortes Maschine bedient. Eine Maschine ist eine korrekte Verbindung von mehreren Teilen, um eine einzige Wirkung hervorzubringen. Und die Anordnung in einem Tafelgemälde ist nichts anderes als eine Verbindung von mehreren Teilen, deren Zusammenspiel und Angemessenheit in der Hervorbringung eines schönen Effekts man vorhersehen muss.« Übersetzung SB. Lacombe 1753: 395. »Man bedient sich des Begriffs Maschine in der Malerei, um die Verbindung von mehreren Teilen eines Tafelgemäldes zu bezeichnen, die darauf hinauslaufen, ein vollkommenes Ganzes zu bilden, so wie die Teile eines mechanischen Werkes durch ihre Anordnung darauf abzielen, eine Gesamtwirkung hervorzubringen. Der Begriff hat fast die gleiche Bedeutung wie Komposition. Als große Maschine bezeichnet man auch ein Tafelgemälde mit einer ausgedehnten und reichen Ordnung«. Übersetzung SB. Vgl. hierzu auch Paul 1997. Vgl. Bogen 2009. Vgl. Stoichita 1998.
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graphischen Darstellung, die vor allem auf die Realisierung effektiver Konstruktionen bezogen ist.9 Mit der Reproduktion solcher Zeichnungen waren bereits die ersten Technikgeschichten illustriert worden.10 Dabei musste man mehr oder weniger davon ausgehen, dass sich das, was die Bilder zeigten, und das, was gleichzeitig gebaut wurde, zur Deckung bringen lassen. Auch technische Utopien, die sich zur Zeit ihrer Entstehung noch nicht realisieren ließen, wurden am technisch Machbaren gemessen.11 Eine beliebte Methode dieses Ansatzes besteht bis heute darin, die gezeichneten Konstruktionen mit modernen Mitteln nachzubauen, um ihre Effektivität zu überprüfen. Neuerdings wird hierfür auch die Technik des CAD eingesetzt.12 Die Idee eines eindeutig bestimmbaren Fortschritts, die Technikgeschichten noch länger als andere Formen der Geschichtsschreibung geprägt hat, wurde damit auch auf den Bereich der Zeichnung übertragen. Ihr Telos hatte diese Geschichte in der modernen deskriptiven Geometrie, mit der sich dreidimensionale Elemente auf einer zweidimensionalen Fläche exakt definieren lassen. Vorrangig wurde also nach besonderen Darstellungskonventionen gefragt, die sich mit den modernen Normen des technischen Zeichnens vergleichen ließen. Das hat immer wieder zu Beschreibungen nach dem Muster des bereits damals und des damals noch nicht geführt. Es gibt jedoch auch frühe technikhistorische Arbeiten, die den Anschluss an kunsthistorische Fragestellungen suchen. So hat Friedrich Klemm die verspielten Einfälle der gedruckten Maschinenbücher mit Epochenmerkmalen des Manierismus in Verbindung gebracht.13 Bert S. Hall hat für ältere Handzeichnungen eine eher didaktische von einer primär auf Eleganz ausgerichteten Form unterschieden.14 In den letzten Jahren haben kunst-, medien- und technikhistorische Forschungen das Feld neu geöffnet. Dabei wurde auch dezidiert nach der Rolle von Bildern im Prozess der Erfindung15 und nach der konkreten Funktion von Zeichnungen im historischen Kontext gefragt.16 Hierfür musste zunächst das Paradigma der Konstruktionszeichnung relativiert werden. Gerade die ältesten überlieferten Beispiele sind nicht in eine Kommuni9 10 11 12 13 14 15 16
Vgl. Feldhaus 1959, Nedoluha 1960, Kuns 1980, Deforge 1981, Booker 1982 und Sellenriek 1987. Vgl. Beck 1899 und Gille 1968. Vgl. beispielsweise Horwitz 1920. Vgl. hierzu den Beitrag von Martin Straub im vorliegenden Band. Vgl. Klemm 1972. Vgl. Hall 1996. Vgl. Moebius/Berns 1990 und Ferguson 1993 und Bernhart/Mehne 2006. Vgl. besonders Leng 2002, Lefèvre 2004 und Gruter 2006.
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kation zwischen Ingenieur und ausführenden Handwerkern eingebunden, sondern in einen Austausch zwischen Ingenieur und potenziellen Geldgebern und Gönnern. Im Rahmen dieses neuen Paradigmas sind einige Monographien und eine Reihe von Einzelstudien entstanden.17 Der Nachweis, dass Maschinen und Automaten ein zentrales Element im Sammlungssystem der barocken Kunstkammern waren, hat das Thema auch kunsthistorisch weit geöffnet.18 Es ist inzwischen fester Bestandteil von Forschungsansätzen, die nach visuellen Formen des Wissens in der Neuzeit fragen.19 So liegen mehrere kunsthistorisch ausgerichtete Monographien zu einer Bildgeschichte von Naturwissenschaften und Technik vor.20 Im Rahmen eines solchen Projekts hat Hans Holländer darauf hingewiesen, dass die Grenzen zwischen Wissenschaft, Technik und Kunst bis zum 18. Jahrhundert anders verliefen und unscharf waren, jederzeit überspielt werden konnten und nur durch die unvermeidliche Spezialisierung auf die einzelnen Metiers überhaupt wahrnehmbar sind. Eine große und komplizierte Maschine war mit Selbstverständlichkeit ein Kunstwerk […] und ihre Darstellung desgleichen, zumal hierfür neue Methoden entwickelt werden mussten. […] Wir müssen also mit anderen Bild- und Kunstbegriffen rechnen, die viel weiträumiger waren als heute, aber auch mit anderen Funktionen technischer Erfindungen.21
Wenn hier über technische Autorschaft nachgedacht wird, wie sie im Rahmen von Patentschriften auch mit Hilfe von Zeichnungen erzeugt wird, machen die Vorüberlegungen auf einen epochalen Wandel aufmerksam: In dem Moment, in dem die Funktion der Zeichnung auf die Autorisierung des dargestellten Mechanismus bezogen wurde, musste die künstlerische Qualität der Darstellung selbst zurückgefahren werden. Es war hinderlich, wenn die Zeichnung eine bestimmte Handschrift erkennen ließ, da diese geeignet war, das zu verunklären, was eigentlich geprüft werden sollte: der technische Zusammenhang, der als geistiges Eigentum des Erfinders gelten sollte. Man kann hier sogar von einer umgekehrten Proportionalität sprechen: In dem Maß, in dem man sich genormter Mittel der technischen Zeichnung bedienen konnte, die 17 18 19 20 21
Vgl. besonders Popplow 1998, Long 2001, Leng 2002, Lefèvre 2004 und Hilz 2008. Vgl. Bredekamp 1993. Vgl. Bredekamp 2004, Bredekamp/Schneider 2006, Lazardzig 2007 und Schramm 2008. Vgl. Holländer 2000 und Bredekamp u. a. 2008. Als ähnlich ausgerichtetes Projekt von Wissenschafts- und Technikhistorikern vgl. Lefèvre u. a. 2003. Holländer 2000: 10.
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dem subjektiven Zugriff gerade entzogen sein sollten, konnte man hoffen, auf Ebene der Darstellung ein eindeutiges Maß für die Richtigkeit und Originalität der Lösung technischer Probleme zu gewinnen.22 Dieser Prozess soll im Folgenden gleichsam von seinen Rändern her beleuchtet werden. Zu zeigen ist, dass das neue Verständnis der technischen Zeichnung, das sich im 19. Jahrhundert entwickelte, rückwirkend auf die Geschichte des technischen Zeichnens projiziert wurde und sich mit Gewalt ein Material einverleibt hat, das in ganz anderen Zusammenhängen entstanden ist. In der Deformation der historischen Beispiele erkennt man dann um so deutlicher die Brille der Moderne. Versucht man, diesen Prozess übergreifend zu charakterisieren, lässt er sich mit Bruno Latour als Reinigungsarbeit beschreiben, die eine strikte Trennung zwischen wissenschaftlicher und technischer Erkenntnis auf der einen Seite und kommunikativen und ästhetischen Prozessen auf der anderen Seite einführt.23 In Patentzeichnungen kommen sich beide Seiten gefährlich nahe: Das Nachdenken über die erklärten technischen Zusammenhänge konnte in das Nachdenken über persuasive Bildrhetoriken übergehen, so wie es noch für die gedruckten Maschinenbücher des Barock charakteristisch war. Die Moderne schaltet hier jedoch zahlreiche Filter ein, die als Normierung der Darstellungsmittel bereits im Prozess der Produktion greifen. Diese Filter wendet sie dann auch auf Beispiele an, in denen technische Skizzen und ausgearbeitete Maschinenzeichnungen zugleich ein Beitrag zur Entwicklung künstlerischer Zeichentechniken waren und zu einer Erweiterung der Rezeptionskompetenz des Betrachters führen sollten. Das soll im Folgenden exemplarisch an der Rezeptionsgeschichte Leonardos im 19. Jahrhundert aufgezeigt werden. Leonardo da Vinci ragt im kulturellen Gedächtnis der westlichen Moderne wie ein erratischer Block aus der älteren, weit verzweigten Geschichte der Maschinenzeichnung heraus.24 Mit den Augen des 19. Jahrhunderts betrachtet, sind freilich zwei Leonardos zu erkennen: der Künstler und der Ingenieur. Erst in der Vorstellung vom Universalgenie konnten sie wieder halbwegs zur Deckung gebracht werden. Die besonderen Komplikationen dieser Rezeptionsgeschichte reichen weit zurück und beginnen mit der Schere Pompeo Leonis. 1590 hatte der 22 23 24
Zur Standardisierung des technischen Zeichnens im 19. Jahrhundert vgl. König 1999. Vgl. Latour 1995. Die Literatur zu Leonardo ist unüberschaubar. Einige grundlegende Titel, die sich vor allem mit Leonardo als Zeichner von Maschinen beschäftigen: Duhem 1906–1913, Hart 1925, Dibner/Reti 1969, Reti 1974, Hall 1976, Klemm 1978, Galluzzi 1987, Maschat 1989 und Moon 2007.
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Bildhauer, der im Dienst des spanischen Königs stand, zehn Manuskripte Leonardos in seinen Besitz gebracht. Er läutete damit, wie André Chastel es nannte, »fünfzig Jahre Fahrlässigkeit und Habgier« im Umgang mit dessen schriftlichem Vermächtnis ein: Da die Zeichnungen des Meisters zu Handelsobjekten wurden, teilte er [Leoni, SB] sie geschäftstüchtig in zwei Sammlungen: eine wissenschaftliche, in die er ohne jegliche Ordnung die größten greifbaren Blätter aufnahm (daraus wurde später der Codex Atlanticus, den Arconati um 1622 kaufen sollte, um ihn dann – 1636 – der Ambrosianischen Bibliothek zugehen zu lassen) und eine künstlerische, die aus Fragmenten bestand, welche aus früheren Blättern ausgeschnitten und auf neue Seiten aufgeklebt worden waren (diese befindet sich in den Königlichen Sammlungen von Windsor, wohin sie durch Arundel kam).25
»Wissenschaftlich« und »künstlerisch« sind freilich Begriffe, mit denen der Kunsthistoriker des 20. Jahrhunderts die heterogenen Konvolute belegt hat. Ob Pompeo Leoni überhaupt in der Lage gewesen wäre, die beiden Sammlungen über die thematische Gruppierung hinaus auf einen klaren Begriff zu bringen, muss offen bleiben. Mit seinem Eingriff in die Manuskripte leistete er dennoch der Tendenz Vorschub, zwei Seiten Leonardos voneinander abzutrennen. Diese Tendenz entfaltete ihre volle rezeptionsgeschichtliche Wirkung im 19. Jahrhundert.26 Erst in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde mit den fototechnischen Reproduktionsmöglichkeiten von Zeichnungen für eine größere Öffentlichkeit deutlich, in welchem Umfang Leonardo technische Studien, Skizzen und Maschinenzeichnungen hinterlassen hatte. Ein schmales Oeuvre von Kunstwerken – durch zweifelhafte Zuschreibungen und Fälschungen noch ein wenig vergrößert – stand plötzlich einer unüberschaubaren Fülle technischer und wissenschaftlicher Skizzen gegenüber. Die frühe Kunstgeschichte und eine gerade erst einsetzende Technikgeschichte mussten die Dokumente in irgendeiner Form aufeinander beziehen. Dass dies im 19. Jahrhundert nur in einer radikalen Abtrennung und Arbeitsteilung möglich war, will ich exemplarisch an zwei Texten aufzeigen, deren Autoren der gleichen Generation angehören, sogar im selben Jahr 1839 geboren sind. Der eine, Walter Pater, war Kunsttheoretiker und Schriftsteller in Oxford. 1873 veröffentlichte er seine berühmte Essay-Sammlung »The Renaissance«, zu der eine Studie über den Künst-
25 26
Chastel 1990: 63. Vgl. Turner 1993 und Arasse 2002: 9–20.
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ler Leonardo gehört.27 Der andere, Theodor Beck, war zunächst als Ingenieur und Fabrikant tätig, um sich in einem zweiten Lebensabschnitt historischen Studien zu widmen. Er lehrte an der technischen Hochschulen in Darmstadt und verfolgte das institutionelle Ziel, die Ausbildung der Ingenieure akademisch aufzuwerten. Ende des 19. Jahrhunderts veröffentlichte er seine »Beiträge zur Geschichte des Maschinenbaus«, zu denen drei Abhandlungen über den Techniker und Ingenieur Leonardo gehören.28 Beide Texte sind Pionierleistungen eigener Art. Der Kunsttheoretiker Pater entnimmt sein historisches Material Vasaris Leonardo-Vita, um es wortgewaltig und nicht ohne abfällige Bemerkungen gegenüber seiner Quelle in eine neue zeitgemäße Künstlervita umzuformen. Der Ingenieur und Technikhistoriker Beck studiert dagegen die ersten verfügbaren Ausgaben der technischen Schriften Leonardos, reiht sie in seine Geschichte des Maschinenbaus ein und versucht, den Entwürfen eine innere Ordnung zu geben. Bereits in ihren Quellen und Gegenständen sind die Abhandlungen daher unterschiedlich orientiert, auch wenn der jeweils komplementäre Aspekt nicht ganz ausgeblendet werden kann: Pater überführt die großen Werke Leonardos bzw. Gemälde, die er für solche Werke hält, in hochliterarische Texte. Über die technischen Studien Leonardos kann er nur pauschal urteilen: »dreams, thrown off by the overwrought and labouring brain«.29 Umgekehrt ist es für Theodor Beck selbstverständlich, in einem kurzen Vorspann die großen Kunstwerke Leonardos zu erwähnen: das Abendmahl, die Mona Lisa usw. Als Technikhistoriker verliert er darüber jedoch nicht mehr Worte als für die Datierung und eine unspezifische Wertschätzung notwendig sind. Sein kompetentes Urteil erstreckt sich allein auf die technischen Zeichnungen Leonardos, die er zum Teil erstmals einer ausführlichen Analyse unterzieht: Hätten wir den Verfasser [Leonardo, SB] nur nach diesen Manuskripten zu beurtheilen, so müssten wir ihn für einen Mathematiker, Ingenieur und Physiker von Beruf halten, der zwar ausserordentliches Talent zum Zeichnen besass, aber sich nur gelegentlich mit Malerei und Architektur praktisch beschäftigte.30
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Vgl. Pater 1893. Vgl. in Beck 1899 die Beiträge über Leonardo da Vinci auf Seite 88–110, 318–364 und 411–484. Zu Theodor Becks Stellung in der frühen Technikgeschichte vgl. Troitzsch/Wohlauf 1980: 71–80. Pater 1893: 108. Beck 1899: 318.
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Das Problem, das die kombinierte Lektüre der Texte von Pater und Beck aufwirft, besteht nicht darin, dass sie einfach über verschiedene Gegenstände oder Teilbereiche von Leonardos Tätigkeit sprechen, sondern dass sie dies auf eine unvereinbare Weise tun und dennoch von ein- und demselben Leonardo sprechen. Am Anfang sind sich beide Autoren noch einig: Beide wissen genau, wann ihr Leonardo als Künstler und wann er als Ingenieur tätig ist. Dabei schuf er […] Zeichnungen, nicht nur künstlerische, sondern auch solche von Öfen, Geräthen für die Schifffahrt und hydraulische Maschinen.31
Für Beck genügt es, das Thema der Zeichnung zu nennen, um zu wissen, was künstlerisch sein kann und was nicht. Darstellung von Maschinen können es nicht sein – und das, obwohl nur ein Jahrhundert vor Beck als Kunst allein eine Maschine zum Heben von Wasser bezeichnet wurde. Paters abfällige Bemerkung über die »Abfallprodukte von Leonardos überarbeitetem Gehirn« wurde bereits zitiert. Technische Studien entstehen seiner Meinung nach allenfalls, um die Wartezeit auf den eigentlichen Moment der künstlerischen Inspiration zu verkürzen: But Leonardo will never work till the happy moment comes – that moment of bien-être, which to imaginative men is a moment of invention. On this moment he waits; other moments are but a preparation, or after-taste of it.32
Obwohl Pater Begriffe wie »invention« oder »genius« benutzt, deren Verbindung mit der Sphäre des Ingenieurs bereits im Wortlaut aufscheint, versucht er dessen Erfindungen kategorisch von den Erfindungen des Künstlers abzutrennen. Was die beiden Autoren verbindet, ist die Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Technik auf der einen und Kunst auf der anderen Seite. Was sie fundamental unterscheidet, ist die entgegengesetzte Bewertung der getrennten Bereiche. Pater identifiziert sich mit dem Künstler, Beck votiert für den Ingenieur. Indem sie die jeweils eigene Bewertung auf Leonardo projizieren, ihn für die eigene Partei vereinnahmen, entstehen zwei verschiedene Leonardos. Pater kommt seinem Leonardo immer dann nahe, wenn er ihn über die Geheimnisse der menschlichen Seele sprechen lässt. Das Werk des Künstlers ist demnach geprägt von »mystery«, »fancy«, »terror« und »beauty«. Der vom Autor des 19. Jahrhunderts als Vorläufer eines spätromantischen Kunstideals stilisierte Künstler öffnet in seinen großen 31 32
Ebd.: 90. Pater 1893: 117f.
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schöpferischen Momenten seine innere Welt und teilt sie dem Liebhaber der Kunst mit, der auch ein »Liebhaber ungewöhnlicher Seelen« sein muss.33 Pater schätzt an der Kunst also allein die Fähigkeit, eine über die äußere Welt vermittelte Resonanz zwischen inneren Welten stiften zu können. Der Technikhistoriker Beck muss die Genialität Leonardos ganz anders begründen: Mag auch manches in LEONARDO’s maschinellen Skizzen uns nur deshalb überraschen, weil wir von dem damaligen Stand der praktischen Mechanik nichts wissen, so ist doch auffallend, wie sehr seine Genialität ihn dem modernen Maschinenbau näher erscheinen läßt, als die meisten seiner Nachfolger auf diesem Gebiete in den nächsten zweihundert Jahren.34
Demnach spricht Leonardo die Grundlage der gegenwärtigen Theorie der Momente bereits »deutlicher aus als sein Nachfolger Benedetti«. In einem anderen Fall fehlt nur »eine kleine Präcisierung, […] um das Princip der virtuellen Geschwindigkeit klar zum Ausdruck zu bringen.«35 Manchmal verhindert ein einziger Fehler die erfolgreiche technische Realisierung: Leider schreibt er [Leonardo] auf die beiden Hälften der kugelförmigen Glasglocke: ›acqua, acqua‹, weil er ohne Zweifel meinte, der Glascylinder müsse durch Wasser kühl erhalten werden, und daran mag wohl die praktische Verwendbarkeit seiner Lampe gescheitert sein.36
Meistens ist der geniale Ingenieur seiner Zeit jedoch weit voraus: Es ist dabei zu bemerken, dass Verzahnungen von Winkelrädern noch 200 Jahre nach Leonardo nicht in so vollkommener Weise ausgeführt zu werden pflegten, wie er sie hier skizzierte.37
Beck bewundert also, wie nah Leonardo bereits dem gekommen ist, was der Ingenieur des 19. Jahrhunderts für objektiv richtig und technisch effizient hält. Er unterzieht die Skizzen Leonardos gleichsam einem nachträglichen Patentverfahren, um die Originalität der Konstruktionen – und nicht etwa die Originalität der Darstellung – bewerten zu können. Nur deshalb kann er ihn am Ende »mit Stolz einen der Unsri33 34 35 36 37
Ebd.: 103. Beck 1899: 130 Ebd.: 94 und 95. Ebd.: 99. Ebd.: 100.
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gen« nennen.38 Die Wertschätzung könnte kaum unterschiedlicher ausfallen. Paters Leonardo weiß ganz in seine geheimnisvolle Subjektivität einzutauchen, um sie am Ende zur Intersubjektivität hin zu durchbrechen. Becks Leonardo denkt immer nur an das objektiv Richtige und technisch Machbare und weiß sich damit von Anfang an in den zeitlosen Bund der Ingenieure eingereiht. Dass die Phantasmen der reinen Subjektivität und absoluten Objektivität komplementär aufeinander bezogen sind, wird vor allem an den Abbildungsstrategien der Autoren deutlich. Pater verzichtet auf jegliche Form von Abbildung. Was auf geheimnisvolle Weise evoziert werden soll, ist die Vorstellung vom Meisterwerk, das in seiner puren Materialität notwendig außen und abwesend ist und im Moment der kongenialen Interpretation nach innen geholt und anwesend gemacht werden kann. Das gelingt selbst bei einem Tafelgemälde, das heute als Werk eines unbekannten flämischen Malers aus dem 17. Jahrhundert gilt, das Pater jedoch – nicht als erster – als frühes Meisterwerk Leonardos beschreibt 39 All these swarming fancies unite in the Medusa of the Uffizii. […] What may be called the fascination of corruption penetrates in every touch its exquisitely finished beauty. About the dainty line of the cheek the bat flits unheeded. The delicate snakes seem literally strangling each other in terrified struggle to escape from the Medusa brain. The hue which violent death always brings with it is in the features: features singularly massive and grand, as we catch them inverted, in a dexterous foreshortening, sloping upwards, almost sliding down upon us, crown foremost, like a great calm stone against which the wave of serpents breaks. But it is a subject that may well be left of the beautiful verses of Shelley.40
Pater konstruiert ein Oeuvre Leonardos, in dem der aufdringliche Schrecken der Medusa ebenso wie das subtile Lächeln der Mona Lisa ihren Platz finden, und in dem beide Werke gerade in ihrer Überblendung an Schauerlichkeit gewinnen. Es ist fraglich, ob eine solche Gruppenbildung einer stilistischen Überprüfung selbst an mittelmäßigen Abbildungen standhalten könnte. Was das Original für Pater am Leben erhält, ist nicht die kennerschaftliche Prüfung und auch nicht eine technisch aufwändige Reproduktion, sondern die Übersetzung in einen kongenialen literarischen Text. Ähnliches hatte bereits Goethe in seiner Abhandlung über Leonardos Abendmahl vorgeführt, bei der der ruinöse 38 39 40
Beck 1899: 89. Vgl. Turner 1993. Pater 1893: 109f.
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Zustand der Wandmalerei geradezu zur Bedingung für ihre literarische Wiedererschaffung geworden ist. Theodor Beck geizt ganz im Gegensatz dazu nicht mit Figuren. Seiner ersten Abhandlung über den Techniker Leonardo sind 41, der zweiten schon 171, der letzten und längsten gar 189 Figuren beigegeben. Das sind keine fototechnisch aufwändigen Reproduktionen der Manuskripte, sondern einfache Umzeichnungen, meist nicht höher als fünf bis zehn Textzeilen. Abbildung 1: Doppelseite mit Umzeichnungen aus Leonardos Handschriften.
In diesen Strichzeichnungen werden die Skizzen Leonardos auf das Wesentliche reduziert, aus dem Kontext der Handschriften gelöst und in eine neue Systematik eingepasst. Meist werden sie in der Mitte einer Seite in einer Linie aufgereiht und durchnummeriert. Der Text schreitet voran, indem er Figur für Figur erklärt, Auszüge aus Leonardos Notizen zitiert und noch einmal mit einem eigenen technischen Kommentar versieht. Für Beck ist die vereinfachte Reproduktion, die er an keiner Stelle problematisiert, kein Verlust, sondern ein Gewinn gewesen. Die Zeichnungen bekommen einen einheitlichen Maßstab, und der Grad ihrer Ausarbeitung wird nivelliert. In einheitlichen Konturzeichnungen werden einzelne Bauteile aus dem Kontext genommen und miteinander verglichen. Am Anfang dieser graphischen Strategie steht die Systematik
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elementarer Mechanismen, die Jean Pierre Nicolas Hachette in seinem »Traité élémentaire de machines« von 1811 vorgelegt hatte. Abbildung 2: Tableau des Machines Elémentaires.
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Hier werden Grundkompetenzen des technischen Blicks in systematischer Form angewendet: die Zerlegung einer Konstruktion in ihre Teile und die Vorstellung von Bewegungen, die aus der Relation der Teile abgeleitet sind. In Deutschland war es Franz Reuleaux, der diesen Ansatz zu einer theoretischen Kinematik ausbaute.41 Beck verfügt über solche Raster und zerlegt damit nicht Maschinen, sondern Leonardos Manuskripte. Durch die Angleichung an die graphische Abstraktion des 19. Jahrhunderts will er zeigen, auf welchem Stand des Wissens Leonardo bereits angekommen war und was er noch nicht richtig realisieren konnte. Der Prozess der Standardisierung und Normierung, den die technische Zeichnung im 19. Jahrhundert auch im Kontext von Patentschriften durchlaufen hat, wird durch die Zerlegung der Manuskripte und ihre vereinfachte Reproduktion als Strichzeichnung im Schnellverfahren nachgeholt. Leonardos Zeichnungen interessieren damit allein in ihrer Funktion, technische Mechanismen aufzuschließen. In dieser Hinsicht scheint ihre Funktion selbstverständlich und mit den Konventionen der Zeichnung bereits gesetzt. Entsprechend kurz können die Kommentare zu den Figuren ausfallen. So beschränkt sich der Kommentar bei einer ungewöhnlich groß reproduzierten Feilenhaumaschine (Abb. 3) auf den Hinweis, dass »die Konstruktion derselben aus der Zeichnung klar genug hervorgehen dürfte und keiner weiteren Erklärung bedürfte.«42 Ein technisch weniger versierter Betrachter wird allerdings alle Mühe haben, den Mechanismus dieser Konstruktion zu verstehen und die relative Bewegung der Teile aus der Zeichnung abzuleiten. Beck verfügt nicht nur über Normen der Zeichnung, sondern auch über eine spezifische Kompetenz im Betrachten dieser Figuren, die er jedoch nicht als eigenständige Rezeptionsleistung reflektiert, sondern deren Beherrschung und Anwendung durch den Leser er einfach voraussetzt. Gerade der Umgang mit den Abbildungen verdeutlicht somit den unterschwelligen Bezug zwischen dem Ideal der reinen Subjektivität und der reinen Objektivität, die die Episteme der Moderne charakterisiert. In beiden Fällen wird der in Frage stehende Gegenstand, das Gemälde oder die Sammlung von Zeichnungen, in der Rede zum Verschwinden gebracht. Die technischen Zeichnungen Becks sind immer schon eingefügt in eine Kette von Repräsentationen, die sich am Ende in einer technischen Konstruktion objektivieren soll. In dieser Reihe verlieren die Zeichnungen ihren Eigenwert. Es macht keinen Unter41 42
Vgl. Khaled 2003 und Moon 2007. Beck 1899: 108.
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schied, ob man eine Originalzeichnung Leonardos vor sich hat oder eine Umzeichnung des 19. Jahrhunderts, weil beide letztlich auf das gleiche Ziel hin ausgerichtet sind: das, was technisch funktioniert. Abbildung 3: Umzeichnung einer Feilenhaumaschine aus dem »Codex Atlanticus« von Leonardo.
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Auch Pater redet über Pinselstriche nur dann, wenn sie sich restlos in etwas anderes verwandeln lassen: In diesem Fall sind es Träume und Phantasien, die sich in der Imagination des Betrachters vergegenwärtigen und die sich auch literarisch evozieren lassen. Für Pater ist das Kunstwerk nichts anderes als ein subjektiver Traum, der auf geheimnisvolle Weise in die Welt gekommen ist und sich dort am Leben erhält. In jeder empfindsamen Seele hört das Werk auf, ein totes Stück Materie zu sein und verwandelt sich in die seelischen Widersprüche zurück, aus denen es hervorgegangen ist. Der Übergang bleibt wunderbar und unerklärlich, weil eine direkte Verbindung zwischen dem eigenen Traum und dem Traum eines anderen eigentlich nur schwer denkbar ist. Beck hat viele Figuren, die er aus einer Zerlegung und Standardisierung von Leonardos Manuskripten gewinnt. Dadurch wird er frei, nicht über die Zeichnung, sondern über die gezeichneten Mechanismen zu reden. Pater hat keine Abbildungen, sondern versucht mit kongenialen literarischen Mitteln analoge Empfindungen zu evozieren. Die polarisierten Ideale der reinen Maschine und des reinen Kunstwerks bringen die Artefakte, auf die sich die Argumentation stützt, auf eine spezifische Art zum Verschwinden: Erst eine medientheoretisch fundierte Analyse technischer Zeichnungen kann die Übergänge von Kunst- und Technikgeschichte wieder in den Blick rücken.
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Technischer Gleichlauf zwischen Sendung und Empfang. »Electric Time-Pieces and Telegraphs« (Patent Nr. 9.745, 27. Mai 1843, Alexander Bain)
Irritation Bei genauer Lektüre des Patents GB 9.745, das der schottische Uhrmacher Alexander Bain am 27. Mai 1843 erhielt, irritiert die Zeichnung, die den historisch ersten Kopiertelegraphen zeigt. Irgendetwas, das sich zwischen dem dargestellten Sender und Empfänger ereignete, stört den Empfang dieser Bain’schen Botschaft. Abbildung 1: GB 9.745, Sheet 6.
Die Darstellung erscheint einerseits unökonomisch, weil sie zwei bis auf ein winziges Detail exakt baugleiche Apparate zeigt, und andererseits unglaublich schlampig, weil es ihr im Detail nicht gelingt (oder nicht gelingen will?), die beiden Apparate, die im Text explizit als baugleich
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ausgewiesen werden, in eben dieser Weise darzustellen. Der vorliegende Aufsatz folgt zunächst der Spur dieser Irritation, um dann einen Vorschlag zur ihrer Beruhigung zu machen.
Improvements Blatt 6 des Patents GB 9.745 zeigt zwei baugleiche Geräte, die ersten Bildtelegraphen der Weltgeschichte: »Sheet 6 shews my improvement for taking copies of surfaces for instance the surface of printer’s types at distant places.«1 Bain annonciert seine Maschine als »Verbesserung« eines Prozesses, den er offenbar als bekannt voraussetzt. Über die zu verbessernde Maschine erfahren wir nichts. Es kann sich dabei jedoch nur entweder um eine eigene Erfindung oder aber die eines anderen handeln. Alexander Bain erhält sein erstes Patent am 10. Juli 1841 (GB 8.783). Er beantragt es für »Electric Clocks« unter der Berufsbezeichnung »Mechanist«2 gemeinsam mit seinem Chef, dem »Chronometer Maker«3 John Barwise. Hier wird nichts verbessert: Es handelt sich einfach um elektrische Uhren. Zum Vorbild für eine Bilder übertragende Maschine taugen sie nur bedingt. Oder doch? Das Folgepatent, das Bain gemeinsam mit dem Marine-Leutnant Thomas Wright am 21. Dezember 18414 zugesprochen bekommt, schützt die »Application of Electric Currents to Railway Signalling, Telegraphs, &c.« (GB 9.204). Das Patent enthält insgesamt neun Erfindungen (»claims«),5 von denen fünf der Telegraphie gewidmet sind. Für unsere Suche nach einem Vorläufer des Kopiertelegraphen von 1843 ist 1 2 3 4
5
Bain 1843: 10, Hervorhebung AKS. Barwise/Bain 1841: 1. Ebd. Merkwürdigerweise listet Woodcroft das Patent GB 9.204 im Jahr 1841, während der Patenttext von Bain und Wright zweimal von 1842 spricht (Bain/Wright 1841: 1 und 9). Man muss unterscheiden zwischen einer Maschine als ganzer und den Urheberrechtsansprüchen eines Erfinders, den sog. »claims«, die englische Patente grundsätzlich abschließen. In den claims formuliert der Antragstellende eines Patents seine Ansprüche auf den Patentschutz neu erfundener Aspekte dieser Maschinen. Nur manchmal handelt es sich um Maschinen als ganze, die vom Patent geschützt werden: Solche Fundamentalansprüche sind eher selten zu halten. Meist geht es um bestimmte Aspekte der Maschinen, die z. T. ganze Apparate neu definieren, ohne jedes einzelne Teil selbst oder gar neu erfunden haben zu müssen.
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vor allem ein Apparat von besonderem Interesse: »In Sheet 4, at Figure 1, we shew a method of giving signals and printing by the electric current.«6 Abbildung 2: GB 9.204, Sheet 4.
Bei dem Apparat handelt es sich um einen papierbandbasierten Drucktypentelegraphen, der auf einem langen Papierstreifen, über den ein Farbband7 gespannt ist, unmittelbar unkodierte Buchstaben empfangen konnte. Ein über die Entfernung übermittelter elektrischer Impuls drückte ein Typenrad gegen das eingefärbte Seidenband, um auf dem darunter liegenden Papierstreifen eine lesbare Spur zu hinterlassen. Es handelte sich also um eine Art Fernschreiber. Nur an der Stelle des Patents von 1841, wo er ein Ziffernblatt beschreibt, bezieht sich Bain explizit auf bereits vorhandene Technologien: »A machine with a dial and hand, similar to No. 1, Figure 6, is em6 7
Wright/Bain 1841: 6. »Bain used a typewriter ribbon for printing the characters. He was the inventor of this most useful tape (in 1841) although, until M. H. Alder highlighted this point in his 1973 book on ›The writing machine‹, priority of invention had usually been accorded to G. Ravizza with his Cembalo Scrivano of 1855. In his patent Bain refers to ›... a roll of halfinch wide ribbon, which is rubbed over the surface with a composition of two parts of oil, four parts of lampblack, and one part of spirits of turpentine, which will enable the pressure of any form thereon, as the type, to communicate the same to the paper‹.« (Burns 1993: 89–90).
