Class Trouble. Eine Mediengeschichte der Klassengesellschaft 9783846761526, 9783770561520

Woher kommen die modernen Klassengesellschaften? Es wäre zu einfach, den Kapitalismus oder die Eigenlogik sozialer Syste

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Table of contents :
CLASS TROUBLE: EINE MEDIENGESCHICHTE DER KLASSENGESELLSCHAFT
INHALT
Dank
Text und Technik
Vorwort: 1753
ERSTER TEIL: THEORIE
1. Klassenfragen. Marxistische Anstöße
Was hat das mit Marx zu tun?
Wie die Arbeiterklasse gemacht wurde
Klassenteilung und Klassengesellschaft
Kapitalismus, welcher Kapitalismus?
Geschäft und Lebensführung
Warenform und Klassenform
Die kleine und die große Maschinerie
Kapitalismus auf dem Lande
Die ursprüngliche und die fortgesetzte Teilung
Außerökonomischer Zwang
Kapitalismus im Entwurf
2. Schema und Schublade. Das Unbehagen in der Klassifikation
Vom Realismus zum Nominalismus
Kritik der allzu reinen Vernunft
Unzivilisierte Unterscheidungen
Woher kommen die gedanklichen Teilungen?
Die sozialen Quellen der Logik
Zur ontologischen Macht der Teilung
3. Der Streit der Ordnungen. Klassifikation und Klasse bei Foucault
Eine Archäologie der Klassifikationssysteme
Nicht so klassifiziert zu werden
Mikropolitik und Klassenpolitik
Did you say Rassenkampf?
4. Wie geteilt wird. Luhmann, Bourdieu, Rancière
Luhmann: Systemtheorie als Differenzierungstheorie
Die Reinigung des Klassenbegriffs
Nach dem Vorbild der Verwaltung
Unsichere Grenzziehungen
Bourdieu: Realität der Klassen, Praktiken der Klassifizierung
Verkörperte Strukturen, symbolische Kämpfe
Gefangene des Habitus
Rancière: Die anfängliche Teilung
Von der Polizei zur Politik
Ein Ende aller Klassen
Das Sinnliche der Aufteilung
5. Unterscheidung ist Arbeit. Soziologien der Grenzziehung
Boundary Work
Boundary Objects
Doing Difference
Infrastrukturen der Klassifikation
Historische Sondierungen
6. Methodenfragen: Medien und Mimesis
Querfeldein
Folge den Teilungen!
Das Wie der Unterscheidung
Die Medialität liegt im Detail
Erfindung und Nachahmung
Mimesis und Klassenteilung
Die Farbe des Unterschieds
7. Die alte Ordnung. Ansichten der Ständegesellschaft
Vom Nutzen der Vormoderne für die Moderne
Fremdheit und Vertrautheit
Die Anti-Klassengesellschaft und ihre Reichweite
Das Bild der Großen Kette
Ein fast perfektes System
Sehnsucht nach Gemeinschaft
Rang und Rangelei
Abschied vom Feudalismus
Im Netz der Patronage
Leerlauf der Unterscheidungen
ZWEITER TEIL: GESCHICHTE
8. Classis. Etwas Klassenarchäologie
Ein Wort und seine Vorkommnisse
Zwei Diskursstränge
Der Nomos der Klasse
König Servius
Zur Realität der Urszene
Klasse als Appell
9. Servius Tullius kehrt zurück. Renaissancen des Klassendenkens
1000 Jahre ohne Klassen
Formen der Wiederkehr
Auftritt der Gesetzgeber
Die Utopie der Neuaufteilung
Klassenteilung im römischen Kostüm
10. Ein neuer Landvermesser. William Pettys irische Mission
Klasse als Projekt
Irlandpläne
Der Down Survey
Das Recht der ersten Messung
11. In Reihen und Spalten. John Graunts Entdeckung der Tabelle
»These neglected papers«
Graunts Datenkritik
Die Tabellierung geht weiter
Die Handelsbilanz des Lebens und Sterbens
Politik der Tabelle
Der Stand der Dinge
Unterscheidung und Entscheidung
Von der Repräsentation zur Simulation
12. Anatomie des Sozialen. Der Auftrag der Politischen Arithmetik
Eingreifende Wissenschaften
Politische Rechenkunst
Zählen und Zerlegen
Politik als Management
Der menschliche Reichtum
Facetten der Biomacht
Das Erbe des Surveyors
Vom Projekt zur Staatswissenschaft
Der Klassenbegriff der Politischen Arithmetik
Die Ideologie der Ideologiefreiheit
Die Geduld der Techniken
13. Ähnlichkeit und Gesellschaft. Artens des Zusammenhangs
Mimesis ist politisch
Gute Mimesis, schlechte Mimesis
Himmlische und weltliche Hierarchie
Die Ordnung der Prozession
Foucaults Renaissance
Der Schauplatz der Alchemie
Gold und Geltung
Vier Ähnlichkeiten, revisited
Von der Ähnlichkeit zum Unterschied
14. Herr und Affe. Von der Schwierigkeit ein Gentleman zu sein
Was ist ein Gentleman?
Affiges Verhalten
Aporien der Anpassung
Wunsch, ein Rowdy zu werden
Flucht in den Spleen
Gentleman’s End
15. Massenmedien, Klassenmedien. Die Neuformatierung Englands
Die sogenannte bürgerliche Öffentlichkeit
Freiwillige Selbstsortierung
Krieg der Pamphlete
Zersplitterung und Haufenbildung
Print und Populismus
Im Reich der Neuigkeiten
Medien-Subjekte
Streit um die Kaffeehäuser
Kritik und Koffein
Kapriolen des Vernunftgebrauchs
Egalität und Differenz
Distinktionsmaschine Club
Verbindliche Veröffentlichungen
16. London Classing. Die Freuden der Einordnung
Wiederholte Teilungen
Klassifizierung als Gesellschaftsspiel
Welten der Großstadt
Ned Wards London Spy
Tom Browns Amusements
Medien der Politeness
Der Tatler
Der Female Tatler
Der Spectator
Ironischer Normalismus
17. Reiche gegen Arme. Mandevilles geteilte Gesellschaft
Vom Nutzen der Laster
Liberalismus und Regulation
Gesellschaft als Klassengesellschaft
18. Into classes. Defoes klassifikatorischer Imperativ
Profit und Providenz
Die wahren und die falschen Werte
Der Traum der Eindeutigkeit
Roman und Register
»Mankind must be sorted«
Labouring Poor, Idle Poor
Menschen in Bewegung
19. Klassenfeinde. Swift und andere ›Romanticks‹
Land und Geld
Swifts anti-arithmetischer Kampf
Probleme des romantischen Antikapitalismus
20. Poetische Schlachten. Ein Klassenkampf der Autoren
Die Schreiber von Grub Street
Deklassierte und Klassizisten
Dialektik der Stilkritik
»One of the suburbian Class«
DRITTER TEIL: SCHLUSS
21. Ankunft in der Klassengesellschaft
Dominanz der Klassenform
Woran erkennt man eine Klassenordnung?
»Esse est percipi«
22. Aufstieg und Fall der Klasse
Die Zusammensetzung des sozialen Klassenbegriffs
Die marxistische Anreicherung
Abschied von der Klasse
23. Die klassifizierende Gesellschaft
Von der Klasse zum Cluster
Die freiwillige Verstrickung
Lockruf des Volkes
Zurück zur Klasse?
Nachwort: Unter dem Raster liegt der Strand
Literaturverzeichnis
Abbildungsverzeichnis
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Class Trouble. Eine Mediengeschichte der Klassengesellschaft
 9783846761526, 9783770561520

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Stephan Gregory CLASS TROUBLE

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medien und mimesis Herausgegeben von Friedrich Balke und Bernhard Siegert Wissenschaftlicher Beirat Jane Bennet, Michael Taussig und Uwe Wirth Band 7

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Eine Schriftenreihe der Forschergruppe »Medien und Mimesis« Diese Publikation wurde gefördert von der Deutschen Forschungsgemeinschaft.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk sowie einzelne Teile desselben sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen F ­ ällen ist ohne vorherige schriftliche Zustimmung des Verlags nicht zulässig. Diese Arbeit wurde im Januar 2019 unter dem Titel »Class Trouble. Klassifikation und Klassenkampf um 1700« als Habilitationsschrift an der Fakultät Medien der BauhausUniversität Weimar eingereicht. Das Habilitationskolloquium fand am 3. Februar 2020 statt. © 2021 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV , Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA , USA ; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) www.fink.de Reihengestaltung und Satz: Martin Mellen und Peter Zickermann, Bielefeld Herstellung: Brill Deutschland GmbH, Paderborn ISSN 2629-706X ISBN 978-3-7705-6152-0 (hardback) ISBN 978-3-8467-6152-6 (e-book)

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Für Karla, das klassenlose Wesen

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INHALT Dank  13 Text und Technik  15 Vorwort: 1753  17

ERSTER TEIL: THEORIE 1. Klassenfragen. Marxistische Anstöße  23 Was hat das mit Marx zu tun?  23 Wie die Arbeiterklasse gemacht wurde  24 Klassenteilung und Klassengesellschaft  29 Kapitalismus, welcher Kapitalismus?  33 Geschäft und Lebensführung  35 Warenform und Klassenform  39 Die kleine und die große Maschinerie  43 Kapitalismus auf dem Lande  48 Die ursprüngliche und die fortgesetzte Teilung  51 Außerökonomischer Zwang  55 Kapitalismus im Entwurf  58

2. Schema und Schublade. Das Unbehagen in der Klassifikation  63 Vom Realismus zum Nominalismus  63 Kritik der allzu reinen Vernunft  65 Unzivilisierte Unterscheidungen  73 Woher kommen die gedanklichen Teilungen?  78 Die sozialen Quellen der Logik  83 Zur ontologischen Macht der Teilung  91

3. Der Streit der Ordnungen. Klassifikation und Klasse bei Foucault  95 Eine Archäologie der Klassifikationssysteme  95 Nicht so klassifiziert zu werden  101 Mikropolitik und Klassenpolitik  107 Did you say Rassenkampf?  114

4. Wie geteilt wird. Luhmann, Bourdieu, Rancière  125 Luhmann: Systemtheorie als Differenzierungstheorie  126 Die Reinigung des Klassenbegriffs  131 Nach dem Vorbild der Verwaltung  138 Unsichere Grenzziehungen  142

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I nhalt

Bourdieu: Realität der Klassen, Praktiken der Klassifizierung  145 Verkörperte Strukturen, symbolische Kämpfe  150 Gefangene des Habitus  155 Rancière: Die anfängliche Teilung  157 Von der Polizei zur Politik  161 Ein Ende aller Klassen  163 Das Sinnliche der Aufteilung  166

5. Unterscheidung ist Arbeit. Soziologien der Grenzziehung  169 Boundary Work  169 Boundary Objects  172 Doing Difference  174 Infrastrukturen der Klassifikation  176 Historische Sondierungen  183

6. Methodenfragen: Medien und Mimesis  189 Querfeldein  189 Folge den Teilungen!  191 Das Wie der Unterscheidung  193 Die Medialität liegt im Detail  194 Erfindung und Nachahmung  201 Mimesis und Klassenteilung  205 Die Farbe des Unterschieds  210

7. Die alte Ordnung. Ansichten der Ständegesellschaft  213 Vom Nutzen der Vormoderne für die Moderne  213 Fremdheit und Vertrautheit  215 Die Anti-Klassengesellschaft und ihre Reichweite  221 Das Bild der Großen Kette  223 Ein fast perfektes System  227 Sehnsucht nach Gemeinschaft  229 Rang und Rangelei  232 Abschied vom Feudalismus  236 Im Netz der Patronage  238 Leerlauf der Unterscheidungen  241

ZWEITER TEIL: GESCHICHTE 8. Classis. Etwas Klassenarchäologie  249 Ein Wort und seine Vorkommnisse  250 Zwei Diskursstränge  254 Der Nomos der Klasse  256

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I nhalt

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König Servius  259 Zur Realität der Urszene  262 Klasse als Appell  265

9. Servius Tullius kehrt zurück. Renaissancen des Klassendenkens  271 1000 Jahre ohne Klassen  271 Formen der Wiederkehr  275 Auftritt der Gesetzgeber  278 Die Utopie der Neuaufteilung  281 Klassenteilung im römischen Kostüm  284

10. Ein neuer Landvermesser. William Pettys irische Mission  289 Klasse als Projekt  289 Irlandpläne  291 Der Down Survey  295 Das Recht der ersten Messung  300

11. In Reihen und Spalten. John Graunts Entdeckung der Tabelle  307 »These neglected papers«  307 Graunts Datenkritik  309 Die Tabellierung geht weiter  314 Die Handelsbilanz des Lebens und Sterbens  316 Politik der Tabelle  321 Der Stand der Dinge  322 Unterscheidung und Entscheidung  324 Von der Repräsentation zur Simulation  325

12. Anatomie des Sozialen. Der Auftrag der Politischen Arithmetik  329 Eingreifende Wissenschaften  329 Politische Rechenkunst  335 Zählen und Zerlegen  337 Politik als Management  342 Der menschliche Reichtum  344 Facetten der Biomacht  351 Das Erbe des Surveyors  357 Vom Projekt zur Staatswissenschaft  359 Der Klassenbegriff der Politischen Arithmetik  363 Die Ideologie der Ideologiefreiheit  366 Die Geduld der Techniken  373

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I nhalt

13. Ähnlichkeit und Gesellschaft. Artens des Zusammenhangs  377 Mimesis ist politisch  377 Gute Mimesis, schlechte Mimesis  379 Himmlische und weltliche Hierarchie  383 Die Ordnung der Prozession  386 Foucaults Renaissance  392 Der Schauplatz der Alchemie  395 Gold und Geltung  399 Vier Ähnlichkeiten, revisited  404 Von der Ähnlichkeit zum Unterschied  408

14. Herr und Affe. Von der Schwierigkeit ein Gentleman zu sein  413 Was ist ein Gentleman?  414 Affiges Verhalten  417 Aporien der Anpassung  425 Wunsch, ein Rowdy zu werden  426 Flucht in den Spleen  428 Gentleman’s End  430

15. Massenmedien, Klassenmedien. Die Neuformatierung Englands  431 Die sogenannte bürgerliche Öffentlichkeit  431 Freiwillige Selbstsortierung  435 Krieg der Pamphlete  438 Zersplitterung und Haufenbildung  446 Print und Populismus  450 Im Reich der Neuigkeiten  452 Medien-Subjekte  456 Streit um die Kaffeehäuser  459 Kritik und Koffein  461 Kapriolen des Vernunftgebrauchs  464 Egalität und Differenz  466 Distinktionsmaschine Club  472 Verbindliche Veröffentlichungen  478

16. London Classing. Die Freuden der Einordnung  485 Wiederholte Teilungen  485 Klassifizierung als Gesellschaftsspiel  488 Welten der Großstadt  492 Ned Wards London Spy  494 Tom Browns Amusements  501 Medien der Politeness  504 Der Tatler  508

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Der Female Tatler  515 Der Spectator  522 Ironischer Normalismus  529

17. Reiche gegen Arme. Mandevilles geteilte Gesellschaft  537 Vom Nutzen der Laster  538 Liberalismus und Regulation  544 Gesellschaft als Klassengesellschaft  549

18. Into classes. Defoes klassifikatorischer Imperativ  557 Profit und Providenz  557 Die wahren und die falschen Werte  563 Der Traum der Eindeutigkeit  566 Roman und Register  569 »Mankind must be sorted«  577 Labouring Poor, Idle Poor  580 Menschen in Bewegung  584

19. Klassenfeinde. Swift und andere ›Romanticks‹  591 Land und Geld  591 Swifts anti-arithmetischer Kampf  596 Probleme des romantischen Antikapitalismus  602

20. Poetische Schlachten. Ein Klassenkampf der Autoren  611 Die Schreiber von Grub Street  612 Deklassierte und Klassizisten  617 Dialektik der Stilkritik  626 »One of the suburbian Class«  628

DRITTER TEIL: SCHLUSS 21. Ankunft in der Klassengesellschaft  635 Dominanz der Klassenform  636 Woran erkennt man eine Klassenordnung?  639 »Esse est percipi«  643

22. Aufstieg und Fall der Klasse  651 Die Zusammensetzung des sozialen Klassenbegriffs  651 Die marxistische Anreicherung  655 Abschied von der Klasse  661

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I nhalt

23. Die klassifizierende Gesellschaft  667 Von der Klasse zum Cluster  668 Die freiwillige Verstrickung  670 Lockruf des Volkes  675 Zurück zur Klasse?  677

Nachwort: Unter dem Raster liegt der Strand  681 Literaturverzeichnis  689 Abbildungsverzeichnis  747

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DANK Den ersten Anstoß zu diesem Buch verdanke ich Maud Meyzaud und Patrick Eiden-Offe. Sie haben mich im Sommer 2008 zu einem Workshop nach Kon­ stanz eingeladen, in dem es um »prekäre Kollektive« namens »Masse«, »Klasse« und »Volk« ging. Damals bin ich auf die Frage gekommen, wann und wie sich das Prinzip der gesellschaftlichen Klassenteilung geschichtlich durchgesetzt hat, und welche medialen Praktiken dabei eine Rolle gespielt haben. Zu großem Dank verpflichtet bin ich den Weimarer Studierenden, die diese Fragestellung mit mir in mehreren Vorlesungen und Seminaren weiterverfolgt haben. Ebenso dankbar bin ich den Kolleginnen und Kollegen, die Kommentare und Anregungen zu ersten Entwürfen des Projekts beigesteuert haben. Ich denke hier besonders an den 2019 verstorbenen Alf Lüdtke, mit dem ich gerne noch einmal darüber gesprochen hätte, was »nach der Klasse« kommen kann. Die Arbeit in der DFG -Forschungsgruppe Medien und Mimesis (ab 2014) hat wesentlich dazu beigetragen, das Vorhaben schärfer zu konturieren; ich danke allen ihren Mitgliedern für intellektuellen und moralischen Beistand. Wie an zahlreichen Stellen, insbesondere in den Kapiteln 6, 13 und 14, deutlich werden wird, ist diese Arbeit stark von den Fragestellungen dieses Forschungszusammenhangs geprägt. Stark profitiert hat das Projekt zudem von einem Forschungsaufenthalt am Weimarer Internationalen Kolleg für Kulturtechnikforschung und Medienphilosophie (IKKM ) im Winter 2016/2017. Vielen Dank an die Crew des IKKM und meine Co-Fellows, die mir zahlreiche wichtige Anregungen gegeben haben! Nachdem aus dem Klassen-Projekt zunächst nur ein kurzes Buch werden sollte, habe ich im Frühjahr 2017 beschlossen, eine Habilitationsschrift daraus zu machen. Meiner Frau Andrea und meiner Tochter Joana bin ich sehr dankbar, dass sie diesen Kurswechsel unterstützt und mir die Arbeit leicht gemacht haben. Martin Sieglers geduldige Lektüren und kluge Hinweise waren eine unschätzbare Hilfe. Ein herzlicher und schuldbewusster Dank geht auch an diejenigen, die sich bereitgefunden haben, diese Arbeit aus geschichts- und medienwissenschaftlicher Perspektive zu begutachten: Monika Dommann (Zürich), Markus Sandl (Konstanz), Henning Schmidgen (Weimar) und Bernhard Siegert (Weimar). Besonders danke ich allen, die mir in der Schlussphase des Projekts Gelegenheit gegeben haben, die Frage nach der Medialität der Klassenteilung in einem größeren Kreis zu diskutieren, so z. B. Georg Stanitzek für die Einladung ins Literatur- und Kulturwissenschaftliche Kolloquium an der Universität Siegen (Nov. 2017), Jan Behnstedt und Rainer Beck für die Einladung ins Forschungskolloquium Neuere und Wissenschaftsgeschichte an der Universität Konstanz (Dez. 2017), Rebekka Ladewig für die Einladung ins Institutskolloquium der

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D ank

Weimarer Medienwissenschaft (Dez. 2017), sowie Ute Holl und Matthias Wittmann für die Einladung ins Kolloquium des Moduls für Medienästhetik an der Universität Basel (Mai 2019). Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich für die finanzielle Unterstützung der Buchveröffentlichung.

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TEXT UND TECHNIK Dem historischen Teil dieses Buchs (Kap. 8 – 20) ist ein umfangreicher konzeptueller Teil (Kap. 1 bis 7) vorangestellt, in dem nach dem Zusammenhang von Klassifikation und Klassenteilung gefragt wird. Die Länge dieses einleitenden Teils, der zugleich als Forschungsüberblick funktioniert, lässt sich nur damit rechtfertigen, dass es eine solche Zusammenschau von Theorien der logischen und sozialen Klassifizierung bisher nicht gibt. Der vergleichsweise kurze SchlussTeil (Kap. 21 – 23) versucht einen Bogen zu heutigen Klassen- und Klassifikationsverhältnissen zu schlagen. Es wird darauf verzichtet, einleitend eine Übersicht über die ganze Arbeit zu geben; dafür enthalten alle Kapitel einen kurzen Vorspann, der angibt, wovon jeweils die Rede sein wird. Die Arbeit zitiert englische Texte aus dem 17. und 18. Jahrhundert im Original. Die Schreibweise der Zeit wird durchgehend übernommen, ungewöhnliche Schreibungen werden nicht mit »sic« markiert (dazu wären es zu viele). Lediglich die Interpunktion wird gelegentlich geringfügig verändert; so wird vor dem Semikolon oder dem Doppelpunkt nicht, wie damals üblich, ein Leerzeichen gesetzt. Um die Lesbarkeit zu verbessern, wurden Zitate aus fremdsprachiger Sekundärliteratur ins Deutsche übersetzt. Dass es sich um Übersetzungen handelt, wird an Ort und Stelle nicht eigens ausgewiesen, es finden sich also keine Anmerkungen wie »Übersetzung vom Verf.«. Die meisten Kapitel wurden für dieses Buch verfasst; zwei beruhen auf früheren Veröffentlichungen: Eine umfangreichere Version von Kapitel 11 erschien 2013 in der Zeitschrift Distinktion: Scandinavian Journal of Social Theory, Vol. 14, Issue 3, 2013, S. 305 – 325, unter dem Titel »The Tabulation of England. How the social world was brought in rows and columns«. Eine kürzere Fassung von Kapitel 16 erschien 2017 in der Zeitschrift für Medienwissenschaft, Jg. 10, N° 2, 2018, S. 36 – 47, unter dem Titel »Ranking, Sorting, Classing. Klassifikation und Klassenkampf um 1700«. Die Kapitel 21, 22 und 23 sowie das Nachwort waren nicht Teil der Habilitationsschrift; sie wurden für die Buchveröffentlichung verfasst.

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VORWORT: 1753 Wann sind die europäischen Gesellschaften der Frühen Neuzeit dazu gekommen, sich als Klassengesellschaften zu begreifen? Und wie hängt die Entstehung der sozialen Klassenteilung mit den Techniken der Klassifizierung zusammen, die zur gleichen Zeit das wissenschaftliche Denken bestimmten? Eine Antwort darauf lässt sich nicht in zwei Sätzen geben. Es handelt sich buchstäblich um eine ›lange Geschichte‹, um einen geschichtlichen Prozess, der sich über einige Jahrzehnte des 17. und 18. Jahrhunderts erstreckt, und dessen Genealogie sich noch wesentlich weiter, bis in die griechische und römische Antike, zurückverfolgen lässt. Vielleicht wird am schnellsten deutlich, worum es in dieser noch zu erzählenden Geschichte gehen soll, wenn man mitten in sie hineinspringt, wenn man ein mehr oder minder beliebiges Datum aufruft und danach fragt, was es zu diesem Zeitpunkt mit der Klasse auf sich hat. Nehmen wir die Mitte des 18. Jahrhunderts, eine Zeit, in nach Ansicht mancher Historiker von einer Klassengesellschaft noch keine Rede sein kann, während andere der Meinung sind, dass sich damals der Umschwung von der Stände- zur Klassenordnung schon längst vollzogen habe. Zu dieser Zeit, genauer im Jahr 1753, erscheint in England ein Buch mit dem Titel Essay on the Government of Children. Ganz nebenbei, inmitten einer Erörterung von standesgemäßer Erziehung, fällt hier der Satz: »Every Nation has its Custom of dividing the People into Classes.« 1 Was diese Äußerung bemerkenswert macht, ist nicht so sehr, dass gesellschaftliche Teilung hier in Klassenbegriffen beschrieben wird (dies gab es, wie dieses Buch zeigen wird, schon einige Jahrzehnte früher), sondern die scheinbare Selbstverständlichkeit, mit der dies geschieht – wobei die Beiläufigkeit des Wortgebrauchs noch dadurch unterstrichen wird, dass die Stelle nicht in einem politischen Traktat, sondern in einem Erziehungsratgeber vorkommt. »Every Nation has its Custom of dividing the People into Classes« – diese Feststellung klingt nicht weniger lapidar als die des Kommunistischen Manifests, etwa hundert Jahre später: »Die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft ist die Geschichte von Klassenkämpfen.« 2 Doch ist das Klassenvokabular zur Mitte des 18. Jahrhunderts noch keineswegs allgemein verbreitet; viele Menschen der Zeit hätten vermutlich mit der Idee, dass eine Nation in Klassen geteilt sei – und nicht etwa in Stände, Ränge, Handwerke oder Clans – nicht viel anfangen können. Dass der Verfasser eines konventionellen Erziehungstraktats die wenig gebräuchliche, ›modernistische‹ 1  James Nelson, An Essay on the Government of Children, Under Three General Heads: Viz.

Health, Manners and Education, London, 1753, S. 306. 2  Karl Marx u. Friedrich Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei« (1848), in: dies., Werke (MEW ), Bd. 4, Berlin, 1956 ff., 459 – 493, S. 462.

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V orwort: 1 7 5 3

Redeweise von gesellschaftlichen ›Klassen‹ verwendet, ist daher durchaus erklärungsbedürftig. Einen Hinweis, wie er darauf gekommen sein könnte, liefert das Titelblatt der Schrift. Als Verfasser nennt es: »James Nelson, apothecary«. Von einem Apotheker konnte man erwarten, dass er sich in botanischen Angelegenheiten auf dem Laufenden hielt. Aller Wahrscheinlichkeit nach kannte er Carl von Linnés 1738 veröffentlichtes Werk über die Classes Plantarum und war es gewohnt, seine Arzneien in eine ›linnäische‹ Ordnung zu bringen. Wenn ihm das Reich der Natur als in Klassen geordnet erschien, warum nicht auch das der Gesellschaft? Das Erziehungsbuch des Apothekers Nelson liefert damit einen ersten Hinweis auf eine in der Tat wesentliche Abstammungslinie des sozialen Klassenbegriffs. Die Rede von sozialen Klassen hatte ihr offenbares Vorbild im Klassifikationsgeist der frühneuzeitlichen Naturgeschichte. Auf diese Weise scheint nichts leichter zu sein, als zu sagen, woher Idee und Begrifflichkeit der sozialen Klassenteilung kommen: Es handelt sich um die Übertragung von Verfahren der Naturerkenntnis in die Gesellschaftswissenschaften – in der Hoffnung, auch hier zu einer objektiven, durch Zählung und Messung gestützten Form der Beurteilung zu kommen. Allerdings zeigt sich bald, dass die Suche nach den Ursprüngen der Klassenteilung damit nicht beendet sein kann. Der metaphorische Verkehr zwischen der Klasse in der Natur und der Klasse in der Gesellschaft lässt sich nicht auf eine Richtung beschränken. Wenn man an eine Geburt der Klasse aus dem Geist der naturgeschichtlichen Klassifikation glaubt, so muss man sich andererseits fragen, woraus denn die Verfahren der wissenschaftlichen Klassifikation entsprungen sind. Einen Hinweis dazu liefert ein anderer, ebenfalls im Jahr 1753 erschienener Text, nämlich der Artikel »classe« aus dem dritten Band der von Diderot und d’Alembert herausgegebenen Encyclopédie. Die hier zu findende Definition des Ausdrucks entspricht ganz der üblichen Verwendungsweise in den Naturwissenschaften: [C]e mot signifie donc une distinction de personnes ou de choses que l’on arrange par ordre selon leur nature, ou selon le motif qui donne lieu à cet arrangement.3 Das Wort bezeichnet daher eine Unterscheidung von Personen oder Sachen, die man entsprechend ihrer Natur anordnet oder nach dem Motiv, das zu dieser Anordnung den Anlass gibt.

Doch gibt es hier, neben der nüchternen Umschreibung dessen, was die Klassifizierung tut, auch einen Hinweis auf die Wortherkunft:

3  Anon., »Classe, f. f. (Gramm.)«, in: Denis Diderot und Jean d’Alembert (Hg.), Encyclopédie ou dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, 3 (1753), Neufchastel, 1751 – 1765, 506 – 507, Sp. 506.

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Ce mot vient du latin calo, qui vient du grec καλέω, & par contraction καλῷ, appeler, convoquer, assembler; ainsi toutes les acceptions de ce mot renferment l’idée d’une convocation ou assemblée à part.4 Dieses Wort kommt vom lateinischen calo, das vom griechischen kalein kommt, durch Zusammenziehung kalo, [d. h.] rufen, zusammenrufen, versammeln. Alle Verwendungsweisen dieses Wortes schließen also die Idee eines Appells, einer gesonderten Versammlung ein.

Damit wird deutlich, dass der wissenschaftliche Klassenbegriff sich nicht auf die Geschichte der Wissenschaft beschränken lässt. Seine Ursprünge müssen wie­ der­um im Gesellschaftlichen gesucht werden. Die scheinbar neutrale Tätigkeit der Sortierung nach distinktiven Merkmalen verweist auf ein Szenario der sozialen Teilung, nämlich die Einordnung der Bürger in Steuer- und Aushebungsklassen, wie sie in Griechenland und Rom üblich war. Wenn die Versammlung der Gesteinsproben und aufgespießten Schmetterlinge im Naturalienkabinett den Eindruck erweckt, als hätten die Dinge der convocatio, der Zusammenrufung des Naturforschers gehorcht, so wirkt darin noch das Bild des antiken Zensors nach, der die Bürger nach Klassen geordnet zum Appell antreten ließ. Die Untersuchung metaphorischer Übertragungen muss daher stets auch die Gegenrichtung berücksichtigen: Zwischen wissenschaftlicher Klassifikation und gesellschaftlicher Klassenteilung herrscht ein geradezu unendlicher Verkehr, und er verläuft in beide Richtungen. Die vorliegende Arbeit will diesen Verkehr beobachten: Sie möchte herausfinden, wie und mit welchen Effekten im 17. und 18. Jahrhundert bestimmte Ordnungsverfahren, die sich im Bereich der Naturwissenschaften bewährt hatten, auf die Gesellschaft übertragen wurden, und sie interessiert sich umgekehrt dafür, wie diese Ordnungsverfahren selbst wiederum mit bestimmten Verfahren der Ordnung von Menschen, mit bestimmten »Menschenfassungen« 5 zusammenhingen. Der Einsatz dieses Buchs besteht also darin, zwei Stränge des Nachdenkens über ›Klasse‹ zusammenzuführen, die gewöhnlich getrennt gehalten werden. Soziale Klassen und logische Klassifizierung werden kaum miteinander in Verbindung gebracht. Die Erforschung der gesellschaftlichen Teilung vollzieht sich, von seltenen Momenten der Berührung abgesehen, ganz unabhängig von Fragen der logischen Einteilung, der Kategorisierung, der Wahrnehmung von Identität und Differenz. Umgekehrt sind diejenigen, die sich mit Kategoriensystemen beschäftigen oder eine Kritik der klassifikatorischen Ordnungen betreiben, nur selten an einer Betrachtung der gesellschaftlichen Einteilungen interessiert. Die 4  Ebd., Sp. 506. 5  Vgl. Walter Seitter, Menschenfassungen. Studien zur Erkenntnispolitikwissenschaft, Mün-

chen, 1985.

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beiden Perspektiven der Untersuchung sollen hier anhand eines historischen ›Falls‹, der Entstehung von sozialer Klassenteilung im England des 17. und frühen 18. Jahrhunderts zusammengeführt werden. Gesucht wird eine Erklärung des Aufkommens von ›Klassengesellschaft‹, die das Geschehen nicht einseitig auf ›soziale Ursachen‹ zurückführt, es aber auch nicht einfach aus einer unterstellten ›Logik‹ oder einem ›Geist‹ der Klassifizierung ableitet. Statt Logik auf Soziales (oder umgekehrt) zu reduzieren, handelt es sich vielmehr darum, die Praktiken und Verfahren in den Blick zu bekommen, die sowohl den sozialen wie auch den logischen Aufteilungen zugrunde liegen. Einen Hinweis auf diese Praktiken und Verfahren gibt wiederum die oben zitierte Passage aus dem Artikel »classe« der Encyclopédie: Die Klasse wird hier als Effekt eines Appells, einer Zusammenrufung, einer versammelnden Anordnung verstanden. Damit deutet sich an, dass jede Klassenteilung, sei sie gesellschaftlich oder wissenschaftlich, grundsätzlich das Produkt einer (Kultur-)Technik ist, sei es einer Anrufungs- und Anordnungstechnik, einer Körpertechnik, einer Kriegstechnik, einer Verwaltungstechnik, einer Rechentechnik, einer Aufschreibetechnik oder einer Technik der medialen Adressierung. Diese Arbeit betrachtet die ›Medien‹, d. h. die praktischen, materiellen Mittel der Ein- und Aufteilung, als das tertium comparationis, durch das gesellschaftliche Klassenteilung und logische Klassifikation aufeinander bezogen werden können, und zwar deshalb, weil sie dadurch ›immer schon‹ verbunden sind. Mit dieser Betonung der Wirksamkeit von Medien verbindet sich durchaus der Anspruch zu zeigen, dass Mediengeschichte mehr kann als nur die spezielle Geschichte ›der Medien‹ zu erzählen: Sie kann auch dazu dienen, die ›allgemeine‹ Geschichte neu und anders zu schreiben, unter dem Gesichtspunkt der Medien und Techniken, die an der Konstitution von Kultur und Gesellschaft beteiligt sind.

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ERSTER TEIL

THEORIE

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KLASSENFRAGEN. MARXISTISCHE ANSTÖSSE Was hat das mit Marx zu tun? In diesem Buch geht es um die Entstehung von gesellschaftlicher Klassenteilung im England des 17. und 18. Jahrhunderts; es geht um die Frage, wie und aufgrund welcher medialer Verfahren sich sowohl in der wissenschaftlichen Weltbemächtigung als auch in der Ordnung des Sozialen eine bestimmte neue Form des Denkens und Machens von Unterschieden durchsetzte, eine Unterscheidung in Form klassifikatorischer Grenzziehung. Das Geschehen, das dabei betrachtet wird, steht in keiner unmittelbaren Berührung mit der Entwicklung der Marx’schen und marxistischen Klassentheorie, einer Geschichte, die sich hundert bis zweihundert Jahre später abspielt. Dennoch war es unvermeidlich, dass Diskussionen im Vorfeld dieses Buchs immer wieder auf die Frage hinausliefen: Was hat das alles mit Marx zu tun? Genau genommen handelte es sich dabei nicht nur um eine, sondern um eine ganze Kaskade von ›Marx-Fragen‹. Sie können der Übersicht halber in zwei Gruppen aufgeteilt werden. So gab es erstens Fragen nach dem Verhältnis zum marxistischen Klassenbegriff: Wie hängt die hier geschilderte Frühgeschichte des Klassenbegriffs mit der späteren, insbesondere der marxistischen Entwicklung des sozialen Klassenbegriffs zusammen? Welche Behauptung oder welche politische Stellungnahme zum marxistischen Klassenbegriff oder zum Paradigma des Klassenkampfs verbirgt sich hinter dem Versuch, das Paradigma der Klassenteilung auf die wissenschaftlichen und politischen Sortiertechniken der Frühen Neuzeit zurückzuführen? Wie verhält sich die hier erzählte Geschichte zur marxistischen Klassengeschichtsschreibung, insbesondere zu den Bemühungen um eine ›andere‹ Geschichte der Arbeiterklasse oder des Proletariats? Und zweitens gab es Fragen nach dem Verhältnis zur marxistischen Theorie der Klassengesellschaft: Die Untersuchung beansprucht, etwas zur Geschichte des Übergangs von der frühneuzeitlichen Standesgesellschaft zur modernen Klassengesellschaft beizutragen, ein Problem, für das der Marxismus längst eine Antwort gefunden hat. Wie verhält sich die Arbeit zu den marxistischen Ansätzen, die den Wechsel zum System der Klassenteilung als eine Funktion der ökonomischen Veränderungen begreifen? Welche Rolle spielen Konzepte wie Kapitalismus oder kapitalistische Produktionsweise? Sollen ökonomische Erklärungsansätze schlicht ignoriert, sollen sie widerlegt oder ergänzt werden? Dieses Kapitel stellt den Versuch dar, auf diese Fragen eine Antwort zu geben. Dabei geht es mir weniger darum, mich von marxistischen Ansätzen abzusetzen, als vielmehr die Punkte zu finden, an denen Marxismus und Medientheorie sich

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etwas zu sagen haben. So wie es der Medienwissenschaft nicht schaden kann, mit Fragen nach ihrem sozialen Standort und ihrer politischen Orientierung konfrontiert zu werden, so kann die Medienwissenschaft dazu beitragen, das im Marxismus mit bewusstloser Selbstverständlichkeit gebrauchte Konzept der Klasse einer erkenntniskritischen Betrachtung zuzuführen. Dies ist umso notwendiger, als in der marxistischen Tradition selbst eine solche historisch-epistemologische Kritik des Klassenbegriffs nicht stattgefunden hat. Die ›Klasse‹ war als Kampfbegriff zu wichtig, als dass man sie in grundsätzlicher Weise danach hätte befragen können, woher sie kam und welche ideologischen oder gar ontologischen Implikationen sie hatte. Immer wenn sich Unverträglichkeiten in der Anwendung zeigten, wenn die Wirklichkeit sich gegen den Schematismus der Klassenanalyse allzu störrisch zeigte, wurden eilig Anpassungen vorgenommen; sobald die Reparatur vollzogen war, wurde der Klassenbegriff jedoch umgehend wieder in Dienst genommen. So kennt die Geschichte der marxistischen Theorie zwar unzählige Revisionen des Klassenbegriffs (vom Marx’schen und Lenin’schen Klassensubstanzialismus über die figurale Deutung bei Lukács, die Althusser’sche Priorisierung des Klassenkampfs bis hin zu den poststrukturalistischen Varianten einer ›gespaltenen‹, ›nicht-ganzen‹, ›abwesenden‹, ›aufgeschobenen‹ oder ›ankünftigen‹ Klasse); die Frage, woher die Idee der Klasse eigentlich kommt, welche Art der Teilung sie verwirklicht und welche Formatierung von Gesellschaft sie impliziert, wurde dabei aber stets übergangen. Eine Untersuchung, in der die Klasse nicht als »privilegierte analytische Kategorie«, sondern als »analysierbares Artefakt«, als zu befragender und zu kritisierender Begriff vorgekommen wäre,1 wollte die marxistische Tradition nicht Angriff nehmen. Die ›Klassenfrage‹ zu stellen, lief darauf hinaus, zu fragen, wie die Klassenlage gesellschaftliches Handeln determiniert, nicht was es eigentlich heißt, dass Menschen in Klassen geteilt werden.

Wie die Arbeiterklasse gemacht wurde Entsprechend stand auch die marxistische Auseinandersetzung mit der Geschichte des Klassenbegriffs, soweit sie stattgefunden hat, stets unter dem Vorbehalt, dass die historische Wirkmächtigkeit des Begriffs dabei nicht beschädigt werden dürfe. Begriffsgeschichtliche Untersuchungen hatten es meist sehr eilig, zu Marx und den Klassenkämpfen des 19. Jahrhunderts zu gelangen und verweilten daher nicht lange bei den frühen, ›unreifen‹ Stadien des Begriffs. Das Ziel, auf das die geschichtliche Nachforschung hinauslaufen sollte, stand von vorneherein fest, so auch in der ersten umfangreichen Abhandlung zur Geschichte des Klassenbegriffs, die 1965 in der DDR veröffentlicht wurde: »Im Plane unserer Arbeit sind die Geschichte des Begriffs Stand und die Frühgeschichte des Begriffs 1  Wai-chee Dimock u. Michael T. Gilmore, »Introduction«, in: dies. (Hg.), Rethinking class.

Literary studies and social formations, New York, 1994, 1 – 11, S. 2.

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Klasse nur der Anlauf zur Geschichte des proletarischen Klassenbegriffs.« 2 Der Verfasser, Rudolf Herrnstadt,3 wies zwar, vermutlich als einer der ersten, darauf hin, dass es »fortschrittliche Bürger« waren, die die Klasse »zu einem legitimen wissenschaftlichen Teilungsbegriff« gemacht hatten, und dass es wiederum »die Bourgeoisie« war, die »auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung den naturwissenschaftlichen Begriff Klasse auf die Gesellschaft übertrug«.4 Aber er tat auch alles, um den späteren proletarisch-revolutionären Kampfbegriff der Klasse von dem bürgerlichen Weltsortierverfahren der Klassifikation abzusetzen: An dieser Stelle der Darlegung müßte eigentlich statt trockener Worte die Marseillaise gespielt werden, und der Leser müßte den geschichtemachenden ›Pöbel‹ der Französischen Revolution sehen, die Arbeiter der Pariser Vorstädte, bewaffnet mit Spießen, Mistgabeln und an Stangen befestigten Dolchen […]. Denn mit der Großen Französischen Revolution erscheint ein neuer Klassenbegriff, ein ungleich höherer, qualitativ anderer.5

In dieser glanzvollen Variante erscheint die Geschichte des Klassenbegriffs als ein Prozess der allmählichen Klärung und Läuterung, aus dem schließlich das gewünschte Ergebnis, der kämpferische Klassenbegriff einer selbstbewussten Arbeiterklasse hervorgehen wird. Grundsätzlich wurde dabei unterstellt, dass es ›da draußen‹, in der Gesellschaft, jederzeit so etwas wie ›Klassen‹ gab, eine ökonomisch, durch die Tatsache der Arbeitsteilung und der Ausbeutung bestimmte Realität, die ganz unabhängig davon existierte, ob sie erkannt wurde oder nicht. Die frühen, noch ungeschickten Formulierungen des Klassenbegriffs zeugten davon, dass »das gesellschaftliche Bewußtsein noch nicht reif« war,6 um die Klassenlage angemessen zu erfassen; den geschichtlichen Akteuren musste ihre geschichtliche Rolle »vollständig unklar« bleiben.7 Mit der zunehmenden Bewusstwerdung der Klassenlage konnte sich dann auch der Klassenbegriff klären: Seine Geschichte erscheint auf diese Weise als Prozess einer stetigen »Annäherung der Erkenntnis an die objektive Realität«,8 bis hin zu der schließ-

2  Rudolf Herrnstadt, Die Entdeckung der Klassen. Die Geschichte des Begriffs Klasse von den Anfängen bis zum Vorabend der Pariser Julirevolution 1830, Berlin, 1965, S. 103. 3  Herrnstadt, ehemals Chefredakteur des Neuen Deutschland und einflussreiches Mitglied des Zentralkomitees der SED , war 1953 im Machtkampf gegen Ulbricht unterlegen, wurde nach seinem Parteiausschluss in die Provinz verbannt und arbeitete unter ständiger Überwachung als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen Zentralarchiv in Merseburg. Vgl. Irina Liebmann, Wäre es schön? Es wäre schön! Mein Vater Rudolf Herrnstadt, Berlin, 2008, S. 367 ff. 4  Herrnstadt, Die Entdeckung der Klassen, S. 104. 5  Ebd., S. 126. 6  Ebd., S. 172. 7  Ebd., S. 241. 8  Ebd., S. 278.

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lich mit Marx erreichten »vollen Einsicht in das Wesen der Klassen und in den Weg zu ihrer Überwindung«.9 Gegen diese Art der Klassengeschichte, die die Klassen als ökonomische Gegebenheiten betrachtete und Klassenbewusstsein als Prozess einer ständigen Annäherung der ›Erkenntnis‹ an die objektive Klassenlage verstand, formierte sich seit den 1950er Jahren eine andere Art der Geschichtsschreibung, die ›Klasse‹ nicht als gegebene Voraussetzung, sondern vielmehr als Ergebnis der historischen Entwicklung betrachtete. In seinem kanonisch gewordenen Buch The Making of the English Working Class versuchte E. P. Thompson zu zeigen, dass Klassen sich nicht einfach aus den ökonomischen Umständen ergeben, sondern einem »aktiven Prozess« des Klassenhandelns, der Bewusstwerdung und Assoziation entspringen: Unter Klasse verstehe ich ein historisches Phänomen, das eine Reihe von Ereignissen vereint, die in der Erfahrung und im Bewußtsein ungleichartig und scheinbar zusammenhanglos existieren. Ich möchte betonen, daß es sich um ein historisches Phänomen handelt. Ich betrachte Klasse nicht als eine ›Struktur‹ oder gar als eine ›Kategorie‹, sondern als etwas, das sich unter Menschen, in ihren Beziehungen, abspielt […].10

Wenn Thompson darauf insistierte, dass »class happens«,11 dass Klasse also nicht durch die ökonomischen Verhältnisse gegeben ist, sondern aus den »common experiences« handelnder Subjekte hervorgeht, so schien er die Konstitution der Arbeiterklasse von jedem Ableitungsdenken zu befreien und dem Spiel der historischen Kräfte, auch des Zufalls, zu übereignen. Dennoch muss man sagen, dass er »einer Art von Klassensubstanzialismus« verhaftet blieb, »einem impliziten Glauben daran, dass geteilte Lebensformen – ob sie kulturell oder politisch sind – auf eine vorherige ökonomische Bestimmung zurückgehen«.12 Die Rolle des bewussten Handelns und der Erfahrung der Akteure wurde stärker gewichtet,13 doch war letztlich das Resultat, auf das der Prozess hinauslaufen sollte, schon vorgegeben. Auch wenn sie sich stärker als frühere Klassengeschichten dafür interessierte, wie die virtuelle ›Klasse an sich‹ zur aktuellen, kämpfenden ›Klasse für sich‹ werden kann, so hielt Thompsons Erzählung vom Zusammenfinden der englischen Arbeiterklasse doch an einer impliziten Teleologie des Zu-sich-selbst-

9  Ebd., S. 282. 10  Edward P. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse (1963), Frankfurt

a. M., 1987, S. 7.

11  Edward P. Thompson, The making of the English working class (1963), New York, 1966, S. 9. 12  Dimock u. Gilmore, »Introduction«, S. 6. 13  Vgl. Thompson, Die Entstehung der englischen Arbeiterklasse, S. 10: »Indem Menschen

ihre eigene Geschichte leben, definieren sie Klasse, und dies ist letzten Endes die einzige Definition.«

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Kommens der Klasse fest.14 Anstatt einen offenen Prozess zu beschreiben, aus dem auch keine Klasse hätte hervorgehen können, folgte sein Buch dem Postulat einer kumulativen Entwicklung, einer Dramaturgie des Bildungsromans, die deutlich hervortritt, wenn er es als »a biography of the English working class from its adolescence until its early manhood« bezeichnet.15 Eine Chance zur Überwindung solch linearer Erzählungen und Bewusstwerdungsromane bot sich mit Althussers Konzeption einer ›strukturalen‹ Kausalität und der damit zusammenhängenden Idee einer vielfachen, politischen und ideologischen Überdeterminierung der Klassenverhältnisse. In althusserianischen Entwürfen wurde die ökonomische Bestimmung in die ›letzte Instanz‹ verbannt; im Gegenzug wurde den kulturellen Superstrukturen eine ›relative Autonomie‹ zugestanden. Klassen erschienen nun als »Repräsentationen«, die selbst wiederum aus einem Spiel von Repräsentationen hervorgingen.16 Dabei ging es den marxistischen Historikern, die sich seit den 1980er Jahren mit den »languages of class«,17 mit den ›Repräsentationen‹, den ›Diskursen‹ oder ›Imaginationen‹ der Klasse befassten,18 keineswegs darum, das Klassenkonzept zu demontieren; viel eher handelte es sich wohl darum, eine zeitgemäße Antwort auf die Frage zu finden, wie sich angesichts veränderter Arbeitsverhältnisse und neuer Formen kapitalistischer Verwertung so etwas wie Klassenkampf überhaupt noch denken ließ. Unwillkürlich trug jedoch auch der linguistic turn der Klassengeschichte zur galoppierenden Schwindsucht des Gegenstands Klasse bei, und so ist es nicht erstaunlich, dass die Rede von der ›Konstruktion‹ der Klasse, von ihrer ›Gemachtheit‹, ihrer ›Hervorbringung›, ihrer ›Erfindung‹ oder ihrer ›Poetologie‹ bei den orthodoxer gestimmten Marxisten auf erbitterte Gegenwehr stieß.19 14  Vgl. Charles Tilly, »Social Class«, in: Peter N. Stearns (Hg.), Encyclopedia of European

social history, Volume 3. From 1350 to 2000, New York, 2001, 3 – 17, S. 7: »Thompson never quite escaped the shadow of teleology. The idea of working class formation—of ›making‹—easily attaches to the teleological notion that every mode of production assigns a destiny to each of its constitutive classes.« 15  Thompson, The making of the English working class, S. 11 (Der Satz fehlt in der deutschen Übersetzung). 16  Vgl. Paul Hirst, »Economic classes and politics«, in: Nicos Poulantzas, Stuart Hall, Paul Hirst, u. a., Class and class structure, London, 1984, 125 – 154, S. 131: »Classes do not have given ›interests‹, apparent independently of definite parties, ideologies, etc., and against which these parties, ideologies, etc., can be measured. What the means of representation ›represent‹ does not exist outside the process of representation. The ›represented‹ carries no sign, no means of recognition, other than that constituted by its means of representation.« 17  Gareth Stedman Jones, Languages of class. Studies in English working class history, 1832 – 1982, Cambridge, 1996. 18  Dror Wahrman, Imagining the middle class. The political representation of class in Britain, c. 1780 – 1840, Cambridge, 1995. 19  Vgl. Thomas Welskopp, »Klasse als Befindlichkeit? Vergleichende Arbeitergeschichte vor der kulturhistorischen Herausforderung«, Archiv für Sozialgeschichte, N° 38, 1998, 301 – 336, S. 309 – 310: »Was das für die Arbeitergeschichte bedeutet, liegt klar auf der Hand: Die Ge-

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Für die vorliegende Untersuchung ist insbesondere der Languages-of-classAnsatz von Gareth Stedman Jones von Interesse, weil hier die Frage nach der Konstitution der Klasse vom Paradigma des Klassenbewusstseins gelöst wird. Anders als in den geläufigen Making-of-Class-Geschichten geht es hier nicht darum, wie Erfahrung und Bewusstsein der handelnden Akteure sich in der Sprache ausdrücken oder durch die Sprache zum Ausdruck kommen; vielmehr handelt es sich darum, die Sprache selbst als materielle Konstitutionsbedingung von Klasse ins Auge zu fassen.20 Anstatt zu fragen, wie sich eine Realität namens Klasse in der Sprache abbildete oder ›widerspiegelte‹, wollte Stedman Jones zeigen, wie bestimmte Sprachen oder Diskurse die Realität der Klasse überhaupt erst hervorbrachten. In seiner Untersuchung über Aufstieg und Fall der chartistischen Bewegung bestand er darauf, »die Sprache des Chartismus nicht nur als passives Medium« zu betrachten, »in dem sich neue Klassenbestrebungen ausdrücken konnten, sondern eher als komplexes System, in welchem sich gemeinsame Prämissen, Denkmuster, strategische Entscheidungen und programmatische Forderungen miteinander verbinden«.21 Der Zweifel am ökonomischen Determinismus musste also nicht dazu führen, dass, wie bei Thompson, ›der Mensch‹, sein Bewusstsein, seine »gelebte Erfahrung« 22 oder seine geschichtliche Handlungsmacht in den Mittelpunkt der Betrachtung gestellt wurden; die Diskursanalyse der Klassensprachen eröffnete vielmehr den Blick darauf, dass Faktoren wie Bewusstsein, Erfahrung oder Interesse selbst wiederum von materiellen, individuell nicht verfügbaren Bedingungen abhängig sind. Die von Stedman Jones ins Auge gefasste materielle Bedingung des Auftauchens von Klassen war ›die Sprache‹, genauer gesagt, ein bestimmter, politischer Klassendiskurs. Die Frage nach den materiellen Bedingungen des Prinzips ›Klasse‹ lässt sich aber, wie dieses Buch zeigen soll, auch auf andere, nicht-diskursive Gebilde ausdehnen. So wird eine Mediengeschichte der Klasse nicht nur Diskurse ins Auge fassen, sondern all jene technischen Dispositive und Verfahren, Medien, Formate und Standards, in denen gesellschaftliche Klassenteilung geübt und verwirklicht wird. Auch wenn dieses Buch Anregungen daraus aufnimmt, fügt es sich nicht in die Traditionslinie der Making-of-Class-Geschichten. Es hat ganz schlicht einen anderen Gegenstand. Die Frage nach dem Making of Class richtet sich nicht auf schichte der historischen Arbeiterschaft bietet nur noch einen Textsteinbruch unter anderen, um Material für vorrangige Identitätsklärungen zu liefern. […] Das Interesse an sozialer Ungleichheit, verkörpert in der Analysekategorie der ›Klasse‹, ist dem an der ›Differenz‹ zwischen Identitäten gewichen, die nicht zwingend sozialen Trennlinien folgen muß.« 20  Zu Stedman Jones’ sprachanalytischer Wende der Klassengeschichte vgl. Peter Schöttler, »Einleitung«, in: Gareth Stedman Jones, Klassen, Politik und Sprache. Für eine theorieorientierte Sozialgeschichte, Münster, 1988, 9 – 42., hier S. 20 – 29. 21  Gareth Stedman Jones, »Sprache und Politik des Chartismus«, in: ders., Klassen, Politik und Sprache. Für eine theorieorientierte Sozialgeschichte, Münster, 1988, 133 – 229, S. 149. 22  Edward P. Thompson, The poverty of theory. Or an orrery of errors (1978), London, 1995, S. 235.

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die Formierung einer bestimmten Klasse, beispielsweise der working class oder der middle class. Die Geschichte, die hier erzählt werden soll, ist keine Geschichte des Machens von Klassen, sondern von ›Klasse‹, sie fragt, was es mit der Klasse als sozialem Teilungsbegriff auf sich hat, woher diese Art der Teilung kommt, und welche gesellschaftlichen Beziehungen sich aus diesem Differenzierungsprinzip ergeben.

Klassenteilung und Klassengesellschaft Auch die Frage nach dem Ursprung des Klassenprinzips lässt sich nicht unabhängig von der marxistischen Tradition angehen, deren Zuständigkeit für Klassenfragen kaum bestritten werden kann. Es ist daher unumgänglich, zunächst einmal zu klären, was der Marxismus unter ›Klassenteilung‹ und ›Klassengesellschaft‹ versteht und worauf er sie zurückführt. Eine elementare Voraussetzung der marxistischen Klassentheorie ist die ökonomische Determination der gesellschaftlichen Teilung: Die »Existenz der Klassen« ist »an bestimmte historische Entwicklungsphasen der Produktion gebunden«.23 Nach der klassischen Formulierung von Engels sind die »einander bekämpfenden Klassen der Gesellschaft jedesmal Erzeugnisse […] der Produktions- und Verkehrsverhältnisse, mit einem Wort, der ökonomischen Verhältnisse ihrer Epoche«.24 Bei der gesellschaftlichen Klassenteilung handelt sich nicht um eine Hierarchie, die aus einem gesellschaftlichen Machtspiel hervorgeht, sondern um eine grundlegende Teilung, die unmittelbar durch den »Vermittlungszusammenhang der gesellschaftlichen Produktion« gegeben ist: »Die Klassengliederung bildet nicht eine politisch-soziale Superstruktur der Wirtschaft, sondern ein Moment der sozialökonomischen Totalität: die Klassenstruktur ist identisch mit dem System der gesellschaftlichen Teilung der Arbeit.« 25 Es wurde geradezu zum Kennzeichen marxistischer Orthodoxie, in wie vermittelter Form auch immer, an diesem Primat des Ökonomischen festzuhalten. Es sind die »ökonomischen Verhältnisse«, die eine »Masse der Bevölkerung« in eine »Klasse« verwandeln, auch wenn der sich daraus entwickelnde »Kampf von Klasse gegen Klasse« als »ein politischer Kampf« in Erscheinung tritt.26 Alle die sich dem marxistischen Paradigma verpflichtet fühlten, legten Wert darauf, diese Verbindung nicht zu kappen, auch Althusser, der glaubte, dass nur die Annahme einer ökonomischen 23  Karl Marx, »Marx an Joseph Weydemeyer in New York, 5. März 1852«, in: ders. u. Friedrich Engels, Werke (MEW ), Bd. 28, Berlin, 1956 ff., 503 – 512, S. 507 – 508. 24  Friedrich Engels, »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«, in: Karl Marx u. ders., Werke (MEW ), Bd. 19, Berlin, 1956 ff., 189 – 228, S. 208. 25  Michael Mauke, Die Klassentheorie von Marx und Engels, hg. v. Kajo Heymann, Klaus Meschkat u. Jürgen Werth, Frankfurt a. M., 1970, S. 9. 26  Karl Marx, »Das Elend der Philosophie. Antwort auf Proudhons ›Philosophie des Elends‹« (1847), in: ders. u. Friedrich Engels, Werke (MEW ), Bd. 4, Berlin, 1956 ff., 63 – 182, S. 180 – 181.

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»Determination in letzter Instanz« es erlaube, »dem willkürlichen Relativismus empirisch feststellbarer Veränderungen zu entgehen«.27 Wer, wie Stuart Hall erklärte, dass es »keine notwendige unmittelbare Beziehung zwischen der ›ökonomischen‹ und der ›politischen‹ Konstitution von Klassen« gebe,28 befand sich an der Schwelle zur Ketzerei; andere, die der ökonomischen Struktur gar keine privilegierte Stellung zugestehen wollten, wie die Postalthusserianer Hindess und Hirst, hatten diese Schwelle überschritten und mussten sich vorhalten lassen, »jene marxistische Lehre [zu] untergraben, die besagt, daß eine Gesellschaftsformation aus verschiedenen ›Schichten‹ besteht, von denen einige determinierender sind als andere«.29 Egal ob nun eine ›mechanische›, eine ›expressive›‹ oder eine ›strukturale‹ Kausalität zugrunde gelegt wurde, nach marxistischer Vorstellung musste der Grund der Klassenteilung in den Produktionsverhältnissen gesucht und gefunden werden. Weniger eindeutig zu beantworten ist die Frage, für welche historischen Situationen von einer ›Klassengesellschaft‹ gesprochen werden kann. Marx und Engels selbst verwenden den Begriff in zwei unterschiedlichen Varianten, einmal im Sinn eines transhistorischen Teilungsschemas, das andere Mal zur Beschreibung der spezifisch modernen, kapitalistischen Gesellschaft. Klassenteilung erscheint bei Marx und Engels zunächst als ein Strukturmerkmal aller geschichtlichen Gesellschaften, d. h. aller Gesellschaften, die aus dem selbstgenügsamen Zustand des Urkommunismus herausgetreten sind und dem »Gesetz der Arbeitsteilung« unterworfen sind.30 Privateigentum und ungleiche Aneignung des Mehrprodukts führen zur Teilung zwischen einer Minderheit, die sich durch »Gewalt und Raub, List und Betrug« an der Macht zu halten versucht,31 und einer Mehrheit der Ausgebeuteten, die nur darauf wartet, sich bei nächster Gelegenheit auf ihre Unterdrücker zu stürzen.32 Wie die »Einteilung in Klassen«,33 so stellt damit auch der Klassenkampf eine überzeitliche, transhistorische Notwendigkeit dar, die die »die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft« gekennzeichnet hat,34 und die erst mit der kommenden, kommunistischen Ge27  Louis Althusser, »Der Gegenstand des ›Kapital‹ [Erster Teil]«, in: ders. u. Étienne Balibar, Das Kapital lesen, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg, 1972, 94 – 219, S. 130. 28  Stuart Hall, »The ›Political‹ and the ›Economic‹ in Marx’s Theory of Classes«, in: Nicos Poulantzas, Stuart Hall, Paul Hirst, u. a., Class and class structure, London, 1984, 15 – 60, S. 24. 29  Terry Eagleton, Ideologie. Eine Einführung, Stuttgart, Weimar, 1993, S. 236 f. 30  Vgl. Engels, »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«, S. 224: »Es ist also das Gesetz der Arbeitsteilung, das der Klassenteilung zugrunde liegt.« 31  Ebd.. 32  Mauke, Die Klassentheorie von Marx und Engels, S. 16: »Gäbe es in einer Gesellschaft nur Produzenten, die als solche – individuell oder kollektiv – im vollen Besitz ihrer Produktionsmittel sind, dann gäbe es keine Klassenbildung. Klassen in primärer Entstehung und Bedeutung sind immer unterdrückende und unterdrückte, ausbeutende und ausgebeutete Klassen.« 33  Engels, »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«, S. 224. 34  Marx u. Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, S. 462.

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sellschaft verschwinden wird. Mit den zu Beginn des Kommunistischen Manifests genannten Gegensatzpaaren – »Freier und Sklave, Patrizier und Plebejer, Baron und Leibeigener, Zunftbürger und Gesell« 35 – werden dabei offensichtlich auch solche Gesellschaften als Klassengesellschaften deklariert, die sich selbst keineswegs als solche betrachtet hätten (mit Ausnahme vielleicht der antiken, die allerdings die Sklaven nicht als ›Klasse‹ bezeichnet hätte 36). Dass die »Interpretation alles Geschichtlichen« unter dem Gesichtspunkt von Klassen und Klassenkämpfen ein, wie Adorno sich ausdrückt, »leise anachronistisches air« hat,37 dürfte Marx und Engels (wie auch der marxistischen Geschichtsschreibung 38) kein Kopfzerbrechen bereitet haben. Sie gingen davon aus, dass die gesellschaftliche Teilung zu jeder Zeit durch die Produktionsweise bestimmt war, und dass andere Beschreibungen der gesellschaftlichen Differenzierung (beispielsweise nach Graden der religiösen Reinheit, nach Ständen, Würden oder Ämtern) nur der ideologischen Rechtfertigung bzw. Verschleierung der tatsächlichen, ökonomisch bestimmten Ungleichheitsverhältnisse dienten.39 Marx selbst rechtfertigte die Anwendung des Klassenvokabulars auf frühere Gesellschaften mit dem Argument, dass erst von den entwickelten kapitalistischen Verhältnissen her frühere Klassenlagen als solche beschreibbar geworden seien.40 So wie »die Anatomie des Menschen […] ein Schlüssel zur Anatomie des Affen« sei, so gewähre das Verständnis der bürgerlichen Produktionsweise »zugleich Einsicht in die Gliederung und die Produktionsverhältnisse aller der untergegangenen Gesellschaftsformen«.41 Vorausgesetzt wurde damit, dass sich alle Gesellschaften sozusagen in der gleichen Abstammungslinie befinden, dass ihre geschichtliche 35  Ebd. 36  S. u., Kap. 8, Abschnitt »Der Nomos der Klasse«. 37  Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie (1970), hg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann,

Frankfurt a. M., 1973, S. 378. 38  Ein bewusst transhistorischer Gebrauch des Klassenbegriffs findet sich z. B. in: Klaus Eder (Hg.), Seminar: die Entstehung von Klassengesellschaften, Frankfurt a. M., 1973; Geoffrey Ernest Maurice de Sainte Croix, The class struggle in the ancient Greek world, London, 1981. Vgl. die Kritik von Niklas Luhmann, »Zum Begriff der sozialen Klasse«, in: ders. (Hg.), Soziale Differenzierung. Zur Geschichte einer Idee, Wiesbaden, 1985, 119 – 162, S. 119: »Oft wird der Begriff, obwohl er erst gut zweihundert Jahre alt ist, weit in die Geschichte zurückprojiziert mit der Folge, daß alle Hochkulturen als ›Klassengesellschaften‹ bezeichnet werden.« 39  Vgl. Iring Fetscher, »Klasse und Klassenbewußtsein«, in: ders. (Hg.), Grundbegriffe des Marxismus. Eine lexikalische Einführung, Hamburg, 1979, 55 – 68, S. 56: »Die Rechtfertigung für den undifferenzierten, allgemeinen Klassenbegriff bei Marx liegt in der Tatsache, daß auch Stände (und Kasten) letztlich auf eine sozial-ökonomische Funktion zurückgehen, auch wenn sie nicht – wie die moderne Klasse im Rahmen der bürgerlichen Gesellschaft – in dieser Funktion aufgehen.« 40  Vgl. Karl Marx, »Einleitung zu den ›Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie‹ (August 1857)«, in: ders. u. Friedrich Engels, Werke (MEW ), Bd. 42, Berlin, 1956 ff., 15 – 45, S. 26: »So kam bürgerliche Ökonomie erst zum Verständnis der feudalen, antiken, orientalen, sobald die Selbstkritik der bürgerlichen Gesellschaft begonnen.« 41  Ebd., S. 39.

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Abfolge als eine unaufhaltsame »Bewegung vom Rückständigsten zum Fortgeschrittensten, vom Langsamsten zum Lebhaftesten, vom Einfachsten und Dumpfesten zum Komplexesten und rationell Organisierten« 42 interpretiert werden kann – ein »Rationalitätsmodell«, das nur zu gut mit der »spontanen Teleologie der Moderne« 43 übereinstimmt und wegen seiner »kruden Evolutionslogik« 44 zurecht kritisiert worden ist. Allerdings lässt sich, wie Marx selbst betont, die spezifisch kapitalistische Form der Klassenteilung auch nicht beliebig in die Vergangenheit projizieren: »Die bürgerliche Ökonomie liefert so den Schlüssel zur antiken etc. Keineswegs aber in der Art der Ökonomen, die alle historischen Unterschiede verwischen und in allen Gesellschaftsformen die bürgerlichen sehen. Man kann Tribut, Zehnten etc. verstehen, wenn man die Grundrente kennt. Man muß sie aber nicht identifizieren.« 45 So stellt Klassenteilung zwar eine universalgeschichtliche Konstante dar; diese Klassenteilung kann sich jedoch – »abhängig von der Entwicklungsstufe der gesellschaftlichen Arbeit« – in sehr unterschiedlichen »Klassenformen« realisieren.46 Mit der Unterscheidung dieser Formen kommt eine andere, historisch genauer definierte Bedeutung des Begriffs ›Klassengesellschaft‹ ins Spiel. Gemeint ist nun die spezifische Form der Klassenteilung, die aus der kapitalistischen Produktionsweise hervorgeht, insbesondere in Absetzung von der andersartigen, ›ständischen‹ Differenzierungsweise, die der feudalen Produktionsweise entsprach. Klassengesellschaft in diesem Sinn ist »ein historischer Strukturbegriff«, der den verschärften Klassengegensätzen des 19. Jahrhunderts Rechnung trägt und auf den binären Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital zielt; er wird »historisch und systematisch verstanden als Gegenbegriff zu ›Stand‹«, der als Chiffre für die soziale Gliederung der vorkapitalistischen Produktionsweise dient.47 Klassengesellschaft im engeren Sinn ist also, nach Marx, ein Phänomen der bürgerlichen Epoche, ein Resultat der kapitalistischen Produktionsweise. Auch hier muss allerdings wieder unterschieden werden, diesmal zwischen zwei Klassengesellschaften unterschiedlichen Reifegrads. In Michael Maukes Dissertation zur marxistischen Klassentheorie findet sich die hilfreiche Erläuterung, dass Marx »den historisch-sozialen Klassenbegriff von frühbürgerlichen Historikern 42  Jacques Rancière, Die Namen der Geschichte. Versuch einer Poetik des Wissens (1992), Frankfurt a. M., 1994, S. 119. 43  Ebd. 44  Antonio Negri u. Michael Hardt, Common Wealth. Das Ende des Eigentums (2009), Frankfurt a. M., 2010, S. 95. 45  Marx, »Einleitung zu den ›Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie‹ (August 1857)«, S. 39. 46  Mauke, Die Klassentheorie von Marx und Engels, S. 19 – 20. 47  Rudolf Walther, »Stand, Klasse [Abschnitte VIII –XVI ]«, in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 6: St-Vert, Stuttgart, 2004, 217 – 284, S. 267.

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übernommen« habe, »welche ihn aus der Erfahrung einer eher noch handwerklich-manufakturell und bäuerlich strukturierten als großindustriell geprägten Sozietät formulierten«.48 Wie diese Historiker (z. B. Thierry, Thiers, Guizot) sah Marx »[i]n der ›Klasse‹ die entscheidende Gliederungsform der bürgerlichen Gesellschaft, eine Gliederungsform, die im Gegensatz zum ›Stand‹ durch formal unbeschränkte sozialökonomische Mobilität charakterisiert ist.« 49 Doch hat Marx, wie Mauke ergänzt, »sehr scharf die Zäsur zwischen den Klassen frühbürgerlicher Provenienz (in der Manufakturperiode) und den durch das entfaltete Kapitalverhältnis entstandenen Klassen im modernen Sinne gezogen.« 50 Sein eigentliches Interesse gilt nicht dem, wenn man so will, ›liberalen‹ Klassenbegriff der frühkapitalistischen Epoche, es gilt den zugespitzten und vereindeutigten Klassenverhältnissen der entfalteten kapitalistischen Produktionsweise, d. h. des Industriekapitalismus: Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat. Die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat.51

Kapitalismus, welcher Kapitalismus? Nach den Voraussetzungen der marxistischen Lehre ist die Klassengesellschaft ein Produkt der kapitalistischen Produktionsweise. Bevor nachgefragt werden kann, wie dieser Zusammenhang näher zu beschreiben ist, muss noch geklärt werden, in welchem Sinn sich in Bezug auf das England der Frühen Neuzeit von Kapitalismus sprechen lässt. Denn von einer entwickelten kapitalistischen Produktionsweise, d. h. einer in erster Linie auf ›freier‹ Lohnarbeit beruhenden Warenproduktion, konnte im Europa des 17. Jahrhunderts nirgendwo die Rede sein. Wenn man die strenge marxistische Definition anlegt, nach der der Kapitalismus erst existiert, sobald »kapitalistische Prinzipien die Produktion steuern und die Organisation der dort stattfindenden Arbeit prägen«,52 dürfte man den Kapitalismus erst im 19. Jahrhundert beginnen lassen. Versteht man Kapitalismus in einem weniger eingeschränkten Sinn, lässt sich die »Entstehung der ersten 48  Mauke, Die Klassentheorie von Marx und Engels, S. 25. 49  Ebd. Es ist genau dieser frühe, in Absetzung von starren Standesverhältnissen formu-

lierte Klassenbegriff, der im Mittelpunkt des vorliegenden Buches steht. Wie gezeigt werden soll, dient er keineswegs nur dazu, eine bereits etablierte bürgerliche Marktgesellschaft zu beschreiben; er muss vielmehr als ein wesentliches Instrument zu ihrer Herstellung verstanden werden. 50  Ebd. 51  Marx u. Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, S. 463. 52  Jürgen Kocka, Geschichte des Kapitalismus, München, 2013, S. 45.

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›kapitalistischen‹ Staaten« auf die Zeit um 1650 datieren.53 So hat Jürgen Kocka die Ansicht vertreten, dass man im Hinblick auf Holland und England »bereits für das 17. und 18. Jahrhundert von einer voll entwickelten, sozial und kulturell ausstrahlungskräftigen kapitalistischen Wirtschaftsweise sprechen« könne.54 Vielleicht liegt es an unserer Entfernung vom klassischen Industriekapitalismus (und der Gegenwart eines launenhaften Handels- und Finanzkapitalismus), dass wir heute keine großen Schwierigkeiten haben, die englischen Verhältnisse des 17. Jahrhunderts als ›full-blown capitalism‹ zu begreifen. David Graeber hat darauf aufmerksam gemacht, dass alle wesentlichen Instrumente des aktuellen kapitalistischen Finanzsystems im England der Frühen Neuzeit schon entwickelt waren: Anscheinend wurden fast alle Bestandteile des finanziellen Apparats, die wir mit dem Kapitalismus verbinden – Zentralbanken, Anleihenmärkte, Leerverkäufe, Brokerfirmen, Spekulationsblasen, Verbriefung, Renten –, nicht nur vor der Entstehung der ökonomischen Wissenschaft entwickelt (was nicht unbedingt überraschen muss), sondern auch vor der Entstehung der Fabriken und der Lohnarbeit. Dies widerspricht der herkömmlichen Theorie. Wir sind geneigt, die Fabriken und Werkstätten als die ›Realwirtschaft‹ und den Rest als Überbau zu betrachten, der auf diesen grundlegenden Bauteilen errichtet wurde. Doch wie kann es sein, dass der Überbau zuerst da war? Ist es möglich, dass die Träume des Systems seinen Körper hervorbrachten?55

Der Hypothese, dass die Träume schließlich auch die geträumte Sache hervorbringen, wird diese Arbeit auf ihre Weise nachgehen.56 Zunächst wird es sich jedoch darum handeln, herauszufinden, was im 17. und 18. Jahrhundert unter Kapitalismus verstanden werden kann, und wie die entsprechenden Kapitalismen mit dem Projekt einer klassifikatorischen Neuordnung von Gesellschaft zusammenhängen. Diese Fragen lassen sich leichter beantworten, wenn man an der Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse zwei Aspekte unterscheidet: erstens die zunehmende Dominanz von markt- und geldvermittelten sozialen Beziehungen und zweitens die auf kapitalistische Verwertung angelegte Organisation der Arbeit.

53  Immanuel M. Wallerstein, Das moderne Weltsystem II . Der Merkantilismus. Europa zwischen 1600 und 1750, Wien, 1998, S. 6. 54  Kocka, Geschichte des Kapitalismus, S. 70. 55  David Graeber, Schulden. Die ersten 5.000 Jahre, München, 2014, S. 438 – 439. 56  Die Frage wird das System der gesellschaftlichen Klassenteilung betreffen: Könnte es sein, dass die Teilung der Gesellschaft in verschiedene Klassen sich nicht sozusagen naturwüchsig aus der ökonomischen Organisation ergab, sondern vielmehr aus einer Art ›Traum des Systems‹ hervorging, dem Traum von einer neuen, rationalen, systematischen Ordnung?

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Geschäft und Lebensführung Auch wenn es in der Geschichte immer wieder Ansätze zur Etablierung einer kapitalistischen Wirtschaftsweise gegeben hat (z. B. in der römischen Antike, in China, in den arabischen Reichen, in den italienischen Stadtstaaten), lässt sich von einer Durchsetzung kapitalistischer Verhältnisse erst für das Holland und England des 16. und 17. Jahrhunderts sprechen. Während der Feudalismus in anderen Regionen Europas eine zweite Blüte erlebte, wurde er hier effektiv zurückgedrängt; in beiden Ländern bildete sich eine einflussreiche Handelsbourgeoisie, deren Interessen durch starke zentralstaatliche Institutionen geschützt wurden.57 Mit der ›Handelsrevolution‹ der Jahre zwischen 1660 und 1700 konnte »England seinen Anteil am Welthandel gegenüber den Niederlanden ausbauen«;58 nach Brügge, Venedig, Antwerpen, Genua und Amsterdam wurde um 1700 London zum Zentrum des frühneuzeitlichen ›Kapitalistischen Weltsystems‹ (Braudel, Wallerstein). Dass in der Schicht reicher Kaufleute und Finanziers, die direkt an das System des globalen Handels angeschlossen waren, früher als anderswo der »Geist des Kapitalismus« herrschte, d. h. eine »formale ›Rationalität‹ der Geldrechnung« 59 alle wirtschaftlichen Überlegungen bestimmte, dürfte kaum zu bezweifeln sein. Max Weber zufolge war es der Puritanismus (unter dessen Anhängern die Kaufleute überproportional vertreten waren), der »jene ›Rechenhaftigkeit‹ […], die in der Tat für den Kapitalismus konstitutiv ist, aus einem Mittel der Wirtschaft in ein Prinzip der ganzen Lebensführung« verwandelte.60 Welchen Anteil der Puritanismus an der Durchsetzung des Kapitalismus hatte, ist umstritten;61 aus einer medien- oder kulturtechniktheoretischen Perspektive lässt sich sagen, dass es der religiös-ideologischen Unterstützung gar nicht unbedingt bedurfte, damit die Prinzipien der quantitativen Bewertung und kalkulierenden Voraussicht auch über den ökonomischen Bereich hinaus wirksam wurden. Es genügte, wenn bestimmte Verfahren der Berechnung und der Buchhaltung, die sich im kapitalistischen Geschäftsleben bewährt hatten, auf andere Bereiche übertragen wurden und dort ihre Wirksamkeit entfalteten.

57  Vgl. Chris Harman, »The rise of capitalism«, International Socialism, N° 102, 2004, online verfügbar unter: http://isj.org.uk/the-rise-of-capitalism/, online verfügbar unter: https:// www.marxists.org/archive/harman/2004/xx/risecap.htm [zuletzt aufgerufen am 30.08.18]. 58  Wallerstein, Das moderne Weltsystem II , S. 108. 59  Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriss der verstehenden Soziologie (1921), Frankfurt a. M., 2008, S. 77. 60  Max Weber, Die protestantische Ethik und der ›Geist‹ des Kapitalismus. Neuausgabe der ersten Fassung von 1904 – 05 mit einem Verzeichnis der wichtigsten Zusätze und Veränderungen aus der zweiten Fassung von 1920 (1904 – 1905), Wiesbaden, 2016, 144, Anm. 228. 61  Vgl. Christiane Eisenberg, Englands Weg in die Marktgesellschaft, Göttingen, 2011, S. 83 – 85.

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So hat z. B. Mary Poovey gezeigt, wie die aus Italien kommende Technik der doppelten Buchführung, die in England seit der Mitte des 16. Jahrhunderts gebräuchlich war,62 nicht nur zu einem »Ausweis kaufmännischer Tugend« und zu einem Instrument moralischer Selbstregulierung wurde,63 sondern schließlich auch zu einem »Vorbild für die Art von ›interesselosem‹ Wissen, das Naturphilosophen über die Natur bieten wollten«.64 Der Kaufmann John Graunt, der mit William Petty die Politische Arithmetik begründete,65 folgte bei der Aufstellung der ersten Bevölkerungsstatistiken dem Vorbild der doppelten Buchführung, und er gab gerne zu, dass sein Entwurf einer neuen, zahlengestützten Regierungskunst von »the Mathematiques of my Shop-Arithmetique« abhängig sei.66 Wie sich kapitalistische Rechenmäßigkeit schließlich auch ins Alltagsleben der Unternehmer und Funktionäre des Handelsplatzes London einschlich, zeigt sehr gut das Geheime Tagebuch von Samuel Pepys, dem seine Stellung im Marineamt beträchtliche offizielle und inoffizielle Provisionen verschaffte. Pepys hält in seinem Tagebuch die unterschiedlichsten Dinge fest, von Einkäufen über politische Diskussionen bis zu erotischen Abenteuern; eine Konstante bleibt jedoch die kaufmännische Bilanz zum Ende eines Monats oder Jahres: 30. 5. 1660 […] Machte den ganzen Vormittag meine Abrechnung, wobei ich ausrechnete, daß ich jetzt 80 Pfund wert bin, worüber ich mich von Herzen freute und Gott dankte.67 3. 6. 1660 […] und stelle fest, daß ich beinahe 100 Pfund wert bin, wofür ich dem allmächtigen Gott danke […].68 31. 12. 1660 […] Ich schätze, daß ich glatte 300 Pfund in Geld wert bin […].69 31. 12. 1661 […] Ich schätze, daß ich glatte 500 Pfund wert bin […]70 30. 9. 1662 […] Ich habe heute abend auch meine monatliche Abrechnung gemacht und finde, daß ich […] doch noch 680 Pfund wert bin, wofür Gott der Herr gepriesen sei.71

62  Vgl. Basil S. Yamey, Harold C. Edey u. Hugh W. Thomson, Accounting in England and Scotland, 1543 – 1800, New York, 1982. 63  Mary Poovey, A history of the modern fact. Problems of knowledge in the sciences of wealth and society, Chicago, London, 1998, S. xvi. 64  Ebd., S. 11. 65  Graunt und Petty werden in diesem Buch wichtige Rollen spielen, vgl. zu Graunt Kapitel 11 und zu Petty die Kapitel 10 und 12. 66  John Graunt, Natural and Political Observations. Mentioned in a following Index, and made upon the Bills of Mortality, London, 1662, o. P. [»The Epistle Dedicatory«]. 67  Samuel Pepys, Das geheime Tagebuch, Frankfurt a. M., 1982, S. 87. 68  Ebd., S. 89. 69  Ebd., S. 110. 70  Ebd., S. 148. 71  Ebd., S. 182.