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ployed in transmitting the electric currents from the battery to work the machine Figure 1, but this instrument is publicly known.«8 Nichts als das zu Telegraphiezwecken modifizierte Ziffernblatt mit Zeiger lässt Bain als fremdes, aber nicht durch ein Patent geschütztes Element gelten. Am Ende des Patents betonen Wright und Bain: Having now described the manner of performing our Invention, which, to the best of our knowledge and belief, is entirely new, and never before used within that part of Her said Majesty’s United Kingdom of Great Britain and Ireland called England, Her said Dominion of Wales, or Town of Berwickupon-Tweed [...]9
Innerhalb Bains Patentkorpus stellten also die beiden 1841 angemeldeten Patente mögliche Ursprünge dar, Maschinen, auf die er sich dann in späteren Patenten beziehen kann. So findet sich im Patent GB 9.745 von 1843 auf »Sheet 5«eine Kombination aus Zeiger- und Typendrucktelegraph, deren unmittelbarer Vorgänger das Gerät von 1841 (»Sheet 4«) ist.10 Abbildung 3: GB 9.745, Sheet 5.
Bereits auf den ersten Blick offenbart sich die Ähnlichkeit der beiden Geräte: Man erkennt die großen Federmotoren und das Zahnradgetriebe im unteren Teil, das Fliehkraftpendel, das Drucktypenrad und das Farbband. Auch Unterschiede werden sehr schnell deutlich: Das 8 Wright /Bain 1841: 7, Hervorhebung AKS. 9 Ebd.: 9. 10 Siehe zu diesem Telegraphen auch meine Diskussion der CAD-Visualisierung durch Michael März in diesem Buch.
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Gerät von 1843 verfügt über vier rahmende Metallsäulen, an denen auch die Führung des Farbbandes angebracht ist, das nunmehr nicht einfach direkt auf einem Papierband zu liegen kommt. An die Stelle des Papierbandes ist ein Schreibzylinder getreten, um den ein Blatt Papier gespannt wird, das spiralförmig bedruckt werden kann. Auffällig ist bei dem Apparat von 1843 außerdem die prominente Befestigung eines zwischen zwei Permanentmagneten beweglichen, durch Stromfluss magnetisierbaren weichen Eisenstücks, das den Stromkreis schließen bzw. unterbrechen kann. 1841 schickt Bain der englischen Öffentlichkeit – to whom it may concern – zwei offene Briefe, littera patens. Auch er selbst ist natürlich ein Empfänger dieses Briefes und macht den Empfang zur nächsten Sendung: Iteration. Das 1843er Patent lässt obendrein sehr klar erkennen, wie zumindest ein Teil der Veränderungen zustande gekommen ist: Bain interessiert sich nicht einfach für die Entwicklung spezifischer Apparate, sondern entwickelt ein immer neu kombinierbares und verbesserbares Repertoire an Elementen.11 So entfaltet das Patent von 1843 eine Vielzahl von Methoden, Stromflüsse mittels Elektromagnetismus zu beeinflussen. Abbildung 4: GB 9.745, Sheet 3.
11
Siehe zu dieser Logik des Erfindens bei Alexander Bain auch KümmelSchnur 2012.
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Einen dieser Schalter setzt Bain einfach auf den Apparat von 1841. Dabei sieht er sein eigenes Patent durchaus nicht als bindend für seine erfinderische Praxis an. Die Stiftung für Post und Telekommunikation bewahrt in ihrem Depot in Heusenstamm einen Originalapparat von 1843 auf, der nicht über einen großen, mit einem Permanentmagneten bewehrten Mechanismus ein- und ausgeschaltet wird, sondern über eine eher dezente elektromagnetische Einrichtung, die unterhalb des Gerätes angebracht ist.12 Abbildung 5: Typendrucktelegraph von Alexander Bain, 1843 (Detail).
So unproblematisch also der Typendrucktelegraph von 1843 auf demjenigen von 1841 basiert und als Variation, vielleicht sogar als dessen Verbesserung (»improvement«) angesehen werden darf, so unklar bleibt doch, welcher Apparat mit dem »improvement for taking copies of surfaces for instance the surface of printer’s types at distant places«13 gemeint sein soll. Handelt es sich bei diesem allerersten Bildtelegraphen 12 Vgl. dazu auch meinen Beitrag »Vom Nutzen und Nachteil der Simulation« in diesem Band. Bereits an dieser Stelle danke ich herzlich Lioba Nägele, Referentin Nachrichtentechnik der Stiftung für Post und Telekommunikation, und Martina Glossat, Restauratorin der Stiftung für Post und Telekommunikation, die mich einen ganzen Tag lang bei der Auseinandersetzung mit dem Bain’schen Telegrafen mit großem Einsatz unterstützt haben. 13 Bain 1843: 10.
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nicht wirklich um einen Ursprung, ein ganz unvordenkliches Modell? Aus Bains Sicht offenbar nicht – das müssen wir zunächst einfach so hinnehmen. Mit letzter Sicherheit wird sich auch kaum rekonstruieren lassen, welches Vorläufermodell oder welche frühere Vorrichtung Bain beim Abfassen dieses Satzes im Sinn hatte. Diese Unsicherheit ist nicht untypisch für das, was heute über den schottischen Erfinder und seine Arbeiten wissbar ist: Bain wird immer wieder Geräte als »improvements« ausstellen, ohne dass es dem Beobachter möglich ist, die Verbesserungen auf ein zu verbesserndes Original zurückzuführen. Die Bildtelegraphie entsteht als immer schon empfangene Nachricht, der Prozess ihrer Historisierung, der gleich, ohne Aufschub, unmittelbar mit ihrer Entstehung beginnt, diese begleitet und umspielt als Kampf um’s copyright, stellt die prekäre Frage der stets problematischen Synchronisation von sendendem und empfangendem Apparat, bevor noch ein einziges Bild je übertragen wurde.14 Kann man – so lässt sich schon aus der steten Behauptung, etwas sei hier verbessert worden, schließen – davon ausgehen, dass das, was man da empfängt, mit der Sendung übereinstimmt? Oder ist es, irgendwie, von vornherein verzerrt, verändert, verbessert? Eine Lösung wäre, den Erfinder Bain eben, wie oben dargestellt, als steten Verbesserer zu begreifen – als Bastler also, der sich für den Prozess des Erfindens mehr interessiert als für seine Ergebnisse. So wird Bain im Februar 1850 im Mechanics’ Magazine einen nicht patentierten Kopiertelegraphen als »my Patent Copying Telegraph in its present improved state«15 vorstellen und dieses verbesserte Gerät – siehe dazu v. a. den Aufsatz von Simone Warta in diesem Band – als Geschütz gegen die Ansprüche des Journalisten und Physikers Frederick C. Bakewell in Stellung bringen. Nehmen wir an, dass Bain nicht einfach lügt. Nehmen wir an, dass er von der Wahrheit seiner Aussage fest überzeugt ist. Worauf könnte diese Überzeugung sich gründen? Da es kein eigenständiges Patent gibt, muss Bain den Apparat von 1850 auf das Gerät aus dem Jahr 1843 beziehen. Diese Bezugnahme erscheint nur so lange völlig haltlos, wie man die beiden Drucktypentelegraphen von 1843 und 1841 nicht hinzuzieht. Solange man ausschließlich Bildtelegraph mit Bildtelegraph vergleicht, kommt man zu keinem Ergebnis, das Bains Aussage legitimiert. Geht man jedoch davon aus, dass Bain seine Apparate gar nicht als getrennte Entitäten auffasste, sondern als Emanationen eines fortwährenden Reorganisationsprozesses auf Basis eines sich kontinuierlich, aber 14 15
Siehe dazu Kassung/Kümmel 2003. Bain 1850: 102, Hervorhebung AKS.
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nicht abrupt erweiternden Repertoires wählbarer und kombinierbarer Elemente, entdeckt man schnell Bezüge. Fliehkraftregler setzt Bain bei seinen früheren Drucktypentelegraphen schon ein. Und auch den LeseSchreib-Zylinder, den Frederick C. Bakewell allzu offensichtlich für sich reklamieren darf – Bains Kopiertelegraph von 1843 hat eben keinen, der Entwurf von 1850 verfügt hingegen gleich über zwei solche Zylinder –, kann Bain durchaus als seine eigene Erfindung ansehen, nimmt man wiederum die Drucktypentelegraphen hinzu: Bain verbessert, so könnte man folgern, den Drucktypentelegraphen von 1841, indem er einen Schreibzylinder hinzufügt, auf dem – wie später in Bakewells Gerät (allerdings in keinem weiteren Bain’schen!) – eine Nachricht spiralförmig aufgetragen wird. Nur dass Bain einfach Lettern mittels Typenrad auf den Zylinder aufdruckt, während Bakewell eine wie auch immer räumlich verteilte Information einscannt und dann im Empfang wiederum zusammensetzt. Später – 1850 – kommt Bain auf diese Idee zurück und erklärt sie zu seiner (zumal zylindrische Inskriptionsflächen sich seit Watts und Richardsons Indikatoren für Dampfmaschinen ohnehin großer Beliebtheit erfreuten). Vielleicht kam Bain aber diese Idee schon viel früher in den Sinn: Eine flache Einschreibfläche lässt sich schließlich auch als aufgebogener Zylinder deuten. Vielleicht also deutet Bain demnach den Kopiertelegraphen von 1843 zurecht als »improvement« einer früheren Erfindung – nur dass er eben nicht einen ganzen Apparat, sondern dessen Bauteile und die immer gleiche Frage nach dem Einsatz von Elektrizität zu Kommunikations- und Steuerungszwecken – Übertragung von Botschaften und Synchronisation weit entfernter Maschinen – im Sinn hat.
London – Portsmouth Man wird Bain allerdings auch nicht gerecht, sieht man in ihm ausschließlich den in den vielfältigen und kontinuierlich ausbaubaren Angeboten seiner Werkstatt verlorenen, weltabgewandten Bastler. Gegen diese Vorstellung spricht einerseits die Herkunft Bains aus einfachen Verhältnissen: Das Leben als verspieltes l’art pour l’art ist nur unter Bedingungen wirtschaftlicher Unabhängigkeit und sozialer Selbstbezogenheit vorstellbar – also etwa bei deutschen Geisteswissenschaftlern16 oder 16
Jochen Hörisch geht zurecht soweit, der deutschen Geisteswissenschaft »Züge von Tabuzwängen« in Bezug auf’s Geld zu diagnostizieren: »Deutsche Literaturwissenschaftler sind in der Regel beamtet. Geld stellt sich
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englischen Adligen17. Beides war Bain nicht in die Wiege gelegt. Stattdessen folgt Bains Biographie – soweit man sie rekonstruieren kann – einem klaren Karriereimperativ, einem Befehl, der die berufliche Laufbahn zur Leiter des sozialen Aufstiegs erklärt. Und die Bemühungen werden von Erfolg gekrönt: Bain bleibt nicht arm, sowohl in London als auch in den USA erntet er wirtschaftliches und soziales Kapital.18 Es soll jedoch auch nicht verschwiegen werden, dass es Bain – für Aufsteiger wie ihn wohl nicht ganz untypisch – nicht gelingt, das einmal Erreichte auch zu bewahren: »By about 1870 Bain had almost exhausted his capital.«19 Das dem Patent Nr. 9.745 beigegebene Diagramm, das mindestens soviel verschleiert, wie es erläutert, zeigt »two machines one of which may be considered at London and the other at Portsmouth.«20 Was hier so harmlos in einer Randbemerkung versteckt wird, ist ein Hinweis auf mögliche Einsatzszenarien der Bain’schen Erfindung. London ist das politische Zentrum Großbritanniens, Portsmouth war ein zentraler Stützpunkt der britischen Marine und beherbergt bis heute wichtige Werften: London–Portsmouth ist also nicht irgendeine Strecke, und Bain erwähnt sie kaum zufälligerweise (bei anderen telegraphischen Patenten lässt er konkrete geographische Angaben ganz weg und für das Verständnis der Konstruktion und Funktion der Geräte ist das pittureske Detail schließlich ganz gleichgültig). Man kann aber noch Weiteres schließen:
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bei ihnen, wenn nicht in einer Höhe, so doch mit einer Regelmäßigkeit und Verlässlichkeit ein, die zu neugierigen Problematisierungen wenig Anlaß gibt.« (Hörisch 1996: 22). Die Royal Society stellte nicht nur einen exklusiven Ort wissenschaftlicher Auseinandersetzung dar, sondern war – wie Alexander Bain in seiner Auseinandersetzung mit Charles Wheatstone feststellen musste – auch ein Instrument sozialer Distinktion. »Towards the end of the 1840-50 decade Bain and his family lived in Beevor Lodge, a large house in Hammersmith with an extensive garden. The 1851 Census Returns show that he employed five servants and a resident teacher for his Stepp-daughter.« (Burns 1993: 87–88) »Early in 1849 the New York and New England Telegraph Company [die den elektrochemischen Telegraphen Alexander Bains benutzte, AKS] was formed to operate a line between Boston and New York. This was ready for public use in 1850. The line was profitable: receipts fort he year ending March 1851 were $ 34529.25 and for the ending March 1852 were $ 41521.30.« (Ebd.: 91). Ebd. Bain 1843: 10.
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These two instruments are in every respect the counterparts of each other and the letters of reference apply equally to either except X2 Figure 2 from which instrument the message is sent.21
Die Instrumente sind also durch ein kleines konstruktives Detail als Sender bzw. Empfänger charakterisiert. Die durch X2 in Figur 2 markierte Stelle zeigt eine Unterbrechung des Stromkreislaufs. Abbildung 6: GB 9.745, Sheet 6 (Detail).
Hier muss manuell eine Verbindung hergestellt werden, um senden zu können. Die Sendungen werden also in Portsmouth abgeschickt und in London empfangen. Merkwürdigerweise hat London jedoch – zumindest in dem vorliegenden diagrammatischen Planspiel – keine Möglichkeit, auf die Sendung zu reagieren, jedenfalls nicht mit dem ihm durch Figur eins zugewiesenen Gerät. Natürlich wäre es gar keine Schwierigkeit, beide Geräte mit einem ein- und aushakbaren Kabel an der Stelle X zu versehen, aber Bain tut es nicht. Auch sein Text beschreibt nur monodirektionale Kommunikation: Portsmouth–London. Diese Richtung verwundert auch graphisch. In jedem linearen Kommunikationsdiagramm im Einzugsgebiet lateinischer Schrift steht der Sender links und rechts der Empfänger. Hier ist es umgekehrt: Figur 1 empfängt, Figur 2 sendet, ganz so, als handele es sich bei diesem Diagramm um einen impliziten Kommentar auf Bains patentrechtliches Hase-und-Igel-Rennen. Den Hinweis, man müsse bei X2 beginnen, das Diagramm zu lesen, erhält der Betrachter übrigens nur aus dem beschreibenden Text. Nichts im Diagramm hebt diese Stelle hervor, wie auch sonst Bains Zeichnung nicht gerade durch ein Übermaß erläuternder Elemente charakterisiert ist. Die Lektüre, das ist recht deutlich, der Zeichnung dieses zutiefst misstrauischen Erfinders soll nicht leicht sein: Ein paar Buchstaben, wenige Pfeile, das muss genügen. In Parenthese sei angemerkt, dass v. a. der Vorgang der Bildübertragung selbst – Vorlage, Abtastung und Fernempfang – gar nicht dargestellt werden.
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Ebd.
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Differenzen Einer aufmerksamen Betrachtung wird nicht entgehen, dass die Unterscheidung der Geräte in Sender und Empfänger, Figur 2 und 1, ein paar weitere, unumgängliche Differenzen nach sich zieht. Es bleibt also nicht bei dem ebenso winzigen wie bedeutungsvollen, durch die Kennziffer X2 markierten Detail, der das Nichts eines Anfangs markiert. Abbildung 7: GB 9.745, Sheet 6 (bearbeitet AKS).
Da ist etwa die Volta’sche Batterie in Fig. 2 und die durch ihr Vorhandensein bedingten, im Vergleich zu der Darstellung in Fig. 1 veränderten Kabelverläufe. Eine andere Pfeilrichtung indiziert den Stromfluss. Hinzu kommen völlig kontingente Unterschiede in der Positionierung der Buchstaben – etwa der Verschiebung der den Holzrahmen markierenden As – bzw. graphischen Elemente –, so z. B. der Wechsel des neben dem Pendel positionierten Richtungspfeils. Der Text beharrt sehr deutlich durch Doppelungen der Buchstaben auf der Äquivalenz der sendenden mit der empfangenden Maschine. »DD pendulums which are continually kept in motion by power-
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ful clocks QQ«22 . Die Ds sind leicht gefunden – sie sind geringfügig rechts vom Mittelpunkt der kreisförmigen Pendellinse positioniert. Doch wo sind die Qs, wo überhaupt Uhren, die mit Q – oder sonstwie – benannt werden könnten? Die Konstruktion lässt nur den Schluss zu, dass die Uhren im oberen Teil des Holzrahmens angebracht sein müssen: Die großen Kreise und die sich darin befindlichen Rechtecke, an denen die Pendel befestigt sind, müssen also als Ziffernblätter und in Kästen verschlossene Uhrwerke gelesen werden. Der sie als Uhren ausweisende Buchstabe Q ist jedoch offenbar einfach vergessen worden.23 Bain hält sich übrigens nicht an die Konvention eineindeutiger Zuordnungen – Pedanterie, könnte man sagen –, derzufolge immer alle beschriftenden Buchstaben des Diagramms auch im Text genannt werden müssten: So bezeichnen Buchstabendoppelungen einmal einzelne Bauelemente – »A.A. a strong wood frame«24 –, ein anderes Mal Bauelemente, die an beiden Apparaten zu finden sind: »the studs UU or VV«.25
Fehler Auch an anderen Stellen offenbart sich eine gewisse Schlampigkeit der Zeichnungen. Einmal greift der die Uhr haltende Holzarm in den Kasten, scheint mit diesem verbunden, ein andermal ist er von ihm durch einen Spalt getrennt. Auf Fig. 1 berührt das Zifferblatt die oberen Ecken des Uhrwerkkastens, auf Fig. 2 läuft es jenseits der Ecken daran vorbei. Der Metallrahmen B ist in Fig. 1 viel schmaler dargestellt als in Fig. 2. Im Elektromagnet in Fig. 2 ist am oberen Rand eine gestrichelte Linie zu erkennen, die offenbar andeuten soll, wie die Drahtspule in den tragenden, konisch zulaufenden Block eingelassen ist. Diese zusätzliche Konstruktionslinie fehlt in Figur 1. An der gleichsinnigen – und nicht etwa gespiegelten – Ausrichtung von sendendem und empfangendem Apparat ist das Bemühen erkennbar, dem Betrachter die Überprüfung der Behauptung, es handele sich um baugleiche Pendants, in einem einzigen Blick zu ermöglichen. Wer
22 Ebd. 23 Vgl. auch die CAD-Rekonstruktion dieses Telegraphen durch Johannes Ehrhardt in meiner Darstellung in diesem Band (»Vom Nutzen und Nachteil der Simulation«, Abbildung 10). 24 Bain 1843: 10. 25 Ebd.: 11.
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Vergleiche anstellen möchte, ist schnell orientiert. In den Beschriftungen wird diese Ausrichtung nicht durchgängig beibehalten, sondern recht zufällig – wie es gerade passt – eine Positionierung mal so, mal so vorgenommen: Siehe etwa die Buchstaben SS, die Kohleplättchen benennen. Abbildung 8: GB 9.745, Sheet 6 (bearbeitet AKS).
Offenbar, soviel sollte durch die Bildbeschreibung deutlich geworden sein, handelt es sich nicht um exakte Konstruktionszeichnungen. Genaue Maße fehlen sowohl in der Zeichnung als auch im Text. Die Zeichnungen der beiden Apparate verfügen über zu viele Unterschiede, die Interpretationsfreiräume öffnen, die dem Bau einer Maschine nicht dienlich sind.
Dynamik Das einzig dynamische, auch die Graphik auflockernde Element dieser Patentzeichnung stellt die gestrichelte Linie des Kabelverlaufs dar.
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In recht freiem Schwung umspielt das elastische Kabel die starren Holzkonstruktionen, unterstreicht aber gleichzeitig durch den wiederum gleich ausgerichteten großen Bogen zur je linken Seite des Geräts deren Baugleichheit und unterstützt die Vergleichbarkeit. Die Pfeile indizieren den Verlauf des Stromflusses, man möchte zumindest gern, dass sich in ihnen die von Figur 2 zu Figur 1 versandte Botschaft verfolgen ließe. Allein die Pfeile stehen für durchaus unterschiedliche Operationen: die Taktung des Absenkens der Lese-/Schreibplatte aus Siegelwachs und Kabelstückchen, die Synchronisation der Pendelbewegung mittels der Elektromagneten, und schließlich den Versand eben jener Impulse, die sich als schwarze Punkte auf der ferrozyankaligetränkten Oberfläche des Empfangspapiers einschreiben sollen. Davon nun freilich sieht man nichts. Deshalb – und auch, weil die spärliche Forschungsliteratur diesen Prozess häufig falsch beschreibt – will ich kurz rekonstruieren, wie denn hier ein Bild übertragen, ein Pendant erstellt werden soll. Die Vorlage wird in einem metallenen Kasten aus Bleilettern zusammengesetzt – hier könnte man eine langsame Annäherung an die Übertragung von bildhafter Information zwischen dem zitierten Patent von 1841 und dem hier besprochenen von 1843 sehen: Nicht mehr Typenhebel drücken durch ein Farbband auf einen Papierstreifen, sondern ein als Buchseite gesetzter Text wird in eben dieser räumlichen Verteilung verschickt und rekonstruiert. Der Setzkasten wird an der Rückseite der Abtastfläche angebracht. Von vornherein wird also die zu übertragende Information in punktförmige Elemente unterteilt – jene 1-Inch-kurzen Kabelenden, die den Strom von der Bleiletter an den Abtaststift, der am Pendelgewicht befestigt ist, weitergeben. Auf der anderen Seite sorgt ein mit Ferrocyankali getränktes, doppelt starkes und durch eine Metallplatte gehaltenes Papier dafür, dass die eingehenden Stromimpulse in sichtbare Punkte übersetzt werden. Das bedeutet aber, dass hier gar kein Pendant einer Bildvorlage geschaffen, sondern direkt vom Setzkasten aus ferngedruckt wird. Das Pendant muss hier in der Dynamik des Übertragungsvorgangs gesucht werden, nicht etwa in der Entsprechung von Vorlage und Ergebnis: dem Synchronismus von Sender und Empfänger, der elektromagnetisch hergestellt wird. Das lässt sich aber nicht einfach sehen oder gar zeichnen. Die Zeichnung spart das Wesentliche der Pendantherstellung aus, muss es aussparen. Meine These aber ist: Die konstruktiv eigentlich überflüssige Repräsentation von baugleichem Sender und Empfänger ersetzt metonymisch, was Bain anders nicht zeigen kann.
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Message (received) Abbildung 9: Shannon/Weaver, Flussdiagramm der Kommunikation.
Wir sind es gewohnt, Kommunikation als die Sendung einer Botschaft durch einen Sender über einen Kanal an einen Empfänger aufzufassen. Dabei gehen wir von der Annahme aus, dass die empfangene Botschaft der gesendeten entsprechen soll; dass, mit anderen Worten, nichts anderes ankommt, als was gesendet wurde. Diese Annahme geht mit dem Wissen um die prinzipielle Störbarkeit einer Botschaft auf dem Weg vom Sender zum Empfänger einher.26 Wer so denkt, setzt ein klares, wenn auch implizites Nachrichtenübertragungsmodell voraus, das sich am Medium Bote orientiert. Boten tragen Nachrichten physisch von einem Ort an einen anderen. Die Identität der gesendeten mit der empfangenen Nachricht wird durch deren physische Identität sichergestellt. Garant für Unversehrtheit und Unverfälschtheit der überbrachten Botschaft ist einerseits die Person des Boten, andererseits aber auch materiell angebrachte Identitätsnachweise wie etwa Siegel.27 Ab Ende der 1830er Jahre ersetzt die Telegraphie den menschlichen Boten durch ein physikalisches Trägermedium, die Elektrizität. Während jedoch der menschliche Bote (im Regelfall) nicht selbst die Bot-
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Das alte Kinderspiel »Stille Post« bezieht seinen Reiz aus den Effekten solcher vorhersagbaren Störungen. Von der Störbarkeit physisch überbrachter Briefe erzählen zahllose Märchen – etwa »Die drei goldenen Haare des Teufels« oder »Das Mädchen ohne Hände«. Als Agent der Störung werden entweder gesellschaftliche Outlaws – z. B. die Räuber als benevolente Kräfte in den »Drei goldenen Haaren« – oder der Teufel selbst – als malevolente Figur in »Das Mädchen ohne Hände« – angesehen.
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schaft war,28 fallen in der elektrischen Telegraphie Übertragungsmedium und Botschaft zusammen. Jede Störung des Übertragungswegs ist nunmehr eine Störung der Botschaft. Fallen Bote und Botschaft zusammen, gibt es auch keine Kontrollmöglichkeit mehr – man kann den Boten, der die Botschaft selbst ist, nicht fragen, ob diese eventuell auf dem Übertragungsweg Störungen ausgesetzt war, ob sie noch der Intention des Senders entspricht.29 Man kann natürlich der Botschaft unmittelbar bei der Sendung eine Signatur aufprägen, mit deren Hilfe man von der empfangenen auf die gesendete Botschaft rückschließen kann. Der englische Physiker und Journalist Frederick Bakewell wird Botschaften, die über seinen Kopiertelegraphen von 1848 verschickt werden sollen, eine vertikale Synchronisationslinie beigeben. Die gerade senkrechte Linie benötigt »keinen Kanal [...], weil diese seit der Platonischen Geometrie bei jedem denkbaren Empfänger immer schon vorhanden ist«.30 Die Verzerrung des übertragenen Bildes fällt also bei Bakewells Kopiertelegraphen sofort auf und kann durch manuelle Nachjustierung behoben werden. Dieser Eingriff sowie die dauernde menschliche Kontrolle verlangsamen natürlich die Datenübertragung und erhöhen außerdem ihre Kosten. Schließlich vermischen sich durch die Integration einer Kontrolllinie Steuerung und Botschaft, control und communication werden an dieser Stelle ein und dasselbe, was wiederum zu Interpretationsproblemen führen kann. Hinzu kommt ein weiteres Problem: Nur auf dem Übertragungsweg, d. h. in Form elektrischer Signale, sind sich gesendete und empfangene Botschaft in den frühen Bildübertragungstechnologien gleich. Handelte es sich zu Zeiten menschlicher Boten um das materiell identische Artefakt, unterscheiden sich in Zeiten elektrischer Informationsströme gesendete und empfangene Botschaft gerade hinsichtlich ihrer Materialität voneinander. Kopiertelegraphie bzw. technische Bildübertragung sind während des gesamten in diesem Band diskutierten Zeitraums prinzipiell Ferndruckverfahren. Damit eine Botschaft gesendet werden kann, muss sie für diese Sendung zugerichtet werden: Es handelt sich noch nicht um spätere Fax- oder Scan-Verfahren, bei denen Vorlage und Kopie bedruckte Papiere sind oder zumindest sein können. 28 Die Zurücksendung des abgeschlagenen Botenkopfes war – so sagt man – ein beliebtes Spiel unter den Bedingungen vormoderner Herrschafts- und Kommunikationsstrukturen. 29 Dieses Problem wird sich dem zirkulären secrecy system Claude Elwood Shannons einschreiben. Jede Beobachtung einer Kommunikation ist ja selbst wieder auf einen Kommunikationskanal angewiesen. Dieser ist aber prinzipiell nicht störungsfrei zu haben. 30 Kassung/Kümmel 2003: 153.
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Aus diesen Beobachtungen ergibt sich folgende Problemlage: Unter Bedingungen elektrifizierter Kommunikation wird Kommunikation noch immer entlang des Modells menschlicher Botengänge gedacht. Gerade das zentrale Moment des Botengangs, die physische Identität der empfangenen mit der gesendeten Nachricht, ist unter den neuen medialen Bedingungen nicht mehr gegeben. Das bedeutet, dass es einer nicht unbeträchtlichen gedanklichen Anstrengung bedarf, um diese Identität dennoch behaupten, ja, mehr noch, stillschweigend voraussetzen zu können. Unter Bedingungen dessen, was Frank Haase (1996) das »postalische Apriori« nennt, gab es ja durchaus ein Konzept für die Nichtidentität von gesendeter und empfangener Nachricht: die Kommunikation mit Göttern, Engeln, Dämonen, Toten oder anderen Wesen jenseitiger oder rein geistig verstandener Welten. 31 Besonders eindrücklich macht etwa Georges Did-Hubermans Studie zu Fra Angelico klar, wie dieser malend theologisierende Dominikanermönch als Bedingung erfolgreicher Kommunikation mit Gott von der Unähnlichkeit von Sendung und Empfang ausgeht. 32 Gott und Gottes Botschaften müssen als radikal von den Menschen, irdischen Verhältnissen und Botschaften unterschieden gedacht werden, um überhaupt göttliche Botschaften, Nachrichten des großen Anderen sein zu können. Wo man also auf Fra Angelicos Bildern Dinge dieser Welt erkennt – Figuren –, dort ist Gott gerade nicht anwesend. Erst dort, wo sich die Dinge auflösen in Farbschlieren und Kleckse kann der Gläubige eine Spur des göttlichen Anderen finden. Abbildung 10: Shannon/Weaver, Flussdiagramm der Kommunikation.
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An dieser Stelle verweise ich nachdrücklich auf die zentrale Studie von John Durham Peters »Speaking into the Air. A History of the Idea of Communication« (2000), die ausführlich genau dieser Spur der Genealogie des Kommunikationskonzeptes und ihren Folgen für die Deutung der Kommunikation mittels technischer Medien nachgeht. Vgl. Didi-Huberman 1995: passim.
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Was also tut ein zeichender Uhrmacher Mitte des 19. Jahrhunderts, wenn er den menschlichen Boten und nicht die Jenseitskommunikation als Modell elektrischer (Bild)übertragung deuten möchte? Elektrizität selbst kann er ja noch nicht denken – Wolfgang Hagen (2001) wird in dieser Undenkbarkeit und den Versuchen, sie zu unterlaufen oder zu überspielen, den Grund für die Blüte spiritistischer Praktiken und Konzepte, die zeitgleich mit der elektrischen Telegraphie Mitte des 19. Jahrhunderts aufkommen, sehen.33 Elektrizität aber, das ist das durch Bain selbst angeregte Credo aller Bain-Biographien, sein lebenslanges Thema, das zentrale Faszinosum, von dem er nicht lassen kann.34 Also, so die – zugegebenermaßen spekulative – These dieses Aufsatzes, zeichnet Bain die Effekte des Elektrischen als Störungen der Zeichnung in sein Patent hinein.35 Bain betont die Identität und Nicht-Identität der Botschaft, die der Bote Elektrizität selbst ist, durch eine Zeichnung, die sowohl unökonomischerweise zwei baugleiche Apparate zeigt als auch – aus Sicht dieser These nunmehr nur scheinbar – schlampigerweise Differenzen und Fehler zwischen sendendem und empfangendem Apparat einbaut. Er kann das Medium der Übertragung nicht zeigen und er kann die Effekte der intendierten Identität und tatsächlichen Gestörtheit nicht zeigen. Also fängt der gezeichnete Apparat zwischen Portsmouth und London selbst an zu zittern.
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»Unsere These ist: Die Beschreibung der Elektrizität, nötig zur Verfolgung und Ausbeutung eines reellen Effekts, ist von Anfang an mit den Mitteln der klassischen Physik nicht zu leisten. Das erzwingt, am Ort eines fehlenden Signifikanten, den dieser reelle Effekt generiert, Ein- und Ausbrüche in die und aus den kontrollierten Diskursumgebungen des Effekts, um die leere Stelle mit Artikulation zu überdecken.« (Hagen 2001: 89) »Der asignifikante, abjekte Signifikant der Elektrizität, soweit er in der vorrelativistischen Physik flottiert, führt, negativ gesagt, zu einer ›Verwerfung‹ im Wissenschaftlichen [...] und, positiv gesagt, zu einer ›Störung‹. Er konstituiert, weit davon entfernt, sich einfach nur in einem imaginären Effekt zu verketten, die Störung eines Diskurses. – Und der Spiritismus ist der gestörte Diskurs, der die Diskurse stört.« (Hagen 2001: 90). »The turning point in Bain’s early life stemmed from a lecture on ›Light, heat and electricity‹ which he attended in January 1830 in Thurso. He must have been keen to hear the speaker for after the meeting he had to walk, in bitterly cold weather, 13 miles back to his father’s house and then, next morning, walk eight miles to Sellar’s shop in Wick.« (Burns 1993: 86). Vgl. dazu den Aufsatz von Thomas Hensel in diesem Band.
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Literatur Bain, Alexander 1843: Certain improvements in producing and regulating electric currents and improvements in time pieces and in electric printing and signal telegraphs. Patentschrift GB 9.745 vom 27. November 1843. Bain, Alexander 1850: Bain’s Patent Electro-Chemical Copying Telegraph. In: Mechanics’ Magazine, 52/1383 (1850). S. 101–105. Barwise, John/Bain, Alexander 1841: Electric Clocks. Patentschrift GB 8.783 vom 10. Juli1841. Burns, Russell W. 1993: Alexander Bain, a most ingenious and meritorious inventor. In: Engineering Science and Education Journal, 2/2 (1993). S. 85–93. Didi-Huberman, Georges 1995: Fra Angelico. Unähnlichkeit und Figuration. München: Fink. Haase, Frank 1996: Die Revolution der Telekommunikation. Die Theorie der telekommunikativen Aprioris. Baden-Baden: Nomos. Hagen, Wolfgang 2001: Radio Schreber. Der ›moderne Spiritismus‹ und die Sprache der Medien. Weimar: VDG. Hörisch, Jochen 1996: Kopf oder Zahl. Die Poesie des Geldes. Frankfurt am Main: Suhrkamp. Kassung, Christian/Kümmel, Albert 2003: Synchronisationsprobleme. In: Kümmel, Albert/Schüttpelz, Erhard (Hrsg.): Signale der Störung. München: Fink. S. 143–166. Kümmel-Schnur, Albert 2012: Zirkulierende Autorschaft. Ein Urheberrechtsstreit aus dem Jahre 1850. In: Schüttpelz, Erhard u. a. (Hrsg.): Akteur-Medien-Theorie. Bielefeld: transcript (im Druck). Peters, John Durham 2000: Speaking into the Air. A History of the Idea of Communication. Chicago/London: The University of Chicago Press. Wright, John/Bain, Alexander 1841: Application of Electric Currents to Railway Signalling, Telegraphs, & c. Patentschrift 9.204 vom 21. Juni 1841.
Abbildungen Abb. 1: GB 9.745, Sheet 6. In: Alexander Bain 1843: Certain improvements in producing and regulating electric currents and improvements in time pieces and in electric printing and signal telegraphs. Patentschrift GB 9.745 vom 27. November 1843. Sheet 6.