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31. 12. 1663 […] Und als erstes stelle ich fest, Gott sei Dank, daß ich […] über 800 Pfund in barem Gelde wert bin […].72 31. 12. 1664 […] aber ich war doch sehr zufrieden mit meiner Arbeit und vor allem darüber, daß ich mit Gottes großem Segen 1349 Pfund wert bin […].73 30. 4. 1665 […] und dabei stelle ich mit großer Freude fest, daß ich […] insgesamt über 1400 Pfund wert bin, die größte Summe, die ich je wert war.74 30. 12. 1665 […] und finde zu meiner großen Freude, daß ich eine Menge mehr als 4000 Pfund wert bin, wofür der Herr gepriesen sei […].75 31. 5. 1666 […] aber zu meinem Leidwesen finde ich mich um fast 20 Pfund ärmer als vorigen Monat […]. Jedoch ich bin wohl zufrieden, daß ich immer noch 5 200 Pfund wert bin.76 1. 8. 1666 […] daß ich 5700 Pfund wert bin, das meiste, das mein Buch jemals ausgewiesen hat.77 31. 10. 1666 […] Gott sei Dank stelle ich fest, daß ich mehr wert bin als je zuvor, nämlich 6200 Pfund, wofür der heilige Name Gottes gepriesen sei […].78

Diese Form der Selbstbewertung und -klassifizierung hat ohne Zweifel etwas damit zu tun, dass kaufmännische Rationalität keinen Geschäftsschluss kennt, dass ein kapitalistisches Räsonnement auch die Ökonomie des Gefühlslebens ergreift. Bei der Redeweise ›Ich bin soundsoviel Pfund wert‹ handelt es sich nicht einfach um einen deplatzierten Ausdruck für ›Ich bin so und so reich‹. Vielmehr liegt darin der unverhohlene Stolz, den eigenen Wert exakt, d. h. in Zahlen ausdrücken zu können, und zugleich das Bewusstsein, dass dieser Wert ständig neu, durch vergleichende Messung und Beurteilung bestimmt werden muss – eine Mischung aus Lust und Zwang, die nicht zufällig an heutige Formen des ›quantified self‹, der permanenten Selbstvermessung, erinnert.79 Dass der Wert von allem und jedem streng marktabhängig ist, dies ist wohl die wesentliche Erkenntnis, die der Geist kapitalistischer Rechenhaftigkeit ins Privatleben mitnimmt. In aller Deutlichkeit hat Thomas Hobbes offengelegt, was Persönlichkeit in Zeiten flexibler Marktbewertung bedeutet:

Ebd., S. 275. Ebd., S. 327. Ebd., S. 337 – 338. Ebd., S. 391. Ebd., S. 406. Ebd., S. 438. Ebd., S. 471. Vgl. z. B. Tamar Sharon u. Dorien Zandbergen, »From data fetishism to quantifying selves. Self-tracking practices and the other values of data«, New Media & Society, Jg. 19, N° 11, 2016, 1695 – 1709. 72  73  74  75  76  77  78  79 

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The Value, or WORTH of a man, is as of all other things, his Price; that is to say, so much as would be given for the use of his Power: and therefore is not absolute; but a thing dependant on the need and judgement of another. […] And as in other things, so in men, not the seller, but the buyer determines the Price.80

Auch Begriffe wie Ehre oder Schande erweisen sich auf diese Weise als Resultate einer täglich wechselnden flexiblen Marktbeurteilung; sie lassen sich in quantitativen Begriffen, als Funktionen steigender oder abnehmender Wertzumessung reformulieren: The manifestation of the Value we set on one another, is that which is commonly called Honouring, and Dishonouring. To Value a man at a high rate, is to Honour him; at a low rate, is to Dishonour him. But high, and low, in this case, is to be understood by comparison to the rate that each man setteth on himselfe.81

William Petty, Schüler von Hobbes, hat aus dieser Gleichsetzung von Ehre und Wertzumessung ganz praktische Konsequenzen gezogen. In einem Augenblick, als er sich durch Angriffe auf seine Person in seiner Ehre gekränkt fühlen musste, nahm er Zuflucht zu den objektiven Zahlen, die bewiesen, dass er im Laufe seines Lebens immer höher bewertet worden war: Die Tabelle, die er im Sommer 1686, ein Jahr vor seinem Tod, anfertigte, ergab das Bild einer über die Jahre gewaltig gestiegenen Wertschätzung und damit den Beweis einer Ehre, die über alle kleinen Schwankungen des Ansehens erhaben war: Among other weapons that I am scowring up, I have drawn out a paper shewing what money I had at Xmas 1636 — which was 1 s. How it rise to 4 s 6 d, then to 24 s, then to 4 £. Then to 70. Next how it fell to 26, then rise to £ 480 at my Landing in Ireland. Next to 13,060 £ at finishing the Survey. And how after I gott my Land in Ireland and Estate in England &c, it was 3200 £ at the King’s Restoration &c. And so all along to this very day. Perhaps the like hath not been seene. […] Whatever becomes of me I can leave such arguments of 50 yeares art and Industry as will be a credit to my children and friends.82

80  Thomas Hobbes, Leviathan. A critical edition. Volume 2, hg. v. G. A. J. Rogers u. Karl Schuhmann, London, 2005, S. 71 – 72. Vgl. Crawford B. Macpherson, Die politische Theorie des Besitzindividualismus. Von Hobbes bis Locke, Frankfurt a. M., 1973, S. 54. 81  Hobbes, Leviathan, S. 72. 82  William Petty, »118. Petty to Southwell«, in: ders. u. Robert Southwell, The Petty-Southwell correspondence, 1676 – 1687, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, London, 1928, 210 – 212, S. 211.

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Warenform und Klassenform Wenn also Männer wie Pepys oder Petty unzweifelhaft vom Geist der Rechenhaftigkeit besessen waren, so bleibt doch die Frage, wie weit diese Art der kapitalistischen Rationalität sich im England des 17. Jahrhunderts schon verbreitet hatte. Fernand Braudel hat in seiner Sozialgeschichte des 15.—18. Jahrhunderts deutlich zwischen der traditionellen Marktökonomie und den neu aufkommenden kapitalistischen Strukturen unterschieden. Während die Marktökonomie eine restriktiv geregelte, lokal verankerte Verkehrsform bildete,83 stellte der Kapitalismus ein undurchsichtiges Geflecht transnationaler Geschäftsbeziehungen dar, das von einer relativ geringen Zahl von Großkaufleuten, Fernhändlern, Reedern, Bankiers, Risikofinanciers, Versicherungsunternehmern und Projektemachern getragen wurde. Ein großer Teil der Marktsphäre wie auch der noch größere Bereich der außerökonomischen »materiellen Zivilisation« wurden von kapitalistischen Kalkülen kaum erfasst: Sosehr der Kapitalismus auch in der Sphäre der Zirkulation, des Verkehrs, Umlaufs und Umsatzes in seinem Element ist, füllt er diese Sphäre doch nicht gänzlich aus. Nur wo sich ein lebhafter Austausch abspielt, findet er gewöhnlich die ihm gemäßen Verbindungen und Ansatzpunkte. Für die traditionellen Formen des Güteraustauschs, für die Marktwirtschaft im engsten Kreis dagegen bringt er wenig Interesse auf.84

Demnach war im Europa der Frühen Neuzeit die Reichweite des kapitalistischen Kalküls auf eine kleine Avantgarde agiler Geschäftemacher beschränkt; der Rest der Gesellschaft blieb bis ins 19. Jahrhundert in lokalen Abhängigkeitsverhältnissen und der künstlich beschränkten Ökonomie der Stände befangen. Aus diesem für das kontinentale Europa zutreffenden Bild fällt jedoch England heraus. Die »Great Transformation«, die Karl Polanyi erst für den laissez-faire-Kapitalismus des 19. Jahrhunderts veranschlagt hat, nämlich der Übergang von einer Gesellschaft ›mit Märkten‹ zu einer ›Marktgesellschaft‹, setzt hier schon bemerkenswert früh ein. Dass »die wirtschaftliche Tätigkeit des Menschen […] in seine Sozialbeziehungen eingebettet« und »der Sicherung seines gesellschaftlichen Rangs, seiner gesellschaftlichen Ansprüche und seiner gesellschaftlichen Wertvorstellungen« untergeordnet sei,85 lässt sich für das England des 17. Jahrhunderts nur noch mit Einschränkung behaupten; vielmehr spielen Marktbeziehungen hier bereits 83  Vgl. Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. – 18. Jahrhunderts, Bd. 1. Der Alltag (1979), München, 1985, S. 15 – 17. 84  Fernand Braudel, Sozialgeschichte des 15. – 18. Jahrhunderts, Bd. 2. Der Handel (1979), München, 1986, S. 407. 85  Karl Polanyi, The great transformation. Politische und ökonomische Ursprünge von Gesellschaften und Wirtschaftssystemen (1944), Berlin, 2017, S. 75.

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eine beherrschende Rolle.86 Die von Polanyi beschriebene Umkehrung – »Die Wirtschaft ist nicht mehr in die sozialen Beziehungen eingebettet, sondern die sozialen Beziehungen sind in das Wirtschaftssystem eingebettet« 87 – findet hier deutlich früher statt als im restlichen Europa. Im Hinblick auf England hat sich in der neueren Wirtschaftsgeschichte das Interesse von der lange kanonisierten ›Industriellen Revolution‹ auf die vorausgehenden Prozesse der »Kommerzialisierung und Marktrationalisierung« verschoben.88 So hat die Historikerin Christiane Eisenberg gezeigt, dass es in England schon lange vor der Industrialisierung »Rahmenbedingungen des Wirtschaftens« gab, »von der Garantie privater Eigentumsrechte bis zur einheitlichen Währung, vom freien Markt für Land und Geld bis zur allgemeinen Verbreitung von Lohnarbeit, vom Schutz der Handelswege durch die Royal Navy über die Bank of England bis zur London Stock Exchange«, die dafür sorgten, dass »kapitalistische – und das heißt: auf (Re-)lnvestition und Profitmaximierung ausgerichtete – Austauschbeziehungen nicht nur möglich waren, sondern den Normalfall darstellten«.89 Dies galt offenbar keineswegs nur für London und die anderen großen Handelsplätze. In seinem 1979 erschienenen Buch The Origins of English Individualism kam der Historiker Alan Macfarlane zu der Einschätzung, dass eine individualistische, rationalistische Haltung der marktförmigen Bewertung sich bereits im 17. Jahrhundert flächendeckend durchgesetzt hatte, nicht nur bei den Städtern, sondern auch in großen Teilen der Landbevölkerung, die kaum noch in bäuerlich-familiären Strukturen lebte, eine hohe Mobilität aufwies und vom »Idiotismus des Landlebens« 90 weit entfernt war. Die von Macfarlane untersuchten Tagebücher ländlicher Grundbesitzer zeigten, dass zwischen den Verfassern und der Stadt- oder Landbevölkerung um sie herum keine große Kluft bestand; ihre Nachbarn und Verwandten kommen auf diesen Seiten als gleichermaßen individualistische, rationale und berechnende Menschen vor, die ebenso vollständig an einer Marktökonomie und einer hochmobilen Gesellschaft teilnehmen. Die unausgesprochene Annahme hinter den meisten dieser persönlichen Dokumente scheint zu sein, dass fast jedes äußere Objekt seinen Preis und seinen Besitzer hat, dass alles von Land und Häusern abwärts

86  Vgl. Kocka, Geschichte des Kapitalismus zu The Great Transformation: »Das […] Buch verkennt gründlich die soziale Geschichte vor der Industrialisierung, die bereits viel stärker von Märkten bestimmt und viel weniger idyllisch war als Polanyi unterstellt.« 87  Polanyi, The great transformation, S. 88 – 89. 88  Eisenberg, Englands Weg in die Marktgesellschaft, S. 10. Vgl. ebd., S. 11: »Gerade im Pionierland England bzw. Großbritannien erscheint die Industriegesellschaft, überspitzt formuliert, als ein Zwischenspiel in einer langen Periode zunehmend effizienteren Wirtschaftens, dessen Ort außerhalb der in Fabriken zentralisierten Produktion zu suchen ist.« 89  Ebd., S. 108. 90  Marx u. Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, S. 466.

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eine Ware ist, die auf dem Markt ausgetauscht werden kann. Solch eine Ansicht schien in dem vermeintlich entfernteren Norden ebenso stark entwickelt zu sein wie in […] Essex oder London [..].91

Für die weitgehende Durchsetzung kapitalistischer Marktverhältnisse spricht auch, dass in England bereits seit der Mitte des 16. Jahrhunderts bewusst die Produktion von Gütern für einen inländischen Massenmarkt gefördert wurde. Die Wirtschaftshistorikerin Joan Thirsk sprach in diesem Zusammenhang von der Entstehung einer »Konsumgesellschaft«, die keineswegs nur den Adel und die Reichen umfasste, sondern zunehmend auch ländliche Arbeiter, Kleinbauern, Dienstboten und ihre Familien, die bestimmte Dinge nicht mehr selbst herstellten oder tauschten, sondern als Waren auf dem Markt kauften, darunter z. B. »Messingkochtöpfe, Eisenpfannen, Steingutgeschirr, gestrickte Strümpfe, sogar eine Spitzenkrause für eine Mütze oder Schürze«.92 Auch wenn warenförmige Beziehungen im England des 17. Jahrhunderts zweifellos noch nicht »sämtliche Lebensäußerungen der Gesellschaft durchdringen und nach ihrem Ebenbilde umformen« 93 (erst dann lässt sich nach Lukács davon sprechen, dass die »Warenform zur konstitutiven Form einer Gesellschaft« 94 geworden sei), so lässt sich doch davon ausgehen, dass die Gewohnheit der ›rechenhaften‹ Überlegung und Gewinneinschätzung sich überall verbreitet hatte, und dass die Prinzipien der quantitativen Bewertung und des messenden Vergleichs zunehmend die traditionellen, religiösen, familiären oder ständischen Beurteilungssysteme zurückdrängten. Bedeutet dies, dass man die Ursprünge der modernen Klassengesellschaft in der Zunahme warenförmiger, marktvermittelter Beziehungen suchen muss? Eine solche Behauptung ist, soweit ich sehe, selbst von jenen Marxisten nicht aufgestellt worden, die die gesamte Logik kapitalistischer Wertvergesellschaftung aus Marx’ Analyse des Warentauschs zu extrahieren versuchen. Die »Sphäre der einfachen Zirkulation oder des Warenaustausches« 95 kann zwar, wie Marx elegant gezeigt hat, alle möglichen Verwechslungen und fetischistischen Verkehrungen hervorbringen; so etwas wie Klassenteilung lässt sich jedoch aus den Gegebenheiten der Zirkulationssphäre nicht ableiten. Prinzipiell erkennen sich alle »Warenhüter« als gleichberechtigte Marktteilnehmer an, weshalb Marx den Markt nur halb91  Alan Macfarlane, The origins of English individualism. The family, property and social transition, New York NY , 1979, S. 66. 92  Joan Thirsk, Economic policy and projects. The development of a consumer society in early modern England, Oxford, 1978, S. 175. 93  Georg Lukács, Geschichte und Klassenbewusstsein. Studien über marxistische Dialektik (1923), Darmstadt, 1986, S. 172. 94  Ebd., S. 172. 95  Karl Marx, »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band« (1867), in: ders. u. Friedrich Engels, Werke (MEW ), Bd. 23, Berlin, 1956 ff., S. 190.

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ironisch, die bürgerliche Selbstbeschreibung karikierend, als »wahres Eden der angebornen Menschenrechte« bezeichnet hat.96 Legt man allein das Szenario des Warentauschs zugrunde, so kann es zwischen den verschiedenen Warenbesitzern selbstverständlich zum Streit kommen; es gibt aber keinen Grund, warum diese sich dauerhaft in verschiedene Klassen teilen sollten.97 Anders verhält es sich mit der Frage, inwiefern geldvermittelte Tauschbeziehungen dazu beitragen, jene neue Form der klassifikatorischen Ordnung hervorzubringen, die darauf beruht, die Dinge der Welt nach rein äußerlichen, quantitativ erfassbaren Merkmalen zu vergleichen, zu beurteilen und zu bewerten. Wenn man sich vergegenwärtigt, wie Pepys oder Petty ihren persönlichen ›Wert‹ in Geld bemessen, scheint ein solcher Zusammenhang nur allzu evident zu sein. Die Vermutung, dass diese Art der Selbsttaxierung, vor allem aber die dauernde Sorge um die Wertsteigerung, etwas mit ›Kapitalismus‹ zu tun hat, ist kaum von der Hand zu weisen. Doch wenn man sich nicht mit dem Eindruck begnügen will, dass klassifizierendes Denken und Kapitalismus irgendwie zusammenhängen, wird die Sache komplizierter. Im Gefolge der Marx’schen ›Fetischkritik‹ hat es nicht an Versuchen gefehlt, alle nur möglichen Formen der ideologischen Verkennung, der metaphysischen Verkehrung, des entfremdeten oder verdinglichten Bewusstseins auf die Waren- und Geldförmigkeit des gesellschaftlichen Austauschs zurückzuführen. Am berühmtesten ist wohl der von Alfred Sohn-Rethel unternommene Versuch, nicht nur das kantische Transzendentalsubjekt, sondern sämtliche Kategorien der »reinen Vernunft« aus der im Tauschvorgang wirksamen »Realabstraktion« hervorgehen zu lassen:98 »Nicht die Personen erzeugen diese Abstraktion, sondern ihre Handlungen tun das, ihre Handlungen miteinander. ›Sie wissen das nicht, aber sie tun es.‹« 99 Um herauszufinden, wie diese Abstraktionen zustandekommen, müsste man allerdings beobachten können, was sich »›hinter dem Rücken der

96  Ebd., S. 189. 97  Vgl. Karl Reitter, »Das Kapital wieder lesen. Eine Alternative zur wertkritischen Inter-

pretation«, grundrisse. zeitschrift für linke theorie & debatte, N° 17, 2006, 13 – 27, S. 15: »Freie und gleiche WarenbesitzerInnen, die sich ›wechselseitig als Privateigentümer anerkennen‹ (MEW 23; 99) tauschen äquivalente Wertgrößen zu ihrem gegenseitigen Nutzen aus. Die Gesellschaft der Waren- und Geldzirkulation kennt keine Klassen und keine Aneignung unbezahlter Mehrarbeit.« 98  Walter Benjamin, der für das Institut für Sozialforschung einen frühen Entwurf SohnRethels begutachtete, bemerkte in einer Randnotiz: »Es wäre großartig, wenn er recht hätte.« Vgl. Alfred Sohn-Rethel, »Zur kritischen Liquidierung des Apriorismus. Eine materialistische Untersuchung (März/April 1937)«, in: ders., Warenform und Denkform. Mit zwei Anhängen, Frankfurt a. M., 1978, 27 – 89, S. 74. 99  Alfred Sohn-Rethel, Geistige und körperliche Arbeit. Zur Theorie der gesellschaftlichen Synthesis (1970), Frankfurt a. M., 1971, S. 35.

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Menschen‹, sozusagen im Blindpunkt des menschlichen Bewußtseins« abspielt.100 Dies, und damit der ›Beweis‹, dass ein bestimmter Aspekt des abstrakten Denkens aus einem bestimmten Aspekt des Tauschvorgangs hervorgegangen ist, ist jedoch nicht nur, wie Sohn-Rethel sagt, »wahnsinnig schwer«,101 sondern – besonders für historische Verhältnisse – schlicht unmöglich. Der Versuch, Kategorien des Denkens aus dem Warentausch ›abzuleiten‹, wird immer nur auf mehr oder weniger einleuchtende Analogien hinauslaufen. Das bedeutet nicht, dass (kapitalistische) Warenform und (klassifikatorische) Denkform nichts miteinander zu tun hätten. Anstatt aber einen solchen Zusammenhang vorauszusetzen, um dann die Beweiskette zu knüpfen, die ihn belegen soll, wird die hier vorgelegte Untersuchung umgekehrt verfahren: Am Anfang steht die Beobachtung klassifikatorischer Praktiken und Techniken (also dessen, was sozusagen ›in der Mitte‹ passiert), und daran werden sich im Einzelfall Vermutungen darüber anstellen lassen, was durch diese Praktiken miteinander verbunden wird: Es ist keineswegs ausgeschlossen, dass sich auf diesem Weg auch zeigen lässt, wie bestimmte Aspekte des kapitalistischen Kalküls mit der neu aufkommenden gesellschaftlichen Klassenteilung zusammenhängen.

Die kleine und die große Maschinerie Für die Klassenbildungen des Frühkapitalismus hat sich der Marxismus wenig interessiert. Sie erschienen ihm als unreife Formen des Klassengegensatzes von Lohnarbeit und Kapital, der erst mit dem Industriesystem des 19. Jahrhunderts zu voller Ausprägung gelangen sollte. Wie Marx und Engels im Kommunistischen Manifest schreiben, ist die »Organisation der Proletarier zur Klasse« an den »Fortschritt der Industrie« gebunden;102 es ist die »Entwicklung der Industrie«, durch die das Proletariat »in größeren Massen zusammengedrängt« und damit zur Klasse geformt wird:103 »Die übrigen Klassen verkommen und gehen unter mit der großen Industrie, das Proletariat ist ihr eigenstes Produkt.« 104 Um zu einer Klassenteilung im marxistischen Sinn zu kommen, muss also mehr vorhanden sein als nur kapitalistisches Profitstreben; nur mit der Durchsetzung des Fabriksystems lässt sich von einer ›entwickelten‹ kapitalistischen 100  Alfred Sohn-Rethel, »Warenform und Denkform«, in: ders., Warenform und Denkform.

Mit zwei Anhängen, Frankfurt a. M., 1978, 103 – 133, S. 127.

101  Vgl. Alfred Sohn-Rethel, [Gespräch mit Helmut Höge, Sommer 1986 in Bremen]. taz-blog

›Hier spricht der Aushilfshausmeister!‹ Geld und Geist/Licht (35), 2008, online verfügbar unter: https://blogs.taz.de/hausmeisterblog/2008/12/04/geld_und_geistlicht/. Zuletzt geprüft am 9. Januar 2018: »Ich bilde mir etwas darauf ein, daß ich das gefunden habe, denn es ist sonst wahnsinnig schwer, den Weg zu finden, auf dem man überhaupt beweisen kann, daß eine Realabstraktion, oder ein Teil davon, sich in Denkabstraktion übersetzt hat.« 102  Marx u. Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, S. 471. 103  Ebd., S. 470. 104  Ebd., S. 472.

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Produktionsweise und von ›reifen‹ Klassenverhältnissen sprechen. Erst die industriell organisierte Mehrwertproduktion schafft den reinen Antagonismus von Kapital und Arbeit; erst die »Gesellschaft, worin das Kapital als solches entwickelt existiert«,105 lässt sich als eine Klassengesellschaft (im Sinn einer in zwei feindliche Lager gespaltenen Gesellschaft) betrachten. Diese Produktion der Klassen durch die kapitalistische Produktionsweise darf man sich nicht als eine einmalige Verfertigung vorstellen, so als ob im 19. Jahrhundert Proletariat und Kapitalistenklasse geschaffen worden wären und seitdem als solche existierten. Was die kapitalistische Produktionsweise ›produziert‹, ist nicht zuletzt sie selbst, und zu dieser Selbstreproduktion gehört, wie Marx im zweiten Band des Kapital hervorhebt, vor allem die laufende Erneuerung des Klassenverhältnisses: Die kapitalistische Produktion, wie wir gesehn; produziert nicht nur Ware und Mehrwert; sie reproduziert, und in stets erweitertem Umfang, die Klasse der Lohnarbeiter und verwandelt die ungeheure Majorität der unmittelbaren Produzenten in Lohnarbeiter.106

In der marxistischen Theorie erscheint auf diese Weise der reife, industriell organisierte Kapitalismus als eine mächtige Maschine zur Verfertigung großer Klassenblöcke, zur ständigen Erneuerung des Antagonismus von Proletariat und Kapitalistenklasse. In den vorindustriellen Gesellschaften, in denen die kapitalistische Organisation der Arbeit noch nicht zum dominanten Prinzip geworden ist, lässt sich eine solche Vereinheitlichungsfunktion nicht beobachten; hier ist eher von einer Vermehrung der kleinen Differenzen, der arbeitstechnischen Spezialisierungen zu sprechen: Der Klassengegensatz tritt jedoch noch partikularisiert in Erscheinung: in jedem Produktionszweig bzw. örtlich-betrieblich stößt eine fachlich spezifizierte Arbeiter-›Sorte‹ auf eine ebenso fachlich determinierte Kapitalistenkategorie. Von einem Klassengegensatz im nationalen und internationalen Maßstab kann für die Manufakturperiode nur in einem abstrakten Sinn die Rede sein […].107

Vor diesem Hintergrund ist zu verstehen, warum Marx eine so scharfe Trennung zwischen ›Manufaktur‹ und ›Fabrik‹ gezogen hat. Der Unterschied zwischen Manufakturwesen und Industriesystem besteht nicht nur darin, dass die Manufaktur eine beschränkte Kapazität hatte und »die gesellschaftliche Produktion 105  Karl Marx, »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Oktober 1857 bis Mai

1858)«, in: ders. u. Friedrich Engels, Werke (MEW ), Bd. 42, Berlin, 1956 ff., 47 – 768, S. 214.

106  Karl Marx, »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Zweiter Band« (1867), in:

ders. u. Friedrich Engels, Werke (MEW ), Bd. 24, Berlin, 1956 ff., S. 39.

107  Mauke, Die Klassentheorie von Marx und Engels, S. 51.

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weder in ihrem ganzen Umfang ergreifen noch in ihrer Tiefe umwälzen« konnte.108 Nach Marx handelt es sich vielmehr um zwei grundsätzlich verschiedene Organisationsformen von menschlicher Arbeit. Auch wenn in der Manufaktur schon Maschinen anzutreffen waren (weshalb sie als »die unmittelbare technische Grundlage der großen Industrie« betrachtet werden kann 109), so spielen sie hier doch nur eine untergeordnete Rolle; sie dienen wie im klassischen Handwerk als Werkzeuge. Rationalisierungsanstrengungen richten sich auf das Zusammenspiel der Arbeiter, die Organisation der Arbeitsteilung. So ist, wie Marx schreibt, die »spezifische Maschinerie der Manufakturperiode« nichts anderes als »der aus vielen Teilarbeitern kombinierte Gesamtarbeiter selbst«.110 Die Organisation des Manufakturbetriebs besteht wesentlich darin, den Arbeitern nach ihren Kräften und Geschicklichkeiten spezifische Aufgaben zuzuweisen – ein Akt der Spezialisierung, der, wie Marx bemerkt, zugleich ein Akt der Klassifizierung ist: Nach der Trennung, Verselbständigung und Isolierung der verschiednen Operationen werden die Arbeiter ihren vorwiegenden Eigenschaften gemäß geteilt, klassifiziert und gruppiert. Bilden ihre Naturbesonderheiten die Grundlage, worauf sich die Teilung der Arbeit pfropft, so entwickelt die Manufaktur, einmal eingeführt, Arbeitskräfte, die von Natur nur zu einseitiger Sonderfunktion taugen.111

Wenn also in der Manufaktur alle Bemühungen um eine Intensivierung der Produktion »die Arbeitskraft zum Ausgangspunkt« nehmen, so richten sie sich in der »großen Industrie« auf »das Arbeitsmittel«. Dieses stellt in der neuen Ordnung der Produktion nicht mehr einfach ein »Handwerksinstrument« dar; es hat sich vielmehr »aus einem Werkzeug in eine Maschine verwandelt«.112 Im Fabriksystem ist es nicht mehr der Arbeiter, der eine Maschine verwendet; er wird vielmehr selbst von der Maschine verwendet, als Maschinenteil in Gebrauch genommen: Die Tätigkeit des Arbeiters, auf eine bloße Abstraktion der Tätigkeit beschränkt, ist nach allen Seiten hin bestimmt und geregelt durch die Bewegung der Maschinerie, nicht umgekehrt.113

Marx, »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band«, S. 390. Ebd., S. 403. Ebd., S. 369. Ebd. Ebd., S. 391. Marx, »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Oktober 1857 bis Mai 1858)«, S. 593.

108  109  110  111  112  113 

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Diese Reduktion des Arbeiters auf eine »sekundäre und untergeordnete Maschine« 114 zieht notwendig eine Veränderung in der Art der gesellschaftlichen Klassenformierung mit sich. Auch wenn sie den Arbeitsprozess in spezialisierte Tätigkeiten zerlegte, blieb die Manufaktur auf das »Handwerksgeschick« der Beschäftigten angewiesen; sie förderte damit eher Diversifikation als Vereinheitlichung der Arbeiter. Der schottische Arzt und Propagandist der Industrialisierung, Andrew Ure, klagte in seiner Philosophy of Manufactures (1835) darüber, dass »der Arbeiter, je geschickter, desto eigenwilliger und schwieriger zu behandeln« war »und folglich dem Gesamtmechanismus durch seine rappelköpfigen Launen schweren Schaden« zufügen konnte.115 Marx zufolge hatte diese »Insubordination der Arbeiter« vor allem damit zu tun, dass der »Gesamtmechanismus« der Manufaktur noch »kein von den Arbeitern selbst unabhängiges objektives Skelett« besaß.116 Erst mit der »großen Maschinerie« verwirklichte sich eine dauerhafte Struktur, in der die Arbeiter nur noch austauschbare Rädchen darstellten. Hier wurden dann auch die »allgemeinen Produktivkräfte des gesellschaftlichen Hirns«,117 die zuvor noch auf die einzelnen Arbeiter verteilt waren, so weit von der Maschinerie absorbiert, dass den Arbeitern nur noch einfachste, rein mechanische Tätigkeiten übrigblieben, einfache Handlangertätigkeiten, die keine Grundlage für irgendeine Art von Arbeitsstolz boten. Während die Manufaktur noch mit einer Klassifikation der Arbeiten nach Graden und Arten der Geschicklichkeit verbunden war, produziert die Fabrik nur noch gleichermaßen »ungeschickte«, ungelernte Arbeiter.118 Die Fabrik erscheint auf diese Weise als eine große Anstalt der Vereinheitlichung und Uniformierung; wenn hier überhaupt noch eine Differenz sichtbar wird, so ist es die zwischen den jeder spezifischen Qualität beraubten Arbeitern und der übermächtigen Maschinerie, die ihnen als »Eigenschaft des Kapitals« gegenübertritt.119 Erst unter der alles nivellierenden Herrschaft der »großen Maschinerie« kommt es zur Auslöschung aller anderen zwischen den Arbeitern herrschenden Differenzen und damit zu Vereinheitlichung der Arbeitermasse zur Arbeiterklasse. Hält man sich an die Marx’schen Unterscheidungen, so wird man für das England des 17. Jahrhunderts nicht von einer entwickelten industriellen Produktionsweise und damit auch nicht von einer Klassengesellschaft im modernen Sinn, d. h. im Sinn einer binären Entgegensetzung von Lohnarbeit und Kapital sprechen können. Doch ist die von Marx verfügte, scharfe Trennung zwischen 114  Robert Owen: »Essays on the formation of the human character« (London 1840), zit.

nach Marx, »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band«, S. 607.

115  Andrew Ure, zit. nach ebd., S. 389. 116  Ebd., S. 389. 117  Marx, »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Oktober 1857 bis Mai 1858)«,

S. 594.

118  Ebd. 119  Ebd.

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der Manufakturperiode und dem ›eigentlichen‹, industriellen Kapitalismus in den letzten Jahrzehnten von zwei Seiten her angefochten worden. So wurde einerseits bezweifelt, ob sich die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts tatsächlich in erster Linie auf das Fabriksystem zurückführen ließ. Wie Christiane Eisenberg hervorhebt, sind englische Wirtschafts- und Sozialhistoriker bereits Ende der 1970er Jahre vom Paradigma der ›Industriellen Revolution‹ abgerückt und haben »die Bedeutung moderner Antriebsmaschinen und der Zentralisierung der Produktion für das wirtschaftliche Wachstum gerade für den Zeitraum zwischen 1760 und 1830, der traditionell als Kernphase der Industriellen Revolution in England galt, in Frage gestellt« 120 – dies vor allem angesichts der Tatsache, dass die ›große Industrie‹ gegenüber der Vielzahl der kleinen, handwerklichen Betriebe weiterhin deutlich zurücklag: »Noch um 1850 lag der Anteil der Fabrikarbeiter an den erwachsenen männlichen Erwerbstätigen bei nur fünf Prozent, und die in Fabriken eingesetzten Maschinen repräsentierten nach Schätzungen weniger als fünf Prozent des Kapitalstocks.« 121 Von der anderen Seite her haben z. B. der Sozialwissenschaftler Theo Pirker und seine Mitarbeiter zu zeigen versucht, dass Marx in seinem Versuch, »die ›Industrielle Revolution‹ scharf als Diskontinuität herauszuarbeiten«, eine »künstliche und falsche Periodisierung der Industrialisierung« eingeführt habe.122 Sein »Konstrukt der ›Manufakturperiode‹123 verdanke sich dem Wunsch, das moderne Fabriksystem als eine vollständige Umkehrung aller älteren Formen von Maschinenarbeit erscheinen zu lassen. Dabei gerate aus dem Blick, dass es z. B. im Bereich der Textilproduktion immer schon komplizierte Mensch-Maschine-Anordnungen gab, die sich gegen eine »manufakturmäßige Zerlegung der Arbeit« sperrten;124 zum anderen habe Marx ausblenden müssen, dass es in der Frühen Neuzeit durchaus schon Betriebe gab, die nicht auf der Rationalisierung manueller Arbeit, sondern auf dem Einsatz von großer Maschinerie beruhten, darunter insbesondere »die vielen Formen von Mühlen (Pulvermühlen, Pochwerke, Papier-, Säge- und Zwirnmühlen etc.)«.125

120  Eisenberg, Englands Weg in die Marktgesellschaft, S. 10. 121  Ebd., S. 10. 122  Theo Pirker, Hans-Peter Müller u. Rainer Winkelmann, »Das Konzept der ›Industriel-

len Revolution‹ als überholtes Paradigma der Sozialwissenschaften«, in: dies. (Hg.), Technik und Industrielle Revolution. Vom Ende eines sozialwissenschaftlichen Paradigmas, Wiesbaden, 1987, 13 – 27, S. 22. 123  Ebd., S. 22. 124  Hans-Peter Müller u. Rainer Winkelmann, »Marxismus, Arbeiterbewegung und technologische Geschichtsauffassung«, in: Rolf Ebbighausen und Friedrich Tiemann (Hg.), Das Ende der Arbeiterbewegung in Deutschland? Ein Diskussionsband zum sechzigsten Geburtstag von Theo Pirker, Opladen, 1984, 96 – 127, hier S. 104. 125  Ebd., S. 107

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Die Marxsche Trennung von Manufakturepoche und Fabrikzeitalter ist also zumindest zu relativieren. So wird man wird die zentralisierten Produktionsstätten, die es im England des späten 17. Jahrhunderts schon gab, so z. B. im Bergbau, in der Eisenverhüttung, in der Waffenherstellung oder im Brauereiwesen, durchaus Fabriken nennen können, ebenso wie die größeren der über das ganze Land verstreuten Mühlen. Die bedeutendsten Betriebe waren die Werften der königlichen Marine; sie waren auf den Bau und die Wartung großer Kriegsschiffe ausgelegt und beschäftigten auf einem eng begrenzten Areal hunderte von zivilen Arbeitern. Im Jahr 1711 zählten die dockyards von Portsmouth 2.001 Beschäftigte, es folgten Chatham mit 1.287 und Deptford mit 1.083 Arbeitern.126 Aufgrund der schwierigen Finanzlage des Staates wurden die Löhne oft mit monatelanger Verspätung ausbezahlt; entsprechend kam es hier, wie ein Militärhistoriker bemerkt, zu »Formen des Klassenkampfes, wie sie für spätere Jahrhunderte charakteristisch wurden (organisierte Streiks, Dienst nach Vorschrift etc.).« Dass es der Staat war, der hier als kapitalistischer Arbeitgeber auftrat, macht sich vor alle dadurch bemerkbar, dass er jederzeit auch auf außerökonomischen Zwang zurückgreifen konnte: »In Zeiten der größten Knappheit im 17. und frühen 18. Jahrhundert zwang die Unattraktivität der Beschäftigung die Regierung dazu, die Schiffsbauer in ihre Werften zu pressen.« 127

Kapitalismus auf dem Lande Die Arbeitsorganisation in den staatlichen Werften und Großbaustellen kommt wohl dem am nächsten, was Marx unter Fabriksystem verstand. Doch waren diese Orte einer rationalisierten und maschinisierten Großproduktion viel zu dünn gesät, um einen Effekt der Klassenvereinheitlichung hervorzurufen, wie ihn Marx der großen Industrie des 19. Jahrhunderts zuschrieb. Wenn man eine Erklärung für die Erosion der ständischen Ordnung und das Aufkommen von kapitalistischen Klassenbeziehungen im frühneuzeitlichen England finden will, muss man sie woanders suchen. In diesem Zusammenhang hat sich in der britischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte seit Beginn des 20. Jahrhunderts die These des ›agrarian capitalism‹ entwickelt. Sie geht davon aus, dass der sich in England besonders früh vollziehende Übergang von einer feudalen zu einer kapitalistischen Landwirtschaft nicht auf externe Faktoren, auf ein Erstarken des Handelskapitals, sondern auf einen Umsturz der ländlichen Eigentumsverhältnisse zurückzuführen ist. Der Historiker R. H. Tawney sprach im Hinblick auf das 16. Jahrhundert von einer »New Rural Economy«, die durch den »Aufbau großer Landgüter« und das Auf126  Zahlenangaben nach Michael Duffy, »The foundations of British naval power«, in: ders.

(Hg.), The military revolution and the state. 1500 – 1800, Exeter, 1980, 49 – 85, S. 59

127  Ebd.

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tauchen einer »dreigliedrigen Einteilung in Grundherrn, kapitalistischen Bauern und landlosen Feldarbeiter« gekennzeichnet sei.128 Die Kommerzialisierung der englischen Gesellschaft und damit die Entwicklung des Kapitalismus ging, so Tawney, von der expansiven und exportorientierten landwirtschaftlichen Produktion aus; getragen wurde sie von reich gewordenen Kaufleuten, die Landbesitz und Adelstitel erworben hatten und darin nicht mehr eine Grundlage »politischer Funktionen und Verpflichtungen«, sondern eine »einkommensträchtige Investition« sahen:129 »Es waren landwirtschaftliche Kapitalisten dieser Art, die die Gangart diktierten und denen die Zukunft gehörte.« 130 Während Tawney, ein christlicher Sozialist, den Namen Marx gar nicht erwähnte, wurde seine These vom ›agrarian capitalism‹ von marxistischen Historikern interessiert aufgenommen. Maurice Dobb’s Studies in the Development of Capitalism (1946) bildeten den Ausgangspunkt für die in den 1950er Jahren geführte geschichtswissenschaftliche Debatte über den »Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus«.131 In den 1970er Jahren entfachte Robert Brenners Artikel Agrarian Class Structure and Economic Development in Pre-Industrial Europe eine neue Diskussion über die von Tawney aufgeworfene Frage nach den ländlichen Ursprüngen des Kapitalismus. Brenners Aufsatz war vor allem als eine polemische Stellungnahme gegen den zu dieser Zeit aufkommenden Weltsystem-Ansatz (Immanuel Wallerstein, Gundar Frank) zu verstehen: Gegen die Annahme, dass der Kapitalismus in erster Linie durch eine Ausweitung der Marktbeziehungen und des Fernhandels entstanden sei, ging es Brenner darum, die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung auf die Veränderung der ländlichen Produktionsverhältnisse zurückzuführen.132 Während das Landleben im kontinentalen Europa überall noch von feudalen Beziehungen beherrscht war, hatten sich Brenner zufolge in England bereits im 15. und 16. Jahrhundert kapitalistische Eigentumsverhältnisse etabliert. In der Auseinandersetzung um die Neuregelung der Feudalrechte war es den Bauern nicht gelungen, »sich wesentliche Besitzrechte über das Land zu sichern«, was es den Landlords ermöglichte, das Land »zu beanspruchen, zu konsolidieren und einzuhegen [enclose], große 128  R. H. Tawney, The agrarian problem in the sixteenth century, London, 1912, S. 1. 129  Ebd., S. 189. 130  R. H. Tawney, »The rise of the gentry, 1558 – 1640«, The Economic History Review, Jg. 11,

N° 1, 1941, 1, S. 17.

131  Vgl. Maurice Dobb, Studies in the development of capitalism (1946), London, 1950; Paul

M. Sweezy u. Maurice Dobb, »The transition from feudalism to capitalism«, Science & Society, Jg. 14, N° 2, 1950, 134 – 167. Die sog. Dobb-Sweezy-Debatte ist dokumentiert in: Paul M. Sweezy, Maurice Dobb, H. K. Takahashi, u. a., The transition from feudalism to capitalism. A symposium, New York, 1963. 132  Eine gute Übersicht über die Positionen in der Agrarian-Capitalism-Debatte gibt: David Ormrod, »Agrarian capitalism and merchant capitalism. Tawney, Dobb, Brenner and beyond«, in: Jane Whittle (Hg.), Landlords and Tenants in Britain, 1440 – 1660. Tawney’s Agrarian Problem Revisited, New York, 2014, 200 – 215, S. 203.

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Farmen zu schaffen und sie an kapitalistische Pächter zu vermieten, die es sich leisten konnten, kapitalistische Investitionen zu machen«.133 Ihrer Lebensgrundlage beraubt, mussten sich die Bauern als Tagelöhner auf den großen Landgütern verdingen. Wie bei Tawney ergibt sich ein dreigliedriges Klassensystem: Die Landlords sind passive Eigentümer, die den Tenant Farmers oder Pächtern ihr Land gegen eine jährlich zu entrichtende Grundrente überlassen. Die Pächter ihrerseits kaufen die Arbeitskraft und organisieren die Arbeit der landlos gewordenen Bauern, um als kapitalistische Unternehmer Gewinn daraus zu ziehen. »Ende des 17. Jahrhunderts«, so Brenner, »kontrollierten englische Grundherren einen überwältigenden Teil der Anbauflächen – vielleicht 70 – 75 % –, und die kapitalistischen Klassenbeziehungen entwickelten sich wie nirgendwo sonst, mit folgenschweren Konsequenzen für die wirtschaftliche Entwicklung«.134 Gegen die These von der ländlichen Herkunft des englischen Kapitalismus sind diverse Einwände erhoben worden.135 Der schwerwiegendste ist wohl der, dass Brenner das Ausmaß der kapitalistischen Organisation der Landwirtschaft massiv überschätzt habe. Brenner selbst geht davon aus, dass man nur dort von kapitalistischen Produktionsverhältnissen sprechen könne, wo die Arbeit im berühmten Marx’schen Doppelsinn »frei« geworden war, wo also »Arbeit vom Besitz der Produktionsmittel getrennt wurde und Arbeiter von jeglichen direkten Herrschaftsverhältnissen (wie Sklaverei oder Leibeigenschaft) emanzipiert wurden«.136 Eine solche Befreiung der Arbeit und ihre Verwandlung in eine Ware findet in England zweifellos früher statt als im kontinentalen Europa, doch ist es mehr als fraglich, ob man schon für das 16. oder gar das 15. Jahrhundert von einem »vollen Hervortreten der Arbeitskraft als Ware« 137 sprechen kann. Wie Robert Albritton bemerkt hat, komme so etwas wie eine »vollständige Warenförmigkeit der Abeitskraft« ohnehin nirgendwo in der Geschichte vor; die »Macht des Kapitals, das gesellschaftliche Leben zu durchdringen« hänge vielmehr davon ab, »bis zu welchem Grad die Arbeitskraft zur Ware geworden« sei.138 Eine Dominanz warenförmiger Arbeitsverhältnisse lasse sich in der englischen Landwirtschaft erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beobachten; im Kontrast dazu seien die Verhältnisse um 1700 (und umso mehr die früheren) viel zu uneindeutig, um sie insgesamt als kapitalistisch zu bezeichnen. So gehe Brenner davon aus, dass die 133  Robert Brenner, »Agrarian class structure and economic development in pre-industrial

Europe«, Past & Present, N° 70, 1976, 30 – 75, S. 63.

134  Ebd. 135  Die wichtigsten Diskussionsbeiträge finden sich in: T. H. Aston u. Philpin, C. H. E

(Hg.), The Brenner Debate. Agrarian class structure and economic development in pre-industrial Europe, Cambridge, 1985. 136  Robert Brenner, »The origins of capitalist development. A critique of neo-smithian marxism«, New Left Review, N° n°104, July-August, 1977, 25 – 92, S. 32. 137  Ebd., S. 76. 138  Robert Albritton, »Did agrarian capitalism exist?«, The Journal of Peasant Studies, Jg. 20, N° 3, 1993, 419 – 441, S. 422

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Einhegung der Gemeindegüter die Bauern von ihrem Land getrennt und sie auf diese Weise zur Lohnarbeit gezwungen habe. Doch sei der Prozess der enclosure zu dieser Zeit noch keineswegs vollständig gewesen, und entsprechend habe es kaum ländliche Arbeiter gegeben, die ausschließlich von Lohnarbeit lebten: Was ist, wenn eine Person nur für einen Teil des Jahres gegen Lohn auf einer Farm arbeitet, wenn ihr Lohn vom örtlichen Friedensrichter gedeckelt wird, wenn sie weitgehend in Sachleistungen bezahlt wird, weniger als das Existenzminimum bezahlt bekommt, in einer ›Werkshütte‹ [›tied‹ cottage] lebt, Zugang zu einem kleinen Stück Land und Weideprivilegien hat, jedes Jahr substantielle Armenhilfe erhält und aufgrund der Siedlungsgesetze nicht mit der Familie in eine andere Pfarrei umziehen kann. Wenn das obige Beispiel im England des Jahrs 1700 ungefähr typisch ist, können wir dann sagen, daß die Arbeitskraft ausreichend kommerzialisiert ist, um den Agrarsektor als kapitalistisch zu bezeichnen?139

Doch auch wenn Brenner offenbar mehr als nur ein wenig übertrieben hatte, als er die ländliche Gesellschaft des frühneuzeitlichen England als vollkommen durchkapitalisiert beschrieb, so hatte er doch unleugbar eine wesentliche Tendenz erfasst: Die englische Gesellschaft des 17. Jahrhunderts ist keine feudale Gesellschaft, sondern eine, in der Lohnarbeit, geographische und soziale Mobilität, Gewinnorientierung, rationale Kalkulation von Chancen etc. zu den Selbstverständlichkeiten des Alltagslebens gehören. Wenn sich hier eine Semantik der Klasse ausbreitete, so traf sie sich mit Erfahrungen, die die Leute in ihrem Alltag machen konnten. Und noch in einer zweiten Hinsicht ist Brenners These (wie auch die Kritik daran) für die vorliegende Arbeit interessant: Entgegen der marxistischen Ableitungslogik sind es nicht die gewandelten Produktionsverhältnisse, die neue Klassenverhältnisse hervorbringen. Es sind umgekehrt die veränderten »Klassenbeziehungen auf dem Lande«, die den »Durchbruch von einer ›traditionellen Ökonomie‹ zu einer relativ selbsttragenden Wirtschaftsentwicklung« bewirken,140 d. h. die die kapitalistische Produktionsweise hervorbringen. Und diese Klassenbeziehungen entspringen selbst keineswegs dem freien Spiel ökonomischer Kräfte; sie werden vielmehr durch willkürliche und rabiate Akte der Beraubung und Übervorteilung hervorgebracht.

Die ursprüngliche und die fortgesetzte Teilung Die These von den agrarischen Ursprüngen des Kapitalismus scheint zunächst der marxistischen Lehre zu widersprechen, nach der die kapitalistische Produk139  Ebd., S. 423 140  Brenner, »Agrarian class structure and economic development in pre-industrial Eu-

rope«, S. 47

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tionsweise sich »in der Regel […] zuerst in den Städten, zuerst in der Industrie« entwickelte und die Landwirtschaft »lange von ihr unberührt« blieb.141 Doch ist die von den Historikern des agrarian capitalism verfolgte Spur bei Marx selbst schon angelegt. So heißt es in den Grundrissen: Die Geschichte des Grundeigentums, die die allmähliche Verwandlung des feudalen Landlords in den Grundrentner, des erbsässigen halbtributären und oft unfreien Leihpächters in den modernen Farmer und der dem Grunde angehörigen angesessenen Leibeignen und Fronbauern in Ackerbautaglöhner nachwiese, wäre in der Tat die Geschichte der Bildung des modernen Kapitals.142

Marx hat eine solche Geschichte bekanntlich auch in Angriff genommen: Im Kapitel des Kapital über die »sogenannte ursprüngliche Akkumulation« beschreibt er, wie die »ökonomische Struktur der kapitalistischen Gesellschaft« aus der »ökonomischen Struktur der feudalen Gesellschaft« hervorgegangen ist,143 wobei er keinen Zweifel daran lässt, dass in diesem Prozess »Eroberung, Unterjochung, Raubmord, kurz Gewalt die große Rolle« spielten.144 Die »Methoden der ursprünglichen Akkumulation« sind für Marx »alles andre, nur nicht idyllisch«;145 sie umfassen die Enteignung der Bauern durch enclosure und Vertreibung ebenso wie die »grotesk-terroristische[n] Gesetze«, durch die das »gewaltsam expropriierte, verjagte und zum Vagabunden gemachte Landvolk […] in eine dem System der Lohnarbeit notwendige Disziplin hineingepeitscht, -gebrandmarkt, -gefoltert« wurde.146 Für die vorliegende Arbeit, in der es wesentlich um die Teilungsprozesse geht, die zur Entstehung der modernen Klassengesellschaft geführt haben, sind Marx’ Ausführungen zur ›ursprünglichen Akkumulation‹ vor allem deshalb interessant, weil hier die Entstehung des Kapitalismus auf nichts anderes als einen anfänglichen Akt der Teilung zurückgeführt wird – eine »ursprüngliche« Scheidung,147 die sich in einer Serie weiterer Trennungen, Spaltungen, Scheidungen fortsetzt: »Das Kapitalverhältnis setzt die Scheidung zwischen den Arbeitern und dem 141  Karl Kautsky, Die Agrarfrage. Eine Übersicht über die Tendenzen der modernen Landwirth-

schaft und die Agrarpolitik der Sozialdemokratie, Stuttgart, 1899, S. 7. Zu Kautskys einflussreicher Darstellung vgl. John Milios, The origins of capitalism as a social system. The prevalence of an aleatory encounter, London, New York, 2018, S. 45 – 51. 142  Marx, »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Oktober 1857 bis Mai 1858)«, S. 178. 143  Marx, »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band«, S. 743. 144  Ebd., S. 742. 145  Ebd. 146  Ebd., S. 765. 147  Vgl. ebd., S. 742: »Die sog. ursprüngliche Akkumulation ist also nichts als der historische Scheidungsprozeß von Produzent und Produktionsmittel. Er erscheint als ›ursprünglich‹, weil er die Vorgeschichte des Kapitals und der ihm entsprechenden Produktionsweise bildet.«

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Eigentum an den Verwirklichungsbedingungen der Arbeit voraus. Sobald die kapitalistische Produktion einmal auf eignen Füßen steht, erhält sie nicht nur jene Scheidung, sondern reproduziert sie auf stets wachsender Stufenleiter.« 148 Eine Spaltung bringt die nächste hervor; so folgt z. B. auf die »Losscheidung« der Bauern »von ihren Produktionsmitteln« zwangsläufig eine weitere Ablösung, nämlich der »Scheidungsprozeß von Manufaktur und Agrikultur«.149 Wenn es sich bei Begriffen wie ›Scheidung‹ oder ›Teilung‹ um Metaphern handelt, so sind es doch Metaphern, die noch vollkommen durchsichtig sind für die konkreten, sich in Raum und Zeit vollziehenden Operationen, denen sie abgelesen sind. Scheidung des Bauern von seinen Produktionsmitteln heißt nichts anderes, als dass er von dem Stück Land verjagt wird, das ihn ernährt; Scheidung von »Manufaktur und Agrikultur« bedeutet, dass die ländliche Heimindustrie trockengelegt wird, während nebenan, immer noch auf dem Land, Manufakturen entstehen, die die freigesetzte Lohnarbeit in ihre Regie nehmen. Arbeitsteilung klingt nach einem abstrakten Prinzip, aber die Arbeiter einer Manufaktur nach ihren jeweiligen Kräften und Fähigkeiten einzusetzen, ist ein höchst konkreter Prozess der Beobachtung und Taxierung, der räumlichen Aufteilung und disziplinarischen Platzanweisung. So lassen sich viele der Vorgänge, die Marx unter dem Begriff der ursprünglichen Akkumulation fasst, buchstäblich als Akte der Klassifikation, der Einteilung und Aufteilung von Land und Menschen begreifen. Eine Hecke zu ziehen, um ein vormals gemeinschaftlich genutztes Weideland als Privatbesitz zu markieren; kleine Flurstücke zusammenzulegen, um daraus ein großes Landgut entstehen zu lassen; die Bauern von ihren Parzellen zu vertreiben, um sie anschließend als Lohnarbeiter einzustellen, all dies sind manifeste Akte der räumlichen Trennung, die mit der Neuaufteilung der Orte und Besitztümer zugleich eine Neuaufteilung des Sozialen verfügen. In ihrer 1981 veröffentlichten Untersuchung zur »geschichtlichen Organisation der Arbeitsvermögen« 150 haben Oskar Negt und Alexander Kluge den von Marx beschriebenen »einschneidenden geschichtlichen Trennungsprozessen« 151 besondere Aufmerksamkeit gewidmet. Sie übernehmen Marx’ Auffassung der ursprünglichen Akkumulation als ursprüngliche Trennung, und sie fügen hinzu, dass die damit freigesetzte »Trennungsenergie« auch im späteren, industriellen Verwertungssystem erhalten bleibe, nämlich in der »Formbestimmung der […] Arbeitsdisziplin«.152 Ihre Kritik an Marx setzt dort an, wo dieser die ursprüngliche Akkumulation als eine Art Vorgeschichte des Kapitalismus behandelt, die mit dessen voller Entfaltung abgeschlossen sei. Tatsächlich stellt Marx die historische 148  Ebd. 149  Ebd., S. 776. 150  So der Titel des ersten Teils von Oskar Negt u. Alexander Kluge, Geschichte und Eigen-

sinn (1981), Frankfurt a. M., 1987.

151  Ebd., S. 29. 152  Ebd., S. 30.

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Darstellung zugunsten der systematischen Begriffsentwicklung zurück. Wenn er in den Grundrissen erklärt, dass eine »Geschichte der Bildung des modernen Kapitals« möglich sei, so fügt er sogleich hinzu: »Wir haben es aber hier mit der gewordnen, auf ihrer eignen Grundlage sich bewegenden bürgerlichen Gesellschaft zu tun.« 153 Entsprechend ist das Kapitel über die ursprüngliche Akkumulation, das in einer geschichtlichen Untersuchung des Kapitalismus »an den Anfang treten« müsste, »ans Ende der Darstellung gerückt« worden;154 es bildet zusammen mit einem kurzen Exkurs über die »moderne Kolonisationstheorie« den Schluss des ersten Bands des Kapital. Offenkundig hatte Marx den Eindruck, dass ein Zuviel an historischer Herkunftsforschung seinen Versuch einer logisch-systematischen Entwicklung der Kategorien des Kapitals sabotieren könnte. Zugleich spielt aber auch eine argumentationstaktische Überlegung eine Rolle: Wenn es darum ging, die Ungerechtigkeit der kapitalistischen Produktionsweise offenzulegen, so durften nicht die Exzesse des Systems in den Vordergrund gestellt werden; der Skandal der Ausbeutung musste vielmehr in seinem gewöhnlichen Funktionieren gefunden werden: Nichtsdestotrotz spielte Marx die ursprüngliche Akkumulation herunter, weil sie seine grundlegendere Analyse des Kapitalismus schmälerte. Im Zuge der ursprünglichen Akkumulation stehlen Kapitalisten das Eigentum der Leute. Ihr Verhalten verdient Missbilligung, weil sie sich unfair verhalten. Marx wollte zeigen, wie das normale, legale Funktionieren des Marktes der Arbeiterklasse Wert raubt. Marx hat diese Abschöpfung des Mehrwerts nicht dem ›schlechten‹ Verhalten der Individuen zugeschrieben, sondern dem unpersönlichen Funktionieren eines Klassensystems.155

Marx’ Konzentration auf die systematische Herleitung hatte allerdings ihren Preis. Sie führte dazu, dass in den sog. kapitallogischen Ansätzen der Kapitalismus nur im ›höchsten‹ Zustand seines Funktionierens, als »automatisches Subjekt« 156 und »sich selbst verwertender Wert« 157 betrachtet wurde; aus dieser gleichsam unter Laborbedingungen stattfindenden Rekonstruktion mussten alle äußeren, historischen Verschmutzungen, darunter auch der Klassenkampf, ausgeschlossen werden.158 Soweit diese Art von Kapitalanalyse historische Befunde 153  Marx, »Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie (Oktober 1857 bis Mai 1858)«,

S. 178.

154  Negt u. Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 35. 155  Michael Perelman, »History of capitalism«, in: Alfredo Saad-Filho (Hg.), Anti-capitalism.

A Marxist introduction, London, 2003, 119 – 126, S. 121. 156  Marx, »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band«, S. 169. 157  Ebd., S. 329. 158  Beispielhaft: Robert Kurz u. Ernst Lohoff, »Der Klassenkampf-Fetisch«, Marxistische Kritik, N° 7, 1989, o. P. [1. Kapitel], online verfügbar unter: http://www.krisis.org/1989/der-

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überhaupt zur Kenntnis nahm, musste sie eine merkwürdige Aufspaltung des Untersuchungsobjekts vornehmen: Einer Vorgeschichte des Kapitalismus, in der außerökonomische Faktoren noch eine Rolle spielen dürfen, steht die vollendete Herrschaft des Kapitals entgegen, die allein vom Prinzip der freien Konkurrenz der Warenbesitzer bestimmt sein soll.159 Doch die Hoffnung auf klare Einsicht in die ›Logik‹ des Kapitals wird immer wieder enttäuscht. Einen reinen, nur nach Markgesetzen funktionierenden Kapitalismus hat es nie gegeben, und wird es wohl auch nicht geben. Wie Michael Perelman hervorgehoben hat, ist die ursprüngliche Akkumulation nicht ein einmaliges Ereignis im Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus, sondern ein Prozess, der sich durch die gesamte Geschichte des kapitalistischen Systems zieht und sich in der Gegenwart laufend wiederholt.160 Angesichts der fortdauernden, gewaltförmigen Aneignungs-, Trennungs- und Zerstörungsprozesse, die die kapitalistische Expansion begleiten, haben Negt und Kluge von einer »ursprünglichen Akkumulation in Permanenz« gesprochen: »Es ist der Sinn des hinzugefügten Wortes Permanenz, daß sich das Anfangen künftig zu einem Prinzip immer erneuter Umwälzungen verdichtet hat.« 161 Für die Frage nach der Entstehung der Klassenteilung ist es nicht nebensächlich, dass sie die ständige Selbsterneuerung des Kapitalismus als einen Prozess beschreiben, der sich »mit ungeheurer Masse an Trennungsenergien« vollzieht.162

Außerökonomischer Zwang Während es wenig sinnvoll ist, die Arbeits- und Ausbeutungsverhältnisse der Frühen Neuzeit an den etablierten industriekapitalistischen Verhältnissen des klassenkampf-fetisch/: »Der ›Klassenkampf‹ in diesem Sinne ist aber nichts weiter als die subjektive Seite der ›Selbstbewegung des Kapitals‹, d. h. der Selbstverwertung des Werts in der Form eines bewusstlosen, den Individuen äußerlichen gesellschaftlichen Verhältnisses.« 159  Vgl. Gareth Stedman Jones, »Interview mit Gareth Stedman Jones [geführt von Peter Schöttler]«, in: ders., Klassen, Politik und Sprache. Für eine theorieorientierte Sozialgeschichte, Münster, 1988, 277 – 317, S. 304: »Die Gefahr dieser Unterscheidung von ›formaler‹ und ›realer‹ Subsumtion […] besteht darin, daß sie von einem ›kapitallogischen‹ Ansatz übernommen werden kann. Nach dem Motto: erst gab es eine Periode widersprüchlicher Entwicklung, dann tritt der Kapitalismus auf und von da an ist alles gleichsam prädeterminiert durch dessen formallogische Struktur. So etwas lehne ich natürlich strikt ab.« 160  Vgl. Perelman, »History of capitalism«, S. 126: »Die materiellen Erfordernisse der New Economy gehen weit über fossile Brennstoffe hinaus. Die Vereinigten Staaten verwendeten 1990 etwa 1 Milliarde Tonnen an Materialien wie Eisen, Kupfer, Schwefel und Phosphor sowie fossile Brennstoffe aus Kohlenwasserstoffen und andere Materialien, die abgebaut und bei der Herstellung von Gütern verwendet werden […]. Der Zugang zu diesen Ressourcen hängt mehr oder weniger von primitiver Akkumulation ab. In diesem Sinn hat sich der Kapitalismus über die Jahrhunderte nicht sehr verändert.« 161  Negt u. Kluge, Geschichte und Eigensinn, S. 36. 162  Ebd.

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19. Jahrhunderts zu messen, bietet der Begriff der »ursprünglichen Akkumulation in Permanenz« eine angemessene Perspektive, um die Dynamik des sich entwickelnden Kapitalismus im England des 17. Jahrhunderts zu erfassen. Von der Ausbildung eines autonomen, sich selbst tragenden Teilsystems namens Wirtschaft kann hier noch keine Rede sein; gerade in der Phase seiner stürmischsten Ausdehnung ist der Kapitalismus von einer Vielzahl außerökonomischer Faktoren abhängig, insbesondere natürlich von direkten staatlichen Interventionen, aber auch von den Tendenzen der religiösen und kulturellen Entwicklung und, nicht zuletzt, vom Stand der technischen und medialen Dispositive.163 Ein ›freier Handel‹ ist im 17. Jahrhundert noch nicht in Sicht; die Formel ›Liberty of Trade‹ bedeutete nicht viel mehr als die staatlich gewährte Konzession, in einer bestimmten Region Handel zu treiben. Die frühen Unternehmer griffen gerne auf Staatsregulierung zurück und nahmen staatliche Protektion Anspruch, wo es nur ging. Daniel Defoe hebt in seinem Plan of the English Commerce (1724) ausdrücklich die Rolle von Staatsinterventionen hervor: Nur durch eine gezielte Politik der Importsubstitution war England seit dem Ende des 15. Jahrhunderts von einem billigen Lieferanten von Rohwolle zum größten Produzenten von Wollstoffen geworden: »THAT King Henry VII . was the first Prince that put the English upon the Thought of manufacturing their own Wool, must be acknowledged to his Memory; we should not do him Justice, if we did not mention it, as often as the Original of our Woollen Manufacture is spoken of.« 164 Seit der Regierungszeit Elisabeths I. (1558 – 1603) konnten Unternehmer mit »staatlicher Unterstützung bei der Gründung von Handelsgesellschaften, im Überseehandel (v. a. durch die Kolonialpolitik) und beim Aufbau von Manufakturen« rechnen,165 und dass England gegen Ende des 17. Jahrhunderts zur größten Welthandelsmacht wurde, ging wesentlich auf »die protektionistische Politik eines starken militärischen Fiskalstaats zurück«,166 der die Interessen der englischen Exporteure und Handelsgesellschaften mit kriegerischen Mitteln schützte. Der kanadische Historiker Peter Way hat auf die herausragende Rolle des Krieges in der kapitalistischen Expansion hingewiesen. Die enormen Summen, die der Staat ausgab, »um Eng-

163  Wie Joseph Vogl deutlich gemacht hat, weisen die heutigen »Prozesse funktionaler

Entdifferenzierung« von Politik und Wirtschaft (Joseph Vogl, Der Souveränitätseffekt, Zürich, 2012, S. 25) auf die frühneuzeitliche Situation zurück, deren politisch-ökonomische Prozesse sich ebenfalls »keineswegs auf die Dynamik eines geschlossenen Teilsystems im Konzert mit anderen sozialen Teilsystemen beschränken lassen«. Ebd., S. 116. 164  Daniel Defoe, A Plan of the English Commerce. Being a Compleat Prospect of the Trade of this Nation, as well the Home Trade as the Foreign, London, 1724, S. 126. 165  Jochen Hartwig, »Petty – oder: die Geburt der Arbeitswertlehre aus ökonomischen Problemen des frühen Kapitalismus«, Historical Social Research/ Historische Sozialforschung, Jg. 26, N° 4 (98), 2001, 88 – 124, S. 93. 166  Ormrod, »Agrarian capitalism and merchant capitalism«, S. 209.

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lands Kriegskapazitäten zu finanzieren« 167 (sie beliefen sich auf bis zu 85 % des jährlichen Staatshaushalts), wurden als eine Investition betrachtet, die durch die Erringung und Sicherung der ökonomischen Vorherrschaft belohnt wurde. Für die Etablierung des kapitalistischen Weltsystems war die staatlich organisierte Destruktion nicht weniger wichtig als die kapitalistisch organisierte Produktion: Die Arbeit des Blutvergießens gilt als Tabu, aber auch als destruktiv und nicht produktiv. So hat man Soldaten einen Ort außerhalb der Arbeiterklasse zugewiesen. Dabei ist ihre im Dienste des Staates verrichtete Arbeit nicht weniger Bestandteil des Kapitalismus als andere sogenannte Dienstleistungen; was die frühe Neuzeit angeht, ist sie für das Gesamtprojekt Kapitalismus sogar noch weitaus bedeutender.168

In einer Art zweiten Welle der »ursprünglichen Akkumulation« sorgte die Ausplünderung der Kolonien und die Versklavung ihrer Bewohner für den enormen Zufluss von Kapital, auf den sich die englische Wirtschaftsentwicklung gründete. ›Freie Arbeit‹, deren Wert allein durch den Markt bestimmt würde, war im Einflussbereich dieser Expansion eher die Ausnahme als die Regel. Wie David Graeber formuliert hat, besteht der »geheime Skandal des Kapitalismus« darin, »dass er nie hauptsächlich auf der freien Arbeit beruhte«.169 Die entstehende kapitalistische Ökonomie förderte das System der Lohnarbeit, aber sie hatte auch keine Schwierigkeiten damit, aus anderen, archaischeren Formen der Aneignung Profit zu ziehen: Wir müssen einsehen, dass die ›richtigen‹ Lohnarbeiter, die als freie Individuen, die über ihre Arbeitskraft als Ware verfügen und keine andere Ware zu verkaufen haben, nur eine Erscheinungsform sind, in der der Kapitalismus die Arbeitskraft in ein Handelsgut verwandelt. Es gibt zahlreiche weitere Formen, die die gleiche Aufmerksamkeit verdienen, wie etwa Sklaven, Kontraktarbeiter, Schuldknechte, Teilpächter usw.170

Wenn selbst heute ein großer Teil der globalisierten Arbeit unter Bedingungen ausgeführt wird, die nichts mit freier Vertragswahl und Freizügigkeit zu tun haben, so gilt dies umso mehr für das 17. Jahrhundert, in dem die Warenför167  Peter Way, »Klassenkrieg. Die ursprüngliche Akkumulation, die militärische Revolution

und der britische Kriegsarbeiter«, in: Marcel van der Linden und Karl Heinz Roth (Hg.), Über Marx hinaus. Arbeitsgeschichte und Arbeitsbegriff in der Konfrontation mit den globalen Arbeitsverhältnissen des 21. Jahrhunderts, Berlin, 2009, 85 – 114, S. 91. 168  Ebd., S. 87. 169  Graeber, Schulden, S. 445. 170  Marcel van der Linden, »Was ist neu an der globalen Geschichte der Arbeit?«, Sozial. Geschichte, Jg. 22, N° 2, 2007, 31 – 44, S. 40 – 41.

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migkeit der Arbeit auch im Kernland des Kapitalismus noch nicht vollständig durchgesetzt war. Die kapitalistische Herrschaft war hier, in Marx’ Worten, weit davon entfernt, auf den »stumme[n] der Zwang der ökonomischen Verhältnisse« vertrauen zu können; um ihre Verwertungsinteressen durchzusetzen, musste sie vielmehr regelmäßig auf »[a]ußerökonomische, unmittelbare Gewalt« zurückgreifen.171 So ist auch die Arbeitsorganisation im 17. Jahrhundert keineswegs nur eine Frage des ökonomischen Zwangs; wie und in welchem Umfang die Menschen der kapitalistischen Ausbeutung zugeführt werden können, hängt vielmehr ganz wesentlich von politischen Instanzen ab, vom Eingreifen des Staates oder der lokalen Gewalten. Wie Marx hervorhebt, beruhen die Methoden der ursprünglichen Akkumulation »zum Teil auf brutalster Gewalt, z. B. das Kolonialsystem. Alle aber benutzten die Staatsmacht, die konzentrierte und organisierte Gewalt der Gesellschaft, um den Verwandlungsprozeß der feudalen in die kapitalistische Produktionsweise treibhausmäßig zu fördern und die Übergänge abzukürzen.« 172

Kapitalismus im Entwurf Die bei Marx selbst eher als zweitrangig behandelte Frage nach der »historischen Genesis der kapitalistischen Produktion« 173 wurde hier nicht nur deshalb so betont, weil dadurch die spezifische Situation Englands im 17. Jahrhundert näher beleuchtet werden konnte. Unter dem Gesichtspunkt der ›ursprünglichen Akkumulation‹ lässt sich vielmehr auch die Frage nach dem Ursprung der Klassengesellschaft neu und anders stellen. Betrachtet man den Kapitalismus als eine sozioökonomische Formation, die nicht einfach aus dem Marktgeschehen hervorging, sondern politisch, durch sichtbare und unsichtbare Gewalt hergestellt wurde und immer wieder neu hergestellt wird, so lässt sich – zumindest versuchsweise – das Bedingungsverhältnis von Kapitalismus und Klassenteilung umkehren: Es ist nicht erst der zu seiner industriellen Höchstform aufgelaufene Kapitalismus, der die Teilung der Gesellschaft in zwei binäre entgegengesetzte Klassen zu verantworten hat. Vielmehr ist es eine ganze Geschichte der Teilungen und Trennungen, aus der Klassen und Kapitalismus hervorgehen. Die von Marx beschriebenen Prozesse der ›ursprünglichen Akkumulation‹ lassen sich ebenso als Prozesse der Klassenteilung betrachten: Beginnend mit dem »Scheidungsprozeß des Arbeiters vom Eigentum an seinen Arbeitsbedingungen« 174, entfaltet sich eine Kaskade von Trennungsprozessen (eine ursprüngliche Teilung ›in Permanenz‹), die die gesamte Entwicklung des Kapitalismus begleiten wird. Neben die groben, offen gewaltsamen Trennungsprozesse der Enteignung, der 171  172  173  174 

Marx, »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band«, S. 765. Ebd., S. 779. Ebd., S. 765. Ebd., S. 742.

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Vertreibung, der Einhegung treten die subtileren Unterscheidungsprozesse der rechtlichen Kodifizierung, der wissenschaftlichen Klassifikation, der moralischen und ästhetischen Beurteilung. Kapitalismus, so könnte man sagen, entsteht und erhält sich durch unzählige Akte der Unterscheidung, der Einteilung und Aufteilung, von der Festlegung der Handelswege, Einflusszonen und Märkte über die Trennung zwischen guten und schlechten Armen (»working poor« und »idle poor«) bis hin zur Spaltung zwischen den zu schützenden Lohnarbeitern im eigenen Land und den Sklaven und Zwangsarbeitern in den Kolonien. Es ist wohl diese geheime Affinität des Kapitalismus zu Verfahren der Teilung, die dafür gesorgt hat, dass die im 17. Jahrhundert in Mode gekommene wissenschaftlichen Klassifizierungsverfahren sich zwanglos mit dem Unternehmen einer ökonomischen Neuordnung verbinden konnten. In dieser Hinsicht ist es hilfreich, sich zu vergegenwärtigen, dass kapitalistische Wirtschaftsformen sich nicht einfach sang- und klanglos verbreiteten. Zu ihrer Durchsetzung gehörte vielmehr eine Art Traum vom Kapitalismus, die Vision einer besseren Zukunft, die den Markt als zwangloses Ordnungsprinzip und das ökonomische Eigeninteresse als wirksamstes soziales Band erscheinen ließ. Noch bevor er so genannt wurde und lange bevor er zum dominanten Wirtschaftsprinzip wurde, präsentierte sich der Kapitalismus als Utopie und politisch-moralisches Programm.175 Dabei verband sich das Lob von Handelsgeist und Profitinteresse nicht nur mit der Vorstellung einer Zügelung der Leidenschaften und einer allgemeinen Zivilisierung des Umgangs; es verband sich auch mit der Idee einer anderen, ›gerechteren‹ Aufteilung der Gesellschaft, die nicht mehr den überkommenen Herkunftsprinzipien gehorchen, sondern sich an objektiven Maßstäben des Verdienstes orientieren sollte.176 In diesem Zusammenhang bargen die Verfahren der klassifikatorischen Einteilung nach objektiven, quantitativen Kriterien so etwas wie das Versprechen einer ›Entwicklung des Kapitalismus von der Utopie zu Wissenschaft‹. Die Politische Arithmetik, die später näher beleuchtet werden soll, bildete sozusagen den wissenschaftlichen Arm der kapitalistischen Modernisierung: Sie lieferte nicht nur die methodische Rechtfertigung, sondern auch die regierungstechnischen Instrumente für die Neuaufteilung des Sozialen nach Kriterien des Werts und der Verwertbarkeit. Indem sie Klassifizierungsverfahren und Klassenbegriff auf die Gesellschaft übertrug, schuf sie mehr als nur eine neue Beschreibung von Gesellschaft; sie regte eine grundlegende Neuformatierung des Sozialen an, in der die Menschen nicht mehr hierarchisch nach Ständen geordnet, sondern klassenweise, nach dem Grad ihrer ökonomischen Verwertbarkeit zusammengefasst werden sollten. Das Teilungswissen geht hier direkt in Teilungspraxis über: Die Politischen 175  Vgl. Albert O. Hirschman, The passions and the interests. Political arguments for capitalism

before its triumph, Princeton, N. J., 1977.

176  Einschlägig sind hier vor allem die Entwürfe einer rationalen, auf Zahlen gestützten

Politik bei John Graunt und William Petty, vgl. Kapitel 11 und 12.

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Arithmetiker arbeiten mit an der Erschließung des ungeheuren Reichtums, der in der menschlichen Arbeitskraft liegt und dessen effektive Nutzung wesentlich davon abhängt, dass er ins Klassenformat gebracht wird. Wie lässt sich nach all dem die Frage nach dem Verhältnis von Kapitalismus und gesellschaftlicher Klassenteilung beantworten? Diese Arbeit geht davon aus, dass die Dynamik der kapitalistischen Entwicklung im England des 17. Jahrhunderts zumindest zu einem Teil darauf beruhte, dass sie sich mit einer anderen Entwicklung, nämlich dem Prozess einer klassifikatorischen Neuordnung Englands verbinden konnte. Zweifellos wäre es am elegantesten, wenn dieser Prozess einfach als eine Art blinder Evolution beschrieben werden könnte, als ein Zusammenfinden und eine Verknüpfung von Teilungsvorgängen, die sich im gesellschaftlichen Feld gleichsam absichtslos ereignen; und tatsächlich soll es in dieser Arbeit vorrangig darum gehen, eben dieser unaufhörlich wirksamen, bewusstlosen, ›maschinellen‹ Bastelei der Einteilungen und Aufteilungen auf die Spur zu kommen. Doch vollzieht sich die Umarbeitung des gesellschaftlichen Feldes, schopenhauerisch gesprochen, nicht nur als blinder ›Wille‹, sondern auch als bewusste ›Vorstellung‹. Die Neuordnung England ist etwas, das nicht einfach nur geschieht, sondern gezielt vorangetrieben wird. So lässt sich, wie insbesondere an der Figur des ›Projektemachers‹ gezeigt werden kann,177 durchaus von einem ›Projekt‹ der Klassifizierung sprechen, einem Modernisierungsprogramm, das einflussreiche Akteure unter hohem Einsatz und gegen zahlreiche Widerstände durchzusetzen versuchen. Natürlich hat niemand die Losung ausgegeben, eine ›Klassengesellschaft‹ zu begründen; doch gab es Tendenzen bewussten Handelns, die darauf zielten, das starre und hierarchische Einteilungsprinzip der alten Gesellschaft durch ein flexibles, marktförmiges Bewertungsprinzip zu ersetzen – eben das, wodurch sich Klassengesellschaft von ständischer Ordnung unterscheidet. Derart zielbewusste und unternehmungslustige Akteure anzunehmen: Heißt das, zu der klassischen Auffassung zurückzukehren, nach der es »die Bourgeoisie« gewesen sei, die »den Feudalismus zu Boden geschlagen« 178 und die kapitalistische Herrschaft durchgesetzt habe?179 Für das 17. Jahrhundert wäre das eine ziemlich unbefriedigende Erklärung, da hier von der Existenz einer eigenen, festumrissenen bürgerlichen Klasse keine Rede sein kann. Von der englischen Revolution der Jahre 1642 – 1649 ist gesagt worden, dass es sich zweifellos um eine 177  S. u., Kap. 10, Abschnitt »Klasse als Projekt«. 178  Marx u. Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, S. 468. 179  Theorien, die ›die Bourgeoisie‹ für das Aufkommen des Kapitalismus verantwortlich

machen, haben das Problem, vorauszusetzen, was sie eigentlich erklären wollen. Vgl. Brenner, »The origins of capitalist development«, S. 83: »Hinter der ursprünglichen Entstehung des Kapitalismus das Wirken von Geld oder Handel oder von Handelskapitalisten zu sehen, ist daher zirkulär: Denn es heißt, die Ursprünge des Kapitalismus durch das Handeln kapitalistisch funktionierender Kapitalisten zu erklären.«

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»bürgerliche Revolution« handelte, allerdings eine, in der »das Bürgertum auf beiden Seiten war«.180 Der Konflikt um die gesellschaftliche Neuaufteilung (und um die Einführung kapitalistischer Wirtschaftsformen) vollzieht sich im England des 17. Jahrhunderts nicht zwischen zwei verschiedenen Klassen, sondern eher zwischen zwei Fraktionen der herrschenden Eliten. Diese unterschieden sich weniger durch ihre soziale Lage als durch die Art ihres Reichtums und durch ihre Einstellung zur kapitalistischen Modernisierung: Einer Partei des Landes stand eine des Geldes gegenüber, und beide verstanden es, auch die Schichten des Volkes auf ihre Seite zu ziehen, die weder Land noch Geld besaßen. Eine Klassenzuordnung ist hier nur eingeschränkt möglich. Zwar standen die Kaufleute der deterritorialisierenden Drift des Geldes näher als der bewahrenden Ökonomie des Grundeigentums, aber viele von ihnen waren von der anderen Seite so sehr fasziniert, dass ihr höchster Ehrgeiz darauf ging, sich Landsitz, Adelstitel und alle anderen Insignien des alten Reichtums anzueignen. Und umgekehrt: Weit davon entfernt, sich mit Jagd und höfischen Intrigen zu begnügen, ließen Teile des Adels und der Gentry sich auf spekulative Geldgeschäfte ein, rationalisierten ihre landwirtschaftlichen Betriebe und gründeten Manufakturen. Das kapitalistische Projekt war nicht an ein bestimmtes Stratum der alten Gesellschaft gebunden. Sein Personal rekrutierte sich aus allen Ständen; seine Akteure waren unternehmerisch denkende Fürsten, aber auch entschlossene Aufsteiger wie Petty oder Pepys. Was Klassenteilung und Klassifizierung angeht, so sind sie zweifellos nicht vom Kapitalismus erfunden worden. Für das ›Projekt Kapitalismus‹ erweisen sie sich jedoch in besonderer Weise als funktional, und so verbinden sich die Wege der kapitalistischen Modernisierung mit denen der klassifikatorischen Neuordnung des Wissens. Praktiken der Teilung, Zählung und Klassifikation sind im England des 17. und des frühen 18. Jahrhunderts so eng mit dem Projekt der ökonomischen Modernisierung verbunden, dass sie von den Zeitgenossen umstandslos als Techniken der kapitalistischen Rationalisierung, als Instrumente einer ›whiggistischen‹ Neuordnung der Gesellschaft erkannt werden.181 Zumindest für diesen Zeitraum lässt sich sagen: Die Begriffe und Techniken der Klassenteilung reflektieren nicht einfach eine bereits vollzogene ökonomische Aufteilung, sie wirken vielmehr aktiv daran mit, in der alten Gesellschaft neue, der kapitalistischen Verwertungslogik entsprechende Aufteilungen und Verkehrsformen durchzusetzen.

180  Das Bonmot wird R. H. Tawney zugeschrieben., s. Wallerstein, Das moderne Welt-

system II , S. 138.

181  In Swifts Satiren auf die Politische Arithmetik wird klassifikatorisches Denken un-

mittelbar mit kapitalistischem Kalkül identifiziert: s. u., Kap. 19, Abschnitt »Swifts antiarithmetischer Kampf«.

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2.

SCHEMA UND SCHUBLADE. DAS UNBEHAGEN IN DER KLASSIFIKATION Wie das vorangegangene Kapitel gezeigt hat, wird in der marxistischen Tradition die Frage nach der Klassenteilung gewöhnlich so gestellt, dass dabei die Voraussetzungen und Modalitäten der klassifikatorischen Einteilung außer Acht bleiben. Im Werk von Marx sind es nicht die systematischen, sondern eher die historiographischen Texte wie z. B. das Kapitel über die ›ursprüngliche Akkumulation‹, in denen man Hinweise darauf findet, welche konkreten Operationen der Trennung, Teilung und Klassifizierung effektiv an der Klassenspaltung der Gesellschaft beteiligt sind. Die im Marxismus ausgeblendete Frage nach den Modi der klassifikatorischen Einteilung, nach ihren epistemologischen, ideologischen und ontologischen Konsequenzen steht dagegen in einem anderen Theoriestrang, der hier als ›Klassifikationskritik‹ bezeichnet werden soll, im Vordergrund. Entsprechende Ansätze aus Sprachwissenschaft, Philosophie, Soziologie und Wissensgeschichte haben sich vorrangig mit den Gesetzen und der Herkunft der logischen Einteilung befasst; in diesem Kapitel sollen die klassifikationskritischen Beiträge aber auch im Hinblick darauf gelesen werden, was sie zu einer historischen Epistemologie der sozialen Klassenteilung beitragen können.

Vom Realismus zum Nominalismus Wissenschaftler aller Disziplinen sind mit dem Problem befasst, ihr jeweiliges Fachwissen zu ordnen; es gibt aber auch Wissenschaften, in denen schon die Produktion des Wissens eine Frage des richtigen Anordnens ist, so vor allem in den Bibliotheks- und Informationswissenschaften, aber auch in der Botanik, der Zoologie und z. T. auch in der Medizin.1 Insbesondere in den Naturwissenschaften steht die erkenntnistheoretische Frage im Vordergrund, wie sich die klassifikatorischen Einteilungen zu ihrem Gegenstand, d. h. zur realen Welt verhalten. Dabei gibt es offenbar zwei Möglichkeiten, den Zusammenhang von Klassifikation und Wirklichkeit zu fassen: Entweder man geht davon aus, dass Klassifikationssysteme, in wie unvollkommener Form auch immer, die reale 1  Aus der Gemeinsamkeit der Probleme ergab sich seit den 1970er Jahren eine interdiszi-

plinäre Zusammenarbeit, für die Ingetraut Dahlberg 1974 den Namen »classification science« oder »Klassifikationswissenschaft« vorschlug; eine eigene akademische Disziplin ist daraus aber bisher nicht entstanden. Vgl. Ingetraut Dahlberg, Grundlagen universaler Wissensordnung. Probleme und Möglichkeiten eines universalen Klassifikationssystems des Wissens, Pullach bei München, 1974, S. 21.

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Unterschiedenheit der Dinge abbilden, oder man nimmt an, dass die Unterschiede, und damit die Dinge, erst aus der Klassifikation hervorgehen. Die eine Option, die von der »Vorgängigkeit des Materials« ausgeht, lässt sich als die »realistische« Position bezeichnen; die andere, die annimmt, dass Unterschiede und erkennbare Gegenstände erst »durch den klassifikatorischen Akt« geschaffen werden,2 kann »nominalistisch« genannt werden – eine Unterscheidung, die an die Terminologie des mittelalterlichen Universalienstreits anschließt.3 So sind Klassifikations-Realisten davon überzeugt, dass eine wissenschaftlich definierte Klasse nicht einfach eine willkürlich gewählte Einteilung darstellt, sondern dass sie eine Menge wirklich vorhandener Individuen bezeichnet, die objektiv durch ein gemeinsames klassifikatorisches Merkmal miteinander verbunden sind. In der Biologie äußert sich dies in der Auffassung, »Art-Taxa stellten so etwas wie natürliche Sorten bzw. natural kinds dar«,4 dass also die Einteilungen der Naturforscher auf reale Einteilungen in der Natur zurückgingen. Natürlich gestehen auch Realisten zu, dass die klassifikatorischen Einteilungen und begrifflichen Abgrenzungen unscharf sein können, aber dies ist für sie kein Grund, an der symbolischen Repräsentierbarkeit der Welt zu zweifeln. Viel eher wird es ihnen darum gehen, durch »logische Klärung der Gedanken« 5 und genauere Zergliederung der Wirklichkeit dafür zu sorgen, dass die klassifikatorische Darstellung sich soweit wie möglich der Ordnung der Dinge annähert. Wenn erst einmal die entscheidenden distinktiven Merkmale entdeckt wären, so ließe sich zu jedem Vorkommnis exakt die Klasse angeben, der es zuzurechnen ist: Quine und Putnam haben zum Beispiel argumentiert, dass es die Wissenschaft der Chemie ermöglicht, objektiv die Beziehung der Gleichartigkeit (sameness-ofkind) zwischen einzelnen Vorkommnissen von Wasser zu definieren. Basierend auf chemischen Analysen, so argumentieren sie, wissen wir jetzt, dass alle Wasserproben zu jedem Zeitpunkt und an jedem Ort immer H2O waren, unabhängig von unseren Vorstellungen von Wasser, und dass es ›unmöglich ist, dass es nicht H2O ist‹. Insbesondere die Analyse der unwahrnehmbaren Mikrostruktur von Objekten durch Wissenschaftler wurde als der richtige Weg zur Entdeckung natürlicher

2  Jean-Louis Chiss, »Malaise dans la classification«, Langue française, N° 1987, Volume 74, Numéro 1, 10 – 28, hier S. 11. 3  Eine Übersicht über die mittelalterliche »Debatte um den ontologischen Status der Allgemeinbegriffe« gibt: Marc-Aeilko Aris, Jan Peter Beckmann, Ludger Honnefelder, u. a., »Universalienstreit«, in: Gerhard Müller und u. a. (Hg.), Theologische Realenzyklopädie, Bd. 34. Trappisten / Trappistinnen – Vernunft II , Berlin, 2002, 340 – 354. 4  Martin Mahner, »Biologische Klassifikation und Artbegriff«, in: Ulrich Krohs und Georg Toepfer (Hg.), Philosophie der Biologie. Eine Einführung, Frankfurt a. M., 2005, 231 – 348, S. 243. 5  Ludwig Wittgenstein, »Tractatus logico-philosophicus« (1918), in: Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M., 2016, 7 – 85, S. 32 (Satz 4.112).

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Wesenheiten und daraus folgend zu einer objektiven, eindeutigen Klassifizierung angesehen.6

Der Traum einer eindeutigen Zuordnung von Zeichen und Welt hat seinen Ursprung in der klassifikatorischen Epoche des Barock; er impliziert die Idee, dass die unvollkommene, sich immer nur metaphorisch auf Wirklichkeit beziehende Sprache durch eine neue, rein logische Notation, eine »philosophical language« oder »Ars characteristica combinatoria« zu ersetzen sei, deren Kategoriensystem genau der Struktur der Wirklichkeit entsprechen würde.7 In der Praxis jedoch erweist sich der Versuch, die Ordnung der Zeichen mit der Ordnung der Dinge zur Deckung zu bringen, als unabschließbar. Der Ehrgeiz, eine eindeutige, objektive Taxonomie zu errichten, läuft eher auf eine Vervielfältigung der Klassifikationssysteme hinaus. So kann es gerade die Suche nach einer absoluten, endgültigen Darstellung des Wissens sein, die schließlich Zweifel an einer möglichen 1:1-Entsprechung von Welt und Klassifikation nährt und skeptische, nominalistische Auffassungen auf den Plan ruft.8 Tatsächlich stellt die empirische Vielfalt der Einteilungsweisen den wohl schlagendsten Einwand gegen die realistische Position dar: Trotz aller Versuche, so etwas herzustellen, gibt es nicht nur eine Klassifikation der Welt, sondern unübersehbar viele, und dies nicht nur in der historischen Abfolge, sondern auch gleichzeitig. Am gleichen Ort, in der gleichen Gesellschaft und sogar im gleichen Bewusstsein koexistieren verschiedene, sich wechselseitig ausschließende Systeme der Welteinteilung: Wie sollte man sagen können, welches das richtige ist? Aus der Konfrontation der diversen Klassifikationssysteme ergibt sich auf diese Weise gleichsam wie von selbst die Anschauung, dass die Ordnung der Welt nicht in der Realität angelegt ist, sondern ein Resultat symbolischer Bedeutungsproduktion darstellt.

Kritik der allzu reinen Vernunft Wo findet diese Bedeutungsproduktion statt? Die naheliegende Antwort ist: im menschlichen Denken. Klassifizieren ist eine Sache des Verstandes; sie bildet, wie

6  Ursula Klein u. Wolfgang Lefèvre, Materials in eighteenth-century science. A historical ontology, Cambridge, Mass, 2007, S. 71. 7  Vgl. Jaap Maat, Philosophical languages in the seventeenth century. Dalgarno, Wilkins, Leibniz, Dordrecht, 2004. 8  So war es beispielsweise, wie Ian Hacking beiläufig anführt, der Zweifel am Programm des logischen Positivismus, der einen solch exemplarischen Nominalisten und »Konstruktionalisten« wie Nelson Goodman hervorgebracht hat: »Die Wurzeln des sozialen Konstruktivismus liegen in genau dem logischen Positivismus, den zu verachten so viele seiner Vertreter vorgeben.« Ian Hacking, »On being more literal about construction«, in: Irving Velody und Robin Williams (Hg.), The politics of constructionism, London, Thousand Oaks, CA , 1998, S. 53.

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die Philosophen wissen, eine seiner elementaren Operationen.9 So erklärt der Logiker Willard van Orman Quine: »Der Begriff der Klasse ist so fundamental für das Denken, dass wir nicht hoffen können, ihn in grundlegenderen Termini zu definieren.« 10 Der amerikanische Arzt John W. S. Gouley, der 1888 ein Buch über die Diseases of Man schrieb, glaubte sogar, Denken und Klassifizieren unmittelbar in eins setzen zu können: »TO THINK IS TO CLASSIFY , and to classify is to think«.11 Insbesondere diejenigen, die das Klassifizieren zum Beruf gemacht haben, kommen schnell zu der Auffassung, dass der Wunsch nach exakter Ordnung eine transhistorische, gleichsam ewige Gegebenheit darstellt. So erklärt Dahlberg, dass der Versuch, die »Gesamtheit der Wirklichkeit […] geistig in den Griff zu bekommen, […] ein Anliegen des Menschen seit eh und je gewesen« sei und »es auch immer bleiben« werde.12 Und weil das Klassifizieren als so ›natürlich‹ erscheint, ist die Versuchung groß, es schließlich auch noch in der Biologie zu verankern: »We have an innate ability to classify things.« 13 Dass die menschliche Vernunft durch Akte der Einteilung, durch Operationen der begrifflichen Trennung voranschreitet, stellt für Bibliothekare, Archivare und Logiker eine Selbstverständlichkeit dar. Die philosophische Kritik der Moderne teilt zwar die Diagnose; auch sie begreift das rationale Denken als eine Macht der Aufteilung, der Ordnung und der Klassifikation. Sie will aber die Gegebenheit dieses Denkens nicht einfach akzeptieren; sie fragt vielmehr nach seinem Grund und seiner Herkunft. Charakteristisch für diese Art der Selbstbefragung sind die Urszenen der Vernunftentstehung, wie sie der Deutsche Idealismus hervorgebracht hat. Am Anfang des bewussten Denkens steht hier ein Schnitt, eine Teilung, ein Akt der Trennung, der in seiner ganzen Schärfe vorgeführt und skandalisiert wird. Die Dramaturgie ist stets die gleiche: Ein plötzlicher Hieb, eine ursprüngliche Teilung sorgt für den Übergang von einer ungeschiedenen Einheit zu einem Zustand der gegliederten, 9  Die philosophische Klassifikationskritik hat keinen einheitlichen Begriff von Klassifikation. Der Begriff bezieht sich, wie in diesem Abschnitt zu sehen sein wird, nicht nur auf Klassifikationen im strengen Sinn, d. h. auf tabellarische Ordnungen von Gegenständen nach distinkten Merkmalen; er ist aber auch nicht so umfassend wie etwa bei Bourdieu, für den Begriffe wie »Klassifikationsschemata«, »Klassifikationsformen«, »mentale Strukturen«, »symbolische Formen« »mehr oder minder wechselseitig austauschbar« sind. Pierre Bourdieu, Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (1979), Frankfurt a. M., 1989, S. 730. 10  Willard van Orman Quine, Set theory and its logic, Cambridge, Mass., 1969, S. 1. 11  John W. S. Gouley, Diseases of man. Data of their nomenclature, classification & genesis, New York, 1888. Eine ähnliche Identifikation von Denken und Klassifizieren findet sich bei Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens (1912), Frankfurt a. M., 2007, S. 116: »Denken heißt in der Tat, Ideen verbinden; d. h. sie klassifizieren. Das Feuer zu denken heißt zum Beispiel, es in diese oder jene Kategorie von Dingen einzuordnen, so daß man sagen kann, es ist das oder jenes, dieses und nicht jenes.« 12  Dahlberg, Grundlagen universaler Wissensordnung, S. 1. 13  Sue Batley, Classification in theory and practice, Oxford, 2014, S. 1.

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hierarchischen Ordnung. So schildert Hegel in seiner Jenaer Realphilosophie die phantasmagorische Szene einer »Nacht der Welt«, in der zunächst ein »Reichtum unendlich vieler Vorstellungen« herrscht, ein Tanz von Bildern, »deren keines ihm [dem Bewusstsein, SG ] gerade einfällt oder die nicht als gegenwärtige sind«.14 Beendet wird dieser Zustand eines »bewusstlosen« Schwebens, in dem Bild und Selbst noch ununterschieden sind, durch den Auftritt der »Idee«, die hier vorgestellt wird als »Macht, aus dieser Nacht die Bilder hervorzuziehen oder sie hinunterfallen zu lassen«, bzw. als »freie Willkür, Bilder zu zerreißen und sie auf die ungebundenste Weise zu verknüpfen«.15 Entsprechend wird Hegel in der Phänomenologie des Geistes die »Energie des Denkens, des reinen Ichs« vor allem in dieser »Tätigkeit des Scheidens« verorten: Es ist die »ungeheure Macht des Negativen«, der begrifflichen Trennung, durch die überhaupt so etwas wie Erkenntnis möglich wird.16 In dem gleichen Sinn hat Hölderlin das (logische) Urteil als »Ur-Teilung«, d. h. als ursprünglichen Trennungsakt begriffen: »Urteil, ist im höchsten und strengsten Sinne die ursprüngliche Trennung des in der intellektualen Anschauung innigst vereinigten Objekts und Subjekts, diejenige Trennung, wodurch erst Objekt und Subjekt möglich wird, die Ur-Teilung.« 17 Die im Wort »Ur-Teilung« selbst (durch den Bindestrich) vorgeführte Teilung lässt die Gewaltsamkeit der begrifflich-einordnenden Denkweise hervortreten: Was sich als ein neutrales und praktisches Erkenntnisinstrument präsentiert, geht auf einen grundlegenden Willkürakt, eine primordiale Teilung zurück, die sich in allen weiteren Einteilungsvorgängen fortschreiben wird. Die Einstellung der philosophischen Kritik gegenüber dem klassifikatorischen Denken wird daher stets ambivalent bleiben. Einerseits wird zugestanden, dass Klassifizieren als eine elementare und unvermeidliche Tätigkeit des Denkens zu betrachten ist; andererseits hält sich ein grundsätzliches Misstrauen gegen klassifikatorische Verfahren, insbesondere gegen ihre ›mechanische‹ Anwendung und bürokratische Verfestigung. So hob Hegel hervor, dass ein Ding, um als solches erkennbar zu werden, zunächst einmal festgestellt und damit aus seiner unmittelbaren, sinnlichen Gegenwart gerissen werden musste. »Das Begreifen der empirischen Wirklichkeit« war ohne »eine Art Tötung« nicht zu haben.18 Dieser ›Tod der Sa14  Zum medialen Dispositiv der »Phantasmagorie«, das Hegel als Denkmodell gedient

hat, vgl. Stefan Andriopoulos, »Kant’s magic lantern. Historical Epistemology and Media Archaeology«, Representations, Jg. 115, N° 1, 2011, 42 – 70. 15  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Jenaer Realphilosophie. Vorlesungsmanuskripte zur Philosophie der Natur und des Geistes von 1805 – 1806, hg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg, 1969, S. 180 – 181. 16  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Phänomenologie des Geistes. Werke Bd. 3 (1807), Frankfurt a. M., 1973, S. 36. 17  Friedrich Hölderlin, »Urteil und Sein«, in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. Friedrich Beißner, Frankfurt a. M., 1965, 947 – 948, S. 947. 18  Alexandre Kojève, Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes (1947), hg. v. Iring Fetscher, Stuttgart, 1958, S. 104.

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che‹, also der unmittelbaren sinnlichen Gegebenheit, sollte aber nicht endgültig sein; die Verheißung lautete, dass die Sache im Begriff, also im Symbolischen, ein zweites Leben führen sollte. Doch konnte sich diese Auferstehung nicht in jedem beliebigen Medium vollziehen. Das Leben des Geistes war auf eine Art der Symbolisierung, auf eine Sprache angewiesen, die selbst etwas Lebendiges hatte, die ein Moment der Unruhe, des Negativen enthielt. Eine festgestellte Sprache, eine statuarische Ordnung der Zeichen musste der Idee eines Lebens im Symbolischen zuwiderlaufen. So erscheint der Schematismus des klassifikatorischen Verfahrens geradezu als das Gegenteil des begrifflichen Denkens, dessen Aufgabe es ist, »das Fixe [des vom Verstand] Unterschiedenen« aufzulösen und »die festen Gedanken in Flüssigkeit zu bringen«.19 Auf diese Weise erklärt sich Hegels Aversion gegen den Formalismus der taxonomischen Naturforschung, die nicht »durch das eigene Leben des Begriffs« organisiert wird, sondern in der die klassifikatorischen Bezeichnungen »äußerlich dem Dasein aufgeklebt« werden:20 Was diese Methode, allem Himmlischen und Irdischen, allen natürlichen und geistigen Gestalten die paar Bestimmungen des allgemeinen Schemas aufzukleben und auf diese Weise alles einzurangieren, hervorbringt, ist nichts Geringeres als ein sonnenklarer Bericht über den Organismus des Universums, nämlich eine Tabelle, die einem Skelette mit angeklebten Zettelchen oder den Reihen verschlossener Büchsen mit ihren aufgehefteten Etiketten in einer Gewürzkrämerbude gleicht […].21

Das klassifikationskritische Thema durchzieht die gesamte romantische Literatur;22 seine deutlichste Artikulation aber findet es bei Nietzsche. Während Hegel dem Schematismus der klassifikatorischen Einteilung den ›lebendigen‹ Begriff entgegensetzte, wird bei Nietzsche begriffliches Denken insgesamt mit dem Stumpfsinn der Klassifikation identifiziert. Der entgegengesetzte Term, der für die Möglichkeit einer anderen, nicht mortifizierenden Darstellung steht, heißt hier Bild oder Metapher: Alles, was den Menschen gegen das Thier abhebt, hängt von dieser Fähigkeit ab, die anschaulichen Metaphern zu einem Schema zu verflüchtigen, also ein Bild in Hegel, Phänomenologie des Geistes, S. 37. Ebd., S. 51. Ebd., S. 50 – 51. Eines von vielen möglichen Beispielen: »Da sind nur eine Sonne, Bäume, Blumen, Wasser und Liebe. Freilich, fehlt letztere im Herzen des Beschauers, so mag das Ganze wohl einen schlechten Anblick gewähren, und die Sonne hat dann bloß soundso viel Meilen im Durchmesser, und die Bäume sind gut zum Einheizen, und die Blumen werden nach den Staubfäden klassifiziert, und das Wasser ist naß.« Heinrich Heine, Die Harzreise (1826), Stuttgart, 2003, S. 18 – 19.

19  20  21  22 

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einen Begriff aufzulösen; im Bereich jener Schemata nämlich ist etwas möglich, was niemals unter den anschaulichen ersten Eindrücken gelingen möchte: eine pyramidale Ordnung nach Kasten und Graden aufzubauen, eine neue Welt von Gesetzen, Privilegien, Unterordnungen, Gränzbestimmungen zu schaffen, die nun der anderen anschaulichen Welt der ersten Eindrücke gegenübertritt, als das Festere, Allgemeinere, Bekanntere, Menschlichere und daher als das Regulirende und Imperativische. Während jede Anschauungsmetapher individuell und ohne ihres Gleichen ist und deshalb allem Rubriciren immer zu entfliehen weiss, zeigt der grosse Bau der Begriffe die starre Regelmässigkeit eines römischen Columbariums und athmet in der Logik jene Strenge und Kühle aus, die der Mathematik zu eigen ist.23

Der Versuch, durch die Errichtung einer strengen klassifikatorischen Ordnung und durch die Einführung einer künstlichen, mathematischen Notation zu einer Erkenntnis der äußeren Welt zu gelangen, ist nach Nietzsche ganz vergeblich. Logisches, klassifikatorisches Denken zielt ihm zufolge in erster Linie darauf, sich zu praktischen, lebensfördernden Zwecken der Wirklichkeit zu bemächtigen; der wissenschaftliche Wille zur Wahrheit offenbart sich auf diese Weise als Wille zur Macht. Indem es von der Fiktion ausgehe, dass es »identische Fälle« gebe, müsse das klassifikatorische Denken die sinnliche Wirklichkeit (in der nichts dem anderen gleiche) notwendig verfehlen; der »Wille zur logischen Wahrheit« schließe auf diese Weise eine »grundsätzliche Fälschung alles Geschehens« ein.24 Die Wirklichkeit (um deren Rettung es Nietzsche, allem Lob des Scheins zum Trotz, durchaus geht) sei verloren, sobald sie unter Allgemeinbegriffe subsumiert und in ein klassifikatorisches Raster gefasst wird. Allenfalls eine bildliche, metaphorische Darstellung könne ihr näherkommen, und zwar gerade wegen ihrer Uneindeutigkeit und Unschärfe. Im Anschluss an Nietzsche, der in den Zurechtmachungen der Logik einen kaum verborgenen Willen zur Macht am Werk sieht, hebt auch Bergson die »lebenswichtige Bedeutung« der Allgemeinbegriffe und kategorialen Zuordnungen hervor: »Primum vivere. Gedächtnis, Vorstellung, Begriff und Wahrnehmung, schließlich die Verallgemeinerung sind nicht umsonst, nicht ›zum Vergnügen‹ 23  Friedrich Nietzsche, »Ueber Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne«, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 1, München, 1988, 873 – 890, S. 881 – 882. Mit »Columbarium« spielt Nietzsche auf die serielle, geradezu tabellarische Raumordnung der römischen Urnengräber an. Vgl. Sarah Scheibenberger, Kommentar zu Nietzsches ›Ueber Wahrheit und Lüge im aussermoralischen Sinne‹, Berlin, 2016, S. 51: »Von lat. columba, die Taube. ›Columbarium‹ meinte entsprechend zunächst Taubenschlag, dann im übertragenen Sinne kleine Nischen in römischen Grabkammern. Synekdochisch wurde der Begriff verwendet für das gesamte Grabbauwerk, dem im 1. Jahrhundert n. Chr. die Funktion zukam, die Asche möglichst vieler Verstorbener aufzubewahren.« 24  Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1884 bis Herbst 1885. Kritische Studienausgabe, Band 11, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München, 1988, S. 633 – 634.

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da.« 25 So bildet die Klassifizierung, wie Bergson zugesteht, eine elementare Funktion der Erkenntnis und damit des nützlichen Zugriffs auf die Wirklichkeit – so elementar, dass sie keineswegs auf den Menschen zu beschränken ist: [W]ir werden finden, daß jedes lebendige Wesen, vielleicht sogar jedes Organ, jedes Gewebe eines lebendigen Wesens verallgemeinert, oder man könnte auch sagen, klassifiziert, weil es versteht, in dem Milieu, in dem es sich befindet, aus den verschiedenartigsten Substanzen die Teile oder Elemente herauszuziehen, die dieses oder jenes seiner Bedürfnisse befriedigen können; das übrige wird vernachlässigt. Es isoliert also dasjenige Merkmal, an dem es interessiert ist, es geht geradezu auf eine gemeinsame Eigenschaft aus; mit anderen Worten, es klassifiziert und damit abstrahiert und verallgemeinert es. […] Wie sollte sonst eine Kuh, die man wegführt, vor einer beliebigen Wiese stehen bleiben, lediglich, weil diese in die Kategorie gehört, die wir Gras oder Wiese nennen?26

Wieder führt die kategoriale Einordnung und Klassifizierung zur Entfernung von der ›lebendigen‹ Wirklichkeit; durch die begriffliche Stillstellung verliert das Denken den Anschluss an den ununterbrochenen Strom des Lebens, die »reine Dauer«: »Dasselbe könnte man von der Wahrnehmung sagen. […] Von vornherein klassifiziert sie sie, von vornherein versieht sie sie mit einem Etikett; kaum haben wir einen Blick auf einen Gegenstand geworfen, so genügt es uns schon zu wissen, in welche Kategorie er gehört.« 27 Wenn Hegel von »Etiketten in einer Gewürzkrämerbude« spricht, Nietzsche von der »starre[n] Regelmässigkeit eines römischen Columbariums«, so hat Bergson wiederholt das Bild einer »Schublade im Gehirn« bemüht,28 um die Unangemessenheit eines von außen auf das Leben zugreifenden Einteilungs- und Sortiervorgangs zu kennzeichnen:29 »Das Gedächtnis ist, wie wir zu beweisen versuchten, kein Vermögen, das dazu dient, 25  Henri Bergson, »Einleitung (Zweiter Teil)«, in: ders, Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, hg. v. Leonore Kottje u. Friedrich Kottje, Meisenheim am Glan, 1948, 42 – 109, S. 68 26  Ebd., S. 69. 27  Henri Bergson, »Die Wahrnehmung der Veränderung«, in: ders., Denken und schöpferisches Werden. Aufsätze und Vorträge, hg. v. Leonore Kottje u. Friedrich Kottje, Meisenheim am Glan, 1948, 149 – 179, S. 157. 28  Bergson, »Einleitung (Zweiter Teil)«, S. 92. 29  Vgl. Bachelards bissigen Kommentar zur Schubladenmetapher: »Wie man weiß, ist die Metapher Schublade ebenso wie einige andere – etwa ›Konfektionsanzug‹ – von Bergson gebraucht worden, um das Ungenügende einer Begriffsphilosophie zu bezeichnen. […] [Wir haben] hier das Beispiel einer verhärteten Metapher, die sogar noch ihre bildliche Spontaneität verliert. Das wird besonders deutlich in dem schulmäßig simplifizierten Bergsonismus. Die polemische Metapher der Schublade und ihres Ordners kommt in den elementaren Zusammenfassungen oft vor, um die stereotypen Ideen zu bezeichnen. Man kann in manchen Vorlesungen sogar vorhersehen, wann die Schubladenmetapher auftauchen wird.« Gaston Bachelard, Poetik des Raumes (1957), Frankfurt a. M., 1987, S. 91 – 92.

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Erinnerungen in Schubladen zu sortieren oder sie in Register einzutragen. Es gibt keine Register und keine Schubladen […].« 30 Eine nicht weniger scharfe Abneigung gegen das zergliedernde und einordnende Denken spricht aus den Arbeiten Heideggers. In seiner Habilitationsschrift zur Kategorienlehre des Duns Scotus (1916) wendet sich Heidegger gegen eine »theoretische Geisteshaltung«, die »sich mit einem Buchstabieren der Wirklichkeit begnügt und nicht, was ihres eigentlichsten Berufes ist, über eine immer vorläufige, die Gesamtheit des Wißbaren aufraffende Zusammenfassung hinaus auf einen Durchbruch in die wahre Wirklichkeit und wirkliche Wahrheit abzielt«.31 Auch in Sein und Zeit (1927) erscheint die kategoriale Einordnung als eine defizitäre Bestimmung des Seins, eine Rede vom Sein, die dieses in die Position eines ›Angeklagten‹ verweise: Die antike Ontologie hat zum exemplarischen Boden ihrer Seinsauslegung das innerhalb der Welt begegnende Seiende. Als Zugangsart zu ihm gilt das νοεῖν bzw. der λόγος. Darin begegnet das Seiende. Das Sein dieses Seienden muß aber in einem ausgezeichneten λέγειν (sehen lassen) faßbar werden so daß dieses Sein im vorhinein als das, was es ist und in jedem Seienden schon ist, verständlich wird. Das je schon vorgängige Ansprechen des Seins im Besprechen (λόγος) des Seienden ist das κατηγορεῖσϑαι. Das bedeutet zunächst: öffentlich anklagen, einem vor allen etwas auf den Kopf zusagen. Ontologisch verwendet besagt der Terminus: dem Seienden gleichsam auf den Kopf zusagen, was es je schon als Seiendes ist, d. h. es in seinem Sein für alle sehen lassen.32

Noch weiter gediehen ist die Seinsvergessenheit im Subjekt der neuzeitlichen Rationalität, das von Heidegger konsequent als ein kalkulierendes und klassifizierendes, sich der Welt im Rahmen einer vorgefassten Ordnung bemächtigendes Wesen gezeichnet wird: Der Mensch ist als animal rationale das rechnende, planende, dem Seienden als dem Gegenständigen sich zuwendende, das Gegenständige vor-sich-stellende und es ordnende ›Tier‹. Das, wozu der Mensch sich verhält, sind überall die Gegenstände, die Objekte. Darin liegt: Der Mensch selbst ist das ›Subjekt‹, das Wesen, das, sich auf sich selbst stellend, das Gegenstehende sich zustellt und es so sicherstellt.33

30  Henri Bergson, Schöpferische Evolution (1907), Hamburg, 2013, S. 14. 31  Martin Heidegger, »Die Kategorien- und Bedeutungslehre des Duns Scotus« (1915), in:

ders., Gesamtausgabe, 1. Abteilung, Band 1, Frankfurt a. M., 189 – 412, S. 406. 32  Martin Heidegger, Sein und Zeit (1927), Tübingen, 1984, S. 44. 33  Martin Heidegger, »Parmenides. Freiburger Vorlesung Wintersemester 1942/43«, in: ders., Gesamtausgabe, 2. Abteilung, Band 54, Frankfurt a. M., S. 232.

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Bei aller Distanz, die die Kritische Theorie gegenüber den lebensphilosophischen und fundamentalontologischen Entwürfen eingenommen hat: Was die Zurückweisung des klassifikatorischen Denkens angeht, stimmt sie mit ihnen weitgehend überein. So sind die in der industriellen Zivilisation überall anzutreffenden »stereotypen Schemata des Gedankens und der Realität« 34 für Horkheimer und Adorno keine Schickungen der Seinsvergessenheit, sondern Hervorbringungen einer »bürgerlichen Gesellschaft«, die vom »Äquivalent« (d. h. vom abstrakten Wertmaßstab des Geldes) beherrscht wird und »Ungleichnamiges komparabel [macht], indem sie es auf abstrakte Größen reduziert«.35 Doch im Kern geht es auch bei dem, was Adorno »identifizierendes Denken« nennt, um die Gewaltsamkeit der »Unterwerfung alles Seienden unter den logischen Formalismus« 36 und die Unmöglichkeit, sich auf diesem Weg der Wirklichkeit der Dinge zu nähern: »[…] Identitätsdenken sagt, worunter etwas fällt, wovon es Exemplar ist oder Repräsentant, was es also nicht selbst ist. Identitätsdenken entfernt sich von der Identität seines Gegenstandes um so weiter, je rücksichtsloser es ihm auf den Leib rückt.« 37 Auf diese Weise lässt sich in der Philosophie der Moderne ein kontinuierlicher Strang der Klassifikationskritik ausmachen. Das Problem dieser Kritik ist natürlich, und dies war allen ihren Verfechtern gegenwärtig, dass auch der »anti-generische Affekt« in einer Art »Ablehnungsbindung«, einer »ungehorsame[n] Abhängigkeit« gegenüber seinem Gegenstand befangen bleibt.38 Die Kritik beklagt die Macht der Kategorisierung und kann doch selbst auf begriffliche Verallgemeinerung nicht verzichten. So gehört zur Kritik der klassifizierenden Vernunft immer auch das unglückliche Bewusstsein ihrer Ausweglosigkeit: »Wie jedes gewöhnliche Lebewesen fürchte ich auch die Klassifizierung und den damit verbundenen Tod, und ich werde nicht zulassen, dass ihre Klauen mich ergreifen, obwohl ich erkenne, dass ich mich niemals der Täuschung hingeben kann, ihr einfach zu entkommen.« 39 34  Max Horkheimer u. Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung. Philosophische Fragmente (1944), Frankfurt a. M., 1993, S. 201. 35  Ebd., S. 13. 36  Ebd., S. 33. 37  Theodor W. Adorno, Negative Dialektik (1966), Frankfurt a. M., 1982, S. 152 Vgl. auch das Fragment »Klassifikation« aus dem Anhang zur Dialektik der Aufklärung: »Die Welt ist einmalig. Das bloße Nachsprechen der Momente, die immer und immer wieder als dasselbe sich aufdrängen, gleicht eher einer vergeblichen und zwangshaften Litanei als dem erlösenden Wort. Klassifikation ist Bedingung von Erkenntnis, nicht sie selbst, und Erkenntnis löst die Klassifikation wiederum auf.« Horkheimer u. Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 231. 38  Vgl. Clemens Pornschlegel, »Vögel mit Schlangen. Zur Problematik generischer Klassifikation in der Postmoderne«, in: Uwe Hebekus, Ethel Matala de Mazza und Albrecht Koschorke (Hg.), Das Politische. Figurenlehren des sozialen Körpers nach der Romantik, München, 2003, 248 – 260, S. 260. 39  Thi Minh-Ha Trinh, Woman, native, other. Writing postcoloniality and feminism, Bloomington, 1999, S. 48.

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Unzivilisierte Unterscheidungen Entsprechend schwierig gestalteten sich alle Versuche, von der eigenen, klassifikatorischen Kultur aus etwas über ein mögliches ›anderes‹, nicht-unterscheidendes Denken zu sagen. Hegel, den dieses andere Denken offenkundig abstieß und beunruhigte, hat es dennoch immer wieder einzukreisen versucht. Bei Frauen, Kindern, Verrückten und romantischen Naturphilosophen findet er Spuren davon; in Reinform verwirklicht sieht er es jedoch in den Bewohnern von Afrika, jenem »Kinderland, das jenseits des Tages der selbstbewußten Geschichte in die schwarze Farbe der Nacht gehüllt ist«.40 Auf den manifesten Eurozentrismus und impliziten Rassismus der Hegel’schen Afrikaphantasien, insbesondere in den Vorlesungen zur Philosophie der Geschichte, muss heute nicht mehr hingewiesen werden.41 Von Interesse ist hier vor allem, dass Hegel die Andersheit des nicht-begrifflichen, anschauenden Denkens von vorneherein im Modus des Fehlens, des Mangels präsentiert. So sei der »eigentümlich afrikanische Charakter« deshalb so »schwer zu fassen, weil wir dabei ganz auf das Verzicht leisten müssen, was bei uns in jeder Vorstellung mit unterläuft, die Kategorie der Allgemeinheit«.42 Der Zustand der »unterschiedslosen, gedrungenen Einheit« des Bewusstseins erscheint Hegel als Ausdruck eines Denkens, das die Fähigkeit zur klaren Abgrenzung »noch nicht« erworben hat, und in dem daher »nichts an das Menschliche Anklingende« zu finden ist.43 In einem ähnlichen Sinn betrachtet auch die Ethnologie des 19. Jahrhunderts die in den ursprünglichen Gesellschaften zu beobachtenden Formen eines magischen oder animistischen Denkens als defizitäre Formen der Vernunft, als schimärische Interpretationen, die auf eine unvollkommene Entwicklung oder ›falsche‹ Anwendung logischer Schlussverfahren zurückgingen.44 Demgegenüber hat sich der Philosoph und Ethnologe Lucien Lévy-Bruhl in seinen Arbeiten über die »primitive Mentalität« darum bemüht, das Denken der Naturvölker als ein Denken eigenen Rechts zu beschreiben, das »nicht ausschließlich den Gesetzen unserer Logik gehorcht und vielleicht auch nicht Gesetzen, die nur logischer Na-

40  Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte. Werke Bd. 12, Frankfurt a. M., 1986, S. 120. 41  Zu der im Zuge der Dekolonisierung entstandenen Debatte über den Rassismus der Hegel’schen Geschichtsphilosophie vgl. Teshale Tibebu, Hegel and the Third World. The making of eurocentrism in world history, Syracuse, N.Y, 2011, S. 171 – 229, sowie M. A. R. Habib, Hegel and Empire. From Postcolonialism to Globalism, Cham (Schweiz), 2017, S. 49 – 64. 42  Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte, S. 121 – 122. 43  Ebd., S. 122. 44  Exemplarisch: »Kurz, die Magie ist ein unechtes System von Naturgesetzen und zugleich eine trügerische Verhaltungsmaßregel, sie ist eine falsche Wissenschaft und zugleich eine unfruchtbare Kunst.« James George Frazer, Der goldene Zweig. Das Geheimnis von Glauben und Sitten der Völker (1890), Reinbek bei Hamburg, 1989, S. 16.

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tur sind«.45 Was er mit den missverständlichen (weil entwicklungsgeschichtliche Assoziationen weckenden) Begriffen »primitive Mentalität« oder »prälogisches Denken« bezeichnete, meint ein Weltverhältnis, das nicht durch distanziertes Erkennen, sondern durch ein Gefühl allumfassender Teilhabe gekennzeichnet ist.46 Nicht die Unterscheidung der Phänomene und Identifizierung der Dinge steht im Vordergrund, sondern vielmehr das Gefühl für die fließenden Übergänge zwischen den Wesen und Bereichen der Welt: Die Mentalität der Primitiven also läßt sie gleichzeitig denken und fühlen, daß alle Wesen gleichartig sind, das heißt, daß sie alle an ein und derselben Substanz oder an ein und derselben Summe von Eigenschaften teilhaben. Ihr erscheint es durchaus nicht am wichtigsten, die Wesen und Dinge in voneinander verschiedene Klassen, Gattungen und Arten nach einer Einteilung zu sondern, die einer Stufenleiter von nach ihrer Ausdehnung und Abgrenzung logisch bestimmten Begriffen entspräche. Sie trachtet vielmehr vor allem, zu ergründen, ob die Objekte, die ihre Aufmerksamkeit erwecken oder festhalten, jenen Stoff oder jene Kraft, das mana oder imunu oder wie immer man es nennen mag, enthalten, in welchem Grade dies der Fall ist und ob das geheimnisvolle Fluidum ihnen wohlwollend oder feindselig gesinnt ist.47

Gegen Lévy-Bruhl ist eingewandt worden, er exotisiere die Primitiven, indem er ihnen ein ›ganz anderes‹ Denken unterstelle. Die Strukturale Anthropologie von Claude Lévi-Strauss, auch wenn sie auf Lévy-Bruhl kaum Bezug nimmt, kann geradezu als Gegenprogramm zu dessen Konzeption der »primitiven Mentalität« verstanden werden.48 Abgestoßen von der in den ersten Jahrzehnten 45  Lucien Lévy-Bruhl, »Das Gesetz der Teilhabe« (1910), in: Leander Petzoldt (Hg.), Magie und Religion. Beiträge zu einer Theorie der Magie, Darmstadt, 1978, 1 – 26, S. 3. 46  »Die Mentalität der niederen Gesellschaften, die ich mangels eines besseren Namens prälogisch nenne, […] ist nicht antilogisch; sie ist aber auch nicht alogisch. Wenn ich sie prälogisch nenne, will ich damit nur sagen, daß sie sich nicht wie unser Denken vor allen Dingen darum bemüht, Widersprüche zu vermeiden. Sie gehorcht in erster Linie dem Gesetz der Teilhabe.« Ebd., S. 9. 47  Lucien Lévy-Bruhl, Die Seele der Primitiven (1927), Darmstadt, 1956, S. 6. 48  Erich Hörl hat Lévi-Strauss’ Auseinandersetzung mit Lévy-Bruhl in den Kontext einer weiteren, die ganze erste Hälfte des 20. Jahrhunderts durchziehenden Debatte über den Status der Kommunikation gestellt, vgl. Erich Hörl, Die heiligen Kanäle. Über die archaische Illusion der Kommunikation, Zürich, 2005. Die Frontlinien sind hier geradezu überdeutlich nachgezeichnet: Auf der einen Seite finden sich die Primitivisten wie Bergson, Levy-Bruhl, Worringer, Warburg, Heidegger oder Bataille, die sich der »Träumerei von einer primitiven Welt der Übertragung heiliger Kräfte« (S. 13) hingeben; auf der anderen Seite stehen die wachen Denker des technischen Zeitalters wie Lacan, Shannon, Wiener, Jakobson und LéviStrauss, die die Illusionen des Heiligen, des Primitiven, der unmittelbaren Kommunikation usw. als Symptome einer Krise der wissenschaftlichen Symbolisierung begreifen. Diese sind es, die am Ende recht behalten: »Die Entschlüsselung der binären Codes der klassifikatori-

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des 20. Jahrhunderts modischen Suche nach einem anderen, ursprünglicheren Denken geht Lévi-Strauss davon aus, »daß im mythischen und im wissenschaftlichen Denken dieselbe Logik am Werke ist und daß der Mensch allezeit gleich gut gedacht hat«.49 Lévi-Strauss gesteht zu, dass es magische Kommunikationen gibt, die auf der Illusion einer unmittelbaren Kommunikation, einer direkten Identifizierung beruhen, doch wird diese von ihm als »System der Opferung« bezeichnete Form eines kommunikativen Kurzschlusses eher mit Verachtung gestraft und systematisch abgewertet.50 Sein ganze Aufmerksamkeit gilt dagegen dem »System der Klassifikation«, der »Tendenz des menschlichen Geistes, die Welt mittels einer Klassifizierung auszuschöpfen«.51 So ist z. B. für Lévi-Strauss der sogenannte Totemismus nur von Interesse, insofern er ein Klassifikationssystem, ein intellektuelles Schema, eine »Methode unterscheidender Benennung« 52 bereitstellt, die von der den ›Wilden‹ unterstellten Dummheit einer unmittelbaren Identifikation von Mensch und Tier, Totem und Clan weit entfernt ist. »Die Tierwelt und die Pflanzenwelt«, erklärt Lévi-Strauss, »werden nicht nur herangezogen, weil sie da sind, sondern weil sie dem Menschen eine Denkmethode bieten«.53 So findet der Strukturalist dort, wo die konventionelle Ethnologie, einem romantischen und mystischen Hang folgend, nur prälogisches Denken und unvermittelte Partizipation witterte, ein Denken, das verblüffend seinem eigenen gleicht: eine Anordnung der Welt in differentiellen Beziehungen, eine universale Übersetzbarkeit zwischen den Strukturen und die Gewissheit einer allzeit gleich gut funktionierenden symbolischen Logik: »Jede Art der Klassifizierung ist dem Chaos überlegen; und selbst eine Klassifizierung auf der Ebene der sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften ist eine Etappe auf dem Wege zu einer rationalen Ordnung.« 54 Wie von selbst scheinen die Mythen und Kosmologien der Indigenen danach zu streben, sich in ethnologische Tabellen überführen schen, mythologischen und verwandtschaftlichen Steuerungssysteme wilder Sozietäten durch Lévi-Strauss aber, die parallel zur differenziellen Entzifferung der Tatsachen der Kommunikation durch Nachrichtentechniker und Mathematiker verlief, versetzte die Archaismen der Kommunikation ins Stadium ihrer Entmystifikation.« (S. 265) Hörls Parteinahme für die illusionslosen Analytiker der technischen Kommunikation wird abgemildert durch die Andeutung, dass es sich auch bei Kybernetik und Informationstheorie nur um eine »andere Träumerei« (S. 19), eine »neue Mythologie« (S. 265) handeln könnte. 49  Claude Lévi-Strauss, Strukturale Anthropologie (1958), Frankfurt a. M., 1967, S. 254. 50  Vgl. Claude Lévi-Strauss, Das wilde Denken (1962), Frankfurt a. M., 1973, S. 263: »Genauer gesagt, die klassifizierenden Systeme liegen auf der Ebene der Sprache: es sind mehr oder weniger gut gemachte Codes, aber immer zu dem Zweck, einen Sinn auszudrücken, während das System der Opferung eine besondere Redeweise darstellt, die des vernünftigen Sinnes entbehrt, obwohl er häufig unterstellt wird.« 51  Lévi-Strauss zitiert hier zustimmend eine Formulierung von Edward Tylor, s. Claude Lévi-Strauss, Das Ende des Totemismus (1962), Frankfurt a. M., 1965, S. 23. 52  Ebd., S. 22. 53  Ebd., S. 22. 54  Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 27 – 28.

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zu lassen.55 Die Verwandtschaft von wildem Denken und wissenschaftlichem Denken besteht darin, dass sie beide klassifizieren; nur die Materialien, mit denen sie umgehen, und die Weisen der Einordnung unterscheiden sich. So kann Lévi-Strauss davon sprechen, dass die Menschen, sobald sie die »sinnlich wahrnehmbaren Eigenschaften des Tier- und Pflanzenreiches« in einer »Ökonomie der Klassifikationssystem« unterbrachten, bereits, »wie durch eine Wolke hindurch« die Prinzipien der modernen Informationstheorie erkannt hätten.56 »Der Strukturalismus«, kommentieren Deleuze und Guattari etwas schnippisch, »ist eine große Revolution, die ganze Welt wird viel vernünftiger«.57 Während der Ehrgeiz der Strukturalen Anthropologie darin bestand, von jedem Denken zu zeigen, dass es letztlich klassifikatorisch verfuhr, insofern es sich an distinkten »Merkmalen« orientierte, »die sich miteinander kombinieren lassen, um komplexere Botschaften zu bilden«; 58 erscheint es für die Zwecke dieser Arbeit sinnvoll, die Möglichkeit einer anderen Art von gedanklicher Unterscheidung zumindest nicht von vornherein auszuschließen. Von besonderem Interesse ist hier Lévy-Bruhls Beharren darauf, dass das primitive Denken keineswegs einfacher, sondern im Gegenteil weitaus komplexer ist als das begrifflich einteilende Denken. Dies zeigt sich insbesondere an der Vielfalt räumlicher Modalitäten, die in jedem gedanklichen Akt ins Spiel kommen. Eine räumliche Grundierung hat selbstverständlich auch das klassifikatorische Denken; doch ist hier die räumliche Anordnung mit voller Absicht auf eine flächige Anordnung, auf ein zweidimensionales Schema reduziert worden. Zur Bestimmung der Identität eines Elements genügt die Angabe der Position auf der Ebene des Tableaus. Die primitive Mentalität dagegen will mehr ausdrücken als nur »die relative Position von Objekten und Wesen im Raum, sowie ihre Entfernung«: »Sie ist erst dann befriedigt, wenn die Sprache ausdrücklich die Details der Form der Gegenstände, ihre Größe, die Art ihrer Bewegung festhält, jeweils unter den verschiedenen Umständen, in die sie gebracht werden können.« 59 Während eine klassifikatorische Unterteilung sich dem Ideal eines gerade gezogenen Trennungsstrichs annähert, gehorchen die Weltbeschreibungen des primitiven Denkens eher einer Tendenz zum »Pik55  Demgegenüber hat Jack Goody den Verdacht geäußert, dass das Denken der Indigenen nur deshalb als binär geordnet erscheint, weil es durch die Denkschemata und die Aufzeichnungstechniken der Ethnologen, insbesondere durch Listen und Tabellen, entsprechend zurechtgemacht wurde: »Was ich hier vorgeschlagen habe, ist, dass diese Standardisierung, wie sie sich insbesondere in einer aus k Spalten und r Zeilen bestehenden Tabelle verkörpert, wesentlich aus der Anwendung graphischer Techniken auf das mündliche Material hervorgeht.« Jack Goody, The domestication of the savage mind, Cambridge, 1977, S. 71. 56  Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 309. 57  Gilles Deleuze u. Félix Guattari, Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie II (1980), Berlin, 1992, S. 323. 58  Lévi-Strauss, Das wilde Denken, S. 70. 59  Lucien Lévy-Bruhl, Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures (1910), Paris, 1951, S. 167.

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torialen«, »d. h. dem Bedürfnis, zu den Augen zu sprechen, das zu zeichnen und zu malen, was man ausdrücken will«.60 Die Feststellung von Zugehörigkeiten beruht hier nicht auf einer klaren Grenzziehung, sie berücksichtigt vielmehr ein gemischtes Ensemble von Beziehungen der räumlichen Nähe, der Nachbarschaft, der Ähnlichkeit, der Anstoßung und Abstoßung, des Einwirkens von Kräften und Einflüssen, der Verwandtschaft, der Freundschaft oder Feindschaft etc. Obwohl Lévy-Bruhls Hypothese einer primitiven Mentalität bald unter Exotismusverdacht geriet, hat sie eine beträchtliche, untergründige Wirksamkeit entfaltet. So hat der Entwicklungspsychologe Jean Piaget auf Lévy-Bruhls Begriff der Partizipation zurückgegriffen, um bestimmte Phänomene des kindlichen »Animismus« einer genaueren Beschreibung zuführen zu können: »Als ›Partizipation‹ bezeichnen wir in Einklang mit der Definition von Lévy-Bruhl die Beziehung, die das ursprüngliche Denken zwischen zwei Wesen oder zwei Phänomenen zu sehen glaubt, welche es als teilweise identisch betrachtet oder die nach seiner Meinung einen starken Einfluß aufeinander ausüben, obwohl zwischen ihnen weder ein räumlicher Kontakt noch eine einsichtige kausale Konnexion besteht.« 61 Ebenso eng ist die Verbindung bei dem sowjetischen Psychologen Lew Semjonowitsch Wygotski, der seine Konzeption eines vorbegrifflich-anschaulichen »komplexen Denkens« unmittelbar auf Lévy-Bruhls Gesetz der Partizipation zurückführt: »Nach diesem Gesetz folgt primitives Denken nicht den Gesetzen unserer Logik, sondern hat seine eigene primitive Logik, die auf einer Vorstellung von Verbindungen beruht, die ganz anders sind als unsere. Diese spezifische Art von Verbindungen, die charakteristisch für primitive Logik ist, impliziert, dass ein und dasselbe Objekt gleichzeitig in verschiedenen Komplexen existieren und damit ein Element in völlig verschiedenen Beziehungen sein kann.« 62 Zur Kennzeichnung dieser Form der Zugehörigkeit, die nicht auf logischer Inklusion, sondern auf räumlicher und zeitlicher Partizipation beruht, spricht Wygotski auch von »familial groups«.63 Diese Vorstellung von einer klassifikatorisch nicht erfassbaren Gemeinsamkeit wird in Wittgensteins Überlegungen zur »Familienähnlichkeit« wiederkehren:

60  Ebd., S. 161. 61  Jean Piaget, Das Weltbild des Kindes (1926), München, 2010, S. 125 62  Lev S. Vygotskij u. Aleksandr Romanovich Luria, Studies on the history of behavior. Ape,

primitive, and child (1930), hg. v. Victor I. Golod, Hillsdale, NJ , 1993, S. 119. 63  Ebd., S. 120 Vgl. auch Lew Semjonowitsch Wygotskij, Denken und Sprechen (1934), Frankfurt a. M., 1993, S. 142: »Ebenso gehört zum Verständnis der Partizipation und des Denkens der primitiven Völker, daß es nicht in Begriffen erfolgt, daß es Komplexcharakter hat und daß folglich das Wort in diesen Sprachen ganz anders angewendet und gebraucht wird, daß es nicht ein Mittel zur Bildung und Träger eines Begriffs ist, sondern als Familienname zur Bezeichnung von Gruppen konkreter Dinge auftritt, die nach einer gewissen faktischen Verwandtschaft vereinigt worden sind.«

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Wir sehen ein kompliziertes Netz von Ähnlichkeiten, die einander übergreifen und kreuzen. Ähnlichkeiten im Großen und Kleinen. […] Ich kann diese Ähnlichkeiten nicht besser charakterisieren als durch das Wort ›Familienähnlichkeiten‹; denn so übergreifen und kreuzen sich die verschiedenen Ähnlichkeiten, die zwischen den Gliedern einer Familie bestehen: Wuchs, Gesichtszüge, Augenfarbe, Gang, Temperament, etc. etc. –64

Levy-Bruhls Konturierung einer anderen, mit der logischen Klassifikation nicht zu vereinbarenden Einteilungsweise ist für dieses Buch in doppelter Weise bedeutsam. Zwar ist die gedankliche Ordnung der frühneuzeitlichen Ständegesellschaft mit den Prinzipien des primitiven Denkens keineswegs deckungsgleich – dafür wird sie dann doch zu stark von Impulsen einer ›modernen‹, technischen Weltaneignung durchquert. Doch kann man sagen, dass sie gerade in der Weise, wie sie ihre sozialen Beziehungen versteht und organisiert, vielfach eine ähnliche Komplexität und Verwobenheit aufweist wie die Konstruktionen des primitiven Denkens, und dass darin ein ähnlicher Vorrang räumlicher, situativer Beschreibungen zu finden ist. So können Lévy-Bruhls Analysen der primitiven Mentalität die Aufmerksamkeit dafür schärfen, dass es Aspekte der sozialen Ordnung gibt, die sich nur durch eine mikrologische Analyse der räumlichen Situationen und ihrer affektiven Aufladungen erschließen lassen. Vor allem aber lässt sich den Arbeiten von Lévy-Bruhl der Hinweis entnehmen, dass der Unterschied zwischen den Kulturen nicht einfach darin besteht, dass sie andere Unterschiede machen, sondern dass sie diese Unterschiede in anderer Weise machen. Das primitive Denken nimmt nicht nur andere Einteilungen vor als das klassifikatorische Denken, es teilt auch in ganz anderer Weise ein. Damit ergibt sich die Möglichkeit, auch den Unterschied zwischen Stände- und Klassengesellschaft anders zu beschreiben: nicht einfach als eine Neusortierung des Sozialen, sondern vielmehr als grundlegenden Wechsel in der Weise des Machens von Unterschieden. Diese Differenz geht verloren, wenn man davon ausgeht, dass alle Gesellschaften immer schon klassifiziert, d. h. ihre Unterscheidungen so getroffen haben, wie ›wir‹ es heute tun.

Woher kommen die gedanklichen Teilungen? Wenn man danach fragt, wie das begriffliche, kategoriale und klassifikatorische Denken in die Welt gekommen ist, so wird man in den konventionellen Philosophiegeschichten meist nur auf mehr oder minder heroische Urknalltheorien stoßen: Wenn nicht göttliche Eingebung dafür verantwortlich ist, so geht der Trennungsakt des vernünftigen Denkens auf eine Art geistiger Selbstentzündung 64  Ludwig Wittgenstein, »Philosophische Untersuchungen«, in: Ludwig Wittgenstein, Werkausgabe, Bd. 1, Frankfurt a. M., 2016, 225 – 580, S. 277 – 278.

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zurück, die sich eines Tages in Griechenland ereignet haben soll. Kennzeichnend für diese Mythologie einer autonomen Vernunftentwicklung ist der Versuch des Philosophiehistorikers Adolf Trendelenburg, den Ursprung der antiken Kategorienlehre freizulegen und damit den Moment aufzufinden, in dem »der logische Gedanke zur Selbstbesinnung erwachte«. Trendelenburg hebt hervor, welcher »geistigen Kraft« es bedurfte, »um in der bunten, endlosen Mannigfaltigkeit der Vorstellungen Ordnungen aufzufinden«: »Daher erschien schon nach Plato’s Philebus die Unterscheidung des Eins und Vielen wie ein göttlicher Fund, wie ein prometheisches Feuer im Gebiete des irdischen Gedankens.« 65 So scheint das klassifikatorische Denken ohne äußeres Zutun, gleichsam durch einen Akt der Selbstlosreißung, aus einem Zustand der undifferenzierten bildlichen Anschauung hervorzugehen. Auch die anschließende Verfeinerung der kategorialen Unterscheidungen, die Ausdifferenzierung klassifikatorischer Systeme wird gewöhnlich einer solchen fortgesetzten Selbstzeugung des Geistes zugeschrieben. Wenn die Philosophie (als die dafür zuständige Disziplin) von der Entwicklung des klassifikatorischen Denkens spricht, so fragt sie nicht, was dieses Denken mit materiellen Aufteilungsvorgängen, mit Techniken und Praktiken der Symbolisierung oder mit gesellschaftlichen Teilungsoperationen zu tun hat. Es ist daher kein Wunder, dass der Beginn einer geschichtlichen, genealogischen Befragung klassifikatorischer Denkweisen nicht in der Philosophie liegt, sondern in der Sprachwissenschaft. Die wohl erste ›externalistische‹ Hypothese zur Entstehung des begrifflichen, unterscheidenden Denkens findet sich bei Wilhelm von Humboldt. Wie dieser 1821 bemerkte, beschränkt sich die Wirksamkeit der Sprache keineswegs darauf, einen »entweder in der Wirklichkeit vorhandenen, oder im Geiste gedachten Gegenstand zurückzurufen«. Vielmehr sei festzustellen, »daß eine große Anzahl von Gegenständen erst durch die sie bezeichnenden Wörter geschaffen werden, und nur in ihnen ihr Dasein haben«.66 Entgegen der geläufigen Auffassung, dass Sprache »ein gewissermaßen in sich gleichgültiges Werkzeug« sei, das nur abbilde, was im Denken schon fertig vorliege, verweist Humboldt darauf, »daß doch gewisse Sprachformen dem Geist unleugbar eine gewisse Richtung geben, und ihm einen gewissen Zwang auflegen«,67 dass es also ein »Einwirke[n] der Sprache auf das Denken« gebe, auch wenn dessen »Natur« noch nicht geklärt sei.68 Was die Hervorbringung des klassifikatorischen Denkens angeht, so ist insbesondere Humboldts Annahme von Interesse, dass die Trennschärfe der gedanklichen Unterscheidungen von denen der Sprache 65  Adolf Trendelenburg, »Aristoteles Kategorienlehre«, in: Adolf Trendelenburg, Geschichte der Kategorienlehre. Zwei Abhandlungen, Berlin, 1846, 1 – 195, S. 179 – 180. 66  Wilhelm von Humboldt, »Über den Einfluß des verschiedenen Charakters der Sprachen auf Literatur und Geistesbildung« (1821), in: ders., Schriften zur Sprache, Frankfurt a. M., 2008, 55 – 57, S. 55. 67  Ebd., S. 57. 68  Ebd., S. 55.

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abhängt: »Die Schärfe des Denkens gewinnt, wenn den logischen Verhältnissen auch die grammatischen genau entsprechen, und der Geist wird immer stärker zum formalen, und mithin reinen Denken hingezogen, wenn ihn die Sprache an scharfe Sonderung der grammatischen Formen gewöhnt.« 69 So wird eine »ursprünglich[e] Dichotomie« der Sprache (die sich z. B. in sprachlichen Figuren wie »Satz und Gegensatz« zeigt), den »Begriff der Zweiheit« auch im »unsichtbaren Organismus des Geistes, den Gesetzen des Denkens, der Klassifikation seiner Kategorien« verwirklichen.70 Ganz in Humboldts Sinn, aber wahrscheinlich, ohne seine Forschungen gekannt zu haben, wird später der amerikanische Linguist Benjamin Lee Whorf die Auffassung vertreten, dass die »Aufgliederung der Natur ein Aspekt der Grammatik« sei:71 Wie wir die Natur aufgliedern, sie in Begriffen organisieren und ihnen Bedeutungen zuschreiben, das ist weitgehend davon bestimmt, daß wir an einem Abkommen beteiligt sind, sie in dieser Weise zu organisieren — einem Abkommen, das für unsere ganze Sprachgemeinschaft gilt und in den Strukturen unserer Sprache kodifiziert ist. Dieses Übereinkommen ist natürlich nur ein implizites und unausgesprochenes, aber sein Inhalt ist absolut obligatorisch; wir können überhaupt nicht sprechen, ohne uns der Ordnung und Klassifikation des Gegebenen zu unterwerfen, die dieses Übereinkommen vorschreibt.72

Ausgehend von der Intuition, dass die Struktur der Sprache die Struktur des Denkens determiniert, lässt sich nicht nur annehmen, dass unterschiedliche Sprachen zu unterschiedlichen Klassifikationen der äußeren Wirklichkeit führen. Es lässt sich auch vermuten, dass es Entwicklungen in der Sprache sind, durch die sich im Denken bestimmte neue Formen der Einteilung, beispielsweise der logisch-abstrakten Klassifikation durchsetzen können. Altphilologen haben auf diese Weise das sog. ›griechische Wunder‹ zu erklären versucht, d. h. das Aufkommen von Philosophie und Wissenschaft im antiken Griechenland. So hat etwa Bruno Snell gezeigt, wie das in der primitiven Sprache latent angelegte logische Denken im klassischen griechischen Zeitalter ›ent-deckt‹73 wurde, nämlich insbesondere durch zunehmende Substantivierung einer ursprünglich in Verben 69  Wilhelm von Humboldt, »Über das Entstehen der grammatischen Formen und ihren Einfluß auf die Ideenentwicklung« (1822), in: ders., Schriften zur Sprache, Frankfurt a. M., 2008, 58 – 79, S. 65. 70  Wilhelm von Humboldt, »Über den Dualis« (1827), in: ders., Schriften zur Sprache, Frankfurt a. M., 2008, 113 – 133, S. 129. 71  Benjamin Lee Whorf, Sprache Denken Wirklichkeit. Beiträge zur Metalinguistik und Sprachphilosophie (1963), hg. v. Peter Krausser, Reinbek bei Hamburg, 1965, S. 40. 72  Ebd., S. 12. 73  Vgl. Bruno Snell, Die Entdeckung des Geistes. Studien zur Entstehung des europäischen Denkens bei den Griechen (1946), Göttingen, 1986, S. 211: »[…] genau so bedurfte es auch sonst einer Ent-Deckung, um das Logische ins Bewußtsein zu heben«.

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organisierten Sprache: »Der lebendige Gehalt des Verbs wird aufgegeben zugunsten der begrifflichen Klarheit […]«.74 Einen weiteren Schritt habe der Gebrauch von Artikeln bezeichnet, wodurch konkrete Namen sich in allgemeine Begriffe verwandeln konnten: »Der Name bezeichnet ein Einzelnes; im Dingwort aber ist ein Einordnungsprinzip angelegt, in ihm liegt die Urform der wissenschaftlichen Subsumption und Klassifikation.« 75 Nietzsche ist der wohl derjenige, der die Fiktion einer autonomen Vernunftentwicklung am gründlichsten zu zerstören versucht hat. Wenn die Philosophen behaupteten, dass die »Vernunft-Kategorien […] nicht aus der Empirie stammen könnten«, so wettete Nietzsche darauf, dass sie genau dort ihren Ursprung haben.76 Das sprachgenealogische Argument Humboldts radikalisierend, glaubt Nietzsche, dass »der ältest[e] Bestand von Metaphysik« »in der Sprache und den grammatischen Kategorien« verankert ist – weshalb es so schwer sei, ihn »loszuwerden«:77 »Ich fürchte, wir werden Gott nicht los, weil wir noch an die Grammatik glauben …« 78. Doch Nietzsches Verdacht gegen das Denken ist zu schwerwiegend, als dass er sich lediglich auf die sprachkritische Beweisführung stützen würde. Zum Postulat einer Vorgängigkeit der Grammatik gesellt sich das Medienapriori des Denkens: »UNSER SCHREIBZEUG ARBEITET MIT AN UNSEREN GEDANKEN .« 79 So gibt Nietzsche eine bündige, mediendeterministische Erklärung für die bei manchen Philosophen zu findende Vorherrschaft des klassifikatorischen Denkens: Ein Beispiel: die Söhne von Registratoren und Büreauschreibern jeder Art, deren Hauptaufgabe immer war, ein vielfältiges Material zu ordnen, in Schubfächer zu vertheilen, überhaupt zu schematisiren, zeigen, falls sie Gelehrte werden, eine Vorneigung dafür, ein Problem beinahe damit für gelöst zu halten, dass sie es schematisirt haben. Es giebt Philosophen, welche im Grunde nur schematische Köpfe sind — ihnen ist das Formale des väterlichen Handwerks zum Inhalte geworden. Das Talent zu Classificationen, zu Kategorientafeln verräth Etwas; man ist nicht ungestraft das Kind seiner Eltern.80 74  Ebd., S. 210. 75  Ebd., S. 207. 76  Friedrich Nietzsche, »Götzen-Dämmerung«, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. v.

Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 6, München, 1988, 55 – 161, S. 77 – 78.

77  Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1885 bis Herbst 1887. Kritische

Studienausgabe, Band 12, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München, 1988, S. 237.

78  Nietzsche, »Götzen-Dämmerung«, S. 77 – 78. 79  Friedrich Nietzsche, »Brief an Peter Gast (Heinrich Köselitz), Februar 1882«, in: ders.,

Sämtliche Briefe. Kritische Studienausgabe in 8 Bänden, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 6, München, 1986, S. 172. 80  Friedrich Nietzsche, »Die fröhliche Wissenschaft (›la gaya scienza‹)«, in: ders., Kritische Studienausgabe, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, Bd. 3, München, 1988, 343 – 651, S. 583 – 584.

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Am einflussreichsten war aber wohl Nietzsches Behauptung, dass man es bei »der Logik und den Vernunftkategorien« nicht mit einem »Criterium der Wahrheit resp. der Realität« zu tun habe, sondern vielmehr mit einem »Mittel […] zum Zurechtmachen der Welt zu Nützlichkeits-Zwecken«.81 So sei in der »Bildung der Vernunft, der Logik, der Kategorien« vor allem ein »Bedürfniß maaßgebend gewesen: das Bedürfniß, nicht zu ›erkennen‹, sondern zu subsumiren, zu schematisiren, zum Zweck der Verständigung, der Berechnung… […] Hier hat nicht eine präexistente »Idee« gearbeitet: sondern die Nützlichkeit, daß nur, wenn wir grob und gleich gemacht die Dinge sehen, sie für uns berechenbar und handlich werden…«.82 Dies erlaubt es Nietzsche schließlich, die Klassifikationen nicht nur als Produkte, sondern auch als Instrumente, als Effektoren des Willens zu Macht zu begreifen. So sind es nach Nietzsche »[d]ie Mächtigen […], welche die Namen der Dinge zum Gesetz gemacht haben: und unter den Mächtigen sind es die größten Abstraktions-Künstler, die die Kategorien geschaffen haben«,83 – damit werden also die Kategorien als Artefakte des menschlichen Machtwillens begriffen. Sobald aber die Kategorien in der Welt sind, »sich bewährt haben durch relative Nützlichkeit«, erscheinen sie als bedingungslos gültig, bekommen selbst etwas Zwingendes, etwas Befehlendes, etwas Imperativisches: »Es kam ein Punkt, wo man sie zusammenfaßte, sich als Ganzes zum Bewußtsein brachte, — und wo man sie befahl… d. h. wo sie wirkten als befehlend… Von jetzt ab galten sie als a priori…, als jenseits der Erfahrung, als unabweisbar…« 84. Eine ganze Wissenschaft, die sich kritisch mit der Macht der Klassifikationen, ihrer Fähigkeit zur Errichtung von Wirklichkeit und ihrer Gewalt der Abgrenzung und Ausschließung auseinandersetzen wird, beginnt mit Nietzsches Argwohn gegen den ›Imperialismus‹ des Kategorischen.85 Was für Nietzsche noch ein Skandal ist, nämlich die Herkunft der Verstandeskategorien aus der Empirie, wird im amerikanischen Pragmatismus zu einer Selbstverständlichkeit, mit der man eben – pragmatisch – umgehen muss.86 Aus81  Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, November 1887 bis Anfang Januar 1889. Kritische Studienausgabe, Band 13, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München, 1988, S. 336. 82  Ebd., S. 334. 83  Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Herbst 1885 bis Herbst 1887, S. 237. 84  Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, November 1887 bis Anfang Januar 1889, S. 283. 85  Nietzsche kann es sich nicht verkneifen, in diesem Zusammenhang auf die verborgene Gewaltförmigkeit von Kants ›kategorischem Imperativ‹ hinzuweisen: »Der kategorische Imperativ, ein Befehl ohne Bedingungen.« Friedrich Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Anfang 1880 bis Sommer 1882. Kritische Studienausgabe, Band 9, hg. v. Giorgio Colli u. Mazzino Montinari, München, 1988, S. 230. Vgl. auch ders., Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1884 bis Herbst 1885, S. 632: »Zum ›kategorischen Imperativ‹ gehört ein Imperator!« 86  Wenn William James »so etwas wie ein amerikanischer Nietzsche« war, dann war er jedenfalls »ein sehr ziviler Dionys und ein noch unpathetischerer Gekreuzigter«. Ludwig Marcuse, Amerikanisches Philosophieren. Pragmatisten, Polytheisten, Tragiker, Hamburg, 1959,

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gehend von der Beobachtung, dass es »so viele Geometrien, so viele Logiken, so viele physikalische und chemische Hypothesen, so viele Klassifizierungen« gibt, von denen jede »gut in mancherlei Hinsicht und doch nicht gut für alles« sind, sei die Philosophie, so William James, schließlich zu der Auffassung gelangt, »daß selbst die wahrste Formel eine menschliche Erfindung und keine buchstäbliche Kopie sein kann«. »[W]issenschaftlichen Gesetzen« komme lediglich die »Funktion einer begrifflichen Kurzfassung« zu; sie könnten »nur insofern als wahr gelten, als sie nützlich sind«.87 So sind auch Klassifikationssysteme als »rein teleologische Waffen des Geistes« aufzufassen;88 sie bieten den handlungspraktischen Vorteil, eine unübersichtliche Vielfalt von Erscheinungen auf ein Merkmal zu reduzieren, »das für meine Interessen so wichtig ist, dass ich im Vergleich dazu den Rest vernachlässigen kann«.89

Die sozialen Quellen der Logik Den wahrscheinlich bekanntesten und einflussreichsten Versuch, etwas über die Herkunft des klassifikatorischen Denkens zu sagen, bildet der 1903 erschienene Aufsatz von Émile Durkheim und Marcel Mauss, Über einige primitive Formen von Klassifikation. Ein Beitrag zur Erforschung der kollektiven Vorstellungen, der zu einem Gründungsdokument der Wissenssoziologie wurde. Was bei Nietzsche nur Verdacht und Behauptung war: dass nämlich die gesellschaftlichen Imperative dem Denken die Richtung vorgeben, sollte hier wissenschaftlich demonstriert werden. Die Teilungsaktivitäten des Denkens, so könnte man zusammenfassen, folgen den gesellschaftlichen Teilungsaktivitäten, sie reproduzieren die Muster der sozialen Aufteilung. Die noch junge Soziologie begnügt sich also keineswegs damit, die Gesetze der Gesellschaft zu beschreiben, sie äußert vielmehr den verwegenen Anspruch, Logos durch Sozius zu erklären, das logische Denken auf seine gesellschaftlichen Ursprünge zurückzuführen. In seinen 1913 – 14 gehaltenen Vorlesungen zum Verhältnis von Pragmatismus und Soziologie erklärt Durkheim, dass er sich für den Pragmatismus interessiere, weil ihm »ein Sinn für das Leben und für das Handeln eigen« sei, »den er mit der Soziologie gemein hat«.90 Zugleich empfinde er jedoch »für die SchlußfolgS. 27, 56. Einen direkten Einfluss von Nietzsche auf William James scheint es nicht gegeben zu habe. James nimmt Nietzsche, wenn überhaupt, nur als Moralphilosophen zu Kenntnis; die erkenntnistheoretischen Überlegungen, die sich in Nietzsches Nachlass finden, waren zur Zeit der Entstehung von James Hauptwerken noch nicht zugänglich. Vgl. Hays Alan Steilberg, Die amerikanische Nietzsche-Rezeption von 1896 – 1950, Berlin, New York, 2011, S. 225 – 234. 87  William James, »Humanismus und Wahrheit« (1904), in: ders., Pragmatismus und radikaler Empirismus, hg. v. Claus Langbehn, Frankfurt a. M., 2006, 85 – 113, S. 89. 88  William James, The principles of psychology, Vol. II , London, 1891, S. 335. 89  Ebd. 90  Emile Durkheim, »Pragmatismus und Soziologie. [Vorlesung Winter 1913/14]«, in: ders., Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, hg. v. Hans Joas, Frankfurt a. M., 1993, 9 – 168, S. 11.

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erungen, zu denen der Pragmatismus gelangt, nur Distanz«.91 In seinem Versuch, den »Kult der Wahrheit« zu zerstören, gerate der Pragmatismus in die Nähe der »Sophistik«;92 er bilde einen »Angriff auf die Vernunft«, der für die »dem Wesen nach rationalistisch[e]« französische Kultur »eine Gefahr« darstelle.93 Diese ideologische Distanzierung ändert jedoch nichts daran, dass die Durkheimsche Soziologie der Erkenntnis in ihren Fragestellungen denen des Pragmatismus ziemlich nahekommt und dass sie sich auf ähnliche Argumentationen stützt. Die wichtigste Gemeinsamkeit besteht wohl im »empirischen Zugriff auf traditionell philosophisch behandelte Fragen«.94 So geht es in beiden Programmen letztlich darum, Kants transzendentalphilosophische Frage nach den Bedingungen der Möglichkeit der Erkenntnis neu zu stellen und anders zu beantworten: Die Formen der Anschauung und die Verstandesbegriffe sind nicht einfach im Geist vorhanden; die Schematismen der Wahrnehmung und des Denkens sind vielmehr ›gemacht‹, sie gehen auf menschliche Praxis zurück. Anstelle eines trans­ zen­dentalen Aprioris muss ein praxeologisches Apriori angenommen werden. Der Unterschied zwischen dem Pragmatismus und der Soziologie liegt vor allem darin, wie diese dem Denken vorgängige Praxis verstanden wird. Wo Nietzsche einen individuellen Willen zur Macht wittert oder James ein ebenso individuelles ›Interesse‹ vermutet, unterstellt die Soziologie eine soziale Praxis, in der sich die Normen eines ganzen Kollektivs verkörpern.95 Der Klassifikations-Aufsatz von Durkheim und Mauss präsentiert sich im Untertitel als Ein Beitrag zur Erforschung der kollektiven Vorstellungen, aber er macht sogleich deutlich, dass damit mehr gemeint ist als nur die analytische Zergliederung von Bewusstseinsinhalten. Ins Visier genommen werden vielmehr die Gesetze des Denkens selbst, jene »im engeren Sinne logischen Operationen«, die »von solcher Zerlegungsarbeit bislang weitgehend ausgespart worden« sind: »Man kam nicht einmal auf den Gedanken, daß sie aus einem mühevollen Prozeß der Vereinigung und Organisation von Elementen hervorgegangen sein könnten,

Ebd., S. 11. Ebd., S. 12. Ebd., S. 11. Hans Joas, »Durkheim und der Pragmatismus. Bewußtseinspsychologie und die soziale Konstitution der Kategorien«, in: Emile Durkheim, Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, hg. v. Hans Joas, Frankfurt a. M., 1993, 257 – 288, S. 262. 95  So könne, wie Durkheim in seiner Studie über Die elementaren Formen des religiösen Lebens sagt, ein Begriff wie der des Ganzen »nicht vom Individuum kommen«, weil dieses »selbst nur ein Teil in bezug auf das Ganze ist und das immer nur einen unendlich kleinen Teil der Wirklichkeit erreicht«. Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 645. »Der Begriff der Totalität« sei nur von der Institution der Gesellschaft her zu verstehen, denn diese bilde »das Ganze, das alle Dinge umfaßt, die oberste Klasse, die alle anderen Klassen umschließt.« (Ebd., S. 646). 91  92  93  94 

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die aus den verschiedensten, der Logik gänzlich fremden Quellen stammen.« 96 Diese fremden Quellen der Logik liegen Durkheim und Mauss zufolge in der Gesellschaft; es ist daher die Soziologie, der die Aufgabe zufällt, »Licht […] in die Genese und damit auch in die Funktionsweise der logischen Operationen zu bringen«.97 Wie die Autoren behaupten, ließe sich ein entsprechender genealogischer Nachweis für alle »Grundfunktionen und Grundkonzeptionen des Verstandes leisten«, so z. B. auch für »die Ideen der Ursache und der Substanz oder die verschiedenen Formen des Schließens«.98 Ihre Untersuchung konzentriert sich jedoch auf das »Schema der Klassifikation«, vielleicht, weil hier am ehesten einleuchtet, dass es sich nicht um ein »spontanes Produkt des abstrakten Verstandes« handelt, sondern um eine historisch gewordenes Gebilde, das »aus der Verarbeitung zahlreicher fremder Elemente hervorgegangen ist«.99 Die These des Aufsatzes ist einfach: Die Ordnung des Denkens folgt der gesellschaftlichen Aufteilung, die »Klassifikation der Dinge« reproduziert die »Klassifikation der Menschen«.100 Wenn die zeitgenössische Ethnologie der Auffassung war, dass »die logischen Beziehungen zwischen den Dingen die Grundlage für die sozialen Beziehungen zwischen den Menschen gebildet hätten«, so wollen Durkheim und Mauss zeigen, dass es sich genau umgekehrt verhält: »[I]n Wirklichkeit dienten die sozialen Beziehungen als Vorbild für die logischen«:101 Die ersten logischen Kategorien waren soziale Kategorien; die ersten Klassen von Gegenständen waren Klassen von Menschen, in die auch die Dinge integriert waren. Weil die Menschen Gruppen bildeten und weil sie sich selbst als Gruppen wahrnahmen, faßten sie die übrigen Dinge und Lebewesen im Geiste gleichfalls zu Gruppen zusammen […].102

Doch Klassifikation heißt nicht nur Einteilung, sie schließt sowohl die Unterstellung einer Totalität als auch die Idee einer hierarchischen Ordnung der Teile mit ein. Auch diese beiden Aspekte des klassifikatorischen Denkens lassen sich umstandslos auf die Erfahrung des Sozialen zurückführen: Und wenn die Gesamtheit der Dinge als einheitliches System verstanden wird, so weil man auch die Gesellschaft in dieser Weise sieht. Sie ist ein Ganzes, oder 96  Emile Durkheim u. Marcel Mauss, »Über einige primitive Formen von Klassifikation. Ein Beitrag zur Erforschung der kollektiven Vorstellungen« (1903), in: Emile Durkheim, Schriften zur Soziologie der Erkenntnis, hg. v. Hans Joas, Frankfurt a. M., 1993, 169 – 256, S. 171. 97  Ebd., S. 256. 98  Ebd., S. 256 99  Ebd., S. 176. 100  Ebd., S. 179. 101  Ebd., S. 250. 102  Ebd., S. 250.