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Abb. 2: GB 9.204, Sheet 4. In: Alexander Bain/John Wright 1841: Application of Electric Currents to Railway Signalling, Telegraphs, & c. Patentschrift Nr. 9.204 vom 21. Dezember 1841. Sheet 4, Fig. 1. Abb. 3: GB 9.745, Sheet 5. In: Alexander Bain 1843: Certain improvements in producing and regulating electric currents and improvements in time pieces and in electric printing and signal telegraphs. Patentschrift GB 9.745 vom 27. November 1843. Sheet 5, Fig. 1. Abb. 4: GB 9.745, Sheet 3. In: Ebd. Sheet 3. Abb. 5: Typendrucktelegraph von Alexander Bain, 1843 (Detail). In: Stiftung für Post und Telekommunikation, Depot Heusenstamm, Inventar-Nr. 4.0.33250. Foto: Albert Kümmel-Schnur. Abb. 6: GB 9.745, Sheet 6. In: Alexander Bain 1843: Certain improvements in producing and regulating electric currents and improvements in time pieces and in electric printing and signal telegraphs. Patentschrift GB 9.745 vom 27. November 1843. Sheet 6, Fig. 2, Detail. Abb. 7: GB 9.745, Sheet 6. In: Ebd. Bearbeitung: Albert Kümmel-Schnur. Abb. 8: GB 9.745, Sheet 6. In: Ebd. Bearbeitung: Albert Kümmel-Schnur. Abb. 9 und 10: Shannon/Weaver, Flussdiagramm der Kommunikation. In: Shannon, Claude/Weaver, Warren 1962: The Mathematical Theory of Communication. Urbana: The University of Illinois Press. S. 5, Abb. 8.
THOMAS HENSEL
Energetisierte Lineamente. Anmerkung zu einer Po(i)etik des Patents Eine Patentschrift poetologisch zu betrachten scheint auf den ersten Blick eine contradictio in exercitu, gilt sie doch als eine standardisierten Formatvorgaben folgende, streng regulierte und normierte Textsorte. Da eines ihrer primären Kommunikations- und Handlungsziele darin besteht, eine Erfindung so deutlich und vollständig zu offenzulegen, dass ein Fachmann sie ausführen kann, fordert das Patentwesen vom Erfinder eine gewisse Disziplin. Zu diesem Zweck gilt es, selbstgewonnene empirische Ergebnisse und subjektive Erfahrungen zu objektivieren, das heißt, die zum Patent angemeldeten Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge »wissenschaftlich als technische Lehre zum Handeln [zu] verallgemeinern«.1 Nachvollziehbarkeit ist dementsprechend eine wesentliche Forderung an die Patentschrift. Die Komplexität des Patentwesens und das mit ihm einhergehende Gebot, einen technischen Sachverhalt so darzulegen, dass er sowohl einen Rechtsanspruch wie ein durch diesen bestimmtes, unter Monopolschutz stehendes wirtschaftliches Betätigungsfeld begründet, hat zur Herausbildung einer spezifischen Patentfachsprache geführt.2 Mit dieser Sprache hat sich eine typische, wenn auch historisch veränderliche Struktur von Patentdokumenten entwickelt, die neben Titel, Zusammenfassung, Beschreibung oder Patentansprüchen auch Zeichnungen umfasst. Jene Objektivität und Nachvollziehbarkeit, textlich unter anderem codiert in »eine[r] ganze[n] Reihe stereotypisierter syntaktisch-semantischer Fertigstücke«,3 soll demnach auch für die technischen Zeichnungen als integralem Bestandteil einer Patentschrift gelten: Printed drawings or other illustrative matter such as graphs are used to illustrate the description so that the invention’s workings can be understood.4
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Vgl. Greif 2000: 209. Hierbei handelt es sich um moderne Diktion, der Anspruch gilt grosso modo aber auch für historische Patente. Zum historischen Raum, in dem die hier verhandelten Patente angesiedelt sind, siehe Dulken 1999. Vgl. zur Spezifik der Patentfachsprache Schamlu 1985. Scheel 1997: 488. Dulken 1999: 67.
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Betrachten wir auf dieser Folie eine Zeichnung Alexander Bains, fallen indessen Irregularitäten auf, die gegen jenes Gebot der Nachvollziehbarkeit zu verstoßen und im Regelsystem der technischen Zeichnung auf den ersten Blick nicht aufzugehen scheinen.5 Abbildung 1: Bain Sheet 6.
Nicht nur werfen die zahlreichen Unterschiede in konstruktiven wie explikativen Details zwischen den beiden gezeichneten Bains’chen Telegraphen, die doch laut Beschreibung bis auf eine einzige Ausnahme baugleich zu sein hätten,6 Fragen auf. Auch erscheinen in einem durchkonstruierten Bildraum die unter anderem als Leitungsbahnen identifizierbaren Lineamente durch ihre – jegliche Exaktheit unterlaufende – Dynamik als Fremdkörper; mehr noch als in Bains Bild wird dies in einer späteren Zeichnung Frederick C. Bakewells deutlich:7 Hier greifen die unregelmäßigen Windungen und Schlaufen des Linienspiels dermaßen in den Raum aus, dass konstruktive Merkmale der Hard-
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Bain 1843: Sheet 6. »These two instruments are in every respect the counterparts of each other and the letters of reference apply equally to either except X2 Figure 2 from which instrument the message is sent.« (Ebd.: 10) Die Unterschiede werden ausführlich von Albert Kümmel-Schnur im vorliegenden Band (»Technischer Gleichlauf zwischen Sendung und Empfang«) beschrieben. Bakewell 1848: Sheet 5.
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ware nachgerade wattig zu werden drohen und die Zeichnung gänzlich diffus.8 Abbildung 2: Bakewell Sheet 5.
Sucht man den Sinn dieser Irregularität zu verstehen, liegt es aus bildwissenschaftlicher Perspektive zunächst nahe, einmal mehr ins Bewusstsein zu heben, dass technische Bilder das Ideal wissenschaftlicher Objektivität nur näherungsweise erreichen können und, insofern sie immer schon unauflöslich an eine Materialkultur gebunden sind, ausnahmslos auch ästhetisch codiert sind.9 Diesen ästhetischen Überschuss vermerkte auf dem Gebiet der Elektrizitätsforschung bereits Georg Christoph Lichtenberg. Da eine Erklärung elektrischer Phänomene im 18. Jahrhundert in Unkenntnis des modernen Elektronenbegriffs noch nicht möglich war, setzte sich Lichtenberg mit den von ihm gewonnenen berühmten Figuren phänomenologisch auseinander. Nachdem es ihm gelungen war, Spuren der Elektrizität sichtbar zu machen, notierte er die Erscheinungsweise seiner mit Leim auf schwarzem Papier fixierten Harzstaub-Figuren signifikanterweise unter ästhetischen Prämissen: Selbige, so Lichtenberg, glichen oft einer erhabenen Arbeit. Es zeigten sich bisweilen fast unzählige Sterne, Milchstraßen und größere Sonnen. […] Herrliche kleine Ästchen entstanden, denen ähnlich, die der Frost an den Scheiben hervorbringt; kleine Wolken in den mannigfaltigsten Formen und Graden der Schattierung und endlich mancherlei Figuren von besonderer Gestalt waren zu sehen.10 8
9 10
Die Untersuchung elektrotechnischer Zeichnungen stellt ein Desiderat bildwissenschaftlicher Forschung dar. Einen Anfang macht Dennhardt (2009: 72–84), der den Übergang von einer illusionistisch-räumlichen Darstellung von Experimentalanordnungen zu standardisierten Schaltplänen schildert. Siehe unter anderem Hensel 2009. Zitiert nach Gethmann 2004: 129.
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Wesentlich an jener Beschreibung ist, dass mit den »Sternen«, »Milchstraßen« oder »Ästchen« an illusionistischer Kunst geschulte Betrachtungsweisen Einzug in die Domäne empirischer Wissenschaft hielten. Tatsächlich unterwarfen jene Visualisierungen von Elektrizität das naturwissenschaftliche Verfahren der Modellbildung von Naturkräften ästhetischen Gesetzen;11 die Lichtenberg’schen Figuren machten eine Vorstellung von Elektrizität überhaupt erst möglich. Das bedeutet, dass ein Bild nicht mehr nur ein Instrument der Aufzeichnung von Beobachtungen innerhalb eines Experimentalsystems war, sondern vielmehr den »Status eines die naturwissenschaftliche Epistemologie leitenden theoretischen Gegenstands«12 erlangte, mithin physikalische Theorien erst eigentlich erzeugte. Zur Zeit Bains und Bakewells war das sicherlich stärkste Bild von Elektrizität das der sogenannten »lines of force« oder Kraftlinien, verknüpft mit der Forschungsarbeit Michael Faradays. Auch an deren Anfang stand ein visuelles Phänomen: Faraday hatte beobachtet, dass auf ein Blatt Papier gestreute Eisenspäne, in die Nähe eines Magneten gebracht, diskrete, von den Magnetpolen ausgehende und im Raum expandierende Kurven formen. Gestützt auf diesen Befund entwickelte der englische Experimentalphysiker das Konzept der Raum ausfüllenden »lines of force« als Antwort auf die Frage, wie eine Kraft oder Energie durch den Raum übertragen werde, und wies damit die traditionelle Vorstellung unmittelbarer Fernwirkungen in ihre Schranken. Jenes Bild der Kraftlinien war es, das Faraday auf die – auch und gerade aus medienwissenschaftlicher Perspektive – grundstürzende Idee brachte, dass eine Distanzhandlung zwischen zwei Körpern vermittelt, mit anderen Worten mediatisiert sei.13 Entscheidend nun für ein Verstehen der Bain’schen und auch der Bakewell’schen Lineamente ist der Umstand, dass Faradays Konzept von Anfang an eine Spannung innewohnte. Zum einen verstand Faraday die Kraftlinien als schiere Vektoren (»representative lines of 11 Vgl. ebd.: 135f. 12 Ebd.: 125. 13 Vgl. ebd.: 137f. Zur epistemologischen Bedeutung des Bildes für Faraday schreibt Nersessian (1985: 184): »I think that the influence of the visual image of the lines of force on Faraday has been underestimated. It played a crucial role in the construction of his field concept, in its initial formulation, in its development, and in its final form. The visual image provided Faraday with a means of exploring, both in thought and in experimentation, the possibility of action in and through space. He attempted to demonstrate that electrostatic and magnetic inductions took place along or through curved lines of force. Their curvature provided an essential ingredient in his argument against their being actions-at-a-distance.«
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force«), die Stärke und Richtung einer Kraft im Raum repräsentierten; zum anderen als reale physische Entitäten (»physical lines of force«),14 die kontinuierlich alle Kräfte der Natur übertrügen und sämtliche Partikel miteinander verbänden. Laut Nancy J. Nersessian versuchte Faraday gar aus den Bewegungen der Linien sämtliche Kräfte der Natur wie auch die Materie selbst abzuleiten: At various times he tried to formulate a coherent conception of how the motions of the lines could account for all the forces of nature. The relationship between static and dynamic electricity might be found in the expansion and collapse of the lines of force while magnetism might consist in a ›vibration‹ of the lines and might be connected with a ›lateral repulsion‹ between them. Electrostatic induction might take place through the action of ›contiguous particles‹ along curved lines of force and magnetic induction by means of ›conduction‹ of the lines with varying degrees of ease in different media. Light and gravitation could be the result of a ›shaking‹ or ›vibration‹ of the lines. Even matter itself might be nothing more than point centres of lines of force.15
Seine spätestens 1852 mit Bestimmtheit artikulierte Annahme, dass Kraftlinien eine »gewisse unabhängige physische Existenz haben«,16 interpretierten nachfolgende Physiker mit Formulierungen, die an Faradays Glauben an die Materialität der Kraftlinien keinen Zweifel ließen. So habe, laut James Clerk Maxwell, Faraday »sagen wollen, dass […] die mechanischen und electrischen Actionen eines Körpers von den Kraftlinien abhängen, die an ihn anstossen«.17 Und gemäß Heinrich Hertz’ plastischer Auslegung wurden »[ihm] [d]ie elektrischen und magnetischen Kräfte […] das Vorhandene, das Wirkliche das Greifbare […]. Die Kraftlinien […] standen vor seinem geistigen Auge im Raume als Zustände desselben, als Spannungen, als Wirbel, als Strömungen, als was auch immer – […] aber da standen sie, beeinflussten einander, schoben und drängten die Körper hin und her, und breiteten sich aus, von Punkt zu Punkt einander die Erregung mitteilend«.18 Man darf vermuten, dass Bain diese Konzeptualisierungen von Elektrizität mit großem Interesse verfolgte. So weiß man aus seinen ei14 15 16 17 18
Zitiert nach Nersessian 1985: 183. Ebd.: 184. Zitiert nach Gethmann 2004: 138. Zitiert nach ebd.: 140. Zitiert nach ebd.: 137. Siehe auch Nersessian 1985: 184: »The terms he used when discussing the lines (such as: ›moving out‹, ›expanding‹, ›collapsing‹, ›bending‹, ›straining‹, ›vibrating‹, ›being cut‹, ›turning corners‹) […] was not simply metaphorical language.«
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genen Berichten, dass er bereits 1830 einen Vortrag über »Licht, Wärme und Elektrizität« hörte – laut Bain ein Wendepunkt in seinem Leben –, für den er eigens eine relativ beschwerliche Reise auf sich nahm;19 und auch nach seinem Umzug nach London im Jahr 1837 studierte er nicht nur einschlägige Zeitschriften, sondern besuchte Vorlesungen, Ausstellungen und Vorführungen zum Thema Elektrizität in der Adelaide Gallery of Practical Science und in der Royal Polytechnic Institution, wo auch Faradays Entdeckungen einem breiten Publikum nahegebracht wurden.20 Es sind genau jene Faraday’schen Konzeptualisierungen, die Bains Patentzeichnung zweier Telegraphen in ihrer Eigentümlichkeit zu begreifen helfen. Bevor aber versucht wird, das Konzept der »lines of force« in der Patentzeichnung wiederzufinden, mag ein Blick auf die Bildtradition unregelmäßig gewundener Linien hilfreich sein. De facto lassen sich bereits frühneuzeitliche Zeichnungen finden, welche die Frage nach dem Status und dem spezifischen Sinn der unregelmäßig gewundenen Linie im Verhältnis zu Elementen rektangulärer Konstruktion reflektieren. So wird etwa in Jean Cousins d. Ä. »Livre de Perspective« aus dem Jahr 1560 jene Linie als systematisch vereinbar mit der Geometrie ausgewiesen.21 Abbildung 3: Jean Cousin d.Ä. »Livre de Perspective« aus dem Jahr 1560.
Auf Cousins erster Bildtafel sind Elemente der Geometrie und der perspektivischen Konstruktion ausgebreitet – von geraden Linien und deren Relationen bis hin zu Flächen und einfachen Körpern –, während 19 20 21
Vgl. Hackmann 1973: viif. Vgl. Burns 1993: 86. Vgl. Felfe 2006: 95f.
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im Zentrum des Bildfeldes eine mit dem Index »H« versehene Linie mit auffällig unregelmäßiger Form sitzt, ein wenig unvermittelt im Gefüge der geometrischen Figuren. Der begleitende Text jedoch weist ihr einen Sinn zu: Eine solche Linie könne sowohl in der Natur als auch als künstliche Linie vorkommen; aus ihr bestünden die festen Körper, gleichwohl vermöge sie sich in perspektivischer Darstellung zu verändern.22 Hier also wächst gerade der unregelmäßigen gewundenen Linie ein besonderer Status zu, nämlich »sowohl Form der Natur als auch Element der Kunst« zu sein.23 Eben diesen Status kann auch, so die These der vorliegenden Spekulation, das geschwungene Lineament auf der Patentzeichnung Bains beanspruchen. Einerseits gezeichnete Linie, die sich unregelmäßig auf der Fläche des Patentpapiers ausbreitet, andererseits aber auch Kraftlinie im Faraday’schen Sinne, welche nicht nur Partikel, sondern komplexe Apparaturen miteinander verbindet, kommen im Bain’schen Lineament repräsentative und physisch-reale »lines of force«, »Element der Kunst« und »Form der Natur« oder signa und res zusammen. Indem sie energetisiertes Lineament und linearisierte Energie ineins fallen lässt, figuriert die Zeichnung damit einen veritablen performativen Bildakt, durch den ein Sachverhalt nicht nur dargestellt, vielmehr überhaupt erst hergestellt wird. Unter Performativität – hier übertragen auf Bilder – soll dasjenige Konzept verstanden werden, das John Langshaw Austin in seiner frühen Sprachphilosophie grundlegend verhandelt hat. Im Zuge einer Verlagerung seines Interesses von Sprache als Repräsentation auf den Sprechakt als Handeln unterschied Austin zwischen konstatierenden und performativen Äußerungen. Eine konstatierende Äußerung ist eine deskriptive Aussage, mit der eine Feststellung getroffen wird. Eine performative Äußerung hingegen stellt nichts fest, sondern ist der faktische Vollzug eben jener Handlung, die sie bezeichnet. »Sie konstituiert, was sie konstatiert.«24 In der performativen Äußerung wird somit die vertraute Unterscheidung zwischen Darstellungsmittel und Dargestelltem, zwischen Wort und Sache oder signa und res außer Kraft gesetzt. 25 Damit aber noch nicht genug: Tat22
23 24 25
»H. est une ligne Spirale & tortue, laquelle peut advenir tant naturellement qu’artificiellement, & se peut reduire en cest Art de Perspective ; & fussent mesmes les corps solides.« Zitiert nach ebd. Ebd. Krämer/Stahlhut 2001: 37. Demgemäß betitelte Austin seine wichtigste, 1962 erstmals publizierte Abhandlung bezeichnenderweise mit »How to do things with words«. Siehe Austin 1962. Beispiele Austins für Performativa sind Heirat, Schiffstaufe, Testament oder Wette. Siehe auch Krämer/Stahlhut 2001; speziell zum
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sächlich stellt das Lineament auf der Zeichnung Bains nicht nur gezeichnete und nicht nur Kraftlinien dar, sondern auf gegenständlicher Ebene schlicht auch Drähte als dingliche Komponenten der gezeigten Apparate. Somit argumentiert das Zeichnungsblatt unseres Patents auch implizit medientheoretisch: Denn nicht nur Kunst und Natur oder signa und res fallen hier zusammen, sondern mit den Kraftlinien und ihrer Materialisierung in metallenen Leitungsbahnen auch Botschaft und Medium. 26 In einer Ahnung dieser Koinzidenz und in dem Wissen darum, dass eine telegraphische Übertragung nicht frei von Störungen ist, mag auch der Grund dafür liegen, dass Bain die als Sollwert formulierte Baugleichheit seiner beiden Telegraphen in zahlreichen Details störte, schließlich musste sich das Hin- und Herschieben und Drängen, so Hertz, der »lines of force« irgendwie auswirken. Vermöge des dreifachen oszillierenden Sinns seines Lineaments, das Kunst, Natur und Technik oder gezeichnete Linie, Kraftlinie und metallene Leitungsbahn in eins blendete, vermochte Bain durch ein Bild Elektrizität zu analysieren und machte mit einer technischen Zeichnung seine Patentschrift nolens volens zu einem Manifest moderner Medientheorie.
Diagramm: Krämer 2005; zu einem performativen Bild: Hensel 2002; sowie zum Bildakt: Bredekamp 2010. 26 Zu Recht weist Albert Kümmel-Schnur (»Technischer Gleichlauf zwischen Sendung und Empfang«, im vorliegenden Band) darauf hin, dass in der elektrischen Telegraphie Übertragungsmedium und Botschaft zusammenfallen.
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Literatur Austin, John Langshaw 1962: How to do things with words. The William James lectures delivered at Harvard University in 1955. Cambridge (Mass.): Harvard University Press. Bain, Alexander 1843: Certain improvements in producing and regulating electric currents and improvements in time pieces and in electric printing and signal telegraphs. Patentschrift GB 9.745 vom 27. November 1843. Bakewell, Frederick Collier 1848: Electric Telegraphs. Patentschrift GB 12.352 vom 2. Juni 1849. Bredekamp, Horst 2007: BILD – AKT – GESCHICHTE. In: Wischermann, Clemens u. a. (Hrsg.): GeschichtsBilder, 46. Deutscher Historikertag vom 19. bis 22. September in Konstanz. Berichtsband, Konstanz: UVK-Verl.-Gesellschaft. S. 289–309. Burns, Russell W. 1993: Alexander Bain, a most ingenious and meritorious inventor. In: Engineering Science and Education Journal, 2/2 (1993). S. 85–93. Dennhardt, Robert 2009: Die Flipflop-Legende und das Digitale. Eine Vorgeschichte des Digitalcomputers vom Unterbrecherkontakt zur Röhrenelektronik 1837–1945. Berlin: Kulturverlag Kadmos. Dulken, Stephen van 1999: British Patents of Invention, 1617–1977. A Guide for Researchers. London: The British Library. Felfe, Robert 2006: Sehen am Faden der Linie. Spiele des Bildermachens bei Abraham Bosse. In: Schramm, Helmar u. a. (Hrsg.): Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert. Berlin: de Gruyter. S. 78–113. Gethmann, Daniel 2004: Innere Scheinbilder. Von der Ästhetik der Elektrizität zur Bild-Konzeption der Erkenntnis. In: Nohr, Rolf F. (Hrsg.): Evidenz – »… Das sieht man doch!« Münster: Lit. S. 125–161. Greif, Siegfried 2000: Patentschriften als wissenschaftliche Literatur. In: Fuchs-Kittowski, Klaus u. a. (Hrsg.): Wissenschaft und Digitale Bibliothek. Berlin: Gesellschaft für Wissenschaftsforschung. S. 207–230. Hackmann, Willem Dirk 1973: Introduction. In: Ders. (Hrsg.): Alexander Bain’s Short History of the Electric Clock (1852). London: Turner and Devereux. S. v–xv. Hensel, Thomas 2002: Albrecht Dürer, Erwin Panofsky und der ›performative turn‹ der Kunstwissenschaft. In: Ders. u. a. (Hrsg.): Goodbye, Dear Pigeons. Lab – Jahrbuch 2001/02 für Künste und Apparate. Köln: Verlag der Buchhandlung Walther König. S. 330–338.
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Hensel, Thomas 2009: Ratten im Paradies. Von ›Gebrauchsbildern‹ und ›Kunstbildern‹. In: kritische berichte. Zeitschrift für Kunst- und Kulturwissenschaften, 37/4 (»Nicht-Künstlerische Bilder«). S. 15–24. Krämer, Sybille/Stahlhut, Marco 2001: Das »Performative« als Thema der Sprach- und Kulturphilosophie. In: Fischer-Lichte, Erika/Wulf, Christoph (Hrsg.): Paragrana. Internationale Zeitschrift für Historische Anthropologie, 10/1 (»Theorien des Performativen«). S. 35–64. Krämer, Sybille 2005: ›Operationsraum Schrift‹. Über einen Perspektivenwechsel in der Betrachtung der Schrift. In: Grube, Gernot u. a. (Hrsg.): Schrift. Kulturtechnik zwischen Auge, Hand und Maschine (Reihe Kulturtechnik). München: Fink. S. 23–57. Nersessian, Nancy J. 1985: Faraday’s Field Concept. In: Gooding, David/James, Frank A. J. L. (Hrsg.): Faraday Rediscovered. Essays on the Life and Work of Michael Faraday, 1791–1867. New York: Stockton Press. S. 175–187. Schamlu, Mariam 1985: Patentschriften – Patentwesen. Eine argumentationstheoretische Analyse der Textsorte Patentschrift. München: Iudicium Verlag. Scheel, Harald 1997: Sprachliche Konventionen in französischen Patentschriften. In: Fleischmann, Eberhard u. a. (Hrsg.): Translationsdidaktik. Grundfragen der Übersetzungswissenschaft. Tübingen: Narr. S. 487–493.
Abbildungen Abb. 1: Bain Sheet 6. In: Bain, Alexander 1843: Certain improvements in producing and regulating electric currents and improvements in time pieces and in electric printing and signal telegraphs. Patentschrift GB 9.745 vom 27. November 1843. Sheet 6. Abb. 2: Bakewell Sheet 5. In: Bakewell, Frederick Collier 1848: Electric Telegraphs. Patentschrift GB 12.352 vom 2. Juni 1849. Sheet 5. Abb. 3: Jean Cousins d. Ä. »Livre de Perspective« aus dem Jahr 1560. In: Schramm, Helmar u. a. (Hrsg.) 2006: Spektakuläre Experimente. Praktiken der Evidenzproduktion im 17. Jahrhundert. Berlin: de Gruyter. S. 95.
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Die Rhetorik des Patents. Giovanni Casellis Telegraphic Apparatus Im Jahr 1863 reicht der italienische Physiker und Priester Giovanni Caselli ein Patent im United States Patent Office ein, das einen Telegraphic Apparatus vorstellt.1 Es handelt sich um einen Apparat zur Übertragung von Bildern, der den Namen »Pantelegraph« trägt. Der Name ist Programm, so wird ein Telegraph vorgestellt, »qui écrit tout«.2 Im folgenden Beitrag soll es vor allem um die Rhetorik gehen, die in die Patentzeichnung eingeschrieben ist. Dabei gehe ich davon aus, dass es sich bei einer Patentzeichnung um ein Diagramm und damit um ein operatives Bild handelt. Es wird um Diagrammrhetorik gehen, zu der natürlich auch die Annotationen gehören. Sie spielen unter anderem insofern eine Rolle, als sie auf die zugehörige Patentschrift verweisen (oder umgekehrt) und nur so verständlich sind: »Figures 1 and 2 represent an instrument with its batteries complete«.3 Ein Patentdiagramm (samt seiner Annotationen) steht nicht für sich.4 Text und Bild sind hier eng verknüpft.5 Ebenso können die Annotationen Bildrhetorik sein (vgl. Abschnitt Pfeile). Ich werde mich in diesem Aufsatz demzufolge dem lettered diagram widmen, um so seine ganz spezifischen rhetorischen Momente herauszuarbeiten. 1
2 3 4
5
Im INPI, dem französischen Patentamt, reicht Caselli 1862 ein Patent ein, in dem sich ein sehr ähnliches, etwas schlechter gezeichnetes Patentdiagramm befindet. Die Annotationen sind nahezu identisch. Ich bespreche hier das amerikanische, da in der früheren Zeichnung eine Abbildung (Fig. 9) fehlt. Zudem sind die einzelnen Figuren anders angeordnet, was einen Vergleich der beiden Diagramme interessant machen würde. Da ich mich jedoch auf die Rhetorik eines einzigen Diagramms und dessen innere Logik (oder eben Nicht-Logik) beziehen möchte, beschränke ich die Analyse auf das genannte amerikanische Patent von 1863; auch, weil hier die Annotationen besser zu erkennen sind, was die Nachvollziehbarkeit meiner Diskussion des Diagramms vereinfacht. Bata/Carré 1985: 56. Caselli 1863: 3. »Nicht nur verweisen Schrift und Bild im Diagrammatischen aufeinander, sondern die Diagrammatik selber erfordert den Text, der sie deutbar macht.« (Mersch 2006: 108). Apparate selbst sind natürlich auch immer vertextet, sowohl am Apparat selbst (z. B. durch Nummern, Buchstaben, Pfeile) als auch durch Epitexte wie Gebrauchsanweisungen.
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Das Diagramm soll demzufolge u. a. hinsichtlich seines operativen Moments, der Anordnung der Figuren und der Wahl der Ausschnitte untersucht werden. Das Patentdiagramm referiert freilich auf einen Sachverhalt, das heißt, es wird auf ein Außerhalb Bezug genommen. Das Diagramm als operatives Bild hat einen Abbildcharakter: »a diagram is an icon«.6 Dabei muss das Bild dem Dargestellten nicht visuell ähnlich sein, es kann Generalisierungen und Schematisierungen enthalten, es repräsentiert aber eben etwas Externes. Ein Patentdiagramm gehört, wie schon gesagt, zu den operativen Bildern, denn »es gibt eine Wechselwirkung zwischen den Operationen, die man am Bild ausübt – zeichnen, nachzeichnen, abstreichen – ; und den Operationen, die man durch das Bild, mithilfe des Bilds, in Gang setzt.«7 Das operative Bild kann – und soll – eine Handlung auslösen. Die operative Qualität von Diagrammen zeigt sich in zwei Operationen: einer intellektuellen und einer haptischen: Man muss verstehen, wie Figurenanordnungen gemeint sind und wie der Apparat funktioniert. Sybille Krämer nennt dieses Vorgehen »Lesen«: »Operative Bilder werden nicht nur angeschaut, sondern können – und müssen – gelesen werden.«8 Dafür muss das statische Bild dynamisiert werden, d. h. Bewegungen und Funktionsbeziehungen müssen nachvollzogen werden, so dass man den Apparat verstehen kann. Ein Diagramm »ist nicht nur ein Visualisierungselement, sondern auch ein Experimentierinstrument, das durch handgreifliche konstruktive Veränderungen an Figuren und Konfigurationen und deren Beobachtung neues Wissen entstehen lässt.«9 Eine Operation mit dem Bild kann natürlich auch im Nachbau des Apparates bestehen – eine Operation, die am Bild ausgeübt wird, genau im Versuch, dies zu verhindern (vgl. Abschnitt Pendel). Welches Wissen vermittelt das Patentdiagramm, das Casellis Pantelegraphen vorstellt und welches Wissen entsteht durch Beobachtung, das heißt durch Lektüre des Bildes und Interaktion mit dem Bild? Welche Argumente sind in das Bild eingeschrieben?10 Ändert sich die Lektüre des Diagramms, wenn sich die Lesreihenfolge verändern würde oder 6 7 8 9 10
Zitiert nach Stjernfelt 200: 361. Schüttpelz 2007: 36. Krämer 2009: 101. Ebd.: 108. Es soll also nicht um »visuelle Argumente« gehen, die Dieter Mersch (2005) bespricht. Dort geht es um graphische Normen und Objektivitätsansprüche. Hier werden solche Argumente fokussiert, die in das Bild eingeschrieben (worden) sind.
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die einzelnen Figuren größer oder kleiner dargestellt würden? Welche Eigenschaften werden durch die Rhetorik in das Diagramm eingeschrieben und damit dem Apparat zugeschrieben? »Diagrammatiken bedeuten in diesem Sinne die Sichtbarmachung eines Denkens.«11 Dieses Denken wird durch die Diagrammrhetorik sichtbar gemacht; genau darum soll es im Folgenden gehen.
Ein Apparat wird vorgestellt – Teil I Giovanni Caselli erfindet einen Bildtelegraphen und möchte ihn vermarkten. Wie geht er vor? Obwohl er mit den technischen Störungen des Apparates befasst ist, muss er ökonomisch und politisch handeln, denn »tatsächlich verwandeln sich Ingenieure [und Erfinder, JZ] genau in jenen Phasen, in denen sie am meisten mit technischen Problemen befasst sind, selbst in Soziologen, Ethiker oder Politiker.«12 Er sucht nach Akteuren, die das Netzwerk formieren sollen: Das Netzwerk der Vermittler jedoch, das der Akteur nach Verhandlungen und Transformationen akzeptiert, wird andererseits auch von diesem Akteur transformiert. Es wird in ein Szenario umgewandelt und trägt die Unterschrift eines Autors, der nach Akteuren sucht, die bereit sind, ihre Rolle zu spielen.13
Die Unterschrift des Autors möchte ich in diesem Aufsatz hervorheben. Doch zurück zur Vermarktung, die ja Teil der Rekrutierung des Netzwerks ist. Welche Möglichkeiten bestehen Mitte des 19. Jahrhunderts, eine Erfindung publik zu machen? Und welche Rolle kommt dabei dem Patent zu? Schon 1855 entwickelt Caselli einen Telegraphenapparat. Ein Jahr später führt er mit Hilfe eines Ateliers, das sich Atelier Galileo nennt und die ersten Prototypen bauen lässt, erfolgreich einen Telegraphen in seiner italienischen Heimat vor. Der Großherzog der Toskana ist anwesend und begeistert, es formiert sich sogar eine »Société anonyme dutelégraphe pantographique Caselli«.14 Die Times berichtet Jahre später über einen erneuten Versuch, den Apparat in Italien zu etablieren:
11 12 13 14
Mersch 2005: 104. Callon 2006: 314. Ebd.: 322. Feydy 1995: 51f.
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It transmits autograph messages and drawings with all perfections and defects of the originals. An inhabitant of Leghorn wrote four lines from Dante, and they appeared in the same handwriting at Florence. A portrait of the same poet was painted at Leghorn, and it was reproduced at Florence line for line and shade for shade.15
Die Auswahl der übersendeten Nachrichten zeigt, wie der Erfinder den Apparat genutzt wissen möchte – zur Übermittlung von Bildern. Telegramme, die zu Börsentransaktionen verwendet werden, machen später den größten Anteil an übersendeten Telegrammen aus.16 Die Idee einer kommerziellen Nutzung ist schon hier in die Übertragung eingeschrieben. Und auch Caselli möchte durch die Vermarktung natürlich an dem Apparat verdienen, daher ist er an einer kommerziellen Nutzung interessiert. Das Netzwerk Pantelegraph wird durch die Kommerzialisierung umdefiniert: »Die Definition eines Objekts ist auch die Definition seines sozioökonomischen Kontextes: Zusammen addieren sie sich zu einer möglichen Netzwerkkonfiguration. Da gibt es weder ein ›Innen‹ noch ein ›Außen‹.«17 1857 geht Caselli von Italien nach Frankreich, um seinen Telegraphen vorzustellen. Ihm ist von Léon Fouacault ein Mechaniker empfohlen worden,18 der schon an dessen Pendel mitgewirkt hat, sowie 1844 einen der ersten Elektromotoren patentieren ließ: Gustave Froment. Froment ist Uhrmachersohn und Schüler der Pariser École Polytechnique.19 Er beginnt, sich mit der Telegraphie zu beschäftigen und führt öffentlich telegraphische Erfindungen vor, um sie einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Erfindungen werden öffentlich zur Schau gestellt, die École Polytechnique, an der Froment ausgebildet wurde, organisiert solche Vorführungen, aber auch in den Ateliers und Werkstätten finden regelmäßige Demonstrationen statt – auch Casellis Pantelegraph wird in diesem Zusammenhang vorgestellt. Die wohl wichtigste Unterstützung erhält Caselli von seinen Kollegen Alexandre Edmont Becquerel und César-Mensuète Despretz, die den Apparat im Conservatiore des arts et métiers und in der Academie des sciences der Sorbonne zeigen. Der Apparat erregt so viel Aufsehen, dass sich Napoleon III am 10. Mai 1860 in der Fromentschen Werkstatt in der Rue-Notredame-des-Champs einfindet, um der Vorführung beizuwohnen. Inhalt 15 16 17 18 19
The Times, 22. Februar 1862, S. 10. »Au cours l’année 1866, 60 dépêches furent expédiées, dont 4853 ordres de Bourse.« (Figuier 1867: 159). Callon 2006: 315. Vgl. Feydy 1995: 52. Vgl. Provost 2001: 1163.