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genauer: Sie ist das einzige Ganze, auf das alles übrige bezogen ist. So ist die logische Hierarchie nur ein anderer Aspekt der sozialen Hierarchie, und die Einheit des Wissens ist nichts anderes als die aufs ganze Universum erweiterte Einheit des Kollektivs.103

So einleuchtend solche Herleitungen sind, so schwer sind sie zu beweisen. Insbesondere für komplizierte, wissenschaftliche Klassifikationssysteme wird es nicht leicht sein, zu zeigen, wie sie aus sozialen Einteilungssystemen hervorgegangen sind. So ist es methodisch naheliegend, mit den »rudimentärsten Klassifikationen« zu beginnen, »um daran zu klären, aus welchen Elementen sie geschaffen wurden«.104 Am Anfang der von Durkheim und Mauss organisierten vergleichenden Untersuchung stehen daher die »bescheidensten Klassifikationssysteme, die wir kennen«, nämlich »jene, die wir bei den australischen Stämmen beobachten können«.105 Es folgen »Klassifikationsformen […], die durch einen höheren Komplexitätsgrad ausgezeichnet sind«;106 hier konzentrieren sich die Autoren auf das Beispiel der nordamerikanischen Zuñi. Abschließend wird mit dem »chinesische[n] System der Wahrsagekunst« ein komplexerer Klassifikationstyp beschrieben, der sich von den anderen beiden dadurch unterscheidet, »daß er, seit man ihn kennt, von jeglicher sozialen Organisation unabhängig ist«,107 der also schon früh eine weitgehende Autonomie gegenüber seinen sozialen Ursprüngen gewonnen hat. Durch das vergleichende Verfahren soll nicht nur deutlich werden, dass unterschiedliche Gesellschaftsstrukturen unterschiedliche klassifikatorische Ordnungen hervorbringen. Ebenso soll sich zeigen, dass Veränderungen in der Struktur einer Gesellschaft entsprechende Veränderungen der klassifikatorischen Systeme nach sich ziehen. Wie die Betrachtung zeigt, stehen am Anfang einfache dichotomische Klassifikationen, die dann, im Lauf der Entwicklung, durch differenziertere Unterscheidungssysteme überlagert werden. So kann man etwa im Zuñi-System »unterhalb« der komplizierteren »Klassifikation nach den Himmelsrichtungen«, eine zweite, einfachere Einteilung nach Klans wiederfinden, »die in allen Punkten mit jenen Klassifikationsformen übereinstimmt, welche wir in Australien beobachtet haben«.108 In dem überkomplexen chinesischen System dürfte es hingegen schwerfallen, stammesgesellschaftliche Wurzeln aufzufinden.109 Durkheim und Mauss unternehmen auch gar nicht erst den Versuch, es auf eine einheitliche Ebd., S. 251 – 252. Ebd., S. 177. Ebd., S. 178. Ebd., S. 210. Ebd., S. 236. Ebd., S. 221. Vgl. Katherine Matsumoto-Gray, »Categorization. Connections between language and society«, Language, Meaning, and Society, N° 2, 2009, 107 – 135, S. 111.

103  104  105  106  107  108  109 

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soziale Struktur zurückzuführen. Der Zusammenhang von klassifikatorischer und gesellschaftlicher Ordnung wird hier eher funktionalistisch gefasst. Das chinesische System der klassifikatorischen Einteilung folgt den ständig wechselnden Imperativen der ideologischen Verhaltenssteuerung; Inkonsistenzen und logische Zumutungen werden dabei nicht nur in Kauf genommen, sie tragen vielmehr dazu bei, dem System den Anschein einer unausschöpfbaren Weisheit zu verleihen: Um die Prinzipien, auf denen dieses System beruht, den Tatsachen anzupassen, vermehrte und komplizierte man die Unterteilungen des Raumes und der Dinge unermüdlich. Ja man scheute auch nicht vor den offensichtlichsten Widersprüchen zurück. So konnte man erleben, daß die Erde abwechselnd im Norden, im Nordosten und in der Mitte plaziert wurde. Der Grund lag einfach darin, daß diese Klassifikation in erster Linie das Verhalten der Menschen regulieren sollte; dieses Ziel erreichte man eben dank dieser Kompliziertheit und indem man die Dementis der Erfahrung umging.110

Grundsätzlich geht es Durkheim und Mauss nicht um die Behauptung, dass jede klassifikatorische Ordnung immer die aktuelle gesellschaftliche Struktur ›widerspiegeln‹ müsse.111 Eine klassifikatorische Ordnung kann sich, wie das chinesische Beispiel zeigt, auch von ihren Ursprüngen abkoppeln und ein kompliziertes Eigenleben entfalten. Auch wenn solche Systeme darauf angelegt sind, sozialkonformes Verhalten hervorzubringen, können sie doch, aufgrund einer Art inneren Überhitzung, auch destabilisierende Effekte oder gar revolutionäre Impulse hervorbringen.112 Es gibt also kein einfaches Ableitungsverhältnis von der Ordnung der Gesellschaft zur Ordnung der Symbole, sondern ein Wechselspiel zwischen beiden: Durkheim und Mauss lassen einigen Raum für die Möglichkeit, dass Klassifikationssysteme nicht nur der gesellschaftlichen Struktur folgen, sondern, sobald sie geschaffen sind, auch auf diese zurückwirken: Die Sozialstruktur hat Veränderungen erfahren, die auch die Ökonomie dieser Systeme verändert haben – allerdings nicht in so starkem Maße, daß sie völlig unkenntlich geworden wäre. Zu einem Teil gehen diese Veränderungen übrigens auf die Klassifikationssysteme selbst zurück, so daß man die Klassifikationssysteme allein schon über diese Veränderungen aufspüren kann. Kennzeichnend für die Klassifikationssysteme ist nun, daß die Vorstellungen darin nach einem Modell geordnet sind, das aus der Gesellschaft stammt. Sobald diese Ordnung der kollek-

110  Durkheim u. Mauss, »Über einige primitive Formen von Klassifikation«, S. 239 – 240. 111  Vgl. Matsumoto-Gray, »Categorization«, S. 116 – 117. 112  Ein Beispiel dafür wäre die Alchemie, wie sie im Europa der Frühen Neuzeit betrieben

wurde, vgl. Kap. 13, Abschnitt »Der Schauplatz der Alchemie«.

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tiven Mentalität aber einmal besteht, vermag sie auf ihre Ursache zurückzuwirken und zu deren Modifikation beizutragen.113

Durkheim und Mauss selbst postulieren also keineswegs ein mechanisches Bedingungsverhältnis zwischen sozialer Ursache und kulturellem Effekt.114 Dies betrifft auch den kühnen Versuch, die Klassifikationssysteme der Wissenschaft genealogisch auf die »primitiven Klassifikationen« zurückzuführen: Insofern diese »in erster Linie dazu bestimmt« seien, »die Ideen untereinander zu verknüpfen und dem Wissen Einheit zu verleihen«, könne man ohne Weiteres behauten, »daß sie ein Werk von Wissenschaft sind und eine erste Form von Naturphilosophie darstellen«.115 In seinem Werk über Die elementaren Formen des religiösen Lebens fügte Durkheim die provokante Behauptung hinzu, dass »das wissenschaftliche Denken […] nur eine vollkommenere Form des religiösen Denkens« darstelle.116 Doch auch hier handelt es sich nicht um die Behauptung, dass primitive und wissenschaftliche Formen der Klassifikation identisch seien oder in gleicher Weise durch das Soziale bestimmt würden. Eher geht es darum, eine bestimmte Kontinuität aufzuzeigen: Auch wenn die radikale Entgegensetzung von heilig und profan, die die religiösen Klassifikationen bestimmt,117 allmählich abgemildert wird, so erhält sich doch etwas davon in den binären und hierarchischen Anordnungen der wissenschaftlichen Klassifikationen: Im übrigen ist die Geschichte der wissenschaftlichen Klassifikation letztlich nichts anderes als die Geschichte einer Entwicklung, in deren Verlauf dieses Element gesellschaftlicher Affektivität sich zunehmend abgeschwächt und dem reflektierten Denken des einzelnen immer mehr Raum gegeben hat. Doch diese fernen Einflüsse haben ihre Wirkung beileibe noch nicht vollends verloren. Sie haben uns einen Effekt hinterlassen, der sie überlebt hat und heute noch präsent ist, und zwar eben jenen Rahmen jeglicher Klassifikation, diesen ganzen Komplex von Denkgewohnheiten, dank deren wir uns Dinge und Sachverhalte in Form von Gruppen vorstellen, die einander neben- oder untergeordnet sind.118

113  Durkheim u. Mauss, »Über einige primitive Formen von Klassifikation«, S. 199. 114  Insofern laufen zumindest einige der Einwände, die gegen die Thesen ihres Klassifika-

tionsaufsatzes erhoben wurden, ins Leere. Zur Übersicht über die Kritiken vgl. David Bloor, »Durkheim and Mauss revisited. Classification and the sociology of knowledge«, Studies in History and Philosophy of Science, N° Vol. 13, No. 4, 1982, 267 – 297; Rodney Needham, »Introduction«, in: Émile Durkheim u. Marcel Mauss, Primitive classification, hg. v. Rodney Needham, London, 2009, viii–xxxii; Matsumoto-Gray, »Categorization«. 115  Durkheim u. Mauss, »Über einige primitive Formen von Klassifikation«, S. 249. 116  Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 628. 117  Vgl. ebd., S. 64. 118  Durkheim u. Mauss, »Über einige primitive Formen von Klassifikation«, S. 256.

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Durkheims und Mauss’ Aufsatz über die primitiven Klassifikationen wurde kontrovers diskutiert. Was davon blieb, war die Einsicht, dass ein »kausaler Zusammenhang zwischen Sozialstruktur und kultureller Klassifikation schwer nachzuweisen« ist.119 Umso erstaunlicher ist, dass Durkheims und Mauss’ These von der sozialen Hervorbringung der Klassifikationen gerade auf dem Feld Karriere gemacht hat, wo der Nachweis einer »sozialen Konstruktion« besonders schwer fällt, nämlich dem der Wissenschaftsgeschichte. So hat beispielsweise David Bloor, maßgeblicher Vertreter des sog. strong programme der Sociology of scientific knowledge, behauptet, dass »die These von Durkheim und Mauss sich wesentlich stützen lässt, wenn man Material aus der Geschichte der Wissenschaften hinzuzieht«.120 Wie er zu zeigen versuchte, entsprachen die wissenschaftlichen Klassifikationen der Physik des 17. Jahrhunderts sehr genau den ideologischen Positionen ihrer Urheber: Sowohl diejenigen, die (wie Boyle und Newton) von der Trägheit der Materie ausgingen, als auch diejenigen, die an ein ihr innewohnendes aktives Bewegungsprinzip glaubten, arrangierten die grundlegenden Gesetze und Klassifikationen ihres natürlichen Wissens auf eine Art und Weise, die sie kunstvoll mit ihren sozialen Zielen in Einklang brachte. Der politische Kontext wurde benutzt, um verschiedene Bilder der physischen Welt zu konstruieren, und die Ressourcen des Netzwerkes von Gesetzen wurden eingesetzt, um sie angesichts neuer Aufgaben und neuer Tatsachen aufrechtzuerhalten. Wie wir gesehen haben, war die Wirkung in jedem Fall, sicherzustellen, dass die Klassifizierung der Dinge die Klassifikation der Menschen reproduzierte.121

Dem Anschein nach handelt es sich hier um eine gewagte Hypothese, die in einer viel unmittelbareren Weise als Durkheim und Mauss es getan hatten, von einer aktuellen Denkformation auf ihre sozialen Gründe schließt. Doch ist die Fragestellung, genau genommen, weniger radikal: Bei Bloor geht es um viel eher um das, was Durkheim und Mauss als Kollektivvorstellung bezeichnen würden, um eine bestimmte klassifikatorische Aufteilung, die als ein Bild der sozialen Aufteilung gelesen werden kann. Der eigentliche Einsatz von Durkheim und Mauss lag aber darin, nicht nur nach den Aufteilungen, sondern nach dem Gesetz der Aufteilung zu fragen, die Frage nach der Entstehung bestimmter Klassifikationen auszuweiten auf die Frage, was eigentlich Klassifizieren heißt. Was den Klassifikations-Aufsatz für diese Arbeit interessant macht, ist weniger die vergleichende Betrachtung von Klassifikationssystemen; es sind vor allem die Momente, in denen Durkheim und Mauss auf die Praktiken und Techniken 119  Matsumoto-Gray, »Categorization«, S. 108. 120  Bloor, »Durkheim and Mauss revisited«, S. 269. 121  Ebd., S. 290 – 291.

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der Einteilung zu sprechen kommen. Nach den von ihnen gemachten Voraussetzungen ist Klassifizierung mehr als nur die Einordnung von Dingen zu lebenspraktischen Zwecken; Klassifizierung schließt die Idee des Ganzen und einer hierarchischen Ordnung mit ein – Vorstellungen, die nicht aus dem individuellen Bewusstseins stammen können, sondern der gesellschaftlichen Struktur abgelesen sein müssen. Über die Fähigkeit, »mehr oder minder vage Ähnlichkeiten wahrzunehmen« hinaus, zielt das klassifizierende Denken darauf, »die Dinge, die sich solcherart ähneln, zusammenzufassen, sie gewissermaßen in einem idealen, von klar definierten Grenzen umschlossenen Raum zu vereinen und dann als Gattungen oder Arten zu bezeichnen«.122 Durkheim und Mauss legen nahe, dass es die Rigidität der Einteilung ist, in der sich am deutlichsten die soziale Herkunft des klassifizierenden Denkens verrät. In den kategorialen Abgrenzungen liegt noch etwas von den elementaren und durchaus gewaltsamen Grenzziehungen, durch die ein soziales Kollektiv sich seine Ordnung gibt: Die Gesellschaft setzt also eine bewußte Organisation ihrer selbst voraus, die nichts anderes ist als eine Klassifizierung. Diese Organisation der Gesellschaft teilt sich natürlich dem Raum mit, den sie einnimmt. Um jeden Zusammenstoß zu vermeiden, braucht jede einzelne Gruppe einen bestimmten Raumanteil. Mit anderen Worten: Der Gesamtraum muß aufgeteilt, unterschieden und ausgerichtet werden, und diese Einteilung und diese Ausrichtungen müssen allen Menschen bewußt sein.123

Diese Passage ist für die in diesem Buch gestellten Fragen besonders aufschlussreich. Denn mit dem Hinweis auf die Verfahren der Landnahme und Grenzziehung, durch die soziale Gruppen sich voneinander absetzen und hierarchische Beziehungen aufbauen, deutet sich die Möglichkeit an, die von Durkheim und Mauss erstellte Genealogie noch etwas weiterzutreiben. Wenn man den Autoren zustimmt, dass die Logik der Klassifizierung auf die Weise der sozialen Einteilung zurückgeht, so ließe sich fragen, wie die soziale Struktur mit den hier ins Spiel gebrachten räumlichen Operationen (›aufteilen‹, ›unterscheiden‹, ›ausrichten‹…) in Verbindung steht. Ist es die »Organisation der Gesellschaft«, die sich in diesen Operationen ›dem Raum mitteilt‹, oder lässt sich nicht vielmehr sagen, dass durch Akte der territorialen Aufteilung und Verfahren der räumlichen Trennung der soziale Raum und damit die Gesellschaft erst hervorgebracht wird? So wie sich klassifikatorische Logik auf die gesellschaftliche Einteilung zurückführen lässt, so ließe sich die Sozio-Logik der Klassenteilung ihrerseits nach den sie konstituierenden Praktiken und Techniken der Aufteilung befragen. Eine solche weitere Drehung der Frage nach dem Grund der Klassifikationen konnten 122  Durkheim u. Mauss, »Über einige primitive Formen von Klassifikation«, S. 175 – 176. 123  Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, S. 648.

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sich Durkheim und Mauss jedoch nicht leisten. ›Die Gesellschaft‹, die doch der letzte Grund aller Dinge sein sollte, hätte sich damit in eine Vielzahl von sie bedingenden Operationen aufgelöst.124

Zur ontologischen Macht der Teilung Durkheim und Mauss hatten zu zeigen versucht, wie die logischen Klassifikationssysteme aus ursprünglichen sozialen Einteilungen hervorgehen. Dabei hatten sie zumindest angedeutet, dass die symbolischen Ordnungssysteme, sobald sie erst einmal geschaffen sind, selbst wiederum auf die Gesellschaft zurückwirken. Auch wenn Durkheim und Mauss aus naheliegenden Gründen (es ging darum, ›die Gesellschaft‹ als universales Erklärungsmodell zu etablieren) vor allem zeigen wollten, wie das Soziale das Logische schafft, so haben sie durchaus erkannt, dass Klassifikationssysteme selbst wiederum eine gesellschaftskonstititutive Macht besitzen. Auf diese Weise ergibt sich die Möglichkeit einer anderen, umgekehrten Betrachtung, die nicht mit der Gesellschaft beginnt, um den Weg zum logischen Denken nachzuzeichnen, sondern die von den gedanklichen und sprachlichen Teilungen ausgeht, um nachzuverfolgen, wie sich daraus ›Welt‹ ergibt. Dies ist, wie man weiß, eine sehr alte Idee mit einer langen theologischen Tradition: Gott wird mit dem Wort oder dem Logos identifiziert, mit der Macht der Unterscheidung, die überhaupt erst das Sein aller Dinge schafft – Gott als der Signifikant der Signifikanten,125 der große Einteiler, der das Licht von der Finsternis, den Himmel von der Erde, das Wasser vom Land scheidet und schließlich »alle Arten von lebendigen Wesen« schafft – bis hin zum Menschen, der in der Dopplung von »Mann und Frau« zur Existenz zugelassen wird.126 124  Vgl. Bruno Latours Kritik des »Sozialkonstruktivismus«, der ›die Gesellschaft‹ als

unhinterfragte Erklärungsinstanz voraussetzen müsse: »›Konstruktivismus‹ sollte nicht mit ›Sozialkonstruktivismus‹ verwechselt werden. Wenn wir sagen, daß eine Tatsache konstruiert ist, meinen wir einfach, daß wir die solide objektive Realität erklären, indem wir verschiedene Entitäten mobilisieren, deren Zusammensetzung auch scheitern könnte; ›Sozialkonstruktivismus‹ dagegen bedeutet, daß wir das, woraus diese Realität besteht, durch irgendeinen anderen Stoff ersetzen, durch das Soziale, aus dem sie ›in Wirklichkeit‹ besteht.« Bruno Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft. Einführung in die Akteur-Netzwerk-Theorie, Frankfurt a. M., 2010, S. 158. 125  Vgl. Bryan S. Turner, »Nachwort«, in: Émile Durkheim, Die elementaren Formen des religiösen Lebens, Frankfurt a. M., 2007, 654 – 664, S. 659: »Dies [der Name JHWH ] ist, so Moses Maimonides im Führer der Unschlüssigen, die Bezeichnung für absolute Existenz. Außer von den Priestern im geheiligten Bezirk des Tempels durfte dieser Name nicht ausgesprochen werden, was ihn vor Verunreinigung durch den Kontakt mit der profanen Welt bewahrte. Es ist der Name, der nicht genannt werden darf. In diesem Sinn können wir von der jüdischen Orthodoxie sagen, daß JHWH das Klassifikationsprinzip ist, das alle anderen Klassifikationsprinzipien garantiert.« 126  Genesis 1,3 bis 1,27. Die Bibel. Altes und Neues Testament. Einheitsübersetzung, Freiburg, Basel, Wien, 2015, S. 5.

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Nach dieser ehrwürdigen Auffassung besteht Klassifizierung nicht darin, bereits vorhandene Dinge in eine bestimmte Anordnung zu bringen. Klassifizierung ist vielmehr der Akt, der die Dinge überhaupt erst hervorbringt. Es ist die Unterscheidung, die etwas als etwas erkennbar werden lässt; es ist die Teilung, die den Dingen ihr Sein verleiht und damit Welt hervorbringt. Dass diese Macht der Welterzeugung immer wieder auf Szenarien der Ur-Teilung zurückgeführt und der Instanz eines Herren-Einteilers zugesprochen wurde, ist nicht verwunderlich. Eine schöne Variation des Genesis-Themas, die Gott als einen geradezu aristotelisch exakten Klassifikator präsentiert, findet sich bei dem jüdischen Theologen Philo von Alexandrien (ca. 15/10 v. Chr. – ca. 40 n. Chr.): Auf andere Weise teilte er auch das Tierreich in das männliche und das weibliche Geschlecht; es erhielt aber noch andere notwendige Teilungen, die die Vögel von den Landtieren, die Landtiere von den im Wasser lebenden und diese von den beiden anderen schieden. So teilte Gott, nachdem er seinen Logos, den Teiler aller Dinge, geschärft hatte, die form- und eigenschaftslose Substanz des Weltganzen und die aus ihr abgesonderten vier Elemente der Welt und die vermittelst derselben geschaffenen Lebewesen und Pflanzen.127

Etwas von dieser göttlichen Macht der Weltschöpfung erhält sich in jeder menschlichen Errichtung eines Klassifikationssystems. So kann das klassifikatorische Projekt des 17. und 18. Jahrhunderts durchaus als eine Art säkularisierter Schöpfungstheologie verstanden werden. Mit der Klassifikation übernahm die Wissenschaft eine Aufgabe, die vormals nur Gott zustand, nämlich den Dingen ihren richtigen Namen zu geben. Diese Machtanmaßung durfte allerdings nicht explizit werden; die Klassifikation durfte nicht als reines Menschenwerk erscheinen. So war z. B. Leibniz sehr darum bemüht, die von ihm beschriebene binäre Codierung nicht als ein willkürliches Symbolisierungsprinzip erscheinen zu lassen, sondern es unmittelbar auf die göttliche Schöpfungsmacht zurückzuführen: »Wunderbarer Ursprung aller Zahlen aus 1 und 0, welcher ein schönes Vorbild des Geheimnisses der Schöpfung gibt, da alles aus Gott und sonst aus Nichts, entstehe: Essentiae Rerum sunt sicut Numeri.« 128 127  Philo von Alexandria, »Über die Frage: Wer ist der Erbe der göttlichen Dinge? und

über die Teilung in Gleiches und Gegensätzliches«, in: Philo von Alexandria, Die Werke in deutscher Übersetzung, Band V, Berlin, New York, 1962, 214 – 296, §§ 139 – 140, S. 255. Den Hinweis auf Philo von Alexandrien verdanke ich: Paul Michel, »Verzweigungen, geschweifte Klammern, Dezimalstellen. Potenz und Grenzen des taxonomischen Ordnungssystems von Platon über Theodor Zwinger bis Melvil Dewey«, in: Paul Michel, Madeleine Herren und Martin Rüesch (Hg.), Allgemeinwissen und Gesellschaft. Akten des internationalen Kongresses über Wissenstransfer und enzyklopädische Ordnungssysteme, 18. – 21. September 2003 in Prangins, Aachen, 2007, 105 – 144, S. 112 – 113. 128  Brief von Leibniz an Rudolf August, Herzog von Braunschweig-Wolfenbüttel, 1697, zit. nach Horst Zuse, »Der lange Weg zum Computer. Von Leibniz’ Dyadik zu Zuses Z3«, in:

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S chema und S chublade

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Bei Johann Gottfried Herder findet sich eine aufschlussreiche Parallelisierung von göttlicher und menschlicher Klassifizierungsmacht. Ohne dass ›Gott‹ als Urheber-Instanz ausdrücklich genannt würde, entwirft Herder zunächst das Szenario einer sich durch räumliche Differenzierung entfaltenden Welt-Ordnung: Im Anbeginn der Dinge, sagen die Dichter, schwebte alles in wüster Unordnung, und es war zu nichts Raum. Da begann eine Welt; jedes ordnete sich zu Seines gleichen; es wurden Planeten und Sonnen. Elemente sonderten sich; es entstanden Kunstgeschöpfe. Nun ward Raum; denn die harmonischen Töne der Weltleyer waren erklungen, und Alles gesellet sich seitdem zu seinem Geschlecht, zu seiner Ordnung. Noch jetzt erhalten sich alle Claßen der Lebendigen also; so reihen noch jetzt sich Sonnen an Sonnen; Nebelsterne ziehen sich zu Systemen zusammen und gewähren Raum; so ward und so wird die Schöpfung.129

Dann aber wird die ›weltende‹ Macht der räumlichen Trennung und Aufteilung explizit auch als ein menschliches Vermögen beschrieben, eines, das wie Herder meint, von den Griechen entdeckt und zur Grundlage ihrer Zivilisation erhoben worden sei: Auch die Kunst, die Schöpfung der Menschen, nicht anders. Die Griechen erfanden und vollendeten Ideale; sie schufen Classen der Menschheit und trenneten ab, was nicht zu ihr gehöret. Damit bildeten sie den reinen göttlichen Begriff unsres Geschlechts zart und vielseitig aus; wem haben sie hiemit geschadet?130

Das göttliche Privileg der klassifikatorischen Sonderung ist hier auf die Menschen übergegangen. Auch wenn Herder den Griechen nur Gutes zutraut, ist damit zugleich der Bereich menschlicher Macht und Machenschaft betreten: Zur Konstitution einer »Class[e] der Menschheit« gehört notwendig die Trennung von dem, »was nicht zu ihr gehört«, oder allgemeiner: Eine klassifikatorische Ordnung ist, in den Worten von Mary Douglas, ein »Reinheitssystem«, das alles, was »fehl am Platz ist«, als »Schmutz« verwerfen muss: »Wo es Schmutz gibt, gibt es auch ein System. Schmutz ist das Nebenprodukt eines systematischen Ordnens und Klassifizierens von Sachen, und zwar deshalb, weil Ordnen das Verwerfen ungeeigneter Elemente einschließt.« 131

Martin Grötschel, Eberhard Knobloch und Juliane Schiffers u. a. (Hg.), Vision als Aufgabe. Das Leibniz-Universum im 21. Jahrhundert, Berlin, 2016, 111 – 124, S. 114. 129  Johann Gottfried Herder, »Briefe zur Beförderung der Humanität« (1793 – 95), in: ders., Sämtliche Werke, hg. v. Bernhard Suphan, Bd. 17, Berlin, 1877 ff., S. 368. 130  Ebd. 131  Mary Douglas, Reinheit und Gefährdung. Eine Studie zu Vorstellungen von Verunreinigung und Tabu, Berlin, 1985, S. 52 – 53.

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Für Herder war die Nachtseite der Klassifizierung – der Ausschluss der Nichtzugehörigen als Unreine, Fremde, Barbaren – ganz offenbar kein Thema. Aus der von ihm eingenommenen zivilisationsgeschichtlichen Perspektive sind »wir den Griechen […] Dank schuldig«, weil »was wir nicht können, sie gethan und nach unveränderlichen Regeln und Kennzeichen Classen geordnet, Abarten ausgezeichnet und die reine Form von der Unform getrennet haben«.132 Gegenüber dem Gewinn an Proportion und Ordnung zählt wenig, welches Schicksal den Abarten und Unformen zuteilwird. Und doch, was die Unschuld des klassifikatorischen Geistes angeht, zeigt die merkwürdige Formulierung »wem haben sie hiemit geschadet?« eine gewisse Unsicherheit an. Damit diese scheinbar arglose Frage gestellt werden kann, muss es zumindest den Verdacht gegeben haben, dass Klassifizierung auch ›schaden‹ kann, dass Verfahren der Teilung und Ordnung nicht nur die Funktion haben, Dinge und Wesen zur Existenz zuzulassen, sie »ins Dasein hervorzubringen«,133 sondern dass sie umgekehrt auch die Macht haben, all das von der Existenz auszuschließen, aus der Welt zu bringen, was sich ihrer Ordnung nicht fügt. Klassifikationen sind, so lässt sich dieser Verdacht erweitern, nicht nur »Ways of Worldmaking«, nicht nur Zeugnisse der »schöpferische[n] Kraft des Verstehens« oder der »schöpferische[n] Kraft von Symbolen«;134 es sind ebenso Instanzen struktureller Gewalt, Agenturen des Ausschlusses und der Abwertung anderer Welten und Existenzweisen.

132  Herder, »Briefe zur Beförderung der Humanität«, S. 367. 133  Emile Benveniste, Indoeuropäische Institutionen. Wortschatz, Geschichte, Funktionen,

hg. v. Stefan Zimmer, Frankfurt a. M., New York, Paris, 1993, S. 406. Mit der Formulierung »etwas entstehen zu lassen und – buchstäblich – ins Dasein zu bringen« umschreibt Émile Benveniste die Art der »auctoritas«, die dem römischen Zensor als oberstem Einteiler des Volkes zugesprochen wurde. Vgl. ebd., S. 413. Den Hinweis auf Benveniste verdanke ich: Harald Katzmair, »Ordnungen des Zählens. Zur quantitativen Konstruktion des Sozialen (1550 – 1870)«, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, N° 11, 2000, 34 – 76, S. 48. 134  Nelson Goodman, Weisen der Welterzeugung (1978), Frankfurt a. M., 2005, S. 13.

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3.

DER STREIT DER ORDNUNGEN. KLASSIFIKATION UND KLASSE BEI FOUCAULT Die im vorigen Kapitel vorgestellten klassifikationskritischen Ansätze aus Philosophie, Soziologie und Wissenschaftsgeschichte konnten den Blick dafür schärfen, dass logische Kategoriensysteme, wissenschaftliche Nomenklaturen und technische Ordnungsdispositive Wirklichkeit nicht einfach abbilden, sondern vielmehr herstellen. Indem sie den Akzent auf die epistemologische und ontologische Wirksamkeit der Einteilungen legen, heben sich die klassifikationskritischen Arbeiten vom marxistischen Klassenparadigma ab, das der Frage nach dem Gesetz der Einteilung wenig Aufmerksamkeit schenkt. Aber auch die erkenntniskritisch angelegten Arbeiten haben einen blinden Fleck: Sie fragen nach den Gesetzen oder nach den äußeren Bedingungen der klassifikatorischen Weltkonstruktion, klammern dabei aber die Frage nach dem Zustandekommen der sozialen Einteilungen weitgehend aus. Als eine Ausnahme von dieser Regel können die Untersuchungen Michel Foucaults betrachtet werden. Diese haben sich dem Problem der Klassifikation zunächst unter wissens- und erkenntnisgeschichtlichen Fragestellungen genähert, dann aber, im Zug der Politisierung von 1968, zunehmend auch die politischen Mächte der Aufteilung in den Blick genommen.

Eine Archäologie der Klassifikationssysteme Die Frage, wie die historisch vorkommenden Ordnungssysteme jeweils andere Formen des Seins, andere Denk- und Existenzweisen hervorbringen, ließe sich als roter Faden aller Foucault’schen Untersuchungen betrachten, ungeachtet der methodischen Kehren (von der Archäologie zur Genealogie) und thematischen Verschiebungen (vom Diskurs über Macht und Regierung bis zum Subjekt). So ist Foucault wohl derjenige unter den Philosophen und Historikern, der sich am intensivsten mit der ontologischen Macht der wissenschaftlichen, bürokratischen und regierungstechnischen Einteilungen beschäftigt hat. Als erklärter Nominalist – »Zweifellos muß man Nominalist sein« 1 – geht Foucault davon aus, dass alle Klassifikationen letztlich nur kontingente Ordnungssysteme sind, die jeweils unterschiedliche Welten entstehen lassen, ganz nach Maßgabe des Rasters, das sie der sprach- und strukturlosen Wirklichkeit auferlegen. Eine be1  Michel Foucault, Sexualität und Wahrheit. Erster Band: Der Wille zum Wissen (1976),

Frankfurt a. M., 1983, S. 114.

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stimmte »Seinsweise« entsteht, wenn eine klassifikatorische Ordnung »die Dinge dem Wissen anbietet, indem sie sie aufteilt«; entsprechend wird »die Seinsweise der Dinge und der Ordnung grundlegend verändert«, sobald ein neuer Modus der klassifikatorischen Einteilung wirksam wird.2 Foucaults Forschungsrevier war zunächst das ›klassische‹ Zeitalter der Klassifizierung, die französische Klassik des 17. und 18. Jahrhunderts. Das Buch über Wahnsinn und Gesellschaft (1961) ist nicht nur eine Geschichte des Ausschlusses der Unvernunft und der Einsperrung der Irren, sondern auch eine Geschichte der Versuche, der unaussprechlichen Erfahrung des Wahnsinns durch klassifikatorische Einordnung beizukommen. Wird der Wahnsinn zunächst als »der absolute Unterschied« begriffen, so beginnen mit seiner wissenschaftlichen Erforschung »die multiplen Gesichter des Unterschiedes aufzutauchen und ein Gebiet zu bilden, in dem die Vernunft sich wiederfinden, ja fast bereits wiedererkennen kann. […] Die ärztliche Vernunft wird den Wahnsinn lange Zeit nur in der ab­ strak­ten Analyse dieser Unterschiede meistern.« 3 Nur durch die Klassifikation, die ihren Gegenstand auf Abstand hält, kann der Wahnsinn überhaupt an die Vernunft herangelassen werden. Daher »die große Sorge der Klassifikatoren im achtzehnten Jahrhundert«, die »Ordnungslosigkeit der Krankheiten« in eine der »Ordnung der Pflanzenwelt« entsprechende Systematik zu bringen;4 daher auch die »Manie der Psychiater des vergangenen Jahrhunderts, unbedingt zu klassifizieren«.5 In ähnlicher Weise zeigt Foucault in seinem Buch über die Geburt der Klinik (1963), wie der ärztliche Blick in der klassischen Episteme von der Voraussetzung eines klassifikatorischen Ordnungsraums geleitet wird. Es ist »der flache Raum des Immerwährend-Gleichzeitigen – das Tableau«,6 dem eine Krankheit sich einfügen muss, um als solche erkannt zu werden: »Das klassifizierende Denken gibt sich einen wesenhaften Raum. Und nur in diesem Raum hat die Krankheit eine Existenz, da er sie als Natur konstituiert.« 7 Die hier schon virulente Frage nach dem Gesetz der Klassifikation, nach dem Prinzip der Einteilung, das einer bestimmten Erkenntnisordnung zugrunde liegt, wird in Foucaults Ordnung der Dinge (1966) unmittelbar thematisch. Der Unterschied zwischen den analytisch freigelegten ›Epistemen‹ ergibt sich nicht aus einem Wechsel der Gegenstände oder der Methoden; es ist vielmehr »eine 2  Michel Foucault, Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften (1966), Frankfurt a. M., 1974, S. 25. 3  Michel Foucault, Wahnsinn und Gesellschaft. Eine Geschichte des Wahns im Zeitalter der Vernunft (1961), Frankfurt a. M., 1989, S. 400. 4  Ebd., S. 185. 5  Ebd., S. 406. 6  Michel Foucault, Die Geburt der Klinik. Eine Archäologie des ärztlichen Blicks (1963), Frankfurt a. M., 2008, S. 22. 7  Ebd., S. 25.

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grundlegende und neue Aufteilung« des gesamten Erkenntnisfeldes,8 durch die eine historische Wissensordnung sich von der anderen absetzt. Das Gespür für die Möglichkeit eines solchen radikalen Bruchs, durch den »der Raum des Wissens völlig anders aufgeteilt« wird,9 hat Foucault bereits im Vorwort seines Buchs durch einen Verfremdungseffekt zu wecken versucht. Er erinnert an die von Jorge Luis Borges erdachte bzw. herbeizitierte »chinesische Enzyklopädie«, nach der »die Tiere sich wie folgt gruppieren: a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere, g) herrenlose Hunde, h) in diese Gruppierung gehörige, i) die sich wie Tolle gebärden, k) die mit einem ganz feinen Pinsel aus Kamelhaar gezeichnet sind, l) und so weiter, m) die den Wasserkrug zerbrochen haben, n) die von weitem wie Fliegen aussehen«.10 Mit dem »Erstaunen über diese Taxinomie« offenbart sich, so Foucault, mehr als nur »der exotische Zauber eines anderen Denkens«. Angesichts der »schiere[n] Unmöglichkeit, das zu denken«, erfahren wir die »Grenze unseres Denkens«.11 Die Konfrontation mit dem anderen, fremden Aufteilungsprinzip konfrontiert uns mit der Einsicht, dass unsere gewohnte Erfahrung einem Raster kategorialer Unterscheidungen gehorcht, das – von außen betrachtet – nicht weniger willkürlich ist als die ›chinesische‹ Ordnung der Tiere. Eine vergleichende Analyse der Einteilungssysteme wird daher die einzelnen Epistemen nicht danach beurteilen, inwiefern sie der Wahrheit einer äußeren Wirklichkeit nahekommen,12 sie wird viel eher danach fragen, wie sie jeweils ihre eigene Wahrheit, ihre eigene Ordnung der Dinge, ihre eigene Wirklichkeit hervorbringen. In der Ordnung der Dinge vollzieht sich diese Untersuchung der Hervorbringungsweisen von Wahrheit durch die Untersuchung wissenschaftlicher Diskurse, also von Redeweisen, die explizit den Anspruch auf Geltung und Wahrheit erheben. Von dem strukturalistischen Modell scheint Foucault sich allein schon dadurch abzusetzen, dass er nicht von einer universalen Struktur des Geistes ausgeht, 8  Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 303. 9  Michel Foucault, »Vorwort zur deutschen Ausgabe«, in: ders., Die Ordnung der Dinge.

Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a. M., 1974, 9 – 16, S. 11.

10  Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 17. Vgl. Jorge Luis Borges, »Die analytische Spra-

che von John Wilkins« (1952), in: ders., Werke in 20 Bänden, Band 7. Inquisitionen (Otras inquisitiones), Essays 1941 – 1952, hg. v. Gisbert Haefs u. Fritz Arnold, Frankfurt a. M., 2007, 113 – 117, S. 115 – 116. 11  Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 17. 12  Für eine Korrespondenztheorie der Wahrheit, also eine Theorie, die die Übereinstimmung von klassifikatorischer Ordnung und äußerer Welt zum Maßstab machen würde, lässt sich keine Grundlage finden: »Wenn wir eine reflektierte Klassifizierung einführen, wenn wir sagen, daß die Katze und der Hund sich weniger ähneln als zwei Windhunde, selbst wenn diese beiden gezähmt oder einbalsamiert sind, selbst wenn sie beide wie Irre laufen und wenn sie gerade einen Krug zerbrochen haben, von welchem Boden aus können wir es mit aller Gewißheit feststellen?« Ebd., S. 21 – 22.

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sondern vielmehr unterschiedliche, geschichtliche situierte Strukturen annimmt. Und bekanntlich ist Foucault nicht müde geworden, sich über »gewisse halbgewitzte ›Kommentatoren‹« zu erregen, die darauf beharrten, ihn »als einen ›Strukturalisten‹ zu etikettieren«.13 Doch ist der Einwand nicht von der Hand zu weisen, dass Foucaults Analyse der Klassifikationssysteme, zumindest in der Ordnung der Dinge, noch von strukturalistischen Voraussetzungen geprägt ist. So scheint die vergleichende Betrachtung der Einteilungen des Wissens durchaus der Lévi-Strauss’schen Annahme zu folgen, dass alle Menschen allezeit »gleich gut«, d. h. gleichermaßen unterscheidend und einteilend gedacht haben. Foucault interessiert sich für den Verlauf der Unterscheidungen und für die dadurch hervorgebrachten Ordnungen; in der Untersuchung zur Renaissance-Episteme der Ähnlichkeit kommen darüber hinaus auch die affektiven Modalitäten und sinnlichen Qualitäten der Unterscheidung zur Sprache.14 Die Möglichkeit eines radikal anderen, nicht-unterscheidenden Denkens (eine Erfahrung, auf die im Buch über den Wahnsinn laufend angespielt wurde) wird hier nicht in Betracht gezogen – was natürlich auch damit zu tun hat, dass die Untersuchung sich auf wissenschaftliche Diskurse konzentriert. So kann der Eindruck entstehen, dass Foucault zwar die Historizität der Klassifikationen hervorgekehrt, die Klassifizierung selbst jedoch als eine unvermeidliche Voraussetzung des Denkens betrachtet habe. Wenn in der Ordnung der Dinge nur die Einteilungen und nicht das Gesetz der Einteilung in Frage gestellt wird, so hat dies offenbar damit zu tun, dass Foucault einem Mehrschichtenmodell der symbolischen Ordnungsbildung folgt und sich dafür entschließt, seine Untersuchung nur auf einer Schicht anzusiedeln. Demnach finden sich ganz unten, an der Basis, die »fundamentalen Codes einer Kultur«;15 ganz oben, auf der Oberfläche treiben »die allgemeinen Theorien der Anordnung der Dinge«;16 und dazwischen befindet sich das Gebiet, für das Foucault sich vorrangig interessiert, die »›Mittel‹-Region«,17 die den eigentlichen »Ordnungsraum«,18 die Einteilungsmaschinerie einer Kultur ausmacht. In dieser Unterscheidung zwischen einer determinierenden, unzugänglichen Tiefenstruktur und einem darauf aufsitzenden kulturellen Differenzierungsapparat bleibt Foucault zweifellos noch strukturalistischen Annahmen verpflichtet; daraus erklärt sich auch der Eindruck, Foucault habe bei aller Relativierung der Klassifikationen dennoch so etwas wie einen grundsätzlichen klassifikatorischen Zug des Denkens angenommen. 13  Foucault, »Vorwort zur deutschen Ausgabe«, S. 15. 14  Vgl. das Kapitel 13, Abschnitt »Vier Ähnlichkeiten, revisited«, in dem die von Foucault

herausgearbeiteten affektiven Besetzungen der Ähnlichkeitswahrnehmung nach ihrem Zusammenhang mit gesellschaftlichen Abstands- und Näheverhältnissen befragt werden. 15  Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 22. 16  Ebd., S. 23. 17  Ebd., S. 23. 18  Ebd., S. 24.

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Zum strukturalistischen Erbe gehört offenkundig auch die Einheitlichkeit und Scharfkantigkeit, die die Foucault’schen Epistemen kennzeichnet. Auch wenn es für Foucault – im Unterschied zu Lévi-Strauss – »grundsätzlich nicht ein System, eine Regel oder eine Serie, sondern eine Pluralität von »Systemen« gibt,19 so nimmt doch jedes einzelne dieser Systeme das Aussehen einer ›ewigen‹, strukturalen Ordnung an.20 Für die Dauer ihres Auftritts (also für jeweils etwa 150 Jahre), bewahren die Epistemen eine erstaunlich einheitliche Gestalt; sie gehen nicht ineinander über, sondern stoßen aufeinander nach der Art von Eisblöcken oder Kontinentalplatten; sie sind getrennt durch scharfe Grenzen, die technisch als ›Diskontinuität‹ oder, bildhafter, als ›Bruch‹, ›Riss‹ oder ›Einschnitt‹ bezeichnet werden. Die Metaphorik der Archäologie verbindet sich hier durchgehend mit der Vorstellung einer untergründigen, ›tiefen‹, unterhalb der Erscheinungswelt wirkenden Macht der Verursachung. So wird »in der Tiefe das große Tableau der Naturgeschichte zerbrochen«;21 die klassische Repräsentation verändert sich »auf der tiefsten Ebene ihrer archäologischen Ordnung«;22 die Moderne beginnt mit einem »Bru[ch], der in seiner Tiefe die episteme der abendländischen Welt teilt«;23 und wenn der Mensch als prekäres Subjekt-Objekt des Wissens erscheint, so geschieht dies »in der tiefen Bewegung einer […] archäologischen Veränderung«.24 Die Foucault’sche Archäologie, auf dem Stand von 1966, beschränkt sich noch nicht auf die positivistische Verzeichnung von Verteilungen und Regelmäßigkeiten; sie ist deutlich darum bemüht, das Oberflächengeschehen auf eine verborgene, aber bestimmende Tiefendimension zurückzuführen. Doch lässt sich das, was sich in der Tiefe tut, nur erahnen. Warum die an der Oberfläche zu beobachtenden Verschiebungen und Neuaufteilungen des Wissens sich ergeben, warum eine Episteme in einem plötzlichen Bruch in eine neue Formation des Wissens übergeht, bleibt unklar. Angesichts der Veränderungen, durch die gegen Ende des 18. Jahrhunderts mehrere Wissenschaften »mit einem Schlag einem gleichen 19  Philipp Sarasin, Darwin und Foucault. Genealogie und Geschichte im Zeitalter der Biologie,

Frankfurt a. M., 2009, S. 151. 20  Aus einer an Piaget orientierten, »strukturgenetischen« Perspektive kritisiert Michael Kleineberg, dass Foucaults Archäologie »zwar gerade darauf angelegt« sei, »historische Strukturdifferenzen zu identifizieren«. Dabei werde jedoch »der statische Strukturalismus eines Lévi-Strauss oder eines De Saussure lediglich mit einer Anzahl ›historischer Apriori‹ (Foucault) multipliziert und damit die synchrone Analyse zwar auf mehreren archäologischen Schichten vollzogen, aber ohne die jeweiligen Übergänge im Sinne einer diachronen Betrachtung zu berücksichtigen.« Michael Kleineberg, Die elementaren Formen der Klassifikation. Ein strukturgenetischer Beitrag zur Informationsgeschichte, 2012, online verfügbar unter: http:// edoc.hu-berlin.de/series/berliner-handreichungen/2012 – 325/PDF /325.pdf. Zuletzt geprüft am 17. Oktober 2012, S. 109 – 110. 21  Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 287. 22  Ebd., S. 288. 23  Ebd., S. 307. 24  Ebd., S. 377.

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Bruch« unterworfen werden, spricht Foucault von einem »Ereignis von unterhalb«, das in grundsätzlicher Weise »das Verhältnis der Repräsentation zu dem, was in ihr gegeben ist«, umgestürzt habe.25 In einer bemerkenswerten Formulierung gesteht er zu, dass es sich dabei um ein »etwas rätselhafte[s] Ereignis« handele.26 In späteren Arbeiten, insbesondere der Archäologie des Wissens (1969), hat Foucault die archäologische Untersuchung von der Unterstellung einer verborgenen Tiefe zu befreien versucht. Geschichte sollte nicht mehr auf verborgene Tiefenstrukturen zurückgeführt, sondern in ihrer gegebenen Oberflächlichkeit, als »Ensemble tatsächlich formulierter Äußerungen« genommen werden.27 Die Geschichte der Epistemen fügte sich nun in eine allgemeine Theorie der diskursiven Hervorbringung von Wissen. Die »Formationssysteme« des Diskurses sollten nicht mehr, wie es mit den Epistemen geschehen konnte, »für unbewegliche Blöcke, für statische Formen gehalten werden, die sich von außen dem Diskurs auferlegen und ein für allemal seine Merkmale und Möglichkeiten definieren würden«.28 »Diese Systeme« ruhten vielmehr, wie Foucault betonte, »im Diskurs selbst«;29 sie beschrieben Regelmäßigkeiten des Auftretens von Aussagen, die selbst wiederum zur Regel für künftige Aussagen werden konnten. Eben dies ist es, was Foucault mit dem scheinbar paradoxen Ausdruck des »historischen Apriori« zu beschreiben versuchte:30 Die Bedingungen der Möglichkeit des Empirischen sind selbst empirisch; das Archiv als »das Gesetz dessen, was gesagt werden kann«, als »das System, das das Erscheinen der Aussagen als einzelner Ereignisse beherrscht«,31 ist selbst nichts anderes als das Produkt vorangegangener Aussageereignisse; es bildet eine historische gewordene Struktur und kein ›formales‹, überzeitliches Apriori. Auf die Frage nach dem ›Woher‹ der Einteilungssysteme, nach dem Grund ihres Auftauchens und Verschwindens, ließ sich nun eine weniger rätselhafte Antwort geben: Die Abfolge der Ordnungen folgt der Eigendynamik der Diskurse, durch die diese Systeme ständig erzeugt und umgearbeitet werden. Neue Einteilungsweisen des Wissens, neue Ordnungen der Dinge verdanken sich nicht einem geheimnisvollen »Ereignis von unterhalb«; sie gehen auf innerdiskursive 25  Ebd., S. 294. 26  Ebd. 27  Michel Foucault, »Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben« (1967), in: ders.,

Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Bd. 1, Frankfurt a. M., 2005, 750 – 769, S. 758. 28  Michel Foucault, Archäologie des Wissens (1969), Frankfurt a. M., 1986, S. 108. 29  Ebd., S. 108. 30  Vgl. ebd., S. 184: »Diese beiden Worte nebeneinander rufen eine etwas schrille Wirkung hervor; ich will damit ein Apriori bezeichnen, das nicht Gültigkeitsbedingung für Urteile, sondern Realitätsbedingung für Aussagen ist. [..] Ein Apriori nicht von Wahrheiten, die niemals gesagt werden oder wirklich der Erfahrung gegeben werden könnten; sondern einer Geschichte, die gegeben ist, denn es ist die der wirklich gesagten Dinge.« 31  Ebd., S. 187.

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Verschiebungen zurück, die eine neue »Positivitätsform« schaffen und damit alle künftigen Diskursereignisse unter neue »Ausübungsbedingungen« stellen.32 So wie man nun von Diskursformationen sagen konnte, dass sie sich aus der Summierung von Diskursereignissen ergaben, so ließ sich von Klassifikationen sagen, dass sie aus Klassifizierungsereignissen hervorgingen. Wie Aussageereignisse, so konnten auch Klassifizierungsakte sich in das bestehende System fügen und es auf diese Weise bestätigen und verfestigen; sie konnten es aber auch, indem sie neue Einteilungen schufen oder einer Unterscheidung ein anderes Gewicht oder eine andere Funktion gaben, modifizieren, untergraben und letztendlich zerstören. So wie diese Erklärung jeden Bezug auf eine verborgene Tiefenstruktur vermied, so vermied sie auch jeden Bezug auf mögliche außerdiskursive Ursachen: Diskurse bildeten komplizierte Serien von Ereignissen, die sich zu autonomen, selbstreferentiellen Durchsetzungssystemen verdichteten, doch bestanden diese Serien und Systeme nur aus einem Ereignistyp, nämlich Aussagen. Nur diskursive Ereignisse konnten an diskursive Ereignisse anschließen, und nur diskursive Ereignisse konnten Diskurssysteme hervorbringen.

Nicht so klassifiziert zu werden Foucault selbst hat es in einem 1971 geführten Interview als einen »Mangel« der Archäologie des Wissens bezeichnet, dass sie »die Beziehungen zwischen den diskursiven und den sozialen und ökonomischen Formationen […] im Dunkeln gelassen« habe.33 Mit der genealogischen Neuorientierung seiner Arbeit, die mit dem Aufsatz über Nietzsche, die Genealogie, die Historie (1971) einsetzt, versucht Foucault, über »das Vorhaben einer reinen Beschreibung der diskursiven Ereignisse« hinauszugehen.34 Die Analyse der synchronen Streuung, Verteilung und Verdichtung von Aussagen wird nicht aufgegeben (daher ist es auch übertrieben zu sagen, Foucault habe »das Bemühen, eine Diskurstheorie zu entwickeln, plötzlich fallen« gelassen 35); doch wird nun, mit Nietzsche, die Gewalt der Regelsysteme hervorgehoben, und es wird nach den ebenfalls gewaltsamen »Mächten« gefragt, die sie hervorbringen: 32  Vgl. ebd., S. 184. 33  Michel Foucault, »Gespräch mit Michel Foucault. Gespräch mit J. G. Merquior und S.

P. Rouanet« (1971), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Bd. 2, Frankfurt a. M., 2005, 191 – 211, S. 191. 34  Foucault, Archäologie des Wissens, S. 41. 35  Hubert L. Dreyfus u. Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik (1982), Frankfurt a. M., 1987, S. 21. Zur Kritik der Trennung von Archäologie und Genealogie vgl. Petra Gehring, Foucault – Die Philosophie im Archiv, Frankfurt a. M., New York, 2004, S. 132: »Die beiden Zugänge sind zwar verschieden, jedoch muss man weder von der Archäologie Abschied nehmen, um ›genealogisch‹ zu arbeiten, noch schließen sich archäologische und genealogische Fragestellungen in irgendeiner Weise gegenseitig aus.«

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Die Regeln selbst sind leer, gewalttätig, nicht zweckbezogen; sie können jedem Zweck dienen und lassen sich von jedem für seine Zwecke nutzen. Das große Spiel der Geschichte dreht sich um die Frage, wer sich der Regeln bemächtigt; wer an die Stelle derer tritt, die sie für sich nutzen; wer sie am Ende pervertiert, in ihr Gegenteil verkehrt und gegen jene wendet, die sie einst durchsetzten; wer in den komplizierten Apparat eindringt und ihn so funktionieren lässt, dass die bisherigen Herrscher nun von ihnen beherrscht werden.36

Deutlicher als in der neutralen Bestandsaufnahme des Archäologen werden in der perspektivischen, parteiischen Betrachtung des Genealogen die geschichtlichen Ordnungs- und Einteilungssysteme als »Unterwerfungssysteme« kenntlich;37 zugleich wird greifbar, dass auch ihre ›Herkunft‹ oder ›Entstehung‹ vor dem Hintergrund eines unaufhörlichen Kampfs um Herrschaft zu sehen ist. Veränderungen in einer klassifikatorischen Ordnung lassen sich demnach nicht allein auf die Dynamik diskursiver Ereignisse zurückführen; es müssen vielmehr auch jene äußeren Mächte in den Blick genommen werden, die sich »mit Gewalt und List eines Regelsystems […] bemächtigen, um »es in den Dienst eines neuen Willens zu stellen«.38 Während Foucaults Archäologie, wie er selber sagt, »auf einer rein beschreibenden Ebene« verblieb, »die jede Analyse von Machtverhältnissen, die der Erscheinung eines Diskurstyps zugrunde liegen und ihn ermöglichen, unberücksichtigt lässt«,39 stellt die Genealogie explizit die Frage nach den »Beziehungen zwischen dem diskursiven und dem nichtdiskursiven Bereich« 40. Mit dem »Spiel der Herrschaftsbeziehungen« 41 entdeckt Foucault zugleich eine Ebene der Untersuchung wieder, die in den Arbeiten zum Wahnsinn und zur Klinik eine besondere Rolle gespielt hatte, in der Archäologie des Wissens jedoch systematisch ausgeklammert worden war, nämlich die Analyse der Sichtbarkeiten. Gilles Deleuze hat darauf hingewiesen, dass man »die Vorstellung, die Foucault sich von der Geschichte macht« vollkommen verfehlen würde, wenn man vergäße, dass seiner Theorie der Sagbarkeiten, d. h. der Diskurse, immer auch eine »Theorie der Sichtbarkeiten«, d. h. der historischen Bedingungen der Möglichkeit des Sichtbaren korrespondiert.42 Während aber die Archäologie des Wissens »der Aussage einen radikalen 36  Michel Foucault, »Nietzsche, die Genealogie, die Historie« (1971), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Bd. 2, Frankfurt a. M., 2005, 166 – 191, S. 177. 37  Ebd., S. 175. 38  Ebd., S. 178. 39  Michel Foucault, »Von der Archäologie zur Dynastik. Gespräch mit S. Hasumi« (1973), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Bd. 2, Frankfurt a. M., 2005, 504 – 518, S. 510. 40  Foucault, »Über verschiedene Arten, Geschichte zu schreiben«, S. 757. 41  Foucault, »Nietzsche, die Genealogie, die Historie«, S. 175. 42  Gilles Deleuze, Foucault (1986), Frankfurt a. M., 1987, S. 72.

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Primat« zuspricht,43 werden in den Arbeiten der genealogischen Periode, allen voran Überwachen und Strafen (1975), die Formen der Sichtbarkeit als ein eigener, nicht auf die Formen der Sagbarkeit zu reduzierender Bereich erschlossen. Der Begriff, der eine solche Parallelanalyse von Sag- und Sichtbarkeiten ermöglichen wird, ist der des Dispositivs. Foucault verwendet den Begriff durchgehend in Surveillir et punir;44 eine praktikable Definition findet sich in einem späteren Interview: Das, was ich mit diesem Begriff zu bestimmen versuche, ist […] eine entschieden heterogene Gesamtheit, bestehend aus Diskursen, Institutionen, architektonischen Einrichtungen, reglementierenden Entscheidungen, Gesetzen, administrativen Maßnahmen, wissenschaftlichen Aussagen, philosophischen, moralischen und philanthropischen Lehrsätzen, kurz, Gesagtes ebenso wie Ungesagtes, das sind die Elemente des Dispositivs.45

Durch diese Erweiterung des Untersuchungsfeldes ist es möglich, die Frage nach den klassifikatorischen Einteilungen, nach ihrer Herkunft und Wirksamkeit, in neuer Weise zu stellen. Klassifikationen sind nicht nur Systeme zur Einteilung von Wissensbeständen, die Macht dadurch ausüben, dass sie die Möglichkeiten des Denkens begrenzen und ins Undenkbare verweisen, was nicht ihrer Ordnung entspricht; es sind zugleich Systeme zur Beherrschung von Menschen, zur Disziplinierung der Körper und Formierung der Seelen. Die Analyse der Dispositive offenbart den technischen Charakter der Macht; sie zeigt, dass die Ausübung der Herrschaft wesentlich daran gebundenen ist, mit instrumentellen Mitteln Wirklichkeit zu produzieren. Wenn es darum geht, die »Technologie der Macht«,46 die »politisch[e] Technologie des Körpers«,47 die »Mikrophysik der Macht« zu erfassen,48 die durch die strategischen Vorkehrungen der Herrschaft in Gang gesetzt wird, kann eine »archäologische Aussagenanalyse« nicht mehr genügen; sie muss durch eine »Archäologie der Techniken, eine Technikanalyse« 43  Ebd., S. 71. 44  Auch wenn der Ausdruck ›Dispositiv‹ in der Apparatustheorie des Kinos bereits ver-

wendet wurde, war er Ende der 1970er Jahre im Deutschen offenbar noch nicht geläufig genug, um als stehender Begriff übernommen zu werden. In der durch Walter Seitter erstellten, 1977 erschienenen deutschen Übersetzung von Surveiller et punir wird »dispositif« mit Ausdrücken wie »vorhergesehen[e] Techniken und Maßnahmen« umschrieben, vgl. Michel Foucault, Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses (1975), Frankfurt a. M., 1977, S. 169. 45  Michel Foucault, »Das Spiel des Michel Foucault. Gespräch mit D. Colas, A. Grosrichard, G. Le Gaufey, J. Livi, G. Miller, J. Miller, J.-A. Miller, C. Millot, G. Wajeman« (1977), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Bd. 3, Frankfurt a. M., 2005, 391 – 429, S. 392. 46  Foucault, Überwachen und Strafen, S. 34. 47  Ebd., S. 34. 48  Ebd., S. 38.

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ergänzt werden.49 Und diese Technikanalyse wird, wie Foucault selbst bemerkt, von einem weiten und flexiblen Technikbegriff ausgehen müssen, denn »diese Technologie ist diffus, in zusammenhängenden und systematischen Diskursen kaum formuliert; sie setzt sich aus Stücken und Stückchen zusammen; sie arbeitet mit disparaten Werkzeugen und Verfahren; trotz der Kohärenz ihrer Resultate ist sie häufig ein vielgestaltiger Prozeß«.50 Weit davon entfernt, lediglich epistemische Instrumente darzustellen, werden die Verfahren der Klassifikation als »Machtinstrumente« kenntlich.51 Die »zeitgenössischen Techniken der Klassifizierung und Tabellierung« verbinden sich unauflöslich mit den »Prozeduren der Disziplinargliederung«,52 der Prüfung und Überwachung, aus denen sich im 17. und 18. Jahrhundert das Regime der Disziplinargesellschaft zusammensetzt. Es sind die gesichtslosen und allgegenwärtigen Verfahren der »hierarchische[n] Überwachung«, der »lückenlose[n] Registrierung«, der »immerwährende[n] Beurteilung und Klassifizierung« 53, die jenes »Wissen von den unterworfenen Subjekten« konstituieren,54 das die Grundlage ihrer sicheren Beherrschung bilden soll. Ein wesentliches Element in dieser Kaskade von Einteilungsverfahren ist die »Prüfung«, die »die Techniken der überwachenden Hierarchie mit denjenigen der normierenden Sanktion« verbindet: »Sie ist ein normierender Blick, eine qualifizierende, klassifizierende und bestrafende Überwachung. Sie errichtet über den Individuen eine Sichtbarkeit, in der man sie differenzierend behandelt. Darum ist in allen Disziplinaranstalten die Prüfung so stark ritualisiert.« 55 Wie eng die Disziplinartechniken mit dem Projekt der Klassifikation verschränkt sind, ergibt sich nicht zuletzt daraus, dass sie sich nicht damit begnügen, tabellarische Repräsentationen von Individuen zu erstellen. Anstatt nur auf dem Papier Ordnung zu schaffen, zielen die Disziplinarverfahren vielmehr darauf, die Individuen selbst in Tabellenform zu bringen oder, wie Foucault sich ausdrückt, sie zu »lebenden Tableaus« zu arrangieren.56 Dies geschieht, indem sie »komplexe Räume aus Architektur, Funktionen und Hierarchien« bilden, die als zwingende Anordnungen »die ›Plätze‹ und die ›Ränge‹ organisieren«, an denen die Individuen sich einzufinden haben.57 Es gibt also so etwas wie ›gebaute Klassifikationen‹ bzw. Räume, denen die Funktion der Klassifizierung gleichsam eingebaut ist. Foucault kennzeichnet sie treffend als »Mischräume«: »sie sind real, da sie die Anlage der 49  50  51  52  53  54  55  56  57 

Gehring, Foucault – Die Philosophie im Archiv, S. 124. Foucault, Überwachen und Strafen, S. 37. Ebd., S. 282. Ebd., S. 200. Ebd., S. 282 – 283. Ebd., S. 283. Ebd., S. 238. Ebd., S. 190. Ebd., S. 190.

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Gebäude, der Säle, der Möbel bestimmen; sie sind ideal, weil dieser Anordnung Charakterisierungen, Schätzungen, Hierarchien entsprechen.« 58 Ein früh verwirklichtes Beispiel für einen solchen disziplinarischen Klassifikationsraum ist das Klassenzimmer. Foucault zitiert einen Unterrichtsreformer des 18. Jahrhunderts, der »von einer Klasse« träumte, »deren räumliche Ordnung gleichzeitig eine Reihe von Unterscheidungen gewährleisten könnte: die Unterscheidungen nach dem Fortschritt der Schüler, nach dem Wert eines jeden, nach ihrem Charakter, nach ihrem Eifer, nach ihrer Sauberkeit und nach dem Vermögen der Eltern.« 59 So sollte dafür gesorgt werden, dass »diejenigen, deren Eltern nachlässig sind und Ungeziefer haben, von denen getrennt sind, die sauber sind und keines haben; daß ein leichtsinniger und flatterhafter Schüler zwischen zwei vernünftigen und gesetzten Schülern sitzt, ein liederlicher Schüler entweder allein oder zwischen zwei frommen Schülern«.60 Vor allem aber ist es das Benthamsche Panopticon, an dem Foucault zeigen kann, wie die »sublimen Unterteilungen der Disziplin« »architektonische Gestalt« annehmen.61 Wenn die »Hauptwirkung des Panopticon« darin besteht, einen »bewußten und permanenten Sichtbarkeitszustan[d] beim Gefangenen« zu schaffen, »der das automatische Funktionieren der Macht sicherstellt«,62 so besteht eine zweite wichtige Funktion darin, die Menge der Insassen in eine klassifikatorische Ordnung zu bringen, die ganz dem Modell der naturgeschichtlichen Einteilung entspricht. Daher die Nähe der panoptischen Institutionen zu den Beobachtungsdispositiven der barocken Naturgeschichte, den Menagerien und botanischen Gärten: »Zur Zeit von Bentham war diese Menagerie bereits verschwunden. Aber im Programm des Panopticon findet man dieselbe Bemühung um individualisierende Beobachtung, um Charakterisierung und Klassifizierung, um analytische Aufteilung des Raumes.« 63 Die panoptischen Institutionen sind also nicht nur Instrumente der Disziplinierung, es sind ebenso Dispositive der »Naturforschung«, Vorrichtungen, um »strenge Klassifizierungen« vorzunehmen.64 Von Interesse sind sie nicht so sehr als »Milieus der Einsperrung«, sondern als »verstreute Orte der Sichtbarkeit, die sich auf eine äußerliche Funktion beziehen, das Aussondern, das Parzellieren«.65 Mit Foucault lassen sich auf diese Weise nicht nur Ordnungen des Wissens im Hinblick auf ihre Räumlichkeit, auf die ihnen zugrundeliegenden Operationen der Anordnung und Teilung beschreiben. Umgekehrt lassen sich räumliche An58  59  60  61  62  63  64  65 

Ebd., S. 190. Ebd., S. 189. J.-B. de la Salle, Conduite des écoles chrétiennes, B. N. Ms. 11759, S. 248 f., zit. nach ebd. Ebd., S. 256. Ebd., S. 258. Ebd., S. 261. Ebd. Deleuze, Foucault, S. 85.

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ordnungen aller Art, auch solche, die zunächst nichts mit Wissen oder Wissenschaft zu tun zu haben scheinen, nach ihrer epistemischen Funktion befragen, nach den Einteilungen des Wissens und den Perspektiven des Erkennens, die sie hervorbringen, nach dem, was sie sichtbar machen und was sie aus dem Bereich des Sicht- und Sagbaren verbannen. So wie Klassifikationen als Räume begriffen werden müssen, können umgekehrt Räume auch als Klassifikationen gefasst werden. In Foucaults Analysen, nicht nur denen von Überwachen und Strafen, wird diese Verschränkung von Raum und Klassifikation immer wieder mehr oder weniger explizit vorgeführt.66 So lässt sich beispielsweise die Entstehung des Sexualitätsdispositivs in einem räumlichen Sinn als eine »neue Verteilung der Lüste, der Diskurse, der Wahrheiten und der Mächte« beschreiben.67 Die Redeweise von der Verteilung ist dabei keineswegs nur metaphorisch. Foucault weist ausdrücklich darauf hin, durch welche konkreten, raumteilenden Praktiken diese »Neuaufteilung« hervorgebracht wird, nämlich durch bestimmte Techniken der »Analyse, Buchführung, Klassifizierung und Spezifizierung«,68 oder, allgemeiner, durch »die breite Verstreuung von Apparaten, die erfunden wurden, um vom Sex zu sprechen oder sprechen zu lassen, um zu erreichen, daß er von sich selber spricht und um alles anzuhören, aufzuzeichnen, zu übertragen und neuzuverteilen, was er von sich sagt«.69 Foucault selbst hat die Frage nach der Gewalt, aber auch der Produktivität der klassifikatorischen Einteilungen mit dem Programm einer »historischen Ontologie« verbunden – ein Ausdruck, den man vielleicht mit »Genealogie der Seinsweisen« übersetzen könnte. Anfang der 1980er Jahre spricht Foucault von der Möglichkeit, eine »historische Ontologie unserer selbst« 70 zu entwerfen, die zugleich eine »Ontologie der Gegenwart«, eine »Ontologie der Aktualität«, eine »Ontologie der Moderne« wäre.71 Gemeint ist eine historische Analyse, die diesmal 66  So weist Foucault in dem 1967 gehaltenen Vortrag über »Andere Räume« darauf hin, wie das »Problem des Platzes oder der Lage« in der zeitgenössischen »Demographie« wirksam wird, nämlich in Form der »Frage, welche Nachbarschaftsbeziehungen, welche Form der Speicherung, der Zirkulation, des Auffindens und der Klassifikation der menschlichen Elemente in bestimmten Situationen eingesetzt werden sollten, wenn man bestimmte Ziele erreichen will«. Michel Foucault, »Von anderen Räumen« (1967), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Bd. 4, Frankfurt a. M., 2005, 931 – 942, S. 933. 67  Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 148. 68  Ebd., S. 35. 69  Ebd., S. 48. 70  Michel Foucault, »Zur Genealogie der Ethik. Ein Überblick über die laufende Arbeit. Gespräch mit H. Dreyfus und P. Rabinow«, in: Hubert L. Dreyfus u. Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a. M., 1987, 265 – 292, S. 275. 71  Michel Foucault, Die Regierung des Selbst und der anderen. Vorlesung am College de France 1982/83, Frankfurt a. M., 2009, S. 39.

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nicht die Möglichkeitsbedingungen von Wissen, sondern von Lebensweisen ins Auge fassen soll.72 Wenn die Foucault’sche Genealogie die spezifischen Machtwirkungen der epistemisch-räumlichen Einteilungen freizulegen versucht, so geschieht dies nicht allein um der wissenschaftlichen Erkenntnis willen, sondern immer auch im Hinblick auf eine politische Haltung der Klassifikationskritik. Dabei geht es nicht um die – unmögliche – Forderung, jede Klassifizierung zu vermeiden, sondern um die pragmatische Frage, gegen welche Klassifizierungen es sich zu kämpfen lohnt. Das Problem lässt sich in vollkommenem Einklang mit Foucaults Bestimmung von »Kritik« als »Kunst nicht dermaßen regiert zu werden« formulieren:73 »Wie ist es möglich, daß man nicht derartig, im Namen dieser Prinzipien da, zu solchen Zwecken und mit solchen Verfahren regiert [klassifiziert] wird – daß man nicht so und nicht dafür und nicht von denen da regiert [klassifiziert] wird?« 74

Mikropolitik und Klassenpolitik Angesichts seines Misstrauens gegenüber allen Formen der disziplinarischen Einordnung und der Identitätsfestlegung war es nicht verwunderlich, dass Foucault der marxistischen Klassenanalyse, die durch klare Frontbildung ein übersichtliches Feld zu schaffen versuchte, nicht viel abgewinnen konnte. Tatsächlich scheinen die Positionen kaum vereinbar zu sein: Die Marx’sche Analyse interessiert sich zwar stellenweise (so z. B. wenn es um die Fabrikdisziplin geht) für die Wirksamkeit hierarchischer Einordnungspraktiken, betrachtet diese aber nur als notwendige Erscheinungsweisen der tieferliegenden ökonomischen Spaltung zwischen Lohnarbeit und Kapital. Umgekehrt richtet Foucault seine ganze Aufmerksamkeit auf die Macht-Wissens-Prozeduren, durch die in der gesellschaftlichen Praxis effektiv Unterschiede zwischen den Menschen hergestellt werden, weigert sich aber, die ungleichen Verteilungen auf eine letzte, ökonomische Ursache zurückzuführen. Wie Jacques Bidet formuliert hat, erscheint »die Hierarchie« im Marxismus nur »als Begleiterscheinung des kapitalistischen Systems«; für Foucault bilde sie dagegen »ein theoretisches Objekt, das um seiner selbst willen betrachtet werden muss«. In ihr habe er eine »neue Ordnung der Macht« gefunden, eine »Wissensmacht [knowledge-power] im Unterschied zur ›Besitzermacht‹ [proprietor-power]«.75

72  Vgl. ebd.: »Diese andere kritische Tradition stellt nicht die Frage nach den Bedingungen,

unter denen eine wahre Erkenntnis möglich ist. Sie ist eine Tradition, die folgende Fragen stellt: Was ist die Gegenwart? Was ist das gegenwärtige Feld unserer Erlebnisse? Was ist das gegenwärtige Feld möglicher Erlebnisse?« 73  Michel Foucault, Was ist Kritik? (1990), Berlin, 1992, S. 12. 74  Ebd., S. 11 – 12. 75  Jacques Bidet, Foucault with Marx, London, 2016, S. 31.

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Zumindest in den Jahren nach 1968 hat Foucault die Divergenz der theoretischen Orientierungen nicht betont; für diese Zeit lässt sich eher von einer Art friedlicher Koexistenz oder einer »Arbeitsteilung« 76 zwischen marxistischer Klassenanalyse und mikropolitischer Analyse der Machtwirkungen sprechen. Die Rede von Klassen lehnt Foucault in diesen Jahren keineswegs ab. Anlässlich eines Besuchs in den USA spricht er von der Wiederentdeckung eines Sinns für soziale Ungleichheit, der ihm durch das Leben im sozialstaatlich pazifizierten Europa abhandengekommen sei: Ich war sogar nahe daran, zu glauben, das Proletariat sei zur Mittelschicht geworden, die Armen wären nahezu verschwunden, und der soziale Konflikt, der Konflikt zwischen den Klassen, stehe daher vor seinem Ende. Als ich aber in New York plötzlich wieder diesen frappierenden Kontrast sah, den es überall gibt, der für mich aber hinter den vertrauten Formen verschwunden war, da kam mir gewissermaßen eine zweite Erleuchtung: Der Klassenkonflikt ist immer noch da; er hat sich sogar zugespitzt.77

In Foucaults Überwachen und Strafen gibt es zahlreiche positive Bezugnahmen auf Marx, insbesondere auf dessen Darstellung der Manufaktur und des Fabriksystems.78 Im ersten Band von Sexualität und Wahrheit postuliert Foucault sogar eine Klassengeschichte der Sexualität. Wenn es darum gehe, die von der Psychoanalyse kolportierte Vorstellung einer geschichtslosen Sexualität zu bestreiten, müsse man, so Foucault, »wieder zu Formulierungen zurückkehren, die seit langem in Verruf sind. Man muß sagen, daß es eine bürgerliche Sexualität gibt, daß es Klassensexualitäten gibt. Oder vielmehr daß die Sexualität in ihrem historischen Ursprung bürgerlich ist und daß sie in ihren sukzessiven Verschiebungen und Übertragungen zu spezifischen Klasseneffekten führt.« 79 In einem 1977 geführten Interview hat er auch nichts dagegen, seine Machtanalyse in marxistischen Termini reformuliert zu sehen. Der Formulierung, dass Macht keine »Überbaustruktur«, sondern »gewissermaßen von gleicher Substanz wie die Entwicklung der Produktivkräfte« sei, stimmt Foucault ausdrücklich zu: »Ganz genau. Und sie formt sich kontinuierlich mit ihnen um.« 80

76  Ebd., S. 21. 77  Michel Foucault, »Gespräch mit Michel Foucault. Gespräch mit J. K. Simon, 1971«, in:

ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Bd. 2, Frankfurt a. M., 2005, 222 – 235, S. 231. 78  Vgl. Bidet, Foucault with Marx, S. 22. 79  Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 153. 80  Michel Foucault, »Das Auge der Macht. Gespräch mit J.-P. Barou und M. Perrot« (1977), in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Bd. 3, Frankfurt a. M., 2005, 250 – 271, S. 265 – 266.

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Es ist offensichtlich, dass Foucault in dieser Zeit, in der er eng mit den linksradikalen Bewegungen verbunden war, es nicht darauf anlegte, sich gegen den Marxismus zu stellen. In Überwachen und Strafen erscheint die Analyse der Machtdispositive als eine Untersuchung, die zwar eine andere Dimension des Sozialen ins Auge fasst als die Analyse der Klassenverhältnisse, diese jedoch eher ergänzt als bestreitet. So spricht Foucault davon, dass die »unscheinbaren Disziplinen, die alltäglichen Panoptismen […] zusammen mit der sie durchkreuzenden Klassenherrschaft« die untergründige »Genealogie der modernen Gesellschaft« bestimmen (ganz im Unterschied zu den »Rechtsnormen der Machtverteilung«, die lediglich deren sichtbare Oberfläche oder ideologische Fassade bildeten).81 Eine Verbindung der beiden Forschungsrichtungen, von Klassenanalyse und Mikropolitik, hat Foucault jedoch nicht angestrebt; er zog zwar nicht in Zweifel, dass es ökonomische Ausbeutung gibt und dass ökonomische Verhältnisse etwas mit politischer Herrschaft zu tun haben, war aber weder gewillt, seine Machtanalysen in den Dienst einer marxistischen Ökonomiekritik zu stellen, noch zeigte er den Ehrgeiz, die Theorie der ökonomischen Ungleichheit mikropolitisch neu zu interpretieren.82 Bei Foucault findet sich daher keine ausgearbeitete Kritik des marxistischen Klassenparadigmas; seine Stellungnahmen zum Klassenbegriff beschränken sich auf gelegentliche spitze Bemerkungen, meist anlässlich von Interviews, in denen er um direkte politische Positionierung gebeten wurde. So weist er immer wieder darauf hin, dass das marxistische Raster der Klasse zu grob sei, um das mikrologische Funktionieren der Machtmechanismen zu erfassen. Wenn »die Macht im westlichen Kapitalismus von den Marxisten als Klassenherrschaft denunziert« wurde, so sei dabei »der Mechanismus der Macht […] niemals analysiert« worden. Dies sei »erst nach 68 möglich« geworden, »ausgehend von den täglichen Kämpfen an der Basis, die mit denen geführt wurden, die sich in den allerfeinsten Maschen des Machtnetzes verfangen hatten«.83 Statt bestimmte Instanzen zu unterstellen (wie den Staat oder die herrschende Klasse), in denen die Macht einseitig konzentriert sei, komme es vielmehr darauf an, den Wirkungsweisen und Effekten der Macht im gesellschaftlichen Feld auf die Spur zu kommen:

81  Foucault, Überwachen und Strafen, S. 283. 82  Vgl. Bidet, Foucault with Marx, S. 143: »Er verlässt sich auf das, was schon vor ihm über

Klassen gesagt wurde (sowie, zumindest in diesem Sinne, über den Staat als Klassenstaat): Er spricht von ihnen als etwas, das jeder weiß und das deshalb […] nicht sein Problem ist. Was er sagt, ist im Wesentlichen dies: ›Natürlich gibt es Strukturen im Hintergrund, aber ich werde mit Euch über etwas anderes reden.« 83  Michel Foucault, »Wahrheit und Macht. Interview mit Michel Foucault von Alessandro Fontana und Pasquale Pasquino«, in: ders., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin, 1978, 21 – 54, S. 30 – 31.

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Und wenn ich das Funktionieren der Macht erwähne, dann beziehe ich mich nicht nur auf das Problem des Staatsapparats, der herrschenden Klasse und der hegemonialen Kasten…, sondern auf eine ganze Reihe immer kleinerer, mikroskopischer Mächte, die auf die Individuen in ihren alltäglichen Verhaltensweisen und bis in ihre eigenen Körper hinein ausgeübt werden. Wir leben eingetaucht ins politische Netz der Macht, und eben diese Macht steht in Frage.84

Mit dieser mikrologischen Betrachtungsweise deutet sich auch die Möglichkeit an, die Klassen, die in der marxistischen Theorie als historische Akteure und Träger von Macht erscheinen, selbst als Produkte oder Effekte von Machtkämpfen zu begreifen: Eine herrschende Klasse, das ist keine Abstraktion, aber ebensowenig eine vorfindliche Gegebenheit. Daß eine Klasse zur herrschenden Klasse wird, daß sie ihre Herrschaft absichert und daß diese Herrschaft sich verewigt, das ist eben doch die Wirkung einer ganzen Reihe von wirksamen und durchdachten Taktiken, die im Rahmen großangelegter Strategien funktionieren, die diese Herrschaft absichern.85

Während das Konzept der Klasse, insbesondere in seiner ›soziologischen‹ Form, d. h. als gesellschaftlicher Sortierbegriff, bei Foucault erkennbaren Widerwillen hervorrief, war das marxistische Konzept des Klassenkampfs eher dazu geeignet, sein Interesse zu wecken. Als nietzscheanischer Bellizist, für den der Frieden nur »eine Form des Krieges« darstellte,86 konnte sich Foucault dem Charme des Wortes ›Kampf‹ nicht entziehen. Doch eine Auffassung, wie sie ihm gefallen hätte, nach der nämlich »die vom Klassenkampf durchdrungene bürgerliche Gesellschaft die Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln« wäre,87 konnte er bei den Marxisten nicht finden. Im Hinblick auf die »marxistischen Analysen« beklagt er, dass dort »zwar ständig vom ›Klassenkampf‹ die Rede« sei, »dass man dabei jedoch »der einen Hälfte des Ausdrucks, nämlich dem ›Kampf‹, kaum Beachtung« schenke.88 Sobald die Marxisten »vom ›Klassenkampf‹ als allgemeiner Triebkraft 84  Michel Foucault, »Irrenanstalten. Sexualität. Gefängnisse. Gespräch mit M. Almeida, R. Chneiderman, M. Faerman, R. Moreno, M. Taffarel-Faerman in São Paulo, 1975«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Bd. 2, Frankfurt a. M., 2005, 955 – 970, S. 955. 85  Michel Foucault, »Ein Spiel um die Psychoanalyse. Gespräch mit Angehörigen des Département de Psychanalyse der Universität Paris VII in Vincennes«, in: ders., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin, 1978, 118 – 175, S. 133 – 134. 86  Foucault, »Wahrheit und Macht«, S. 40. 87  Foucault, »Ein Spiel um die Psychoanalyse«, S. 140 – 141. 88  Michel Foucault, »Nein zum König Sex. Gespräch mit Bernard-Henry Levy«, in: ders., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin, 1978, 176 – 198, S. 197.

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der Geschichte« sprächen, befassten »sie sich vorwiegend damit, was die Klasse ist, wo sie steht, wen sie umfaßt – nie damit, wie der Kampf konkret aussieht«.89 Der marxistischen Theorie der Klassenkämpfe ist demnach vorzuwerfen, dass sie die reale Vielfalt der gesellschaftlichen Antagonismen auf eine binäre Frontstellung reduziert und einer dialektischen Logik des Widerspruchs unterwirft, die immer auf die gleiche Geschichte hinausläuft. »Im Marxismus«, so fasst Geoffroy de Lagasnerie die Foucault’sche Sicht zusammen, »absorbiert der Klassenkampf alle anderen Kämpfe. Jeder Kampf, der in der gesellschaftlichen Welt auftaucht, wird als Inkarnation oder Wiederholung eines allgemeineren Kampfes wahrgenommen. Es gibt niemals eine singuläre Macht oder eine Macht des Singulären, da es die gleiche Szene ist, die im täglichen Leben, in jedem Kampf aufgeführt wird. Die soziale Welt ist eine Bühne, auf der beständig die große Geschichte vom Klassenkampf zwischen dem Proletariat und der Bourgeoise aufgeführt wird.« 90 Für einen Analytiker der gesellschaftlichen Kämpfe, wie Foucault ihn entwarf, handelte es sich entsprechend darum, sich von solchen vorgefassten Plots zu verabschieden, um die »kleine, platte und empirische, gewissermaßen als Spähtrupp vorgeschickte Frage« stellen zu können: »Wie spielt sich das ab?« 91 Was damit in den Blick kommt, ist eine »Unendlichkeit von Kämpfen, die jederzeit stattfinden«,92 – Kämpfe, die von den Marxisten vernachlässigt werden, weil sie nicht notwendiger Weise an die Ökonomie gebunden sind und damit nicht dem gewohnten Raster des Klassenkampfs entsprechen. Ein wenig könnte es so scheinen, als würde Foucault mit seiner Zurückweisung allgemeiner Prinzipien oder Leitlinien des Kampfes die gesellschaftlichen Kämpfe auf die Ebene von individuellen Auseinandersetzungen herunterziehen. Tatsächlich hat Foucault auf die Frage »Wer kämpft gegen wen?« die naheliegende Antwort gegeben: »Wir kämpfen alle gegen alle.« 93 Doch weil es »immer irgendetwas in uns« gibt, »das etwas anderes in uns bekämpft«,94 können auch die Individuen nicht als die grundlegenden Einheiten des gesellschaftlichen Kampfs identifiziert werden. Auf die Frage von Jacques-Alain Miller, ob es nicht doch »zuguterletzt die Individuen sind, die das erste und das letzte Glied bilden«, gibt Foucault die bemerkenswerte Auskunft: »Die Individuen, und sogar die Sub-Individuen.« 95 Statt einer geordneten Auseinandersetzung mit identifizierbaren, personellen 89  Ebd. 90  Geoffroy de Lagasnerie, »What does it mean to think?«, in: François Caillat, Foucault

against himself. Featuring Leo Bersani, Georges Didi-Huberman, Arlette Farge, Geoffroy de Lagasnerie, Vancouver, 2015, 111 – 148, S. 129. 91  Michel Foucault, »Wie wird Macht ausgeübt?«, in: Hubert L. Dreyfus u. Paul Rabinow, Michel Foucault. Jenseits von Strukturalismus und Hermeneutik, Frankfurt a. M., 1987, 251 – 261, S. 251. 92  Lagasnerie, »What does it mean to think?«, S. 129. 93  Foucault, »Ein Spiel um die Psychoanalyse«, S. 141. 94  Ebd. 95  Ebd., S. 141 – 142.

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Akteuren hat man es demnach mit einem chaotischen Schlachtgetümmel zu tun, in dem nicht nur ›jeder gegen jeden‹ kämpft, sondern in dem auch jedes einzelne Subjekt zum Austragungsort der diversesten subindividuellen Machtkämpfe wird. ›Klasse‹ stand für Foucault offenbar so sehr für die falsche Vereinheitlichung der gesellschaftlichen Kämpfe, dass er darauf verzichtete, dem Klassenthema einen mikropolitischen Dreh zu geben (eine Wendung, die im Fall des Machtbegriffs durchaus funktioniert hatte). So findet sich bei ihm kein Versuch einer ›aufsteigenden Analyse‹, der zeigen würde, wie sich der ›große‹, makropolitische Klassenbegriff aus einer Vielzahl ›kleiner‹, unscheinbarer Klassenbildungsvorgänge zusammensetzen würde. Mit der gleichen nominalistischen Nonchalance, mit der Foucault sagen konnte, dass die Macht »nur der Name« sei, »den man einer komplexen strategischen Situation in einer Gesellschaft gibt«,96 hätte er auch sagen können, dass ›Klasse‹ nur der Name sei, den man einer komplizierten Situation von Klassenbeziehungen gibt. Ebenso hätte er dem Satz »Die Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere« 97 den Zwillingssatz ›Die Klassenverhältnisse durchziehen das Körperinnere‹ an die Seite stellen können, – eine Formel, die in den körperinteressierten 1970er Jahren unmittelbar eingeleuchtet hätte.98 Foucaults Verhältnis zu Marx’ ökonomischer Analyse und zum marxistischen Klassenbegriff blieb, in Jacques Bidets Worten, von einer »entschiedenen Gleichgültigkeit« geprägt.99 Auch die Einführung des Gouvernementalitätsparadigmas in den späten 1970er Jahren änderte nichts an diesem Nicht-Verhältnis. Foucault weitete damit seine Analysen »auf ein neues Objekt« aus, »nämlich den Staat, der in der Analyse der Disziplinen seinen Ort noch nicht gefunden hatte«.100 Wenn nun davon die Rede war, dass »der Staat vielleicht nur eine bunt zusammengewürfelte Wirklichkeit« sei,101 dass er nichts anderes darstelle, als den beweglichen Effekt von Gouvernementalitäten, so hätte sich Vergleichbares auch über die sozialen Klassen sagen lassen. Doch Foucault konzentrierte sich auf die »Überbewer96  Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 114. 97  Vgl. Michel Foucault, »Die Machtverhältnisse durchziehen das Körperinnere. Gespräch

mit Lucette Finas«, in: ders., Dispositive der Macht. Über Sexualität, Wissen und Wahrheit, Berlin, 1978, 104 – 117. 98  Exemplarisch für die zahlreichen Versuche, den Körper als Schauplatz des Klassenkampfes zu beschreiben: Gerhard Zwerenz, Kopf und Bauch. Die Geschichte eines Arbeiters, der unter die Intellektuellen gefallen ist, Frankfurt a. M., 1971; Elio Petri, La classe operaia va in paradiso. Spielfilm, Italien, 1971; Karin Struck, Klassenliebe. Roman, Frankfurt a. M., 1973; Claude Faraldo, Themroc. Spielfilm, Frankreich, 1973; Robert Linhart, L’établi, Paris, 1978. 99  Bidet, Foucault with Marx, S. 23. 100  Michel Sennelart, »Situierung der Vorlesungen«, in: Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France 1977 – 1978, hg. v. Michel Sennelart, Frankfurt a. M., 2006, 527 – 571, S. 554. 101  Michel Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung. Geschichte der Gouvernementalität I. Vorlesung am Collège de France 1977 – 1978 (2004), hg. v. Michel Sennelart, Frankfurt a. M., 2006, S. 163.

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tung des Staatsproblems«,102 nicht auf die des Klassenproblems. Nur an einigen wenigen Stellen konfrontierte Foucault die von ihm neu entdeckte Dimension der Bevölkerungspolitik mit dem Paradigma der Klasse.103 So wollte er nicht nur zeigen, dass die Politiken und Techniken zur Regulierung der Bevölkerung den Politiken der Klassenbildung historisch vorgelagert waren; er glaubte auch einen theoretischen Vorrang des Themas der Bevölkerung gegenüber dem der Klassen nachweisen zu können. Ohne das Auftauchen des neuen Gegenstandes Bevölkerung hätte, Foucault zufolge, die Politische Ökonomie und damit das Marx’sche Klassendenken nicht entstehen können: Das ist es tatsächlich: Entweder die Bevölkerung oder die Klassen, und genau da entsteht der Bruch, ausgehend von einem ökonomischen Denken, einem Denken der politischen Ökonomie, das als Denken erst in dem Maße möglich wurde, wie das Subjekt Bevölkerung eingeführt worden war.104

In Kapitel 12, Abschnitt »Facetten der Biomacht«, gibt es Gelegenheit, diesen Prioritätsstreit zwischen den Paradigmen der Bevölkerung und der Klasse näher zu betrachten. Im Unterschied zu Foucault, der die »Bio-Politik der Bevölkerung« 105 erst zur Mitte des 18. Jahrhunderts beginnen lassen möchte, wird dort gezeigt, dass im England des 17. Jahrhunderts bereits sehr drastische bevölkerungspolitische Maßnahmen erwogen und, vor allem im Zuge der Kolonisierung Irlands, auch durchgeführt wurden. Insofern lässt sich tatsächlich von einem zeitlichen Vorrang des Bevölkerungs- gegenüber dem Klassenthema sprechen: Bevölkerungen werden sortiert, bevor von einer etablierten Klassengesellschaft die Rede sein kann. Wie diese Arbeit zu zeigen versucht, stellen jedoch Klasse und Bevölkerung keineswegs radikal getrennte Paradigmen dar. Es gibt vielmehr eine auffällige Nähe zwischen den Praktiken der Bevölkerungspolitik und der beginnenden Klassenformatierung von Gesellschaft. Bevölkerungspolitik ist untrennbar vom Imperativ der Klassifizierung; zugleich sind es die bevölkerungspolitischen Planspiele, in denen die klassenförmige Sortierung von Menschen zum ersten Mal effektiv betrieben wird. Statt also Malthus gegen Marx auszuspielen,106 sollte man eher betrachten, wie sich schon bei Francis Bacon, John 102  Ebd., S. 163. 103  Marxistischen Theoretikern erschien Foucaults Wende zur Biopolitik als ein Versuch

»den Marxismus loszuwerden«, indem »die Analyse des Sozialen durch den Gebrauch anderer Kategorien und anderer Taktiken« deplatziert wurde. Bruce Curtis, »Foucault on governmentality and population. The impossible discovery«, Canadian Journal of Sociology, N° 27 (4), 2002, 505 – 533, S. 506. 104  Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 118. 105  Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 166. 106  Vgl. Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 117: »Der eine, Malthus, begriff das Problem der Bevölkerung wesentlich als ein Problem der Bio-Ökonomie, während hingegen Marx versuchte, das Problem der Bevölkerung zu umgehen […].«

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Graunt und William Petty eine bevölkerungspolitische Sortiertätigkeit mit der Logik der Klassifizierung verbindet.

Did you say Rassenkampf? Den gewagtesten Streich gegen das marxistische Klassenparadigma hat Foucault in seinen 1975 – 1976 am Collège de France unter dem Titel In Verteidigung der Gesellschaft gehaltenen Vorlesungen geführt. Foucault kommt hier auf eine bestimmte, in der Frühen Neuzeit auftauchende Form der »Gegengeschichte« zu sprechen, für die, was Foucault zweifellos sympathisch war, »der Krieg den roten Faden der Geschichte abgibt«.107 Diese alternative Geschichtserzählung, der es stets darum ging, an eine unrechtmäßige Eroberung zu erinnern und die ungerechten gegenwärtigen Verhältnisse auf die Fortdauer dieser kriegerischen Unterwerfung zurückzuführen, nahm, wie Foucault sagt, »mit Beginn des 17. Jahrhunderts […] eine präzise Form« an: »Der Krieg, der sich solchermaßen unterhalb von Ordnung und Frieden abspielt, der Krieg, der unsere Gesellschaft durchzieht und zweiteilt, ist im Grunde ein Krieg der Rassen.« 108 Eine solche antagonistische Geschichtserzählung habe es den Menschen erlaubt, ihre eigene gesellschaftliche Unterlegenheit auf einen in der Vergangenheit gelegenen Unrechtsakt zurückzuführen und sich als »unterdrückte Rasse« gegen die Herrschenden in Stellung zu bringen, die ihrerseits als Nachfahren der Usurpatoren und ›Rasse der Sieger‹ begriffen wurden. Dieser »Gegen-Geschichte der Rassen«,109 in der die Entgegensetzung von Arm und Reich nicht nur ein »politisches Aktionsprogramm«, sondern auch eine »Erforschung historischen Wissens« in Gang setzt,110 schreibt Foucault eine beträchtliche und nachhaltige Wirksamkeit zu. Die Vorstellung von einer »Konfrontation der Rassen« bilde »die Matrix aller Formen, in denen man später das Gesicht und die Mechanismen des Gesellschaftskrieges suchen wird«;111 sie habe, und zwar insbesondere durch die Annahme eines unversöhnlichen, binären Gegensatzes, die gesamte abendländische »Geschichte des Projekts und der Praxis der Revolution« geprägt.112 Nicht zuletzt müsse der marxistische Begriff des Klassenkampfs in engstem Zusammenhang mit dem Begriff des Rassenkampfs 107  Michel Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft. Vorlesungen am Collège de France

(1975 – 1976), hg. v. Mauro Bertani u. Alessandro Fontana, Frankfurt a. M., 1999, S. 73. Ebd., S. 73. Ebd., S. 93. Ebd., S. 130. Ebd., S. 73. Ebd., S. 93 In ähnlicher Weise hatte schon der polnische Soziologe Stanisław Ossowski die dichotome Struktur der modernen Revolutionen auf die bei den Protagonisten der anti-monarchischen, »adeligen Revolution« zu findende »Theorie des Rassengegensatzes« zurückgeführt. Vgl. Stanisław Ossowski, Die Klassenstruktur im sozialen Bewusstsein (1957), Neuwied am Rhein, 1962, S. 52.

108  109  110  111  112 

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gesehen werden; er könne sogar genealogisch auf diesen zurückgeführt werden. Wie Foucault in seiner Vorlesung behauptet, habe »Marx am Ende seines Lebens, 1882, an Engels« geschrieben: »Also unseren Klassenkampf, du weißt genau, wo wir ihn gefunden haben: wir haben ihn bei den französischen Historikern gefunden, als sie den Rassenkampf erzählten!« 113 Was Foucault mit diesem frei nachempfundenen Zitat belegen will,114 ist nichts anderes als die Geburt des Klassenkampfs aus dem Geist des Rassenkampfs. Foucault Genealogie des Klassenkampfs läuft nicht auf die Behauptung hinaus, dass Klassenkampf per se ›rassistisch‹ sei – sie impliziert aber, dass er es werden kann: »Der Rassismus ist buchstäblich der umgedrehte revolutionäre Diskurs.« 115 Wenn Foucault, keineswegs nur ironisch, das »Lob« des Rassenkampfs anstimmt,116 so gilt seine Zuneigung (wie schon im Fall des Klassenkampfs) dem Aspekt des Kampfes und nicht dem der Vereinheitlichung (der Konstitution einer »Rasse«). Dennoch sind Rassenkampf und Rassismus in fataler Weise miteinander verknüpft; mit dem Staatsrassismus des 19. Jahrhunderts verkehrt sich der aufsässige Gegendiskurs in einen hegemonialen Vernichtungsdiskurs: Dieser Diskurs des Rassenkampfes – der zu dem Zeitpunkt, da er im 17. Jahrhundert auftauchte und zu wirken begann, wesentlich ein Kampfinstrument für dezentrierte Lager war – wird rezentriert und zum Diskurs einer zentrierten, zentralisierten und zentralisierenden Macht; er wird zum Diskurs eines Kampfes, der nicht zwischen zwei Rassen, sondern von einer einzigen wahren Rasse ausgeführt wird, nämlich jener, die die Macht innehat und die Norm vertritt, gegen jene, die von dieser Norm abweichen und für das biologische Erbe eine Gefahr darstellen.117

Foucaults Geschichte vom Rassenkampf gründet sich auf zwei unterschiedlich starke Thesen. Erstens: Der moderne Rassismus stellt eine Art perverser Um113  Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, S. 93. 114  Den Herausgebern der Foucaultschen Vorlesung zufolge muss es sich um den Brief

handeln, den Marx im März 1852 an Joseph Weydemeyer in New York geschrieben hat. Dort weist Marx darauf hin, dass er für sich nicht beanspruche, »die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt zu haben«. Dies hätten »bürgerliche Geschichtsschreiber« längst vor ihm getan. (Marx, »Marx an Joseph Weydemeyer in New York, 5. März 1852«, S. 507) Man müsse nur »die historischen Werke von Thierry, Guizot, John Wade etc. studieren, um sich über die vergangene ›Geschichte der Klassen‹ aufzuklären«. (Ebd., S. 504) Von einem »Rassenkampf« ist bei Marx jedoch nicht die Rede. 115  Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, S. 95. 116  Vgl. ebd., S. 76: »Beim letzten Mal haben Sie vielleicht gedacht, daß ich Ihnen die Geschichte des Rassendiskurses vortragen und eine Lobeshymne auf ihn anstimmen wollte. Diese Annahme war nicht ganz unrichtig, freilich nur bis zu einem bestimmten Punkt: Es war keineswegs der Rassendiskurs, den ich loben und in seiner Geschichte nachzeichnen wollte, sondern viel eher der Diskurs des Krieges und des Rassenkampfes.« 117  Ebd., S. 74 – 75.

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kehrung eines ursprünglich antagonistischen Diskurses dar, er bildet die staatlich instrumentalisierte Version eines anfänglich gegen die Obrigkeit gerichteten Impulses. Dieser These lässt sich zustimmen, mit der Einschränkung, dass die Erklärung eines komplexen gesellschaftlichen Phänomens sich nicht in einer solche monolinearen, geradezu dialektisch zu nennenden Herleitung erschöpfen kann. Zweitens: Der marxistische Klassenkampf-Diskurs ist ein Ableger des frühneuzeitlichen Diskurses vom Krieg der Rassen; wie bei diesem besteht die Gefahr, dass die polemische Entgegensetzung sich in eine normative Ausschließungs- und Verfolgungspraxis verwandelt.118 Was diese These betrifft, so sollte zumindest das politische Warnsignal nicht überhört werden. Die genealogische Konstruktion, mit der Foucault das Denken der Klasse aus dem Denken der Rasse ableitet, kann jedoch nicht überzeugen. Die Kette, die das eine mit dem anderen verbinden soll, ist dünn geknüpft, und dort, wo die entscheidenden Übersetzungsschritte stattfinden sollen, muss Foucault zu kleinen Tricks greifen, um das Geschehen im Sinne seiner Hypothese zu vereindeutigen. Es sind zwei von Foucault selbst herausgehobene Szenen aus der Geschichte des Rassenkampf-Paradigmas, die hier näher beleuchtet werden sollen: zum einen die Entstehung des Diskurses vom Krieg der Rassen im frühen 17. Jahrhundert und seine Aneignung durch die Aktivisten der Englischen Revolution; zum anderen die Transmission von Rassenkampf-Diskurs in Klassenkampf-Diskurs bei den Historikern des frühen 19. Jahrhunderts. Zum ersten der beiden Komplexe: Wie steht es mit dem ›Rassenkampf‹ im 17. Jahrhundert? Nach Foucault lässt sich das erste Auftauchen des Themas vom untergründigen Streit einer unterworfenen Rasse mit einer Rasse von Eroberern »um das Jahr 1630 im Zusammenhang mit den Forderungen des Volkes und des Kleinbürgertums im vorrevolutionären und revolutionären England« verorten.119 Foucault bezieht sich hier auf die Versuche parlamentarischer Kreise, die herrschende monarchische Ordnung als eine Erblast der normannischen Eroberung zu diskreditieren und ihr die ›Anglo-Saxon Liberties‹ entgegenzusetzen, die die Zeit vor der Eroberung gekennzeichnet hätten. In diesem Zusammenhang wird der Slogan vom »Normannischen Joch« (Norman Yoke) geprägt, der in den Jahren des Bürgerkriegs und des Interregnums einige Popularität genießen wird. In seinem Historical Discourse of the Uniformity of the Government of England (1647) gibt Nathaniel Bacon einer verbreiteten Überzeugung Ausdruck, wenn er

118  Vgl. ebd., S. 97: »Was der revolutionäre Diskurs als Klassenfeind bezeichnete, wird im

sowjetischen Staatsrassismus zu einer Art biologischen Gefahr. Wer ist nun der Klassenfeind? Nun, es ist der Kranke, der Abweichler, der Verrückte. Folglich kann die Waffe, die seinerzeit gegen den Klassenfeind (die Waffe des Kriegs oder eventuell der Dialektik oder der Überzeugung) geführt wurde, jetzt nur mehr eine medizinische Polizei sein, die den Klassenfeind wie einen Rassenfeind eliminiert.« 119  Ebd., S. 72.

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»the Norman way of Government« als ein Mittel beschreibt »of keeping Kings above, and people underneath«.120 Die These von der normannischen Fremdherrschaft dient sowohl dem Adel, der den Alleinregierungsansprüchen des Königs eine Art aristokratischen Republikanismus entgegensetzt, als auch den radikalen Gruppen der Levellers und Diggers, die daraus ein Argument für einen Umsturz des Rechtssystems und eine Neuverteilung des Landes machen. In einem Buch mit dem Titel Anti-Normanisme konstruiert der Leveller John Hare 1647 eine »near affinity« zwischen der Unterdrückung des englischen Volks durch die »Normane race« und der Gefangenschaft der Griechen unter der türkischen Okkupation; wie sollte es angesichts dieses schreienden Unrechts gesetzeswidrig sein, »to endeavour to recover our Right and lost honour and Libertie?« 121 Foucaults hat sich bei seiner Darstellung des Leveller- und Digger-Diskurses offenbar sehr weitgehend auf Christopher Hills klassischen Aufsatz »The Norman Yoke« (1956) und die dort genannten Quellen verlassen.122 Auch wenn Foucault seine Quelle nicht erwähnt, so wird doch deutlich, wie stark seine These, die auf eine Zusammenführung von Rassen- und Klassenkampf hinausläuft, durch Hills Aufsatz vorgeformt wird. Hill zeigt sehr genau, wie die historische Erzählung von der normannischen Unterwerfung für die verschiedenen Parteien des Bürgerkriegs und der Revolution zu einer Waffe im politischen Kampf wird. Foucault konnte darin das ihn faszinierende Thema vom permanenten, die Gesellschaft durchziehenden Krieg wiederfinden. Eine eigenmächtige Zutat Foucaults ist allerdings die herausragende Bedeutung, die dem Begriff ›Rasse‹ gegeben wird. Der revolutionäre Diskurs hört zwar nicht auf, das Thema der normannischen Unterdrückung zu variieren; das Wort ›Rasse‹ spielt dabei aber keine herausgehobene Rolle. Gerrard Winstanley, führender Kopf der Digger, übernimmt von den Levellern die Rede vom Normannischen Joch, verwendet jedoch nur selten den Begriff der »normannischen Rasse«,123 120  Nathaniel Bacon, An historicall discourse of the uniformity of the government of England,

London, 1647, o. P.

121  John Hare, St. Edwards ghost: or, Anti-Normanisme. Being a patheticall complaint and

motion in the behalfe of our English nation against her grand (yet neglected) grievance, Normanisme, London, 1647, S. 16. 122  Vgl. David Macey, »Some reflections on Foucault’s ›Society must be defended‹ and the idea of ›Race‹«, in: Stephen Morton und Stephen Bygrave (Hg.), Foucault in an age of terror. Rethinking biopolitics and the defence of society, New York, 2008, 118 – 132, S. 126 Vgl. auch Ladelle McWhorter, »Decapitating power«, Foucault Studies, N° No. 12, 2011, 77 – 96, S. 81. 123  Die einzige Stelle, die mir bekannt ist, findet sich in der Schrift »The Law of Freedom«: »Therefore it was not for nothing that the kings would have all their laws written in French and Latin and not in English, partly in honour to the Norman race, and partly to keep the common people ignorant of their creation-freedoms, lest they should rise to redeem themselves: and if those laws should be writ in English, yet if the same kingly principles remain in them, the English language would not advantage us anything, but rather increase our

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stattdessen spricht er lieber von William dem Eroberer als einem »outlandish Norman Bastard«.124 Wie Foucault selbst hervorgehoben hat, sei das Wort ›Rasse‹, so wie es im Diskurs des Rassenkriegs benutzt werde, »nicht auf einen unveränderlichen biologischen Sinn eingeschränkt«,125 d. h. es sollte nicht mit dem biologischen Rassenbegriff des 19. Jahrhunderts verwechselt werden. Doch zugleich gibt er eine Schilderung des polemischen, kriegerischen Rassenbegriffs, in dem zumindest Elemente des späteren biologischen Rassenbegriffs schon anklingen: In diesem Diskurs wird von zwei Rassen gesprochen, wenn man die Geschichte zweier Gruppen schreibt, die nicht dieselbe örtliche Herkunft haben; zwei Gruppen, die zumindest zu Beginn nicht dieselbe Sprache und häufig nicht dieselbe Religion haben; zwei Gruppen, die eine Einheit und ein politisches Ganzes nur um den Preis von Kriegen, Invasionen, Eroberungen, Schlachten, Siegen und Niederlagen, also von Gewalt, gebildet haben; ein Band, das erst durch Krieg und Gewalt geknüpft worden ist.126

Nun scheint aber in dem historisch-polemischen Diskurs um die normannische Unterdrückung der Begriff der Rasse, sofern er überhaupt auftaucht, keineswegs die Bedeutung zu haben, die Foucault unterstellt, nämlich den einer Gruppe, eines Bevölkerungsteils, der einem anderen Bevölkerungsteil gegenüberstünde.127 ›Rasse‹ steht hier offenbar nicht für eine ganzes Volk oder eines seiner Teile; das Wort hat eher den eingeschränkten Sinn einer familialen Abstammungslinie, eines Herrschaftsverbandes, eines Clans. Dies entspricht der ursprünglichen Verwendung im Französischen, wo »race« die »Zugehörigkeit zu den königlichen (und adeligen) Familien des Mittelalters« bezeichnete.128 Der Ausdruck sorrow by our knowledge of our bondage.« Gerrard Winstanley, »The Law of Freedom in a Platform«, in: ders., The law of freedom, and other writings, hg. v. Christopher Hill, Cambridge, New York, 2006, 273 – 389, S. 374. 124  Vgl. Christopher Hill, »The Norman yoke«, in: ders., Puritanism and revolution. Studies in interpretation of the English revolution of the 17th century, Harmondsworth, 1986, 46 – 111, S. 76. 125  Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, S. 90. 126  Ebd. 127  Solche Konfrontationen gab es natürlich, und sie konnten, wie z. B. im Fall der Engländer und der Iren, alle Züge eines handfesten Kolonialrassismus annehmen. In diesen Auseinandersetzungen spielte aber, zumindest zur Mitte des 17. Jahrhunderts, der Begriff der »Rasse« noch keine Rolle. Der anthropologische Begriff der (Menschen-)Rasse, so wie im letzten Drittel des Jahrhunderts von William Petty (vgl. Kap. 12, Abschnitt »Facetten der Biomacht«) und François Bernier formuliert wurde, steht in keiner erkennbaren Verbindung zu dem polemischen Einsatz des Wortes »Rasse« im »Norman Yoke«- Diskurs. Sein Auftauchen hat wohl eher etwas mit der Ausweitung des naturgeschichtlichen Klassifizierungsdiskurses auf die menschlichen Verwandtschaftsverhältnisse zu tun. 128  Macey, »Some reflections on Foucault’s ›Society must be defended‹ and the idea of ›Race‹«, S. 129.

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›Norman Race‹ meint daher mit Sicherheit nicht alle Engländer, die von den Normannen abstammen, sondern die Kaste der Machthaber und Besitzer, in deren gesellschaftlicher Übermacht sich die Vorherrschaft der einstigen Eroberer-­ Clique fortsetzt. Wie die Eroberer-Rasse ist in diesem Diskurs auch die unterdrückte Rasse eher politisch-ökonomisch definiert als durch irgendeine Form der Volkszugehörigkeit. Wenn Winstanley von der unterdrückten Rasse spricht, so wird damit nicht die Idee einer territorial definierten, autochtonen Gemeinschaft aufgerufen, sondern bezeichnenderweise gerade die einer Nichtzugehörigkeit, einer Heimatlosigkeit. Wie in vielen der »religiös-kommunistischen Sekten des 16. und 17. Jahrhunderts« gibt es auch bei den Diggern und Levellern eine Identifikation mit den »Israeliten«, dem auserwählten und zugleich unterdrückten Volk.129 Als die Digger William Everard und Gerard Winstanley sich im April 1649 gegenüber General Fairfax wegen einer Landbesetzung rechtfertigen müssen, gibt Everard eine denkwürdige Erklärung ab, in der sich das Motiv der normannischen Eroberung mit dem der ›ägyptischen Knechtschaft‹ des jüdischen Volkes verbindet: Everard said, He was of the race of the Jews, as most men, called Saxon and other, properly are; That all the Liberties of the People were lost by the coming in of William the Conqueror; and that, ever since, the People of God had lived under tyranny and oppression worse than that of our Forefathers under the Egyptians. But now the time of deliverance was at Hand; and God would bring His people out of this slavery, and restore them to their freedom in enjoying the fruits and benefits of the Earth.130

Nicht zuletzt die mythologische, alttestamentliche Einkleidung des Diskurses von der »unterdrückten Rasse« dürfte dafür gesorgt haben, dass wohl niemand im England des 17. Jahrhunderts ernsthaft an einen ›Rassenkrieg‹ geglaubt hat; die meisten dürften hinter der blumigen Rhetorik von der normannischen Unterwerfung und der ägyptischen Knechtschaft genau das vernommen haben, was gemeint war: ein Appell an das arme, landlose Volk, sich gegen die reichen, grundbesitzenden Eliten aufzulehnen. So muss man gegen Foucault einwenden, dass im Diskurs der Englischen Revolution von der Beschwörung einer Rassenauseinandersetzung keine Rede sein konnte. Wenn bei den Levellern und Diggern der Begriff der Rasse verwendet wurde (was selten genug vorkam), so eher als eine 129  Edouard Bernstein, Cromwell and communism. Socialism and democracy in the Great

English Revolution, London, 1963, S. 105 Zur Identifizierung der Digger mit dem Judentum vgl. Claire Jowitt, »›The consolation of Israel‹. Representations of jewishness in the writings of Gerrard Winstanley and William Everard«, in: Andrew Bradstock (Hg.), Winstanley and the Diggers, 1649 – 1999, London, New York, 2013, 87 – 100. 130  Oliver Cromwell, Oliver Cromwell’s Letters and Speeches. With Elucidations by Thomas Carlyle. Vol I., New York, 1845, S. 357.

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Art Platzhalter für einen Begriff, der zu dieser Zeit noch nicht bereitstand (bzw. der, wie dieses Buch zeigen will, gerade erst bereitgestellt wurde), nämlich den der sozialen Klasse. Winstanleys und Everards landlose Bauern und rebellische Soldaten, die sich als »Jews« oder »Saxons« bezeichneten, waren keine Rasse und kein Volk, sie bildeten aber auch keinen Stand der alten Gesellschaft, aus der sie vielmehr ausgeschlossen waren (und aus der sie sich selbst ausschlossen, indem sie ihre Gesetze zurückwiesen). Sie bildeten viel eher eine Klasse im modernen politischen Sinn, eine Menge, die sich nicht durch eine gemeinsame Herkunft, sondern durch die Vergleichbarkeit der sozialen Lage definierte. Offenbar war Foucault so angetan von der Idee, den marxistischen Klassenkampf aus der verborgenen Unterströmung des Rassenkampfes hervorgehen zu lassen, dass er nicht nur die Bedeutung des Rassethemas stark übertrieb,131 sondern auch – gerade was die Episode der Englischen Revolution angeht – alle Zeichen für das Auftreten eines vom Thema der Rasse unabhängigen oder ihm vorgängigen sozialen Klassendiskurses herunterspielen musste. Anders ist es nicht zu verstehen, dass er die Geschichte vom Norman Yoke als eine Mythologie des Rassenkampfs beschreibt, und nicht als das, was sie zweifellos auch war, nämlich eine »rudimentäre Klassentheorie der Politik«.132 Nun zur zweiten Gelenkstelle der Foucault’schen Argumentation, nämlich der Geburt des Klassenkampfs aus dem Diskurs des Rassenkampfs im frühen 19. Jahrhundert. Wie Foucault betont, war es nicht der Marxismus, der die »Transformation des Rassenkampfes in Klassenkampf« vollzogen habe; diese Verwandlung sei »bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts« von einigen bürgerlichen französischen Historikern vollzogen worden.133 Foucault rechnet hierzu unter anderem Michelet, Guizot und Thiers, bezieht sich aber vor allem auf Augustin Thierry, der von Marx als »le père des ›Klassenkampfes‹ in der französischen Geschichtsschreibung« bezeichnet worden war.134 Wie andere zu seiner Zeit nimmt Thierry das Thema vom unversöhnlichen Streit der »Rassen« neu auf und macht »diesen Kampf zur Matrix der Geschichte«.135 Foucault zitiert aus einem Zeitschriftenartikel Thierrys von 1820 mit dem bezeichnenden Titel Sur l’antipathie de race qui divise la nation française: »Wir halten uns für eine Nation, aber wir sind zwei Nationen auf derselben Erde, zwei feindliche Nationen mit ihren Erinnerungen 131  Wie ein französischer Philosophiehistoriker trocken bemerkt, sind »die einzig nach-

vollziehbaren Spuren des englischen Rassenkrieges im Diskurs von Foucault anzutreffen«. Franck Lessay, »Joug normand et guerre des races. De l’effet de vérité au trompe-l’œil«, Cités, N° 2, 2000, 53 – 69, S. 69. 132  Hill, »The Norman yoke«, S. 53. 133  Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, S. 94. 134  Karl Marx, »[Brief] an Friedrich Engels in Manchester, London, 27. Juli 1854«, in: ders. u. Friedrich Engels, Marx-Engels-Gesamtsamtausgabe, III . Abteilung, Band 7. Briefwechsel September 1853 bis März 1856, Berlin, 1989, 129 – 132, S. 130. 135  Foucault, In Verteidigung der Gesellschaft, S. 261.

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und unversöhnlich in ihren Vorhaben: die eine hat einst die andere besiegt.« 136 Tatsächlich scheint diese Art der Geschichtsinterpretation um 1820 Konjunktur zu haben: Kurz zuvor war Walter Scotts Roman Ivanhoe erschienen,137 in dem der Mythos vom normannischen Joch für ein romantisches Lesepublikum neu aufbereitet worden war:138 »Four generations had not sufficed to blend the hostile blood of the Normans and Anglosaxons, or to unite, by a common language and mutual interests, two hostile races, one of which still felt the elation of triumph, while the other groaned under all the consequences of defeat.« 139 Im Ivanhoe ist im Zusammenhang mit der Unterwerfungsthese schon von ›Klassen‹ die Rede; die »sufferings der inferior classes« werden hier auf das historische Trauma der Eroberung zurückgeführt.140 Ob von Walter Scotts Roman beeinflusst oder nicht: In den frühen 1820er Jahren konstruiert der Frühsozialist Henri de Saint-Simon eine ganz entsprechende Genealogie, nach der die Stände des vorrevolutionären Frankreich auf die Unterwerfung der Gallier durch den germanischen Stamm der Franken im 5. Jahrhundert zurückgingen. Demnach stammte der Adel von der Eroberern ab, der Klerus bildete sich aus den mit ihnen verbündeten Priestern, und der dritte Stand ging auf die einstmals unterworfenen gallischen Bauern zurück.141 Man muss allerdings hinzufügen, dass Saint-Simon schon etliche Jahre zuvor eine Theorie des Klassenkampfs entwickelt hatte, in der die historische Legende keine Rolle spielte, die sich vielmehr auf die gegenwärtige Ungleichheit der ökonomischen Verteilung bezog. 1802 erinnerte er die »propriétaires« daran, dass sie einer erdrückenden Mehrheit von »non-propriétaires« gegenüberstanden, und dass sie nur durch eine geschickte Vereinigung ihrer Kräfte in jenem Kampf bestehen konnten, »qui, par la nature des choses, existe nécessairement toujours entre eux et vous«.142 Ein programmatischer Zusammenschluss von Rassen- und Klassentheorie findet sich dann bei Thierry, der von 1814 – 1817 Privatsekretär von Saint-Simon

136  Augustin Thierry, »Sur l’antipathie de race qui divise la nation française«, in: Le Censeur

européen, 2. April 1820, zit. nach ebd., S. 261 – 262.

137  Das Titelblatt der Erstausgabe nennt das Jahr 1820, die Veröffentlichung geschah aber

schon im Dezember 1819.

138  Foucault selbst erwähnt Walter Scotts historische Romane und ihren Einfluss auf Marx,

vgl. ebd., S. 115. Hinweise zur Bedeutung des Ivanhoe für die Reaktivierung der Theorie von Normannischen Joch finden sich bei Macey, »Some reflections on Foucault’s ›Society must be defended‹ and the idea of ›Race‹«, S. 125. 139  Walter Scott, Ivanhoe. A romance. In three volumes. Vol. I, Edinburgh, 1820, S. 4. 140  Ebd., S. 4. 141  Vgl. Herrnstadt, Die Entdeckung der Klassen, S. 324. 142  Henri de Saint-Simon, »Lettres d’un habitant de Genève a ses contemporains« (1802), in: ders., Oeuvres de Saint-Simon, hg. v. Olinde Rodrigues, Paris, 1841, 1 – 67, S. 24.

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gewesen war und mit ihm die Zeitschrift L’industrie herausgegeben hatte.143 In Thierrys Histoire de la conquete de l’Angleterre par les Normands (1825) wird gesagt: Die oberen und niederen Klassen [classes supérieures et inférieures], die sich heute mit Argwohn beobachten oder miteinander um Ideensysteme und Regierungsweisen streiten, sind […] nichts anderes als die erobernden oder unterworfenen Völker einer anderen Epoche. […] Die Rasse der Invasoren [race des envahisseurs] blieb eine privilegierte Klasse, sobald sie aufhörte, eine getrennte Nation zu sein. Sie hat einen kriegerischen Adel gebildet, der […] die arbeitsame und friedfertige Masse [masse] dominierte, solange die von der Eroberung herrührende Militärregierung andauerte. […] Die besiegte Rasse [race envahie], des Grundeigentums, der Befehlsgewalt und der Freiheit beraubt, […] hat eine getrennte Gesellschaft [société séparée] abseits der militärischen Vereinigung der Eroberer gegründet.144

Foucaults These von einer »Umschrift« des Rassenkriegs in Klassenkampf kann sich, was das frühe 19. Jahrhundert angeht, auf eine wesentlich bessere Beweislage stützen als im Fall der Englischen Revolution. Die Virulenz des Themas von der unterdrückten ›Rasse‹ ist offensichtlich, und auch seine Verbindung mit der Klassenrhetorik lässt sich belegen. Man könnte sich hier sogar auf Beispiele stützen, die den von Foucault genannten um Jahrzehnte vorausgehen, wie z. B. Volneys Buch berühmtes Buch über die Revolutionen (1791): Und nachdem die Barbarenhorden ganze Nationen auf den Zustand der Sklaverei reduziert hatten, geschah es, dass die Reiche, die aus einem erobernden Volk und einem eroberten Volk geformt waren, in ihrer Mitte zwei wesenhaft gegensätzliche und feindliche Klassen [classes] vereinten.145

Allerdings scheint Foucault eine allzu einfache Geschichte zu erzählen, wenn er behauptet, der Marx’sche Klassenkampf sei nichts anderes als eine Transformation des Rassenkampfes. Marx und Engels kannten natürlich die Versuche der Historiker, die aktuellen gesellschaftlichen Unterschiede auf das historische Ursprungsereignis der Eroberung zurückzuführen, sahen darin aber eine populäre, unwissenschaftliche Erklärung. In dem gleichen Brief, in dem Marx, ohnehin mit spürbarer Ironie, von Thierry als dem »père des ›Klassenkampfes‹« spricht, 143  Zu Thierrys Zusammenführung von Rassen- und Klassentheorie vgl. Wolfgang Eßbach,

»Elemente ideologischer Mengenlehren. Rasse, Klasse, Masse«, in: ders., Die Gesellschaft der Dinge, Menschen, Götter, Wiesbaden, 2011, 87 – 111, S. 93 – 97. 144  Augustin Thierry, Histoire de la conquête de l’Angleterre par les Normands. Tome premier, Paris, 1830, S. IX . 145  Constantin-François Volney, Les ruines ou méditation sur les révolutions des empires, Paris, 1791, S. 73.

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erklärt er auch: »Hätte Herr Thierry unsre Sachen gelesen, so wüßte er daß der entschiedne Gegensatz der Bourgeoisie gegen den peuple natürlich erst anfängt, sobald sie aufhört als tiers état dem clergé und der noblesse gegenüberzustehn«.146 Aktuelle Klassenverhältnisse lassen sich nach Marx und Engels nur durch die aktuellen Produktionsverhältnisse erklären, nicht durch die Erblast einer vor Jahrhunderten eingetretenen gewaltsamen Umverteilung. Foucault Versuch, das Klassendenken der Moderne auf ein kriegerisches Rassendenken zurückführen, hat zunächst die Schwäche, die geschichtliche Bedeutung des Rassenkampfes massiv übertreiben zu müssen; dazu kommt, dass mit der Identifizierung von Rasse und Klasse aus dem Blick gerät, was in der Frühen Neuzeit gerade das Neue und Verführerische an der Klasse war; dass damit nämlich ein gesellschaftliches Ordnungsprinzip gefunden war, das gerade nicht auf einer Bindung an einen Ort, ein Volk, eine gemeinsame Herkunft etc. beruhte. Zweifellos gehört die von Foucault rekonstruierte Geschichte des Diskurses vom ›Rassenkriegs‹ mit zur Entstehungsgeschichte des marxistischen Klassenkampfbegriffs, doch bildet sie wohl nur einen und vielleicht nicht allzu bedeutenden Strang, der zudem nicht das trifft, was am Klassenbegriff zentral ist, nämlich die Wandelbarkeit der Zuordnungen und Zugehörigkeiten. Um die Genealogie zu vervollständigen, müsste man nicht nur die bei Walter Scott oder bei den Saint-Simonisten zu beobachtende Metamorphose von Rasse in Klasse beleuchten, sondern auch fragen, wie Marx und Engels ihrerseits den Begriff Klassenkampf transformierten. Die Rede von der unterdrückten Rasse dürfte ihnen als eine Art mitgeschleiftes historisches Gepäck erschienen sein, das man möglichst bald loswerden sollte; so wie es allgemein der proletarischen Revolution darum gehen sollte, den »Aberglauben an die Vergangenheit« abzustreifen und sich von der »Tradition aller toten Geschlechter« zu befreien.147 Verglichen mit der Sorgfalt, mit der Foucault die Ordnungen des Wissens und die Dispositive zur klassifikatorischen Erfassung von Subjekten analysiert hat, ergab sich hier der Eindruck einer etwas abenteuerlichen, vielleicht auch unhaltbaren Herleitung. Dies hat nicht nur damit zu tun, dass Foucault offenbar von der Leidenschaft für eine ›kriegerische‹ Geschichtsinterpretation gepackt wurde, es verweist auch auf eine grundlegende Schwierigkeit, die der Analyse von Klassenteilung entgegensteht: Die Setzung sozialer Unterschiede ist schwieriger zu beobachten als die Erstellung eines wissenschaftlichen Klassifikationssystems oder die Errichtung eines technischen Sortierapparats.

146  Marx, »[Brief] an Friedrich Engels in Manchester, London, 27. Juli 1854«, S. 130. 147  Karl Marx, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, in: ders. u. Friedrich

Engels, Werke (MEW ), Bd. 8, Berlin, 1956 ff., 111 – 207, S. 117, 115.

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4.

WIE GETEILT WIRD. LUHMANN, BOURDIEU, RANCIÈRE Den in diesem Kapitel vorgestellten Ansätzen ist gemeinsam, dass sie das, was jeweils ›Gesellschaft‹ sein soll, aus Teilungsvorgängen hervorgehen lassen. Gegen die Auswahl von Niklas Luhmann, Pierre Bourdieu und Jacques Rancière ließe sich natürlich einwenden, dass auch andere über das Verhältnis von Teilung und Gesellschaft nachgedacht haben, angefangen bei Rousseau, dessen Satz über den Anfang der »bürgerlichen Gesellschaft« 1 als Eröffnung einer ganzen Denktradition betrachtet werden kann: »Der erste, der ein Stück Land eingezäunt hatte und es sich einfallen ließ zu sagen: dies ist mein und der Leute fand, die einfältig genug waren, ihm zu glauben, war der wahre Gründer der bürgerlichen Gesellschaft.« 2 Doch haben sich die Autoren, die in ihrem Denken des Politischen auf verschiedene Weise von Teilungsakten und Urteilsweisen ausgingen, von Carl Schmitt über Hannah Arendt bis Giorgio Agamben,3 nicht eigens zu dem hier im Vordergrund stehenden Problem der Klassenteilung geäußert. Bei Luhmann, Bourdieu und Rancière hingegen geht es nicht nur grundsätzlich um die Weise der Teilung des Sozialen, sondern auch um die Frage, welche Rolle dabei der Begriff der Klasse gespielt hat oder noch spielen kann. Dass es sich bei den drei Autoren um ein schwieriges Trio handelt, ist dabei nicht von Nachteil; aus ihren radikal unvereinbaren Antworten ergibt sich, in welcher Spannbreite das Problem der gesellschaftlichen Klassenteilung diskutiert wird. 1  Wie Heinrich Meier, Herausgeber der kritischen Ausgabe des Discours sur l’inégalité,

anmerkt, ist Rousseaus »société civile« nicht mit Hegels oder Marx’ Begriff der ›Bürgerlichen Gesellschaft‹ zu verwechseln; sie entspricht eher dem einer Gesellschaft im Zustand der ›Zivilisation‹: »Die société civile ist die Gesellschaft des état civil und des homme civil schlechthin und somit, diesseits des état de nature, keiner bestimmten historischen Epoche oder besonderen Gesellschaftsformation zugeordnet.« Heinrich Meier, »Kommentar zum Text«, in: Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes, hg. v. Heinrich Meier, Paderborn, 1997, 172, Anm. 214. 2  Jean-Jacques Rousseau, Diskurs über die Ungleichheit. Discours sur l’inégalité. Kritische Ausgabe des integralen Textes (1755), hg. v. Heinrich Meier, Paderborn, 1997, S. 173. 3  Zur Kritik von Carl Schmitts politischer Mythologie des Nehmens und Teilens vgl. Ruth Groh, Arbeit an der Heillosigkeit der Welt. Zur politisch-theologischen Mythologie und Anthropologie Carl Schmitts, Frankfurt a. M., Berlin, Wien, 1998, S. 258 f. Zu Agambens politischer »Philosophie der Ununterscheidbarkeit« und zu Arendts Entwurf einer »Kritik der politischen Urteilskraft« vgl. Susanne Lüdemann, »Vom Unterscheiden. Zur Kritik der politischen Urteilskraft bei Hannah Arendt und Giorgio Agamben«, HannahArendt.net, Jg. 6, N° 1/2, 2011, online verfügbar unter: http://www.hannaharendt.net/index.php/han/article/download/23/62.

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Luhmann: Systemtheorie als Differenzierungstheorie Die Systemtheorie von Niklas Luhmann scheint von einem Denken in Klassen, Klassengegensätzen oder Klassenkämpfen weit entfernt zu sein. Doch gibt es zwei gute Gründe, diesen Überblick mit Luhmann zu beginnen: Erstens gibt es wohl keine Theorie des Sozialen, die einen stärkeren Akzent auf Operationen der Unterscheidung legen würde als die Systemtheorie. Für den hier unternommenen Versuch, die Formen der sozialen Teilung auf die ihnen zugrundliegenden Operationen der Teilung zurückzuführen, klingt es verheißungsvoll, wenn Luhmann eine Sichtweise des Sozialen postuliert, in der »nicht mehr von Objekten die Rede ist, sondern von Unterscheidungen«, und wenn darüber hinaus diese »Unterscheidungen nicht als vorhandene Sachverhalte (Unterschiede)«, sondern als zu vollziehende Operationen begriffen werden.4 Zweitens kann gerade die Kritik an den Beschränkungen der Luhmann’schen Theorie (die Privilegierung der Systemperspektive, die Voraussetzung operativer Geschlossenheit, die Unterstellung autonomer Teilsysteme, die Einengung des Differenzierungsgeschehens auf Kommunikationsprozesse, die Nonchalance gegenüber der ›Praxis‹) Hinweise darauf geben, wie eine andere, historisch-empirische Untersuchung von Teilungsprozessen aussehen könnte, die insbesondere deren Materialität und Medialität berücksichtigt. Luhmanns Systemtheorie geht aus von dem logischen Kalkül des Mathematikers George Spencer Brown, demzufolge »jeder Konstruktion eine Anfangsunterscheidung (distinction) zugrunde liegt, die den Raum in zwei Seiten aufteilt«.5 Die eine Seite wird durch diesen Akt der Unterscheidung als etwas indiziert, während die andere Seite als »unmarked space« übrigbleibt.6 Systeme entstehen durch die »Unterscheidung System/Umwelt«: die Teilung in ein ›Innen‹, in dem sich alle relevanten Systemoperationen abspielen, und ein ›Außen‹, »das vom System aus nicht erreicht und nicht – es sei denn inhaltsleer – bezeichnet werden kann«.7 Soziale System bilden nur einen Spezialfall autopoietischer Systeme; die systemrelevanten Operationen sind hier Kommunikationen, und alles, was nicht Kommunikation ist, fällt in den Restbereich der ›Umwelt‹. Was Luhmanns Theorie für eine Betrachtung sozialer Teilungsprozesse besonders interessant macht, ist die geradezu schicksalhafte Macht, die der anfänglichen Teilung zugesprochen wird – hier findet sich ein deutlicher Anklang an die weiter oben besprochenen Mythologien der »Ur-Teilung«:8 Die erste Unterscheidung 4  Niklas Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft (1997), Frankfurt a. M., 2015, S. 60. 5  Elena Esposito, »Operation/Beobachtung«, in: Claudio Baraldi, Giancarlo Corsi und

Elena Esposito (Hg.), GLU . Glossar zu Niklas Luhmanns Theorie sozialer Systeme, Frankfurt a. M., 2008, 123 – 128, S. 124. 6  Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 609. 7  Ebd. 8  S. o., Kap. 2, Abschnitt »Kritik der allzu reinen Vernunft«.

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erweist sich in dem Sinn als »fatal«,9 dass alle weiteren Unterscheidungen daran anknüpfen müssen. Die einmal getroffene Unterscheidung wird weitere Ausdifferenzierungen erfahren; die Spaltung zwischen markiert/unmarkiert wird aber nicht mehr rückgängig gemacht werden können: »Jede Bestimmung, jede Bezeichnung, alles Erkennen, alles Handeln […] vollzieht wie der Sündenfall einen Einschnitt in die Welt mit der Folge, daß eine Differenz entsteht […] und daß die vorausliegende Unbestimmtheit unzugänglich wird«.10 Zu den Tücken der Anfangsunterscheidung gehört, dass sie sich gleichsam blind reproduziert: Sie bestimmt alle weiteren Unterscheidungen des Systems, kann aber, da sie die Grundlage aller Beobachtung darstellt, selbst nicht beobachtet werden, sie bildet den »blinden Fleck« des Systems.11 Unterschiedliche Anfangsunterscheidungen werden unterschiedliche Systeme hervorbringen; entsprechend sind gesellschaftliche Ordnungen wesentlich dadurch gekennzeichnet, welche anfänglichen Unterscheidungen ihnen zugrunde liegen, welche »Leitdifferenz« oder welches »Differenzierungsschema« ihre Kommunikationen regiert.12 Die Theorie sozialer Differenzierung, die Luhmann im Anschluss an Georg Simmel, Max Weber, Émile Durkheim und Talcott Parsons entwickelt, beruht wesentlich darauf, Gesellschaften nicht nach dem Grad, sondern nach der Form ihrer Differenzierung zu unterscheiden: »Differenzierungsgrade und damit Komplexitäten werden durch Formen der Differenzierung erzeugt und vermittelt, und diese Formen der Differenzierung unterscheiden sich in der Art und Weise, wie sie interne Grenzen zwischen Subsystemen und internen Umwelten herstellen.« 13 Die Einheit eines sozialen Systems lässt sich damit durch die Art seiner »Systemdifferenzierung« beschreiben.14 Luhmann geht davon aus, dass die Zahl der Differenzierungsformen von Gesellschaft schon der Möglichkeit nach eng begrenzt ist, da sie auf der Kombination einer kleinen Auswahl relevanter Dichotomien wie System/Umwelt oder Gleichheit/Ungleichheit beruhen.15 Noch geringer sei die Zahl der historisch verwirklichten Differenzierungsformen, was nicht ausschließen müsse, »daß sich im weiteren Verlauf der Evolution andere Formen bilden werden«.16 Luhmann 9  Der Ausdruck »fatal« findet sich bei Esposito, »Operation/Beobachtung«, S. 125: »Die Auswahl der Anfangsunterscheidung ist also ›fatal‹ in dem Sinne, daß sie alles bestimmt, was (danach) beobachtet werden kann.« 10  Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 62. 11  Vgl. Esposito, »Operation/Beobachtung«, S. 125 – 126. 12  Niklas Luhmann, »Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie«, in: Hans Ulrich Gumbrecht und Ursula Link-Heer (Hg.), Epochenschwellen und Epochenstrukturen im Diskurs der Literatur- und Sprachhistorie, Frankfurt a. M., 1985, 11 – 33, S. 22. 13  Niklas Luhmann, »Differentiation of society«, The Canadian Journal of Sociology / Cahiers canadiens de sociologie, Jg. 2, N° 1, 1977, 29 – 53, S. 32. 14  Luhmann, »Zum Begriff der sozialen Klasse«, S. 148. 15  Vgl. Luhmann, »Differentiation of society«, S. 33. 16  Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 614.

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nennt hier zunächst drei Formen, nämlich segmentäre, stratifikatorische und funktionale Differenzierung, fügt aber später zwischen der ersten und der zweiten Form noch die Gliederung nach »Zentrum und Peripherie« ein.17 Hier genügt es, die von Luhmann in den 1970er Jahren entworfene, klassisch gewordene Trias von segmentär, stratifikatorisch und funktional vorzustellen. Segmentäre Differenzierung kennzeichnet die archaischen Gesellschaften; die soziale Gliederung beruht hier auf der »Bildung gleicher Einheiten, insbesondere Familien, Geschlechter oder Wohngemeinschaften bzw. Dörfer«,18 von lokal begrenzten Teilsystemen also, die sich strukturell nicht unterscheiden und die kaum mit anderen Teilsystemen kooperieren. Während segmentär gegliederte Gesellschaften »eine geringe Komplexität von Handlungsmöglichkeiten nicht überschreiten« können,19 kann mit dem Übergang zu stratifikatorischer Differenzierung »ein sehr viel komplexeres Gesellschaftssystem aufgebaut werden«.20 Die primäre Unterscheidung ist dann nicht mehr die zwischen prinzipiell gleichen Familien, sondern die zwischen prinzipiell ungleichen Schichten: »In stratifizierten Gesellschaften geht die Regulierung dessen, was an Ungleichheit auf die Familien entfällt, vom Schicksal zum Teil auf die Sozialstruktur über. Ungleichheit wird damit, zumindest auch, Ordnungsdimension der sozialen Welt. […] Die Einheit der Gesellschaft liegt in der Rangdifferenz, die nicht in Frage gestellt werden kann, ohne daß die Gesellschaft in Frage gestellt werden würde; und diese Differenz ermöglicht dann eine Regulation des Verhaltens für Alltags- und für Notlagen.« 21 Gegenüber der segmentären Teilung birgt die hierarchische Trennung von oben und unten den »Vorteil erleichterter schichtspezifischer Kommunikation«.22 Angehörige einer stratifizierten Gesellschaft können systemweit mit ihresgleichen kooperieren, ohne an die Grenzen des Familienverbandes gebunden zu sein; ihre Kommunikationen sind allerdings darauf verpflichtet, unausgesetzt die neue Leitdifferenz oben/unten zu berücksichtigen. Angesichts zunehmender Komplexität der gesellschaftlich zu lösenden »Sachprobleme« wird sich diese strenge stratifikatorische Gliederung jedoch als Hindernis erweisen: »Die Komplexitätsschranken dieses Differenzierungstyps liegen in der Notwendigkeit der Hierarchisierung der Ungleichheit.« 23 Daraus ergibt sich schließlich der Übergang zu der dritten Gliederungsform, der funktionalen Differenzierung. In einer funktional gegliederten Gesellschaft sind die Teilsysteme nicht mehr nach Kriterien der Lokalität oder der Differenz von oben 17  Vgl. ebd., S. 663 – 678. 18  Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der

modernen Gesellschaft, Band 1 (1980), Frankfurt a. M., 1998, S. 25. Ebd. Ebd. Luhmann, »Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie«, S. 22 – 23. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, S. 25. Ebd., 26.

19  20  21  22  23 

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und unten voneinander geschieden; ihre Trennung ergibt sich aus den unterschiedlichen Funktionen, die sie im Gesamtzusammenhang zu erfüllen haben: Differenziert wird jetzt in erster Linie nach Funktionen. Jedes Teilsystem ist auf eine Funktion spezialisiert […]. Kein System ist dann im Verhältnis zum anderen funktional äquivalent. Kein System kann für das andere einspringen, obwohl jedes von allen anderen abhängig ist, da die Gesellschaft nur bestehen kann, wenn alle dazu notwendigen Funktionen erfüllt werden.24

Die »Umstellung des Gesamtsystems der Gesellschaft auf einen Primat funktionaler Differenzierung« müsse, so Luhmann, als »ein extrem unwahrscheinlicher Vorgang« betrachtet werden;25 es sei daher nicht verwunderlich, dass sie historisch »nur ein einziges Mal«, nämlich in der »von Europa ausgehenden modernen Gesellschaft« verwirklicht worden sei.26 Dass es überhaupt zu einer Ablösung des stratifikatorischen Prinzips kam, sei der zunehmenden »Ausdifferenzierung von Funktionssystemen« schon in der alten Gesellschaft zuzuschreiben; deren Akkumulation habe schließlich »irreversible, von sich selbst abhängige Strukturentwicklungen« ausgelöst:27 Entscheidend ist, daß irgendwann die Rekursivität der autopoietischen Reproduktion sich selbst zu fassen beginnt und eine Schließung erreicht, von der ab für Politik nur noch Politik, für Kunst nur noch Kunst, für Erziehung nur noch Anlagen und Lernbereitschaft, für die Wirtschaft nur noch Kapital und Ertrag zählen und die entsprechenden gesellschaftsinternen Umwelten – und dazu gehört dann auch Schichtung – nur noch als irritierendes Rauschen, als Störungen oder Gelegenheiten wahrgenommen werden.28

Nach Luhmann erstreckt sich der Übergang von stratifikatorischer zu funktionaler Gliederung über einen Zeitraum vom »12. bis zum 18. Jahrhundert«. Die entscheidende »Epochenschwelle«, während der »die europäische Gesellschaft ihrer neuen Form bewußt wird und darauf zu reagieren beginnt«, könne man auf »die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts« datieren.29 So muss nach Luhmann das, was gewöhnlich »moderne Gesellschaft« genannt wird, »als funktional differenzierte Gesellschaft« begriffen werden.30 Wie in anderen Gesellschaften kann es auch hier eine Koexistenz verschiedener Differenzierungsformen geben, doch 24  25  26  27  28  29  30 

Luhmann, »Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie«, S. 23. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 707. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, 27. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 706 – 707. Ebd., S. 708. Luhmann, »Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie«, S. 24. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 743.

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wird die strukturelle Einheit der modernen Gesellschaft dadurch bestimmt, dass in ihr alle übrigen Gliederungsformen dem Primat der funktionalen Differenzierung unterstehen.31 Insofern sie rationale Aufgabenteilung sieht, wo Marx unversöhnliche Klassenteilung gesehen hat, scheint Luhmanns Theorie der Sozialen Differenzierung dem marxistischen Begriff von Gesellschaft grundsätzlich zu widersprechen. Es gibt es jedoch auch Momente verblüffender Übereinstimmung. So wie Luhmann sich wenig für gesellschaftliche Unterschiede interessiert und stattdessen nach den Differenzierungsprozessen fragt, auf die sie zurückzuführen sind, so hat auch Marx sich kaum für Fragen der sozialen Schichtung (für ›Klassenanalyse‹) interessiert, sondern die Gegensätze freizulegen versucht, aus denen die Klassen erst hervorgehen. Gemeinsam ist beiden Theorien auch die Idee der ›Dominanz‹ oder des ›Primats‹ eines bestimmten Strukturierungsprinzips. Nach Marx lässt sich für jede Gesellschaft eine dominante ›Produktionsweise‹ ausmachen, eine, wie er in den Grundrissen schreibt, »bestimmte Produktion, die allen übrigen und deren Verhältnisse daher auch allen übrigen Rang und Einfluß anweist«, »eine allgemeine Beleuchtung, worin alle übrigen Farben getaucht sind und [die] sie in ihrer Besonderheit modifiziert«.32 Bei Luhmann ist es die dominierende ›Differenzierungsweise‹, die die ›allgemeine Beleuchtung‹ aller anderen Differenzbildungen vorgibt. Zwar können in einer real existierenden Gesellschaft auch mehrere Differenzierungsprinzipien koexistieren; Luhmann geht aber davon aus, dass eines davon das beherrschende ist und die Möglichkeiten anderer Teilungsmodi einschränkt: Ohne behaupten und begründen zu können, daß es in jedem Gesellschaftssystem eine dominante Differenzierungsform geben müsse, sehen wir darin doch die wichtigste Gesellschaftsstruktur, die, wenn sie sich durchsetzt, die Evolutionsmöglichkeiten des Systems bestimmt und auf die Bildung von Normen, weiteren Differenzierungen, Selbstbeschreibungen des Systems usw. Einfluß nimmt.33

31  Eine ähnliche These zur Herrschaft des Funktionsprinzips hatte bereits Max Weber aufgestellt. Ihm zufolge bot »die Bürokratisierung das Optimum an Möglichkeit für die Durchführung des Prinzips der Arbeitszerlegung in der Verwaltung nach rein sachlichen Gesichtspunkten, unter Verteilung der einzelnen Arbeiten auf spezialistisch abgerichtete und in fortwährender Übung immer weiter sich einschulende Funktionäre«. Für Weber lief die »konsequente Durchführung der bürokratischen Herrschaft« auf die »Nivellierung der ständischen ›Ehre‹« und damit, durch die Reduktion auf das »Prinzip der Marktfreiheit«, auf die »Universalherrschaft der ›Klassenlage‹« hinaus. (Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 717.) Luhmann dagegen glaubt, dass die Herrschaft der funktionalen Differenzierung auch die Beschreibung der Gesellschaft unter Klassengesichtspunkten obsolet gemacht habe. 32  Marx, »Einleitung zu den ›Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie‹ (August 1857)«, S. 40. 33  Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 611.

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Auch einige Züge der marxistischen Geschichtsdialektik scheinen bei Luhmann in veränderter Gestalt wiederzukehren. So ließe sich Luhmanns Gegenüberstellung von Gesellschaftsstruktur und Semantik als eine Neufassung der marxistischen Basis/Überbau-Problematik betrachten; zugleich erinnert es sehr an das marxistische Konzept des ›Hauptwiderspruchs‹, wenn Luhmann die Transformation der gesellschaftlichen Gesamtstruktur darauf zurückführt, dass das herrschende Differenzierungsprinzip an seine Grenzen stoße: »Solche Wachstumsmöglichkeiten finden jedoch, fast ist man versucht zu sagen: organische Schranken. Weitere Evolution ist dann unmöglich, oder sie erfordert den Übergang zu einer anderen Differenzierungsform.« 34 In seiner Kritik an der ›alteuropäischen‹ Semantik der marxistischen Entfremdungs- und Ausbeutungskritik beweist Luhmann darüber hinaus, wie der Soziologe Uwe Schimank bemerkt hat, eine verblüffende Nähe zu den Positionen des strukturalen Marxisten Louis Althusser: »Luhmanns ›Antihumanismus‹« erinnere deutlich an »die strukturalistische Lesart der Marx’schen Theorie«.35 So finde Althussers Versuch »das gesellschaftliche Ganze als Relationierungen sozialer, insbesondere ökonomischer Strukturelemente« zu fassen,36 seine Entsprechung in Luhmanns Aufforderung, die Gesellschaftsanalyse »von substantiellen Einheiten (Individuen) auf selbstreferentielle Operationen« umzustellen.37

Die Reinigung des Klassenbegriffs Luhmann hat sich nur in einem einzigen Text, dem 1985 erschienenen Aufsatz Zum Begriff der sozialen Klasse, direkt mit der Frage nach der Klassengliederung von Gesellschaft auseinandergesetzt. Darin geht es Luhmann nicht so sehr darum, »sowohl den Klassenbegriff als auch die Klassentheorie möglichst rasch und geräuschlos aus der Soziologie zu verabschieden«,38 sondern viel eher, dem Prinzip ›Klasse‹ eine untergeordnete und abgeleitete Position innerhalb der eigenen Theorie funktionaler Differenzierung zuzuweisen.39 Die Deutungshoheit kommt derjenigen Erklärung zu, die auch noch die gegensätzliche Position in sich aufnehmen kann. Die Theorie funktionaler Differenzierung halte, so Luhmann, 34  Ebd., S. 611. 35  Uwe Schimank, Differenzierung und Integration der modernen Gesellschaft. Beiträge zur

akteurzentrierten Differenzierungstheorie 1, 2015, S. 60. 36  Ebd. 37  Niklas Luhmann: Ökologische Kommunikation. Kann die moderne Gesellschaft sich auf ökologische Gefährdungen einstellen? Opladen: Westdeutscher Verlag, 1986, zit nach ebd. 38  Reinhard Kreckel, »Klassentheorie am Ende der Klassengesellschaft«, in: Peter A. Berger und Michael Vester (Hg.), Alte Ungleichheiten, neue Spaltungen, Wiesbaden, 1998, 31 – 48, S. 36. 39  Vgl. Luhmann, »Zum Begriff der sozialen Klasse«, S. 150: »Der Begriff ist nicht obsolet. Er muß nur anders zugeschnitten werden, damit man ihn in eine Theorie der modernen Gesellschaft einpassen kann.«

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eine Theorie der Entstehung von Klassen bereit; dagegen habe die Klassentheorie keine Erklärung für das Phänomen funktionaler Differenzierung.40 Das größte Problem des Klassenbegriffs sieht Luhmann in der Bindung an das Modell einer ökonomischen Erklärung von sozialer Ungleichheit. Wie Luhmann in einem kurzen historischen Exkurs erläutert, sei die »Rückführung von sozialen Klassen auf ihre Stellung zum Produktionsprozeß […] zuerst von den Physiokraten vorgeschlagen worden«;41 seitdem gelte »die Wirtschaft als derjenige Faktor […], der die Einteilung und die Zugehörigkeit zu Klassen vor allem bestimmt«.42 Die Idee einer ökonomischen Determinierung der Klassenteilung, wie sie vor allem durch den Marxismus herrschend geworden sei, verkenne aber den besonderen Charakter der modernen, funktional differenzierten Gesellschaft. In dieser sei es ausgeschlossen, dass das strukturierende Prinzip eines Teilsystems (der Ökonomie) alle anderen Teilsysteme bestimmt. Wenn das soziale System aus spezialisierten, in sich abgeschlossenen Funktionssystemen besteht, kann es keine Determination (nicht einmal ›in letzter Instanz‹) durch das Prinzip der Ökonomie geben. Klassenteilung ist demnach nicht das beherrschende Strukturprinzip der modernen Gesellschaft. In der funktional bestimmten Moderne müsse sie eher als ein archaisches, dysfunktionales Relikt der stratifikatorischen Ordnung betrachtet werden. Nach Luhmann bezeichnet die Rede von Klassen nur den »Sonderfall eines Schichtungssystems«,43 eine späte Form der hierarchischen Gesellschaftsbeschreibung, die eher den Verfall als die Blüte des alten Ordnungsprinzips anzeigt. Der Machtverlust der stratifikatorischen Gliederung zeigt sich vor allem in dem »weitgehenden Verzicht auf Beeinflussung von Interaktion«.44 In einer ständischen Gesellschaft ist »die Wahrnehmung und Beschreibung gesellschaftlicher Verhältnisse ganz durch die Interaktion unter Anwesenden beherrscht«;45 entsprechend selbstverständlich ist es, dass das gesellschaftsstrukturierende Prinzip der hierarchischen Schichtung in allen Interaktionen mitabgebildet wird. Dagegen werden die Schichtungsverhältnisse in den Interaktionen einer funktional differenzierten Gesellschaft »nach Möglichkeit unsichtbar gemacht oder nur versteckt signalisiert«.46 Auf diese Weise gehe »die interaktionelle Präsenz der Gesamtgesellschaft verloren«; die Einheit der Gesellschaft könne nicht mehr als 40  Vgl. ebd., S. 151: »Zugespitzt gesagt: Man kann mit Hilfe der Theorie funktionaler Dif-

ferenzierung die eigentümliche semantische Karriere des Klassenbegriffs begreifen, aber nicht umgekehrt: aus einer Klassentheorie ableiten, weshalb die Differenzen zwischen den Funktionsbereichen in der modernen Gesellschaft eine so große Bedeutung haben.« 41  Ebd., S. 120. 42  Ebd. 43  Ebd., S. 131. 44  Ebd., S. 131 – 132. 45  Ebd., S. 132 – 133. 46  Ebd., S. 133.

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Ordnung von Rangdifferenzen ausgedrückt und »in der Interaktion manifestiert werden«.47 Die Rede von den Klassen lässt sich auf diese Weise als ein Symptom des Niedergangs der alten Ordnung betrachten: Anders als die Rangunterschiede der alten Gesellschaft müssen die mit dem Wort Klasse bezeichneten Schichtunterschiede »darauf verzichten […], Interaktion zu regulieren«,48 d. h. es kommt ihnen keine strukturbildende Kraft mehr zu. Zwar kann man, wie Luhmann sagt, auch in einer funktional differenzierten Gesellschaft »noch Stratifikation in der Form von sozialen Klassen« finden; doch seien diese »jetzt Nebenprodukte der Eigendynamik der Funktionssysteme«:49 Funktionale Differenzierung erzwingt keinen Verzicht auf Schichtung. Eklatante Differenzen an Reichtum und Ansehen, Beweglichkeit und Partizipationschancen, Informiertheit, Lebensgenuß und Lebenssicherheit bestehen nach wie vor. Aber diese Differenzen dienen nicht mehr der primären Gesellschaftsdifferenzierung, und sie müssen sich der neuen Ordnung einpassen.50

Klassenteilung lässt sich damit als ein Sekundäreffekt der funktionalen Differenzierung betrachten, eine Form, in der das Prinzip der stratifikatorischen Gliederung in abgeschwächter, gleichsam folkloristischer Weise fortlebt. Im Vergleich zu den alten, hierarchischen Gesellschaften erlauben Klassengesellschaften »größere Freiheiten der Rollenwahl«; sie benutzen »kaum normative, wohl aber wirtschaftliche Schranken des Zugangs zu Rollen« und können, wie Luhmann sagt, »die Einzelnen daher auch kaum motivieren, ihm unangenehme oder lästige Pflichten zu übernehmen«.51 Wenn Schichtung ›nur‹ als Klassenbildung realisiert ist, verschwinden die aufdringlichen Rangordnungen und Platzanweisungen; die Schichten müssen nicht mehr für alle sichtbar »in eine gesellschaftseinheitliche Rangordnung gebracht werden«.52 In einer vom Primat der funktionalen Differenzierung bestimmten Gesellschaft bestünden zwar immer noch Ungleichheiten – »und zwar mehr als zuvor« – sie ließen sich aber »nicht mehr auf Klassenstrukturen reduzieren«. Dazu gebe es »zu viele, wie man heute sagt, milieuspezifische Einflüsse«.53 Wie Luhmann deutlich machen will, lässt sich aus dem Prinzip Klasse keine adäquate Beschreibung moderner, funktional gegliederter Gesellschaften gewinnen. Klasse müsse vielmehr »als historischer Begriff behandelt werden«, als »Selbst-

47  48  49  50  51  52  53 

Ebd. Ebd., S. 131. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 612. Luhmann, »Zum Begriff der sozialen Klasse«, S. 130. Ebd., S. 131. Ebd., S. 132. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1058.

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beschreibung der Gesellschaft in einer bestimmten Phase ihrer Evolution«.54 In Die Gesellschaft der Gesellschaft spricht er von einer »Überleitungssemantik«, die »die alte Gesellschaft noch nicht aus den Augen läßt, aber schon die Ansatzpunkte bietet für eine Registrierung radikaler Veränderungen«.55 Der Begriff der Klasse steht damit für eine funktional differenzierte Gesellschaft, die sich nur noch nicht als solche erkannt hat. In den Klassenunterschieden jedoch ein Strukturprinzip der aktuellen Gesellschaft erkennen zu wollen, ist für Luhmann nur Ausdruck eines überspannten, polemischen Diskurses, dessen alarmistische Meldungen zur sozialen Ungleichheit einer nüchternen Betrachtung nicht standhalten: »Man wird in der gesellschaftlichen Alltagskommunikation nicht sagen dürfen: alles Unsinn; wohl aber: alles Übertreibung.« 56 Und so zielt Luhmanns Ehrgeiz vor allem darauf, den erhitzten Klassendiskurs abzukühlen, ihm die ideologische Aufladung zu nehmen, die er durch den Marxismus erfahren hat. Dazu gehört zunächst, den phantasmatischen Charakter von ›Klassenbewusstsein‹ zu demonstrieren: »Klassenbewußtsein kann nur mehr oder weniger künstlich, kann vor allem durch die Formulierung von Gegensätzen und Kampfszenen hergestellt werden.« 57 Vor allem aber geht es Luhmann darum, den Begriff des Klassenkampfs zu diskreditieren. Marx und dem Marxismus legt Luhmann zur Last, dass sie den Klassenbegriff, der zunächst nur dazu diente, »Schichtendifferenzierung« festzustellen, »zur Explikation von Gegnerschaft« missbraucht hätten:58 »Der Klassenbegriff wird über Dualisierung zum politischen Kampfbegriff, und die theoretische Konstruktion dafür findet sich im ›Kapital‹.« 59 So wird nicht nur eine Vielfalt möglicher Klassenlagen auf den Gegensatz von zwei Klassen reduziert, der entscheidende Schachzug besteht vielmehr darin, den traditionellen Gegensatz von Reich und Arm »in Richtung auf ein Verhältnis von Kapital und Arbeit umzuschreiben«: Dabei wird weder vergessen noch übersehen, daß die Kapitalisten reich und die Arbeiter arm sind, und dieser Hintergedanke ermöglicht es immer wieder, die Unterscheidung von Kapital und Arbeit mit Ressentiments, mit politischer Munition und mit humanen Appellen zu füllen.60

54  55  56  57  58  59  60 

Luhmann, »Zum Begriff der sozialen Klasse«, S. 129. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 1055 – 1056. Luhmann, »Zum Begriff der sozialen Klasse«, S. 149. Ebd., S. 132. Ebd., S. 150. Ebd., S. 124. Ebd., S. 123.

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Wie Luhmann beklagt, sei der Klassenbegriff durch seine Besetzung mit politischen Emotionen »nahezu unverwendbar« geworden.61 Dennoch scheint Luhmann darüber nachzudenken, wie er gerettet werden könnte. Dafür muss man offenbar in die Zeit vor seiner marxistischen Entstellung zurückgehen, bis in die Zeit, in der er als ein analytischer Allround-Begriff gebraucht wurde: Klassifikationen sind auf vielerlei Weise möglich, und wenn man den Begriff der ›Klasse‹ so verwendet, wie die Encyclopédie ihn auf Grund der Tradition anbietet, sind zahllose verschiedene Klassenbildungen möglich: nach Rasse, nach Regionen, nach Berufen, nach Schulabschlüssen, nach Haushaltsgröße etc. etc.62

Ein ›neutrales‹ Ordnungsinstrument, mit dem noch keine Vorentscheidung über das Kriterium der Einteilung getroffen wird: Mit einem solchen Klassenbegriff, wie ihn die Episteme der Aufklärung bereits ausgebildet hatte, könnte Luhmann sich durchaus anfreunden. Gereinigt von den ideologischen Spuren des Klassenkampfdenkens und befreit von der Zumutung, eine einheitliche Skalierung des Sozialen leisten zu müssen, könnte der Klassenbegriff ein nützliches Instrument darstellen, um die verschiedensten Ungleichheiten, die sich in der funktional differenzierten Gesellschaft erhalten (und die sich, nach Luhmann, nicht auf ökonomische Unterschiede reduzieren lassen) analytisch zu erfassen. Ein rein technisch definierter, unaufgeregt eingesetzter Klassenbegriff wäre damit in der Lage, den heutigen, flüchtigen Klassenbildungsprozessen auf die Spur zu kommen. Während Luhmann der Vorstellung entgegentritt, dass es sich bei der modernen Gesellschaft um eine Klassengesellschaft (also eine Gesellschaft, deren Struktur durch den Unterschied zwischen ökonomisch definierten Klassen begründet wäre) handeln könnte, hat er offenbar keine Schwierigkeiten, sie als eine ›Gesellschaft mit Klassen‹ zu betrachten, eine Gesellschaft, die sich ständig und nach wechselnden Kriterien neu sortiert und neue »Klassendifferenzierungsmechanismen« ausbildet.63 Da, wie Luhmann meint, »Herkunft […] für die Funktionssysteme kaum noch eine Rolle« spielt,64 könne es keine feststehenden Klassen mehr geben. Klassen bilden sich vielmehr ständig neu, sie erhalten sich oder gehen unter aufgrund sich ereignender oder ausbleibender Anschlussoperationen:

61  62  63  64 

Ebd., S. 119. Ebd., S. 150. Ebd., S. 146. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 734.