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der Nachricht, die Caselli überträgt, ist der folgende: »Que Dieu bénisse l’Empereur, que Dieu le protège pour la gloire de la France, pour la libération de l’Italie et pour le bonheur du Monde entier!«20 Mit diesen starken Worten betritt die Bildtelegraphie die Bühne der kommerziellen Nutzung, sie »läßt an die Stelle streitsüchtiger Individualisten die Detailarbeit von Polytechnika und mechanischer Werkstatt treten.«21 Hier wird klar, dass das Vorstellen einer Invention immer auch Inszenierung ist, so existiert ein Bild, auf dem Napoleon III neben dem zwei Meter großen und 400 Kilogramm schweren Apparat steht, so dass ersterer in seiner majestätischen Größe selbst seine Majestät überragt. Abbildung 1: NAP und PAN.
Napoleon III nimmt den Pantelegraph in das französische Telegraphensystem auf.22 Die ersten Apparate werden zwischen Paris und Amiens, Paris und Lyon und Paris und Marseille installiert und in das bestehende Telegraphennetz integriert. Das Patent, das Caselli am 3. Februar 1863 erhält, ist schon am 5. Juli 1862 im United States Patent Office eingereicht worden, in dem Jahr, in dem auch das französische Patent erteilt wird, das denselben Telegraphen vorstellt. Lässt sich diese Geschichte nachzeichnen, wenn wir das Patent nachvollziehen, finden sich Hinweise auf intendierte Nutzungsszenarien? Schauen wir uns die Patentzeichnung genauer an. 20 21 22
Vgl. Feydy 1995: 52. Kassung 2007: 371. Vgl. Cahen 1982: 25 und Brethes 1995: 13.
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Ein Apparat wird vorgestellt – Teil II Abbildung 2: US 37.563, Sheet 1.
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Pendel. Auf der Patentzeichnung, die den Titel »Sheet 1« trägt und die Figuren 1, 2, 3, 4, 5, 6, 7, 7* und 9 zeigt, sind auf den ersten Blick vor allem drei Pendel zu sehen, davon ein sehr langes, das eine Art Mittellinie von Figur 2 bildet und mit den Buchstaben AB versehen ist, und zwei kurze Pendel in rechteckigen Kästen, denen keine Buchstaben zugeordnet sind (Fig. 1 und 3). Schaut man genauer hin, entdeckt man das vierte Pendel, das sich – in der Mitte durchgeschnitten – in Figur 4 befindet und mit dem Buchstaben A versehen ist. Da Figur 2 und 4 identisch zu sein scheinen, ist B durch die Wahl des Ausschnitts verschluckt worden. Es handelt sich offensichtlich um zwei verschiedene Pendel. Das Pendel AB der Figuren 2 und 4 und das kleine Pendel der Figuren 1 und 3. Das Pendel spielt in allen Apparaten, die Caselli patentieren lässt, eine zentrale Rolle. Es ist immer Mittelpunkt und zentraler Gedanke des Apparats. 23 Das Pendel soll – so die These – zunächst von der Funktionalität des Apparates zeugen. Es wirbt für den Apparat. Doch auch Froment hat einen entscheidenden Einfluss auf die enorme Länge des Pendels: Als Mitentwickler des Foucault’schen Pendels weiß er von den Vorteilen langer Pendel. Das Foucault’sche wird immer länger. Die ersten Versuche starten mit einem zwei Meter langen, führen über ein 12 Meter langes und enden mit einer Vorführung im Pariser Panthéon mit einem 67 Meter langen Pendel. Die Länge des Pendels ist zwar anschauliches Argument für den Apparat, die Schwere jedoch ist ebenfalls wichtiger Bestandteil des Pantelegraphen. Sie soll Außeneinflüsse (wie z. B. Wind) minimieren. Daher wird das Pendel zusätzlich durch ein Bleigewicht beschwert, um Störungen vorzubeugen: La masse de fer qui forme la lentille du pendule moteur doit être assez grande pour donner une force d’inertie considérable, afin que la régularité de la marche ne quisse être affectée par les résistances accidentelles dues au jeu des divers organes.24
Welche Länge und welches Gewicht das Pendel des Caselli’schen Apparates hat, geht allerdings aus der Patentzeichnung nicht hervor. 25 Es finden sich keinerlei Hinweise auf Größen- oder Materialangaben in 23
Über ein Patent eines frühen Apparates von 1857 heißt es: »L’appareil propose, qui comporte déjà le grand pendule de synchronisation est encore loin d’avoir atteint sa forme définitive.« (Cahen 1982: 25). 24 Blavier 1867: 284. 25 Das Pendel des Pantelegraphen, der in den Katakomben des Deutschen Museum steht, konnte ich nachmessen. Es hat eine Länge von 183 cm. Diese Angabe findet sich auch in der Patenschrift: »AB is a pendulum six
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der Patentzeichnung – und das, obwohl Größe und Gewicht dem Telegraphen eben seine Besonderheit verleihen. Christian Kassung weist darauf hin, dass »das majestätische Pendel nichts aus der Ruhe [zu] bringen« scheint, so »daß Störungen aufgrund von Abtastung und Schreibung schlichtweg nicht ins Gewicht fallen.«26 Da aber eben Größen- und Materialangaben fehlen wird klar, dass ein Nachbau nur mithilfe der Zeichnung nicht möglich ist. 27 Das große Pendel als zentrale Figur in der Zeichnung »täuscht […] über den wahren epistomologischen Schnitt zwischen Zeit- und Bildtelegraphie hinweg: Casellis Pendel kommunizieren nicht miteinander.«28 Entscheidend für die Regulation des großen ist nämlich ein kleines Pendel. Die kleineren Pendel, die sich in den Figuren 1 und 3 befinden, sind etwa ein Drittel so groß wie die langen Pendel AB. Am unteren Ende befindet sich ein kleinerer Kreis in einem größeren. Hauptelement der Zeichnung scheinen verschiedene Pendel zu sein, Hauptgedanke die Bewegung des großen Pendels. An beiden langen Pendeln befinden sich Pfeile, die ein Moment der Bewegung andeuten. Umberto Eco geht mit Peirce davon aus, dass »[d]ie einzige Möglichkeit, eine Idee unmittelbar zu kommunizieren, [...] die Verwendung eines Ikons« sei: »›Das Symbol steht für den Bewußtseinsakt‹ und der Bewußtseinsakt ist eine einfache Idee, die zum Bestandteil einer komplexen Idee werden kann.«29 Und damit sind wir bei den Bewegungsannotationen. Pfeile. Am langen Pendel AB sind in der Zeichnung an verschiedenen Stellen Pfeile angebracht. Am unteren Ende von Pendel AB in Figur 2 ist ein Pfeil e' e', der nach links zeigt, der gleiche Pfeil e' e' befindet sich an Pendel (-teil) AB in Figur 4 weiter oben – der untere Teil des Pendels ist ja auch in der Zeichnung nicht zu sehen. In die Zeichnung ist ein Bewegungsmoment eingeschrieben. Die Pfeile symbolisieren, dass sich das Pendel bewegt und suggerieren damit, dass der Apparat funktioniert. Warum der Pfeil aber von rechts nach links zeigt – ebenfalls in ungewohnter Lesrichtung – bleibt, zumindest in Figur 2, unklar, ein Hin- und Her-
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28 29
feet in length.« (Caselli 1863: 1) Ein Fuß entspricht einer Länge von 30,48 cm, also einer Gesamtlänge von exakt 182,88 cm. Kassung 2007: 372f. Vermutungen von Maschinenbauern, mit denen wir innerhalb des Projekts diskutierten, legen nah, dass eine Patentzeichnung nach Möglichkeit den Nachbau verhindern soll – also unklar bleiben muss. Vgl. dazu den Text von Martin Straub in diesem Band. Kassung 2007: 374. Eco 1977: 139.
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pendeln könnte durch einen Pfeil, der nach links und nach rechts zeigt, besser ausgedrückt werden. In Figur 4 ist der Pfeil einleuchtender, so findet sich ein zweiter Pfeil, dem kein Buchstabe zugeordnet ist, über dem Buchstaben C, der in die andere Richtung weist. Hier wird gezeigt, dass sich das Pendel A in entgegengesetzte Richtung bewegt, wie Bauteil C. In Figur 2 fehlt dieser zweite Pfeil. Auch die kleinen Pendel sind nicht mit Annotationen versehen, die auf Bewegung hinweisen. Obwohl die Bewegung des kleinen Pendels für das Funktionieren des Apparates von entscheidender Bedeutung ist und die Hin- und Herbewegung der großen Pendel steuert, sind hier keine Pfeile eingezeichnet. Es wird deutlich, dass sich hier die Rhetorik des Erfinders (oder Konstrukteurs) materialisiert. Hier wird »sowohl ein visuelles als auch ein diskursives Feld des Wissens«30 konstituiert, insofern, als dass dem Pendel durch den Pfeil ein Bewegungsmoment eingeschrieben ist. Mit den Worten von Albert Kümmel-Schnur: »Pfeile symbolisieren Intentionalität, Handlung«.31 Es soll sofort klar sein, dass der Apparat funktioniert und dass dieses Funktionieren durch die Bewegung zweier langer Pendel ermöglicht wird. Die Bewegung des Pendels wird zum mentalen Bild: »Welch eine Vorstellung, man könne die Bewegung denken ohne das Bild von etwas, das sich bewegt!«32 Figuration. Das Diagramm im engeren Sinne ist eine graphische Darstellung, die Sachverhalte, insbesondere Relationen etwa zwischen Größen, aber auch zwischen Begriffen und Wissensfeldern, anschaulich vor Augen stellt.33
Wie ist die Zeichnung strukturiert, wie sind die einzelnen Figuren angeordnet und folgen Anordnung und Nummerierung einer inneren Logik? Wie stelle ich einen Apparat dar, wenn mir (nur) eine 2-dimensionale Fläche zur Präsentation zur Verfügung steht und nicht etwa ein Modell? Man könnte die Figuren wahllos auf der Einschreibefläche verteilen, doch »die Hauptachsen sind [...] oben und unten, rechts und links, inmitten und randständig. Und das ist alles nur möglich, weil – so wie
30 31 32 33
Mersch 2006: 106. Kassung/Kümmel-Schnur 2008: 163. Eco 1977: 139. Krämer 2009: 106.
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bei allen Bildern – die Fläche der Einschreibung sowohl ausgedehnt, wie auch klar begrenzt ist.«34 Die linke Bildhälfte nehmen die Figuren 1 und 2 ein, die einen Apparat in seiner Gänze vorstellen. Zu sehen sind ein großes Gestell, in das das lange Pendel aufgehängt ist, ein Uhrwerk, in dem das kleine Pendel hängt, Batterien, Kabel und zwei dicke Zylinder, zwischen denen sich der Fuß des langen Pendels befindet. Außerdem sehen wir Hebelvorrichtungen und eine gebogene Platte auf der linken Seite mittig, die durch eine Vorrichtung an das Gestell angebunden ist. Unter Figur 2 befindet sich Figur 7, die allerdings so klein dargestellt ist, dass sich wenig erkennen lässt. Damit ist die linke Hälfte der Zeichnung von den Figuren 1 und 2 nahezu vollständig eingenommen. Da der Apparat samt Regulator und Kabelführung vorgestellt ist, müsste dies zur Vorstellung des Pantelegraphen reichen. Doch was macht Caselli? Er zeigt einen zweiten Apparat (Fig. 3 und 4), der die obere Seite der rechten Hälfte des Bildes einnimmt und eine abgeschnittene Version der linken Hälfte darstellt. Dabei sind Figur 1 (linke Bildhälfte) und Figur 3 (rechte Bildhälfte) identisch, sie weisen sogar dieselben Annotationen auf. Auch Figur 2 und Figur 4 scheinen auf den ersten Blick baugleich zu sein, so verwundert es, dass ein zweiter Apparat überhaupt in die Zeichnung integriert ist, zumal andere aufwändige Bauteile wie z. B. Figur 5 winzig dargestellt sind und somit kaum erkennbar. Die Zeichnungen sind sowohl redundant als auch unterkomplex. Auch hier geht es wieder um ein Argument; die Wiederholung des Gleichen ist reine Bildrhetorik, didaktisches Mittel der Explikation (da redundant).35 Es scheint sich um einen Sender- und einen Empfängerapparat zu handeln und so wird auch hier signalisiert: Der Telegraph funktioniert, er sendet von einem Apparat zum anderen, die Übertragung ist in die Zeichnung eingeschrieben. Da Empfänger- und Senderapparat identisch konstruiert sind, verschenkt das Patentdiagramm hier jedoch einen entscheidenden Vorteil, den der Telegraph hat: Beide Apparate können natürlich sowohl als Sender als auch als Empfänger benutzt werden. Die Zeichnung zeigt, und dazu muss man sehr genau hinschauen, dass es sich bei dem rechten Apparat (Fig. 3 und 4) um den Sender handelt (erkennbar an der Position eines Schalters T, der in Fig. 4 nach rechts, in Fig. 2 nach links gelegt ist). Hierin besteht aber auch der einzige Unterschied. Die gewohnte Lesrichtung wird an dieser Stelle durchbrochen: der Sender befindet sich rechts, der Empfänger links im Bild. Es handelt sich um eine Übertragungsrichtung von rechts nach links. 34 35
Ebd.: 99. Vgl. Zons/Ziezold 2010.
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Die beiden Apparate, von denen einer den Sender, einer den Empfänger abbildet, stehen direkt nebeneinander und sind auch miteinander verbunden. Es ist nicht ersichtlich, dass der Telegraph lange Distanzen überwinden soll, die geographische Nähe auf dem Papier zeigt davon nichts. Dabei ist dies die zentrale Funktion des Apparates und damit auch größtes Werbemittel. Man kann sich leicht allerlei Dinge vorstellen, die eine solche Überwindung von Entfernungen in einer Zeichnung zeigen, dennoch ist nichts eingezeichnet, was darauf hinweisen könnte. Die Figuren stehen sogar – im Vergleich zu den Abständen zwischen den Figuren in Sheet 2 – sehr dicht beieinander, dies ist dann erstaunlich, wenn wir davon ausgehen, dass in einem Diagramm »Nähe und Ferne im Nebeneinander [...] die (fast) alles entscheidende Matrix [ist].«36 Auch liefert die Zeichnung keinerlei Hinweise auf das, was übertragen werden könnte. Es findet sich kein Hinweis auf mögliche Nutzungsszenarien wie z. B. die Übertragung von Eigentum – der Apparat wurde zu Börsentransaktionen oder dem Übertragen von Portraits verwendet – immerhin handelt es sich um einen Bildtelegraphen. Auch hier wäre es nicht schwierig gewesen, z. B. Bilder von Telegrammen in das Patentdiagramm zu integrieren. Außerdem verschweigt uns die Zeichnung die Größe und Schwere, die Haptik des Apparates, die ja eine entscheidende Besonderheit ausmacht. Die relative Größe der einzelnen (Seiten- und Vorderansichten, Draufsichten) Bauteile ist jedoch sichtbar, die Bauteile werden nicht vergrößert, sondern entsprechen der Größe, die sie auch in der Abbildung des gesamten Apparates innehaben. Da Größenangaben fehlen, kann natürlich auch die Größe der einzelnen Teile nicht nachempfunden, und weil die Teile nicht vergrößert sind, kann ihre Funktionsweise nicht nachvollzogen werden. Sybille Krämer geht davon aus, dass »[d]ie vorrangige Aufgabe von Diagrammen [...] keine Veranschaulichung von Objekten, sondern die Visualisierung von Relationen [ist].«37 Es scheint von Bedeutung zu sein, wie die Figuren zueinander stehen. »Peirce sagt, daß auch Diagramme [...] Ikone sind [...] weil sie Relationen wiedergeben, ›nicht aufgrund ihrer sinnlich wahrnehmbaren Ähnlichkeiten mit dem Objekt, sondern aufgrund von Analogie zu den Relationen zwischen dessen Teilen.‹«38 Die Nummerierung der einzelnen Figuren folgt einer inneren Logik, von rechts nach links sehen wir die Figuren 1, 2, 3, 4, unter den Figuren 3 und 4 in der rechten Hälfte der Zeichnung stehen nebeneinander die Figuren 5, 6, 7 und darunter nebeneinander die Figuren 7* und 36 37 38
Krämer 2009: 99. Ebd.: 107. Eco 1977: 138.
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9. Die Figur 8 fehlt auf Sheet 1 komplett, hier wird die innere Bildlogik durchbrochen. Die Figuren 5, 6, 7, 7* und 9 zeigen das gleiche Bauteil, die Schreib- bzw. Empfängertischchen, einmal von vorn, einmal von der Seite und einmal von oben. Erst bei der Vorderansicht und der Draufsicht wird deutlich, dass es sich um zwei Schreib- bzw. Empfangsflächen nebeneinander handelt. Hier ist erneut ein entscheidender Vorteil des Apparates an nicht sonderlich prominenter Stelle sichtbar: Der Apparat arbeitet multiplex, das heißt, es können zwei Nachrichten parallel gesendet bzw. empfangen werden. Außerdem kann die eingangs gestellte Frage beantwortet werden; die Frage nach der Präsentation des Apparates in der Zweidimensionalität: Die einzelnen Bauteile werden von (fast) allen Seiten gezeigt, aber eben nach- bzw. nebeneinander, als Einzelbilder. Figur 8 befindet sich auf der zweiten Seite der Patentzeichnung, Sheet 2, und zeigt eine Seitenansicht des Apparates samt Tischchen und Elektromagneten. Den Tischchen wird viel Beachtung geschenkt, obwohl ihre Bauweise in der Zeichnung nicht erkennbar ist. Dennoch wird klar, dass sie ein zentrales Element des Apparates darstellen. Sheet 2 beinhaltet Figur 8, die die linke Bildhälfte einnimmt, sowie rechts Figur 11 und darunter die Figuren 12 und 10 nebeneinander. Hier scheinen die Nummerierungen willkürlich gewählt zu sein, es ist nicht ersichtlich, warum Figur 10 rechts neben Figur 12 abgebildet ist, während sich Figur 11 darüber befindet. Diese drei Figuren sind keine Bauteile des Pantelegraphen, sondern zusätzliche Apparaturen und -teile, die sich an den Basisapparat anschließen lassen. Auch dies wird aus der Zeichnung nicht deutlich. Auffällig ist, dass einige Bauteile mehrfach dargestellt sind (Tischchen) und von anderen überhaupt keine Detailansichten vorhanden sind. So ist das Uhrwerk, das ja wesentlich zum Funktionieren des Apparates beiträgt, nicht einzeln dargestellt, sondern nur in der Ansicht des gesamten Apparates zu sehen (Fig.1 und 3). Die komplizierte Mechanik der Zahnräder wird nicht detailliert dargestellt und auch der Hebel T, der den Stromkreis schließt oder öffnet, und damit den Apparat in Gang setzt oder stoppt, wird nicht hervorgehoben. Betont wird jedoch die Haltevorrichtung in der Mitte des Telegraphen, der sich Figur 7* widmet. Die Detailansicht dient nicht dem Verständnis des Bauteils noch ist ersichtlich, warum gerade dieser Hebel betont wird. Zudem unterscheiden sich die Positionen der Annotationen von denen, die dasselbe Bauteil in den Figuren 2 und 4 zeigen. Es wird erneut klar, dass die Detailansichten nicht dem besseren Verständnis des Apparates dienen, sondern der Bildrhetorik geschuldet sind.
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Operatoren. Autorisiert sind beide Seiten der Patentzeichnung mit dem (falsch geschriebenen) Namen des Erfinders: »G. Casselli« und der Bezeichnung der Erfindung, nämlich »Telegraphic Apparatus« (mittig übereinander), sowie der Nummer des Patents: »No. 37,563« (links unten), der Anzahl der Seiten der Zeichnung und der Nummer der betreffenden Seite (»2 Sheets. Sheet 1« und »2 Sheets. Sheet 2«; rechts oben), und dem Hinweis: »Patented Feb. 3, 1863« (rechts unten). An der unteren Seite des Papiers finden sich Hinweise auf die Zeugen und noch einmal auf den Erfinder (diesmal richtig geschrieben), in gedruckter Schrift, der gleichen, die die ganze Patentzeichnung samt Annotationen aufweist. Unter der Überschrift »Witnesses« finden sich die (handschriftlichen) Unterschriften zweier Zeugen, unter »Inventor« das Autogramm Casellis und ein unleserlicher Zusatz, der mit »by« beginnt.39 Im Zentrum der paratextuellen Operatoren stehen dementsprechend Erfinder und Erfindung.40 Die Typographie der Paratexte unterscheidet sich von der, die sich innerhalb der Zeichnung befindet. Das weist darauf hin, dass die Zusätze von Mitarbeitern des Patentamts vorgenommen wurden. Es finden sich also drei Schrifttypen: die der Paratexte, die der Annotationen in der Zeichnung, sowie die der handschriftlichen Autogramme. Die Annotationen innerhalb der Zeichnung sind bei Sender- und Empfängerapparat nahezu identisch und bestehen aus Groß- und Kleinbuchstaben, sowie Pfeilen. Ziffern finden sich nur bei der Nummerierung der Figuren. Es fällt auf, dass einige Buchstaben doppelt vergeben sind: So steht M beispielsweise sowohl für einen Magneten als auch für eine Halterung, b' bezeichnet Schraube und Hebel, p' Drehachse und Holzkasten. Es müssen die einzelnen Buchstaben auch den einzelnen Figuren zugeordnet werden. Dass diese Doppelverwendung auf den Mangel an weiteren Buchstaben zurückzuführen ist, ist unwahrscheinlich, denn Caselli arbeitet, wie gesagt, mit Klein- und Großbuchstaben sowie mit Ziffern und hätte sich auch Buchstaben anderer Alphabete bedienen können. Die Annotationen sind frei gewählt und stehen in keinem Zu39
40
Am Ende des Patenttextes findet sich erneut ein Hinweis auf die Zeugen, die mit Geo. Hutton und David Fuller benannt sind. Diese Namen sind erstaunlicherweise nicht identisch mit denen, die sich auf der Patentzeichnung finden. »Operationen, die sich schlichtweg nicht sprechen lassen, sind nach Derridas Analyse alle Ränder eines Textes: vom Titel über das Motto bis zur Fußnote. Als allgemeine Bedingung solcher Abstandnahme, die auch immer dann mitgelesen werden muß, wenn nichts geschrieben steht, haben sich dabei die Anführungszeichen erwiesen. Sie sind Operatoren der Schrift.« (Kittler 1993: 150).
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sammenhang mit dem Teil des Apparates, den sie benennen. Einzig die annotierten Pfeile sind ohne den Text verständlich, sie weisen auf eine mögliche Bewegung hin. Wieder einmal zeigt sich, wie wichtig das Moment der Bewegung in der Zeichnung ist.
Schlussüberlegung Die bereits zitierten »Operationen, die man am Bild ausübt« wie die Wahl der Figuration, der Annotationen und Operatoren, sind von zentraler Bedeutung: Durch die Rhetorik des Diagramms, die das Denken eines Erfinders in das Diagramm einschreibt, und dessen Beobachtung kann neues Wissen entstehen. Ich habe in diesem Text zu zeigen versucht, welche spezifischen rhetorischen Momente sich in einem einzigen Patentdiagramm ausmachen lassen, um zu zeigen, dass es nicht erst einen Vergleich mit anderen Patentzeichnungen braucht, um zu sehen, welche Ideen hervorgehoben werden. Wenn man darüber hinaus die Weiterentwicklungen des Patentdiagramms von 1863 analysierte, könnte man natürlich beobachten, wie sich die Rhetorik des Diagramms weiterentwickelt und verfolgen, ob der Erfinder Bauteile im Laufe der Zeit verschwinden lässt oder besonders betont. Aber das ist eben eine andere Geschichte.
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Abbildungen Abb. 1: NAP und PAN. In: Bata, Philippe/Carré, Patrice A. 1985: Presse, Photographie et Télécommunication de 1850 à 1940. In: Télécommunications, 56 (September 1985). S. 56. Abb. 2: Improvement in Caselli, Giovanni 1863: US 37.563, Sheet 1. In: Telegraphic Apparatus. Patentschrift US 37.563.
ALBERT KÜMMEL-SCHNUR
Vom Nutzen und Nachteil der Simulation. CAD-Rekonstruktionen historischer Apparate
Von der Schwierigkeit, Apparategeschichte zu schreiben Die berühmte historische Distanz besteht darin, dass von hundert Tatsachen fünfundneunzig verlorengegangen sind, weshalb sich die verbliebenen ordnen lassen, wie man will.1
Wer Geschichte schreibt, muss enttäuschungsresistent sein. Sie oder er muss damit leben können, dass jede Antwort nur zu weiteren Fragen führt und die allermeisten Spuren sich als Sackgassen erweisen. Diese Erkenntnis ist trivial. Dennoch lohnt es sich, hin und wieder daran zu erinnern. Gerade Mediengeschichte wird gern mit großem Gestus geschrieben – da werden Entwicklungslinien vom Buchdruck zum Computer aufgezeichnet, ausgewachsene Galaxien (Gutenberg- oder Turing-) voneinander unterschieden, Jahrhunderte (und zwar je exakt 100 Jahre) als radikal differierende Aufschreibesysteme beschrieben, informationstheoretische Thesen zur Interpretation von Quellenmaterial des 19. Jahrhunderts verwendet, dem Geschichtsverlauf apriorische Regelsätze unterstellt und die Kontingenzen bloßer Gleichzeitigkeit im Namen einer höheren Logik mit der Formel Es ist kein Zufall, dass exorziert. Musils eingangs zitierte These enthält eine doppelte Warnung: Einerseits möge man das Übriggebliebene nicht mit dem Ganzen verwechseln, andererseits die kombinatorische Offenheit oder auch Beliebigkeit eben dieser Reste bedenken. Für die Mediengeschichte bedeutet die konsequente Verfolgung dieser Vorsichtsmaßnahmen eine radikale Beschränkung auf die Kartographie von Scherbenstreuungen. Die Scherben eines medienarchäologischen Vorgehens sind die konkreten historischen Apparate. Sie sind jene Materialitäten der Kommunikation, von denen jede Mediengeschichtsschreibung ihren Ausgang nehmen muss – auch und gerade dann, wenn sie sich nicht auf diese Apparate beschrän1
Musil 1978: 1076.
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ken will. Denn nur am je konkreten historischen Apparat lassen sich diejenigen Unterscheidungen treffen, die einen Moment der Vergangenheit von einem anderen trennen: differences that make differences. Doch was ist ein Apparat? Diese Frage möchte ich mithilfe der agency-Theorie des britischen Sozialanthropologen Alfred Gell beantworten. Gell hat Ende der 1990er Jahre eine Kunsttheorie skizziert, die in der Lage sein soll, jede Form menschlicher Kunstproduktion unabhängig von ihrem soziokulturellen Kontext zu adressieren, ohne jedoch genau diesen Kontext zu ignorieren. Gell macht den Vorschlag, von ästhetischen Kategorien abzusehen und Kunstwerke als Indices aufzufassen, die auf eine agency, also Handlungsmacht oder -potenzial, verweisen und diese bzw. dieses auch transportieren. Eine Handlung ist eine zweiwertige Beziehung, die einen handelnden Akteur zu einem behandelten Patienten ins Verhältnis setzt. Trotz dieser binären Struktur lassen sich die aus einem als Index aufgefassten Artefakt ableitbaren Handlungspotenziale jedoch nicht auf zwei Relata begrenzen. Vielmehr offenbaren agency-Analysen ganze Ketten von Agent-Patientenbeziehungen, in die ein einzelner Index verstrickt ist bzw. die er als Kette überhaupt erst organisiert. So ist zwar der Satz »Leonardo da Vinci hat die Mona Lisa gemalt.« wahr und zeugt von einer eindeutigen Beziehung zwischen Agent (Leonardo da Vinci als Künstler) und Patient (Mona Lisa als Bild dieses Künstlers). Das Gemälde wiederum zieht täglich Heerscharen von Betrachtern in den Bann; es ist also ein Agent, der Museumsbesucher zu Patienten macht. Man muss die Analyse jedoch weitertreiben: Zunächst hat ja die reale Lisa del Giocondo auf den Künstler inspirierend gewirkt – die Frau, die das Gemälde »Mona Lisa« porträtiert, ist also Agentin im Verhältnis zum Künstler-Patienten Leonardo. Alfred Gell beharrt jedoch zu Recht darauf, dass wir die Mona Lisa heute ja nicht aufgrund ihrer Qualitäten als Porträt von Lisa del Giocondo, die die meisten Betrachtenden gar nicht kennen dürften, bewundern, sondern aufgrund eben jener Qualitäten, die dem Bild selbst eignen, die also auf die außergewöhnlichen Fähigkeiten des Malers Leonardo da Vinci verweisen. Man könnte also sagen, was uns heute noch an der jungen Frau aus dem 15. Jahrhundert fasziniert, ist das, was Leonardo in ihr sah bzw. an ihr sehen lässt. »Leonardo is seen as responsible for the Mona Lisa’s appearance, or at least, what is fascinating and compelling about her appearance from the patient/recipient’s point of view«.2 Dieser Ausflug in die Kunstgeschichte hat verdeutlicht, dass ein Index auf mehr als eine einfache zweiwertige Beziehung verweist und dass 2
Gell 1998: 53.
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im Geflecht der Bezüge Agent und Patient immer wieder die Plätze tauschen. In eben dieser, vielleicht sogar noch stärkeren Weise lassen sich technische Apparate bestimmen. Sie sind weit mehr als nur die funktionalen Zusammenstellungen technischer Einzelteile, von Schrauben und Klemmen, Ebonitschalen und Messingzahnrädern, elektrischen, optischen und akustischen Signalen. All diese Teile werden ja nur zu einem Ganzen zusammengeführt, um bestimmte Handlungen zu ermöglichen, also bestimmte Akteur-Patientenbeziehungen zu triggern. Dabei ist nur ein kleiner Teil der beteiligten Akteure und Patienten menschlich. Der weitaus größte Teil der beteiligten Handlungspartner ist nicht menschlich, meist, wenn auch keineswegs immer, nicht einmal belebt. Dennoch muss eine Auffassung des Handlungskollektivs Apparat, die sich auf sein technisches Funktionieren beschränkt und es nicht als Teil einer kulturellen Praxis, als Kulturtechnik begreift, notwendigerweise defizitär bleiben. For instance: here before me is this boiled egg. What has caused this egg to be boiled? Clearly, there are two quite different answers to this – (i) because it was heated in a saucepan of water over a gas-flame, or (ii) because I, off my own bat, chose to bestir myself, take the egg from its box, fill the saucepan, light the gas, and boil the egg, because I wanted breakfast. From any practical point of view, type-(ii) ›causes‹ of eggs being boiled are infinitely more salient that type-(i) causes. If there were no breakfast-desiring agents like me about, there would be no hens’ eggs (except in the South-East Asian jungle), no saucepans, no gas appliances, and the whole egg-boiling phenomenon would never transpire and never need to be physically explained. So, whatever the verdict of physics, the real causal explanation for why there are any boiled eggs is that I, and other breakfasters, intend that boiled eggs should exist.3
Kollokationen nicht menschlicher, technischer Einzelteile gibt es nicht deshalb, weil es möglich ist, einzelne Bauelemente – Zahnräder und Selenzellen – auf diese oder eine andere Art zur Zusammenarbeit zu bewegen, sondern weil Menschen genau diese Form von Zusammenarbeit zur Erreichung eines Zwecks wünschen. Damit ist nicht gesagt, dass Menschen immer oder auch nur hauptsächlich die Rolle des Handelnden in diesen Netzwerken einnehmen. Oft genug wird z. B. darauf verwiesen, dass sich durchschnittliche Computernutzende zu Subjekten von Programmarchitekturen machen, die sie nicht verstehen.4 Das ist richtig. Genauso richtig ist jedoch, dass 3 4
Ebd.: 101. Vgl. Kittler 1996.
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auch diese Programme, deren Subjekt ich bin, wiederum von anderen Menschen geschrieben wurden. Die Programmierenden wiederum sind Subjekte unternehmerischer Vorgaben. Diese müssen sich im Rahmen von finanziellen Möglichkeiten, rechtlichen Bedingungen und sozialen Befehlen bewegen, usw. usf. Das heißt: Eine Auffassung apparativer Konstruktionen am Leitfaden einer agency-Theorie führt nicht zurück zur simplen Annahme, sie seien bloße Instrumente oder Erweiterungen der menschlichen Gliedmaßen und Sinnesorgane. Menschen als Subjekte werden nicht reinstalliert, um allen anderen beteiligten Subjekten Handlungsmacht und Daseinsrecht abzusprechen. Wenn wir einen Apparat als zentralen Index in einem Netzwerk von Handlungsbeziehungen auffassen, stellen sich die Anschlussfragen: »Was ist ein Apparat?« und »Wo fängt er an, wo hört er auf?« Kann man einen Apparat als Objekt noch trennscharf von seiner Umgebung unterscheiden, wenn man ihn als Übertragungsmedium von agency in einem Handlungsnetzwerk aus vielen Akteuren und Patienten deutet? Wenn man in ihm gar kein Objekt, keinen Gegenstand mehr sieht, sondern vielmehr die Fähigkeit, Handlungen zu visualisieren, zu organisieren und zu initiieren? Ist der Apparat als abgeschlossene, gegenständliche Einheit von dem System zu trennen, dessen Teil er ist? Wo endet der Blinde, fragt Gregory Bateson, an seinen Fingerspitzen oder am Ende seines Blindenstocks? Ist Holzfällen die Handlung eines Menschen mit einer Axt, fragt er weiter, oder ist Holzfällen ein rückgekoppeltes System aus Holzfäller, Axt und Baum?5 Radikal vermittelt das Beispiel des Telefons das Problem: Ein einzelnes Telefon ohne Anschluss an ein Netz anderer Telefone sowie die Verbindung zu Zusatzgeräten, Menschen, Institutionen und Instruktionen, die dieses Netz ausmachen und am Laufen halten, macht keinen Sinn. Ein Telefon ist kein Telefon. Bruno Latours Theorie der Akteurskollektive adressiert diesen Fragekomplex. Latour zufolge ist ein Apparat ein fest verschaltetes Kollektiv technischer, sozialer und diskursiver Akteure. Latour nennt ein solches Kollektiv Blackbox. Um ein Ziel zu erreichen, das sich außerhalb des Rahmens seiner Handlungsmöglichkeiten befindet, muss sich ein Akteur mit anderen Akteuren verbinden, muss mobilisieren, delegieren, Kompromisse und Koalitionen eingehen. Diese Koalitionen können sehr instabil und flüchtig sein: Ein Mensch nimmt ein Stück Kreide und schreibt etwas an eine Tafel. Drei Akteure: ein Mensch mit Hand und beweglichem Daumen, ein zum Schreibutensil geformtes Stück Kalk und eine Schreibfläche – dazu vielleicht noch ein Lappen, das Geschrie-
5
Am klarsten dargestellt in Bateson 1996.