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Alle so gebildeten Klassen sind denn auch von Tag zu Tag auf laufende Reproduktion der Klassenzugehörigkeit ihrer Individuen angewiesen: Die Reichtumsklasse auf Zahlungen, die Organisationsklasse auf Entscheidungen (unter Einschluß der Entscheidung, nicht, oder nicht jetzt, zu entscheiden) und die Prominenzklasse auf Erwähnungen – vor allem in den Massenmedien, aber auch qua ›name dropping‹ in der Oberschichteninteraktion selbst.65

Erkennbar spricht Luhmann hier von sozialen Klassen in einem ungewohnten Sinn. Nicht nur gibt es eine gewisse Fixierung auf Elitenprobleme; es entsteht auch der Eindruck, als sei Klasse im Wesentlichen ein Begriff zu Beschreibung selbstgewählter Rollen und ›Mitgliedschaften‹ in Milieus oder ›Lebensstilgemeinschaften‹. In der funktional differenzierten Gesellschaft scheint es das Schicksal der sozialen Platzanweisung nicht mehr zu geben; vielmehr bleibt es den Individuen überlassen, den Klassifikationszusammenhang zu wählen, in dem sie beachtet und beurteilt werden wollen: »Eine weitere Eigentümlichkeit dieser offenen Klassenstruktur ist: daß sie den Individuen in gewissem Umfange eine Wahl der Selbstzuordnung gestattet. Sie können die eine Form der Aspiration als ihre Bezugsgruppe wählen und die anderen verachten.« 66 Solche Äußerungen haben Luhmann den Vorwurf eingetragen, das Problem der ökonomischen Ungleichheit zu missachten oder herunterzuspielen.67 Tatsächlich stellt Luhmann die provozierende Behauptung auf, die Umstellung des Gesellschaftssystems auf funktionale Differenzierung werfe »weit schwierigere Probleme auf als Fragen der Ungleichverteilung«.68 Doch soll dies offenbar nicht bedeuten, dass solche Fragen deshalb vernachlässigt werden könnten; gemeint ist eher, dass auch ihre Lösung noch durch die Bedingungen der funktionalen Gliederung bestimmt wird: Die Einheit der Gesellschaft besteht nun darin, daß die Politik nicht die Probleme der Wirtschaft, die Wissenschaft nicht die Probleme der Politik, das Recht nicht die Probleme der Familie lösen kann – und so, mutatis mutandis, für alle Intersystembeziehungen. […] Ungleichverteilung fällt in genau dieses Problemraster: Sie ist ein Problem, das die Politik nicht lösen kann, wenn die Wirtschaft oder die Erziehung es erzeugt, da die Politik es eben nur politisieren und nur mit dem eigenen Mittel des kollektiv bindenden Entscheidens behandeln kann.69

65  Luhmann, »Zum Begriff der sozialen Klasse«, S. 145. 66  Ebd., S. 146. 67  Vgl. Thomas Schwinn, »Soziale Ungleichheit und funktionale Differenzierung. Wieder-

aufnahme einer Diskussion«, Zeitschrift für Soziologie, Jg. 27, N° 1, 1998, 3 – 17. 68  Luhmann, »Zum Begriff der sozialen Klasse«, S. 150. 69  Ebd., S. 149 – 150.

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Ungleichheit besteht also fort, weil in der funktional differenzierten Gesellschaft niemand dafür verantwortlich gemacht werden kann. Luhmann stellt jedoch eine Art sozialtechnischer Lösung des Problems in Aussicht, für die nun wiederum in erstaunlicher Weise der Klassenbegriff reaktiviert wird. Der Vorschlag lautet, den Klassenbegriff als eine reflexive Selbstbeschreibung von Gesellschaft zu begreifen, die die Frage der »Verteilung der Verteilung« diskutierbar machen soll: Er [der Klassenbegriff, SG ] bezeichnet keinen primären Sachverhalt, auch nicht die soziale Ungleichheit als solche: vielmehr beschreibt die Gesellschaft im Klassenbegriff sich selbst als ein System, das Individuen auf Verteilungen verteilt und zu verkraften hat, daß dies ein Vorgang ist, der auch anders möglich wäre.70

Die damit angesprochene gesellschaftliche Austarierung von Ungleichverteilung lässt sich nach Luhmann am besten verwirklichen, wenn Verteilungen einfach beobachtet und gesteuert werden, ohne Rücksicht auf die vermeintlichen Ursachen der ungleichen Verteilung – und selbstverständlich ohne politische und moralische Wertung des Ungleichgewichts.71 Der Klassenbegriff wäre dann eine Art sozialkybernetisches Instrument, eine Art Messfühler im Regelkreislauf des sozialen Systems, mit dessen Hilfe eine Gesellschaft den Haushalt der Güter- und Chancenverteilung unter Kontrolle halten könnte. Wie und über welches Teilsystem ein als »Verteilungsverteilungsbewußtsein« 72 verstandener Klassenbegriff gesellschaftlich wirksam werden sollte, wird bei Luhmann nicht erläutert. Hier ist es auch eher interessant, nach den ideologischen Implikationen einer solchen Vorstellung von einem gereinigten, funktional gewordenen Klassenbegriff zu fragen. Offenbar hat Luhmann das Bedürfnis, eine bestimmte Tradition der Kritik, der moralischen Entrüstung, der polemischen Entgegensetzung usw. rückstandsfrei zu entsorgen – womit er Mitte der 1980er Jahre, auf dem Höhepunkt der neoliberalen Offensive – nicht alleine war. Kennzeichnend ist, dass er auf der Suche nach einem unbelasteten, nicht-ideologischen Klassenbegriff ausgerechnet auf das Klassifizierungsunternehmen der Aufklärung (dahin geht seine Anspielung auf die Encyclopédie) zurückkommt. Wenn der Klassenbegriff der Moderne, wie dieses Buch an verschiedenen Stellen plausibel machen will, von Anfang an zwischen den zwei Polen Klassifikation und Klassenkampf hin- und herschwankt, so nimmt Luhmann, angewidert vom Aspekt des Kampfes, Zuflucht bei der anderen Seite, der Prätention einer neutralen, objektiven Einteilung der Welt, wie sie für die barocken und aufklärerischen Klassifikationsunternehmen kennzeichnend war. Nicht zufällig erinnert daher Luhmanns sozialtechnisches Verständnis von ›Klasse‹ an die ersten Verwendungen des sozialen Klassenbegriffs in Deutschland, 70  Ebd., S. 129. 71  Vgl. ebd., S. 144. 72  Ebd., S. 129.

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die vor allem dazu gut waren, das Armenproblem ›von oben herab‹, d. h. durch staatliche Fürsorge in den Griff zu bekommen. Karl Philipp Moritz bemerkt 1786 die neue Neigung, »auch das menschliche Elend in Klassen zu ordnen, damit es etwa einer oder mehrere Menschen, die einen Staat zu beherrschen haben, mit einem Blick, wie auf einer Landkarte, übersehen und eins nach dem andern, so wie die Not am dringendsten wäre, abhelfen könnten«.73 So mag Luhmann vom Klassenbegriff die ›marxistische‹ Ideologie der polemischen Entgegensetzung, der Mobilisierung und des Kampfs abgestreift haben; wenn er jedoch meint, im Rückgriff auf den analytischen Klassenbegriff des 18. Jahrhunderts ein unbelastetes Einteilungsinstrument gefunden zu haben, so übersieht er, dass das aufklärerische Ideal einer neutralen Beobachtung und objektiven Beurteilung sich von Anfang an mit einer anderen ›Ideologie‹ verbindet, nämlich der einer möglichst reibungslosen, funktionalen Steuerung des Sozialen. Die Klasse, wie Luhmann sie gerne hätte, wäre zwar nicht mehr mit dem Pöbel, dafür aber mit der »Policey« im Bunde.74

Nach dem Vorbild der Verwaltung Im Hinblick auf die in diesem Buch zur Debatte stehende Frage nach dem Zusammenhang von Klassifikation und Klassenteilung sind an Luhmanns Theorie sozialer Differenzierung zwei Punkte besonders hervorzuheben: So beweist Luhmann ein sonst kaum zu findendes Gespür für den Zusammenhang zwischen den Teilungen des Sozialen und den Urteilen der Erkenntnis. Hier wie dort ist »die Wahl des Differenzschemas eine höchst folgenreiche Vorentscheidung, weil sie die Informationsgewinnung und -verarbeitung reguliert. Sie legt fest, in welchem Auswahlbereich etwas als etwas erscheint.« 75 Die Durchsetzung eines bestimmten gesellschaftlichen Differenzierungsprinzips ist gleichbedeutend mit der Durchsetzung eines bestimmten Erkenntnisschemas, das bestimmte Beobachtungen erlaubt und andere nicht. Zum anderen ist zu betonen, dass Luhmann stets der Operation den Vorzug gegenüber dem Gegenstand gibt. Gesellschaftliche Unterschiede gehen auf Unterscheidungen zurück, Teile auf Teilungen. Luhmann selbst war der Hinweis wichtig, dass Systemdifferenzierung nicht als »Dekomposition 73  Karl Philipp Moritz, »Das menschliche Elend« (1786), in: ders., Werke in zwei Bänden,

hg. v. Jürgen Jahn, Bd. 2, Berlin, Weimar, 1973, 243 – 247, S. 243.

74  Zur »Policey« des 18. Jahrhunderts als einer unterschwellig agierenden, proto-kyber-

netischen Regierungskunst vgl.: Joseph Vogl, »Staatsbegehren. Zur Epoche der Policey«, Deutsche Vierteljahresschrift für Literaturwissenschaft und Geistesgeschichte, Jg. 74, N° Heft 4, 2000, 600 – 626; Wolfgang Schäffner u. Joseph Vogl, »Policey-Sachen«, in: Walter Hinderer (Hg.), Friedrich Schiller und der Weg in die Moderne, Würzburg, 2006, 47 – 65; Joseph Vogl, »Regierung und Regelkreis. Historisches Vorspiel«, in: Claus Pias (Hg.), Cybernetics | Kybernetik. The Macy-Conferences 1946 – 1953. Band 2. Essay und Dokumente, Zürich, Berlin, 2016, 67 – 79. 75  Luhmann, »Zum Begriff der sozialen Klasse«, S. 148.

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eines ›Ganzen‹ in ›Teile‹« gedacht werden dürfe. Es gibt also nicht zuerst die Gesellschaft als ganze, die dann in unterschiedlicher Weise »in Teile zerlegt« würde.76 Auch wenn, wie Armin Nassehi bemerkt hat, »der Sprachgebrauch Luhmanns immer wieder hinter diesen Ertrag zurück[fällt]« 77, so scheint Luhmann doch betonen zu wollen, dass »der Differenzierungsvorgang […] keine Koordination durch das Gesamtsystem voraus[setzt]«, dass es vielmehr die spontane Evolution der Teilungsvorgänge ist, die erst das Gesamtsystem schafft.78 Luhmann ruft sogar Derrida zu Hilfe, um seine Vision eines aus Differenzierungen emergierenden Systems zu stützen: Das [Bild vom Ganzen und seinen Teilen, SG ] hatte bekanntlich auch Jacques Derrida moniert und deshalb einen zeitbezogenen Begriff der différance vorgeschlagen. Auch für unsere folgenden Analysen geht es nicht um Dekomposition einer ursprünglichen Einheit, sondern um die Emergenz von Unterschieden in einem als unmarkiert vorauszusetzenden Weltzustand.79

Zumindest der Absicht nach betrachtet die Systemtheorie gesellschaftliche Ausdifferenzierung nicht als Aufteilung eines vorhandenen Bestands, sondern vielmehr als einen offenen Prozess der Differenzproduktion, deren Wahlmöglichkeiten lediglich durch die bereits vollzogenen Teilungen beschränkt werden. Gesellschaftliche Ausdifferenzierung vollzieht sich nicht als Teilung eines Dings namens Gesellschaft, sondern als »Differenzierung in der Gesellschaft«, als »ein Nebeneinander unwahrscheinlicher Anschlussroutinen, deren Wahrscheinlichkeit aber dadurch erhöht wird, dass an codierte Routinen angeschlossen werden kann«.80 Es ist also das Zusammenspiel von zufälliger Teilung und Begrenzung des Zufalls durch bereits getätigte Teilungen, aus dem sich neue Formen der Differenzierung ergeben. Der Wandel der Differenzierungsformen ist damit nicht als Entwicklungsgeschichte, d. h. als teleologischer Prozess, sondern als Evolution zu verstehen.81 So ist es nach Luhmann auch »kaum denkbar, daß die Umstellung von einer Differenzierungsform auf eine andere nach einem Plan vollzogen werden könnte«;82 der Wandel ergibt sich vielmehr aus einem offenen, autopoietischen Prozess, dessen Wege nicht vorherzubestimmen sind. 76  Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 598. 77  Armin Nassehi, »Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik«,

Zeitschrift für Soziologie, Jg. 33, N° Heft 2, April, 2004, 98 – 118, S. 101. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 598. Ebd., 598, Anm. 5. Nassehi, »Die Theorie funktionaler Differenzierung im Horizont ihrer Kritik«, S. 102 – 103. Vgl. Luhmann, »Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie«, S. 24: »Die Evolutionstheorie tauscht sozusagen ›Gesetz‹ gegen ›Zufall‹ aus und verlagert den Analyseschwerpunkt von der Sicherheit, die die Gesetzlichkeit bietet, in die Frequentisierung des Zufallens.« 82  Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 710. 78  79  80  81 

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Sobald sich Luhmann allerdings daran macht, seine Theorie der Sozialen Differenzierung am historischen Material zu demonstrieren, verliert sich der Eindruck der Offenheit. Nicht zuletzt aus Luhmanns technischer Redeweise – er spricht gerne von der »Umstellung des Gesellschaftssystems auf einen Primat funktionaler Differenzierung« 83 oder von der »Umstellung der Gesellschaft auf funktionale Differenzierung« 84 – ergibt sich der Eindruck, dass es sich hier um eine Abfolge von Systemzuständen handelt. Wenn Luhmann sagt, dass die »Primärform der gesellschaftlichen Differenzierung von Rang auf Funktion umgestellt wird« 85, wen sollte man für den Akteur dieses Umschaltprozesses halten, wenn nicht »das System«, das sich dadurch einer veränderten Gleichgewichtslage anpasst? So scheint dem geschichtlichen Spiel der Differenzen nicht viel übrig zu bleiben als die von Luhmann herauspräparierten, sich aus der Systemlogik ergebenden Schritte nachzubuchstabieren. Die Geschichte der Teilungsvorgänge, die Marx und Engels als eine Geschichte von Klassenkämpfen beschrieben hatten, erscheint nun als eine Geschichte von Anpassungsschritten, die sich aus der Eigenlogik des autopoietischen Systems Gesellschaft ergeben. Wie Luhmann selbst bemerkt, wird mit dem Begriff der Autopoiesis »das bisher dem ›Subjekt‹ vorbehaltene Privileg der Selbstreferenz auf das ›Objekt‹ übertragen«.86 Es ist daher kein Wunder, wenn autopoietische Systeme, wie z. B. soziale Systeme, die Eigenschaften von Subjekten annehmen und als Träger von Handlungen und Entscheidungen erscheinen. Diese Hypostasierung einer Systemlogik widersprach zweifellos den theoretischen Einsichten Luhmanns. Für den Haus- bzw. Dienstgebrauch war dagegen aber offenbar nichts einzuwenden, und so entsteht in seinen Beschreibungen immer wieder der Anschein, als handele es sich bei der Gesellschaft um eine Art ›automatisches Subjekt‹, das im Lauf seiner Geschichte eine Reihe von vorgezeichneten Zuständen durchlaufen muss. Die Brauchbarkeit der Systemtheorie für die Untersuchung gesellschaftlicher Teilungsvorgänge wird zudem dadurch verringert, dass sie selbst eine Reihe von keineswegs selbstverständlichen Trennungen vornimmt, die starke Vorentscheidungen darüber treffen, was überhaupt in die Untersuchung eingehen kann. Dazu gehört zunächst das Dogma der »operativen Geschlossenheit«: Luhmanns Systemtheorie geht, zumindest nach der ›autopoietischen Wende‹ der frühen 1980er Jahre, davon aus, dass jedes System auf einen bestimmten Modus des Operierens festgelegt ist und diesen nicht verlassen kann. So können gesellschaftliche Systeme, die auf der Basis von ›Kommunikation‹ laufen, sich nur durch Kommunikationen reproduzieren, und diese Kommunikationen können Ebd., S. 683. Ebd., S. 848. Luhmann, »Zum Begriff der sozialen Klasse«, S. 130. Niklas Luhmann: »Steuerung durch Recht? Einige klarstellende Bemerkungen«, in: Zeitschrift für Rechtssoziologie, Nr. 12, 1991, S. 142, zit. nach Schimank, Differenzierung und Integration der modernen Gesellschaft, S. 60. 83  84  85  86 

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nicht mit Operationen interferieren, die in anderen Systemzusammenhängen wirksam sind: Als Kommunikationssystem kann die Gesellschaft nur in sich selber kommunizieren, aber weder mit sich selbst, noch mit ihrer Umwelt. Sie produziert ihre Einheit durch operativen Vollzug von Kommunikationen im rekursiven Rückgriff und Vorgriff auf andere Kommunikationen. Sie kann dann, wenn sie das Beobachtungsschema ›System und Umwelt‹ zu Grunde legt, in sich selbst, über sich selbst oder über ihre Umwelt kommunizieren, aber nie mit sich selbst und nie mit ihrer Umwelt.87

Systeme stehen daher nie in direktem Austausch mit ihrer Umwelt; sie operieren lediglich »unter der Illusion eines Umweltkontaktes«.88 Nur unter der Voraussetzung ihrer Abgeschlossenheit und Autonomie können verschiedene Arten von Systemen, z. B. psychische und soziale, aufeinander einwirken, im Modus der sog. ›Interpenetration‹, der wesentlich ein Modus der Störung ist: »Soziale Systeme entstehen auf Grund der Geräusche, die psychische Systeme erzeugen bei ihren Versuchen zu kommunizieren.« 89 Eine ebenso starke Vorannahme betrifft die Geschlossenheit und Autonomie der Teilsysteme in der modernen, d. h. funktional differenzierten Gesellschaft. Hier entwickelt jedes Funktionssystem »eine elaborierte Semantik der Selbstsinngebung, der Reflexion, der Autonomie«.90 Jeweils eigene »Codes und Programme« 91 erleichtern die Anschlusskommunikationen innerhalb des Teilsystems, verhindern aber zugleich eine Kommunikation zwischen den Systemen. Für Luhmann bildet dieser systematisch auferlegte Zwang zur Nichteinmischung (die Religion hält sich aus der Erziehung heraus, die Erziehung aus der Politik, die Politik aus der Wirtschaft usw.) eine wesentliche Errungenschaft der Moderne, entsprechend stark hat er auch die Trennung der Funktionsbereiche hervorgehoben. Dass es solche Abgrenzungen gibt, lässt sich kaum bestreiten; es kann jedoch bezweifelt werden, ob darin das dominante Differenzierungsprinzip der modernen Gesellschaft zu finden ist. Entscheidender ist aber vielleicht die Frage, ob es sich bei dieser Aufteilung der Gesellschaft in sauber getrennte Zuständigkeitsbereiche nicht ohnehin nur um einen Traum der Ordnung handelt, der sich über die profane Realität der Vermischungen und Grenzüberschreitungen zu erheben versucht. Mit Andreas Reckwitz lässt sich die für die Systemtheorie konstitutive »Logik der Separierung, der Trennung von gegeneinander abgrenzbaren Sphären, 87  Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 96. 88  Ebd., S. 93. 89  Niklas Luhmann, Soziale Systeme. Grundriss einer allgemeinen Theorie (1984), Frankfurt

a. M., 1991, S. 292. 90  Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 745. 91  Ebd., S. 150.

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der Grenzerhaltung zwischen diesen Sphären« als ein Erbe der cartesianischen Spaltung von Bewusstsein und Welt verstehen.92 Doch hat, wie schon Habermas bemerkt hat, Luhmanns Postulat einer Trennung von sozialen Systemen und individuellen Bewusstseinen auch noch ein profaneres Vorbild. Was darin mitschwingt, ist die Vorstellung einer sachlichen, von psychischen Turbulenzen nicht zu beeindruckenden Verwaltung: »Der Aktenfluß zwischen Ministerialbehörden und das monadisch eingekapselte Bewußtsein eines Robinson liefern die Leitvorstellungen für die begriffliche Entkoppelung von sozialem und psychischem System, wobei das eine allein auf Kommunikation und das andere allein auf Bewußtsein basiert sein soll.« 93 Die von Luhmann verhängte Trennung zwischen Psychischem und Sozialem, zwischen Körper und Kommunikation ließe sich auf diese Weise auf das Gebot einer »Unterscheidung von ›persönlich‹ und ›dienstlich‹« zurückführen, die Luhmann schon in seinen frühen organisationstheoretischen Arbeiten als Grundbedingung für das ordentliche Funktionieren einer Verwaltung beschrieben hat.94 In ihrer Sortierleidenschaft und Funktionsbegeisterung erweist sich die Systemtheorie als exemplarische Theorie des bürokratischen Zeitalters; sie entspricht dem philosophischen Ordnungszwang, der sich schon für Nietzsche in der Figur des »Muster-Beamten« verkörperte: Das Grundvorurtheil ist aber: daß die Ordnung, Übersichtlichkeit, das Systematische dem wahren Sein der Dinge anhaften müsse, umgekehrt die Unordnung, das Chaotische, Unberechenbare nur in einer falschen oder unvollständig erkannten Welt zum Vorscheine komme – kurz ein Irrthum sei –: – was ein moralisches Vorurtheil ist, entnommen aus der Thatsache, daß der wahrhaftige zutrauenswürdige Mensch ein Mann der Ordnung, der Maximen, und im Ganzen etwas Berechenbares und Pedantisches zu sein pflegt. Nun ist es aber ganz unbeweisbar, daß das Ansich der Dinge nach diesem Recepte eines Muster-Beamten sich verhält.95

Unsichere Grenzziehungen In einem Artikel mit dem provozierenden Titel »Zur Unterkomplexität der Differenzierungstheorie« hat die Wissenschaftssoziologin Karin Knorr Cetina einige »empirische Anfragen« an Luhmanns Theorie der funktionalen Differenzierung 92  Andreas Reckwitz, »Die Logik der Grenzerhaltung und die Logik der Grenzüberschreitungen. Niklas Luhmann und die Kulturtheorien«, in: Günter Burkart und Gunter Runkel (Hg.), Luhmann und die Kulturtheorie, Frankfurt a. M., 2004, 213 – 240, S. 218. 93  Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne. Zwölf Vorlesungen, Frankfurt a. M., 2011, S. 437. 94  Vgl. Niklas Luhmann: Funktionen und Folgen formaler Organisation. Berlin: Duncker & Humblot, 1964, zit. nach Schimank, Differenzierung und Integration der modernen Gesellschaft, S. 64. 95  Nietzsche, Nachgelassene Fragmente, Frühjahr 1884 bis Herbst 1885, S. 632.

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gerichtet. Was das System der Wissenschaft angehe, so zeigten praxeologische, ethnomethodologische Forschungen, dass von einer Autonomie der Funktionssysteme, wie Luhmann sie postuliere, keine Rede sein könne. So finde sich keine »wissenschaftlich[e] ›Methode‹, die nicht immer auch schon politische Strategie wäre«, keine »spezifisch wissenschaftlich[e] Rationalität, die nicht immer auch soziales Aushandeln, rhetorische Darstellung oder kommerzielle Techniken involvieren würde«, keine »spezifisch wissenschaftlich[e] Wahrheit, die nicht immer auch Fiktion oder ökonomische Kalkulation beinhalten würde«.96 Daraus ergibt sich ein grundlegender Einwand gegen Luhmanns generelle Vorannahme der Geschlossenheit von Systemen – und die Aufforderung zu einer Betrachtung, die die realen Beziehungen der Akteure über die vermeintlichen Systemgrenzen hinweg verfolgt: Mit diesen knappen Schilderungen soll angedeutet werden, daß auch die von der Differenzierungstheorie im Sinne einer fixierten Realität vorausgesetzte Geschlossenheit eine Variable darstellt, die sich in manchen Bereichen in die Tat umgesetzt, in anderen aber ständig zurückgewiesen findet. […] So hindern etwa rekursive Operationsweisen und geschlossene Systemgrenzen einen Bereich nicht, gegebenenfalls Akteure und Netzwerke zu profilieren, sich außerhalb von Systemgrenzen Strukturen zu leisten und als Teilbereich von Märkten zu fungieren. Seinsweisen sind (wie) Register, zwischen denen sich das realzeitliche Geschehen bewegt – letzteres existiert nicht eingefangen in nur eine Existenzform.97

Auch wenn Luhmann das anders gesehen hat:98 Ein wirksamer Einwand gegen die Theorie der funktionalen Differenzierung liegt in dem praktischen, ›empirischen‹ Nachweis, dass sich reales geschichtliches Geschehen nicht an Zuständigkeitsbereiche hält, dass Operationen im gesellschaftlichen Feld nie nur einem Funktionszusammenhang angehören, sondern das ganze gesellschaftliche Feld durchqueren können. In diesem Sinn hat Andreas Reckwitz die Auffassung vertreten, dass die wahre Opposition gegen Luhmanns theoretizistisches Ordnungsunternehmen nicht in der Habermas’schen Diskursethik, sondern in den ›praxeologischen‹ Kulturtheorien französischer, d. h. poststrukturalistischer Provenienz zu finden sei: »Statt der Luhmannschen Logik der Trennungen des Sozialen vom Psychischen, vom Körperlichen und vom Materialen zeigt sich dort eine Logik der Expansion des Sozialen, des Kulturell-Symbolischen bis in die Strukturen des Psychischen, des Körperlichen und letztlich sogar des Mechani96  Karin Knorr Cetina, »Zur Unterkomplexität der Differenzierungstheorie. Empirische Anfragen an die Systemtheorie«, Zeitschrift für Soziologie, Jg. 21, N° 6, 1992, 406 – 419, S. 412. 97  Ebd., S. 416 – 417. 98  Vgl. Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 608 »Wer von Handlungen ausgeht, wird daher Mühe haben, die Theorie der Systemdifferenzierung überhaupt zu verstehen […].«

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schen hinein, eine Logik der Grenzüberschreitung zwischen diesen Sphären.« 99 Gegen die »Logik der Trennung, der eindeutigen Grenzen und Grenzerhaltung« setzten Autoren wie Pierre Bourdieu, Michel Foucault, Judith Butler oder Bruno Latour eine »Logik der Überschreitung scheinbar vorgegebener Differenzen und der Markierung neuer Differenzen, […] eine Logik der uneindeutigen und umstrittenen Grenzziehungen«.100 Foucault und Butler dürften Luhmann kaum zur Kenntnis genommen haben; Bourdieu beschränkte sich darauf, seine Hörer beiläufig vor der aus Deutschland kommenden, alles verschlingenden Theorie zu warnen.101 Zu einer direkten Konfrontation zwischen der systemtheoretischen und der praxeologischen Position kam es jedoch 1995 auf einer Bielefelder Konferenz von Wissenschafts- und Technikforschern. Nach einem Referat Luhmanns, in dem die Wissenschaft ein weiteres Mal als »ein autopoietisches Subsystem der modernen Gesellschaft« deklariert worden war, verkündete ein »ziemlich erregter Bruno Latour«, daß die Systemtheorie »für all das [stehe], was er und seine Kollegen in den Science Studies seit 20 Jahren bekämpften«:102 [Latour] wurde nicht müde, in der Differenzierungstheorie das eigentliche Übel der Systemtheorie auszuprangern. Verbinden, vernetzen, verknoten, einschließen, einbürgern, all das wollten er und seine Kollegen tun, um endlich die Dinge wieder in das Kollektiv aufzunehmen, wo sie sich ja auch immer mit uns zusammen aufgehalten haben … Es war hoffnungslos. Luhmann wollte sich einfach nicht auf eine solche Auseinandersetzung einlassen.103

Es gibt gute Gründe, sich hier auf die Seite des zornigen Latour zu stellen, der an ›Gesellschaft‹ nicht nur Kommunikationen, sondern auch noch alle möglichen anderen Phänomene, insbesondere auch technische Dinge teilhaben lassen will. Gerade wenn es um die Analyse von Prozessen der gesellschaftlichen Teilung geht, wäre es wenig sinnvoll, die Nachforschungen künstlich auf das Gebiet gesellschaftlicher Sinnproduktion einzuengen. Wie die Untersuchung jeder beliebigen Situation gesellschaftlicher Neuaufteilung zeigen kann, sind Spaltungsoperationen nicht nur vielfach ›übercodiert‹, sie sind auch ›schmutzig‹ in dem 99  Reckwitz, »Die Logik der Grenzerhaltung und die Logik der Grenzüberschreitungen«, S. 219. 100  Ebd., S. 235. 101  Vgl. Pierre Bourdieu, Über den Staat. Vorlesungen am Collège de France 1989 – 1992, Berlin, 2017, S. 141: »Eine Neuauflage dieser Theorie wird aus Deutschland zu uns herüberschwappen, in Gestalt der neofunktionalistischen Theorie Niklas Luhmanns, die sehr allgemein ist und alles auffrißt. Diese Parenthese soll Sie vorbeugend impfen, ehe es soweit ist…«. 102  Gerald Wagner, »Signaturen der Wissensgesellschaften – ein Konferenzbericht«, Soziale Welt, N° 47 (4), 1996, 480 – 484, S. 480 – 481. 103  Ebd., S. 481.

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Sinn, dass nicht nur signifikante, sondern auch asignifikante, materielle Kräfte darin eingehen. Nach Luhmann gehört die »Materialität« künstlerischer oder anderer Sinnproduktionen »immer zur Umwelt und kann nie Komponente der Operationssequenzen des Systems werden«;104 »nicht das mediale Substrat, sondern nur die Formen« seien »im System operativ anschlußfähig«.105 Eine nicht von den Reproduktionszwängen des Systems, sondern von den tatsächlich stattfindenden Operationen ausgehende Analyse würde dagegen das Spiel technischer, medialer, dinglicher Elemente als eine wesentliche Voraussetzung jeder Differenzproduktion und damit auch des Machens von gesellschaftlichen Unterschieden begreifen. Anstatt sich auf das selbstgenügsame Spiel der Kommunikationen zu beschränken, will dieses Buch gerade auch die materiellen, technischen Aspekte der Unterscheidungen beleuchten. Denn wenn irgendwo die Macht der Medien erkennbar wird, dann in den Teilungen und Trennungen, die sie verhängen. Ein Einwand, den Rudolf Maresch gegen Luhmann erhoben hat, trifft sehr genau, worin die unmittelbare gesellschaftliche Wirksamkeit von Medien liegt: in ihrer Fähigkeit, Teilungen im Sozialen zu bewirken, und zwar ohne den Umweg über Sinn: »Medien schreiben an Kommunikationen mit. […] Indem sie Einschnitte, Faltungen und Stellungen dem Gesellschaftskörper zufügen, teilen sie Sichtbares von Unsichtbarem, Zustellbares von Unzustellbarem. Teilen, Aufteilen und Zuteilen – all das sind Mit-Teilungen von Medien.« 106

Bourdieu: Realität der Klassen, Praktiken der Klassifizierung Während die Systemtheorie in Italien, Lateinamerika und Japan schon früh rezipiert wurde, hat sie in Frankreich wenig Aufmerksamkeit erfahren, was wohl nicht zuletzt an dem beherrschenden Einfluss der Bourdieu’schen Soziologie lag, die dem Luhmann’schen ›Neofunktionalismus‹ feindlich gegenüberstand. Dagegen haben deutsche Soziologen den Ehrgeiz gezeigt, Anschlussstellen zwischen dem Theoriekosmos Luhmanns und dem Bourdieus zu finden.107 Vor allem Bourdieus Feldtheorie wurde als ein theoretisches Äquivalent zu Luhmanns Konzept der funktionalen Differenzierung dargestellt. Bourdieus Einsicht, »dass verschiedene Bereiche der Gesellschaft unterschiedliche Funktionsweisen und Ziele« haben,108 schien die These von der funktionalen Differenzierung zu bestätigen; die sich 104  Niklas Luhmann, Die Kunst der Gesellschaft (1995), Frankfurt a. M., 1997, S. 161. 105  Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 201. 106  Rudolf Maresch, »Die Kommunikation der Kommunikation«, in: Rudolf Maresch und

Niels Werber (Hg.), Kommunikation, Medien, Macht, Frankfurt a. M., 2000, 265 – 298, S. 296.

107  Vgl. Armin Nassehi u. Gerd Nollmann (Hg.), Bourdieu und Luhmann. Ein Theorien-

vergleich (2004), Frankfurt a. M., 2016.

108  Boike Rehbein u. Gernot Saalmann, »Feld (champ)«, in: Gerhard Fröhlich und Boike

Rehbein (Hg.), Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar, 2009, 99 – 103, S. 100.

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»fast unfreiwillig« ergebenden »Parallelen in der Theoriearchitektur« schienen »ein starkes Argument für die Plausibilität eines differenzierungstheoretischen Zugangs zum Gesellschaftsbegriff« abzugeben.109 Der Luhmannianer André Kieserling glaubte sogar, bei Bourdieu sei das »Gewicht« der funktionalen Differenzierung so groß, dass man ihn keinesfalls »für die These zitieren« könne, »die moderne Gesellschaft sei eine Klassengesellschaft«.110 Bourdieu selbst hat sich zu Luhmanns Systemtheorie kurz aber eindeutig geäußert. »Oberflächliche Ähnlichkeiten« dürften nicht darüber hinwegtäuschen, dass »beide Theorien radikal verschieden« seien.111 Der »Begriff Feld« schließe »den Funktionalismus und den Organizismus« der Luhmann’schen Theorie aus; im Unterschied zu einem System sei ein Feld »ein Ort von Kräfte- und nicht nur Sinnverhältnissen und von Kämpfen um die Veränderung dieser Verhältnisse, und folglich ein Ort des permanenten Wandels«.112 So sei auch die »Kohärenz« des Feldes, »seine scheinbare Ausrichtung auf eine einheitliche Funktion« nichts anderes als »ein Produkt von Konflikt und Konkurrenz und kein Produkt irgend einer immanenten Eigenentwicklung der Struktur«.113 Zudem gebe es kein Postulat der Geschlossenheit; jedes Feld bilde vielmehr »einen potentiell offenen SpielRaum mit dynamischen Grenzen, die ein im Feld selbst umkämpftes Interessenobjekt darstellen«.114 Entsprechend sollte es für die Analyse eines Feldes nicht darum gehen, seinen Leitcode oder seine Anschlusslogik zu bestimmen, sondern die »Dynamik der Kämpfe« zu erfassen, aus denen es hervorging.115 Eine solche Untersuchung würde dann – ein weiterer Unterschied zu Luhmann – keineswegs nur die Mechanismen betonen, die den Eindruck der Geschlossenheit des Feldes bestätigen, sondern gerade auch die externen, heteronomen Kräfte berücksichtigen, die in das Feld eingreifen und es in seiner Autonomie bedrohen.116 Zu der Unterstellung, dass Bourdieu die Frage der gesellschaftlichen Hierarchie dem Primat eines Denkens in Feldern untergeordnet habe, lässt sich sagen, dass 109  Irmhild Saake, »Pierre Bourdieu (1930 – 2002)«, in: Oliver Jahraus, Armin Nassehi und

Mario Grizelj u. a. (Hg.), Luhmann-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar, 2012, 305 – 308, S. 305. 110  André Kieserling, »Klasse und Klassengesellschaft. Zur Entkopplung zweier Begriffe«, in: Karl-Siegbert Rehberg (Hg.), Soziale Ungleichheit, kulturelle Unterschiede. Verhandlungen des 32. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in München 2004, Frankfurt, 2006, 4425 – 4436, S. 4434. 111  Pierre Bourdieu u. Loïc Wacquant, Reflexive Anthropologie (1992), Frankfurt a. M., 2006, S. 134. 112  Ebd., S. 134 – 135. 113  Ebd., S. 135. 114  Ebd., S. 135. 115  Vgl. Rehbein u. Saalmann, »Feld (champ)«, S. 101. 116  Vgl. z. B. den Abschnitt »Das literarische Feld im Feld der Macht«, in: Pierre Bourdieu, Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes (1992), Frankfurt a. M., 2005, S. 341 – 353.

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es sich wohl genau umgekehrt verhält. Bourdieus theoretisches Interesse liegt erkennbar nicht in der Rekonstruktion der Funktionsweise oder des Zusammenspiels von gesellschaftlichen Teilsystemen; es liegt in der Aufdeckung der Machtdifferenzen, die alle gesellschaftlichen Felder durchziehen. Anstatt – im Sinne Luhmanns – den Triumph einer funktional differenzierten, enthierarchisierten Gesellschaft zu belegen, steht bei Bourdieu »der Begriff der Differenzierung immer im Dienste der Behauptung einer Herrschaft von oben nach unten«.117 Zudem kann bei Bourdieu von einer Verabschiedung des Klassen-Paradigmas keine Rede sein. Auch wenn Bourdieu sich in mancher Hinsicht vom Marxismus distanziert, teilt er doch dessen Auffassung, »dass sich moderne Gesellschaften primär als Klassengesellschaften kennzeichnen lassen«.118 Gegen »den nominalistischen Relativismus, der die gesellschaftlichen Unterschiede dadurch auslöscht, daß er sie auf bloße theoretische Konstrukte verkürzt«, hält Bourdieu an der »Existenz eines objektiven, Nähe und Ferne, Vereinbares und Unvereinbares festlegenden Raums« fest, der einer Bestimmung von gesellschaftlichen Klassen als Grundlage dienen kann.119 Doch stellt die Klassengliederung von Gesellschaft keine leichtfertig gemachte Voraussetzung dar. Bourdieu gehört zu den wenigen Theoretikern, die den Begriff der Klasse operativ eingesetzt und zugleich nach dem Prinzip der Klassifizierung gefragt haben, durch das er seine Effektivität bekommt. So bildet für ihn die Frage nach der Existenz von Klassen »eines der denkbar kompliziertesten Probleme, gilt es doch das zu denken, womit man denkt und was sicherlich zumindest partiell durch das bedingt ist, was man denken möchte«.120 Bourdieus Klassentheorie lässt sich als ein Versuch betrachten, den in der marxistischen Tradition ungelösten Gegensatz zwischen naiv-realistischen und voluntaristisch-konstruktivistischen Klassenkonzeptionen zu überwinden. Bourdieu zufolge schwanken die Beschreibungen »zwischen einer objektivistischen Tendenz, die die Klassen in der Realität sucht (von daher das ewige Problem: ›Wieviel Klassen gibt es?‹), und einer voluntaristischen oder spontaneistischen Theorie, der zufolge Klassen etwas sind, was gemacht wird«.121 Bourdieus Einsatz besteht darin, zu zeigen, dass das eine das andere nicht ausschließt: Klassen haben reale Existenzbedingungen, müssen aber dennoch hergestellt werden; zugleich 117  Manfred Russo, »Differenzierung (differenciation)«, in: Gerhard Fröhlich und Boike

Rehbein (Hg.), Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar, 2009, 69 – 72, S. 69. 118  Boike Rehbein, Christian Schneickert u. Anja Weiß, »Klasse (classe)«, in: Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein (Hg.), Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar, 2009, 140 – 147, S. 141. 119  Pierre Bourdieu, »Sozialer Raum und ›Klassen‹«, in: ders., Sozialer Raum und ›Klassen‹. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt a. M., 1985, 7 – 46, S. 12. 120  Pierre Bourdieu, »Das Paradox des Soziologen«, in: ders., Soziologische Fragen, Frankfurt a. M., 2001, 83 – 90, S. 85. 121  Ebd., S. 87.

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ändert die Gemachtheit von Klassen nichts an ihrer Wirklichkeit. Anders als die ›Klassen-Realisten‹ glauben, sind Klassen keine einfach ›vorhandenen‹ Gegenstände. Was es jedoch gibt, »ist ein sozialer Raum, ein Raum von Unterschieden, in denen die Klassen gewissermaßen virtuell existieren, unterschwellig, nicht als gegebene, sondern als herzustellende«.122 Die virtuelle Existenz der Klassen gründet sich darauf, dass sich im sozialen Raum bestimmte Nachbarschaften oder Ähnlichkeiten der sozialen Positionierung ausbilden. Subjekte, die in ähnlicher Weise durch den Besitz oder den Nichtbesitz unterschiedlicher Kapitalsorten charakterisiert sind, befinden sich in diesem relationalen Raum an gleicher oder benachbarter Stelle und können damit potentiell einer Klasse zugerechnet werden. Ein erster Akt der Klassenbildung kann darin bestehen, die virtuelle in eine theoretische Klasse, eine »Klasse auf dem Papier« zu transformieren: Ausgehend von den Stellungen im Raum, lassen sich Klassen im Sinne der Logik herauspräparieren, das heißt Ensembles von Akteuren mit ähnlichen Stellungen, und die, da ähnlichen Konditionen und ähnlichen Konditionierungen unterworfen, aller Voraussicht nach ähnliche Dispositionen und Interessen aufweisen, folglich auch ähnliche Praktiken und politisch-ideologische Positionen. Diese Klasse auf dem Papier ist von theoretischer Natur, existiert als Theorie […].123

Wie Bourdieu meint, besteht der Fehler der marxistischen Theorie darin, die soziologisch konstruierte »Klasse auf dem Papier« entweder unmittelbar für eine reale, in der Wirklichkeit vorhandene, kampfbereite Klasse zu halten oder sie durch einen voluntaristischen »salto mortale«,124 einen mutwillig vorangetriebenen Bewusstwerdungsprozess, in eine solche transformieren zu wollen. In beiden Fällen, so Bourdieu, »wird sich ausgeschwiegen über jene geheimnisvolle Alchemie, kraft deren den objektiven ökonomischen Bedingungen eine ›kämpfende Gruppe‹, ein personalisiertes Kollektiv, ein sich seine eigenen Zwecke setzendes historisches Subjekt entsteigt«.125 Reale Klassen bilden sich dagegen laufend (auch ohne als solche theoretisch begriffen zu werden und ohne notwendig als kämpferische Klasse auftreten zu müssen) durch die gesellschaftliche Praxis der beteiligten Subjekte. Diese wird von Bourdieu, was für die vorliegende Untersuchung höchst relevant ist, als eine Praxis der Klassifizierung begriffen. Jeder und jede ordnet sich und die anderen aufgrund bestimmter wahrgenommener Differenzen in bestimmte Klassen ein; zugleich wird jeder und jede laufend von den anderen klassifiziert, nicht zuletzt 122  Pierre Bourdieu, Praktische Vernunft. Zur Theorie des Handelns (1994), Frankfurt a. M.,

1998, S. 26.

123  Bourdieu, »Sozialer Raum und ›Klassen‹«, S. 12. 124  Bourdieu, Praktische Vernunft, S. 25. 125  Bourdieu, »Sozialer Raum und ›Klassen‹«, S. 14 – 15.

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aufgrund der Art, wie er oder sie klassifiziert: »Die Subjekte, die ihre eigenen wie die Eigenschaften und Praktiken der anderen klassifizieren, sind zugleich Objekte, die sich (in den Augen der anderen) klassifizieren, indem sie sich Praktiken und Eigenschaften aneignen, die selbst bereits aufgrund ihrer potentiellen Verteilung auf ihrerseits klassifizierte Gruppen klassifiziert sind (als vulgär oder distinguiert, hoch oder niedrig, leicht oder schwer, usw., d. h. in letzter Instanz als proletarisch oder bourgeois) […]«.126 Indem sie laufend in Absetzung von anderen die eigene Position definieren, wirken sie mit an der Konstitution eines aus differentiellen Beziehungen bestehenden sozialen Raums.127 Klassen sind damit nicht als starre Gegebenheiten zu betrachten, sondern als Ergebnisse eines unablässigen Klassifikationskampfes, durch den die sozialen Akteure ihre Stellung im sozialen Feld gegen andere zu behaupten oder zu verbessern versuchen. Wenn auf diese Weise Klassenstrukturen aus Klassenpraktiken erklärt werden, so ist damit allerdings keine Huldigung an die Freiheit oder Spontaneität von Praktiken verbunden. Bourdieus Praxisbegriff ist vielmehr eng an den Begriff der Struktur gebunden. Die von ihm vorgeschlagene »praxeologische« 128 Erkenntnisweise versteht sich als eine »dialektische« 129 Vermittlung zwischen dem Gesichtspunkt der Struktur und dem des Handelns. Wenn Praktiken Strukturen schaffen, so werden sie durch bereits etablierte Strukturen gelenkt; die von ihnen geschaffenen »strukturierten Strukturen« bilden selbst wiederum »strukturierende Strukturen« aus, die weitere strukturbildende Praktiken ermöglichen und zugleich beschränken.130 So haben die Akteure keineswegs die Möglichkeit, nach Belieben neue Klassifizierungen zu erstellen. »Grundlage der subjektiven Vorstellungen« sind die »strukturellen Zwänge, die auf den Interaktionen lasten«; entsprechend müssen die Handlungen der Akteure stets auf ihre »Positionen innerhalb der Struktur« 126  Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 752. 127  Der berühmte, 1966 für die BBC produzierte Class Sketch mit John Cleese, Ronnie

Barker, and Ronnie Corbett führt diese Absetzungsverhältnisse in wunderbarer Klarheit vor: Cleese: (in bowler hat, black jacket and pinstriped trousers) »I look down on him (Barker) because I am upper-class.« Barker: (in trilby hat and raincoat) »I look up to him (Cleese) because he is upper-class; but I look down on him (Corbett) because he is lower-class. I am middle-class.« Corbett: (in cloth cap and muffler) »I know my place. I look up to them both. But I don’t look up to him (Barker) as much as I look up to him (Cleese), because he has got innate breeding.«

Zitiert nach: Renée Dickason, »Social class and class Distinctions in ›britcoms‹ (1950s-2000s)«, in: Nicole Cloarec, David Haigron und Delphine Letort (Hg.), Social class on British and American screens. Essays on cinema and television, Jefferson, North Carolina, 2016, 34 – 57, S. 36. 128  Vgl. Pierre Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis. Auf der ethnologischen Grundlage der kabylischen Gesellschaft (1972), Frankfurt a. M., 1976, S. 147. 129  Ebd., S. 147. 130  Vgl. ebd., S. 164 – 165.

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bezogen werden.131 Die Subjekte bewegen sich und agieren in einem Feld, das bereits wirksam klassifiziert wurde, und so wird ihre gewöhnliche Tätigkeit darauf hinauslaufen, im eigenen Distinktionsverhalten an das bestehende klassifikatorische Raster anzuknüpfen und seine Unterscheidungen zu reproduzieren: Die Akteure klassifizieren sich selbst, setzen sich selbst der Klassifizierung aus, indem sie entsprechend ihrem Geschmack verschiedene Attribute wählen, Kleider, Nahrung, Getränke, Sportarten, Freunde, die zusammenpassen und die ihnen passen oder, genauer, die zu ihrer Position passen. Noch genauer: Indem sie im Raum der verfügbaren Güter und Dienste das wählen, was in diesem Raum eine homologe Stellung einnimmt wie sie im sozialen Raum. Das ist der Grund, warum niemand besser klassifiziert wird als durch seine eigenen Klassifizierungen.132

Und dies ist auch der Grund, warum Bourdieus große Untersuchung über das kulturelle Distinktionsverhalten der Franzosen keine Überraschungen bereithält: Die »feinen Unterschiede« des Geschmacks, des Stils, der Selbstdarstellung, der Klassifizierung anderer bestätigen letztendlich nur die ›groben Unterschiede‹ der Klassenlage. So lassen sich »auch die Gegensätze zweiter, dritter und n-ter Ordnung (jene, die den »reinsten« ästhetischen und ethischen Urteilen zugrundeliegen, mit ihren niedrigen und erhabenen Gefühlen, ihrer oberflächlichen und ihrer tiefen Schönheit, ihrem leichthändigen und ihrem schwerfälligen Stil, etc.)« noch auf den »fundamentalen Gegensatz« zwischen Herrschenden und Beherrschten zurückführen – auch wenn »dieses Faktum« in den kulturellen Distinktionen »bis zur Unkenntlichkeit« verschleiert ist.133

Verkörperte Strukturen, symbolische Kämpfe Wenn Bourdieu gegen ›objektivistische‹ Klassenkonstruktionen die Konstruiertheit und Perspektivität der Klassifikationen hervorhebt, so beharrt er gegenüber ›subjektivistischen‹, z. B. »interaktionistischen oder ethnomethodologischen Analysen« 134 auf den strukturellen Einschränkungen, denen die individuellen Klassifikationskämpfe unterworfen sind. Am überzeugendsten hat Bourdieu die Gewalt der bereits bestehenden, eingefahrenen Klassifikationsweisen am Beispiel ihrer Einschreibung in die Körper demonstriert:

131  Pierre Bourdieu, »Sozialer Raum und symbolische Macht« (1986), in: ders., Rede und Antwort, Frankfurt a. M., 1992, 135 – 154, S. 138. 132  Ebd., S. 145. 133  Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 732. 134  Bourdieu, »Sozialer Raum und symbolische Macht«, S. 138.

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Nichts vermittelt ein besseres Bild von der Logik des Sozialisationsprozesses, worin der Leib als eine Art Gedächtnisstütze fungiert, als jene Komplexe aus Gesten, körperlichen Posituren und Wörtern – schlichten Interjektionen wie abgedroschensten Gemeinplätzen –, in die man nur einmal wie in eine Bühnenfigur eindringen muß, um sogleich kraft des evokativen Vermögens der körperlichen Mimesis eine Welt vorgefertigter Gefühle und Erfahrungen auftauchen zu sehen.135

Die »Gedächtnisstütze« des Körpers sorgt dafür, dass das Individuum nicht ›vergisst‹, wo sein Platz ist, welche Position im sozialen Raum es einzunehmen hat. Das Wissen von den sozialen Abständen ist kein intellektuelles Wissen; es ist ein Wissen, dass sich in der körperlichen Erfahrung niedergeschlagen hat und eine kaum zu überwindende Disposition des Verhaltens hervorbringt: »Was der Leib gelernt hat, das besitzt man nicht wie ein wiederbetrachtbares Wissen, sondern das ist man.« 136 So wird ein »Kleinbürger« kaum über »die typisch kleinbürgerliche Erfahrung der Sozialwelt« hinauskommen, die sich »als Schüchternheit, als Gehemmtheit dessen, dem in seinem Leib und seiner Sprache nicht wohl ist« artikuliert. Die »Ungezwungenheit« und die »Selbstsicherheit« des Großbürgers beruhen dagegen auf der durch Erfahrung bestätigten Gewissheit, »über alle Machtmittel zu verfügen«, um »die Normen der Wahrnehmung des eigenen Körpers durchzusetzen«.137 Für diese Art der leibgewordenen, inkorporierten Klassenteilung hat Bourdieu den Ausdruck »Habitus« geprägt. In seinem Entwurf einer Theorie der Praxis bezeichnet Bourdieu die »Habitusformen« als »Systeme dauerhafter Dispositionen, strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken«,138 eine rekursive Figur, die deutlich an Foucaults »historisches Apriori« erinnert.139 Wie Bourdieu sagt, bildet der Habitus ein »Erzeugungs- und Strukturierungsprinzip von Praxisformen und Repräsentationen, die objektiv ›geregelt‹ und ›regelmäßig‹ sein können, ohne im geringsten das Resultat einer gehorsamen Erfüllung von Regeln zu sein«.140 Betont wird damit, dass der Habitus keineswegs eine mechanische Umsetzung der Klassenposition darstellt, sondern den Subjekten die Freiheit lässt, ihre eigene Rolle zu finden – wobei allerdings vorweggenommen werden kann, dass diese Rolle mit höchster statistischer Wahrscheinlichkeit mit der Stellung im sozialen Raum übereinstimmen wird. Wenn der Habitus die Möglichkeiten der Subjekte bezeichnet, sich selbst zu entwerfen,

135  Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 739 – 740. 136  Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft (1980), Frankfurt a. M.,

1987, S. 135. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 365. Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 165. S. o., Kap. 3, Abschnitt »Eine Archäologie der Klassifikationssysteme«. Ebd., S. 165.

137  138  139  140 

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so beschreibt er zugleich die strukturellen Beschränkungen, denen diese Entwürfe unterworfen sind: Da der Habitus eine unbegrenzte Fähigkeit ist, in völliger (kontrollierter) Freiheit Hervorbringungen – Gedanken, Wahrnehmungen, Äußerungen, Handlungen – zu erzeugen, die stets in den historischen und sozialen Grenzen seiner eigenen Erzeugung liegen, steht die konditionierte und bedingte Freiheit, die er bietet, der unvorhergesehenen Neuschöpfung ebenso fern wie der simplen mechanischen Reproduktion ursprünglicher Konditionierungen.141

Für die in diesem Buch verfolgte Fragestellung ist Bourdieus Aufmerksamkeit für die körperliche, buchstäblich ›somatische‹ Einprägung von sozialen Unterschieden von größtem Interesse. Die Verfertigung von sozialen Einteilungen impliziert immer auch so etwas wie eine Leibesübung, eine Art sozialer Gymnastik, durch die neues Abstandsverhalten erprobt und angeeignet wird. Doch sollen die hier betriebenen Analysen nicht auf körperliche Gewohnheiten und Verhaltensroutinen beschränkt bleiben. Bourdieus Definition der »Habitusformen« als »Systeme dauerhafter Dispositionen« bzw. als »strukturierte Strukturen, die geeignet sind, als strukturierende Strukturen zu wirken«,142 bietet eine gute Gelegenheit, den Habitus-Begriff auf die prägende und konditionierende Macht von Medien auszuweiten. Wie von Körpern, so lässt sich auch von Medien sagen, dass sich in ihnen bestimmte soziale Unterschiede verfestigt haben und dass sie deshalb zur Reproduktion dieser Unterschiede beitragen. Im Vergleich zu Körpern, die etwas mehr Zeit brauchen, um einen neuen Habitus auszubilden (und sich z. B. vom Soldatenkörper zum Hippiekörper zu wandeln), können Medien sehr schnell auf neue soziale Verhältnisse reagieren; sie können aber auch – und dies mit größerer Reichweite als Körper – an der Einrichtung neuer Differenzwahrnehmungen, neuer sozialer Schwellen, neuer gesellschaftlicher Umgangsformen mitwirken. Als ein schlagendes Beispiel aus neuerer Zeit ist hier natürlich das sog. Smartphone zu nennen, das im globalen Maßstab zu einer Änderung des Verhaltens und der Haltung (auch im orthopädischen Sinn) geführt hat. Ähnliche Habituswirksamkeit lässt sich aber auch für ältere Medienpraktiken verzeichnen, wie z. B. den Besuch des Gottesdiensts, den Austausch von Gerüchten im Wirtshaus, die Gewohnheit des Tagebuchschreibens, das Mitführen von Büchern, die Wahl eines Kaffeehauses, die Mitgliedschaft in einem Club, den Konsum tagesaktueller Nachrichten, das Lesen von Romanen usw. usf. Medienpraktiken gehören zur Konstruktion des Habitus; so, wie sie an der Reproduktion der sozialen Ordnung teilhaben, können sie auch Veränderungen im System der gesellschaftlichen Differenzierungen anstoßen. 141  Bourdieu, Sozialer Sinn, S. 103. 142  Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 165.

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Eine zweite entscheidende Anregung empfängt diese Arbeit durch Bourdieus besondere Beleuchtung der Rolle des ›Symbolischen‹ in den gesellschaftlichen Klassifizierungskämpfen. »Das Unzulängliche der marxistischen Klassentheorie« hat Bourdieu vor allem darin gesehen, »daß sie, indem sie die soziale Welt auf das Feld des Ökonomischen reduziert, die soziale Position zwangsläufig nur noch unter Bezugnahme auf die Stellung innerhalb der ökonomischen Produktionsverhältnisse zu bestimmen vermag, damit die jeweilige Position in den übrigen Feldern und Teilfeldern, insbesondere den kulturellen Produktionsverhältnissen, unter den Tisch fallen läßt […].« 143 Gegen den ökonomischen Determinismus hebt Bourdieu »die relative Autonomie der Logik der symbolischen Vorstellungen gegenüber den materiellen Bestimmungsfaktoren« hervor;144 er betont die »strukturierende Tätigkeit von Akteuren«, die »keineswegs nur reflexhaft auf Stimuli reagieren, vielmehr auf Appelle wie Drohungen einer Welt antworten, deren Sinn sie selbst mit geschaffen haben«.145 Gesellschaftliche Klassen sind demnach sowohl objektiv begründet als auch symbolisch konstruiert; sie bestimmen sich, wie Bourdieu in Anspielung auf George Berkeleys subjektiven Idealismus sagt, »durch ihr Wahrgenommen-Sein ebenso wie durch ihr Sein«.146 Im Kampf um die gesellschaftlichen Hierarchien kommt daher den »symbolischen Strategien« eine besondere Bedeutung zu.147 Gesellschaftliche Akteure haben grundsätzlich die Möglichkeit, »sich die Diskrepanz zwischen Nominellem und Realem zunutze zu machen, sich der Wörter zu bemächtigen, um in den Besitz der Dinge zu kommen«;148 d. h. sie können bestimmte Manipulationen an der symbolischen Ordnung vornehmen, in der Erwartung, dass die Ordnung der Dinge ihr folgen wird. Dies betrifft zunächst die Strategien der individuellen Statuserhöhung (wie z. B. die der »Kinesitherapeuten, die mit diesem neuen Label die Hoffnung verbinden, sich damit von den einfachen Masseuren zu unterscheiden und in die Nähe der Ärzte zu rücken« 149). Die symbolischen Kämpfe beschränken sich aber nicht auf die Platzverteilung innerhalb einer gegebenen klassifikatorischen Ordnung, sie betreffen vielmehr auch das Prinzip der Einteilung. Wie Bourdieu hervorhebt, reproduziert die »klassifikatorische discretio« nicht einfach nur die Unterschiede der sozialen Ordnung; sie leistet vielmehr einen »eigentlichen, eben symbolischen Beitrag zur Aufrechterhaltung

Bourdieu, »Sozialer Raum und ›Klassen‹«, S. 31. Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 755. Ebd., S. 728 – 729. Ebd., S. 754. Bischof Berkeleys Theorie der Wahrnehmung wird in diesem Buch noch eine Rolle spielen – als Metaphysik der frühen Klassengesellschaft. S. u., Kap. 21, Abschnitt »Esse est percipi«. 147  Ebd., S. 751. 148  Ebd. 149  Ebd. 143  144  145  146 

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dieser Ordnung«, indem sie »mit der Durchsetzung mentaler Strukturen« zugleich eine bestimmte Weltsicht durchsetzt. Herrschaft gründet sich nicht zuletzt auf das »genuin symbolische Vermögen des Sehen- und Glauben-machens«,150 auf die Hegemonie über die »Wahrnehmungs- und Bewertungskategorien der sozialen Welt«.151 In den Kämpfen um die gesellschaftliche Hierarchie geht es daher in einem eminenten Sinn um die »Macht über die Klassifikations- und Ordnungssysteme«, »um das Trennungsvermögen, Distinktion, diakrisis, discretio, das aus der unteilbaren Kontinuität diskrete Einheiten auftauchen läßt, aus dem Undifferenzierten die Differenz«.152 Die Auferlegung eines Klassifikationsschemas ist damit ein Fall von »symbolischer Gewalt«;153 sie gehört zu jenen Strategien, durch die die Herrschenden »die Dominierten dazu bringen, den Herrschenden und sich selbst gegenüber einen Standpunkt einzunehmen, der kein anderer als der der Herrschenden ist«.154 Weil der Versuch, eine bestimmte »Vision der Divisionen durchzusetzen«,155 d. h. ein bestimmtes Einteilungsprinzips verbindlich zu machen, nie kampflos von statten gehen wird, lässt sich von »Klassifikationskämpfen« sprechen, diese selbst bilden eine wesentliche, wenn auch »vergessene Dimension der Klassenkämpfe«.156 Wenn Bourdieu auf diese Weise die »Klassifikationssysteme« als »Einsätze in einem permanenten Kampf« um die gesellschaftlichen Hierarchien begreift,157 so traut er den symbolischen Einteilungen offenbar eine Wirksamkeit zu, die weit über die einer ›Widerspiegelung‹ oder Verfestigung der sozialen Einteilungen hinausgeht. In einem 1986 geführten Interview fragt er sich sogar, ob nicht bestimmte Formen der sozialen Einteilung, wie beispielsweise die in Klassen, als Effekt einer vorgängigen symbolischen Einteilung betrachtet werden müssen: Mehr und mehr drängt sich mir der Gedanke auf, ob die sozialen Strukturen von heute nicht die symbolischen Strukturen von gestern sind – und in diesem Sinne Ebd., S. 749. Ebd., S. 755. Ebd., S. 748. Zur Definition vgl.: Bourdieu, Praktische Vernunft, S. 174: »Die symbolische Gewalt ist jene Gewalt, die, indem sie sich auf die ›kollektiven Erwartungen‹ stützt, auf einen sozial begründeten und verinnerlichten Glauben, Unterwerfungen erpreßt, die als solche gar nicht wahrgenommen werden.« 154  »Eine sanfte Gewalt. Pierre Bourdieu im Gespräch mit Irene Dölling und Margareta Steinrücke«, in: Irene Dölling und Beate Krais (Hg.): Ein alltägliches Spiel. Geschlechterkonstruktion in der sozialen Praxis. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1997, zit. nach Susanne Völker u. Stephan Trinkaus, »Klassifikation (classement)«, in: Gerhard Fröhlich und Boike Rehbein (Hg.), Bourdieu-Handbuch. Leben – Werk – Wirkung, Stuttgart, Weimar, 2009, 148 – 153, S. 150. 155  Bourdieu, »Sozialer Raum und symbolische Macht«, S. 142. 156  Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 755. 157  Bourdieu, »Das Paradox des Soziologen«, S. 89. 150  151  152  153 

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etwa die soziale ›Klasse‹, wie sie heute konstatiert wird, nicht zum Teil wenigstens Produkt des vom Marxschen Werk ausgehenden Theorie-Effekts.158

Auch wenn Bourdieu den in dieser Äußerung liegenden Anklang an nominalistische, diskursanalytische Positionen im nächsten Satz zurücknimmt,159 so möchte er doch festgehalten wissen, »daß den symbolischen Strukturen in bestimmten Grenzen eine außerordentliche Konstitutionsmacht innewohnt, die bisher noch sehr unterschätzt wurde«.160 Die vorliegende Untersuchung zur Entstehung von Klassengesellschaft macht sich diesen Satz ungeschmälert zu eigen: Die neue Art der sozialen Aufteilung, die sich im Laufe des 18. Jahrhunderts durchzusetzen beginnt, geht ganz wesentlich auf symbolische Kämpfe zurück, die seit der Mitte des 17. Jahrhunderts ausgefochten wurden und in denen, in offener oder versteckter Weise, die Frage des herrschenden Einteilungsprinzips zur Debatte stand. Es ist auch kein Einwand gegen die Bedeutung der ›symbolischen Strukturen‹, wenn in dieser Arbeit ein besonderes Augenmerk auf die technischen und medialen Voraussetzungen der Teilung gelegt wird: Es heißt eher, dass neben den von Menschen getroffenen Unterscheidungen auch die Teilungen zu berücksichtigen sind, die sich aus der Eigenlogik der von ihnen geschaffenen technischen Verfahren und Dispositiven ergeben.

Gefangene des Habitus Wie Bourdieu immer wieder hervorgehoben hat, verdanken die »Schemata des Habitus, Urformen der Klassifikation« ihre gesellschaftliche Wirksamkeit »dem Faktum, daß sie jenseits des Bewußtseins wie des diskursiven Denkens, folglich außerhalb absichtlicher Kontrolle und Prüfung agieren«.161 Die Klassifikationsschemata, aufgrund derer die Subjekte sich im sozialen Raum positionieren, sind mit anderen Worten »unbewusst«; sie sind, wie Bourdieu sagt, einem »KlassenUnbewußten näher als einem ›Klassenbewußtsein‹ im marxistischen Sinn«.162 »Dem Sinn für Grenzen eignet das Vergessen der Grenzen« 163 – die alltägliche Tätigkeit der Fremd- und Selbstklassifizierung vollzieht sich ›hinter dem Rücken 158  Pierre Bourdieu, »›Fieldwork in Philosophy‹« (1986), in: ders., Rede und Antwort, Frank-

furt a. M., 1992, 15 – 49, S. 32.

159  Vgl. ebd.: »Womit ich natürlich nicht so weit gehen und behaupten will, daß die

symbolischen Strukturen die sozialen Strukturen allererst erzeugen; tatsächlich schlägt der Theorie-Effekt nur dann wirklich durch, wenn die durch die Theorie als Grundlage der Vision und Division sichtbar gemachten Gliederungen in der Realität selber als ein mögliches Teilungsprinzip […] vorhanden sind.« 160  Ebd., S. 33. 161  Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 727. 162  Bourdieu, »Sozialer Raum und ›Klassen‹«, S. 17. 163  Bourdieu, Die feinen Unterschiede, S. 734.

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des Bewusstseins‹ und kann von den Akteuren selbst nicht erfasst werden. Es ist daher die Aufgabe der kritischen Wissenschaft der Soziologie, die unsichtbaren, von den Subjekten selbst getragenen Mechanismen freizulegen, durch die sich die Herrschaftsverhältnisse reproduzieren. Auf diese Weise bleibt Bourdieus analytischer Blick dem Paradigma der Ideologiekritik verhaftet: Die Subjekte handeln, ohne zu wissen, was sie tun; und nur der kritische Soziologe kann ihnen sagen, was sie eigentlich tun, wenn sie tun, was sie tun. Die selbstreflexive Wendung – der Soziologe beobachtet, wie sein eigener klassifikatorischer Blick in den »Kampf um die Macht des Wissens« 164 verstrickt ist –, macht die Sache nicht besser; sie trägt eher zu dem ›unglücklichen Bewusstsein‹ bei, den kritisierten Verhältnissen nicht entkommen zu können. Tatsächlich glaubt Bourdieu nicht an die Möglichkeit, sich einer herrschenden Ordnung der Einteilung wirksam entziehen zu können. Grundsätzlich ist jeder soziale Akteur durch die »Sichtweise« bestimmt, die »einem bestimmten Punkt im sozialen Raum« entspricht;165 und so bildet der »soziale Raum« für Bourdieu »eben doch die erste und die letzte Realität, denn noch die Vorstellungen, die die sozialen Akteure von ihm haben können, werden von ihm bestimmt«.166 Die Möglichkeiten, durch symbolisches Handeln das herrschende System der Unterscheidungen anzugreifen sind daher stark eingeschränkt: Die symbolische Überschreitung einer sozialen Grenze hat aus sich heraus eine befreiende Wirkung, weil sie das Undenkbare praktisch heranführt. Aber sie selbst ist nur möglich und symbolisch effizient, […] wenn bestimmte objektive Voraussetzungen erfüllt sind. Damit ein Diskurs oder eine Handlung (Bilderstürmerei, Terrorismus usw.) mit dem Ziel, die objektiven Strukturen in Frage zu stellen; Aussichten hat, […] beispielhaft zu wirken, müssen die Strukturen, gegen die solchermaßen protestiert wird, selbst schon in einen Zustand der Fragwürdigkeit und Krisenhaftigkeit übergegangen sein, der ihre Infragestellung und die kritische Bewußtwerdung ihres willkürlichen Charakters und ihrer Zerbrechbarkeit begünstigt.167

Ganz offensichtlich ist das große Thema der Bourdieu’schen Soziologie nicht die Subversion, sondern die »Reproduktion« 168 der klassifikatorischen Urteilssysteme. Sie demonstriert den Fortbestand der hierarchischen Trennungen, kann zur ErBourdieu, »Sozialer Raum und ›Klassen‹«, S. 27. Bourdieu, Praktische Vernunft, S. 26. Ebd., S. 27. Pierre Bourdieu, Meditationen. Zur Kritik der scholastischen Vernunft (1997), Frankfurt a. M., 2005, S. 304. 168  »La Reproduction« ist der Titel einer 1970 veröffentlichten Untersuchung von Bourdieu und Jean-Claude Passeron zu den Mechanismen der ›Vererbung‹ von Ungleichheit im französischen Unterrichtssystem. 164  165  166  167 

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klärung von sozialen Transformationen aber nicht viel beitragen. So ist insbesondere das Konzept des Habitus dafür kritisiert worden, dass es Praxis, Kreativität und Erfindungsgabe der Subjekte hervorhebe, nur um diese dann der Erhaltung der bestehenden Strukturen zu unterstellen. Bourdieu bleibe dem »Pascalschen Programm einer Kritik der Autoritäts- und Machteffekte« verpflichtet; ihm entgehe daher alles, was nicht auf Verhaltenskonditionierung und automatische Replikation der Strukturen hinauslaufe, insbesondere das unberechenbare Spiel der Abweichungen in den sozialen Praktiken der Imitation und Wiederholung.169 Zu Bourdieus Verteidigung lässt sich sagen, dass ein bisschen Realismus in der Einschätzung der Möglichkeiten von Veränderung nicht schaden kann; es sollte allerdings auch nicht zu viel sein, sonst wird Gesellschaft immer nur als ein bereits gefälltes »Urteil« erscheinen 170 – und nicht als etwas, das auch anders geteilt werden kann.

Rancière: Die anfängliche Teilung Die wohl vehementeste Kritik hat Bourdieus analytisches Unternehmen durch Jacques Rancière erfahren, der in seinem Buch Le philosophe et ses pauvres (1983) dem »Soziologenkönig« unterstellt, dass er die von den »Philosophenkönigen« (von Platon über Marx bis Sartre) eingenommene Haltung der paternalistischen Bevormundung von Arbeitern und Armen nicht nur fortschreibe, sondern ihr noch eine zusätzliche, perverse Drehung gebe. So stelle sich der Soziologe ostentativ auf die Seite der »Deklassierten«, nur um ihnen – mit einer »wissenschaftlichen« Begründung – das Gleiche zu erzählen wie die Philosophen: dass es nämlich keinen Zweck habe, den zugewiesenen Platz verlassen zu wollen: Der Soziologe […] verkündet, dass die Illusion ihrer Freiheit die Handwerker an ihren Platz fesselt. Die zugegebene Willkür wird nun wissenschaftliche Notwendigkeit, die Neuverteilung der Karten wird absolute Illusion. Das Verdammungsurteil wird also erbarmungsloser als jemals zuvor gefällt.171

Auf diese Weise bilde die Bourdieu’sche Soziologie nur einen weiteren Ordnungsdiskurs, der das System der gesellschaftlichen Teilung in der Theorie verdoppelt. Trotz ihres kritischen Auftretens laufe die Habitustheorie auf eine resignative Festschreibung der Ungleichheiten hinaus.172 169  Maurizio Lazzarato, Puissances de l’invention. La psychologie économique de Gabriel

Tarde contre l’économie politique, Paris, 2002, S. 285.

170  Vgl. das Buch des Bourdieu-Schülers Eribon: Didier Eribon, Gesellschaft als Urteil.

Klassen, Identitäten, Wege, Berlin, 2017.

171  Jacques Rancière, Der Philosoph und seine Armen, Wien, 2010, S. 243. 172  Vgl. Ruth Sonderegger, »Wie emanzipatorisch ist Habitus-Forschung? Zu Rancières

Kritik an Bourdieus Theorie des Habitus«, LiTheS, N° Nr. 3 (Juli), 2010, 18 – 39 und Mischa

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In seinen Angriffen auf Bourdieu nimmt Rancière eine Argumentation wieder auf, die schon in der Distanzierung von seinem Lehrer Louis Althusser eine zentrale Rolle gespielt hatte. Althusser hatte zwischen Ideologie und Wissenschaft eine scharfen Trennungsstrich gezogen, und er hatte dabei das alltägliche, in den gewöhnlichen Praktiken des Lebens verfangene Bewusstsein auf der Seite der Ideologie, das kritische Bewusstsein der marxistischen Intellektuellen auf der Seite der Wissenschaft verortet. In dem 1974 veröffentlichten Buch La leçon d’Althusser bemüht sich Rancière, den »metaphysischen Charakter dieser von Althusser verhängten Teilung [partage]« offenzulegen.173 Hinter der »Teilung Wissenschaft/ Ideologie« 174 verberge sich nur eine Teilung zwischen zwei Art von politischer Artikulation: »auf der einen Seite die Domäne des Intelligiblen, die ›Positionen der proletarischen Klassen in der Theorie‹, die den Menschen als einen bürgerlichen Mythos ablehnen; auf der anderen Seite die Domäne des Sinnlichen, deren Akteure nicht ›die gleiche Wortwahl‹ haben, und die daher nicht wörtlich genommen werden dürfen, sondern vielmehr durch ihre Umstände erklärt werden müssen und durch das, was sie eigentlich bedeuten.« 175 In dieser Spaltung zwischen denen, die das Recht haben, sich und anderen die Welt zu erklären, und jenen, die stets nur Objekte der Erklärung bleiben, sieht Rancière den eigentlichen Kern der bürgerlichen Ideologie. In einem 1969 verfassten Text erklärt er, dass »die Ideologie der herrschenden Klasse« sich nicht »in diesem oder jenem Inhalt des Wissens« ausdrücke, sondern »in der Teilung des Wissens selbst, seinen Aneignungsformen, der universitären Institution als solcher«.176 Ideologie wird hier also dezidiert als eine Weise der Teilung oder Trennung verstanden – im Unterschied zu Althusser, der sie als eine »Atmosphäre« 177 betrachtet habe (also als etwas, in das die Subjekte eingetaucht sind). Auch wenn Rancière sich später von dem hier noch üppig gebrauchten Begriff der Ideologie distanzieren wird,178 so wird er doch an der Vorstellung festhalten, dass Herrschaft sich auf eine ursprüngliche Teilung gründet, eine Teilung, die noch vor jedem bewussten, politischen Eingriff zu verorten ist. Rancière hat diese Teilung als eine Unterscheidung auf der Ebene des ästhetischen Urteils begriffen – insofern gar nicht so weit von Bourdieu entfernt, der die Differenzierungen des Geschmacksurteils mit der Logik der Klassenteilung in Verbindung brachte. Suter, »Ein Stachel in der Seite der Sozialgeschichte. Jacques Rancière und die Zeitschrift ›Les Révoltes logiques‹«, Sozial.Geschichte Online, N° 5, 2011, 8 – 37, hier S. 30 – 32. 173  Jacques Rancière, La leçon d’Althusser, Paris, 1974, S. 252. 174  Ebd., S. 255. 175  Ebd., S. 160. 176  Jacques Rancière, »Zur Theorie der Ideologie. Die Politik Althussers« (1969), in: ders., Wider den akademischen Marxismus, Berlin, 1975, 8 – 50, S. 24. 177  Vgl. ebd. 178  Vgl. Jacques Rancière, Das Unvernehmen. Politik und Philosophie, Frankfurt a. M., 2002, S. 97.

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Wie Rancière in einem Interview erwähnt, erschienen Bourdieus Feine Unterschiede zu eben der Zeit, als er sein Buch über Die Nacht der Proletarier schrieb. »Bourdieus These von der radikalen Entgegensetzung der Geschmäcker entlang der Klassen«,179 habe jedoch »in völligem Widerspruch« zu dem gestanden, »was mich meine Arbeit über die Arbeiteremanzipation gelehrt hatte, nämlich dass das Erlangen einer ästhetischen Haltung die Grundlage der Möglichkeit gesellschaftlichen Umsturzes ist, weil es der Beginn des Ausgangs aus der sinnlichen Situation ist, in die die Leute eingesperrt sind«.180 Während Bourdieu das ästhetische Urteil von der Klassenlage abhängig macht, geht Rancière davon aus, dass es ein primordiales ästhetisches Urteil gibt, aus dem erst die gesellschaftlichen Teilungen und Verteilungen hervorgehen. Noch vor jeder manifesten Politik steht die »sinnliche Konfiguration einer bestimmten Welt«,181 eine anfängliche »Unterteilung der Zeiten und Räume, des Sichtbaren und Unsichtbaren, der Rede und des Lärms«, die »den Ort und den Gegenstand der Politik« vorgibt.182 In Anspielung auf Kants transzendentale Ästhetik spricht Rancière von einer »ersten Ästhetik«,183 die sich hier allerdings nicht auf die überzeitlichen »Prinzipien der Sinnlichkeit a priori« 184, sondern auf die »Ebene der sinnlichen Aufteilung des Gemeinsamen der Gemeinschaft, ihrer Formen der Sichtbarkeit und ihres Aufbaus« bezieht.185 Wie Rancière selbst andeutet, lässt sich die von ihm geprägte Formel von der »Aufteilung des Sinnlichen« im Sinn des Foucault’schen »historischen Apriori« verstehen:186 als »historisch determinierte Formen« der »gemeinsamen sinnlichen Erfahrung«, die selbst wiederum zur Bedingung von Geschichte werden: Aber diese Formen a priori sind immer historisch determinierte Formen. Das bedeutet nicht einfach Formen, die in dieser oder jener Epoche existieren. Denn 179  Jacques Rancière, Politik und Ästhetik. Im Gespräch mit Peter Engelmann, hg. v. Peter

Engelmann, Wien, 2016, S. 35 – 36.