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bene wieder auszuwischen. Dieses Kollektiv hält nicht sehr lang; es löst sich auf, sobald der Tafelanschrieb beendet ist. Apparate sind Kollektive, die voneinander unabhängige Akteure fest miteinander koppeln, um neue apparative Einheiten zu bilden. Jeder einzelne Akteur wird zugerichtet auf die Rolle, die er im Kollektiv spielen soll – das bedeutet eine Einschränkung, gegebenenfalls sogar eine Veränderung seines ursprünglichen Handlungspotenzials. Doch wie viele Akteure müssen zusammenkommen, um einen Apparat zu bilden? Latour antwortet, das käme auf die Perspektive an. Genau hier liegt das Problem: Die Akteurskollektive, die Latour beschreibt, sind virtuell unendlich groß. Es lässt sich einfach nicht sinnvoll begründen, warum ein bestimmter Akteur noch dazuzählen soll, ein anderer jedoch nicht mehr. Genau hier liegen, mit einem Ausdruck von Erhard Schüttpelz, die »Schwierigkeiten des Denkens in Operationsketten«.6 Für Latour besteht diese Schwierigkeit nicht – die Kollektivgröße bestimmt sich am Leitfaden des Ereignisses Störung. Die Größe des Kollektivs ist variabel – sie bestimmt sich fallweise. Auf dieser Grundlage lässt sich jedoch keine historische Kollektivanalyse durchführen.7 Diese versucht, das Zusammenspiel der an einem Apparat beteiligten Akteure zu rekonstruieren, um das, was ein technisches Gerät zu sein schien, als Ereignis eines Handlungszusammenhangs, den man Kultur zu nennen gewöhnt ist, zu deuten. Eine solche Analyse wird natürlich das funktionale Zusammenspiel der technischen Teilakteure zu erläutern versuchen. Dabei kommt sie jedoch nicht um eine erläuternde Beschreibung der beteiligten Materialien herum, der sozialen Akteure, die diese Materialien herstellen und/oder formen sowie, um die Reihe abzukürzen, der Moden, denen sie unterworfen sind, und politischen Diskurse, die sich ihnen einprägen. Wie begrenzt man dieses Netzwerk so, dass nicht jede Analyse notwendigerweise zu einer history of everything verkommen und damit entweder oberflächlich oder einfach unschreibbar werden muss? Eine Möglichkeit wäre, die Geschichte selbst als Störung des Apparats zu begreifen. Was eine Einheit war oder schien, ist schon durch ihr bloßes Vergangen-Sein abgeschnitten von jenem lebendigen Netzwerk, das in seiner ausufernden Fülle kaum domestizierbar scheint. Nicht mehr als fünf Prozent, sagt Musil, bleiben übrig von der Zeichenproduktion vergangener Zeiten.
6 7
Schüttpelz 2008. Zu den Möglichkeiten und Schwierigkeiten einer ANT-Mediengeschichte vgl. Kassung/Kümmel-Schnur 2008.
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Man könnte natürlich auch die historische Analyse selbst als die Störung auffassen, die die endlos wuchernde Rhizomatik einhegt. Wer seine Fragen präzise genug stellt, bekommt nur einen kleinen Teil des Quellenmaterials überhaupt zu Gesicht. Richardsons Indicator kann in einer Geschichte der Dampfmaschine, der maschinellen Selbstaufzeichnung oder aber der Ökonomisierung der Kategorie Arbeit auftreten.8 Beide Probleme hängen zusammen: Das für bestimmte Apparate und Epochen stark begrenzte Material definiert, auf welche Fragen überhaupt Antworten zu erwarten sind. Nehmen wir Schickards Rechenuhr als Beispiel. Bernhard Dotzler beginnt seine Archäologie der Papiermaschine, die den Namen Computer trägt, mit der Frage der Überlieferung dieses angeblich ersten Apparats. Die Pointe seiner Analyse liegt darin, dass von diesem Urcomputer nur noch zwei briefliche Beschreibungen sowie eine grobe Skizze existieren. Der Rest ist »bei einer plötzlich […] ausgebrochenen Feuersbrunst […] verbrannt.«9 Vom allerersten Rechner ist also nichts als eine gezeichnete Maschine übrig geblieben, die Dotzler »Papiermaschine« nennt. Geschichte ist eine Flaschenpost, und nur wenige Botschaften kommen unbeschadet an ihr Ziel. Was also tun? Wie soll man den Scherbenhaufen Apparat kartieren, wenn nicht einfach die materiellen Überbleibsel, sondern das Aktantennetz, dem sie angehörten und das sie (mit)organisierten, einen Apparat ausmachen? Soll man sich wirklich, wie Dotzler vorschlägt, begrenzen auf das, was man hat? Und: Hält sich Dotzler – und jeder andere, der diesen strikten Maßstab anlegt – selbst daran? Kann er sich überhaupt daran halten? Meine Antwort ist ein klares Nein: Auch Bernhard Dotzler geht weit über die selbst gesteckte Begrenzung der Benennung eines Clusters verstreuter materialer Rückstände hinaus. Er arbeitet mit der Vorgabe Papiermaschine sowie der Definition Algorithmus = Communication + Control und dem von Walter Benjamin geborgten methodologischen Instrument des Aus-sich-Herausträumens.10 Wo technische Implementierungen auf sich warten lassen, übernehmen andere Praktiken die Arbeit: So arbeite, Dotzler zufolge, etwa die Literatur des 18. und 19. Jahrhunderts die für spätere Computer zentralen algorithmischen Steuerungskonzepte aus, die die zeitgleiche Technik noch nicht umsetzen konnte. Sie wird Vor8
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Er kann auch auftreten in einer Geschichte der Schwierigkeiten, zwei bildübertragende Apparate miteinander zu synchronisieren. Vgl. hierzu Kassung/Kümmel 2003. Schickard zitiert in Dotzler 1996: 12. Narrativ lässt sich so wunderbar ein Bogen spannen von der historisch ersten zur historisch späteren, grundsätzlichen Lösung des Problems Rechenmaschine.
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Bild: »Es übernimmt die Maschine […] die Funktionen, die Universalpoesie dichterisch erfand.«11 Der Literaturwissenschaftler Dotzler argumentiert also einerseits für eine Wissensgeschichte, die disziplinäre Trennungen zwischen technischem, sozialem und diskursivem Wissen nicht akzeptiert. Auf diese Weise kann die sogenannte klassische Literatur zum Teil der Technikgeschichte werden. Andererseits homogenisiert Dotzlers einseitige Fixierung auf Papier als Trägermedium und Diskurs in Form von Text – selbst dort, wo Apparate besprochen werden, liest Dotzler Texte über Apparate und nimmt sich nicht des eigenwilligen Materials jener Reste an, die er wiederum als »Monumente« feiert und vor jeder Form rekonstruierenden Zugriffs schützen will: Inzwischen gibt es Nachbildungen, gewiß: Von Schickards Rechen Vhr […] bis hin […] zu Rekonstruktionen von Konrad Zuses erstem Computer Z1 […] und zuletzt sogar […] Charles Babbages Difference Engine. Aber solche Nachbildungen sind sämtlich Effekt und Effektor einer musealen Perspektive, und diese, weil sie ihrem Attribut zum Trotz eher an einer lückenlosen Präsentation oder gar noch Verlebendigung als an erratischen Monumenten ihr Interesse hat, verdeckt nur die Ausfälle und Einbrüche einer Geschichte, die unter dem Stichwort Computer ihren vereinheitlichenden Sachtitel einzig deshalb haben kann, weil das eine Wort […] eben doch alles andere als eine Sache umfasst.12
In eben dem Maße, in dem Dotzler völlig zurecht auf der historischen Uneinheitlichkeit des Gegenstands seiner Untersuchung beharrt, verspielt er diese Erkenntnis wieder, indem er ausschließlich Textzeugen zur Beweisaufnahme zulässt.13 Zitiert werden Notizbücher von Restauratoren, die Apparate selbst jedoch nicht in Augenschein genommen. Und obwohl technische Skizzen und Konstruktionszeichnungen, die ja durchaus ins Paradigma Papiermaschine fallen, auftauchen, werden sie als Maschinen sui generis nicht ernst genommen, sondern auf das – Turing’sche – Konzept von Papiermaschine hin gelesen.14 11 Dotzler 1996: 45. 12 Ebd.: 12. 13 Am deutlichsten wird dieser blinde Fleck in dem Kapitel »Ausprobieren – Konstruieren – Programmieren«. (Ebd.: 526–537). 14 Wie ein solcher Blick aussehen könnte, hat Steffen Bogen (2006) in einer leider noch immer unpublizierten Habilitationsschrift ausführlich vorgeführt. Einen Eindruck seiner Vorgehensweise erhält man in Bogen 2009. Dort zeigt er, wie die in der Realität intendierten Operationen der Maschinen des Sieneser Ingenieurs Mariano di Iacopo, genannt Taccola, zunächst Operationen am und auf dem Zeichenpapier darstellen: punktieren, linieren, radieren.
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Der Vorschlag, den ich machen möchte, lautet darum: Apparategeschichte muss transdisziplinär informiert und multiperspektivisch geschrieben werden. Die agency-Theorie Alfred Gells und die AkteurNetzwerktheorie Bruno Latours geben Leitfäden vor, anhand derer sinnvoll ein Bild historischer Apparate – in aller Begrenztheit, aller Fragmentierung – gezeichnet werden kann. Das Konzept der Operationskette mit ihrer Abfolge ganz unterschiedlicher Aktantentypen definiert, wann welche Disziplin befragt und wann welche Interpretationsmethode eingesetzt werden kann oder muss.
Von der Schwierigkeit, ein Patent zu lesen Patentschriften sind hoch standardisierte Texttypen, die einen beschreibenden Text häufig, jedoch keineswegs immer, mit einem das Beschriebene ergänzenden und komplettierenden Diagramm kombinieren.15 Beides ist manchmal – z. B. in den USA von 1790 bis 188016 – noch auf ein dreidimensionales, funktionstüchtiges Modell bezogen. Kunstvoll werden diese drei unterschiedlichen Medien im Rahmen eines ebenfalls hoch formalisierten Antragsprozesses, zu dem zu bestimmten Zeiten auch die öffentliche Vorführung des Erfundenen gehörte, aufeinander bezogen. Patente sind per definitionem öffentliche Texte: Im Lateinischen bedeutet patens »›offen, frei‹, auch ›unversperrt, offenbar‹«.17 Der Preis für den Erhalt eines staatlichen Schutzrechtes liegt in der Offenlegung der Erfindung. Das war schon der erklärte Grund für die Erteilung eines der ersten Patente überhaupt: »We know that an early grant, aimed at introducing a new industry to England, was made by Henry VI in 1449 to John of Utynam for making coloured glass for Eton and other college chapels. It was for 20 years.«18 Eigentlich ist das 15
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Die Verpflichtung, die zu schützende Erfindung auch in einem Fließtext zu beschreiben, entwickelt sich erst im Laufe der Geschichte (in England z. B. wird die Beschreibung ab 1623 Pflicht). Eine dazugehörige Zeichnung ist hingegen in ganz Europa – im Unterschied zu den USA – bis heute optional. Vgl. Wikipedia-Kollektiv, englisch 2010a. Vgl. Wikipedia-Kollektiv, englisch 2010b. Schamlu 1985: 37. Dulken 1999: 2. Wie Davenport (1979: 18) betont, intendierten bereits königliche Erlasse, die die Zunftregeln umgingen und fremden Handwerkern die Ausübung ihrer Kunst auf englischem Boden ermöglichten, die Beschleunigung der ökonomischen Entwicklung.
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Patent also ein Paradox, das widerstrebende Interessen durch das Versprechen der Einklagbarkeit eines wirtschaftlichen Alleinnutzungsanspruchs19 zu verknüpfen versucht.20 Der Staat möchte auf dem Gebiet seines Einflusses open access, freie Zugänglichkeit neuer Ideen und verspricht sich davon die Beschleunigung erfinderischer Tätigkeit zum allgemeinen Nutzen. Der Erfinder wiederum investiert Zeit und Energie, um möglichst lange einen individuellen ökonomischen Vorteil aus dem Wissensgefälle, das ihn von seiner Konkurrenz trennt, zu ziehen. Wer immer etwas erfindet, möchte auch das Aufholen der Konkurrenz verhindern, also den Wissensabstand wahren, um auch die Weiterentwicklung der Erfindung selbst kontrollieren und monopolisieren zu können. Gleichzeitig sind ohne Austausch mit Gleichgesinnten – moderne Unternehmen versuchen, diese Kommunikation in Form von Entwicklungsabteilungen nach innen zu verlegen – der Entwicklungsgeschwindigkeit enge Grenzen gesteckt. Und schließlich können einmal erteilte Patente »ein Hemmnis für die freie Wirtschaft« bilden:21 Gerade größere Unternehmen mit potenter Rechtsabteilung können die Intention des Patentschutzes umkehren und ihn in eine Waffe gegen den allgemeinen wirtschaftlich-technischen Fortschritt verwandeln. Patentschriften werden zum Austragungsort dieser widerstrebenden Ansprüche und zu Spielräumen ihrer je individuellen Aushandlung. Nicht zuletzt das intermediale In-, Mit- und Nebeneinander von Text, Bild und dreidimensionalem Modell kann genutzt werden, um Dinge zu zeigen, aber nicht zu sagen oder umgekehrt. Um, mit anderen Worten, das Schutzrecht zu erhalten, ohne jedoch alles Schützenswerte der immerwachen Konkurrenz bereits preiszugeben. Historisch verschärft sich gerade dieses Problem immer dann, wenn zwischen Einreichung des Patents und der Verleihung der Schutzrechte ein größerer Zeitraum vergeht, da hier unberechtigter Einsicht und Vorteilsnahme ein Handlungsspielraum gegeben wird.
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Verschiedentlich wird in der Literatur auf die ausschließlich negative Wirkung des Patentschutzes aufmerksam gemacht. Ein Patent »does not, as may people think, give the owner a positive right to use the invention. It could not do so because if the invention were an improvement in one already patented by someone else, it could only be used by agreement with the owner of the earlier patent.« (Davenport 1979: 13). 20 Mariam Schamlu trägt die unterschiedlichen historischen Begründungen für einen Erfindungsschutz – Lehre vom geistigen Eigentum, Belohnungs- und Ansporntheorie sowie die Vertrags- oder Offenbarungstheorie – knapp zusammen (1985: 39–42). Sie folgt dabei im Wesentlichen dem »Lehrbuch des Patentrechts« von Wolfgang Bernhard. 21 Schamlu 1985: 38.
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Many inventions were not patented. Reasons could include: ignorance of the patent system; mistakes in the application procedure; lack of patentability; lack of money or perceived business opportunities […]; or a desire to keep the invention a trade secret rather than reveal how it worked.22
Stephen van Dulken weist auf die Möglichkeit einer dynamischen Verteilung von Information auf »specification«, also der vollen Patentbeschreibung, und »abridgment«, einer Zusammenfassung des Patentinhaltes, die vom Patentamt selbst bzw. in seinem Auftrag hergestellt wurde, hin:23 Although, the specifications theoretically have more information than the abridgments, the latter occasionally gave extra information […]. Alternatively, the abridgments make clear information that might not have been readily apparent. For example, the abridgment for GB 381931 (1932) states that the provisional application described something not mentioned in the complete specification. A reader might have ignored the provisional in favour of the apparently fuller, complete specification. In addition, the abridgement often referred to other specifications, because either the Patent Office or the applicant thought them relevant.24
Patente stellen also besondere Anforderungen an genaue Lektüren – ein schönes Beispiel für diesen Umstand bringt Johannes Grafs Analyse eines Uhrenpatents von Alexander Bain.25 Er verweist auf das offene Versteck eines zentralen Schiebereglers, ohne den Bains Uhr nicht funktionieren kann: Dieser Regler ist zwar auf der Zeichnung zu sehen, wird im Text jedoch nicht erwähnt. Patente argumentieren also sowohl explizit als auch implizit und unterliegen dementsprechend rhetorischen Regeln.26 Was genau Argumentationsziel ist, hängt von den jeweiligen historischen, juristischen und prozeduralen Patentierungsregeln ab.27 22 23 24 25
Dulken 1999: 20. Vgl. ebd.: 173. Ebd.: 51. Siehe dazu den Text von Johannes Graf »Steinheils Waage, Bains Schieber, Hipps Taster. Zur Genese des Schalters bei Elektrouhren 1840– 1860« in diesem Band. 26 Siehe dazu den Text zur Bildrhetorik eines Pantelegraphen-Patents Giovanni Casellis von Julia Zons in diesem Band. 27 Marium Schamlu (1985: 56) nennt z. B. auf Basis des bundesdeutschen Patentgesetzes von 1980 Neuheit, Herkunft aus erfinderischer Tätigkeit und gewerbliche Einsatzfähigkeit als drei Kriterien der Patentfähigkeit einer Erfindung. Davenport (1979: 13) nennt vor dem Hintergrund des britischen Patentrechts ähnliche Bedingungen: »the specification must only claim matter which is new and inventive in the light of what was previously known«. Simone Wartas Beitrag in diesem Band zeigt deutlich, wie
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Dementsprechend bilden Erscheinungsform, textuelle Register und intermediale Strategien auch den Prozess ab, in dessen Ablauf sie entstehen. So enthalten die frühesten technischen Patente (patents of invention) keinerlei konstruktive oder funktionale Erklärungen – »they simply affirmed the privileges of the applicant«.28 Ein ganz zentrales Interpretationsproblem ist, dass – insbesondere außerhalb der USA, wo working models ein unabdingbarer Teil des Patentantrages waren – aus Patentschriften nicht zu entnehmen ist, ob die durch sie geschützten Erfindungen je gebaut wurden »whether as a prototype or by being put into production«.29 Patentierte Maschinen sind, darauf könnte man sich deshalb mit Bernhard Dotzler berufen, eben zunächst und vor allem gezeichnete Maschinen, Diagramme, Papiermaschinen. Und häufig ist es äußerst schwierig zu bestimmen, ob die entsprechende Erfindung denn überhaupt hätte funktionieren können. Dennoch greift es zu kurz, die Frage der Funktionstüchtigkeit aus der Patentinterpretation herauszulassen oder sich für diese nicht zuständig zu erklären. Ohne Bezug auf die tatsächliche Herstellung von Maschinen oder die Einführung von Verfahren macht das Patentwesen als Ganzes keinen Sinn. Es würde künstlich herausgenommen aus dem Kontext seiner Existenzlegitimation. Patente sind Handlungen, die ihre Bedeutung in der sozialen Konstruktion des (technisch) Neuen erfahren und außerhalb dieses operativen Zusammenhangs vielleicht nicht wert-, aber dennoch nutzlos sind.30 Man könnte also den Auftrag von Patentschriften als Paradox des Ineinanders der Offenlegung und Geheimhaltung von Informationen in ein und derselben Handlung definieren. Das intermediale Argumentationsgewebe von Text, Bild und working model muss eine doppelte Adressierungsleistung erbringen. Einerseits sollten sich die Teile wechselseitig stützen. Das ist die legitimatorische Funktion. Die Patentschrift muss zumindest den Eindruck erwecken, einen tatsächlich funktionierenden Apparat zu beschreiben oder aber innerhalb einer gegebenen Frist einen solchen konstruieren zu können.31 Dazu muss die Patent-
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stark die Meinungen über die Bedingungen und Grenzen des Patentierbaren in konkreten historischen Situationen auseinanderdriften können. Dulken 1999: 51. Ebd.: 53. Sie wären dann also bloß Kunst – siehe dazu den methodischen Beginn des Textes von Steffen Bogen in diesem Band. Vgl. zum Problem der Funktionstüchtigkeit auch die Darstellung des deutschen Patentrechts im Aufsatz von Christian Kassung in diesem Band. Im amerikanischen Patentrecht gab es das sogenannte caveat, das einem Erfinder eine Frist zur geschützten Entwicklung einer noch nicht ganz funk-
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schrift jedoch erst einmal hoch selbstreferentiell sein: Textteile und Beschriftungsbuchstaben und -zahlen wie Graphiken und gegebenenfalls Miniaturmaschinen müssen ein geschlossenes Verweissystem bilden, das für einen Lesenden nachvollziehbar ist – und zwar buchstäblich mit dem Finger auf dem Papier.32 Vor welche Schwierigkeiten sich der Versuch einer diagrammatischen Lektüre von Diagrammen gestellt sehen kann, zeigen exemplarisch zwei in Deutschland publizierte Stahlstiche des Aufrissdiagramms eines Bain’schen copying telegraph aus dem Jahr 1850, der nicht patentiert wurde.33 Bains Zeichnung im »Mechanics’ Magazine« visualisiert exakt das, was der Text vorgibt: »The axle of the bevil wheel d3 is continued through the back frame of the instrument«. […] Die Stahlstiche in »Dingler’s Journal« wie auch in der 1863 erschienenen Monographie »Die Anwendung des Elektromagnetismus mit besonderer Berücksichtigung der Telegraphie« von Julius Dub gleichen den Originalen vollkommen, bis auf ein winziges Detail: eben genau dieses Verbindungsstück zwischen Antriebsachse und rückwärtiger Hemmung. War hier ein Zufall voller Hintersinn am Werk oder hat ein deutscher Ingenieur schlichtweg diejenigen Teile »abgeklemmt«, die sowieso nicht funktionierten? […] Selbst auf der Ebene der Zeichnungen und deren reiner Beschreibung werden diese Fragen gestellt.34
Schon 1844 verzweifelt Heinrich Schellen am Versuch, einen Bain’schen »Electric Printing Telegraph«, der »fast sämtliche Geräteteile, die Bains Uhrmacherwerkstatt hergab«,35 vereinte, korrekt zu beschreiben: »Ihre
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tionstüchtigen Idee gab. Während der Geltungszeit eines solchen Vorbehalts konnte niemand anderes ein Patent auf eine durch diesen Vorbehalt geschützte Erfindung erhalten. Unter Umständen kann ein solcher Vorbehalt jedoch auch gegen den ursprünglichen Einreicher wirken – siehe dazu etwa die genaue Untersuchung des einträglichsten Patents der Weltgeschichte, des Telephonpatents von Alexander Graham Bell, durch Seth Shulman (2008). Entsprechend argumentieren Steffen Bogen, Thomas Hensel und Julia Zons nachdrücklich für den rhetorischen Eigenwert der Patentzeichnungen vor und jenseits jeden Anwendungshorizontes. Eugen Ferguson (1993) stellt die Fähigkeit zur imaginativen Visualisierung als eine zentrale Qualität des Ingenieurberufes von seinen historischen Anfängen in der Renaissance bis zur Gegenwart heraus. Siehe zu dieser Zeichnung Kümmel-Schnur 2012 sowie den Beitrag von Simone Warta in diesem Band. Kassung 2007: 357f. Ebd.: 336.
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Construction ist aber so complicirt, dass eine Beschreibung aller Theile zu viel Raum einnehmen würde.«36 Die zweite Adressierungsleistung einer Patentschrift richtet sich nach außen: Der Text muss ja reale technische Zusammenhänge und Gesetzmäßigkeiten im Sinn haben. Er genügt sich eben nicht selbst, sondern kommt aus technischen Handlungszusammenhängen und zielt auf die Veränderung dieser Zusammenhänge ab. Aufgrund der gleichzeitigen Anforderung, offenzulegen und geheimzuhalten, sind Patente jedoch keine Bauanleitungen. Maßangaben fehlen grundsätzlich. Oft geht aus den Patentschriften nicht einmal eindeutig hervor, welche Materialien verwendet werden sollen. Die Aufgabe, einen Ort auf einer kleinen flachen Karte zu finden, setzt vorraus, dass das innere Auge die in drei Dimensionen der Wirklichkeit erfahrenen Formen abändert, um das, was das optische Auge sieht, mit dem in Einklang zu bringen, was die Karte sagt.37
Was Ferguson als Schwierigkeit in der Nutzung von Karten beschreibt, gilt für alle Formen operativer Bilder. Im Unterschied zu anderen Bildern erschließen sie sich nicht in der versenkenden Betrachtung, sondern sind auf Handlungen auf dem Bild und mit dem Bild angewiesen. Gerade jedoch die Übersetzung von zweidimensionalem, statischem Bild in dreidimensionale, dynamische Realität ist hoch problematisch, da insbesondere in der Frühzeit der Patente – und dazu zählt die Zeit von den Anfängen im 15. Jahrhundert bis 185238 – keine klaren Vorgaben für die Erstellung der begleitenden Zeichnungen und Diagramme existieren. Weder gibt es eindeutige Projektionsstile noch ist klar geregelt, ob es sich um reine Umrisszeichnungen handelt oder ob Dreidimensionalitätsmarker wie Schattierungen erlaubt oder gar geboten sind. Nicht einmal klare Qualitätsstandards, die nicht unterschritten werden dürfen, scheint es zu geben: Als Beispiel möge meine in diesem Band vorgelegte Analyse der Zeichnung des »Copying Telegraph« von Alexander Bain aus seinem Patent von 1843, »Time-Pieces and Tele-
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Schellen, zitiert in ebd.: 336. Ferguson 1993: 48. Trotz einiger Hinweise auf einen Erfindungsschutz bereits im antiken Griechenland, datiert man das erste echte Patentrecht auf 1474 in Venedig – »some eighty years before this was done in England. [...] However, the Venetian system only continued until the end of the sixteenth century whereas the English system never lapsed and in 1852 formed the basis of a system applying to the whole United Kingdom.« (Davenport 1979: 13).
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graphs«, dienen.39 Dort werden gleiche Bauteile ungleich dargestellt, Benennungen einfach vergessen, nicht einmal relative Größenverhältnisse eingehalten. Es ist nicht leicht, sich überhaupt auf dem Bild zurechtzufinden. Umso schwieriger wird es, sich dieses Bild in eine wie auch immer geartete physikalische Realität übersetzt vorzustellen. Möglicherweise trägt zu diesen Schwierigkeiten auch eine Besonderheit der Publikationssituation britischer Patente bis 1852 bei. In diesem Jahr wurde der Patent Law Amendment Act erlassen, der die komplizierten Patentverleihungsformalitäten im Vereinigten Königreich vollständig neu strukturierte: Schaffung eines einzigen Patentamts, Begrenzung der Abfrageprozeduren und radikale Reduktion der Gebühren auf ein Viertel des früheren Betrags.40 Bis zu diesem Zeitpunkt war ein ökonomisch, organisatorisch und zeitlich aufwändiges Verfahren schrittweise entstanden, das wie eine mittelalterliche Stadt alle Merkmale der historischen Verwerfungen trug, innerhalb derer es über Jahrhunderte zu einer bestimmten, aber nicht geplanten Gestalt gefunden hatte. Der Patent Law Amendment Act von 1852 entspricht in diesem Bild dem Schleifen der alten Stadtmauern und der radikalen Neugestaltung der Verkehrswege. Auf die Neufassung des britischen Patentrechts folgte die Drucklegung sämtlicher Patente seit 1617, die bislang als handgeschriebene Pergamentrollen mit dem anhängenden gelbwächsernen Großen Siegel des Vereinigten Königreiches im Patent Office in der Chancery Lane aufbewahrt wurden: »The patents for 1617–1852 were retrospectively numbered and published by Bennet Woodcroft during 1853–58 in blue-covered pamphlets.«41 Der zügige Druck von insgesamt 14.359 handschriftlichen Patentschriften stellt eine zusätzliche Störquelle dar.42 Im Übertrag der Zeichnungen, die ja dann lithographisch vervielfältigt wurden, können sich Fehler einnisten, deren Quelle nicht mehr nachvollziehbar ist, wenn das originale Patent fehlt. Dieser retrospekte Transkriptionsakt normalisiert die den Handschriften deutlich ablesbare, eher inkrementelle als von eindeutigen Vorgaben bestimmte Entwicklung des britischen Patentwesens vor 1852. Das bedeutet, dass insbesondere der Quellenstatus der Zeichnung unklar bleibt (in viel geringerem Maße gilt das natürlich auch für den Text): Wir haben es bei den gedruckten Paten39
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Vgl. auch den Text von Thomas Hensel in diesem Band, der die Ungenauigkeiten der Zeichnung, die ich als schlampig auffasse, als bewusste Auseinandersetzung mit der Nichtrepräsentierbarkeit von Elektrizität deutet. »Before the 1852 Act it was very expensive to obtain a patent. […] It costed about 100 to obtain an English patent […]. This was equivalent to a skilled workman’s annual wages.« (Dulken 1999: 24). Dulken 1999: 51. Vgl. ebd.: 3.
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ten immer mit einer (inzwischen selbst historischen) Interpretation des originalen Dokuments zu tun. Das ist insbesondere deshalb problematisch, weil diese frühen Patente – und dazu zählen eben auch die ersten bildtelegraphischen Patente ab 1843 – noch stärker das offene Dasein von Akten führten.43 Erst mit der Drucklegung erlangen sie den Status eines abgeschlossenen, archivierbaren und eben homogenen Dokumentenkorpus. Für die Interpretation historischer Patentschriften aus Großbritannien vor 1852 folgt daraus, dass sich nicht in jedem Fall die Erfinderintention eindeutig klären muss – auch Bennet Woodcroft und seine Angestellten werden zum Teil der britischen Patentgeschichte.
Von der Schwierigkeit, einen historischen Apparat zu modellieren Mit Modellen verfügen wir über höchst wirksame Instrumente, mit denen wir Dinge manipulieren und Entwicklungen voraussagen wollen. Anhand von Modellen wird daher nicht allein etwas bereits Bekanntes beschrieben. Mit ihnen konstruieren wir vielmehr eine bestimmte Wirklichkeit: die Wirklichkeit des Modells. […] Am Modell einer Dampfmaschine lernen wir nicht so sehr, dass bestimmte Aussagen auf sie zutreffen, sondern wir lernen, wie diese Maschine funktioniert und wie sie bedient oder auch manipuliert werden kann. Man erwirbt ein Handlungswissen, eine Fähigkeit, mit dem modellierten Gegenstand richtig umzugehen.44
Die Modelle der Technik – »anschauliche Lehrmodelle, die zur Erklärung von komplizierten Maschinen […] verwendet werden«45 – definieren Ingeborg Reichle, Steffen Siegel und Achim Spelten nach eben jenen Prinzipien, die ich für zweidimensionale Diagramme geltend gemacht habe: Technische Modelle sind demzufolge dreidimensionale operative Bilder. Im Unterschied zu ihren papierenen Pendants verlangen sie zugleich weniger als auch mehr von ihren Nutzern. Weniger, denn sie ersparen Betrachtern die projizierende Fantasie, die zweidimensionale oder gar schematisierte Gebilde in dreidimensionale, frei drehbare Objekte mit beweglichen Einzelteilen umsetzt. Mehr, denn die zusätzliche
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»›Die Akte als Mittler zwischen Gesetz und aktueller mündlicher Äußerung (vor Gericht, in Behörden u. a.)‹ kompensiert dank ihrer intermediären Stellung die Flüchtigkeit der Rede, ohne deswegen auf Präsenz zu verzichten.« (Vismann 2000: 25). Reichle u. a. 2008: 11. Ebd.
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Dimension erschwert den Überblick über das Ganze und seinen systematischen, funktionalen Zusammenhang. Modelle können sich von realen Apparaten durch ihre Dimension – im Regelfall sind sie anders (kleiner oder größer) bemessen als die Geräte, die sie repräsentieren sollen –, durch ihre Schematisierung (andere Materialien, funktionsdefinierende Farben, Begrenzung der Menge von Bauteilen wie z. B. Schrauben) und schließlich durch ihre Funktionalität unterscheiden. Sie können funktionstüchtig sein – wie die working models, die das amerikanische Patentamt Erfindern bis 1880 abverlangte46 –, sie können aber auch der bloßen Anschauung dienen. Schließlich sollte man das Modell noch vom Prototyp unterscheiden. Ein Prototyp stellt eine tatsächliche Realisierung des Modellierten dar. Er ist funktionstüchtig, hat die Originalgröße und unterscheidet sich von der produktionsfertigen Maschine nur durch Variablen wie Bauelemente, Materialien und Gestaltung. Aus der frühen Phase der Bildtelegraphie (1843–1851) sind mir weder erhaltene Modelle noch Prototypen von Bildtelegraphen bekannt. Allerdings haben einige wenige Prototypen anderer Apparate derjenigen Erfinder, die auch das Feld der Bildtelegraphie dominieren, überlebt, so dass es möglich ist, bestimmte Details im Vorgehen, der handwerklichen Präzision und auch der konzeptuellen Gestaltung etwa bei Geräten Alexander Bains zu beurteilen, ohne über einen seiner copying telegraphs zu verfügen. Um die frühen bildtelegraphischen Patente hinsichtlich ihrer Funktionstüchtigkeit beurteilen zu können, muss man sie also rekonstruieren. Ich möchte zwei Rekonstruktionsversuche diskutieren: das Anschauungsmodell des Bakewell’schen copying telegraph, das 1978 am Institut für Nachrichtentechnik an der RWTH Aachen hergestellt wurde und den funktionstüchtigen Nachbau des allerersten copying telegraph von Alexander Bain durch die britischen Wissenschaftsjournalisten Adam Hart-Davis und Paul Bader. Ich widme mich zuerst dem Aachener Apparat, der in eben jener musealisierenden Absicht, die Bernhard Dotzler als Argument gegen die Rekonstruktion historischer Apparate anführt, in die Geschichtsschreibung der Bildtelegraphie eingegangen ist. Peter Seidler, Akademischer Direktor am Aachener Institut, begründet die Modellierung in einer E-Mail an Christian Kassung so: Der Nachbau wurde hier angefertigt, um den Studierenden und sonstigen Interessenten [...] die Grundprinzipien eines Kopiertelegrafen anschaulich zu ma-
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Vgl. Wikipedia-Kollektiv, englisch 2010a.
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chen. Diese Prinzipien sind auch heute in jedem Faxgerät nur mit anderen Technologien verwirklicht. Das Gerät läßt sich nicht wirklich in Betrieb nehmen.47
Abbildung 1: Frederick Bakewell: Copying Telegraph, Nachbau des Instituts für Nachrichtentechnik der RWTH Aachen.
Es geht also um Veranschaulichung, Hilfen für die Vorstellungskraft. Peter Seidler beschreibt die Integration des historischen Interesses in die Arbeit des Lehrstuhls für Nachrichtentechnik wie folgt: Der Aufbau dieses Museums basiert auf den besonderen Interessen des früheren Lehrstuhlinhabers Prof. Dr.-Ing. Volker Aschoff (1950–1972). Er interessierte sich für die frühen Entwicklungen auf den diversen Gebieten der elektrischen Nachrichtentechnik und hat darüber auch eine Menge publiziert.
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E-Mail von Peter Seidler an Christian Kassung vom 21.6.2005.
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Neben Veröffentlichungen in Fachzeitschriften gibt es zwei Buchveröffentlichungen im Springer-Verlag: Geschichte der Nachrichtentechnik Teil I und II. Es gab eine Grundlagenvorlesung »Einführung in die Elektrische Nachrichtentechnik« neben den Fachvorlesungen »Nachrichtentechnik I und II«. Die wesentlichen Inhalte der Grundlagenvorlesung sind in einem Buch im Springer-Verlag (1968) veröffentlicht: »Einführung in die Nachrichtenübertragungstechnik«. Wichtige nachrichtentechnische Prinzipien sind dort beschrieben und im Museum teils durch Originalgeräte oder möglichst genauen Nachbauten zu sehen. Das ist auch ein Grund für den Aufbau und die Fortentwicklung des Museums. Die zum Teil recht simplen Geräte veranschaulichen nachrichtentechnische Prinzipien, die auch noch heute, allerdings mit anderen Technologien verwendet werden. So ist Mitte der 70er Jahre der Copiertelegraf von Bakewell nach der Patentschrift in der Werkstatt des Instituts nachgebaut worden.48
Abbildung 2: Screenshot der Website www.hffax.de.
Als Grundlage der Rekonstruktion nennt Seidler die Patentschrift,49 außerdem verweist er auf einen Artikel in der zeitgenössischen Tagespresse: »In der Literatur gibt es Hinweise, dass Bakewell ein Gerät im Betrieb vorgeführt hat. Dies wird berichtet und illustriert in: The Illus48 49
E-Mail von Peter Seidler an Albert Kümmel-Schnur vom 31.7.2010. »In unserem Museum steht ein originalgetreuer Nachbau, angefertigt nach der Patentschrift.« (Zitat in einer E-Mail von Peter Seidler an Christian Kassung vom 21.6.2005).
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trated London News, No. 456, Vol XVII, For the week ending saturday, November 23, 1850, ›The copying electric telegraph‹.«50 Weiterhin wurde klassische nachrichtentechnische Referenzliteratur wie die »Geschichte der Telegraphie« von Theodor Karras (1909) zu Rate gezogen. Eine Begründung der Entscheidung gegen die Rekonstruktion auch der Funktionalität des Bakewell’schen Telegraphen gibt Seidler nicht. Das Artefakt auf dem Foto ist in einem undefinierten blauen Raum lokalisiert – so als kommuniziere es die eigene Geschichtslosigkeit und Selbstreferenzialität gleich mit. Abbildung 3: Vitrine mit dem Nachbau des Bakewell’schen copying telegraphs an der RWTH Aachen.
Der Aachener Nachbau ist also ein Bild, das sich in die dritte Dimension erstreckt. Das Bild gibt eine Vorstellung von den Abmessungen des tatsächlichen Apparats und seines wahrscheinlichen, an vergleichbaren Telegraphen derselben Zeit geschulten äußeren Aussehens sowie z. T. der verwendeten Materialien – auf Elfenbein etwa musste aus naheliegenden Gründen verzichtet werden. Dabei wurden moderne Herstellungstechniken für die Produktion der Bauteile verwandt: Der Apparat ist ein Apparat, den es so nie hätte geben können. Gerade deshalb jedoch ist diese Rekonstruktion hoch suggestiv: »Originalgetreu« ist das Wort, das Peter Seidler verwendet. Vor dem Hintergrund der vielfältigen Entscheidungen und der Begrenztheit ihrer Ermöglichungsbedingungen er50
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schließt sich die Abgründigkeit dieses Adjektivs, das sowohl Nähe als auch Distanz zum verlorenen Original indiziert. Webseiten wie http:// www.hffax.de/ zeigen das Aachener Gerät an der Stelle der Geschichte der Bildtelegraphie, die den Namen »Bakewell« trägt. Im Museum des Instituts wird der Apparat mithilfe einer Kopie des Artikels »The copying electric telegraph« kontextualisiert. Den Behauptungen des historischen Quellentextes bleibt also die Last des Nachweises der Funktionstüchtigkeit des Apparats überantwortet. Argumentationsstabilisierend wird eine moderne Zeichnung des Übertragungsprinzips hinzugefügt. Diese Zeichnung ist sehr stark schematisiert und auf die SchreibLesevorrichtung reduziert. Dadurch geht sie allerdings dem eigentlichen Problem der Bildübertragung aus dem Weg: der Synchronisation von Sender und Empfänger. Die von der Aachener Nachrichtentechnik gezeichnete Maschine funktioniert immer, weil sie den Ort des möglichen Auftretens von Störungen von vornherein eliminiert. Abbildung 4: Aachener Schema der Bildübertragung durch Bakewells copying telegraph.
Genau umgekehrt gehen die britischen Wissenschaftsjournalisten Adam Hart-Davis und Paul Bader vor: Sie wollen ein funktionstüchtiges Gerät rekonstruieren und nehmen dafür radikale Einbußen hinsichtlich der historischen Materialien, Herstellungstechniken und sonstigen Kontexte in Kauf. »Local Heroes DIY Science« – der Name ist Programm: Es handelt sich um eine Fernsehserie des Wissenschaftsjournalisten Paul Bader. Auf dem Cover des gleichnamigen Buches ist sein Co-Autor Adam HartDavis freundlich grüßend mit Regenjacke und Fahrradhelm zu sehen. Der Abschnitt, in dem es um Bains copying telegraph geht, ist »Communications« betitelt und enthält Anleitungen zum Selbstbau von Carbon Paper, Fax Machine, Megaphones, Mechanical Telegraph und Watt’s
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Copying Machine.51 Der Bildtelegraph Bains ist das Vorzeige- und Prunkstück der Sammlung: Er wird als erstes Gerät bereits auf dem Cover erwähnt – »Make your Own Fax Machine«52 – und erhält fünf Sternchen: »Very difficult! (in a class of its own). […] Of all the demonstrations we have ever made for Local Heroes, this was perhaps the most amazing.«53 Die Wahl der Überschriftentypographie und die Entscheidungen für händische Konstruktionszeichnungen betonen den Bastel- und Heimwerkcharakter der Arbeitsanweisungen des Teams Hart-Davis/Bader, die bestens in das für Bain gewählte Narrativ passen: »That it was invented by a Scottish sheperd seems unbelievable.«54 Selbst wenn Bain tatsächlich, wie wir aus seinen knappen autobiographischen Angaben wissen, als Kind Schafe gehütet haben sollte, so handelt es sich doch um einen ausgebildeten Uhrmacher – auch ohne abgelegte Meisterprüfung.55 Abbildung 5: Patentzeichnung des Bain’schen copying telegraphs (1843).
51 52 53 54 55
Vgl. Hart-Davis/Bader 2000: 57. Ebd.: Cover. Ebd.: 59. Ebd. »Bain did not complete his apprenticeship, much to his father’s displeasure for Bain’s father and a friend had to forfeit the £ 40 which they had contributed for the indenture. However Bain later repaid the debt.« (Burns 1993: 86).
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Bain einen schottischen Schäfer zu nennen, ist einer gezielten narrativen Strategie geschuldet, die sich für Bain-Biographien eingebürgert hat:56 Bain, der geniale, amateurhafte underdog mit der hitzigen Natur, der Großes leistet, von seinen Zeitgenossen und der Nachwelt jedoch verkannt wird. Die Anleitung dient dazu, in Bains Fußstapfen zu treten, denn aufgrund der Komplexität des Projektes »we can’t describe every tiny detail.«57 Wer den Bain’schen Telegraphen nachbauen will, sollte ein Bastler sein wie er: You should tackle this only if you are confident about electrics, and happy to experiment to get the thing working. […] You probably won’t get this to work first time because getting the balance between friction and good contact in the stylus is not easy. But if you do succeed, you will have made one of the most satisfying of Local Heroes demonstrations – and one of the most surprising inventions ever.58
Abbildung 6: Konstruktionszeichnung des Nachbaus des Bain’schen Bildtelegraphen von Adam Hart-Davis/Paul Bader (2000).
Gerade in diesem prozesshaften Nachvollzug zeigen sich jedoch die Vorzüge dieser Rekonstruktion: Sie vermittelt ganz handgreiflich eine Ahnung von den Schwierigkeiten, mit denen Bain sich konfrontiert sah. Sie rekonstruiert kein Bild, sondern artikuliert im Prozess technische Probleme wie die genannte Balance zwischen Reibung und Kontakt beim Lesevorgang. Radikal verändern Hart-Davis und Bader deshalb auch 56 57 58
Vgl. dazu Kümmel-Schnur 2012. Hart-Davis/Bader 2000: 59. Ebd.: 59 und 63.
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das originale Design des Telegraphen, das sie der Patentschrift entnommen haben müssen, auch wenn sie das Gerät fälschlicherweise »Electro-Chemical Telegraph« nennen.59 Bain selbst patentiert es als »improvement for taking copies of surfaces for instance the surface of printer’s types at distant places« –, eher eine Gebrauchsanweisung als ein Name für einen Apparat.60 Auch HartDavis Geschichte der beinahe funktionierenden Maschinen – auf Deutsch unter dem Titel »Das fliegende Schiff und andere Erfindungen, die fast funktionierten« (2001) erschienen – bezieht sich auf den copying telegraph von 1843 als »elektrochemischer Telegraph« und beschreibt dessen Funktionsweise obendrein falsch:61 »Zuerst stellt er ein Positivbild von der zu sendenden Seite oder dem Bild her, und zwar als Ätzung auf einer Kupferplatte, die er neben dem Uhrpendel aufstellte. Sodann befestigte er eine Kontaktbürste oder einen Kontaktstift an einem Hebelarm, der von der Platte angebracht war.«62 Dieser Fehler gehört zu den verbreiteten Irrtümern der Geschichtsschreibung bildtelegraphischer Apparaturen: Er ist wahrscheinlich durch Arthur Korns viel gelesene Monographie »Die Bildtelegraphie« von 1923 in die Welt gesetzt worden und seitdem nicht mehr wegzukriegen. Korn verwechselt Bains Patent von 1843 mit Gaetano Bonellis Typendrucktelegraph von 1860.63 Hart-Davis’ Beschreibung kombiniert die Idee der Bonelli’schen Kontaktbürste – die unmittelbar Bleilettern abtastet – mit dem Bain’schen Konzept der Auslesung der Botschaft durch ein schwingendes Pendel. Von geätzten Kupferplatten ist bei Bain keine Rede – Bain spricht von gesetzten Lettern und dehnt sein Patent unspezifisch auf weitere Methoden der Herstellung von Vorlagen aus: »It is evident that a copy of any other surface composed of conducting and non-conducting materials can be taken by these means.«64 Diese Ungenauigkeiten und Fehler irritieren, da Hart-Davis etwa zur selben Zeit, als er das Buch über die fast funktionierenden Erfindungen schreibt, auch den Bain’schen Kopiertelegraphen für die BBC nachbaut. Dennoch ist für die Geschichtsschreibung die Modellierung von HartDavis/Bader produktiver als der wesentlich beeindruckender aussehende Nachbau in Aachen. Im Grunde weisen bestimmte Entscheidungen der rekonstruierenden Journalisten auf die hoch wahrscheinliche Funktionsuntüchtigkeit des Bain’schen Originals hin. Am erstaunlichsten ist 59 60 61 62 63 64
So heißt Bains Erfindung aus dem Jahre 1846. Bain 1843: 10. Hart-Davis 2001: 102. Ebd. Vgl. dazu ausführlich Kassung 2007: 320f. Bain 1843: 12.
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die Dimensionierung des Apparats: »2 wooden shelving units, taller than your pendulum (we have made 1.5 m and 2 m high versions).«65 Auch wenn Bain keine Maßangaben in seiner Patentschrift macht, so ist es doch sehr unwahrscheinlich, dass der Uhrmacher an ein derart klobiges Gerät – eher Turm- als Tischuhr – dachte. Ein Hinweis dafür, dass Hart-Davis/Bader hier deutlich abweichen von der Intention des Erfinders, ist ihre Platzierung des Lesestiftes auf ungefähr halber Höhe des Gesamtpendels. Auf diese Weise kommen sie natürlich auf eine Gesamtlänge, die »eine Störung der Einzelschwingungen durch Außeneinflüsse« minimiert,66 können aber den Abtaststift nicht mehr am Pendelende positionieren, wie es Bain vorgesehen hat. Stefan Müller, der den Bain’schen Apparat von 1843 mithilfe eines CAD-Programms visualisiert hat, geht von wesentlich kleineren Abmessungen aus: Da keinerlei Längenangaben in der Zeichnung oder der Patentschrift angegeben sind, wird die Dimensionierung der Bauteile anhand eines mathematischen Sekundenpendels ausgelegt. Bei ungefähr einer Schwingung pro Sekunde errechnet sich eine Pendellänge von 250 mm.67
Vom Glück, mit Maschinenbauern zusammenzuarbeiten Historische Apparate zu verstehen, heißt also, sie nachzubauen. Was bereits – und vielleicht überraschenderweise – für noch vorhandene historische Geräte gilt, ist ganz und gar unabdingbar für nicht mehr vohandene Apparate.68 Dabei gilt es nicht nur, Zeichnungen theoretisch zu durchdringen oder Konzepte gedanklich nachzuvollziehen, sondern die historischen Fertigungstechniken und verfügbaren Materialien zu rekonstruieren, die operativen Ketten, die Menschen, Zeichen und Dinge aufeinander zu beziehen, schrittweise abzugehen. Es heißt, die Bühne wieder zu errichten, auf der sich bestimmte menschliche und nicht menschliche Akteure überhaupt erst und dann auch nur auf eine ganz
65 66 67 68
Hart-Davis/Bader 2000: 59. Kassung 2007: 376. Müller 2004: 2. Das bloße Überleben eines historischen Apparats sichert noch nicht sein Verständnis. Depotverwalter, Kuratoren und Restauratoren der großen technischen Museen haben täglich mit diesem Problem zu kämpfen.
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bestimmte Art und Weise treffen und miteinander interagieren konnten.69 Erst im experimentellen Nachstellen öffnen sich bestimmte Fragen überhaupt: Jeder Kriminalist weiß um die Bedeutung der Rekonstruktion des Tathergangs beim Versuch, ein Verbrechen aufzuklären. Nun versteht es sich von selbst, dass eine solche Rekonstruktion nur näherungsweise möglich ist: Man kennt die Grenzen gut, die experimenteller Geschichtsschreibung – wie Hannibal die Alpen überqueren – oder historischer musikalischer Aufführungspraxis – nur solche Instrumente und Spielweisen zuzulassen, wie sie je zeitgenössisch üblich waren – gesetzt sind. Selbst wenn es möglich wäre, jedes Detail eines bestimmten historischen Ereignisses wieder an den Platz zu rücken, auf dem es zur Zeit seiner vergangenen Gegenwart stand, ließe sich doch unmöglich die seitdem vergangene Geschichte vergessen: Selbst eine perfekte Rekonstruktion bliebe eine Simulation im Modus des Als-ob. Im Rahmen der Forschungen, die Christian Kassung und ich gemeinsam in den letzten Jahren zur Geschichte der Bildtelegraphie durchgeführt haben, gingen wir diese Simulation mit Hilfe der Möglichkeiten des computergestützten Designs (CAD-Programme) und seines kompetenten Einsatzes durch Maschinenbaustudierende der HTWG Konstanz an.70 Die dabei entstandenen Arbeiten möchte ich vorstellen und kritisch diskutieren.71 Sie entstanden in Kooperation mit dem Lehrstuhl für Maschinenkonstruktion, dessen Inhaber, Prof. Dr. Peter Blohm, uns sehr nachdrücklich und großzügig unterstützte.72 Die Aufgabe, die den Maschinenbaustudierenden gestellt wurde, beschränkte sich auf eine Visualisierung und verlangte keine Implementierung physikalischer Gesetzmäßigkeiten wie etwa Reibung oder Schwerkraft. Die Aussagekraft dieser Modelle ist aus diesem Grund beschränkt. Was sich jedoch auch bei dieser Form der Annäherung im Detail zeigte, war die deutliche Begrenztheit der Aussagekraft der zugrundeliegenden Patentzeichnungen, die viele Fragen offen ließen. Die Visualisierungen, die bislang entstanden sind, erheben somit nicht den Anspruch auf eine abschließende Klärung aller offenen Fragen 69
Prototypisch hat Bruno Latour diese Situation am Beispiel von Louis Pasteurs Begegnung mit dem Milchsäurebakterium beschrieben. 70 Vgl. dazu auch den Werkstattbericht von Martin Straub in diesem Band. 71 Ich lasse die Visualisierung des Telautographen von Arthur Korn durch Martin Straub aus, da Straub seine Arbeit selbst in diesem Band dokumentiert. 72 Die ersten drei Arbeiten (Abschnitt 4.1, 4.2 und 4.3) wurden als Werkverträge realisiert, die Arbeit von Michael März (4.4) entstand als Studienarbeit, und Martin Straub kooperierte eng mit Marius Hug, der im Rahmen des Projektes »Geschichte der technischen Bildübertragung« über Arthur Korn und Selen als Akteur der Bildtelegraphie promoviert.
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oder gar eine finale Bewertung der Funktionstüchtigkeit der Geräte. Sie sind Interpretationen, die sich deutlich voneinander unterscheiden etwa in der Farbwahl oder der Granulierung der Umsetzungsgenauigkeit. Die ersten drei der unten beschriebenen CAD-Visualisierungen sind in der Programmumgebung ProEngineer entstanden, der vierte Telegraph wurde aufgrund der besseren Exportmöglichkeiten sowie eines kostenlosen, wenngleich auf das Betriebssystem Windows angewiesenen Viewers in SolidWorks realisiert.73 Kopiertelegraph (Frederick Bakewell 1848, CAD-Visualisierung durch Stefan Müller). Ich beginne nicht mit dem historisch ersten der rekonstruierten Telegraphen, sondern mit der visuell zurückhaltendsten Rekonstruktion. Es handelt sich um Frederick Bakewells 1848 patentierten Kopiertelegraphen, ein solides Gerät, dessen Funktionsweise auf den ersten Blick recht unproblematisch erscheint.74 Abbildung 7: Frederick Bakewells Kopiertelegraph (1848).
73
74
Ferguson weist auf die vielfältigen Vorentscheidungen von CAD-Programmen hin, die nolens volens den Raum des Möglichen beim Entwerfen beschränken: »Es gibt in jedem komplexen Computerprogramm tausend zweifelhafte Punkte. Erfolgreiches computergestütztes Entwerfen erfordert Wachsamkeit und dieselbe visuelle Kenntnis und ein intuitives Gefühl für Stimmigkeit, auf das erfolgreiche Entwerfer sich immer verlassen haben, wenn sie wichtige Entscheidungen in Bezug auf ihren Entwurf trafen.« (Ferguson 1993: 179). Frederick Bakewells Patent vom 2. Dezember 1848 trägt die Nummer GB 12.352. Bakewell schreibt die zu übertragende Botschaft mit nichtleitender Tinte auf eine Metallfolie, die er um eine Walze zur Abtastung durch einen darüber angebrachten Metallstift wickelt. Das mithilfe eines Elektromagneten mit dem Sender synchronisierte Empfangsgerät ist ebenso konstruiert wie der Sender mit dem Unterschied, dass die Walze ein ferrozyankaligetränktes Papier trägt, das sich bei Kontakt mit elektrischem Strom verfärbt. Eine Besonderheit des Bakewell’schen copying telegraph ist die am Rand der Botschaft mitübertragene senkrechte Synchronisationslinie, die jedes Abweichen vom Gleichlauf sofort anzeigt.
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Stefan Müller weist jedoch gleich zu Beginn der Dokumentation seiner Arbeit auf ein Problem hin, das sich bei allen im Folgenden besprochenen Maschinen stellt: fehlende Maßangaben und mangelhafte Funktionsbeschreibungen. Aus diesem Grunde entscheidet Müller sich gegen die Verwendung des beschreibenden Textes und hält sich in seiner Rekonstruktion ausschließlich an die Zeichnungen.75 Als eine der wenigen Angaben entnimmt er dem Text, dass die Darstellung des Geräts im Maßstab 2:1 erfolgt sei und misst einfach mit dem Lineal nach. Hier sei noch einmal an den Aachener Nachbau erinnert, der sich nicht nur auf die Patentzeichnung als Quelle bezieht, sondern auch andere Texte verwendet – nützlich erweist sich dabei ein in der Tagespresse auftauchender Stich, der den Einsatz des Bakewell’schen Telegraphen in Relation zu einem ihn benutzenden Telegraphisten zeigt. Müller entscheidet sich für eine recht abstrakte Visualisierung, die vor weißem oder dunkelblauem Hintergrund ein dunkelrotes, semitransparentes Gehäuse mit einem weißen Getriebe zeigt. Abbildung 8 und 9: CAD-Visualisierung von Bakewells Kopiertelegraphen durch Stefan Müller.
Diese Darstellung lässt die Materialbeschaffenheit völlig offen und differenziert auch die Einzelteile nicht funktional. Das Objekt erscheint homogen und hoch schematisiert. Insbesondere werden die Zahnräder des Getriebes einfach als runde Scheiben dargestellt – Müller setzt die Funktionalität des Zahnradgetriebes als gegeben voraus: »Es geht nur um eine visuelle Deutung.«76 75 76
Vgl. Müller 2004: 3. Ebd.
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Müller kommt zu dem Ergebnis, dass Bakewells Telegraph nicht funktionstüchtig gewesen sein könne, weil die Regulierungsmechanismen »nicht ausgereift« gewesen seien.77 Tatsächlich benötigt Müller für diesen Schluss jedoch seine Zeichnung gar nicht, sondern lässt sich durch rein theoretische Überlegungen leiten. Dies wird aber nie funktionieren, da bei Sender und Empfänger erstens die Umgebung anders ist. Zweitens müsste die Energie, die das Gewicht während des Ablassens durch die Beschleunigung gewinnt, genau der Energie entsprechen, die beim Windrad verloren geht […]. In der Praxis ist dies sehr unrealistisch […]. Des Weiteren darf der ganze Vorgang nicht in irgendeiner Weise beeinflusst werden.78
Müllers Rekonstruktion ist nicht in der Lage, die Aussagen zu stützen, die er trifft. Das hat erstens damit zu tun, dass er die historischen Fertigungstechniken nicht berücksichtigt und zweitens die CAD-Zeichnung auf eine rein illustrative Funktion begrenzt.79 Kopiertelegraph (Alexander Bain 1843, CAD-Visualisierung durch Johannes Ehrhardt). Johannes Ehrhardt hat sich mit dem weltweit ersten Patent für einen Kopiertelegraphen (siehe Abb. 5) auseinandergesetzt.80 Anders als Stefan Müller arbeitet er sein Modell detailgenau durch und entscheidet sich für eine naturalistische Optik: Materialien werden an ihrer Oberflächentextur voneinander unterscheidbar. Im Vergleich spürt man die höhere Suggestionskraft selbst einer groben Anpassung der Texturen an diejenigen realer Materialien. Auch Ehrhardts Visualisierung ist noch extrem schematisch, da sie den Bain’schen Apparat aus einfachen Formen zusammensetzt: Scheibe, Quader, Kegel. Besonders schematisch verbleibt die Schreib-Lesefläche 77 78 79
Ebd.: 7. Ebd.: 6. Beides gehörte freilich nicht zur Aufgabenstellung und ist auch von Maschinenbaustudierenden, die ja für gewöhnlich nicht historisch arbeiten, gar nicht erwartbar. 80 Alexander Bains Patent vom 27. Mai 1843 trägt die Nummer GB 9.745. Charakteristisch für diese Erfindung ist die bei Sender und Empfänger baugleiche Schreib-Lesefläche, die aus in Siegellack eingegossenen, fadenisolierten Kupferkabelstücken besteht und somit von vornherein eine Rasterung des Bildes durch Zeilen und Spalten denkt. Bain trägt die Botschaft als Metallletternsatz hinter der Sendefläche auf – empfangen wird sie auf ferrozyankaligetränktem Papier, das hinter der Schreibfläche des Empfangsapparats angebracht wird. Die zeilenweise Absenkung der SchreibLesefläche sowie die Synchronisierung von Sender und Empfänger werden durch Elektromagneten geleistet.
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des Telegraphen: Wo Bain eine dicht gepunktete Fläche zeichnet, setzt Ehrhardt eine grobe Gliederung in 11 Spalten und 17 Zeilen. »Die im Metallrahmen dargestellten Drähte sind überproportional dargestellt, eine richtig dimensionierte Darstellung würde erheblich größere PCRessourcen benötigen.«81 Im Unterschied zur Modellierung Müllers macht er sich jedoch über den tatsächlichen Zusammenbau des Gerätes Gedanken: Baugruppen werden klar voneinander unterschieden und selbst solche Teile umgesetzt, die auf der Patentzeichnung nicht sichtbar sind, weil sie für die Funktion des Telegraphen keine Rolle spielen wie z. B. Holzstifte, die die Teile des Geräterahmens miteinander verbinden. Ebenso rekonstruiert er das von Bain nicht gezeichnete mechanische Uhrwerk »anhand von Bildern einer mechanischen Wanduhr«.82 Abbildung 10 und 11: CAD-Visualisierung von Bains Kopiertelegraphen durch Johannes Ehrhardt.
81 82
Ehrhardt 2004: 5. Ebd.: 7.
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Allerdings weist auch Ehrhardt darauf hin, dass er sich auf eine reine Bildlichkeit begrenzt: »Die Verzahnung ist nur für eine realistischere Darstellung.«83 Mit anderen Worten: Auch Ehrhardts Zahnräder sind wenig mehr als die Scheiben Müllers. Kopiertelegraph (Alexander Bain 1850, CAD-Visualisierung durch Alexander Bucher). Sieben Jahre nach seinem Patent für einen Kopiertelegraphen verstrickt Alexander Bain sich im Mechanics’ Magazine in einen Streit mit Frederick Bakewell über die Urheberschaft des ersten bildübertragenden Geräts. Er beruft sich auf sein Patent aus dem Jahr 1843, bildet aber nicht seinen ursprünglich patentierten Telegraphen, sondern eine »verbesserte« Version ab, die erheblich von seinem älteren Entwurf abweicht.84 Alexander Bucher verwendet bei der Rekonstruktion eine kräftig bunte, die einzelnen Bauteile auch für das ungeübte Auge voneinander eineindeutig unterscheidende Farbgestaltung. Dabei bleibt die Farbzuweisung beliebig – sie erlaubt keine funktionale Unterscheidung. Dennoch ist Buchers Umsetzung aus der Serie der ersten drei CAD-Visualisierungen die ausgereifteste. Funktionstüchtigkeit wurde auch hier nicht angestrebt, aber eine vollständige Interpretation aller Bauteile. Gerade 83 Ebd.: 5. 84 Der Apparat wirkt von vornherein so beeindruckend kompliziert, dass Bakewell seinem Erfinder Täuschungsabsicht unterstellt – die Komplexität des Apparats wurzele nicht in seiner Funktionalität, sondern diene nur der rhetorischen Absicht, ihn von Bakewells eigener Erfindung, die er eigentlich kopiere, unterscheidbar zu machen. Auch zeitgenössische Rezensenten wie Heinrich Schellen haben Schwierigkeiten, die Funktionsweise des Apparates zu beschreiben (siehe dazu Kassung 2007: 336). Deutet man den Apparat jedoch im Kontext der Gesamtheit der vorhergehenden Erfindungen Bains als konsequenten Versuch eines Uhrmachers, einen Kopiertelegraphen ohne Elektromagneten zu entwerfen, kommt man zu einem anderen Schluss, für dessen Entwicklung ich Horst Schnur zu Dank verpflichtet bin. Der Telegraph zeichnet sich durch zwei Pendelvorrichtungen aus – einem fliehkraftreglerähnlichen Massependel am Kopf und einem das Senden und Empfangen der Botschaft steuernden rückwärtigen Pendel. Während das Massependel nur dem gleichmäßigeren Lauf der Maschine dient, veranlasst das Steuerpendel den Schreiblesestift zu einer vertikalen Bewegung über den sich drehenden Zylinder. Sollte diese Deutung korrekt sein, wäre der Streit zwischen Bain und Bakewell zugunsten Bains entschieden – im Unterschied zu Bakewell hätte Bain sogar die Digitalisierung, also die rasterförmige Zerlegung des Bildes in klar voneinander abgegrenzte, diskrete Elemente beibehalten. Charakteristisch sind außerdem zwei Lese- und Schreibzylinder an der Vorderseite des Geräts, die mittels eines beliebig auf eine der Walzen umlegbaren Metallstiftes abgetastet werden können.
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diese stand wegen des extrem verknappten Quellenmaterials, das ja keine Patentschrift, sondern einen ausführlichen, illustrierten Brief Bains an das Mechanics’ Magazine darstellt, zur Debatte. Am problematischsten war dabei die Erklärung des rückwärtigen Pendels, weshalb Bucher ihm auch ein gesondertes Kapitel der Dokumentation seiner Arbeit widmet. »Die in meiner Konstruktion gezeigte Lösung ist lediglich eine Vermutung meinerseits«.85 So meint Bucher, die Befestigung des Pendels sei um 90˚ gedreht dargestellt, »damit es besser als solches erkannt werden konnte«.86 Diese Deutung ist so lange plausibel, wie man annimmt, dass die Pendelhängung starr ist. Geht man jedoch davon aus, dass das Pendel an einem biegsamen Metallstreifen – wie bei mechanischen Uhren durchaus üblich – aufgehängt ist, verschwindet das Problem. Abbildung 12 und 13: Bains elektrochemischer Kopiertelegraph (1850).
Alexander Bucher hat seine Rekonstruktion des Kopiertelegraphen von 1850 auch in Form zweier Filme ausgespielt, die eine Drehung des Gerätes einmal um die Längs- und einmal um die Querachse zeigen. Die Filme sind zwar leichter nutzbar als die VRML-Exporte der vorangegangenen Rekonstruktionen, weil sie keinen, die üblichen Standardprogramme erweiternden Viewer benötigen und sich obendrein leicht in 85 86
Bucher 2004: 5. Ebd.
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Präsentationen und Webseiten einbauen lassen, ermöglichen aber nur begrenzt – durch Anhalten und Zeitlupe – eine genaue Exploration der Modelle. Abbildung 14 und 15: CAD-Visualisierung von Bains elektrochemischem Kopiertelegraphen durch Alexander Bucher.87
Elektrochemischer Zeigertelegraph (Alexander Bain 1843, CAD-Visualisierung durch Michael März). Bei dem hier realisierten Telegraphen handelt es sich nicht um einen Kopier- oder Bildtelegraphen, sondern einen Hybrid aus Zeiger- und Drucktypentelegraph, der jedoch in mehrfacher Hinsicht für Bains Kopiertelegraphenerfindungen wichtig ist. Das Gerät überträgt bei Stromunterbrechung alphanumerische Zeichen, die es zusätzlich auf einer Papierrolle in spiralförmigem Druck speichert.88
87
Zur Verbesserung der Druckqualität wurden die Farbwerte des Originals invertiert. Wegen der Bewegung des Massependels in der originalen Animation erscheint dieses unscharf. 88 Wie der erste copying telegraph entstammt auch dieser elektrochemische Zeiger- und Typendrucktelegraph dem Patent Nr. GB 9.745. Durch Drücken einer Taste, die dem Morse’schen Klopfer ähnelt, wird der Stromkreis zwischen Sender und Empfänger geschlossen. Ein Federmotor bewegt über ein Zahnradgetriebe einen Zeiger über ein mit elfenbeinernen (i. e. nicht leitenden) Nocken besetztes Zifferblatt, das das Repertoire der übertragbaren Zeichen angibt. In derselben Geschwindigkeit wie der Zeiger bewegt sich das Typendruckrad vor einem papierbespannten Schreibzylinder, über den ein tintengetränktes Seidenband läuft. Sobald der Sender den Stromkreislauf durch Heben der Klopftaste unterbricht, presst eine Nockenwelle das Typenrad gegen den Schreibzylinder und druckt – bei Sender und Empfänger zugleich – dasjenige Zeichen, das der Zeiger gerade auf dem Zifferblatt anzeigt. Sobald der Stromkreis wieder geschlossen ist, läuft die Maschine bis zur nächsten Unterbrechung weiter.
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Michael März unternimmt einen Versuch, der sowohl das bislang von seinen Kommilitonen Geleistete als auch die wenigen historischen Informationen, die schwellenniedrig allgemein zugänglich sind – vornehmlich Internetquellen – in die CAD-Interpretation einbezieht. Eine besonders hohe Aufmerksamkeit widmet er unterschiedlichen Modi der Darstellung. Neben den im Rahmen dieser Arbeit bereits gemachten Erfahrungen waren die computergraphischen Transkriptionen der Maschinenzeichnungen Leonardo da Vincis durch Domenico Laurenza, Mario Taddei und Edoardo Zanon Anregung für die neuen Gestaltungsideen. Abbildung 16: Patentzeichnung des Bain’schen Drucktypentelegraphen (1843).
Das interdisziplinäre Team setzt sich aus einem Historiker (Laurenza) und zwei Industriedesignern (Taddei und Zanon) zusammen, wobei einer der Designer die technische (Taddei, spezialisiert auf Computergraphik) und der andere (Zanon, spezialisiert auf visuelle Kommunikation und Multimedia) die künstlerische Projektleitung hat. Das Ziel des Projektes ist es, technische Interpretationen von Leonardos Maschinenzeichnungen zu geben. Kann man Leonardos Entwürfe technisch verstehen? Sind die Maschinen funktionstüchtig? Welche Einsatzorte hätten sie haben können? Der Direktor des Florentiner Istituto e Museo di Storia della Scienza, Paolo Galluzzi, beschreibt das Vorgehen der Computergraphiker folgendermaßen:
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Die Visualisierungen erscheinen dabei als ein ›Morphing‹, als eine schrittweise Umwandlung von Leonardos oft kryptischen Entwürfen zu verständlichen Darstellungen, die den Funktionsmechanismus hervorheben und durch den Einsatz von einzelnen Bewegungsabläufen und deren dreidimensionale perspektivische Visualisierung die Gestalt wirklicher Modelle annehmen.89
Einerseits deutet Galluzzis Begriff des Morphings auf einen nicht aggressiven, zurückhaltenden Umgang mit Leonardos Entwürfen hin – andererseits diskreditiert er diese Entwürfe als »kryptisch«, sich einem Verstehen verwehrend. Dieser Widerstand wird aber nicht als Qualität der Leonardo-Zeichnungen verstanden, sondern als bedauerliches Übel, dem Computergraphik abhelfen kann.90 Interessanterweise ist die Selbstdeutung des Autorenteams sehr viel zurückhaltender. Nicht nur der auf Renaissance-Maschinenzeichnungen spezialisierte Historiker Domenico Laurenza betont immer wieder den Eigenwert der Zeichnungen und weist auf ihren sozialen Wert hin, der – etwa im Rahmen der Bewerbung Leonardos als Ingenieur beim Herzog Ludovico Sforza – ihren technischen Wert fallweise durchaus überschritten haben dürfte.91 Auch begreifen die Designer ihre Graphiken nicht als Vollendung der Arbeit da Vincis, sondern als Interpretation. Vorbildlich und erhellend erscheint mir folgende Erläuterung: Während der Vorarbeiten zu diesem Buch passierte es oft, dass man sich vor der richtigen Lösung bzw. Interpretation eines Details eines Mechanismus oder eines ganzen Projektes wähnte, aber plötzlich ein weiterer Strich oder Schnörkel auf dem betreffenden Blatt oder in einer ähnlichen Zeichnung einer anderen Handschrift neue Lösungsansätze nahe legte, zusätzliche Klärungen erforderte oder überraschende Wendungen offenbarte. Auch konnte es passieren, dass eine insgesamt überzeugende und schlüssige Idee oder eine bestimmte Funktion in einer Maschine durch ein einzelnes, im letzten Augenblick zufällig entdecktes Detail in Frage gestellt wurde, sodass die Neuinterpretation der mechanischen Vorrichtung in eine völlig neue Richtung ging.92
Computergraphik wird hier nicht als Ergebnis, sondern als Analyseinstrument vorgestellt. Diese Erfahrung können wir bestätigen: Erst wenn 89 90 91
92
Paolo Galluzzi in Laurenza u. a. 2006: 8. Zu derart aktualisierenden Ansätzen der Leonardo-Deutung vergleiche auch den Beitrag von Steffen Bogen in diesem Band. Das gilt v. a. für die Kriegsgeräte: »Die Mailänder Entwürfe sind vielfältiger und spektakulärer als die späteren Projekte, aber nicht selten an der Grenze der Machbarkeit. […] Gigantische Kriegsgeräte mit furchtbaren Folgen, die für damals unfassbar schienen.« (Laurenza u. a. 2006: 71). Ebd.: 15.