180  Ebd., S. 36. 181  Jacques Rancière, »Gespräch mit Jacques Ranciére [geführt von Frank Ruda und Jan

Völker]«, in: ders., Ist Kunst widerständig?, hg. v. Frank Ruda u. Jan Völker, Berlin, 2008, 37 – 90, S. 37. 182  Jacques Rancière, »Die Aufteilung des Sinnlichen. Ästhetik und Politik« (2000), in: ders., Die Aufteilung des Sinnlichen. Die Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin, 2006, 21 – 73, S. 26. 183  Rancière, »Gespräch mit Jacques Ranciére [geführt von Frank Ruda und Jan Völker]«, S. 37. 184  Immanuel Kant, Kritik der reinen Vernunft, hg. v. Raymund Schmidt, Hamburg, 1976, S. 64 (A 21, B 35). 185  Rancière, »Die Aufteilung des Sinnlichen«, S. 34. 186  Vgl. ebd., S. 26: »Wenn man nach einer Analogie sucht, kann man diese Ästhetik im Sinne Kants als System der Formen a priori auffassen – vielleicht sogar wie sie von Foucault wieder aufgenommen wurde –, insofern sie bestimmen, was der sinnlichen Erfahrung überhaupt gegeben ist.«

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diese Formen bestimmen selbst Typen von Historizität: Bedeutungen von Geschichte, Abgrenzungen dessen, was historisch ist von dem, was es nicht ist, derer die Geschichte ›machen‹ von denen, die es nicht tun.187

Wenn Rancière die Aufteilung des Sinnlichen allen anderen Teilungen voraussetzt, so stellt er sich damit bewusst in »Widerspruch zu einer bestimmten Art von marxistischer Hierarchisierung«, die die ökonomische Teilung als grundlegend setzt und daraus die Teilungen der sozialen, politischen und schließlich der ideologische Ebene hervorgehen lässt. Für Rancière stellen »das Ökonomische, das Soziale, das Politische und das Ideologische« lediglich abgeleitete »Größen in einer Verteilung, in einer Aufteilung des Sinnlichen« dar.188 Die Ästhetik, die auf diese Weise der Politik vorausgesetzt wird, ist allerdings von dieser nicht zu trennen, sie ist selbst politisch – was eine gewisse Henne-Ei-Problematik aufwirft. So spricht Rancière einerseits davon, dass »die Verfasstheit der Politik […] auf diesen Formen a priori, auf dieser Verteilung [des Sinnlichen]« beruhe.189 Andererseits ist davon die Rede, dass es »die Politik« sei, die diese Aufteilung verfüge: »Die Politik bestimmt, was man sieht und was man darüber sagen kann, sie legt fest, wer fähig ist, etwas zu sehen und wer qualifiziert ist, etwas zu sagen, sie wirkt sich auf die Eigenschaften der Räume und die der Zeit innewohnenden Möglichkeiten aus.« 190 Entscheidend ist jedoch nicht die Frage der Vorgängigkeit, sondern die Tatsache, dass hier die politischen Teilungen unmittelbar als ästhetische Teilungen begriffen werden und umgekehrt. Wie Rancière zeigen will, gibt es bereits auf der Ebene des Wahrnehmbaren, der sinnlichen Evidenz, eine Art ursprüngliche Politik, die die Definition des gemeinsamen Raums, die Sichtbarkeiten der Wesen und die Möglichkeiten ihrer Teilhabe regelt: Der Staatsbürger, sagt Aristoteles, ist derjenige, der am Regieren und Regiertwerden teilhat. Doch dieser Teilhabe geht eine andere Form von Aufteilung voraus, die bestimmt, wer daran teilhaben kann. Das sprechende Tier, sagt Aristoteles, ist ein politisches Tier. Doch der Sklave ›besitzt‹ die Sprache nicht, obwohl er sie versteht. Nach Platon können sich die Handwerker nicht um die gemeinsamen Angelegenheiten kümmern, weil sie nicht die Zeit haben, um sich etwas anderem als ihrer 187  Rancière, »Gespräch mit Jacques Ranciére [geführt von Frank Ruda und Jan Völker]«,

S. 38 – 39.

188  Rancière, Politik und Ästhetik, S. 66. 189  Ebd. 190  Rancière, »Die Aufteilung des Sinnlichen«, S. 26 – 27. Vgl. ders., »Gespräch mit Jacques

Ranciére [geführt von Frank Ruda und Jan Völker]«, S. 38: »Die Politik ist also zunächst die Verhandlung über das, was sinnlich gegeben ist, über das, was sichtbar ist, über die Art, in der es sagbar ist und darüber, wer es sagen kann. Dies richtet eine Verteilung des Sichtbaren, Sagbaren und Machbaren ein […].«

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Arbeit zu widmen. Sie können nicht anderswo sein, denn die Arbeit wartet nicht. Die Aufteilung des Sinnlichen macht sichtbar, wer, je nachdem, was er tut, und je nach Zeit und Raum, in denen er etwas tut, am Gemeinsamen teilhaben kann.191

So liegt in dem auf sinnliche Evidenz gestützten Urteil, das die einen der Herrschaft fähig befindet, die anderen für unfähig erklärt, der Grund aller politischen Trennungen, der Ursprung der gesellschaftlichen Machtunterschiede. Eine Aufteilung des Sinnlichen durchzusetzen, heißt stets auch, »die menschlichen Individuen oder Gruppen aufzuteilen«;192 es entsteht damit »immer zugleich eine Art Hierarchie zwischen den fühlenden Wesen«.193 Der von Rancière verwendete Ausdruck partage ist dabei im Doppelsinn von Teilung und Teilhabe zu verstehen: Die Teilung erzeugt nicht nur das Gemeinsame und seine Teile; sie verfügt auch, wie die Teile am Gemeinsamen ›teilhaben‹, welches Verhältnis von »Gemeinschaft und Trennung« 194 zwischen den Teilen herrschen wird: »Diese Verteilung der Anteile und Orte beruht auf einer Aufteilung der Räume, Zeiten und Tätigkeiten, die die Art und Weise bestimmt, wie ein Gemeinsames sich der Teilhabe öffnet, und wie die einen und die anderen daran teilhaben.« 195

Von der Polizei zur Politik In dem Kampf um die Aufteilung des Sinnlichen, lassen sich, so Rancière, zwei entgegengesetzte Tendenzen unterscheiden. Die eine Richtung bezeichnet Rancière als das »Prinzip der Polizei«;196 es besteht in der Trennung der Orte und Aufgaben, in der Zuweisung der Plätze, in der Festschreibung der Identitäten: Die Polizei ist somit zuerst eine Ordnung der Körper, die die Aufteilungen unter den Weisen des Machens, den Weisen des Seins und den Weisen des Sagens bestimmt, die dafür zuständig ist, dass diese Körper durch ihre Namen diesem Platz und jener Aufgabe zugewiesen sind; sie ist eine Ordnung des Sichtbaren und des Sagbaren, die dafür zuständig ist, dass diese Tätigkeit sichtbar ist und jene andere es nicht ist, dass dieses Wort als Rede verstanden wird, und jenes andere als Lärm.197

Die ›Polizei‹ umfasst nicht nur die polizeilichen Vorgänge im engeren Sinn, sondern letztendlich alle »gemeinhin als politisch geltenden Vorgänge«, d. h. 191  192  193  194  195  196  197 

Rancière, »Die Aufteilung des Sinnlichen«, S. 26. Rancière, Politik und Ästhetik, S. 64. Ebd. Rancière, Das Unvernehmen, S. 38. Rancière, »Die Aufteilung des Sinnlichen«, S. 25 – 26. Rancière, Politik und Ästhetik, S. 70. Rancière, Das Unvernehmen, S. 41.

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»Vereinigung und Übereinstimmung der Gemeinschaften, Organisation der Mächte, Verteilung der Plätze und Funktionen sowie die Legitimierung dieser Verteilung«,198 und selbstverständlich würde Rancière nicht nur die Althusser’sche Ideologietheorie und die Bourdieu’sche Soziologie dazurechnen, sondern – vor allen anderen – die Luhmann’sche Systemtheorie. Die andere Tendenz, von Rancière ›Politik‹ genannt, bezeichnet dagegen den Bruch mit dem Gesetz der ›Polizei‹, Situationen des Dissenses, in denen »eine Aufteilung des Sinnlichen […] mit einer anderen möglichen Aufteilung […] des Sichtbaren und des Sagbaren – des sinnlich Wahrnehmbaren – innerhalb der Gesellschaft konfrontiert wird«.199 Rancière zeigt wenig Interesse daran, das System der polizeilichen Trennungen im Detail zu beschreiben (sein Vorwurf an Bourdieu besteht ja genau darin, das Gesetz der hierarchischen Differenzierung in der Theorie zu verdoppeln); ihm geht es viel eher darum, die seltenen Momente in den Blick zu bekommen, in denen die herrschende Ordnung der Platzanweisung unterbrochen wird, in denen die Körper sich vom auferlegten Gesetz der Trennung befreien, in denen die, denen die Fähigkeit der Rede abgesprochen wurde, das Wort ergreifen. Die »eigentliche Politik«, so Rancière, geschieht dort, wo dem Prinzip der hierarchischen Aufteilung und des politischen Spezialistentums »eine Fähigkeit entgegensetzt« wird, »die die Fähigkeit von allen, von egal wem ist«.200 Wenn das Prinzip der ›Polizei‹ darin besteht, um jeden Preis eine hierarchische Verteilung der Wesen aufrechtzuerhalten, geht ›Politik‹ – und gemeint ist natürlich demokratische Politik – vom Axiom der unbedingten Gleichheit aller Menschen aus, mit der Konsequenz, dass ›jeder Beliebige‹ aufgerufen ist, das Wort zu ergreifen und ›das Gemeinsame‹ zu formulieren: Politik ereignet sich, wenn die, die ›nicht die Zeit haben‹, sich die Zeit nehmen, die notwendig ist, um als Bewohner eines gemeinsamen Raumes aufzutreten, und um zu beweisen, dass ihr Mund sehr wohl eine Sprache erzeugt, die das Gemeinsame ausspricht und nicht nur eine Stimme, die den Schmerz signalisiert. […] Die Politik besteht darin, die Aufteilung des Sinnlichen neu zu gestalten, die das Gemeinsame einer Gemeinschaft definiert, neue Subjekte und Objekte in sie einzuführen, sichtbar zu machen, was nicht sichtbar war, und als Sprecher jene vernehmbar zu machen, die nur als lärmende Tiere wahrgenommen wurden.201

Wie Rancière unter Berufung auf Schillers Briefe Über die ästhetische Erziehung des Menschen erklärt, gehe die »ästhetische Revolution« der »Revolution der Re198  Maria Muhle, »Einleitung«, in: Jacques Rancière, Die Aufteilung des Sinnlichen. Die

Politik der Kunst und ihre Paradoxien, Berlin, 2006, 7 – 19, S. 9 – 10.

199  Ebd. 200  Rancière, Politik und Ästhetik, S. 70. 201  Jacques Rancière, Das Unbehagen in der Ästhetik (2004), hg. v. Peter Engelmann, Wien,

2008, S. 35.

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gierungsformen« voraus.202 Vor jeder politischen oder ökonomischen Forderung stehe der Bruch mit dem Gesetz der Polizei, das jedes Subjekt an ›seinen‹ Platz verbanne und jede Überschreitung der zugewiesenen Stelle und Rolle zu verhindern versuche. Rancières Die Nacht der Proletarier (1981) zeigt, dass man sich diesen Bruch als Ausbruch aus der zugewiesenen Lebensform, als eine Eroberung neuer Artikulations- und Bewegungsmöglichkeiten vorzustellen hat: Anstatt zu schlafen und sich für den kommenden Arbeitstag auszuruhen, schlagen sich junge Arbeiter die Nacht um die Ohren, diskutieren, lesen, lernen, schreiben Gedichte und hecken Zeitschriftenprojekte aus. Die ästhetische Revolution liegt in diesem Fall in der »Aufhebung jener Teilung des Sinnlichen, die den Arbeitern ihren Platz innerhalb (oder außerhalb) des symbolischen Raums der Gemeinschaft zuwies, im ›privaten‹ Bereich der Produktion und Reproduktion«.203 Gegen die Bourdieu’sche Anerkennung der Regelmäßigkeiten 204 setzt Rancière auf die beispielhafte Ausnahme, den exemplarischen Moment des Bruchs mit der auferlegten Ordnung der Teilung.205 Während bei Bourdieu ästhetisches Urteil und Habitus der Klassenlage folgen, bildet bei Rancière die Dimension des Sinnlichen nicht nur die Basis für die Konstitution gesellschaftlicher Unterschiede, sondern auch das Feld, auf dem sie angegriffen und in einer andere Ordnung überführt werden können. Anstatt, wie es der kritische Soziologe tut, vom Bewusstsein auszugehen und die Leute über die Ungleichheit aufzuklären, handelt es sich für den philosophischen Aktivisten darum, die effektiven Prozesse einer Neuverteilung des Sinnlichen freizulegen und zu fördern, auch wenn sich das Wirken der Gleichheit nur selten und zaghaft zeigen wird: »Die Leute wissen sehr genau, dass sie ausgebeutet werden; es geht nicht darum, zu einem Bewusstsein der Ausbeutung zu gelangen, um aus ihr herauszutreten. Das Problem besteht darin, sein sinnliches Universum und sein Universum der Wahrnehmung zu verändern.« 206

Ein Ende aller Klassen Diese Neufassung des Verhältnisses von Leben und Politik impliziert eine radikale Neukonzeption des Klassenbegriffs. Eine »›proletarische‹ politische Subjektivierung« wird nicht durch irgendeine Art von Arbeitsethos oder Arbeiterkultur bestimmt; sie setzt vielmehr, wie Rancière schreibt, »eine Vielfalt von Brüchen 202  Jacques Rancière, »Democracy, dissensus, and the aesthetics of class struggle. [Interview conducted on 10 April 2003 by Max Blechman, Anita Chari, Rafeeq Hasan]«, Historical Materialism, N° Vol. 13, Issue 4, 2005, 285 – 301, S. 294. 203  Ebd., S. 292 – 293. 204  Bourdieu hätte vermutlich in Rancières ausgewählten Arbeiter-Dandies keinen gültigen Einwand gegen das statistische Gesetz der Entsprechung von Habitus und Klassenlage gesehen. 205  Vgl. Sonderegger, »Wie emanzipatorisch ist Habitus-Forschung?«, S. 31. 206  Rancière, Politik und Ästhetik, S. 67.

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voraus, die die Körper der Arbeiter von ihrem Ethos trennt«,207 die sie der ihnen zugeschriebenen Kultur entfremdet. Schon in seinem frühen Aufsatz Zur Theorie der Ideologie (1969) hatte Rancière erklärt, »proletarische Ideologie« sei »kein Lehrgebäude ›proletarischer‹ Doktrinen«, sondern, unter anderem, »ein angehaltenes Fließband, eine verspottete Autorität, ein zerstörtes System der Aufteilung verschiedener Arbeitsfunktionen«.208 Im Kampf um die Befreiung könne es weder darum gehen, die Arbeiter auf »Ordnung, Arbeit, Disziplin« zu verpflichten, noch sie in das Korsett einer Klasse zu stecken, die sich durch die »Positivität« ihrer Eigenschaften definiere.209 Die parteibürokratische Konzeption von Klassenidentität wird hier als »Polizei in doppeltem Sinne« bezeichnet und als Machwerk der »stalinistischen Staatsmaschinerie« bzw. der »(revisionistischen) ›Arbeiter‹-Parteien und ›Arbeiter‹- Staaten« entlarvt.210 Wie Rancière in einem Interview berichtet, fand er eine wesentliche Unterstützung für seine anti-identitäre Auffassung von ›Klasse‹ in einem »enigmatischen Satz« des jungen Marx aus dessen Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie (1843 – 1844). Dort sei davon die Rede, »dass das Proletariat die Klasse der Gesellschaft ist, die keine Klasse der Gesellschaft ist, und in der Tat eine ›Klasse‹ ist, die die Auflösung aller Klassen enthält«.211 Wenn Marx das Proletariat mit einer »Vorstellung von chemischer oder biologischer Auflösung« verbinde, so werde es als ein »Prozess der Zersetzung der alten Klassen gedacht«. Leider habe der Marxismus nicht an dieser »negativen Idee von Klasse als Auflösung« festgehalten, sondern sei immer wieder auf die »positive Idee von Klasse als Identität« zurückgekommen. Und so sei der zweite Sinn des Wortes, »das Proletariat als eine positive Klasse der Arbeit«, schließlich zur »Hauptbedeutung von Klasse« geworden.212 Rancière will dagegen die Seite der Auflösung einnehmen. Dazu müsse jedoch, sagt er, der Prozess der Auflösung anders gefasst werden: Es handelt sich nicht um den historischen und quasi-biologischen Zerfall der alten Klassen. Ich begreife diese Auflösung eher als symbolische Funktion der Deklassierung [declassing]. Die Klasse, die keine Klasse ist, wird somit zu einem Rancière, Das Unvernehmen, S. 48. Rancière, »Zur Theorie der Ideologie«, S. 10. Ebd., S. 10. Ebd. Rancière, »Democracy, dissensus, and the aesthetics of class struggle«, S. 287 Vgl. Karl Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung« (1844), in: ders. u. Friedrich Engels, Werke (MEW ), Bd. 1, Berlin, 1956 ff., 378 – 391, S. 390: »Wo also die positive Möglichkeit der deutschen Emanzipation? Antwort: in der Bildung einer Klasse mit radikalen Ketten, einer Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft ist, eines Standes, welcher die Auflösung aller Stände ist […] Diese Auflösung der Gesellschaft als ein besonderer Stand ist das Proletariat.« 212  Rancière, »Democracy, dissensus, and the aesthetics of class struggle«, S. 287. 207  208  209  210  211 

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Operator der Deklassifizierung [declassification]. Das Proletariat ist nicht länger ein Teil der Gesellschaft, sondern vielmehr die symbolische Einschreibung ›des Teils derer, die keinen Anteil haben‹ […]. Die Idee der auflösenden Klasse kann somit einen Begriff davon geben, was ein politisches Subjekt begründet.213

So geht es in dem, was Rancière immer noch Klassenkampf nennt, nicht um die Formierung von Klassen, es handelt sich im Gegenteil um einen Kampf gegen das Prinzip der Aufteilung, das die Menschen verschiedenen Klassen zuordnet: »Im demokratischen Zeitalter hat die deklassifizierende [declassifying] Neuaufteilung eine privilegierte Form angenommen, deren Name völlig in Ungnade gefallen ist, die wir aber direkt ansehen sollten, wenn wir wissen sollen, wo wir stehen. Der Name, der dieser privilegierten Form gegeben wurde, war Klassenkampf.« 214 Wenn Rancière auf diese Weise das Konzept der Klasse verabschiedet, so will er doch am Begriff des Proletariats festhalten. Als ›Klasse, die keine Klasse ist‹, als »leerer Name für ein Subjekt – für jeden, dafür, dass alle dazuzählen«,215 bildet das Proletariat einen unverzichtbaren Operator des Kampfs gegen die Klassifizierungen: Darin liegt für mich die Bedeutung der Idee des Proletariats. Es kann gleichzeitig der Name einer Klasse und der offene Name der Ungezählten sein. Was ich positive Subjektivierung nenne, ist dieser Prozess der Desidentifikation. Wichtig ist das Moment der Desidentifizierung, durch das die Identität oder das Dasein als Arbeiter, als Frau, als Schwarzer, in einen Raum der Subjektivierung der Ungezählten übergeht, der allen offensteht.216

Wenn auf diese Weise der Klassenkampf als »Macht der Deklassifizierung« begriffen wird,217 so wird, wie Rancière selbst hervorhebt, die »sozioökonomische Definition der politischen Klasse« hinfällig.218 Tatsächlich spielen Fragen der Politischen Ökonomie in Rancières Werk seit der Wende zur Ästhetik kaum noch eine Rolle; sein Konzept der Neuaufteilung des Sinnlichen ist vor allem an den Kunstakademien rezipiert worden. Auf Nachfrage hat Rancière allerdings deutlich gemacht, dass er die philosophisch weniger ergiebige Frage nach dem Kampf zwischen den Klassen nicht aus den Augen verloren hat: »Ich glaube also, dass es heute einen grimmigen Klassenkampf gibt, in dem auf der einen Seite eine gut aufgestellte Klasse steht, die herrschende Klasse, und auf der

213  214  215  216  217  218 

Ebd. Jacques Rancière, On the shores of politics, London, New York, 1995, S. 33. Rancière, »Democracy, dissensus, and the aesthetics of class struggle«, 289. Ebd., S. 290. Ebd., 289. Ebd., S. 290.

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anderen Seite Elemente, denen es nicht gelingt, sich zu einem Klassenkampf zusammenzufinden.« 219

Das Sinnliche der Aufteilung Es ist kaum zu übersehen, dass Rancières Darstellung des Prinzips der ›Polizei‹ an ein bestimmtes Bild von Fabrikgesellschaft gebunden bleibt, das – zumindest im sogenannten Westen – nicht gerade den aktuellen Stand von Beherrschung und Subjektivierung bezeichnet. Angesicht von Regierungs- und Polizeitechniken, die eher auf flexible Kontrolle und die Macht der Übertragungs-Protokolle setzen,220 kann Rancières Vorstellung von einer durch Ortsfestlegung, Identifizierung und hierarchische Trennung operierenden Politik der Beherrschung durchaus als »outdated« bezeichnet werden.221 Für eine historische Analyse, die sich mit dem Übergang von der Standes- zur Klassengesellschaft beschäftigt, ist der etwas altmodische Zug der Rancière’schen Herrschaftsanalyse jedoch keineswegs störend. Im Gegenteil: Man kann sich fragen, ob die Darstellung, die Rancière von der Aufteilung des Sinnlichen in der industriellen Klassengesellschaft gibt, nicht viel besser geeignet wäre, um das Funktionieren der Hierarchien in der ständischen Gesellschaft zu beschreiben. Rancière selbst unterscheidet nicht zwischen Standes- und Klassengesellschaft. Seine Beschreibungen der Aufteilung des Sinnlichen haben jedoch einen deutlich vormodernen Einschlag, sie beziehen sich vorzugsweise auf Herrschaftsbegründungen der griechischen und römischen Antike. Diese haben zweifellos bis weit ins 17. und 18. Jahrhundert ihre Gültigkeit behalten. So eignet sich beispielsweise die Schilderung, die Rancière von Platons ›Sophrosyne‹ gibt, sehr gut dazu, um die Selbstverständlichkeit der hierarchischen Platzanweisung in den frühneuzeitlichen Ständegesellschaften zu charakterisieren: »[…] die Tatsache für jeden, an seinem Platz zu sein, sich dort um seine eigenen Angelegenheiten zu kümmern, und die Meinung zu haben, die identisch ist mit der Tatsache, an diesem Platz zu sein, und zu machen, was man zu machen hat«.222 Es fragt sich allerdings, ob diese platonische Ideologie der ständischen Ordnung auch noch die Realität der modernen Klassengesellschaften trifft – oder zumindest, ob sie das trifft, was an dieser Ordnung neu und anders ist. Wie in diesem Buch gezeigt werden soll, stellen die Praktiken der gesellschaftlichen Klassenteilung nicht einfach eine Verlängerung der alten Dispositive der hierarchischen Ortsverteilung dar; sie stehen 219  Rancière, Politik und Ästhetik, S. 89 220  Vgl. Gilles Deleuze, »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, in: ders., Unter-

handlungen. 1972 – 1990, Frankfurt a. M., 1993, 254 – 262; Alexander R. Galloway, Protocol. How control exists after decentralization, Cambridge, Massachusetts, London, England, 2004. 221  Vgl. Adam Morris, »Micrometanarratives and the politics of the possible«, CR : The New Centennial Review, Jg. 11, N° 3, 2011, 91 – 117, S. 111. 222  Rancière, Das Unvernehmen, S. 115.

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vielmehr für eine radikale Änderung des gesellschaftlichen Ordnungsprinzips und des Modus der Verteilung von Macht und Ressourcen. Rancière wollte mit der ›Aufteilung des Sinnlichen‹ ein politisches Interventionsinstrument schaffen – und nicht eine sozialwissenschaftliche Methode begründen. Für eine historische Analyse, die verstehen will, wie sich im Geflecht der sozialen Beziehungen neue Formen der Teilung durchsetzen, kann das Konzept dennoch instruktiv sein. Um mit dem Begriff zu arbeiten, muss man nicht Rancières ›kulturrevolutionäre‹ Einstellung teilen, die dem ästhetischen Urteil ein Primat gegenüber allen anderen (ökonomischen, politischen, sozialen, funktionalen, institutionellen, technischen, medialen usw.) Teilungsvorgängen zuweist. Die historische Analyse beobachtet die unterschiedlichsten Teilungsprozesse und versucht ihr Zusammenspiel zu verstehen; die Frage, welche Art der Teilung die ›in letzter Instanz‹ bestimmende ist, wird sie höchstens situativ, für eine bestimmte Konstellation beantworten können. Das Konzept der ›Aufteilung des Sinnlichen‹ kann jedoch die Aufmerksamkeit dafür wecken, dass die soziale Teilung eine unaufhebbare ›ästhetische‹ Dimension hat: Nicht nur schafft jede Teilung neue Bedingungen der Sicht- und Sagbarkeit, richtet eine neue Wahrnehmung des Ganzen ein; auch die Teilungsvorgänge selbst finden ›im Reich der Sinne‹ statt, sie artikulieren sich in Form von Bewegungen der Distanznahme, der Annäherung oder Trennung von Körpern, der Etablierung oder Überschreitung von Grenzen, der Artikulation oder Unterdrückung von Äußerungen, Erscheinungsweisen und Darstellungen. Für die hier verfolgte Geschichte der Klassenteilung ist Rancières Anregung daher unverzichtbar: Mit dem Konzept der ›Aufteilung des Sinnlichen‹ kommt das ›Sinnliche der Aufteilung‹ in den Fokus der Betrachtung, und zwar nicht nur, wie bei Bourdieu, als ästhetisches Urteil, das die herrschende Teilung bestätigt, sondern als eine eigene, geschichtlich wirksame Macht, die mit der ›Aufteilung‹ immer auch eine ›Neuaufteilung‹ vollzieht.

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UNTERSCHEIDUNG IST ARBEIT. SOZIOLOGIEN DER GRENZZIEHUNG Wenn Klassengesellschaft, wie es einige der vorgestellten Ansätze nahelegen, ›gemacht‹ wird, wenn sie das historische Produkt von Praktiken der Klassenteilung ist, wie lässt sich dann das ›Making of‹ der Klassengesellschaft in den Blick bekommen, wie lassen sich die Praktiken beobachten, aus denen die neue gesellschaftliche Aufteilung hervorgeht? Um diese Frage zu klären, sollen in diesem Kapitel Ansätze besprochen werden, die die Produktion gesellschaftlicher Unterschiede aus einer praxeologischen Perspektive zu beschreiben versuchen. Einige dieser Arbeiten beziehen sich explizit auf Bourdieu und sein Konzept der Distinktions- und Klassifikationskämpfe; andere versuchen, Foucaults Projekt einer Archäologie und Genealogie der Klassifikationsweisen durch empirische, ›ethnomethodologische‹ Beobachtungsweisen zu erweitern. Neben einflussreichen Konzepten wie ›boundary work‹, ›boundary objects‹, ›doing difference‹ und ›classification work‹ ist hier vor allem das von Mary Poovey und Beverley Skeggs skizzierte Projekt einer ›historical epistemology of class‹ zu diskutieren, dessen Zielsetzung sehr weitgehend den Absichten dieser Arbeit entspricht.

Boundary Work Wie im vorigen Kapitel dargestellt wurde, hat Bourdieu die Bedeutung der alltäglichen Praktiken für die Konstitution der gesellschaftlichen Unterschiede hervorgehoben; er war aber auch darauf bedacht, die strukturellen Begrenzungen dieser Praktiken, ihre Verwiesenheit auf das bestehende System der Unterschiede herauszuarbeiten. Aufgrund seines Festhaltens an der determinierenden Macht der ›Struktur‹ schien seine Theorie kaum mit Ansätzen vereinbar zu sein, die das ›Handeln‹ der Akteure in den Vordergrund stellten. So wie Bourdieu sich von interaktionistischen oder pragmatistischen Auffassungen distanzierte, so lehnten umgekehrt diejenigen, denen es eher auf die Fluidität und Veränderbarkeit sozialer Grenzziehungen ankam, den Bourdieu’schen ›Strukturalismus‹ ab. Doch gibt es bei Bourdieu eine Genauigkeit in der Beobachtung von Dispositiven und Praktiken,1 die seine Untersuchungen auch für jene interessant macht, die die theoretische Rahmung nicht akzeptieren. So hat beispielsweise der Musiksozio1  Exemplarisch sei hier Bourdieus 1963 – 1964 verfasste Analyse des kabylischen Hauses

genannt: »Das Haus oder die verkehrte Welt«, in: Bourdieu, Entwurf einer Theorie der Praxis, S. 48 – 65.

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loge Antoine Hennion dafür plädiert, Bourdieu nicht so sehr »zu kritisieren, als ihn vielmehr auszuweiten«.2 Eine Erforschung der Geschmacksurteile könne immer noch an Bourdieu anknüpfen, »an die gesamte Anthropologisierung des Geschmacks, die Bourdieu vorgenommen hat, indem er den Körper, die Geschichte, den Habitus, die Institutionen, die Dispositive und Dispositionen in sie hineingelegt hat« – dabei müsse allerdings die in Bourdieus Werk angelegte »Pragmatisierung […] voll geltend gemacht werden«, d. h. es müssten verstärkt »die Dinge und die Akteure, die an ihnen hängen« ins Blickfeld gerückt werden.3 Eine ähnliche Form der selektiven Übernahme – Anerkennung der anthropologischen, praxeologischen Forschungsweise bei gleichzeitiger Zurückweisung des strukturellen Reduktionismus – kennzeichnet die amerikanische BourdieuRezeption. In einer vergleichenden Untersuchung zur Kultur der französischen und der amerikanischen »upper-middle class« vertrat die »heterodoxe« 4 Bourdieu-Schülerin Michèle Lamont 1992 die Auffassung, dass sich Bourdieus Theorie der Reproduktion kultureller Unterschiede kaum auf amerikanische Verhältnisse übertragen ließ. Eine direkte Übersetzung symbolischer Unterschiede in gesellschaftliche Hierarchien, wie sie Bourdieu für Frankreich demonstriert habe, sei in den USA nicht zu finden. Gegenüber der »tightly bounded culture« Frankreichs, in der die »klassifikatorischen Codes scharf definiert und nach rigiden, bipolaren, hierarchischen Oppositionen strukturiert« seien, biete Amerika das Bild einer »loosely bounded culture«, die durch ein »hohes Maß an kulturellen Innovationen bezüglich der Lebenstile und der Normen für zwischenmenschliche Beziehungen« gekennzeichnet sei.5 Generell orientiere sich Bourdieus Arbeit zu stark »nicht nur an französischen, sondern insbesondere an Pariser Verhaltensweisen, wodurch die Bedeutung der kulturellen Schranken übertrieben wird«.6 Um den Unterschied der kulturellen Grenzziehungen zu beschreiben, greift Lamont auf das von dem Wissenschaftssoziologen Thomas F. Gieryn geprägte Konzept des »boundary work« zurück.7 In Lamonts Fassung bezieht sich der 2  Antoine Hennion, »Von einer Soziologie der Mediation zu einer Pragmatik der Attachements. Rückblick auf einen soziologischen Parcours innerhalb der CSI «, Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK ), N° 2013/2, 2013, 11 – 35, S. 23 – 24. 3  Ebd., S. 23. 4  Vgl. Michèle Lamont, »How has Bourdieu been good to think with? The case of the United States«, Sociological Forum, Jg. 27, N° 1, 2012, 228 – 237, S. 230: »From the onset, I located myself firmly in the heterodox camp, a position that I helped define.« 5  Michèle Lamont, Money, morals, and manners. The culture of the French and the American upper-middle class (1992), Chicago, 2012, S. 115. 6  Ebd., S. 181. 7  Vgl. Thomas F. Gieryn, »Boundary-work and the demarcation of science from non-science. Strains and interests in professional ideologies of scientists«, American Sociological Review, Jg. 48, N° 6, 1983, 781. Das boundary-Paradigma lässt sich zurückverfolgen bis zu den Arbeiten des Ethnologen Fredrik Barth, der sich für »ethnic boundary maintenance« interessiert hatte, also für die Praktiken, »durch die kulturelle Einheiten und Grenzen aufrechterhalten

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Begriff »auf den Prozess, durch den Individuen in Entgegensetzung zu anderen ihre Identität definieren, indem sie symbolische Grenzen ziehen«.8 Im Sprung über den Atlantik haben sich also Bourdieus ›Klassifikationskämpfe‹ in ›Grenzziehungsarbeit‹ verwandelt. Dem Selbstverständnis einer ›locker begrenzten Kultur‹ kommt es sicher entgegen, die sozialen Unterschiede aus Arbeit statt aus Kämpfen hervorgehen zu lassen.9 Doch hat diese Pazifizierung des Distinktionsbegriffs auch ihren Preis: Wenn mit dem Begriff des ›Kampfs‹ betont wurde, dass Klassen keine gegebenen Einheiten sind, sondern prekäre Hervorbringungen eines permanenten gesellschaftlichen Streits, so führt der Begriff der ›Arbeit‹ unweigerlich die Vorstellung eines teleologischen Prozesses mit sich, einer Produktion, die auf ein vorbestimmtes Ergebnis hinausläuft. Entsprechend hat die Grenzziehungsarbeit bei Lamont von Anfang an eine aufbauende, konstruktive Funktion; sie untersteht dem Auftrag der ›Identitätsbildung‹: Aber warum ziehen wir Grenzen? Grenzziehungsarbeit ist ein wesentlicher Teil des Selbstbildungsprozesses: Sie entstehen, wenn wir versuchen, zu definieren, wer wir sind […]. Da Identität relational bestimmt ist, definieren wir dadurch unsere eigene Innerlichkeit und den Charakter anderer.10

Ein Vorteil des Arbeitsbegriffs könnte dagegen darin liegen, die materiellen, ›handwerklichen‹ Aspekte der gesellschaftlichen Differenzierung, das ›Wie‹ und ›Wodurch‹ der Unterscheidung in den Fokus der Betrachtung zu rücken. Doch beschäftigt sich die Theorie des boundary work fast ausschließlich mit der Rolle symbolischer Grenzziehungen. Wie Lamont und Virág Molnár in einem Resümee zur Aufnahme des boundary-Paradigmas in den Sozialwissenschaften schreiben, geht es den entsprechenden Forschungen grundsätzlich um »die Suche nach einem Verständnis der Rolle symbolischer Ressourcen (z. B. konzeptioneller Unterscheidungen, interpretativer Strategien, kultureller Traditionen) bei der Schaffung, Aufrechterhaltung, Anfechtung oder sogar Auflösung institutionalisierter sozialer Unterschiede (z. B. Klasse, Geschlecht, Rasse, territoriale Ungleichheit)«.11 Auch wenn auf diese Weise neue Formen der gesellschaftlichen Unterscheidung in den Fokus geraten, so bleibt die Untersuchung der ›Grenzarbeit‹ in zahlreichen einschlägigen Studien auf symbolische und diskursive

werden«, vgl. Fredrik Barth, »Introduction«, in: ders. (Hg.), Ethnic groups and boundaries. The social organization of culture difference, Boston, 1969, 9 – 38, S. 15 – 16. 8  Lamont, Money, morals, and manners, 233, Anm. 5. 9  Tatsächlich ist in Lamonts Money, Morals, and Manners von ›classification struggles‹ keine Rede. 10  Ebd., S. 11. 11  Michèle Lamont u. Virág Molnár, »The study of boundaries in the social sciences«, Annual Review of Sociology, Jg. 28, N° 1, 2002, 167 – 195, S. 168.

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Prozesse beschränkt 12 – und fällt damit hinter Bourdieu zurück, der sich gerade auch für die materiellen Dispositionen der Distinktion und für die körperliche Einschreibung von Verhaltensroutinen interessiert hatte.

Boundary Objects Genauere Beschreibungen, die auch die ›material culture‹ der Grenzziehung einbezogen, erbrachten hingegen die ethnomethodologisch informierten Arbeiten von Susan Leigh Star, die sich als Arbeits- und Organisationssoziologin dafür interessierte, wie unterschiedliche Gruppen trotz divergierendender Ziele, Interessen und Arbeitsweisen institutionell zusammenarbeiten können. In einem gemeinsam mit dem Wissenschaftsforscher James R. Griesemer verfassten Artikel über die Kooperationsprozesse in einem Naturkundemuseum führte sie 1989 den Begriff »boundary object« ein: Dies ist ein analytischer Begriff für jene wissenschaftlichen Objekte, die sowohl in mehreren sich überschneidenden sozialen Welten zu Hause sind […], wie auch die Informationsbedürfnisse in jeder dieser Welten befriedigen. Grenzobjekte sind Objekte, die plastisch genug sind, um sich den lokalen Bedürfnissen und Beschränkungen mehrerer sie nutzender Parteien anzupassen. […] Diese Objekte können abstrakt oder konkret sein.13

Eng verwandt mit den von Bruno Latour beschriebenen »immutable mobiles«,14 handelt es sich bei boundary objects um Gegenstände (aber auch um Verfahren oder Formate) mit einer bestimmten medialen Funktion, in diesem Fall der Kommunikation zwischen Kollektiven. Boundary objects sind dadurch bestimmt, dass sie als Vermittler oder Interfaces zwischen abgetrennten Regionen dienen. In Museen oder Bibliotheken können dies beispielsweise die Sammlungen selbst sein, deren Objekte von »Personen aus unterschiedlichen Welten« für 12  Zur Kritik dieser Einschränkung auf symbolische Grenzarbeit vgl. Stefan Hirschauer,

»Un/doing Differences. Die Kontingenz sozialer Zugehörigkeiten«, Zeitschrift für Soziologie, Jg. 43, N° 3, 2014, 170 – 191, S. 188: »Kulturelle Differenzen sind nicht nur Diskurseffekte, kognitive Schemata […] oder theoretische Essentialisierungen, wie in den Kulturwissenschaften […] oft unterstellt wird, es sind vor allem praktisch vollzogene, körperlich und situativ materialisierte sowie institutionell geronnene ›Real-Essentialisierungen‹, und diese sozial konstruierte Eigentlichkeit von Differenzen gilt es zu untersuchen.« 13  Susan Leigh Star u. James R. Griesemer, »Institutionelle Ökologie, ›Übersetzungen‹ und Grenzobjekte. Amateure und Professionelle im Museum of Vertebrate Zoology in Berkeley, 1907 – 39« (1989), in: Susan Leigh Star, Grenzobjekte und Medienforschung, hg. v. Sebastian Gießmann u. Nadine Taha, Bielefeld, 2017, 81 – 115, S. 87. 14  Star und Griesemer verweisen selbst darauf, dass eine bestimmte Art ihrer Grenzobjekte, nämlich »standardisierte Formulare« auch als »immutable mobiles« beschrieben werden könnten, vgl. ebd., S. 107.

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ganz unterschiedliche Zwecke benutzt oder entliehen werden können, ohne dass diese »Zweckunterschiede« eigens verhandelt werden müssten;15 ein eingängiges, in den Management Studies gern bemühtes Beispiel ist »der Kaffeeautomat in einem Bürogebäude, wo verschiedene Gemeinschaften einer Organisation zusammentreffen«.16 Damit stehen boundary objects weniger für die Grenzziehung selbst, als vielmehr für die Verbindungen, die trotz der Grenzen und über diese hinweg immer noch möglich sind. Wie Susan Leigh Star betont, möchte sie Grenzen gar nicht so sehr im Sinn der Trennung, sondern eher in dem der Verbindung verstanden wissen: »Häufig impliziert das Wort Grenze so etwas wie Rand oder Peripherie, wie bei der Grenze eines Staates oder eines Tumors. Hier wird es jedoch im Sinn eines geteilten Raums verwendet, in dem genau dieses Gefühl für hier und da durcheinandergerät.« 17 Für eine Arbeit, die sich für die Logik und Medialität der sozialen Grenzziehungen interessiert, scheint eine solche Auffassung von Grenze (Grenze nicht als Operator der Trennung und des Ausschlusses, sondern als Raum des Übergangs) zunächst nicht allzu hilfreich zu sein: Denn die Aufmerksamkeit gilt hier offenkundig nicht den Medien, die die gesellschaftlichen Trennungen verhängen, sondern denen, die sie überwinden – insofern stehen Susan Leigh Stars boundary objects den von dem Psychoanalytiker Winnicott beschriebenen ›Übergangsobjekten‹ näher als den rigiden Dispositiven der Trennung und Aufteilung, wie sie etwa Foucault beschrieben hat.18 Doch enthält die Theorie der boundary objects den wichtigen Hinweis, dass Grenzen nie einfach nur als abstrakte Grenzziehungen, gleichsam als ideale geometrische Linie verstanden werden können. Grenzziehungen gehen immer über die Geometrie der Linie hinaus, sie haben eine ›Breite‹, die verhindert, dass es jemals eine ganz eindeutige Unterscheidung und eine vollkommen wirksame Abschottung geben kann. Diese ›Breite‹ hat mit der Räumlichkeit, Materialität, Medialität, Körperlichkeit der Grenzziehung zu tun, und damit, dass jede Grenze bevölkert und belagert wird: Zu ihr gehören all die Objekte, die Übergänge schaffen oder verhindern sollen; zu ihr gehören auch all die Wesen, die von der Grenze aufgehalten werden, sowie jene, die sich dort eingerichtet haben, um von der Transit-Situation zu profitieren, Agenten und Agenturen der Vermittlung, der Übersetzung, der Vermischung zwischen den getrennten Welten. 15  Ebd., S. 106. 16  Christian Bueger u. Frank Gadinger, International practice theory. New perspectives, Ba-

singstoke, 2014, S. 32.

17  Susan Leigh Star, »This is not a boundary object. Reflections on the origin of a concept«,

Science, Technology, & Human Values, Jg. 35, N° 5, 2010, 601 – 617, S. 602 – 603.

18  Vgl. Donald W. Winnicott, »Übergangsobjekte und Übergangsphänomene«, PSYCHE ,

Jg. 23, N° 9, 1969, 666 – 682. Zur Konvergenz von ›transitional object‹ und ›boundary object‹ vgl. Erica Burman, »Boundary objects and group analysis. Between psychoanalysis and social theory«, Group Analysis, Jg. 37, N° 3, 2016, 361 – 379.

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Auch soziale Teilungen sollte man sich entsprechend nicht als einfache, lineare Schnitte vorstellen, sondern vielmehr als räumlich und zeitlich ausgedehnte Operationsgebiete, in denen Kräfte und Medien der Trennung mit solchen der Vermischung und des Übergangs im Streit liegen. Schließlich ließe sich der Begriff boundary object, gegen Susan Leigh Stars Intentionen, auch noch in einem weiteren Sinn begreifen: Er würde dann nicht nur die ›freundlichen‹ Objekte des grenzüberschreitenden Verkehrs bezeichnen, all die Objekte, die unweigerlich im Weichbild der Grenze entstehen und ihre ›Übergängigkeit‹ ausmachen. Er würde vielmehr prinzipiell alles umfassen, was die Materialität und Medialität der Grenzziehung ausmacht, worunter dann auch jene ›unfreundlichen‹ Objekte zu finden wären, durch die eine Teilung verfügt, ein Ausschluss durchgesetzt, eine Hierarchie eingerichtet, eine Kommunikation verhindert, eine Codierung aufrechterhalten wird: Schlagbäume, ›Zutritt verboten‹Schilder, Gefängnismauern, Tabellenlinien oder behindertenfeindliche Treppen.

Doing Difference Ein mit dem Paradigma des boundary making verwandter Ansatz ist der des doing difference, der auf die Ethnomethodologie von Harold Garfinkel und die Interaktionstheorie von Erving Goffman zurückgeht. Anhand der Geschichte der Transsexuellen »Agnes« hatte Garfinkel 1967 gezeigt, dass das vermeintlich natürliche männliche oder weibliche Verhalten ein kulturelles Konstrukt darstellt, das durch gesellschaftliche Interaktionen hergestellt und bestätigt wird.19 Im gleichen Sinn betonte Goffman Ende der 1970er Jahre die interaktionale Produziertheit der Geschlechtsunterschiede: Szenen der face-to-face-Interaktion bildeten nicht einfach den »Ausdruck von natürlichen Differenzen«, sie müssten vielmehr »als Produktion dieser Differenzen selbst« betrachte werden.20 Der schon 1977 fertiggestellte, aber erst 1987 veröffentlichte 21 Aufsatz Doing Gender von Candace West und Don Zimmerman begründete schließlich eine ganze Tradition der Genderforschung, die den Mechanismen der Differenzproduktion nachspüren sollte: »Gender zu machen bedeutet, Unterschiede zwischen Mädchen und Jungen und Frauen und Männern zu schaffen, Unterschiede, die nicht natürlich, wesentlich oder biologisch sind. Sobald die Unterschiede konstruiert sind, werden sie ver-

19  Vgl. Harold Garfinkel, »Passing and the managed achievement of sex status in an ›in-

tersexed‹ person«, in: Harold Garfinkel, Studies in ethnomethodology, Englewood Cliffs, NJ , 1967, 116 – 185. 20  Erving Goffman, »The arrangement between the sexes«, Theory and Society, Jg. 4, N° 3, 1977, S. 324. 21  Vgl. Candace West u. Don H. Zimmerman, »Accounting for Doing gender«, Gender & Society, Jg. 23, N° 1, 2009, 112 – 122, S. 112: »Between 1977 and 1987, this work was rejected by some of the most respected journals in our field […].«

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wendet, um die ›Essentialität‹ des Geschlechts zu stärken.« 22 Das hier gewonnene »Verständnis von ›Differenz‹ als einer fortlaufenden Interaktionsleistung« 23 wurde in dem von Candace West gemeinsam mit Sarah Fenstermaker verfassten Aufsatz Doing difference (1995) verallgemeinert. Es schloss nun auch die bisher außer Acht gelassenen Kategorien ›race‹ und ›class‹ mit ein: »Wir behaupten, dass Geschlecht, Rasse und Klasse – also das, was die Menschen als organisierende Kategorien der sozialen Unterscheidung erfahren – zwar sehr unterschiedliche Beschreibungsmerkmale und Ergebnisse aufweisen, aber als Mechanismen zur Erzeugung sozialer Ungleichheit dennoch vergleichbar sind.« 24 Im Unterschied zu dem ›sektionalen‹ Verständnis von ›triple oppression‹, nach dem bestimmte Subjekte aufgrund bestimmter Merkmale bestimmten Gruppen von ›Unterdrückten‹ zugeordnet werden, gingen West und Fenstermaker davon aus, dass jedes Individuum ständig an allen drei Formen der Differenzproduktion teilhat und von ihnen betroffen ist. Entscheidend ist demnach nicht die ›mathematische‹ Zurechenbarkeit zu einer Gruppe, sondern die Weise der Erfahrung von Unterschieden: »Hier stehen wir vor einer aufschlussreichen Möglichkeit und lassen die Arithmetik zurück: Kein Mensch kann Geschlecht erfahren, ohne gleichzeitig Rasse und Klasse zu erfahren.« 25 Gesellschaftliche Unterschiede haben damit weniger mit festen Zugehörigkeiten als mit einer ständigen, situativ unterschiedlichen Produktion von Unterscheidungen zu tun. Einzelne dieser Unterscheidungen können sich überlagern und verstärken, sie können sich aber auch gegenseitig relativieren. Der Soziologe Stefan Hirschauer hat dafür plädiert, in der Analyse der sozialen Differenzierungen nicht nur die räumlichen Aspekte, z. B. die unterschiedlichen Weisen der Grenzziehung und der Zugehörigkeit zu berücksichtigen,26 sondern insbesondere auch die zeitlichen Verläufe von Differenzierungsprozessen in den Blick zu nehmen: »Allenthalben ist mit Varianz zu rechnen – mit Momenten der Aktualisierung und Neutralisierung (Einsatz- und Wendepunkten, Abbrüchen und Unterbrechungen) sowie mit biographischen und historischen Konjunkturen (Auf- und Abschwüngen) von Unterscheidungen. Diese haben nicht nur eine (differenzierungstheoretisch gut erfasste) sozialräumliche Relevanz, sie haben auch ein zeitlich fluktuierendes Gewicht.« 27 Daraus ergibt sich ein für diese Arbeit nicht unwichtiger Hinweis auf die Geschichtlichkeit und Vergänglichkeit der kulturellen Unterscheidungen: »Kontingent sind Humandiffenzierungen nicht 22  Candace West u. Don H. Zimmerman, »Doing gender«, Gender and Society, Jg. 1, N° 2, 1987, 125 – 151, S. 137. 23  Candace West u. Sarah Fenstermaker, »Doing difference«, Gender and Society, Jg. 9, N° 1, 1995, 8 – 37, S. 8. 24  Ebd., S. 9. 25  Ebd., S. 13. 26  Vgl. Hirschauer, »Un/doing Differences«, S. 180. 27  Ebd., S. 182.

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nur, weil sie hergestellt und aufgebaut, sondern auch, weil sie gebraucht, übergangen und abgebaut werden können.« 28 Wie lange eine Unterscheidung sich erhält, hängt wesentlich davon ab, wie sie benutzt und weitergetragen wird, welche Erwartungen sich damit verbinden, welche Wichtigkeit ihr beigemessen wird und mit welchen Affekten sie besetzt wird. Wenn die Erwartungen nachlassen und die Affekte sich abkühlen, lässt auch die Dringlichkeit der Unterscheidung nach. Für Hirschauer ergibt sich daraus die Möglichkeit, etwas ins Auge zu fassen, das West und Fenstermaker kategorisch ausgeschlossen hatten, nämlich die Möglichkeit, dass die binäre Trennung der Geschlechter eines Tages obsolet werden könnte. Fenstermaker und West waren noch der Auffassung, dass doing gender angesichts der herrschenden Verteilung von Macht und Ressourcen »unvermeidlich« sei.29 Hirschauer versucht dagegen zu zeigen, dass in vielen gesellschaftlichen Bereichen bereits eine Entwertung des Geschlechtergegensatzes vor sich geht. In dem Maß, in dem doing gender seltener vollzogen oder sogar diskreditiert wird, lässt sich schließlich auch an einen Abbau des Geschlechtsunterschieds, an ein »undoing gender« denken.30 Auch wenn es in der vorliegenden Untersuchung um andere Arten des Unterschieds geht, kommt die Einsicht, »dass jede Differenzierung auch von anderen Unterscheidungen überlagert werden, an Relevanz verlieren und verschwinden kann«,31 der hier ins Auge gefassten Beschreibung eines geschichtlichen ›Fadings‹ von Differenzierungsformen besonderes entgegen. Auch Unterschiede haben ihr Schicksal – diejenigen, die sich im 17. und 18. Jahrhundert über den Verfall der traditionellen Hierarchien und die Auflösung der gesellschaftlichen Abstände erregten, hätten diesem Befund zweifellos zugestimmt, wenn auch zähneknirschend.

Infrastrukturen der Klassifikation Die bisher genannten Untersuchungsansätze versuchen zu erklären, wie sich gesellschaftliche Unterschiede in der Praxis, im täglichen Umgang der Subjekte durchsetzen. Sie stehen dabei vor dem Problem, dass die Entstehung dieser Unterschiede ›in vivo‹ nur schwer zu beobachten ist. Leichter hat es in dieser Hinsicht eine andere Forschungstradition, die sich mit bürokratischen Unterscheidungsund Sortierpraktiken beschäftigt, sei es in den wissenschaftlichen Institutionen 28  Ebd., S. 173. 29  West u. Zimmerman, »Doing gender«, S. 145. 30  Vgl. Stefan Hirschauer, »Das Vergessen des Geschlechts. Zur Praxeologie einer Kategorie

sozialer Ordnung«, in: Bettina Heintz (Hg.), Geschlechtersoziologie. Sonderheft der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen, 2001, 208 – 235. 31  Hirschauer, »Un/doing Differences«, S. 181. Dem Wechselspiel des ›Doing‹ und ›Undoing‹ von Unterschieden geht eine von Hirschauer und anderen ins Leben gerufene DFG -Forschungsgruppe an der Universität Mainz weiter nach. Vgl. ders. (Hg.), Un/doing differences. Praktiken der Humandifferenzierung, Weilerswist, 2017.

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oder in staatlichen Verwaltungsapparaten. Denn hier dokumentieren sich die Praktiken der Unterscheidung gleichsam selbst: Ihre Kriterien und Verfahren sind eingeschrieben in die Listen, Nomenklaturen, Statistiken, Kataloge, Datenbanken, Pläne, Karten usw., die sie hervorbringen. Zahlreiche dieser Untersuchungen knüpfen an das Foucault’sche Projekt einer Analyse der Wissens- und Diskursordnungen an. So glaubt der kanadische Wissenschaftstheoretiker und -historiker Ian Hacking, der als einer der Begründer dieser Art von kritischer Klassifikationsforschung angesehen werden kann, dass sein 1975 erschienenes Buch The Emergence of Probability »die erste umfassende Arbeit« gewesen sei, »die die neue Art der Analyse aufgriff, adaptierte und anwandte, die Michel Foucault Archäologie nannte«.32 Auch Hackings Historical Ontology von 2002 bezieht sich ausdrücklich auf Foucault, in diesem Fall auf dessen Projekt einer »historische[n] Ontologie unserer selbst« 33. Da Hacking davon ausging, dass es in Foucaults Formulierung vor allem um die Seinsweise von Subjekten ging, glaubte er, die ›ontologische‹ Frage erweitern zu müssen, indem er sie nun auf die Hervorbringung von Objekten münzte: Einige der alten Nebenbedeutungen des Worts ›Ontologie‹ kommen mir allerdings ganz gelegen, denn ich möchte über Gegenstände im allgemeinen reden. Nicht bloß über Dinge, sondern über alles, was wir individuieren und worüber wir meinen, reden zu dürfen. Dazu gehören nicht nur ›materielle‹ Gegenstände, sondern auch Klassen, Arten von Personen und sogar Ideen. Und wenn es uns schließlich um das Aufkommen der bloßen Möglichkeit mancher Objekte geht, stellt sich die Frage, ob das nicht etwas Geschichtliches ist.34

Konzeptionell geht Hacking damit nicht über Foucault hinaus, in dessen archäologischen Arbeiten es natürlich ebenfalls um die Konstitutionsbedingungen von ›Gegenständen‹ (und nicht nur von ›Subjekten‹) ging. Hacking erweitert jedoch die Reichweite der Historischen Ontologie, indem er sie in die alltäglichen und unscheinbaren Bereiche der bürokratischen Verwaltung des Lebens führt und dabei auch neuere, noch nicht aus der historischen Distanz zu betrachtende Phänomene aufgreift. So beschäftigen sich seine Arbeiten beispielsweise mit der Hervorbringung neuer Berufe durch die Kategorisierungsverfahren der amtlichen Beschäftigungsstatistik,35 mit der Entstehung des Konzepts »Kin32  Ian Hacking, »Introduction 2006. The archaeology of probable reasoning«, in: ders., The emergence of probability. A philosophical study of early ideas about probability, induction and statistical inference, Cambridge, 2007, xi–xxxiii, S. xii. 33  Foucault, »Zur Genealogie der Ethik. Ein Überblick über die laufende Arbeit«, S. 275. 34  Ian Hacking, Historische Ontologie. Beiträge zur Philosophie und Geschichte des Wissens, Zürich, 2006, S. 10. 35  Vgl. Ian Hacking, »Biopower and the avalanche of printed numbers«, Humanities in Society, N° 5, 1982, 279 – 295.

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desmissbrauch« 36 oder mit dem Auftauchen neuer Krankheiten infolge neuer Krankheitsklassifikationen.37 Dabei handelt es sich nicht einfach darum, die formierende Macht der Klassifizierung offenzulegen, sondern auch der Tatsache Rechnung zu tragen, dass es sich bei den klassifizierten Objekten um denkende Wesen handelte, die aktiv auf ihr Klassifiziertwerden reagieren: Eine neue oder veränderte Klassifizierungsweise kann systematisch die Personen affizieren, die so klassifiziert werden, oder die Menschen selbst können gegen die Experten, die Klassifikatoren, die Wissenschaft rebellieren, durch die sie klassifiziert werden. Solche Interaktionen können zu Veränderungen bei den Personen führen, die klassifiziert werden, und somit auch in dem, was von ihnen bekannt ist. Das nenne ich einen Feedback-Effekt. Jetzt füge ich einen weiteren Parameter hinzu. Eine neue Art oder Klassifizierung von Menschen oder von Verhalten zu erfinden oder zu formen, kann neue Wege eröffnen, eine Person zu sein, neue Entscheidungen zu treffen, zum Guten wie zum Bösen. Es gibt neue Beschreibungen und somit neue Aktionen, die dieser Beschreibung entsprechen. Es ist nicht so, dass sich die Menschen materiell verändern, sondern dass ihnen logischerweise neue Handlungsmöglichkeiten offenstehen.38

Den wohl wichtigsten Beitrag zu der von Ian Hacking eröffneten Forschungsrichtung bildete das 1999 erschienene Buch Sorting Things Out. Classification and its Consequences von Geoffrey Bowker und Susan Leigh Star. Auch Bowker und Star betonen den Einfluss Foucaults; eine »archäologische Grabung« sei unverzichtbar, wenn es darum gehe, »die Ursprünge und Konsequenzen einer Reihe von sozialen Kategorien und Praktiken zu finden«.39 Den Autoren geht es jedoch nicht um die diskursive Formierung von Klassifikationsweisen; sie interessieren sich vielmehr für »die Pragmatik der unsichtbaren Kräfte von Kategorien und Standards in der gebauten Umwelt der Moderne, besonders in der Welt der modernen Informationstechnologie«.40 Sorting Things Out beschäftigt sich daher nicht mit Diskursen oder alltäglichen Praktiken sozialer Kategorisierung, sondern mit Infrastrukturen der Klassifikation und Standardisierung, wie sie von großen Bürokratien, wissenschaftlichen Institutionen und öffentlichen Verwaltungsapparaten errichtet und durchgesetzt werden. Zu den untersuchten Klassifikationssystemen und -praktiken gehören beispielsweise die medizinische 36  Vgl. Ian Hacking, »The making and molding of child abuse«, Critical Inquiry, Jg. 17, N° 2, 1991, 253 – 288. 37  Vgl. Ian Hacking, Rewriting the soul. Multiple personality and the sciences of memory, Princeton, N.J, 1998. 38  Ebd., S. 239. 39  Geoffrey C. Bowker u. Susan Leigh Star, Sorting things out. Classification and its consequences (1999), Cambridge, Mass., 2000, S. 5. 40  Ebd.

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Nomenklatur der »International Classification of Diseases« (ISCD ), ein standardisierter Handlungs-Katalog für Pflegekräfte (»Nursing Interventions Classification«), die wechselnden Schematismen der Tuberkulose-Diagnose sowie Verfahren der Klassifikation von ›Rassen‹ im südafrikanischen Apartheid-Regime. Ein wesentlicher Gesichtspunkt ist dabei der der ›Unsichtbarkeit‹ von Klassifikationssystemen: Kategorisierungen, Standards, Klassifikationen machen Dinge sichtbar; als Bedingungen der Möglichkeit von Wahrnehmung bleiben sie dabei aber selbst im Hintergrund. »Ethnomethodologen und Phänomenologen haben uns gezeigt, dass das, was oft am unsichtbarsten ist, direkt vor unserer Nase liegt. Alltägliche Kategorien sind eben jene, die in der Infrastruktur, in der Gewohnheit, in der Selbstverständlichkeit verschwunden sind. Diese Alltagskategorien sind nahtlos mit formalen, technischen Kategorien und Spezifikationen verwoben.« 41 Sie treten gewöhnlich nur dann in Erscheinung, wenn die Einteilung gestört wird, wenn die kategoriale Zuordnung nicht aufgeht. Eben in solchen Momenten der Unstimmigkeit oder des Konflikts liegt die Chance, das Verborgene sichtbar zu machen. So wird die von Bowker und Star ausgerufene kritische Klassifikationsforschung ihre wesentliche Aufgabe darin sehen, die Unsichtbarkeit der kategorialen Einteilung zu revidieren, die Standards sichtbar zu machen, die die Einrichtung unserer Wahrnehmung regieren: »Wir wollen verstehen, wie diese Kategorien unsichtbar gemacht und gehalten werden, und in einigen Fällen wollen wir das Schweigen, das sie umgibt, herausfordern.« 42 Ein weiteres Leitmotiv ist die Macht bzw. Gewalt von Klassifikationen. In Sorting Things Out gibt es den Versuch, an Susan Leigh Stars früher erarbeitete Theorie der boundary objects anzuschließen und damit Klassifikationen als kommunikative Interfaces zu verstehen, die zwischen verschiedenen Welten (z. B. Unternehmensabteilungen oder Personalgruppen) vermitteln: »Durch das ganze Buch hindurch sprechen wir von Klassifikationen als Objekten zur Kooperation quer durch soziale Welten, bzw. als Grenzobjekten«.43 Weil es sich bei Klassifikationssystemen und technischen Standards um umfangreichere Objekte handelt, die mehrere Ebenen der Skalierung umfassen, sprechen Bowker und Star hier auch von »boundary infrastructures«.44 Allerdings zeigt sich in der Analyse, dass die Klassifikationssysteme, je größer und starrer sie werden, immer weniger in der Lage sind, als vermittelnde, kooperationsstiftende Grenzobjekte zu wirken. Bei allzu rigiden Grenzziehungen kommt es zu einem Phänomen, dem Bowker und Star den Namen »torque« geben, ein Begriff aus Mechanik und Maschinenbau, der vielleicht am besten mit Torsion oder Verdrillung zu übersetzen ist.

41  42  43  44 

Ebd., S. 319. Ebd., S. 5. Ebd., S. 15. Ebd., S. 287.

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Der Begriff zielt auf die unglückliche Lage all derer, die sich nicht ›glatt‹ in ein klassifikatorisches Raster fügen lassen: In dem Prozess, Menschen und Kategorien zusammenzuführen, kann eine enorme Verdrillung [torque] individueller Biographien entstehen. Die Bevorzugten sind jene, deren Platz in einer Reihe von Klassifizierungssystemen ein mächtiger ist und denen machtvolle Klassifikationen des Wissens als natürlich erscheinen. Für diese Menschen funktionieren die Infrastrukturen, die ihre Identitäten unterstützen und konstruieren, besonders reibungslos […]. Von anderen fordert der Prozess der Anpassung, um die Infrastrukturen nutzen zu können, einen furchtbaren Preis. Um ›natürlich zu handeln‹, müssen sie neue Klassifizierungen vornehmen und sich selbst sozial neu klassifizieren lassen.45

Bowker und Star heben selbst hervor, dass es sich bei Klassifikationssystemen um zweischneidige Instrumente handelt: Für die einen stiften sie Kooperation und Kommunikation, die anderen zwingen sie zu ›sozialer Verrenkung‹ (was vielleicht die bildhafteste Übersetzung von ›torque‹ wäre): »Manchmal werden Grenzobjekte geschaffen, die eine grenzübergreifende Zusammenarbeit ermöglichen. Zu anderen Zeiten, wie im Falle der Apartheid, werden Stimmen erstickt und es herrscht die Gewalt.« 46 Wie Sebastian Gießmann und Nadine Taha in der Einleitung zu dem von ihnen herausgegebenen Susan Leigh Star-Reader bemerkt haben, erweist sich die »Frage der Klassifikation […] als die Grenze der Grenzobjekte«.47 Klassifikationen zeigen nicht viele von den freundlichen Eigenschaften, die den boundary objects beigemessen wurden. Es ist daher nicht verwunderlich, wenn die »Frage der Interaktion mit Information«, die die Untersuchung der Grenzobjekte bestimmte, in Sorting Things Out »zu einer machtanalytischen Fragestellung« wird.48 Wie Bowker und Star sagen, rufe schon »die schiere Dichte des Zusammenpralls von verschiedenen Klassifikationsschemata in unseren Leben nach einer neuen Wissenschaft, einer neuen Reihe von Metaphern, die die traditionellen Sozialwissenschaften mit den Computer- und Informationswissenschaften verbindet«.49 Eine derartige Forschung müsse notwendig »eine moralische und ethische Agenda« haben: Denn »jeder Standard und jede Kategorie valorisiert einen Standpunkt und bringt einen anderen zum Schweigen. Dies ist nicht von Natur aus eine schlechte Sache – in der Tat ist es unausweichlich. Aber es ist eine ethische Entscheidung, 45  Ebd., S. 224 – 225. 46  Ebd., S. 283. 47  Sebastian Gießmann u. Nadine Taha, »›Study the unstudied‹. Zur medienwissenschaft-

lichen Aktualität von Susan Leigh Stars Denken«, in: Susan Leigh Star, Grenzobjekte und Medienforschung, hg. v. Sebastian Gießmann u. Nadine Taha, Bielefeld, 2017, 13 – 7 7, S. 42. 48  Ebd. 49  Bowker u. Star, Sorting things out, S. 31.

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und als solche ist es gefährlich – nicht schlecht, aber gefährlich.« 50 Aufgabe einer kritischen Klassifikationswissenschaft wäre es demnach, in jedem einzelnen Fall von Klassifikation nach der Politik der Einteilung zu fragen, danach, was durch welche Einteilung evident gemacht oder verdunkelt, bzw. wer dadurch privilegiert oder benachteiligt wird. Diese Art der Klassifikationskritik greift allerdings nicht allzu tief; sie betrifft die jeweiligen Verteilungen, die aufgrund eines bestimmten klassifikatorischen Rasters getroffen werden, nicht aber die Weise der Verteilung selbst. Bestimmte Formen der starren, rigiden Grenzziehung werden als ethisch verwerflich oder kooperationshemmend zurückgewiesen; das logische Muster, die symbolische Matrix der klassifikatorischen Einteilung selbst steht jedoch nicht zur Debatte. Von der seinsstiftenden, ontologischen Macht der Einteilung zeigen sich Bowker und Star wenig beeindruckt; ihnen geht es ausschließlich um ›ontische‹ Fragen, nämlich wie bestimmte Regionen des Seienden durch Kategorisierung eingerichtet werden. Tatsächlich wird die Normalität von Klassifizierung bei Bowker und Star nirgends in Frage gestellt; sie wird im Gegenteil einigermaßen salopp als anthropologische Konstante unterstellt: »Klassifizieren ist menschlich, und alle Kulturen haben zu allen Zeiten Klassifizierungssysteme hervorgebracht.« 51 Unter der Hand wird auf diese Weise das kulturspezifische Verfahren der bürokratischen Klassifizierung und Standardisierung zum Modell von Klassifikation überhaupt; ein Bewusstsein davon, dass es in anderen Zeiten der Geschichte, in anderen Gegenden der Erde und in der Kindheit jedes Menschen andere Weisen der Einteilung gegeben hat und gibt, ist hier nicht zu finden. Wie die Informationswissenschaftlerin Hope A. Olson angemerkt hat, illustrieren Bowker und Star sehr gut, »wie die Anwendung der Klassifikation die Verknüpfung von Signifikant und Signifikat verzerren kann«, sie gehen aber nicht so weit, »die Annahmen kritisch zu untersuchen, die durch die Struktur der Klassifikation und ihrer kulturellen Kontexte impliziert werden«.52 Die Frage nach der logischen Struktur oder dem ›Code‹ der Klassifikation (»Wie werden die Signifikanten zusammengesetzt, um einen Code zu erstellen?« 53) wird bei Bowker und Star nicht gestellt. Wenn sie andere Modelle von Einteilung erwähnen, wie etwa die auf ›Familienähnlichkeit‹ beruhende Prototypenlehre von Eleanor Rosch,54 so nicht um die universale Gültigkeit der ›aristotelischen‹ Klassifizierung in Frage 50  Ebd., S. 5 – 6. 51  Ebd., S. 131. Ähnlich, mit einem Appell an den common sense: »Klassifizieren ist mensch-

lich. […] Wir alle verbringen einen großen Teil unserer Tage damit, Klassifizierungsarbeiten durchzuführen, oft stillschweigend, und wir erstellen und verwenden dafür eine Reihe von Ad-hoc-Klassifizierungen.« Ebd., S. 1 – 2. 52  Hope A. Olson, »Classification and universality. Application and construction«, Semiotica, N° 139, 2002, 377 – 391, S. 380. 53  Ebd. 54  Vgl. Bowker u. Star, Sorting things out, S. 61 – 62.

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zu stellen, sondern um darauf hinzuweisen, dass »Klassifikationen tendenziell viel unschärfer [sind] als wir zunächst denken«.55 Die Reichweite der Klassifikationskritik ist damit begrenzt: Die Alternative zu einer klassifikatorischen Einteilung wird immer nur eine andere, ›bessere‹ klassifikatorische Einteilung sein; ein undoing der Klassifikation gerät nicht in den Blick. Was die Forschungen von Bowker und Star für die vorliegenden Arbeit interessant macht, ist vor allem das Geschick, mit dem sie »soziomateriellen Vermittlungsprozessen ethnografisch und historisch auf die Spur« kommen.56 Dies geschieht durch eine Art doppelter Beobachtung: So geht es zum einen darum, in einer Art reverse engineering, hier »infrastructural inversion« genannt, die Funktionsweise der großen klassifikatorischen Apparate aufzudecken, zu den anfänglichen, mit der Zeit unsichtbar gewordenen Kategorisierungsentscheidungen vorzustoßen, die den bürokratischen Klassifikationssystemen oder technischen Standards zugrundliegen. »Diese Inversion ist ein Kampf gegen die Tendenz der Infrastruktur zu verschwinden (außer wenn sie zusammenbricht). Das bedeutet, dass man lernen muss, Technologien und Arrangements genau zu betrachten, die durch Design und Gewohnheit dazu neigen, in der Versenkung zu verschwinden (manchmal buchstäblich!)«.57 Neben dieser eher ›archäologisch‹ zu nennenden Forschungsweise geht es zugleich um eine empirische, ›ethnologische‹ Beobachtung, die sich vor allem für die ›Verhandlungen‹ und Abwandlungen interessiert, denen die Klassifikationen im tatsächlichen Gebrauch ausgesetzt sind: »Unser vorrangiges Projekt ist ein pragmatisches, kein logisches oder kognitives. Wir wollen empirisch wissen, wie Menschen Klassifizierungssysteme entworfen und angewendet haben.« 58 Ein wesentlicher Vorzug dieser empirischen Orientierung liegt darin, dass auf diese Weise, wie schon in Susan Leigh Stars Forschung zu den boundary objects, die Materialität und Räumlichkeit von Klassifikationsprozessen eine besondere Beachtung erfährt. Wie Bowker und Star betonen, kann eine »kognitiver Idealismus« leicht dazu verführen, »Klassifikationen als Eigenschaften des Geistes und Standards als ideale Zahlen oder flottierende kulturelle Erbschaften anzusehen«. Dagegen zeige die empirische Betrachtung, »dass Klassifikationen und Standards sowohl materiell als auch symbolisch sind«:59 Aber sie haben materielle Kraft in der Welt. Sie sind in jedem Merkmal der gebauten Umwelt (und in vielen der Grenzgebiete zwischen Natur und Kultur, wie etwa in gentechnisch veränderten Organismen) eingebaut und eingebettet. Alle Klassifizierungs- und Standardisierungsschemata sind eine Mischung aus physi-

55  56  57  58  59 

Ebd., S. 62. Gießmann u. Taha, »›Study the unstudied‹«, S. 14. Bowker u. Star, Sorting things out, S. 34. Ebd., S. 53. Ebd., S. 39.

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kalischen Einheiten, wie z. B. Papierformularen, Steckern oder in Silizium codierten Softwareanweisungen und konventionellen Anordnungen wie Geschwindigkeit, Rhythmus, Dimension oder der Art der Implementierung in technischen Spezifikationen.60

Zugleich weisen Bowker und Star darauf hin, dass jede »Klassifikation eine räumliche, zeitliche oder raum-zeitliche Segmentierung der Welt« darstellt,61 was nicht nur bedeutet, dass Klassifikationen in Raum und Zeit verwirklicht sind, sondern dass sie selbst verräumlichende und verzeitlichende Wirkung haben, also an der Konfiguration von Wirklichkeit beteiligt sind. Dieser Aspekt spielt zwar in ihren Fallgeschichten keine Rolle; für eine Analyse, die nach der ontologischen Macht der Klassifikationen fragt, wäre dies aber eine Anregung von zentraler Bedeutung.

Historische Sondierungen Im Fokus der Untersuchungen von Bowker und Star stehen die Klassifikationssysteme der modernen ›westlichen‹ Bürokratien. Dabei wird den wissenschaftlichen und verwaltungstechnischen Sortiermaßnahmen durchaus eine gesellschaftliche Wirksamkeit zugeschrieben; es wird z. B. gezeigt, wie Formulare, technische Standards, öffentliche Architekturen, statistische Abfrageschemata, medizinische Diagnoseverfahren, industrielle Arbeitsordnungen usw. bestimmte soziale Gruppen bevorzugen und andere benachteiligen. Während auf diese Weise deutlich wird, dass klassifikatorische Einteilungen ein Rassen-, Klassenoder Geschlechtsvorurteil haben und dass bürokratische Sortierakte soziale Ungleichheiten verstetigen und verschärfen können, gerät der weitere Bereich sozialer Unterschiedsproduktion (der sich nicht in bürokratischer Klassifikation erschöpft) nicht ins Blickfeld der Untersuchung. Dass die Gesellschaft im Ganzen eine Einteilungsmaschinerie darstellt, hätten Bowker und Star vermutlich nicht bestritten, sie zeigen aber kein Interesse, über ihren Untersuchungsbereich hinauszugehen und die klassifikationswissenschaftliche Expertise auf das Prinzip der gesellschaftlichen Teilung auszuweiten. Tatsächlich gibt es zahlreiche Gegenstände, die in dem neuen Forschungsfeld der Boundary und Classification Studies verhandelt werden, z. B. »Kognitionsweisen, soziale und kollektive Identität, Anpassungsprozesse, Zensuskategorien, kulturelles Kapital, kulturelle Zugehörigkeit, Rassen- und ethnische Gruppenpositionierung, hegemoniale Männlichkeit, professionelle Jurisdiktionen, wissenschaftliche Kontroversen, Gruppenrechte, Einwanderung und politische Streitfragen«.62 In den meisten Untersuchungen dieser Art wird jedoch die Frage nach 60  Ebd. 61  Ebd., S. 10. 62  Lamont u. Molnár, »The study of boundaries in the social sciences«, S. 167.

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dem Gesetz der gesellschaftlichen Einteilung, nach der Weise der Klassifikation des Sozialen nicht berührt. Wenn es um soziale Klassifizierungen geht, so ist meistens von allem anderen die Rede, nur nicht vom Modus der gesellschaftlichen Teilung. Auf diese Weise ergänzen sich marxistische Gesellschaftsgeschichte und kritische Klassifikationswissenschaft in der Ausblendung gewisser Fragen: Geschichten, die von Klassen und Klassenkampf handeln, interessieren sich gewöhnlich nicht für die Logik der Klassifizierung, sie sehen keinen Zusammenhang zwischen der gesellschaftlichen Klassenteilung und den Prozeduren der wissenschaftlichen Klassifikation. Umgekehrt kommen diejenigen, die sich kritisch mit den Einteilungen des Wissens, den Weisen der logischen Zuordnung und den Verfahren der bürokratischen Menschensortierung beschäftigen, selten auf den Gedanken, dass all diese Formen der Schematisierung etwas mit den grundlegenden Formen der gesellschaftlichen Teilung zu tun haben könnten. So gibt es nur wenige Versuche, ausgehend von einer Epistemologie der Klassifikation zu Fragen der gesellschaftlichen Klassenteilung vorzustoßen. Der wahrscheinlich früheste und bemerkenswerteste dieser Versuche ist der Aufsatz The social constitution of ›class‹ (1994) der amerikanischen Kultur-, Literatur- und Wissenschaftshistorikerin Mary Poovey. Sie wirft die für diese Arbeit zentrale Frage auf, wie das taxonomische Denken der klassischen Episteme mit der Idee und der Praxis der sozialen Klassenteilung zusammenhängt: »Mit klassifizierendem Denken meine ich eine Epistemologie, die sich im späten 17. Jahrhundert allmählich konsolidierte und im Laufe der nächsten zwei Jahrhunderte ausgearbeitet wurde, wobei sie in einer komplexen Beziehung zur Entwicklung der materiellen Bedingungen stand, die wir allgemein mit ›Klasse‹ assoziieren.« 63 In den aus der marxistischen Tradition bekannten Streit, ob ›Klasse‹ eine »objektive Reihe von materiellen Bedingungen (oder Beziehungen)« bezeichnet oder eher eine subjektive »Weise, den eigenen Platz in der Gesellschaft zu verstehen oder zu artikulieren«, möchte Poovey sich nicht einmischen; ihr geht es eher um die »soziale Konstitution der Begriffe, in denen diese Debatte geführt wurde«.64 Dabei will sie aber auch den Eindruck vermeiden, sie wolle Klassen als ein reine Diskursprodukte behandeln bzw. gesellschaftliche Klassenteilung einseitig auf klassifikatorisches Denken zurückzuführen. Was das Verhältnis der beiden angeht, so kommt sie zu der eleganten und halbwegs orthodoxen Lösung, beide aus den materiellen Bedingungen des entstehenden Kapitalismus hervorgehen zu lassen:

63  Mary Poovey, »The social constitution of ›class‹. Toward a history of classificatory thinking«, in: Wai-chee Dimock und Michael T. Gilmore (Hg.), Rethinking class. Literary studies and social formations, New York, 1994, 15 – 56, S. 16. 64  Ebd., S. 15.

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Ich behaupte nicht, dass das neue interpretative Paradigma […] völlig unabhängig von der massiven Reorganisation der materiellen Bedingungen und sozialen Beziehungen war, die mit der Phrase ›Aufstieg des Kapitalismus‹ umrissen wird. In der Tat lautet mein Argument, dass die gleichen sozialen Bedingungen, die die Bildung der Gruppen, die Marx ›Klassen‹ nannte, erleichterten, auch für die Entstehung von klassifizierendem Denken verantwortlich sind.65

In ihrer Rekonstruktion der klassifikatorischen Denkweise beschränkt sich Poovey auf zwei ausgewählte Episoden aus dem Diskurs der Politischen Ökonomie, nämlich die von William Petty im 17. Jahrhundert unternommenen »Versuche, das ›Irland-Problem‹ anzugehen«, sowie »Adam Smiths Reform der Moralphilosophie zwischen 1759 und 1776«.66 Für Poovey ergibt sich der Diskurs der gesellschaftlichen Klassenteilung aus der Zusammenführung zweier »Verständnisweisen von natürlichen und sozialen Welten«: Die erste, die auf Aristoteles zurückgeht und ihre charakteristische moderne Form in der Taxonomie findet, gewinnt den unterschiedlichen Besonderheiten der Welt einen Sinn ab, indem sie sie Kategorien (oder Klassen) gruppiert, in denen ein einzelnes Merkmal oder eine Gruppe von Merkmalen hervorgehoben und als bestimmend gesetzt ist. Die zweite, die wahrscheinlich ebenfalls antiken Ursprungs ist, konzeptualisiert ›Wert‹ in Form von Merkmalen, die quantifiziert und damit kommerzialisiert werden können.67

Die vorliegende Untersuchung kann Pooveys These vom Zusammenfluss von Klassifizierung und Wertvergesellschaftung nur bestätigen. Dies ist einer der Gründe, warum sie William Petty und der von ihm begründeten Politischen Arithmetik einen besonderen Platz einräumt.68 Diese bildet zweifellos einen Schauplatz, an dem die Paradigmen der Einteilung und der Wertzumessung in exemplarischer Weise zusammenkommen, an dem das Wechselspiel von ›Zählen und Zerlegen‹ in Reinform zu beobachten ist. Doch versucht diese Arbeit, die von Poovey eröffnete Frage nach dem Zusammenhang von Klassifikation und Klassenteilung in einer etwas weiteren Perspektive aufzunehmen. So verlockend es ist, das Paradigma der Klassenteilung aus dem Zusammenkommen zweier großer Themen – der Paradigmen der Klassifizierung und der Wertzumessung – zu erklären, so kann sich doch eine historische Analyse des Übergangs von der 65  Ebd., S. 18 66  Ebd., S. 19 Poovey möchte mit dieser Auswahl nicht suggerieren, »dass diese beiden

Autoren die einzigen bedeutenden Beiträge zum Klassifikationsdenken vor Marx geleistet haben«. Sie will jedoch zeigen, »dass Petty und Smith symptomatische Figuren in dieser Geschichte bilden«. Ebd. 67  Ebd., S. 16. 68  Zur Politischen Arithmetik, s. u., Kap. 12.