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man gezwungen ist, allen Details einen eineindeutigen Sinn und Ort zuzuweisen, denkt man tatsächlich auch über alle Details nach. Man kann sich, wenn ich so sagen darf, nicht mehr drücken. Abbildung 17: Leonardos Luftschraube, Computergraphik von Mario
Taddey/Edoardo Zanon, 2006. Nun haben die Graphiken, die Taddei/Zanon erstellt haben, allerdings auch einen hohen, von Rezensenten immer wieder lobend hervorgehobenen Eigenwert. Der Computer ist mehr als ein Zeicheninstrument: Er fungiert als Bühne,93 als Ort der Dramatisierung von Leonardos Zeichnungen, die sich wie von Geisterhand auszustülpen beginnen in die dritte Dimension, mit zusätzlicher Bewegungsdynamik und Überraschungseffekten (gewaltigem Mündungsfeuer etwa) ausgestattet werden. Gerade diese Qualität aber zeichnet auch die Maschinenbücher 93
Schon 1991 hatte Brenda Laurels Buch »Computers as Theatre« mit der Bühnenmetapher dafür geworben, den Rechner nicht als bloßes Werkzeug misszuverstehen.
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der Renaissance aus. Man könnte also sagen, dass es dem Autorentrio Laurenza/Taddei/Zanon gelungen ist, Leonardos Zeichnungen in einer Form zu präsentieren, die moderne Digitaltechnologie und philologisch genauen Kommentar mit Präsentationstechniken der Renaissance selbst verknüpft. Ein sehr kluges Vorgehen, das obendrein die These, Leonardos Zeichnungen seien Formen visuellen Denkens, visueller Analyse gewesen, seinerseits visuell untermauert. Abbildung 18: Trimetrische Explosionsansicht des Drucktypentelegraphen Bains (Michael März).
Abbildung 19: Drucktypentelegraph Bains, CAD-Rekonstruktion mit Schattenriß (Michael März).
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Dabei nutzt das Buch »Leonardo dreidimensional« das gesamte Ausdrucksrepertoire, das 3D-CAD-Umsetzungen zweidimensionaler Konstruktionszeichnungen zu bieten haben. Hilfslinien werden eingeblendet, Texturen schematisch oder fotorealistisch gewählt, Schattenwürfe betonen die Plastizität der Modelle, rote und grüne Pfeile zeigen Bewegungsrichtungen und Funktionszusammenhänge an, doppelseitige Explosionszeichnungen vielteiliger Objekte betonen den Eindruck der hohen Komplexität der gezeichneten Apparatur, die Positionierung von Objekten in Einsatzszenarien hebt die praktische Umsetzbarkeit von Leonardos Ideen hervor. Insbesondere aber die Kombination der Leonardo-Zeichnungen mit den auf ihrer Basis entstandenen dreidimensionalen Modellen wird immer wieder effektvoll eingesetzt. Man hat tatsächlich das Gefühl, die Apparate wüchsen aus den Zeichnungen heraus, seien in jedem Fall eng auf sie bezogen. Vielfach kann man direkte Vergleiche zwischen Zeichnung und Modell ziehen, manchmal dient die Zeichnung jedoch nur als effektvoller Hintergrund für den Auftritt des Modells. Abbildung 20: Drucktypentelegrap Bains, CAD-Rekonstruktion (Michael März).
Michael März hat sich von diesen Visualisierungen inspirieren lassen und unterschiedliche Gestaltungsvorschläge gemacht: schematische Linienzeichnungen, die den Telegraphen in Explosionsansicht zeigen, rea-
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listische und unterschiedlich farbige Texturen, Einsatz von Schattenwürfen und die Kombination von Patentzeichnung und dreidimensionalem CAD-Modell. Er ergänzt die statischen Bilder durch einen Film, der zu zeigen versucht, wie der Telegraph arbeitet. Abbildung 21: Drucktypentelegraph Bains, fotorealistische CAD-Rekonstruktion mit ausgeblendeten Bauteilen und unterlegter Patentzeichnung (Michael März).
Wie bei allen anderen Visualisierungen auch, hat März mit fehlenden Maßangaben und im Detail unzureichenden Erläuterungen der genauen technischen Zusammenhänge zu kämpfen. Das Zahnradgetriebe wird nicht in den korrekten Relationen gezeichnet94 und an zwei Stellen kommt er zu Konstruktionsvorschlägen, die er selbst als problematisch ansieht und die ich inzwischen für falsch halte, da sie unnötig kompliziert sind und mit der Zeichnung Bains nicht übereinstimmen.95
94
95
»Die Zahnräder wurden alle mit Modul drei erstellt. Daraus ergeben sich durch Multiplikation der Zähnezahl mit dem Modul drei, die Durchmesser und Abstände der Zahnräder. Auf die genaue Übersetzung, damit sich der Fliehkraftregler 100 mal so schnell dreht wie der Zeiger, wurde nicht geachtet.« (März 2006: 20). Auch hier gebührt mein Dank für wichtige Nachfragen, wertvolle Hinweise und Beobachtungen, insbesondere aber die Feststellung, dass an den oben genannten Stellen des Patents etwas nicht stimmen kann, sowie Lösungsvorschläge Horst Schnur.
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Es handelt sich hierbei um den Mechanismus zur Weiterbewegung des Druckzylinders um eine Zeicheneinheit und die Pendelbremse. März kommentiert seine Modellierung des Trommelantriebsmechanismus’ folgendermaßen: »Der Rastermechanismus (Bild 13) zum Antrieb des langen Ritzels ist im Original nicht erkennbar. Das im Modell ausgeführte System ist erfunden und nicht funktionstüchtig.«96 (Vgl. Abb. 22) Die Patentschrift Bains erläutert den in Frage stehenden Mechanismus so: At the same time the click springs X2 X2 take into a tooth of the small ratchet wheels upon the top of the long pinions N which take into and drive the cylinder wheels N2 N2 so that the crank apparatus going back into their former position after impressing the types move the cylinders forward and present a fresh surface to the action fo the next types.97
Abbildung 22: Elektromagnetische Bremse des Drucktypentelegraphen Bains (Michael März).
Abbildung 23: Papiertrommelantrieb und Rastermechanismus des Drucktypentelegraphen Bains (Michael März).
Aufschluss gibt ein im Depot der Stiftung für Post und Telekommunikation in Heusenstamm bei Frankfurt am Main befindliches Original eben dieses im Patent Nr. GB 9.745 von 1843 beschriebenen elektrochemischen Drucktypentelegraphen von Alexander Bain, auch wenn es deut-
96 97
März 2006: 21. Bain 1843: 9.
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lich von der originalen Patentierung abweicht und im Laufe der Zeit von fremder Hand umgearbeitet wurde.98 Abbildung 24: Alexander Bains Drucktypentelegraph von 1843 mit Patentzeichnung Bains.
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Inventarnummer 4.0.33250, Bezeichnung: »Typendrucktelegraph/Zeigertelegraf von Alexander Bain«, datiert auf 1843. Das Objekt gehört zum Altbestand des Museums und ist bereits im Inventarkatalog des Reichspostmuseums von 1897 als »Typendrucktelegraph von Bain,
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Bei den »click springs« handelt es sich um einen Schnappmechanismus, der über ein Sägezahnrad läuft und dieses zahnweise weiterzieht – das Sägezahnrad selbst ist oberhalb des langen Ritzels an derselben Achse befestigt. Abbildung 25: Fliehkraftregler, Typendruckrad, Druckzylinder von Alexander Bains Drucktypentelegraphen.
Es handelt sich um ein recht typisches Bauteil mechanischer Uhren: Auch wenn es nicht deutlich in der Patentzeichnung erkennbar ist, dürfte es sich um genau diesen Transportmechanismus gehandelt haben. Im Unterschied zur Patentzeichnung sind die oben am Apparat vorgesehenen Permanentmagnete im originalen Artefakt durch Elektromagnete ersetzt. Die Funktion der das Fliehkraftpendel stoppenden Bremse, die, wie März zurecht bemerkt, gar nicht funktionstüchtig wäre, übernimmt im historischen Original ein einfacher Schaltmechanismus,
1843« aufgelistet (S. 355). Dieser Bestand war zum Zeitpunkt der Studie von Michael März nicht bekannt und konnte deshalb in die Rekonstruktion nicht einbezogen werden. Inzwischen hatte ich jedoch Gelegenheit, das Gerät ausführlich zu begutachten und mit der Referentin für Nachrichtentechnik Lioba Nägele sowie der Restauratorin Martina Glossat zu diskutieren. Beiden gebührt mein herzlicher Dank für das große Entgegenkommen sowie die intensive Diskussion des Telegraphen unmittelbar vor dem Objekt.
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bei dem ein Metallhebel vom Elektromagneten angezogen oder eben nicht angezogen wird.99 Deutlich wird gerade anhand der Diskussion dieses Telegraphen die Wichtigkeit, bei der Interpretation von Patenten nicht nur von dem sicherlich vorhandenen Geheimhaltungsbedürfnis auszugehen, sondern auch die Einbettung in den handwerklichen Kontext – in Bains Fall der Uhrmacherei –, der sich als tacit knowledge in die Konstruktionen einschreibt. Bauteile und Fertigungsweisen, die ohnehin klar sind, müssen nicht gesondert erläutert werden. Abbildung 26: Elektromagnet von Bains Drucktypentelegraphen.
Ausblick Ziel dieses Beitrags war es, die Bedeutsamkeit der Rekonstruktion von Apparaten für eine Mediengeschichtsschreibung, die sich als Wissensgeschichte materieller Kommunikation versteht, zu betonen. Ebenso sehr kommt es aber darauf an, dass solche Rekonstruktionen nur bei Simulation der Funktionalität einen Erkenntniszuwachs erbringen. Maschinen lediglich zu visualisieren, hilft zwar dem Verständnis, indem weitere Fragen aufgeworfen werden. Tragfähige Antworten lassen sich auf diesem Wege jedoch kaum finden. Schlimmstenfalls fristen diese Bilder
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»In der Zeichnung von Bain ist das Bremssystem nur schwach ohne Details angedeutet, in der anderen Zeichnung fehlt es ganz und im Text ist zu den Details der Bremstechnik nichts erwähnt. Das Bremssystem am 3D-Modell ist in der abgebildeten Bauweise nicht zum schnellen Verzögern geeignet. Die komplette Mechanik hätte präzise und ohne große Reibung funktionieren müssen, da sich geringe Abweichungen zu großen Abweichungen multipliziert hätten.« (März 2006: 24f.).
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ein spukhaftes epistemologisches Dasein, indem sie mehr versprechen als sie einlösen können. Letztlich ist die computergestützte Gestaltung jedoch nur ein Schritt. Ein weiterer, wenn auch nur in Ausnahmefällen zu gehender, wäre der reale Bau der Maschinen. Dieser jedoch müsste den Kontext und Eigenwert der Quellen im Blick behalten. Deren gestalterische und handwerkliche Interpretation müsste einhergehen mit einer Bewertung des Handlungscharakters der gezeichneten und sprachlich beschriebenen Maschine. Eine CAD-Rekonstruktion kann und soll historische Konstruktionszeichnungen und Patentzeichnungen interpretieren, nicht aber ersetzen.
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Abbildungen Abb. 1: Frederick Bakewell: Copying Telegraph, Nachbau des Instituts für Nachrichtentechnik der RWTH Aachen. Foto: Tobias May. Abb. 2: Screenshot der Website www.hffax.de. URL: http://www.hffax. de/html/hauptteil_faxhistory.htm. Download vom 11.08.2010. Abb. 3: Vitrine mit dem Nachbau des Bakewell’schen copying telegraphs an der RWTH Aachen. Institut für Nachrichtentechnik. Foto: Tobias May. Abb. 4: Aachener Schema der Bildübertragung durch Bakewells copying telegraph. Ebd. Foto: Tobias May. Abb. 5: Patentzeichnung des Bain’schen copying telegraphs. In: Bain, Alexander 1843: Certain Improvements in Producing and Regulating Electric Currents and Improvements in Electric Time-Pieces and in Electric Printing and Signal Telegraphs. Patentschrift GB 9.745 vom 27. November 1843. Sheet 6. Abb. 6: Konstruktionszeichnung des Nachbaus des Bain’schen Bildtelegraphen. In: Hart-Davis, Adam/Bader, Paul 2000: Local Heroes Do-It-Yourself Science. London: BBC Worldwide. S. 60. Abb. 7: Frederick Bakewells Kopiertelegraph. In: Dub, Julius 1863: Die Anwendung des Elektromagnetismus mit besonderer Berücksichtigung der Telegraphie. Berlin: Julius Springer. S. 453. Abb. 8: CAD-Visualisierung von Bakewells Kopiertelegraphen. In: Müller, Stefan 2004: Dokumentation zu Bildtelegrafen von Bakewell. HTWG Konstanz: unveröffentlichtes MS. Cover. Abb. 9: CAD-Visualisierung von Bakewells Kopiertelegraphen. In: Ebd. S. 4. Abb. 10: CAD-Visualisierung von Bains Kopiertelegraphen. In: Ehrhardt, Johannes 2004: 3D-Visualisierung eines Bildtelegraphen nach Bain (1843). HTWG Konstanz: unveröffentlichtes MS. Cover. Abb. 11: CAD-Visualisierung von Bains Kopiertelegraphen. In: Ebd. S. 5. Abb. 12: Bains elektrochemischer Kopiertelegraph. In: Bain, Alexander 1850: Bain’s Patent Electro-Chemical Copying Telegraph. In: Mechanics’ Magazine, 52/1383 (1850). S. 101. Abb. 13: Bains elektrochemischer Kopiertelegraph. In: Ebd. S. 103. Abb. 14: CAD-Visualisierung von Bains elektrochemischem Kopiertelegraphen. In: Bucher, Alexander 2004: Konstruktion des Bildtelegraphen nach Bain 1850. HTWG Konstanz: unveröffentlichtes MS. Screenshot der Animation. Abb. 15: CAD-Visualisierung von Bains elektrochemischem Kopiertelegraphen. In: Ebd. Screenshot der Animation.
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Abb. 16: Patentzeichnung des Bain’schen Drucktypentelegraphen. In: Bain, Alexander 1843: Certain Improvements in Producing and Regulating Electric Currents and Improvements in Electric TimePieces and in Electric Printing and Signal Telegraphs. Patentschrift GB 9.745 vom 27. November 1843. Sheet 5. Abb. 17: Leonardos Luftschraube, Computergraphik von Mario Taddey/Edoardo Zanon. In: Laurenza, Domenico u. a. 2006: Leonardo dreidimensional. Mit Computergraphik auf der Spur des genialen Erfinders. Stuttgart: Belser. S. 49. Abb. 18: Trimetrische Explosionsansicht des Drucktypentelegraphen Bains. In: März, Michael 2006: Alexander Bain 1843 Anfänge der Bildtelegraphie. Erstellung eines 3-D-Modells von dem Patent No 9745 »Alexander Bain Electric Time-pieces and Telegraphs« mit Solid Works. Projektarbeit, Betreuung: Peter Blohm. HTWG Konstanz: unveröffentlichtes MS. S. 24. Abb. 19: Drucktypentelegraph Bains, CAD-Rekonstruktion mit Schattenriß. In: Ebd. Screenshot der Animation. Abb. 20: Drucktypentelegrap Bains, CAD-Rekonstruktion. In: Ebd. Screenshot der Animation. Abb. 21: Drucktypentelegraph Bains, fotorealistische CAD-Rekonstruktion mit ausgeblendeten Bauteilen und unterlegter Patentzeichnung. In: Ebd. S. 13. Abb. 22: Elektromagnetische Bremse des Drucktypentelegraphen Bains. In: Ebd. S. 14. Abb. 23: Papiertrommelantrieb und Rastermechanismus des Drucktypentelegraphen Bains. In: Ebd. S. 18. Abb. 24: Alexander Bains Drucktypentelegraph von 1843 mit Patentzeichnung Bains. In: Depot in Heusenstamm. Foto: Albert KümmelSchnur. Abb. 25: Fliehkraftregler, Typendruckrad, Druckzylinder von Alexander Bains Drucktypentelegraphen. In: Ebd. Foto: Albert KümmelSchnur. Abb. 26: Elektromagnet von Bains Drucktypentelegraphen. In: Ebd. Foto: Albert Kümmel-Schnur.
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CAD-Visualisierung eines Bildtelegraphen. Ein Werkstattbericht
Einleitung Der nachfolgende Bericht schildert Erfahrungen, die bei der Realisierung einer 3D-CAD-Visualisierung eines Bildtelegraphen von Arthur Korn gemacht wurden. Viele medien- und technikhistorische Arbeiten befassen sich mit Erfindern und Entdeckern aus vergangenen Zeiten. In diesen Texten wird etwa versucht, das Leben solcher Erfinder anhand verschiedener Spuren zu rekonstruieren. Eine mögliche Spur sind selbstverständlich deren Arbeiten, d.h. Erfindungen. Mit etwas Glück finden sich diese in einem Museum. Oftmals sind aber von den Erfindungen wiederum nur Spuren übrig geblieben, z. B. in Form von Patentschriften. Wenn also einerseits weder Originale noch Nachbauten eines bestimmten Apparates auffindbar, andererseits aber Unterlagen wie z. B. Patentschriften, sehr wohl vorhanden sind, besteht heute die Möglichkeit einer realitätsnahen Simulation mit Hilfe von 3D-Visualisierungen. Mittlerweile sind 3D-Visualisierungen aus der Industrie nicht mehr wegzudenken. Produkte sollen dem Kunden durch virtuelle Modelle näher gebracht werden. Eventuelle Änderungen und spezifische Kundenwünsche können direkt am Computer übernommen werden und dem Kunden in kurzer Zeit visuell dargestellt werden. Das macht das Verständnis oftmals einfacher, und Missverständnisse können schneller behoben werden. Auch sind 3D-Visualisierungen immer eine gute Werbung für ein Unternehmen. Und schließlich sind sie sehr viel kostengünstiger zu entwickeln als herkömmliche Prototypen. Im Entwicklungsstadium können viele der aufwendigen Tests auch am Computermodell durchgeführt werden. Diese sind beispielsweise Festigkeitsanalysen sowie Untersuchungen der Aerodynamik. Zu den Visualisierungen kommen häufig auch Animationen hinzu. Das bedeutet, dass die Mechanismen des Modells in der Bewegung realitätsnah ausgeführt werden. Zahlreiche Industriebereiche – z. B. die Automobilbranche, die Maschinenbauindustrie oder die Verpackungsindustrie – nutzen die Möglichkeiten und Vorteile, die diese Alternative zum realen Prototypen bietet. Die kon-
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struierten Modelle werden am Computer simuliert. Die 3D-Visualisierungen ermöglichen detaillierte Einblicke sowie den Blick auf das Modell aus verschiedenen Ansichten. Meist liegt der Anspruch der Ingenieure nicht darin, eine Schraube oder eine Feder so präzise wie möglich abzubilden. Es dreht sich eher darum, die Abläufe und Grundgedanken der Entwicklung anschaulich darzustellen. Ein aufwendiges Design zieht die Blicke an und verkauft sich besser. Genauso ist es auch mit 3D-Modellen in der Industrie. Je aufwendiger das Modell gestaltet ist, desto mehr Kunden werden – beispielsweise auf einer Messe – darauf aufmerksam. Im folgenden Beispiel wurde ein Bildtelegraph des Erfinders Arthur Korn mit Hilfe eines CAD-Konstruktionsprogrammes und einer Patentschrift rekonstruiert und anschließend animiert. Die Motivation für die Erarbeitung dieses Modells ist, wie im vorangegangen Abschnitt beschrieben, das Fehlen eines originalen Bildtelegraphen, an dem die Wissenschafts- und Technikhistoriker ihre Untersuchungen belegen oder einfach nur die vorhandenen Patente überprüfen können. So kam es zu einer Kooperation des Maschinenbaus der HTWG Konstanz mit der Medienwissenschaft der Universität Konstanz und der Kulturwissenschaft der Humboldt-Universität zu Berlin.1 Dieser Bericht soll mit Beispielen, Tipps und Erfahrungswerten aufzeigen, wie Hindernisse umgangen werden können und wo man an Grenzen der Visualisierung mit dem Computer stößt. Der Bericht soll außerdem zeigen, welche Schwierigkeiten auftreten können, wenn handskizzierte Patente mit einem industrieüblichen CAD-Konstruktionsprogramm visuell umgesetzt werden.2
Vom Patent zum 3D-Modell Im Folgenden werden die einzelnen Entwicklungsschritte der Rekonstruktion eines Bildtelegraphen näher erläutert. Einblicke in die Herstellung der Komponenten, die Definition der Gelenke, die Umsetzung der Mechanismen und in die abschließende Animation sollen verdeutlichen, wie komplex dieser Prozess von der Patentrecherche bis hin zum Export
1
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Die beteiligten Professoren sind Prof. Dr.-Ing. Peter Blohm (Maschinenkonstruktion), Prof. Dr. Albert Kümmel-Schnur (Medienwissenschaft) und Prof. Dr. Christian Kassung (Kulturwissensschaft). Ich möchte ausdrücklich meinen Kollegen Alexander Hübner und Martin Striedacher danken, die an der Entstehung dieses 3D-Modells beteiligt waren.
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der Animation ist und wie stark er von mehr oder minder willkürlichen Entscheidungen geprägt ist. Die Konstruktion der Einzelteile. Der erste Schritt zu einer erfolgreichen 3D-Visualisierung ist die Patentrecherche. Im Fall Arthur Korns bedeutet dies ein Vergleichen von mehreren vorhandenen Patenten. Sie zeigen die verschiedenen Schritte der technischen Entwicklungsgeschichte des Bildtelegraphen. Dabei wird davon ausgegangen, dass die unterschiedlichen Patente der Perfektionierung eines einzigen Apparates dienen: Sie stellen die Suche des Erfinders nach der bestmöglichen technischen Umsetzung eines von ihm visionierten Ziels dar. Allerdings trägt auch jedes Patent eine andere Handschrift. Dies macht die Konstruktion des Apparates insofern schwierig, als man sich letztlich für ein Patent entscheiden muss, das die Grundlage für das digitale Modell bildet. Allerdings kann es auch von Vorteil sein, die unterschiedlichen Patente intensiv miteinander zu vergleichen. In vielen Fällen würde eine einzige Patentschrift in eine Sackgasse führen, weil der Verfasser nicht seine gesamten Ergebnisse veröffentlichen will.3 In diesem Fall können andere Patente, die zur gleichen Zeit entstanden sind, unter Umständen weiterhelfen. Oftmals sind die Beschreibungen leicht unterschiedlich. Das bedeutet, dass ein anderes Patent möglicherweise die fehlende Stelle näher erläutert oder man durch Vergleiche und Ausschlüsse verschiedener Möglichkeiten zur Lösung des Problems gelangt bzw. erst einen gangbaren Weg findet. Natürlich sind Patentschriften für die Umsetzung der Konstruktion und Animation umso hilfreicher, je ausführlicher sie sind, d. h. Patentschriften mit sowohl detaillierten Erläuterungen – möglicherweise sogar Maßstabsangaben – und v. a. mit präzisen Zeichnungen. Bei der Realisierung der CAD-Visualisierung haben wir uns konsequent an eine Patentschrift gehalten, die diesen Vorgaben entsprach. Wir haben die dort dargestellten Ergebnisse und Erläuterungen bestmöglich umgesetzt. Dort, wo die Zeichnungen nicht aufschlussreich genug waren, haben wir, wie oben erläutert, Vergleiche mit anderen Patenten angestellt. In einem nächsten Schritt mussten wir uns in die spezielle Sprache der Patentschrift einarbeiten. Das betrifft nicht nur die Texte, sondern besonders auch die sehr eigene Bildsprache. Alle verwendeten Symbole für 3
Ich gehe bei dieser Vermutung davon aus, dass sich die gegenwärtige Patentpraxis auch auf das 19. Jahrhundert und beginnende 20. Jahrhundert übertragen lässt. Heutzutage ist es allgemein üblich, Patentzeichnungen nicht vollständig darzustellen, sondern gezielt auf bestimmte Details zu verzichten, um Plagiate zu verhindern.
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die verschiedensten Komponenten wie beispielsweise elektrische Schaltungen, Motoren, Schrauben, Gelenke und Nummerierungen, die auf einzelne Details hinweisen, mussten identifiziert und zugeordnet werden. Beinhaltet die Patentschrift etwa einen Stromlaufplan (vergleiche Abb. 1), ist es für das Verständnis der Funktionalität des Apparates unumgänglich, diesen genau nachzuvollziehen. So verwendet Arthur Korn in der vorliegenden Patentschrift beispielsweise eine WheatstoneBrücke.4 Sobald dieses Element identifiziert war, konnte seine Funktion entsprechend berücksichtigt und implementiert werden. Jedoch lässt sich aus den Zeichnungen weder eindeutig erkennen, wie die einzelnen Komponenten miteinander verbunden sind, noch was die Aufgabe dieser Brückenschaltung ist. Erst nachdem wir die Funktion der Wheatstone-Brücke über die physikalische Formel auf den vorliegenden Fall angewendet hatten, konnten wir die Abfolge der Prozesse und die Steuerung der Bildübertragung nachvollziehen. Ohne diesen Schritt hätten die Prozesse der Animation in ihrer zeitlichen Abfolge nicht oder nur sehr unzulänglich aufeinander abgestimmt werden können. Auf die zeitliche Abfolge der Mechanismen und die Umsetzung der Animation werde ich weiter unten noch einmal ausführlich zurückkommen. Abbildung 1: Stromlaufplan nach Arthur Korn.
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Die Wheatstone-Brücke ist eine Schaltung zur Messung von elektrischen Gleichstromwiderständen bzw. von Änderungen eines ohmschen Widerstandes. Vier Widerständen, die einen geschlossenen Ring bilden, werden zur Brücke, indem eine Spannungsquelle in die eine Diagonale und ein Spannungsmesser in die andere eingesetzt wird.
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Bevor wir zum nächsten Schritt, der Konstruktion des Apparates übergegangen sind, haben wir zunächst einen Plan erstellt, welche Komponenten für die Konstruktion die höchste Priorität besitzen. Für die Realisierung des Projektes wurde die Konstruktionssoftware ProEngineer Wildfire 2.0 (PTC®) verwendet. Grundsätzlich sollte eine solche Animation aber auch mit jeder anderen Konstruktionssoftware realisiert werden können. Man kann zumindest für das 19. Jahrhundert und beginnende 20. Jahrhundert davon ausgehen, dass jede Patentzeichnung ohne Maßstab und ohne irgendwelche Bemaßungsangaben veröffentlicht wurde. Dies macht es schwierig abzuschätzen, welche Ausmaße bzw. welche Größe der Apparat gehabt hat und haben wird. Für die Konstruktion der Einzelkomponenten ist es wichtig, zumindest deren Bemaßungen abschätzen zu können. Hieraus können dann später die anderen Größen abgeleitet werden. In der von uns verwendeten Patentschrift Arthur Korns konnten wir aus den Angaben, die er als Zusatzinformation lieferte, gewisse Komponenten rekonstruieren und anhand dieser den Apparat vervollständigen. Mit Zusatzinformationen sind jene Erläuterungen gemeint, die zum Beispiel die eingesetzten Zukaufteile betreffen. Diese benennt Korn mit Namen und nennt zum Teil auch detaillierte Adressen, wo er die besagten Komponenten erwerben konnte, etwa für Lampen, Batterien und Selenzellen. Abbildung 2: Maße des Glaszylinders und der Nernstlampe übertragen in das 3D-Modell.
Eine weitere Möglichkeit der Rekonstruktion von nur implizit vorhandenem Wissen ist die umgekehrte Herangehensweise über die Maße der
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übertragenen Bilder. Arthur Korn gibt konkrete Größen für Bilder an, die zum einen auf dem Sender aufgelegt wurden und zum anderen zum Empfänger übertragen worden sind. Mithilfe dieser Angaben konnten die ersten Einzelteile konstruiert werden. Ausgehend von diesen Informationen wurden auch alle weiteren Komponenten entwickelt (Abb. 2 stellt die ersten Teilkomponenten der Konstruktion dar). Wie bereits angedeutet, sind die Angaben der Patentzeichnungen und Skizzen immer in gewissem Grade unvollständig, um eventuelle Nachbauten zu vermeiden. Umso wichtiger ist deshalb ein kritischer Blick auf das Verhältnis von Theorie und Praxis, bzw. die Überprüfung der Realisierbarkeit des Patents. Mit Blick auf die Realisierbarkeit haben wir uns die folgenden Fragen bei der Konstruktion jeder einzelnen Komponente gestellt: Wie hat der Erfinder die Teile hergestellt? Welche maschinellen Möglichkeiten konnte er zum Zeitpunkt der Patentierung nutzen und zu welchen Materialien hatte er Zugang, bzw. welche Materialien sind für die jeweilige Funktion eingesetzt worden? Natürlich ist es für ein digitales Modell nicht unbedingt notwendig, genau zu wissen, welches Material verwendet wurde, jedoch ist es für die Konstruktion und v. a. für die Animation extrem wichtig, sich hierüber Klarheit zu verschaffen. Der Grund liegt in den jeweiligen Eigenschaften eines jeden Materials. Da wir die Bewegungen so realitätsnah wie möglich darstellen möchten, müssen wir auch das Bewegungsverhalten einer jeden Komponente und des gewählten Materials berücksichtigen. Deshalb konnten wir mit Hilfe der Software und der dadurch gegebenen Möglichkeiten, die im Folgenden genauer erläutert werden, die Bewegung etwa eines Metallblechs in der Visualisierung nachempfinden. Im Fall des Korn’schen Apparates mussten wir uns in vielen Situationen eine weitere wichtige Frage stellen: Wie war es überhaupt möglich, diesen komplexen Mechanismus herzustellen? Es handelt sich immerhin um einen der ersten Apparate, mit dem eine erfolgreiche Bildübertragung möglich war. Die Schwierigkeit lag nicht nur in der Auswahl der richtigen Materialien, sondern auch beim taktgenauen Zusammenspiel der Einzelmechanismen. Eine Übertragung von Bildern mit diesem Apparat setzt voraus, dass Sender und Empfänger synchron funktionieren. Dies bedeutet, dass eine Aktion des Senders zeitgleich eine Reaktion des Empfängers auslöst. Somit muss schon beim Antrieb des Empfängers und des Senders, der in Abb. 3 dargestellt ist, ein präzises Funktionieren vorausgesetzt werden.
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Abbildung 3: Antrieb des Senders durch Elektromotor (der Antrieb des Empfängers ist baugleich ausgeführt).
Informationen, die uns der Erfinder dazu liefert, sind ein Elektromotor mit 0,5 PS Antriebsstärke, bei dem man mittels eines Frequenzanzeigers relativ genau die Drehgeschwindigkeit bestimmen kann. Außerdem liefert Korn die Steigung seiner eingesetzten Führungsspindeln, die im Sender und im Empfänger die Zylinder bewegen. Aus diesen Angaben soll ein verlässlicher Antrieb konstruiert werden. Wir haben uns dazu entschieden, einen Schneckenantrieb (vergleiche Abb. 4a) mit einer Evolventenverzahnung (vergleiche Abb. 4b) zu wählen. Abbildung 4a: Getriebe (Detailansicht: Schneckenrad).
Abbildung 4b: Getriebe (Detailansicht: Evolventenverzahntes Zahnrad).
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Dieser liefert die nötige Genauigkeit und Geschwindigkeit bei sehr geringem Platzbedarf. Die Auswahl dieses Antriebs zog weitere Fragen nach sich: Wie wurden die Schleifkontakte ausgeführt und verwirklicht? Wurden Lager eingesetzt oder Hülsen? Und wie wurden die einzelnen Teile miteinander verbunden? Während der Konstruktion sind immer wieder Fragen aufgetaucht, die sich aus der Patentschrift heraus nicht beantworten ließen. An solchen Punkten mussten Annahmen getroffen werden, die uns sinnvoll erschienen, die aber, sollten sie sich als nicht zutreffend erweisen, keinen Einfluss auf die Funktionalität haben durften. Abbildung 5, links: Patentzeichnung des Gebers, rechts: Explosionszeichnung des Gebers.
In Abb. 5 ist der Geber des Bildtelegraphen aus der Patentschrift dargestellt. Die Lichtquelle (rechts unten) besteht aus einer Nernstlampe. Das Licht wird durch eine Linse so fokussiert, dass der Brennpunkt genau auf der Filmoberfläche liegt. Um eine feinere und exaktere Abtastung des Lichtstrahls auf dem lichtdurchlässigen Film zu erreichen, wird in den Metallzylinder, der die Übertragung vor äußeren Lichteinflüssen schützt, eine weitere Linse eingebaut. Der Zylinder, auf den der Film aufgetragen wird, ist aus Glas. Auf dem Film befindet sich das Bild, das übertragen werden soll. Es besteht nur aus Graustufen. Im Inneren des Zylinders befindet sich ein totalreflektierendes Prisma.5 Dieses leitet 5
Totalreflektierende Prismen haben die Eigenschaft, dass das einfallende Licht an der Eintrittsfläche gebrochen, an der zweiten Fläche total reflek-
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die unterschiedlichen Lichtintensitäten auf die sich am Boden befindende Selenzelle weiter. Selen ist ein Material, das durch den Einfluss von Licht seinen elektrischen Widerstand ändert. Das Selen wandelt also die Grauwerte des Bildes in unterschiedlich starke Stromflüsse um. Bis hierher sind aus konstruktionstechnischer Sicht noch keine großen Schwierigkeiten zu erwarten. Die Maße des Glaszylinders waren vom Erfinder vorgegeben. Die Maße der Nernstlampe konnten wir durch Recherchen herausfinden. Somit ließen sich die ersten Komponenten konstruieren. Die Bemaßung aller weiteren Teile ergab sich aus diesen Kernkomponenten. Der Zylinder in Abb. 5 (rechts), der den Glaszylinder umgibt, ist aus Metall und hat die Aufgabe, den Einfall des Lichtstrahls von äußeren Lichteinflüssen abzuschirmen. An dem Glaszylinder wird eine runde Metallplatte befestigt. In der Mitte wird ein Gewinde in die Bohrung geschnitten. Die Führungsspindel wird in das Gewinde geschraubt und mit einer Mutter gesichert. Auf der Metallplatte sind außen zwei Rollen angebracht, die die Rotation des oberen Metallzylinders auf den Glaszylinder übertragen. Dies geschieht durch zwei Führungsschienen, die in den Metallzylinder eingelassen sind. Die Steigung der Gewindespindel ist in der Patentschrift angegeben.6 Es gibt zwei Möglichkeiten: Entweder wird der Geber mit 2 mm und der Empfänger mit 1mm Steigung oder der Geber mit 1mm und der Empfänger mit 0,5 mm Steigung ausgeführt. Das bedeutet, dass die Bilder im Maßstab 1:2 übertragen werden. An diesem Punkt stößt die Rekonstruktion an die Darstellungsgrenzen der Software. Eine Welle mit einem Gewinde, das eine Steigung von 2 mm oder 1 mm hat, ist in den meisten Einstellungen gerade noch erkennbar. Wenn man aber das Gewinde mit 0,5 mm Steigung darstellen will, wird das Gewinde in der Gesamtansicht nicht mehr aufgelöst. Lediglich durch die Zoomfunktion, die ein Detail explizit herausstellt, wird das Gewinde mit Steigung 0,5 mm sichtbar. Da aber der Betrachter auch in der Gesamtansicht so viele Details wie möglich erkennen soll, haben wir uns für die größere Steigungsvariante bei der Konstruktion des Modells entschieden. Damit wird deutlich, dass gewisse inhaltliche
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tiert (d. h. es findet eine nahezu verlustfreie Reflexion des Lichts statt) und an der Austrittsfläche wieder abgelenkt wird. Arthur Korn hat für seinen Apparat ein Prisma verwendet, bei dem Ein- und Austrittsfläche in einem 90°-Winkel zueinander stehen und die Reflexionsfläche die diagonale Verbindung bildet, vergleiche auch Abb. 5 links. Unter der Steigung eines metrischen Gewindes versteht man den Weg (in axialer Richtung), der bei genau einer Umdrehung zurückgelegt wird. Früher wurde dieser Weg auch mit Ganghöhe bezeichnet.
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Entscheidungen von den eigenen technischen Voraussetzung, d. h. der verwendeten Hard- und Software, abhängig waren. Die Umsetzung des Antriebs und die Übertragung der Bewegung auf die Zylinder ist nicht eindeutig aus der Patentzeichnung herauszulesen. Die von uns modellierte Lösung muss also nicht unbedingt die einzige Variante sein. Das Antriebsrad, das über den Motor und das Schneckengetriebe angetrieben wird (siehe Abbildung 3), ist fest mit dem Metallzylinder verbunden. Vermutlich wurde das Zahnrad durch Aufpressen befestigt. Das Lager, das den Zylinder hält und durch das die Drehbewegung gelagert ist, muss vor dem Aufpressen auf den Zylinderansatz aufgesetzt werden. Oberhalb des Zahnrades ist eine weitere Hülse angebracht. Diese besitzt ein Innengewinde. Durch dieses Gewinde schraubt sich die Gewindestange nach oben. Über die Befestigung der Komponenten und die verschiedenen Unterbauten, auf welchen die Komponenten gebaut sind, hat Korn in der Patentschrift bzw. in der Patentzeichnung keine Angaben gemacht. Durch Recherchen konnte aber geklärt werden, welche Materialien hierfür um die Jahrhundertwende häufig verwendet wurden. Deshalb haben wir die Komponenten aus Holz gebaut. Dieses Material ist günstig und dämpft zusätzlich mögliche Schwingungen und Vibrationen, die beispielsweise durch den Motor übertragen werden. Außerdem ist Holz einfach zu verarbeiten. Alle weiteren Einzelteile des Empfängers, der Selenkompensationseinheit und die sonstigen benötigten Komponenten haben wir mit derselben Vorgehensweise konstruiert. Diese Baugruppen werden hier im Text deshalb nicht weiter im Detail erläutert. Nachdem nun alle Einzelteile vorhanden waren, bestand der nächste Schritt im Zusammenbau des Modells. In der Realität würde man nach der Konstruktion der Einzelteile alle Teile statisch bzw. fest zusammenfügen. Ein solches Vorgehen ist zeitsparend und für die Industrie und die dort definierten Anforderungen ausreichend. Anschließend würde man die Komponenten fertigen lassen, um sie dann mechanisch zusammenzubauen. Alle Mechanismen und Gelenke wären sofort einsatzbereit. Bei der Konstruktion eines animierten 3D-Modells sind die Gelenke und Mechanismen jedoch nicht automatisch einsatzbereit. Jedes einzelne Gelenk und jeder einzelne Mechanismus muss individuell angepasst und initialisiert werden. Die Voraussetzung für einen Mechanismus ist ein funktionierendes Gelenk. Die Definition dieser Gelenke ist mit einem hohen Aufwand verbunden. Deshalb haben wir aus Effiziensgründen alle Komponenten in einem ersten Versuch statisch zusammengefügt. Bei diesem Schritt konnten wir eventuelle Konstruktionsfehler schnell und unkompliziert ausbessern. Erst nachdem alle Teile passge-
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nau in das Modell eingefügt waren, folgte der Zusammenbau zu einem dynamischen Modell. Jedes einzelne Gelenk wurde für die später verwendeten Mechanismen definiert. Das heißt, dass an jeder Stelle, an der später eine Bewegung stattfinden soll, ein entsprechendes Gelenk eingebaut wird. An einigen Punkten stießen wir an die Grenzen der Software. Nicht jede Bewegung, wie beispielsweise die Biegung eines Metallbleches oder eines Metallfadens, kann von der Software modelliert werden. Doch durch die geschickte Verbindung von mehreren Gelenken, die in der Animation als ein Gesamtgelenk agieren, konnten alle mechanischen bzw. dynamischen Bewegungen realitätsnah ausgeführt werden. Die dynamische Definition der Gelenke. Im Wesentlichen sind wir bei der Konstruktion der Gelenke genauso vorgegangen wie beim statischen Zusammenbau der einzelnen Komponenten. Allerdings wählten wir bei der Komponentenplatzierung aus den beiden Auswahlmöglichkeiten der Software nicht »statisch platzieren« sondern »mechanisch verbinden«. Dort kann man aus verschiedenen Verbindungstypen auswählen. Diese sind Starr, Drehgelenk, Schubgelenk, Zylinderlager, Planar, Kugel, Schweißverbindung, Lager, Allgemein, 6 Freiheitsgrade und Führung. Für die jeweilige Anwendung kann hier auch das benötigte Lager gewählt werden, wobei wiederum neue Fragen und Probleme auftraten. Um die Funktionen und Bewegungen, die mit den einzelnen Verbindungstypen verwirklicht werden können, ausgiebig zu analysieren und zu testen, bedienten wir uns einer einfachen Hilfskonstruktion, denn als wir die ersten Drehgelenke in den Wellen des Modells implementiert hatten, konnten wir auf dem Bildschirm keine Bewegung erkennen. Auf einem zweidimensionalen Bildschirm ist es sehr schwierig, die Bewegung einer Welle, die drehend gelagert ist, für den Betrachter sichtbar darzustellen. Da bei unserem Projekt sehr viele Verbindungstypen eingesetzt werden mussten, was mit enormem Zeitaufwand verbunden war und häufig zu Fehlern führte, nutzten wir also eine Hilfsvorrichtung, um bei der Definition der individuellen Verbindungstypen die korrekte Verwendung vorab zu testen. Eine Nockenwelle, wie sie im Motor eines Fahrzeugs eingesetzt wird, hat sich als Hilfsmodell hervorragend geeignet. Die Nocken simulieren eine dreidimensionale Bewegung – z. B. eine Drehbewegung – am Bildschirm so, dass sie vom Betrachter wahrgenommen werden kann. Als Auflagepunkte für die Nockenwelle haben wir zwei Lagerstellen in das Modell eingebaut. Auf diese Weise konnten wir alle Bewegungen und Verbindungstypen, die im oberen
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Abschnitt erläutert wurden, mit einfachen Mitteln testen, bevor wir sie in das Modell des Bildtelegraphen implementierten. Exemplarisch für die Versuche mit der Hilfsvorrichtung wird im Folgenden die Definition des Drehgelenks erläutert. Erst nach dessen erfolgreicher Konstruktion beschäftigten wir uns mit der Definition der Nockenwelle und somit der des Drehgelenks. Wir legten zuerst die Drehachse und dann zwei Flächen oder Ebenen fest, um eine Verschiebung in axialer Richtung zu verhindern. Die Nockenwelle ließ sich anschließend mit Hilfe der Maus manuell um die ausgewählte Achse drehen. Bei der Konstruktion des Bildtelegraphen wurden mehrere Drehgelenke verwendet. Für uns war es sehr hilfreich, die Drehgelenke individuell zu benennen, damit wir sie bei der Bearbeitung der Mechanismen direkt zuordnen und im Falle von Änderungen sofort sehen konnten, um welches Gelenk es sich handelt. Jedes so definierte Gelenk kann in seiner Auslenkung begrenzt werden. Dies war für einzelne Anwendungen sehr nützlich. Bei der Realisierung des Bildtelegraphen haben wir beispielsweise in jedes Gelenk, das für einen Schaltmechanismus eingesetzt wurde, eine Winkelbegrenzung definiert. Man kann sich hier einen einfachen Schalter vorstellen, der bei Drehung um eine bestimmte Achse einen Kontakt auslöst. Da aber der später zum Gelenk hinzugefügte Motor nur eine kontinuierliche Drehbewegung ausführen kann, muss eine Begrenzung im Gelenk definieren, wie weit sich der Schalter vom Kontakt abheben soll. Danach bewegt er sich wieder in die Standard- bzw. Ausgangsposition zurück. Wichtig für die Funktionalität des Apparates ist außerdem, dass alle Komponenten, die die gleiche Bewegung ausführen, in einer Unterbaugruppe zuerst statisch miteinander verbunden werden. Andernfalls wird es schwierig, für jedes einzelne Teil die individuellen Bedingungen für eine Drehbewegung und/oder Verschiebung zu definieren. Eine ebenfalls sehr hilfreiche Verbindungsdefinition ist die des Zylinderlagers. Ein Zylinderlager kann dann eingesetzt werden, wenn zu der bisher beschriebenen rotatorischen eine translatorische Bewegung hinzukommt. Im Bildtelegraphen musste auf Geberseite eine solche Lagerkomponente für die Bewegung des Glaszylinders ausgewählt werden. Dieser soll sich durch die eingebaute Führungsspindel über eine Mutter nach oben schrauben. Eine solche zusammengesetzte Bewegungsform ist von der Software aber nicht in dieser Weise darstellbar. Es gibt keinen Befehl für Einschrauben und Ausschrauben. Wir vereinfachten den Mechanismus, indem wir die Führungsspindel als eine einfache Welle nachgebaut haben. Wenn der Mechanismus vollständig definiert ist, lässt sich so eine Schraubbewegung simulieren.
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Bei der Definition des Zylinderlagers mussten wir folgendermaßen vorgehen: Zuerst löschen wir die Nockenwelle aus der Baugruppe. Danach fügen wir sie nicht als Drehgelenk, sondern als Zylinderlager ein. Da die Translationsachse und die Rotationsachse üblicherweise zusammenfallen, wählt man die gewünschten Achsen aus: zum einen die Achse der Bohrung im Lagersitz und zum anderen die Achse der Nockenwelle. Man kann weitere Verbindungsdefinitionen als Bedingung hinzufügen. Dies ist dann sinnvoll, wenn man beispielsweise die Komponente an einer anderen Stelle fest verbinden möchte. Abbildung 6: Synchronisierungseinheit mit Detailansicht der Feder.
Wird ausschließlich eine translatorische Bewegung benötigt, so lässt sich dies durch ein Schubgelenk modellieren. Ein wichtiges, ja zentrales Beispiel ist die Synchronisationseinheit des Bildtelegraphen, die Korn mithilfe einer Feder realisiert. Wir haben uns dazu entschieden, diese Feder (vergleiche Abb. 6, Detailansicht) durch zwei spiralförmig ineinander laufende Zylinder auszuführen. Diese sollen sich aber lediglich ineinander schieben, und es soll keine Drehbewegung stattfinden. Aus diesem Grunde wurde das Schubgelenk als Verbindungstyp ausgewählt. Auch hier können wir die Bewegung später im Mechanismus simulieren. Bei der Definition in Verbindung mit einem Drehgelenk haben wir die Erfahrung gemacht, dass es wichtig ist, zwei Ebenen oder Flächen zu wählen, die eine Rotation der Komponenten verhindern. Das heißt, es werden zwei Referenzen in der Baugruppe benötigt, die sich in kei-
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nem Fall drehen. Andernfalls dreht sich das definierte Schubgelenk mit dem Drehgelenk mit. Mechanismen bringen Bewegung ins Modell. Im vorhergehenden Abschnitt wird öfters darauf hingewiesen, dass wir für die Animation des Apparates sogenannte Mechanismen einbauen mussten, um die Bewegungen der Realität entsprechend modellieren zu können. Jedes Gelenk oder besser gesagt jede Komponente, die in der späteren Animation eine automatisierte Bewegung ausführen soll, muss mit einem Mechanismus vervollständigt werden. Einen Mechanismus muss man sich wie einen Antrieb vorstellen. Gelenke werden in der Regel dazu verwendet, Dinge beweglich zu machen. Nachdem wir also die verschiedenen Bauteile mit Gelenken verbunden haben, ging es im nächsten Schritt darum, diese Mechanismen zu definieren. Auch hier bietet die Konstruktionssoftware dem Nutzer verschiedene Mechanismen zur Auswahl an. Für die jeweilige Anwendung muss der passende Mechanismus gefunden werden. Einige der von uns verwendeten Antriebe werden nun näher betrachtet. Abbildung 7: Programmoberfläche CAD-Programm: ProEngineer 2.0/ Student Version; Mechanismus: Führungskopplung.
Beginnen wir mit dem Geber des Bildtelegraphen. Um den soeben beschriebenen Führungsmechanismus, bei dem sich die beiden Rollen, die an dem Glaszylinder befestigt sind und sich in zwei Führungsschienen im Metallzylinder bewegen, zu realisieren, wählten wir den Mechanismus »Führungskupplung«. Dazu mussten zuallererst einige Vorbereitungen getroffen werden. Zunächst gingen wir davon aus, dass die Bewegung einen bestimmten Start- und Endpunkt benötigt. Diese mussten wir demnach am Anfang definieren. Die beschriebenen Punkte haben wir in die Führungsschiene des Metallzylinders gelegt. So sind die Punkte jederzeit auch in der Baugruppe sichtbar und verwendbar. Als nächstes benötigten wir einen sogenannten »Kopplungspunkt« (vergleiche Abb. 7).
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Diesen haben wir auf die Umfangsfläche der Rolle gelegt, also genau auf die Fläche, die später in der Schiene bewegt wird. Mit anderen Worten wird der Kopplungspunkt immer auf die sich bewegende Komponente gesetzt. Als nächstes wird die Führungskupplung definiert. Über einen Assistenten (vergleiche Abb. 7, rechts im Bild) konnten wir dann die eingefügten Punkte sowie die Führungskurve auswählen. Eigentlich wollten wir durch die Definition von Start- und Endpunkt die Bewegung so beschränken, dass Durchdringungen vermieden wurden. Bei der Einbindung des Motors, der den Zylinder später in Rotation versetzen soll, kam es jedoch zu erheblichen Komplikationen. Deshalb haben wir uns entschieden, mögliche Durchdringungen erst einmal in Kauf zu nehmen und den Mechanismus als Führung ohne bestimmten Startund Endpunkt auszuführen. Eine weitere mechanische Einrichtung sind die sogenannten »Kurvenscheiben«. Diese werden verwendet, um eine Durchdringung von Körpern zu verhindern, womit wir zum zentralen Bauelement aller Bildtelegraphen kommen. Den von Arthur Korn beschriebenen Synchronisationsmechanismus kann man mit der CAD-Software nicht direkt umsetzen. Es handelt sich um einen kleinen, unscheinbaren, aber für die Funktion des Apparates eben unumgänglichen Schalter, mit dessen Hilfe die Synchronisation von Geber und Empfänger erzeugt wird. Korn beschreibt im Patent eine Nocke, die am äußeren Metallzylinder des Gebers angebracht ist (vergleiche den schwarzen Halbkreis in Abb. 8). Abbildung 8: Geber mit Detailansicht »Nocken«; der Kontakt gibt den Synchronisierungsbefehl frei.
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Dieser hebt bei jeder Umdrehung einen Kontakt ab. Der Kontakt schließt einen Stromkreislauf. Dieser wiederum synchronisiert den Empfänger mit dem Sender. Um den Schalter so realitätsnah wie möglich zu simulieren, wurde der Schalter, der vermutlich nur aus einem einfachen Metallblech bestand, das bei jeder Umdrehung durch die Nocke angebogen wurde, mit Hilfe eines Gelenks beweglich gemacht. Durch die Definition eines Kurvenscheibenmechanismus konnten wir eine einfache Lösung für die taktgenaue Auslösung des Kontaktes finden. Wichtig war bei diesem Mechanismus, dass mindestens eine Fläche der Kopplungskörper als Kurve ausgeführt ist. Aus diesem Grund haben wir auf beiden aneinander vorbeigleitenden Körpern einen Radius konstruiert. Als Kurvenscheibenkörper wurde der Nocken am Zylinder gewählt, als Kopplungskörper die abgerundete Fläche auf dem Metallblättchen des Schalters. Allerdings gibt es noch einen weiteren Grund, warum der Kurvenscheibenmechanismus für die benötigte Bewegung der einzig richtige Mechanismus ist. In der Realität wäre eine Durchdringung der beiden Körper nicht zu erwarten; sie würden sich einfach berühren. Dieser Effekt ist aber für die Software alles andere als selbstverständlich. Ohne zusätzliche Definition würde der gelbe Halbkreis einfach durch den schwarzen Halbkreis hindurchgleiten (vergleiche Abb. 8). In der Animation wird diese Durchdringung durch den genannten Kurvenscheibenmechanismus verhindert: Die beiden Körper gleiten jedes Mal, wenn sie sich erneut berühren, entlang der definierten Flächen aneinander vorbei. Auf diese Weise konnten wir die Durchdringung der Komponenten verhindern. Der Mechanismus ist also der Realität entsprechend nachempfunden. Der Antrieb des Gebers wie auch des Empfängers wird, wie bereits eingangs geschildert, im Modell durch ein Schneckengetriebe verwirklicht. Ein Elektromotor dient als Ausgangspunkt. Eine Welle, die am Ende als zweigängige Schneckenverzahnung ausgeführt wird, treibt ein evolventenverzahntes Zahnrad an, das mit dem Zylinder verbunden ist.7 Dieses Getriebepaar kann über einen Mechanismus definiert werden. Somit ließ sich ein Verzahnungspaar realitätsnah darstellen. Das Übersetzungsverhältnis bzw. die Zähnezahlen haben wir individuell auf die
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Evolventenverzahnung bezeichnet einen bestimmten Typ von Verzahnungen für Zahnräder. Die Form der Zähne ergibt sich durch verschiedene, aneinandergesetzte Evolventen. Evolventenverzahnungen haben den Vorteil, dass es im Wälzpunkt auf dem Wälzkreisdurchmesser zu reinem Wälzen kommt und daher insgesamt eine geringe Reibung vorliegt, womit sie eine längere Lebensdauer besitzen.
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von uns errechneten Abtriebsdrehzahlen, des Empfängers und Senders, angepasst. Die Definition der Motoren ist ebenfalls eingangs schon angesprochen worden. An dieser Stelle soll es uns nicht um den elektrischen Antrieb des Bildtelegraphen gehen, so wie ihn Arthur Korn vorgesehen hatte. Wenn wir Motoren in die Visualisierung einbauen, dann sind dies fiktive Servomotoren, die in den Gelenken definiert werden.8 Sie führen in der späteren Animation dazu, dass sich die Komponenten bewegen. In ProEngineer können mehrere Motorvarianten definiert werden. Folgende wurden von uns für das Modell verwendet und werden nun näher erläutert: Ein Motor für zeit- und winkelabhängige Bewegungen, ein Motor für gleichförmige, rotatorische Bewegungen und ein Motor für eine gleichförmige, rotatorische und translatorische Bewegung. Für den erstgenannten Motor wurde eine bereits erläuterte Winkelbegrenzung benötigt. Zuerst wählten wir das Gelenk oder die Achse, an die der Motor gebunden werden soll. Danach können die sogenannten »Servomotoren« definiert werden. Verschiedene Voreinstellungen lassen sich individuell auswählen. Die Motoren werden anschließend in die eingebauten Gelenke implementiert. Im Fall des winkelbegrenzten Motors haben wir die Einheit in mm bzw. Grad gewählt. Diese Einstellung wird »Position« genannt. Weitere Auswahlmöglichkeiten sind »Geschwindigkeit« (mm/sec) und »Beschleunigung« (mm/sec2). Als Nächstes mussten die konkreten Bewegungswerte bestimmt werden. Wir verwendeten hierfür eine Tabelle, in der für bestimmte Zeitpunkte angegeben wird, an welche Position der Motor den Hebel bewegen soll. Die Zeit für eine Umdrehung des Rades, das von dem Hebel angehalten wird, kann aus den Angaben von Arthur Korn entnommen werden. Ausgehend von diesen Informationen wurden die Stellungen des Hebels in 0,2 Sekundenschritten in die Tabelle eingetragen (vergleiche Tab. 1). Der Motor bewegt den Hebel so, dass er innerhalb der festgelegten Zeit auf seinem definierten Endpunkt angelangt ist. Zwischen den Zeitpunkten, in denen keine bestimmten Winkel eingetragen sind, interpoliert die Software. Auf diese Weise entsteht eine flüssige Bewegung des Schalters.
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Servomotoren sind elektrische Motoren unterschiedlicher Bauart, die mit einem Servoregler einen Servoantrieb bilden. Der Betrieb kann dabei momentengeregelt, geschwindigkeitsgeregelt oder positionsgeregelt sein. Dies ermöglicht eine Anpassung an verschiedenste Anwendungen. Die CADSoftware bietet diese Motorvariante ebenfalls als Mechanismus an.
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Tabelle 1: Positionsbestimmung des Hebels mittels Tabellenwerte.
Stellung des Hebels in Grad Zeitpunkt in sec 0°
0
0°
0,2
0°
0,4
2°
0,6
4°
0,8
4,5°
1,0
5°
1,2
Wir mussten die Animation mehrmals einspielen, um die Tabelle entsprechend anpassen zu können. Oftmals fiel uns erst in der Animation auf, dass sich der Schalter nicht realitätsnah verhält. Das ist dann der Fall, wenn beispielsweise der Schalter, kurz bevor die Endzeit der Drehung erreicht ist, auf die Zielposition springt. Mit einem solchen Bewegungsverhalten hätte ein realer Schalter niemals den Mechanismus freigeben können, der das Rad anhalten soll. Um diesem Phänomen entgegenzuwirken, haben wir in der Tabelle einzelne Winkelzwischenschritte eingetragen. Durch diese Maßnahme bewegt sich der Motor langsamer zu seinem Endpunkt, und die Animation wirkt realisitätsgetreuer. Eine weitere Antriebsvariante, die von uns für die Modellierung des Bildtelegraphen eingesetzt wurde, ist ein Motor mit konstanter bzw. gleichförmiger Rotation. Bei einer rotatorischen Bewegung ist die Einheit auf Grad/sec voreingestellt. Diese Art von Motor haben wir im Geber für die Rotation der Führungsspindel eingebaut. Die Rotationsgeschwindigkeit ist in diesem Fall eine Konstante. Sie ist unter anderem abhängig von der Laufzeit der Animation und muss individuell angepasst werden. Wichtig ist hierbei für unsere Simulation, dass sich der Motor bei jedem Neustart wieder auf den Anfangspunkt zurückstellt. Eine reine Rotationsbewegung ist für die Simulation der Bildabtastung aber nicht ausreichend. Da sich der Glaszylinder nicht ausschließlich auf der Stelle drehen soll, mussten wir einen zweiten, translatorischen Motor hinzufügen. Dieser Motor ist mit dem Motor der konstanten Drehbewegung gleichzusetzen. Ihn unterscheidet lediglich die Beziehung zu einem Schubgelenk und die Maßeinheit für die Geschwindigkeit. Diese wird in mm/sec vom Programm bei Auswahl eines Schubgelenks automatisch voreingestellt.
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Das Modell wird animiert Bevor die Mechanismen in die Animation übernommen werden können, müssen sie analysiert werden. Danach konnten wir mit der Zusammenstellung der Animation beginnen. Zunächst wurde entschieden, eine Übersichtstabelle mit allen Motoren, die wir im Modell verwendet haben, zu erstellen. Darin ist festgehalten, wann welcher Motor, welche Darstellung und welche Ansicht ein- bzw. ausgeschaltet wird. Das wichtigste Instrument der Animationsmaske ist der Zeitstrahl, über den die einzelnen Ereignisse koordiniert werden. Als erstes wird eine neue Animation erstellt. Jede Animation wird andere Funktionen und Motoren beinhalten. Deshalb musste jede Animation individuell eingerichtet werden. Dieser Teil des Projektes ähnelt sehr stark dem Konstruktionsteil. Man kann ihn sich wie den Schnitt eines Filmes oder die Programmierung einer Software vorstellen. Wir haben verschiedene Bausteine, die in ein Ganzes eingefügt werden sollen. Dabei müssen Abhängigkeiten gebildet werden, damit das fertige Modell möglichst realitätsgetreu funktioniert. Dieser Übersetzungsschritt stellte sich schwieriger als erwartet dar und zwar in erster Linie aufgrund der großen Anzahl von Komponenten. Wir haben mehrere Versuche durchgeführt, bis wir schließlich eine funktionierende Animation vor uns hatten, die unseren Sehgewohnheiten entsprach. Die größte Schwierigkeit bestand jedoch darin, den Überblick zu behalten und für jedes Ereignis eine Referenz auszuwählen, auf die es sich bezieht, damit es zum richtigen Zeitpunkt gestartet und wieder beendet wird. Dies gilt sowohl für Motoren als auch für Ansichten und Darstellungen. Es bot sich deshalb an, Start- und Anfangsbedingungen festzulegen, die als Referenz dienen konnten. Manuell werden alle Schalter und Hebel in die Ausgangslage gebracht. Danach mussten wir einen sogenannten »Schnappschuss« erstellen. Wir benötigten, aufgrund der zeitlich begrenzten Stellung der Hebel, verschiedene Startbedingungen. Die gespeicherten Szenarien wurden in eine Schlüsselbildfolge eingefügt. Das Programm interpoliert dann zwischen den einzelnen Einstellungen, sodass ein stufenloser Übergang stattfindet. Nachdem dieser Schritt erfolgreich abgeschlossen war, konnten wir alle Motoren und Ansichten initialisieren. An dieser Stelle war die zuvor angefertigte Übersichtstabelle hilfreich. Nach diesem Schema konnten wir die Abhängigkeiten entwickeln und die zeitliche Abfolge bestimmen. Die Dauer unserer animierten Sequenz haben wir immer wieder verkürzt, da wir für die Berechnung einer 33 Sekunden langen Sequenz auf einem PC mit einer Taktung von ca. 2 GHz, 2 GB Arbeitsspeicher und sehr guter Grafikkarte mehr als 20 Minuten Rechenzeit benötigt haben.
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Nachdem nun alle Ereignisse in die Animation eingeschlossen waren, konnten wir eine erneute Analyse des Modells starten. Bei der Analyse werden die Einzelbilder berechnet und die Animation auf Fehler überprüft. Die Abfolge der einzelnen Bilder sah für uns als Betrachter sehr ruckartig und langsam aus. Den anschließenden Export hat dies aber nicht beeinflusst. Jedes Mal, wenn wir Veränderungen am Modell vorgenommen haben, mussten wir eine Analyse ausführen. Sobald alle diese Schritte durchgeführt waren, konnte der Export in ein gängiges Filmformat erfolgen. Damit kann jeder beliebige Benutzer die Animation ohne Installation zusätzlicher Plugins öffnen und abspielen. Allerdings sind dadurch die Möglichkeiten der 3D-Ansicht stark eingeschränkt, da sie auf die Perspektive des von uns vorgegebenen Films beschränkt ist.
Möglichkeiten der 3D-Visualisierung Abbildung 9: Gesamtansicht des Empfängers.
Die Möglichkeiten und Chancen der 3D-Visualisierung sind sehr vielfältig. Theoretisch kann jede nur denkbare Komponente und jede beliebige Bewegung dargestellt werden. Natürlich müssen dazu zunächst alle notwendigen Maßangaben vorhanden sein. Weil unserer Rekonstruktion eine Patentschrift zugrunde lag, waren wir immer wieder gezwungen, Wissenslücken zu füllen, um den Apparat überhaupt erst konstru-
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ieren zu können. Diese Lücken reichten von fehlenden Angaben bis zu, so vermuten wir, bewusst unklaren Beschreibungen in der Patentschrift Arthur Korns. Neben den Konstruktionsgrenzen, die uns die Quelle Patentschrift auferlegt hat, mussten wir aber auch feststellen, dass wir uns bei der Animation an der Grenze des heute technisch Möglichen bewegten. Für eine halbwegs realitätsgetreu simulierte 3D-Visualisierung waren verschiedenste Kombinationen von Gelenken und Mechanismen sowie den exemplarisch beschriebenen Hilfskonstruktionen notwendig. Diese Darstellungsgrenzen hängen stark mit der verwendeten Software zusammen. Wir haben gesehen, dass es keineswegs trivial ist, apparative Bewegungen so zu animieren, dass sie dem Betrachter auch realitätsnah erscheinen. Abbildung 10: Gesamtansicht des Gebers.
Anhand des hier erläuterten Projekts wurde eine der zahlreichen Einsatzmöglichkeiten der animierten 3D-Visualisierung dargestellt. Nicht nur in der Industrie helfen sie dem Betrachter, die Abläufe besser zu verstehen und nachzuvollziehen. Auch bei der wissenschaftlichen Untersuchung von Apparaten können Simulationen dieser Erfindungen aufwendige Nachbauten bzw. nicht vorhandene Originale ersetzen. Ein weiterer und bislang nicht erwähnter Vorteil der digitalen Simulation eines Apparates besteht darin, dass das Modell beliebigen Betrachtern zur Ansicht bereitgestellt werden kann. Die Möglichkeiten eines virtuellen Museums von Apparaten und 3D-Modellen sind dabei noch lange nicht ausgereizt.
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Literatur Korn, Arthur 1907a: Elektrische Fernphotographie und ähnliches. 2. Auflage. Leipzig: Verlag von S. Hirzel. Korn, Arthur 1907b: An Improved Method of Telegraphically Transmitting Photographs and the like and Systems therefor. Patentschrift GB 8.727 vom 12. September 1907. Korn, Arthur 1927: Phototelegraph. Patentschrift US 1.618.964 vom 22. Februar 1927. Korn, Arthur 1930: Picture Telegraph System. Patentschrift US 1.745.018 vom 28. Januar 1930.
Abbildungen Abb. 1: Stromlaufplan nach Arthur Korn. In: Korn, Arthur 1907: An Improved Method of Telegraphically Transmitting Photographs and the like and Systems therefor. Patentschrift GB 8.727 vom 12. September 1907. Fig. 1. Abb. 5 (links): Patentzeichnung des Gebers. In: Ebd. Fig. 3. Alle anderen Abbildungen sind Screenshots der 3D-Visualisierung des Korn’schen Bildtelegraphen durch Martin Straub in Zusammenarbeit mit Alexander Hübner und Martin Striedacher.
Kultur- und Medientheorie Erika Fischer-Lichte, Kristiane Hasselmann, Alma-Elisa Kittner (Hg.) Kampf der Künste! Kultur im Zeichen von Medienkonkurrenz und Eventstrategien November 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 28,80 €, ISBN 978-3-89942-873-5
Sandro Gaycken (Hg.) Jenseits von 1984 Datenschutz und Überwachung in der fortgeschrittenen Informationsgesellschaft. Eine Versachlichung September 2012, ca. 170 Seiten, kart., ca. 19,80 €, ISBN 978-3-8376-2003-0
Sven Grampp, Jens Ruchatz Die Fernsehserie Eine medienwissenschaftliche Einführung Oktober 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 16,80 €, ISBN 978-3-8376-1755-9
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Kultur- und Medientheorie Annette Jael Lehmann, Philip Ursprung (Hg.) Bild und Raum Klassische Texte zu Spatial Turn und Visual Culture Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1431-2
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Tobias Nanz, Johannes Pause (Hg.) Politiken des Ereignisses Mediale Formierungen von Vergangenheit und Zukunft Dezember 2012, ca. 300 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1993-5
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Vittoria Borsò (Hg.) Wissen und Leben – Wissen für das Leben Herausforderungen einer affirmativen Biopolitik September 2012, ca. 260 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-2160-0
Thomas Brandstetter, Thomas Hübel, Anton Tantner (Hg.) Vor Google Eine Mediengeschichte der Suchmaschine im analogen Zeitalter September 2012, ca. 280 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1875-4
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Janina Karolewski, Nadja Miczek, Christof Zotter (Hg.) Ritualdesign Zur kultur- und ritualwissenschaftlichen Analyse »neuer« Rituale August 2012, ca. 310 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1739-9
Markus Leibenath, Stefan Heiland, Heiderose Kilper, Sabine Tzschaschel (Hg.) Wie werden Landschaften gemacht? Sozialwissenschaftliche Perspektiven auf die Konstituierung von Kulturlandschaften September 2012, ca. 200 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1994-2
Christoph Neubert, Gabriele Schabacher (Hg.) Verkehrsgeschichte und Kulturwissenschaft Analysen an der Schnittstelle von Technik, Kultur und Medien September 2012, ca. 250 Seiten, kart., ca. 26,80 €, ISBN 978-3-8376-1092-5
Marion Picker, Véronique Maleval, Florent Gabaude (Hg.) Die Zukunft der Kartographie Neue und nicht so neue epistemologische Krisen September 2012, ca. 330 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 29,80 €, ISBN 978-3-8376-1795-5
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Zeitschrif t für Kultur wissenschaf ten Dorothee Kimmich, Schamma Schahadat (Hg.)
Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012
Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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