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Standes- zur Klassengesellschaft nicht mit der Identifizierung dieser beiden ›Hauptquellen‹ begnügen; in der geschichtlichen Untersuchung werden nicht nur einige ideologische Nebenflüsse, sondern insbesondere auch die kontingenten, materiellen Bedingungen der Durchsetzung der Klassenteilung zu berücksichtigen sein. Bei näherer Betrachtung erweist sich die Durchsetzung von gesellschaftlicher Klassenteilung als ein kompliziertes geschichtliches Geschehen, das sich nicht auf den Diskurs der Politischen Ökonomie begrenzen lässt und das durch die ideologiekritische Lektüre zweier prominenter Autoren wie Petty und Smith nicht in seiner ganzen Ausdehnung erfasst werden kann. Dies ändert nichts an der Fruchtbarkeit von Pooveys These; sie bildet gleichsam den ›Anfangsverdacht‹, aus dem sich die historischen Ermittlungen dieses Buchs ergeben. Mary Pooveys Versuch, einen klassifikationskritischen Impuls in das Denken der sozialen Klassenteilung zu bringen, ist von der englischen Soziologin Beverley Skeggs aufgenommen worden. In ihrem 2004 erschienenen Buch Class, Self, Culture verwendet sie den vielversprechenden Begriff einer »historischen Epistemologie der Klasse«.69 Darunter zu verstehen ist der Versuch, das gewöhnliche Vorverständnis von Klassen auszuklammern und aus den geläufigen Klassifizierungssystemen herauszutreten – »ein Schritt, der fragt, wie und warum Klassifikationen etabliert wurden und warum Klassifikation den Mechanismus bildet, durch den wir die Gegenwart erfahren«.70 Leider wird Skeggs Vorhaben, der »historischen Epistemologie der Klasse nachzuspüren« 71 durch eine recht sprunghafte Vorgehensweise beeinträchtigt. So wird eine Vielzahl von Konzepten und Faktoren ins Feld geführt, die alle irgendwie an der Konstruktion des Paradigmas Klasse beteiligt sein sollen, dies aber in wilder historischer Mischung und ohne konkrete Nachweise, sodass sich daraus kaum ein Bild von der Spezifität des Klassendenkens ergeben kann: Das Merkwürdige an der Geschichte des Klassenbegriffs ist, dass er eine bemerkenswert lange und dichte Beziehung zu anderen Begriffen hat. Erstens ist Klasse immer eng mit verschiedenen Formen des Austauschs als einer Idee in ihren verschiedenen Erscheinungsformen verbunden (z. B. Märkte und Kapitalismus als zeitgenössische Variante). Zweitens ist sie immer eng mit dem Begriff des Selbst verbunden. Drittens kann sie nur durch andere Kategorisierungen erkannt werden. Viertens sind in der Perspektive auf Klasse immer auch die Interessen des Theoretikers mit einbezogen, und fünftes hat sie immer einen moralischen Wert und ist mit Systemen der moralischen Bewertung ebenso verbunden wie mit Systemen des wirtschaftlichen Austausches.72

69  70  71  72 

Beverley Skeggs, Class, self, culture, London, 2004, S. 29. Ebd., S. 4 – 5. Ebd., S. 29. Ebd., S. 27.

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All diese Kriterien ließen sich für jede Art der gesellschaftlichen Differenzierung in Anschlag bringen; als spezifisch für moderne Klassenteilung könnte lediglich die kapitalistische Wirtschaftsweise gelten, die jedoch durch den weit gefassten Begriff des ›Austauschs‹ ganz konturlos bleibt. So erschöpft sich die historische Nachforschung in der vagen Auskunft, dass das Auftauchen von Klasse etwas mit all dem zu tun hat, was gewöhnlich Moderne genannt wird: Daher können wir ungeachtet der historischen Besonderheiten der Klassenbildung folgern, dass der Klassenbegriff durch den Mechanismus des Austauschs, die inskriptiven Metaphern des sozialen und ökonomischen Körpers und das methodologische Prinzip der Klassifikation entstanden ist. Dieses Auftauchen beruhte auf der Verwendung spezifischer Methoden wie Beobachtung, statistischer Berechnung, Ethnographie und visueller Identifizierung, die Repräsentationsregime erzeugten, mit deren Hilfe klassifizierte Personen erkannt und erforscht wurden.73

Auch wenn solche sehr allgemeinen Behauptungen zu einer Genealogie des Klassenkonzepts nicht viel beitragen, bleibt doch die von Skeggs aufgebrachte Idee einer »historischen Epistemologie der Klasse« ebenso anregend wie die Einsicht, dass man, um eine solche Epistemologie zu verwirklichen, einen Schritt aus dem eigenen Klassifizierungsraster heraustun muss. Die Frage, wie das gehen kann, wird im nächsten Kapitel aufgenommen. Dort soll in relativer Kürze gezeigt werden, wie die vorliegende Untersuchung über die in den vergangenen Kapiteln dargestellten Diskussionen zu Klasse und Klassifizierung hinausgehen will.

73  Ebd., S. 39.

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6.

METHODENFRAGEN: MEDIEN UND MIMESIS Querfeldein Die wahrscheinlich größte Herausforderung an eine Arbeit über Klassifikationsweisen besteht darin, sie nach ihren eigenen kategorialen Vorannahmen zu fragen. Wie soll es gelingen, der ontologischen Macht der Klassifikationen auf die Spur zu kommen, wenn man selbst in einer bestimmten Matrix der Aufteilung gefangen ist? In Abwandlung eines Satzes von Marx ließe sich sagen: Die Klassifikationen aller toten Geschlechter liegen wie ein Alp auf dem Gehirn der Lebenden,1 nicht zuletzt auf dem der Historiker, die in einem ganzen Netz bereits getroffener Einteilungen gefangen sind, von Kalenderstrukturen und Epochensetzungen über Disziplinengrenzen und Begriffsraster bis zu Archivordnungen und Datenbankarchitekturen. Was jeweils als historische Erkenntnis produziert wird, hängt sowohl von der Konfiguration der Suchwerkzeuge wie auch von den jeweils aktuellen Schematismen der Darstellung ab; es ist unvermeidlich, dass dabei Gegenstände oder Erfahrungsweisen, die einer anderen Aufteilung der Welt entsprechen, verloren gehen oder nur in verzerrter Form erscheinen. Der Althistoriker Paul Veyne hat daher die größte Gefahr der Geschichtsschreibung »in den klassifikatorischen Begriffen« gesehen,2 d. h. in einer kategorialen Einordnung, die eine zeitübergreifende Identität unvereinbarer historischer Situationen suggeriert: Die Einordnung von Ereignissen in Kategorien erfordert die vorherige Historisierung dieser Kategorien, andernfalls wird man zum Opfer von irrigen Klassifizierungen oder Anachronismen. Ebenso enthält der Gebrauch eines Begriffs in der Annahme, er verstünde sich von selbst, das Risiko eines impliziten Anachronismus. […] Man mag in aller Unschuld die Worte ›soziale Klasse‹ im Munde führen, beim Leser rufen sie doch die Vorstellung hervor, daß diese Klasse eine klassenspezifische Politik verfolgt, was ja keineswegs immer und für alle Zeiten stimmt. Die Worte ›die römische Familie‹ ohne weitere Präzisierung geäußert, und schon wird der Leser zu dem Fehlschluß verleitet, es handle sich dabei um die ewige Familie, d. h. unsere; doch die römische Familie mit ihren Sklaven, Klienten, Freigelassenen, Günstlingen, mit Konkubinat und dem Brauch, Neugeborene aus-

1  Vgl. Marx, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, S. 115: »Die Tradition aller

toten Geschlechter lastet wie ein Alp auf dem Gehirne der Lebenden.«

2  Paul Veyne, Geschichtsschreibung – und was sie nicht ist, Frankfurt a. M., 1990, S. 99.

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zusetzen, ist von unserer so verschieden wie die islamische oder die chinesische Familie.3

Die radikale Alternative zu solchen anachronistischen Übertragungen bestünde darin, von einer geschichtlichen Situation nur in dem Vokabular zu berichten, das den Akteuren selbst zur Verfügung stand. Für das England des 17. Jahrhunderts hieße dies z. B., nicht von ›Gesellschaft‹ zu sprechen, sondern von ›body politick‹, von ›commonwealth‹, ›city‹, ›civitas‹ oder ›civil society‹. Sich aller heutigen Klassifikationsweisen zu enthalten und sich den ›folk taxonomies‹ des 17. Jahrhunderts anzuschmiegen stellt jedoch für die historische Forschung, der es ja nicht um die bloße Verdopplung des historischen Materials geht, ein Ding der Unmöglichkeit dar. So wird es, um die allmähliche, schleichende Veränderung der Einteilungsstrukturen und -praktiken im England des 17. Jahrhunderts in den Blick zu bekommen, unumgänglich sein, gewisse Begriffe anzulegen, die damals noch nicht bekannt waren (wie z. B. ›Gesellschaft‹, ›Klassifikation‹ oder ›Quantifizierung‹), die aber den Vorzug haben, in aller Kürze zu beschreiben, worum es in einer bestimmten Situation geht. Auch Paul Veyne hat bemerkt, dass eine radikale Vermeidung von Allgemeinbegriffen nicht durchzuhalten ist, weshalb er eine Art Mittelweg empfiehlt: »[E]s ist schon viel gewonnen, wenn man sich entschließt, niemals von Religion oder Revolution zu sprechen, sondern nur von buddhistischer Religion oder Französischer Revolution«.4 Was die Verwendung von analytischen Begriffen angeht, so schließt sich diese Arbeit der pragmatischen Auffassung an, dass es ohnehin nicht möglich ist, das Einteilungssystem der eigenen Zeit zu verlassen und dass daher das höchste Maß an historical correctness nur in einem vorsichtigen Gebrauch der Kategorien liegen kann. In einer anderen Hinsicht versucht sie jedoch, den klassifikatorischen Zuschreibungen, so gut es geht, zu entkommen. Dies betrifft insbesondere die eingespielten Aufteilungsweisen des Wissenschaftsbetriebs, wie z. B. die Neigung, jedes Ereignis oder jedes in der Geschichte auftauchende Problem in den Zuständigkeitsbereich einer bestimmten Disziplin zu rücken, es bestimmten Funktionsbereichen zuzuordnen oder es einer bestimmten Gattung zuzurechnen. Hier hält sich die Untersuchung an die, wie es bei Deleuze und Guattari so schön heißt, »im Delirium aufbrechende dunkle Wahrheit«, dass es »gar keine wechselseitig unab3  Ebd., S. 101 – 102. 4  Ebd., S. 100. Mit demonstrativer Nonchalance hat auch Bruno Latour dafür plädiert,

bestimmte Begriffe, »die im kollektiven Bereich bereits akzeptiert sind«, nicht unnötig zu verdächtigen, sondern sie als bequeme, abkürzende Redeweisen zu betrachten: »Es wäre töricht und pedantisch, sich der Verwendung von Begriffen zu enthalten wie ›IBM ‹, ›Frankreich‹, ›Maori-Kultur‹, ›Aufstiegsmöglichkeiten‹, ›Totalitarismus‹, ›Sozialisation‹, ›untere Mittelklasse‹, ›politischer Kontext‹, ›soziales Kapital‹, ›Stellenabbau‹, ›soziale Konstruktion‹, ›individueller Handlungsträger‹, ›unbewußte Motivationen‹, ›Milieudruck‹ etc.« Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 27.

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hängigen Sphären« gibt.5 Statt von einer Trennung der Bereiche auszugehen, wie es in exemplarischer Gründlichkeit die Systemtheorie tut, folgt sie der Intuition des Anti-Ödipus, nach der man es bei Gesellschaften, gleich welcher Art, immer mit einer »Welt transversaler Kommunikationen« zu tun hat,6 einer Welt der Vermischungen, gekennzeichnet von »heftigen Durchgängen und Wanderungen«.7 So wird diese Arbeit, wenn es darum geht, Bewegungen der Klassenteilung zu verfolgen, nicht an den Grenzen einer Disziplin, einer Institution, eines Diskurses oder eines Genres haltmachen. Der unaufhörlichen Spalttätigkeit der Klassifizierung wird sie in der politischen Theorie ebenso nachspüren wie in der Verwaltungstechnik, der Kartographie oder der Bevölkerungspolitik; sie wird sie in gelehrten Diskussionen ebenso auffinden wie in der revolutionären Polemik, den Habitusproblemen der Gentry oder den Aufstiegskämpfen der Zeitungsschreiber; sie wird an den verschiedensten Orten auf die Zeichen einer Neuaufteilung des Sozialen stoßen: in Prozessionen und Wirtshäusern, in Privatsammlungen und Irrenanstalten, im Kaffeehaus oder in den Spalten der ersten Wochenzeitungen. Die Durchsetzung von sozialer Klassenteilung wird hier als ein verzweigter, über das ganze gesellschaftliche Feld verteilter Prozess begriffen, in dem sich Teilung an Teilung reiht; ein Prozess, der an mancher Stelle unterbrochen wird, dafür an anderer Stelle aber wieder aufgenommen wird; eine zufällige, fließende Ausbreitung, die querfeldein alle Register des gesellschaftlichen Lebens durchläuft, ohne sich ursächlich auf eine privilegierte Form der Teilung, beispielsweise der Ökonomie, reduzieren zu lassen.

Folge den Teilungen! Daraus ergibt sich zugleich die methodische Orientierung dieser Arbeit: Die Betrachtung sozialer Veränderungen nimmt ihren Ausgang nicht von den großen, etablierten Einheiten und ›molaren‹ Massen, dem Staat, den Institutionen, den gesellschaftlichen Funktionsbereichen, den Parteien, den Klassen usw.; sie hält sich an die kleinen, unscheinbaren Ereignisse, die ›molekularen‹ Bewegungen, aus denen die großen Einheiten und entscheidenden Brüche erst hervorgehen: Es heißt zu unrecht (vor allem im Marxismus), daß eine Gesellschaft durch ihre Widersprüche definiert wird. Das stimmt nur im großen und ganzen. Aus der Sicht der Mikropolitik wird eine Gesellschaft durch ihre Fluchtlinien definiert, die molekular sind. Der Mai 68 in Frankreich war molekular, und seine Vorbedingungen waren daher aus der Sicht der Makropolitik um so weniger erkennbar. Es kommt 5  Gilles Deleuze u. Félix Guattari, Anti-Ödipus. Kapitalismus und Schizophrenie I (1972), Frankfurt a. M., 1995, S. 9. 6  Ebd., S. 411. 7  Ebd., S. 109.

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manchmal vor, daß sehr beschränkte oder sehr alte Leute ein Ereignis besser verstehen als die klügsten Politiker oder diejenigen, die sich aus der Sicht der Organisation dafür halten. Wie Gabriel Tarde sagte, muß man wissen, welche Bauern in welchen Regionen Südfrankreichs damit angefangen haben, die benachbarten Grundbesitzer nicht mehr zu grüßen.8

Die ›empirische‹ Orientierung dieser Arbeit liegt in einer solchen Aufmerksamkeit für die Mikroereignisse: Angelegenheiten, die (wie z. B. die Statusverlegenheiten der Gentry oder die Klassifizierungsspiele der Londoner Zeitschriften in den 1710er Jahren 9) ›nicht der Rede wert‹ zu sein scheinen, in denen sich aber dennoch, bei genauerem Hinsehen, eine symptomatische Veränderung der sozialen Bewertungs- und Abgrenzungsweisen abzeichnet. Selbstverständlich verbindet sich mit einer solchen Beobachtung verstreuter, vielfältiger und disparater kleiner Teilungsereignisse nicht der Anspruch, dadurch die Entstehung von Klassengesellschaft in vollem Umfang rekonstruieren zu können. Was hier getan werden kann, ist, in einer genealogischen Perspektive einige ›Entstehungsherde‹ dieses Paradigmas ausfindig zu machen, ›gemischte Zustände‹, in denen sich die neuen Formen der Teilung in ganz verschiedener Weise artikulieren.10 Um solchen Situationen auf die Spur zu kommen, hält sich die Untersuchung an den von der Akteur-Netzwerk-Theorie ausgegebenen Slogan »Follow the actors«,11 hier abgewandelt zu der Devise ›Folge den Teilungen‹. Wenn es gelingt, die Mikropraktiken der Aufteilung quer durch das weite Feld des Sozialen zu verfolgen, so wird sich schließlich ein Bild von ihrer Verteilung und ihrem Zusammenwirken ergeben – und damit ein Eindruck davon, was in praktischer Hinsicht unter dem Aufstieg des Klassenprinzips zu verstehen ist. Was die hier erzählte Geschichte von geläufigen, historischen oder soziologischen ›Erklärungen‹ von Klassengesellschaft unterscheidet, ist die enge Orientierung an den tatsächlichen Operationen der Unterscheidung, den ›empirischen‹ Vorgängen der Teilung. Dass die gesellschaftliche Klassenteilung aus ›dem‹ Kapitalismus, aus ›der‹ Wertvergesellschaftung oder ›der‹ Arbeitsteilung hervorgeht, lässt sich leicht behaupten, aber kaum verifizieren. Interessant würden solche Behauptungen, wenn gezeigt werden könnte, welche konkreten Praktiken des Warentauschs, der Geldrechnung oder der Arbeitsorganisation für bestimmte Formen der Klassenteilung verantwortlich sind. Insofern sie auf eine vorher schon feststehende Erklärung zusteuert, wäre dies immer noch eine teleologische Geschichte, aber sie hätte den Vorzug, sich auf historische Indizien zu stützen. 8  Deleuze u. Guattari, Tausend Plateaus, S. 294 – 295. 9  Vgl. die Kapitel 14 und 16 in diesem Buch. 10  Zu Nietzsches Begriff des ›Entstehungsherds‹ und Deleuzes Empirismus der ›gemischten

Zustände‹ vgl. Friedrich Balke, Gilles Deleuze, Frankfurt a. M., 1998, S. 29.

11  Vgl. Bruno Latour, Aramis, or the love of technology (1993), Cambridge, Mass., 2002,

S. 204: »Follow the actors: that is the Law and the Prophets.«

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Hier soll die Sache jedoch andersherum betrachtet werden: Anstatt von einer bestimmten Verursachung auszugehen und dann nach Belegen zu suchen, die sie bestätigen können, handelt es sich darum, die Prozesse zu beobachten, in denen – in welchem Sinn auch immer – Klassenteilung stattfindet. Das dabei sichtbar werdende verzweigte Geschehen hat, wie sich zeigen wird, einiges mit klassifikatorischer Wissenschaft, mit politischer Ökonomie, mit Aufzeichnungstechniken, mit moderner Regierungsmentalität usw. zu tun, es lässt sich aber nicht auf eine dieser Ebenen reduzieren oder von ihr ›ableiten‹. Auch wenn es sich für die vorliegende Untersuchung zunächst einmal darum handelt, zu beobachten und zu beschreiben, was an Teilungen vor sich geht, so kann und will sie nicht verhehlen, dass die Suche nach diesen Teilungsvorgängen von gewissen Vorlieben gelenkt wird. Diese Vorlieben lassen sich mit dem Begriffspaar »Medien und Mimesis« umschreiben – so lautet auch der Name der Forschergruppe, in deren Rahmen diese Arbeit entstanden ist. Obwohl mediale und mimetische Praktiken, wie eben diese Forschergruppe zu zeigen versucht, in komplizierter Weise miteinander verflochten sind,12 sollen die Aspekte der Medialität und der mimetischen Qualität von Klassenteilung hier, der Übersicht halber, getrennt dargestellt werden.

Das Wie der Unterscheidung Zunächst zu den Medien. Dass soziale Unterschiede etwas mit symbolischen Unterscheidungen, mit der Struktur der Sprache, mit der Organisation des Sagbaren, mit der Konfiguration von Diskursen, mit der Hierarchisierung von Begriffen, mit einer binären Urteilsstruktur usw. zu tun haben, würden wohl die wenigsten Sozialwissenschaftler abstreiten. Dass aber die Art, wie Urteile und Unterscheidungen artikuliert werden, in elementarer Weise von den Medien abhängen, in denen dies geschieht, hat sich bisher kaum herumgesprochen. Die Blindheit für die Medialität des Unterschieds zeigt sich vielleicht am besten in der berühmten Formulierung, mit der Gregory Bateson »die erkenntnistheoretische Grundlage der Informationstheorie« 13 zu umreißen versucht hat: »Ein ›Bit‹ Information läßt sich definieren als ein Unterschied, der einen Unterschied macht.« 14 Bateson legt Wert auf die Feststellung, dass dieser Unterschied nichts mit den unterschiedenen Dingen zu tun hat, dass es sich bei der Information vielmehr um einen gedanklichen Unterschied handelt: »Mit einem Wort, ein Unterschied ist eine Idee.« 15 Was dabei ausgeblendet bleibt, ist die Art und Weise 12  Vgl. die Beiträge in: Friedrich Balke, Bernhard Siegert u. Joseph Vogl (Hg.), Archiv für

Mediengeschichte. Mimesis, München, 2012.

13  Gregory Bateson, Ökologie des Geistes. Anthropologische, psychologische, biologische und

epistemologische Perspektiven (1972), Frankfurt a. M., 1994, S. 618.

14  Ebd., S. 408. 15  Ebd., S. 617 – 618.

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der Unterscheidung, die Operation, durch die diese Unterschieds-Idee entsteht. Dies betrifft exemplarisch Batesons eigene Formel: Die Bestimmung von (relevanter) Information als Unterschied, der einen Unterschied macht, ist selbst keine zeitlose Definition von Information: Sie entspricht der Art, wie die kybernetische Epoche Unterschiede macht, und diese Art hat selbst eine ganz spezifische mediale Voraussetzung, nämlich die digitale Codierung. Entsprechend ließe sich auch für jede andere Unterscheidung fragen, wie und durch welche Medien sie denn eigentlich hervorgebracht wird. Mit anderen Worten, Medientheorie würde die Praxis und Materialität der Unterscheidung mit ins Spiel bringen und Batesons Formel entsprechend ergänzen: ›Es macht einen Unterschied, wie man einen Unterschied macht.‹ Die vorliegende Untersuchung wird sich daher nicht nur dafür interessieren, welche symbolischen Unterscheidungen in den Kämpfen um die soziale Hierarchie wirksam sind; sie wird mit Nachdruck auch danach fragen, wie und durch welche Medien diese Unterscheidungen zustande kommen. Gesellschaftliche Aufteilungen sind gar nicht denkbar ohne bestimmte Dispositive zur Sortierung und Verteilung von Land, Reichtum und Menschen. Aber auch bei wissenschaftlichen Klassifizierungen handelt es sich nie um rein intellektuelle Operationen; sie sind gebunden an bestimmte Techniken, Verfahren, Instrumente der Auf- und Verteilung, der Anordnung und Darstellung, die darüber bestimmen, welche Unterschiede gemacht werden können und welche nicht. Die Frage nach der Materialität und Medialität der gesellschaftlichen Einteilung ist bisher in der Sozialwissenschaft kaum gestellt worden. Eine Ausnahme bildet die im vorigen Kapitel diskutierte kritische Klassifikationsforschung von Bowker und Star; hier werden Klassifikationen nicht nur als symbolische Strukturen, sondern als materielle und räumliche ›Infrastrukturen‹ begriffen.16 Wenn es darum geht, die Formen der epistemologischen wie auch der gesellschaftlichen Unterscheidung in ihrer historischen Veränderlichkeit zu beschreiben, ist dieser Hinweis elementar; er soll hier ergänzt werden durch die Fokussierung auf die spezifischen medialen Bedingungen der Unterscheidung. Es macht einen Unterschied, ob ein sozialer Unterschied durch den Ort innerhalb einer feierlichen Prozession markiert wird oder durch eine Zahl in einer Steuertabelle, durch eine bestimmte Art von weltmännischem Auftreten oder durch einen Satz von Merkmalen in der Datenbank einer Social-Media-Plattform.

Die Medialität liegt im Detail Doch wie kann man den Unterschied der Unterscheidungsweisen zu fassen bekommen; wie lässt sich der Anteil von Medien an der Einrichtung gesellschaftlicher Einteilungen bestimmen? Wenn die Sozialwissenschaften solche 16  S. o., Kapitel 5, Abschnitt »Infrastrukturen der Klassifikation«

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Fragen bisher ignoriert haben, so sind sie in der Medientheorie gelegentlich etwas zu großzügig beantwortet worden. Für eine Medienwissenschaft vom Schlage McLuhans ist es eine ausgemachte Sache, dass die Ankunft eines neuen Mediums wie des phonetischen Alphabets oder des Buchdrucks eine tiefgreifende »Revolution in den Formen des Gedankens und der sozialen Organisation« mit sich bringt.17 Zur Entstehung von Klassengesellschaft hat McLuhan sich nicht geäußert, aber man kann davon ausgehen, dass er sie umstandslos auf den Sündenfall des Buchdrucks zurückgeführt hätte. Entsprechende Andeutungen finden sich in seinem Buch zur Gutenberg-Galaxis: »Der Druck existiert aufgrund der statischen Trennung von Funktionen und fördert eine Mentalität, die sich allmählich allem widersetzt, außer einem trennenden Abteilungsdenken bzw. einer spezialisierten Sichtweise.« 18 Die amerikanische Historikerin Elizabeth Eisenstein hat McLuhans Verallgemeinerungen kritisiert, stellte aber selbst weitreichende Vermutungen über die sozialen Auswirkungen des Buchdrucks an: »Der Auftritt einer protestantischen Ethik, eines Geistes des Kapitalismus, eines Mittelklassen-Ethos, neuer Konzepte von Familie und Kind, von Bildungsreformen und einer bürokratische Beamtenschaft, all das verdankte sich den vielfachen, komplexen Interaktionen, die durch die Typographie eingeführt wurden.« 19 Ähnlich weitreichende Wirkungen des Buchdrucks hat Hans Ulrich Gumbrecht in der spanischen Geschichte des 16. Jahrhunderts bemerkt; er schloss daraus, »dass jedes neue Medium in sich selbst die kollektive Mentalität transformiert und sich in die Beziehung einprägt, die Menschen zu ihren Körpern, Bewusstseinen und Handlungen haben«.20 Selbst Niklas Luhmann, dessen Theorie der Gesellschaft Medien prinzipiell eine eher untergeordnete Rolle als bloßer Ermöglichungsbedingungen von Kommunikation zuweist, konnte es nicht lassen, seinen Dreischritt von »Formen der Systemdifferenzierung (segmentär, stratifikatorisch, funktional)« mit einer anderen Trias, nämlich der der »Verbreitungstechniken der Kommunikation (Rede, Schrift, Druck)« 21 in Verbindung zu setzen. Für einen Moment scheint Luhmann den Medien sogar das größere historische Gewicht zusprechend zu wollen, besinnt sich aber schnell wieder eines Besseren:

17  Marshall McLuhan, The Gutenberg galaxy. The making of typographic man, Toronto, 1962,

S. 2.

18  Ebd., S. 126. 19  Elizabeth L. Eisenstein, »Some conjectures about the impact of printing on western

society and thought. A preliminary report«, The Journal of Modern History, Jg. 40, N° 1, 1968, 1 – 56, S. 45. 20  Hans Ulrich Gumbrecht, »The body versus the printing press. Media in the early modern period, mentalities in the reign of castile, and another history of literary forms«, Poetics, Jg. 14, N° 3 – 4, 1985, 209 – 227, S. 212 – 213. 21  Luhmann, »Das Problem der Epochenbildung und die Evolutionstheorie«, S. 24.

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Kommunikationstechniken haben die Welt mindestens zweimal revolutioniert: durch Erfindung der Schrift und durch Erfindung des Buchdrucks. [….] Es böte sich an, dies als vorrangige, alles andere magnetisierende Epocheneinteilung anzunehmen, gäbe es nicht eine andere evolutionäre Errungenschaft von vielleicht vorrangigerer Auswirkung: die Form der Differenzierung des Gesellschaftssystems.22

Weniger zurückhaltend zeigte sich der Luhmann-Schüler Dirk Baecker. Er postulierte eine direkte Abhängigkeit der gesellschaftlichen Differenzierungsformen von den jeweils als solche identifizierten Leitmedien Sprache, Schrift, Druck und Computer: »Die Einführung der Sprache konstituierte die Stammesgesellschaft, die Einführung der Schrift die antike Hochkultur, die Einführung des Buchdrucks die moderne Gesellschaft und die Einführung des Computers die nächste Gesellschaft.« 23 Gemeinsam ist diesen Parallelisierungen von Medien und Gesellschaft, dass sie jeweils mit recht großkalibrigen Behauptungen auftreten. ›Die‹ Schrift, ›der‹ Buchdruck, ›der‹ Computer, ›das‹ Internet: Jeweils lastet auf einem Medienkomplex die Verantwortung für gesellschaftliche Veränderungen von ungeheurer Tragweite. Das Problem an solchen Ableitungen ist nicht, dass sie ›technikdeterministisch‹ sind,24 also soziale auf technische Verhältnisse zurückführen wollen. Dagegen ist, wenn eine solcher Zusammenhang nachweisbar ist, gar nichts zu sagen – und auch in diesem Buch wird an einigen Stellen der Versuch unternommen, die beherrschende Rolle von Medien in der Konstitution des Sozialen aufzuzeigen. Das Problem ist eher, dass Behauptungen vom Typ ›Der Buchdruck hat xy erschaffen‹ (wobei mit xy die Reformation, die bürgerliche Gesellschaft, der Kapitalismus, der Nationalismus oder auch die funktional differenzierte Gesellschaft gemeint sein kann) viel zu allgemein sind, um historisch verifiziert werden zu können. So wird es einerseits immer empirische Einwände geben, wie z. B. die These von Adrian Johns, dass der Buchdruck der Frühen Neuzeit aufgrund 22  Ebd., S. 20 – 21. 23  Dirk Baecker, Studien zur nächsten Gesellschaft, Frankfurt a. M., 2007, S. 7. 24  Gegen die Zuschreibung »Technikdeterminismus« hat Geoffrey Winthrop-Young eine be-

eindruckende Breitseite abgefeuert: »Technikdeterminismus – um genau zu sein: der Vorwurf des Technikdeterminismus – ist eines der pathetischsten, aber leider auch stets griffbereiten Hilfsmittel im großen Arsenal der intellektuellen Unredlichkeit. Es ist eine grundlose und oft falsch informierte Mischung aus ideologischem Moralisieren (ein Technikdeterminist zu sein ist irgendwie ein politisch-moralischer Fehler) und hochmütiger Faulheit (jetzt, da ich festgestellt habe, dass X technikdeterministisch ist, kann ich X einfach ignorieren und wieder schlafen gehen). Wenn du das T-Wort hörst, zieh deine Handschuhe aus.« Geoffrey Winthrop-Young, »Rethinking the materiality of technical media. Friedrich Kittler, enfant terrible with a rejuvenating effect on parental discipline – A dialogue [with Annie van den Oever]«, in: Annie van den Oever (Hg.), Techné/Technology. Researching Cinema and Media Technologies.:Their Development, Use, and Impact, Amsterdam, 2014, 219 – 239, S. 227. Mit Dank an Bernhard Siegert für den Hinweis.

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seiner technischen Imperfektion weit davon entfernt war, als universales Vereinheitlichungsmedium dienen zu können;25 andererseits wird es immer Raum für die umgekehrte, ›soziodeterministische‹ Behauptung geben, dass erst bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse die Bedingungen für den Aufstieg eines Medium geschaffen hätten.26 Auf diese Weise kommt es, wie Bruno Latour gezeigt hat, zu einem unergiebigen Ping-Pong zwischen den konkurrierenden Erklärungsweisen: Um den drohenden ›technologischen Determinismus‹ zu vermeiden, ist man versucht, eisern den ›sozialen Determinismus‹ zu verteidigen, der so extrem wird (die Dampfmaschine wird beispielsweise zur ›bloßen Widerspiegelung‹ des ›englischen Kapitalismus‹), daß selbst der geistig offenste Ingenieur zum stolzen technologischen Deterministen wird, der mit der Faust auf den Tisch schlägt und mit virilen Ausrufen unterstreicht, das ›Gewicht materieller Sachzwänge‹ ließe sich nicht umgehen.27

Am Beispiel der Wissenschaftlichen Revolution der Frühen Neuzeit hat Latour die Frage gestellt, wie eine Erklärung von geschichtlichen Ereignissen aussehen kann, die der Wirkungsmacht der Techniken und Objekte Rechnung trägt, ohne bei allgemeinen Zusammenhangsbehauptungen stehenzubleiben. Wenn es darum geht, die Entstehung und Durchsetzung der westlichen wissenschaftlichen Kultur zu verstehen, so liegt es nahe, zunächst »die Handwerkskunst des Schreibens und der Visualisierung in Betracht [zu] ziehen«.28 Doch angesichts dessen, dass »Bilder und Schrift überall gegenwärtig sind«, stellt sich die Frage, was damit »nicht nur leichter, sondern erschöpfend erklärt werden« kann.29 Wie sich zeigt, sind »nicht alle Erklärungen betreffend Inskription gleichermaßen überzeugend«;30 es handelt sich daher darum, genau jene »Änderungen in den Schreib- und Visualisierungsprozeduren« in den Blick zu bekommen, die »einen Unterschied 25  Vgl. Adrian Johns, The nature of the book. Print and knowledge in the making, Chicago, Ill, 1998. 26  Der These, dass es ohne Buchdruck keine bürgerliche Gesellschaft und keine Reformation gegeben hätte, ließe sich z. B. entgegenhalten, dass der Buchdruck mit beweglichen Lettern ohne die Aufmerksamkeit, die er in der europäischen Stadtkultur erfuhr und ohne die Nachfrage, die durch den religiösen Disput erzeugt wurde, eine marginale Erfindung geblieben wäre, so wie dies in China oder Korea der Fall war. Zu den gesellschaftlichen Erwartungen und Wünschen, die sich mit Gutenbergs Erfindung verbanden, vgl. Michael Giesecke, Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a. M., 1991, S. 124 – 134. 27  Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 144 – 145. 28  Bruno Latour, »Drawing Things Together. Die Macht der unveränderlich mobilen Elemente« (1986), in: Andréa Belliger und David J. Krieger (Hg.), ANT hology. Ein einführendes Handbuch zur Akteur-Netzwerk-Theorie, Bielefeld, 2006, 259 – 307, S. 261. 29  Ebd., S. 263. 30  Ebd., S. 266.

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in der Art unseres Argumentierens, Beweisens oder Glaubens machen«.31 Um das Ereignis der wissenschaftlichen Revolution begreiflich zu machen, muss man, wie Latour sagt, »nicht die gesamte Geschichte des Schreibens und der visuellen Hilfsmittel vom primitiven Menschen bis zum Computer betrachten«: »Wir sind hier nur an ein paar spezifischen Erfindungen des Schreibens und der bildlichen Darstellung interessiert.« 32 Diese spezifischen Erfindungen, die in der Entwicklung von neuzeitlicher Wissenschaft eine Rolle gespielt haben, umreißt Latour mit dem Namen »immutable mobiles«:33 zweidimensionale Aufzeichnungsdispositive, die – wie Listen, Kataloge oder Landkarten – den Vorteil der zuverlässigen Aufzeichnung mit dem der Reproduzierbarkeit und Mobilität verbinden und damit eine wesentliche Voraussetzung für weltweite empirische Datenerhebung darstellen. So wie Latour nach den spezifischen Medien der frühneuzeitlichen Wissenschaft (und damit zugleich nach den Gründen der »medientechnischen Überlegenheit des Westens« 34) fragt, so ließe sich auch nach den spezifischen Medien der gesellschaftlichen Differenzierung fragen, d. h. nach den Medien, denen man eine direkte Beteiligung an der Formierung und Aufteilung des Sozialen nachsagen kann. Dazu konnte die Geschichtsschreibung bisher nur wenige Beobachtungen beisteuern. So hat die Historikerin Fanny Cosandey gezeigt, welche Rolle die Archive in der »Manipulation der Ränge« durch den französischen Absolutismus gespielt haben: Alles beginnt mit einem königlichen Brief vom 3. Juli 1547, mit dem Jean Du Tillet den Auftrag erhält, Informationen zu sammeln, um die Ränge der Mitglieder des französischen Hochadels bei der drei Wochen später stattfindenden Weihe und Krönung aufzuklären, was ihn dazu bringt ›einen Auszug aus den Registern zu verfassen, der die Altertümer und die Zeit der Errichtung des Adels enthält […]‹.35

Bei Elizabeth Eisenstein findet sich der Hinweis, dass das Erscheinen von gedruckten Emblem- und Wappenbüchern und Adelsverzeichnissen »das Klassenbewusstsein unter erblichen Adligen verstärkt« und dazu beigetragen habe,

31  Ebd., S. 263. 32  Ebd., S. 263 – 264. 33  Vgl. Bruno Latour, »Drawing things together« (1986), in: Michael Lynch und Steve

Woolgar (Hg.), Representation in scientific practice, Cambridge, Mass, 1990, 19 – 68. 34  Vgl. Erhard Schüttpelz, »Die medientechnische Überlegenheit des Westens. Zur Geschichte und Geographie der immutable mobiles Bruno Latours«, in: Jörg Döring und Tristan Thielmann (Hg.), Mediengeographie. Theorie – Analyse – Diskussion, Bielefeld, 2008, 67 – 110, S. 69. 35  Fanny Cosandey, Le rang. Préséances et hiérarchies dans la France d’Ancien Régime, Paris, 2016, S. 53.

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»Begriffe von Rang, Priorität und Abstufung zu kodifizieren«.36 In näherer Verbindung mit dem Problem der modernen Klassenteilung steht eine mediengeschichtliche Randbemerkung von Ian Hacking. Ihm zufolge sind die sozialen Klassen, die im 19. Jahrhundert auf der Bildfläche erschienen, aus den bürokratischen Einteilungspraktiken um 1800 hervorgegangen: Nach 1800 gab es eine radikale Veränderung in der Art und Weise, in der Menschen in Bezug auf ihre Beschäftigung klassifiziert wurden. Man könnte das sagen, das kam daher, weil mit der neuen Industrialisierung neue Berufe entstanden sind. Natürlich. Aber dass sie so eingeteilt werden sollten, wie wir sie gruppieren, war kein unvermeidliches Ergebnis der Fabrikorganisation. Im Gegenteil, Bürokraten – die Fabrikinspektoren selbst oder Leute von der Handelskammer – entwarfen leicht zählbare Klassifizierungen, in die jeder fallen sollte – und von da an auch fiel.37

Der reichste Schatz von Beobachtungen zur Medialität der Klassenteilung findet sich jedoch in den Werken von Marx und Engels, insbesondere in den zeithistorischen und politischen Schriften. Der Essay über die Klassenkämpfe in Frankreich (1850) stellt die praktischen Fragen eines Berufsrevolutionärs: Worin liegen »die materiellen Bedingungen [der] Klassenherrschaft«,38 worin liegen die organisatorischen Mittel zur Formierung der Arbeiterklasse? Hier sind es vor allem die revolutionären Clubs, die Marx als Medien der Klassenbildung versteht: »Und die Klubs, was waren sie anders als eine Koalition der gesamten Arbeiterklasse gegen die gesamte Bourgeoisklasse, die Bildung eines Arbeiterstaats gegen den Bourgeoisstaat? Waren sie nicht ebenso viele konstituierende Versammlungen des Proletariats und ebenso viele schlagfertige Armeeabteilungen der Revolte?« 39 Im 18. Brumaire des Louis Bonaparte (1852) bedient sich Marx eines regelrecht mediensoziologischen Vokabulars, um die Schwierigkeiten der Klassenbildung im ländlichen Frankreich zu beleuchten. Hier ist von den »Parzellenbauern« die Rede, die eine »ungeheure Masse« bilden, aber nicht zur Klasse zusammenfinden können:

36  Eisenstein, »Some conjectures about the impact of printing on western society and thought«, S. 43 Abgesehen davon, dass es sich hier nicht um ›Klassenbewusstsein‹, sondern um ›Rangbewusstsein‹ handelt, ist es durchaus nahevollziehbar, dass die Visualisierung der Hierarchien in gedruckten Katalogen zur Ausdifferenzierung des ›degree‹-Systems beigetragen hat. 37  Hacking, »Biopower and the avalanche of printed numbers«, S. 280. 38  Karl Marx, »Die Klassenkämpfe in Frankreich 1848 bis 1850«, in: ders. u. Friedrich Engels, Werke (MEW ), Bd. 7, Berlin, 1956 ff., 9 – 107, S. 36. 39  Ebd., S. 54.

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Ihre Produktionsweise isoliert sie voneinander, statt sie in wechselseitigen Verkehr zu bringen. Die Isolierung wird gefördert durch die schlechten französischen Kommunikationsmittel und die Armut der Bauern. Ihr Produktionsfeld, die Parzelle, läßt in seiner Kultur keine Teilung der Arbeit zu, keine Anwendung der Wissenschaft, also keine Mannigfaltigkeit der Entwicklung, keine Verschiedenheit der Talente, keinen Reichtum der gesellschaftlichen Verhältnisse.40

Anders als die Parzellenbauern ordnen sich die Industriearbeiter schon in ihrem alltäglichen Gang zur Arbeit klassenförmig an. Aufgrund ihrer vereinheitlichenden und disziplinierenden Macht lässt sich die Fabrik als ein exemplarisches Medium der Klassenbildung begreifen; darauf verweisen besonders Marx’ vergleichende Analysen zu Manufaktur und Fabriksystem.41 Was diese verstreuten Beobachtungen verbindet, ist der Versuch, jeweils für eine konkrete Situation herauszufinden, wie mediale oder technische Faktoren eine bestimmte Art der gesellschaftlichen Teilung begünstigen oder an ihrer Fortschreibung und Verbreitung mitwirken. Eine solche fokussierte Sichtweise leitet auch die in diesem Buch vorgenommenen Untersuchungen zur Medialität von Klassifikation und Klassenteilung. Statt allgemeine Bemerkungen über den Zusammenhang von Medien und Klassengesellschaft zu machen, sollen die Medien und Medienfunktionen beschrieben werden, die in konkreten Operationen der Klassenteilung eine Rolle gespielt haben. So wäre es ungerecht, die Schrift oder graphische Darstellungen im Allgemeinen für die klassenförmige Neuordnung von Gesellschaft verantwortlich zu machen, aber es lässt sich durchaus behaupten, dass das Aufkommen tabellarischer Bevölkerungsstatistiken in dieser Geschichte eine entscheidende Rolle spielt.42 Zweifellos ließe sich das klassifikatorische Ordnungsprinzip mit der Technik des Buchdrucks in Verbindung bringen, doch da sich vieles andere ebenso damit in Verbindung bringen lässt, wäre dies eine sehr ungenaue Behauptung. Eine spezifischere Beziehung besteht jedoch zwischen Klassifizierung und gedruckten Periodika: Diese formieren Teilöffentlichkeiten, die einer klassenförmigen Neuordnung des Sozialen den Weg bereiten.43 Schließlich, um ein letztes Beispiel zu nennen, lassen sich öffentliche Orte grundsätzlich als Schauplätze der Anordnung und Teilung von Gesellschaft betrachten. Es ist aber sinnvoll, jeweils spezifische Orte und Situationen unter die Lupe zu nehmen, und so werden z. B. kirchliche und weltliche Prozessionen als Displays der Standesgesellschaft,44 Kaffeehäuser und Clubs dagegen als Agenturen einer klassenförmigen Neusortierung des Sozialen beschreibbar sein.45 40  41  42  43  44  45 

Marx, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, S. 198. S. o., Kap. 1, Abschnitt »Die kleine und die große Maschinerie«. S. u., Kap. 11. S. u., Kap. 15, Abschnitt »Freiwillige Selbstsortierung«. S. u., Kap. 13, Abschnitt »Die Ordnung der Prozession«. Siehe die entsprechenden Abschnitte in Kapitel 15.

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Erfindung und Nachahmung Die zweite Leitfrage dieses Buches – neben der nach den Medien der Teilung – lässt sich mit dem Schlagwort ›Mimesis‹ umreißen. Gemeint ist damit eine besondere Aufmerksamkeit für die Momente der Nachahmung und Identifizierung, der Anähnlichung und Annäherung, die in der Formierung von Klassengesellschaft eine Rolle spielen. Dabei geht es zunächst um das Fortpflanzungsprinzip von Klassenteilung: Eine neue Form der Unterscheidung erlangt gesellschaftliche Wirklichkeit, indem sie sich durch Nachahmung verbreitet und gegen die älteren Formen der Aufteilung durchsetzt. Zum Verständnis dieser Verbreitungsmechanismen kann die soziologische Theorie von Gabriel Tarde beitragen, die den besonderen Vorzug hat, das Soziale nicht als gegebene Ganzheit oder etablierte Struktur vorauszusetzen, sondern es sozusagen ›von unten‹, ausgehend von den kleinen und kleinsten Akten seiner Zusammensetzung, zu erklären. Gegen seinen Kontrahenten Émile Durkheim erklärt Tarde: Diese Auffassung ist insgesamt so ziemlich das Gegenteil derjenigen, die die unilinearen Evolutionisten und auch Herr Durkheim vertreten: Anstatt alles durch die vorgebliche Herrschaft eines Entwicklungsgesetzes zu erklären, das die Phänomene in ihrer Gesamtheit dazu zwingen würde, sich zu reproduzieren, sich in einer bestimmten Ordnung identisch zu wiederholen, statt also das Kleine durch das Große, das Detail durch das Ganze zu erklären, erkläre ich die Gesamtähnlichkeiten durch die Anhäufung einfacher Elementaraktionen, das Große durch das Kleine, das Ganze durch das Detail.46

Die Radikalität der Tarde’schen Theorie besteht darin, dass sie, anstatt von der Existenz der ›Gesellschaft‹ auszugehen und auf dieser Grundlage alle möglichen Phänomene ›soziologisch‹ zu erklären,47 vielmehr das Soziale selbst und die Weise seines Zusammenhalts zu verstehen versucht. Jede Bildung einer Ordnung (auch in der Natur) lässt sich nach Tarde auf Prozesse der Wiederholung zurückführen. Im Fall der Gesellschaft handelt es sich um das Wechselspiel zweier Typen von Wiederholung: »Im Sozialen geschieht alles als Erfindung und Nachahmung […]«.48 Wenn die Erfindung die Momente bezeichnet, in denen durch abweichende Wiederholung etwas Neues in die Welt kommt, so bezeichnet die Nachahmung den Mechanismus der Verbreitung, durch den die Neuerung sich durchsetzen und zu einer sozialen Tatsache werden kann: »Somit ist von Initiativen auszugehen, die etwas Neues bringen und die sich dann durch Nachahmung 46  Gabriel Tarde, Les lois sociales. Esquisse d’une sociologie, Paris, 1898, 42, Anm.1. 47  Vgl. Latour, Eine neue Soziologie für eine neue Gesellschaft, S. 31. 48  Gabriel Tarde, Die Gesetze der Nachahmung (1890), Frankfurt a. M., 2009, S. 27.

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ausbreiten oder zumindest danach streben, sich auszubreiten und die darüber der Welt zugleich neue Bedürfnisse und neue Befriedigungen bescheren.« 49 Wenn es darum geht, das Auftauchen von Klassengesellschaft zu verstehen, stellt die Tarde’sche Soziologie ein anregendes Denkmodell zur Verfügung. Dies betrifft zunächst das erste der beiden Momente von Wiederholung, dem Tarde den Namen ›Erfindung‹ gegeben hat. Das Wort eignet sich sehr gut, um die anfänglichen Regungen einer klassifikatorischen Neuordnung von Gesellschaft im 17. Jahrhundert zu beschreiben. Denn diese Neuerungen zeichnen sich dadurch aus, dass sie sich ganz offen als Wiederholungen bereits erprobter Muster präsentieren, wenn auch mit charakteristischen Abwandlungen. Die Überführung des antiken Klassenbegriffs aus dem Bereich der Gelehrsamkeit in den der politischen Theorie,50 die Reaktualisierung des griechischen und römischen Mythos von der klassenförmigen Neuaufteilung des Volkes,51 die Versetzung des in den Naturwissenschaften eingespielten Klassenvokabulars ins Gebiet der politischen Ökonomie,52 die ironische Aneignung der klassifikatorischen Sortierverfahren in der satirischen Publizistik des frühen 18. Jahrhunderts 53 – in all diesen Fällen besteht die ›Erfindung‹ vor allem darin, etwas bereits Bestehendes auf einem anderen Feld zu wiederholen, etwas Altes wiederaufleben zu lassen. Wenn dabei etwas ›Neues‹ entsteht, so hat dies damit zu tun, dass die Wiederholung unweigerlich einen Unterschied, eine Verschiebung gegenüber dem Wiederholten einführt: Differenz und Wiederholung sind nicht voneinander zu trennen.54 Dieses Bild von Neuerung als abwandelnder Wiederholung entspricht übrigens ziemlich genau der Vorstellung, die man im England des 17. Jahrhunderts von dem Begriff ›Erfindung‹ hatte. Als ›inventor‹ galt nicht nur, wer etwas Neues erfand, sondern auch jemand, der irgendwo in der Ferne etwas fand und es zuhause bekannt machte: Die Erfindung schloss auch das Entdecken mit ein – wie das Aufdecken oder Auffinden von etwas, das lokal unbekannt war. Zum Beispiel war es ebenso ein Akt der Erfindung, ein neues ausländisches Produkt nach England zu bringen, wie mit eigenen Händen ein neues Produkt oder ein Verfahren zu schaffen. Neue oder

Ebd., S. 26. S. u., Kap. 9, Abschnitt »Formen der Wiederkehr«. S. u., Kap. 9, Abschnitt »Auftritt der Gesetzgeber«. S. u., Kap. 12, Abschnitt »Politische Rechenkunst«. S. u., Kap. 16. Vgl. das Lob der Tarde’schen Konzeption der Nachahmung in Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung (1968), München, 1992, 45, Anm. 16: »Die ganze Philosophie Tardes gründet […] auf den beiden Kategorien von Differenz und Wiederholung: Die Differenz ist zugleich der Ursprung und das Ziel der Wiederholung […]. Diese differentielle und differenzierende Wiederholung soll nach Tarde in allen Gebieten den Gegensatz ablösen.« 49  50  51  52  53  54 

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lokal unbekannte ökonomische, politische oder literarische Kunstgriffe wurden gleichermaßen als Erfindungen beschrieben.55

Wenn man also von einer ›Erfindung‹ der Klasse im 17. Jahrhundert sprechen will, so wird man diese Erfindung nicht als creatio ex nihilo begreifen, sondern sie – mit Tarde – unter dem Aspekt der Wiederholung beschreiben müssen. Die Konstruktion als Rekonstruktion, die Erfindung als Wiederfindung, die Revolution als ›Rückwälzung‹: Es ist die Rückwendung zum Alten, die dem Neuen zum Durchbruch verhilft. Ebenso instruktiv sind Tardes Überlegungen zum zweiten Moment der Wiederholung, der stabilisierenden Nachahmung. Wie Tarde annimmt, hat »[j]edes soziale Ding, d. h. jede Erfindung und jede Entdeckung« die Tendenz, »sich in seinem sozialen Milieu auszudehnen«;56 sie »möchte sich hauptsächlich ausbreiten«;57 sie träumt davon, »sich tausend- und millionenfach zu vermehren«.58 Um die spezifischen Bedingungen dieser Ausbreitung zu erfassen, lädt Tarde dazu ein, sich »eine absolute und vollkommene Sozialität vorzustellen«, die der kommunikativen Übertragung keinerlei Hindernis entgegensetzen würde: Sie bestünde in einem derart dichten städtischen Leben, daß sich eine irgendwo innerhalb eines Gehirns entstandene gute Idee auf alle Gehirne der Stadt unverzüglich übertragen würde. Diese Annahme entspricht der Hypothese der Physiker, nach der sich ein Lichtreiz oder ein anderer Reiz ohne Zeitverzögerung übertragen würde, wenn die Elastizität des Äthers vollkommen wäre.59

Die Ausbreitung mimetischer Impulse hängt damit entscheidend vom Übertragungsmedium ab. Von einem absolut elastischen ›Äther‹, der eine instantane Übertragung der Nachahmung auf »alle Gehirne der Stadt« ermöglichen würde, kann, zumindest zu Tardes Zeiten, noch keine Rede sein. Die Nachahmung wird sich daher nie mit vollkommen gleichmäßiger Geschwindigkeit ausbreiten, und sie wird dies auch nicht immer – wie Tarde in unvorsichtiger Verallgemeinerung behauptet – so regelmäßig tun »wie eine Lichtwelle oder ein Termitenstamm«.60 Die mimetische Verbreitung kann vielmehr sehr unterschiedliche Verläufe und Zeitlichkeiten haben, abhängig von den Wegen und Medien der gesellschaftlichen Kommunikation:

55  Jessica Ratcliff, »Art to cheat the common-weale. Inventors, projectors, and patentees in English satire, ca. 1630 – 70«, Technology and culture, Jg. 53, N° 2, 2012, 337 – 365, S. 343. 56  Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, S. 41. 57  Ebd., S. 97 – 98. 58  Gabriel Tarde, Monadologie und Soziologie (1893), Frankfurt a. M., 2009, S. 99. 59  Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, S. 94. 60  Ebd., S. 27.

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Ein Orkan breitet sich nach und nach aus, und nie löst sich eine Welle heraus, um den Virus des Sturms, omisso medio, in die Weite zu tragen. Eine Epidemie wütet anders. Sie schlägt nach links und rechts, verschont dabei dieses oder jenes Haus, die eine oder andere Stadt, erfaßt fast annähernd gleichzeitig viele, weit verstreut liegende Häuser und Städte. Noch freier breitet sich der Aufstand von Stadt zu Stadt, von Fabrik zu Fabrik durch eine Telegraphennachricht aus. Manchmal liegen die Wurzeln der Ansteckung auch in der Vergangenheit, und der Aufstand entzündet sich an einer längst vergangenen Epoche.61

Tarde selbst hat den etwas ungeschickten (weil teleologische Assoziationen weckenden) Ausdruck ›Nachahmungsstrahl‹ verwendet, um die Verbreitungsweise der mimetischen Übertragungen zu kennzeichnen;62 weniger missverständlich wäre es, von einer Kette der Nachahmungen zu sprechen. Mit der Ketten-Metapher wäre der Vorteil verbunden, nicht von einer geradlinigen Ausbreitung der Nachahmungen ausgehen zu müssen, sondern vielmehr von einem prekären Prozess der Verknüpfung, der in jedem Schritt der Übertragung auch unterbrochen werden oder in eine andere Richtung gelenkt werden kann. Tarde selbst war sich sehr wohl darüber im Klaren, dass das Schicksal einer mimetischen Übertragung von vielfältigen äußeren Faktoren abhängt. Die Nachahmungen konnten sich »auf dem Weg von einer Rasse oder Nation zu einer anderen« ebenso verändern wie »Lebensformen beim Wechsel von einem Milieu zum nächsten«;63 zugleich konnte die Begegnung mit anderen Nachahmungen zu »Interferenzen« führen, die in einem Fall auf die »Summierung und Steigerung von Begehren und Überzeugung« hinausliefen, im andern Fall aber mit »einem glatten Verlust, mit der gegenseitigen Aufhebung dieser Größen« einhergingen.64

61  Ebd., S. 59. 62  Vgl. Bruno Latour, »Gabriel Tarde und das Ende des Sozialen«, Soziale Welt, Jg. 52, N°

3, 2001, 361 – 375, S. 370: »Durch den Ausdruck ›Nachahmungsstrahl‹ sollten wir uns nicht abschrecken lassen. Tardes Vokabular ist ein wenig seltsam, doch jeder Kenner der MemetikLiteratur kann es durch irgendeine modernere Metapher wie Mutation, Selektion, Replikationsstrategie oder ähnliches ersetzen.« Tatsächlich wird Tarde durch die Strahl-Metapher dazu verführt, zukünftige Entwicklungen als vorhersagbar anzunehmen: »Gesetzt den Fall, es gibt heute bestimmte Quellen von Nachahmungsstrahlen, die getrennt oder konkurrierend zueinander mit annähernd gleicher Geschwindigkeit danach streben, sich allmählich durchzusetzen, so ist es möglich vorauszusagen, wie sich der gesellschaftliche Zustand in zehn oder zwanzig Jahren darstellt, vorausgesetzt, daß nicht irgendeine Reformation oder Revolution und keine neue rivalisierende Quelle ihre Verbreitung durchkreuzt.« Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, S. 43. 63  Ebd., S. 46. 64  Ebd., S. 54.

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Mimesis und Klassenteilung Leider hat Tarde sich nicht mit der Frage der Entstehung von Klassenteilung beschäftigt; er hat sich aber Gedanken über die Entstehung von Klassen gemacht. Wie die Entstehung aller anderen sozialen Gegebenheiten geht auch die Formierung sozialer Kollektive auf Prozesse der Nachahmung zurück: »Daher folgende Definition: Eine soziale Gruppe ist eine Gruppe von Wesen, die sich gegenseitig momentan nachahmen oder einander ähnlich sind, ohne sich gegenwärtig nachzuahmen, deren gemeinsame Merkmale aber früheren Nachahmungen desselben Vorbilds entstammen.« 65 Im Unterschied zur marxistischen Theorie, die die Geburt der Klassen auf die Spannung zwischen antagonistischen Kräften, also auf einen Prozess der Abstoßung zurückführt, geht Tarde von der sozialen Kohäsionswirkung der Nachahmung aus, ihrer Fähigkeit, die Individuen aneinander anzugleichen und zur Kooperation zu führen.66 Seine verstreuten Beobachtungen zur Dynamik der Klassenbildung heben die Anziehungskräfte der Nachahmung hervor: Die Bewohner einer Stadt oder die Mitgliedern einer Klasse werden stets »eine bestimmte andere Stadt oder höhere Klasse nachäffen«,67 und das Begehren der Angleichung wird umso größer sein, je größer der Abstand zwischen den Positionen, je größer das »Gefälle« der Nachahmung ist.68 Ebenso klar ist, dass der Abstand der Klassen nicht durch gute Worte, sondern allenfalls durch »ansteckende Nachahmung« zu lindern ist. Will man beispielsweise die Bauern »in die höhere Gesellschaft« aufnehmen, so wird man »Ideen, Begehren, Bedürfnisse« bei ihnen wecken müssen, »die Geist und Wesen der Mitglieder dieser höheren Gesellschaft entsprechen«.69 Tardes Versuch, Klassenbildung auf das »nachäffend[e] Begehren« unterlegener Schichten zurückzuführen,70 hat selbst wenig Nachahmer gefunden. Dies ist insofern erstaunlich, als in zahlreichen Geschichten, die vom Zusammenfinden von sozialen Klassen oder von der Herstellung von Klassenbewusstsein handeln, Prozesse der Nachahmung eine wesentliche Rolle spielen: Menschen erkennen die Ähnlichkeit ihrer Lebensverhältnisse und Interessen; sie verpflichten sich auf gemeinsame Losungen und Forderungen; sie identifizieren sich mit ihresgleichen; 65  Ebd., S. 92. 66  Vgl. Lazzarato, Puissances de l’invention, S. 325: »Der Sozialismus und der Liberalis-

mus betrachten den Konflikt (zwischen den individuellen Egoismen der ökonomischen Akteure oder zwischen den kollektiven Interessen der Klassen) als die treibende Kraft für die Konstitution und Entwicklung der Gesellschaft. Ob Konkurrenz oder Klassenkampf, die Opposition erklärt die soziale Dynamik. Tarde hingegen sieht Kooperation und Erfindung am Ursprung der Konstitution und des Wandels der Gesellschaft und macht Konflikt und Opposition zu einer ›bloß unterstützenden und untergeordneten‹ Kraft.« 67  Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, S. 130. 68  Vgl. ebd., S. 238. 69  Ebd., S. 85 – 86. 70  Ebd., S. 130.

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sie arbeiten daran, sich den anderen gleich zu machen; sie entwerfen Bilder, die den Zusammenschluss herbeiführen und verstärken, und indem sie all dies tun, imitieren sie oft genug »Namen, Schlachtparolen, Kostüm« 71 anderer Länder und vergangener Zeiten. In zahlreichen ›Making-of-Class‹-Geschichten, die seit E. P. Thompsons klassischer Studie 72 erschienenen sind, werden solche Nachahmungsprozesse erwähnt und geschildert, sie werden jedoch nicht als solche thematisiert. Stattdessen dominiert ein Vokabular – ›Making of‹, ›Construction of‹, ›Invention of‹ – das den Eindruck einer freien und vorbildlosen Schöpfung erweckt. Soweit es überhaupt Historiker gab, die an der Rolle von Imitation oder Assimilation in der Formierung sozialer Klassen interessiert waren, haben sie sich nicht auf Tarde bezogen. Das gilt auch für Georges Duby, der in einem 1968 erschienenen Aufsatz die »Ausbreitung kultureller Muster in der Feudalgesellschaft« untersuchte. Offenbar ohne Tarde zu kennen, ist Duby zu einer Darstellung von sozialer Anähnlichung gelangt, die der Tardeschen Nachahmungstheorie an einem zentralen Punkt widerspricht. Während Tarde die Aufstiegsmimesis privilegierte und geradezu von einem »Gesetz« der Nachahmung des Überlegenen durch das Unterlegene sprach,73 zeigt Duby, dass mit einer Kommunikation in zwei Richtungen gerechnet werden muss: So lässt sich z. B. die Popularisierung des Christentums im 14. Jahrhundert nur verstehen, wenn man neben einer absteigenden Bewegung, d. h. einer Verbreitung von aristokratischen Praktiken im Volk, zugleich eine aufsteigende Bewegung annimmt, d. h. eine Anreicherung der Elitekultur mit »sentimentalen«, »folkloristischen« oder »volkstümlichen« Elementen.74 An Duby anknüpfend (aber wiederum ohne Verweis auf Tarde) hat die Stadtsoziologin Sharon Zukin 1977 eine mimesistheoretische Reformulierung der Klassentheorie angeregt – meines Wissens der einzige Versuch, der in diese Richtung unternommen wurde. Zukin zufolge kann »Klassenbewusstsein« als ein »hybrides Produkt« von »mimesis upward« und »mimesis downwards« betrachtet werden. Zukin erprobt ihre Idee am Beispiel der Entstehung der bürgerlichen Klasse: Die klassischen Bestimmungen der Bourgeoisie – von Marx und Weber bis zu Sombart, Pirenne und Schumpeter – hätten den Aspekt der Innovation betont und die Entstehung der neuen Klasse auf den Unternehmungsgeist einer Reihe von »new men« zurückgeführt, die fundamental mit früheren kulturellen Modellen gebrochen hätten.75 Im Licht neuerer historischer Untersuchungen erschienen jedoch viele der »ideologischen Innovationen, die früher der Bourgeoisie zugeschrieben wurden, eher als das Produkt einer klassenübergreifenden ökonoMarx, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, S. 115. Vgl. Thompson, The making of the English working class. Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, 218. Vgl. Georges Duby, »The diffusion of cultural patterns in feudal society«, Past & Present, N° 39, 1968, 3 – 10, S. 4 – 5. 75  Sharon Zukin, »Mimesis in the origins of bourgeois culture«, Theory and Society, Jg. 4, N° 3, 1977, 333 – 358, S. 339.

71  72  73  74 

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mischen Kooperation und kulturellen Mimesis und nicht so sehr als Schöpfung einer einzelnen Klasse, der Bourgeoisie« 76. So habe z. B. die Verhaltensökonomie des »Early to bed, early to rise«, die gewöhnlich einer genuin bürgerlichen Ethik der Genussbeschränkung zugeschrieben wird, ihre Vorbilder nicht nur in der »Kultur der feudalen Aristokratie«, sondern auch in den »materiellen Praktiken der Handwerkerschaft«.77 Anstelle einer prometheischen Selbsterfindung der Bourgeoisie hat man es mit einer verbreiteten Nachahmung von sozialen Distinktionsmerkmalen zu tun, mit einer Vielfalt von verstreuten Kopierprozessen, aus denen schließlich die neue Klasse hervorgeht. Tarde, Duby und Zukin haben in unterschiedlicher Weise die Aufmerksamkeit auf die mimetischen Prozesse gelenkt, die in der Formierung von Klassenidentitäten eine Rolle spielen. Die zentrale Frage dieses Buchs ist jedoch eine andere: Das Interesse besteht nicht darin, nachzuverfolgen, wie bestimmte Klassen hervorgebracht werden oder wie eine neue Klasse, die Bourgeoisie, an die Macht kommt. In einer grundsätzlicheren Weise geht es darum, wie eine klassenförmige Gesellschaft entsteht, d. h. wie im Gefüge der sozialen Beziehungen eine neue Form der Einteilung wirksam wird, die sich nicht mehr an das überkommene Muster von Standespositionen hält, sondern einer neuen, willkürlich gesetzten Ordnung der Klassifikation gehorcht. Die Frage nach der ›Klasse‹ bezieht sich hier also nicht auf die Konstitution einer bestimmten Gruppe, sondern auf das Prinzip der Unterscheidung, durch das Klassen überhaupt erst hervorgebracht werden. Auch zu dieser Frage können mimesistheoretische Ansätze etwas beitragen. Wenn es im Fall der Klassenherstellung um die Imitation von Gestalten oder Bildern, von Positionen, Identitäten oder Dingen geht, so dreht sich im Fall der Durchsetzung von Klassengesellschaft alles um die Imitation von Verfahren, um die Verkettung von Operationen, um die Fortschreibung einer Unterscheidungsweise. In den Worten Tardes: Das Interesse besteht darin, nachzuverfolgen, wie die Erfindung der klassifizierenden Einteilung von Menschen (die, wie oben angedeutet wurde, selbst ein Produkt historischer Wiederholung ist), sich durch Nachahmung, durch variierende Wiederholung von Klassifizierungshandlungen allmählich im gesellschaftlichen Feld verbreitet – so lange, bis sie schließlich als dessen beherrschendes Gliederungsprinzip erkannt wird. Wenn die Art der bildlichen Identifizierung, die bei der Formierung von Standesidentitäten (oder auch von ›Klassenbewusstsein‹) im Spiel ist, versuchsweise ›platonische Mimesis‹ genannt werden kann,78 so lässt sich die eher technische, operative Nachahmung, durch die das Knowhow der Klassenteilung weitergetragen wird, in ebenso lockerer Weise als ›aristotelische Mimesis‹ bezeichnen. Diese 76  Ebd., S. 340. 77  Ebd., S. 349. 78  Zur platonischen Konzeption von Mimesis und ihrer Komplizenschaft mit dem Stände-

system, s. u., Kap. 13, Abschnitt »Gute Mimesis, schlechte Mimesis«.

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Charakterisierung gründet sich nicht nur auf den Umstand, dass Aristoteles der erste konsequente Klassifikator der Philosophie- und Wissenschaftsgeschichte war und daher als einer der ›Erfinder‹ dieses Teilungsverfahrens gelten kann.79 Vielmehr entspricht sein Verständnis von Mimesis als ›Poiesis‹ sehr genau der Weise, in der hier das Erzeugungsprinzip von Klassenteilung verstanden werden soll. Die wahre ›imitatio naturae‹ ist nach Aristoteles nicht eine bloß abbildende Nachahmung der ›natura naturata‹, d. h. der geschaffenen, gegenständlichen Welt; sie besteht vielmehr in der technischen, kunstvollen Nachahmung der ›natura naturans‹, d. h. des schöpferischen Prinzips der Natur selbst, das die Gegenstände und bildlichen Gestalten überhaupt erst hervorbringt.80 Damit ist auch die Rolle von Mimesis in der Emergenz und Sprossung des Prinzips der Klassenteilung beschrieben: Es geht nicht, wie es das übliche Verständnis von sozialer Mimesis will, um die Nachahmung von Gestalten, um die Imitation von Vorbildern. Es geht vielmehr um die wiederholte Erprobung eines technischen Verfahrens, um die imitative Einübung einer bestimmten Weise der Hervorbringung von Welt. Die Art der Mimesis, die für die Verbreitung und Durchsetzung des Prinzips der Klassenteilung verantwortlich ist, besteht nicht in der Identifikation mit dem Bild einer bestehenden Klasse (›classis classificata‹), sie besteht vielmehr in der Identifikation mit dem Erzeugungsprinzip von Klasse, dem Prozess der Klassifizierung (›classis classificans‹). Mit Aristoteles lässt sich also Klassenteilung als eine mimeto-poietischer Prozess verstehen, eine Verkettung von Teilungsoperationen, die schließlich eine neue Struktur, eine neue Form der gesellschaftlichen Differenzierung hervorbringen wird. Diese aufbauende, gestaltbildende Seite der Mimesis wird auch bei Tarde betont. Nachahmung erscheint bei ihm grundsätzlich als ein Prinzip der Erzeugung, der Erfindung des Neuen und seiner Stabilisierung. Tarde verweist zwar auch auf Widerstände und Interferenzen in den mimetischen Prozessen, doch erscheinen diese eher als unumgängliche Hindernisse denn als destruktive Kräfte. Einen ›Dark Tarde‹ wird man jedenfalls aus seinen Schriften nicht rekonstruieren können.81 Doch ist die geschichtliche Wirksamkeit von Mimesis mit der konstruktiven, ›positiven‹ Funktion der Strukturbildung nicht vollständig beschrieben. Mit Blick 79  Vgl. Gilles Deleuze, Logik des Sinns (1969), Frankfurt a. M., 1993, S. 317: »Die Entfaltung

der Repräsentation als wohlbegründete und begrenzte, als endliche Repräsentation ist eher das Anliegen von Aristoteles: Die Repräsentation durchläuft und deckt den ganzen Bereich, der sich von den höchsten Gattungen bis zu den kleinsten Arten erstreckt; und die Teilungsmethode findet zu ihrem traditionellen Verlauf der Spezifikation, den sie bei Platon noch nicht hatte.« 80  Vgl. Hans Blumenberg, »›Nachahmung der Natur‹. Zur Vorgeschichte der Idee des schöpferischen Menschen«, in: ders., Wirklichkeiten in denen wir leben. Aufsätze und eine Rede, Stuttgart, 1981, 55 – 103. 81  Vgl. Andrew Culps Versuch, im Werk von Deleuze »die destruktive Kraft der Negativität« zu rehabilitieren, Andrew Culp, Dark Deleuze (2016), Hamburg, 2017, S. 7.

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auf Autoren wie Jacques Lacan oder René Girard wird man vielmehr auch von der Blindheit und Verhärtung der imaginären Identifizierung, von der Gewaltsamkeit der mimetischen Rivalität sprechen müssen.82 Ebenso zu beleuchten wären die keineswegs seltenen Fälle, in denen die Nachahmung in den Dienst der Feindschaft gestellt wird: Mimikry, Vermummung, Verkleidung, Simulation, Täuschung, Einschüchterung, Verrat, Parodie, ironisches Nachäffen, Imitationszauber – all dies sind Artikulationen von Mimesis, die in Tardes Vision einer konstruktiven, Sozialität schaffenden Nachahmung keinen Platz haben. Grundsätzlich wird daher zu fragen sein, ob nicht auch Mimesis so etwas wie ein »Jenseits des Lustprinzips« kennt: eine Nachtseite der Nachahmung, die nicht dem »Bestreben des Eros« folgt, »das Organische zu immer größeren Einheiten zusammenzufassen«,83 sondern die eher der von Freud als »Todestrieb« bezeichneten entropischen Tendenz entspricht, zu einem »früheren Zustand« der Undifferenziertheit und Spannungslosigkeit zurückzukehren.84 Mimesis würde dann nicht auf die Produktion von Abbildern, von Kopien hinauslaufen, sondern vielmehr auf die Auflösung jeder Gestalt, die Einebnung der Differenz von Vorbild und Abbild. Die damit verbundene Auslöschung der Grenze zwischen »Organismus und Umgebung«, kann, wenn sie bei Menschen – oder bei Insekten – vorkommt, als »Pathologie« beschrieben werden;85 doch wird man, wenn es um die politischen Wirkungen der Mimesis geht, auch der besonderen Art des Genießens Rechnung tragen müssen, die sich aus dem Zusammenbruch der Ich-Grenzen ergeben kann: Die Angst, das Selbst zu verlieren und mit dem Selbst die Grenze zwischen sich und anderem Leben aufzuheben, die Scheu vor Tod und Destruktion, ist einem Glücksversprechen verschwistert, von dem in jedem Augenblick die Zivilisation bedroht war.86

Eine mimetologische Analyse der Entstehung von Klassengesellschaft wird sich nicht auf die fleißige und geduldige Aufbautätigkeit der sozialen Kopierprozesse beschränken können; sie wird auch jene Momente einer antagonistischen, exzessiven und selbstzerstörerischen Mimesis in den Blick nehmen müssen, durch 82  Vgl. Jacques Lacan, »Das Spiegelstadium als Bildner der Ichfunktion wie sie uns in der psychoanalytischen Erfahrung erscheint« (1949), in: ders., Schriften I, hg. v. Jacques-Alain Miller, Weinheim, Berlin, 1986, 63 – 70; René Girard, Das Heilige und die Gewalt (1972), Zürich, 1987. 83  Sigmund Freud, »Jenseits des Lustprinzips« (1920), in: ders., Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey, Frankfurt a. M.: Fischer, 1982, Bd. 3, 213 – 272, S. 252. 84  Ebd., S. 246. 85  Vgl. Roger Caillois, »Mimese und legendäre Psychasthenie«, in: ders., Méduse & Cie, hg. v. Peter Geble, Berlin, 2007, 25 – 44, S. 27. 86  Horkheimer u. Adorno, Dialektik der Aufklärung, S. 40.

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die die regelmäßige Reproduktion des Sozialen unterlaufen und die geschaffenen Strukturen wieder eingerissen werden. Zu dem Bild, das in dieser Arbeit gezeichnet werden soll, gehört nicht nur die scheinbar unaufhaltsame Arbeit der Imitation, in der sich eine klassifikatorische Teilung an die andere reiht und durch die sich das Prinzip der Klassenteilung allmählich über das gesamte gesellschaftliche Feld ausdehnt.87 Zu betrachten ist vielmehr auch das Zerstörungswerk, das die Nachahmung anrichtet, indem sie die gesellschaftlichen Abstände verringert, die Distinktionszeichen entwertet und Original und Kopie vertauscht 88 – ein Grund, warum man im 17. Jahrhundert von »Satanic imitation« spricht.89

Die Farbe des Unterschieds Mimesistheoretische Fragestellungen spielen aber in diesem Buch nicht nur deshalb eine Rolle, weil sie zur Erklärung des Übergangs zwischen zwei sozialen Differenzierungsweisen beitragen können. Theorien der Mimesis haben vielmehr auch das Verdienst, ein sehr ausgefeiltes Vokabular zur Beschreibung von Unterschieden entwickelt zu haben. Sie können nicht nur die Dynamik der Transformation beschreiben; sie können auch helfen, den Unterschied zwischen den Systemen der Differenzierung genauer zu erfassen. Es macht einen Unterschied, ob die Differenz zwischen zwei Positionen im Rahmen eines komplizierten und mehrdimensionalen Systems von ›Ähnlichkeiten‹ oder ›Analogien‹ artikuliert wird,90 oder durch die schlichte Feststellung eines differentiellen Merkmals, aufgrund dessen ein Exemplar in eine andere Klasse eingeordnet wird.91 Mimesistheorien interessieren sich für die Unterschiede zwischen den Unterscheidungsweisen: Sie bemerken den Widerstand oder die Leichtigkeit, mit der eine Unterscheidung sich vollzieht; sie achten auf die Beziehungen zwischen den beiden Seiten der Unterscheidung, auf die Bande, mit denen sie verknüpft sind; sie lassen sichtbar werden, dass eine Unterscheidung eine andere Qualität, eine andere ›Färbung‹ besitzt, je nachdem ob sie innerhalb eines kosmologischen System des Ähnlichkeiten, Entsprechungen und Sympathien oder im Rahmen einer tabellarischen Aufteilung nach äußerlich sichtbaren, distinkten Merkmalen vorgenommen wird. Ein Einfall von Tarde kann dazu beitragen, die Feinheiten der Unterscheidung genauer zu beschreiben. Tarde hatte die Idee, die Operation des Differierens oder Unterscheidens vom Konzept des Seins und der Identität zu lösen, um es dafür mit dem des Habens (von Beziehungen) zu verbinden: 87  Zur Proliferation von Klassifizierungspraktiken in der Regierungstechnik des späten 17. Jahrhunderts, vgl. den Abschnitt »Die Geduld der Techniken« in Kapitel 12. 88  Um die standesauflösenden Wirkungen der sozialen Nachahmung geht es in Kapitel 14. 89  Theophilus Gale, The court of the gentiles: or a discours touching the original of human literature, both philologie and philosophie, from the scriptures & jewish church, Oxon, 1672, S. 15. 90  S. u., Kap. 13, Abschnitt »Foucaults Renaissance«. 91  S. u., Kap. 13, Abschnitt »Von der Ähnlichkeit zum Unterschied«.

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Bisher basierte die ganze Philosophie auf dem Verb sein, dessen Definition als Stein der Weisen erschien. Man kann zu Recht behaupten, dass viele unfruchtbare Debatten, viel geistiges Füßestampfen hätten vermieden werden können, wenn sie stattdessen auf dem Verb haben begründet worden wäre. Ich bin – von diesem nichtteilbaren Prinzip kann man trotz größter Subtilität keine andere Existenz als die meine deduzieren; daher auch die Negation der äußeren Wirklichkeit. Aber wenn wir das Postulat Ich habe als grundlegende Tatsache an den Anfang stellen, so ist das gehabt und das habend [l’eu et l’ayant] damit untrennbar verbunden.92

Beziehungen des Habens in die Analyse der Unterscheidungen einzubeziehen heißt nichts anderes, als danach zu fragen, was denn genau die Besonderheit oder den Unterschied eines Wesens ausmacht, welche gehabten oder nichtgehabten Beziehungen es definieren. Anstatt lediglich die nackte Existenz eines Dings zu verzeichnen, wird es darum gehen, wie und durch welche Formen des Habens es in der Welt gehalten wird. Unterschiedliche Formen der sozialen Einteilung begründen unterschiedliche Formen des Habens von Beziehungen, von Teilhabe an der Welt: Das Sein unterscheidet sich nach den Weisen und Graden des Habens, es hängt von den Weisen der Trennung und Verbindung ab. So kommt es, wenn man von einem Vorrang des Habens vor dem Seins ausgeht, nicht nur darauf an, dass geteilt wird, sondern wie geteilt wird – und welche Arten von Besitzverhältnissen, von Besessenheiten oder ›Anhänglichkeiten‹93 dabei getrennt oder auch neu gestiftet werden. Dies ist der Grund, warum mimesistheoretische Fragestellungen in diesem Buch eine so herausgehobene Rolle spielen. Die Art des mimetischen Bezugs auf den Anderen gibt den sozialen Teilungsweisen jeweils eine andere Qualität, eine andere Konsistenz oder Färbung: Es macht einen Unterscheid, ob man sich die Bindung von Menschen aneinander im Modus der magischen Anziehung, des geschäftlichen Interesses oder der bürokratischen Einordnung vorstellt; ebenso macht es einen Unterschied, ob die Trennungen als glatter Schnitt oder als mühsames Zerreißen eines dichten Beziehungsgeflechts gedacht werden. So ist es für diese Arbeit auch keineswegs gleichgültig, wie die Verhältnisse der sozialen Einteilung jeweils erfahren und beschrieben werden. Die Unterschiede des Standes und der Klasse werden in sehr verschiedener Weise affektiv besetzt, ihre Kategorisierungen werden von »Furcht, Angst und Ekel« 94 (sowie natürlich einigen anderen Gefühlen) begleitet. Diese affektiven Aufladungen bilden einen kaum zu kalkulierenden Faktor im Geschehen der sozialen Differenzierung; sie bezeichnen 92  Tarde, Monadologie und Soziologie, S. 88. 93  Der Soziologe Antoine Hennion benutzt das Konzept des »attachement«, um die Bin-

dungskräfte des Habens von Beziehungen zu unterstreichen, vgl. Hennion, »Von einer Soziologie der Mediation zu einer Pragmatik der Attachements«, S. 24 – 25. 94  Beverley Skeggs, »Feeling class. Affect and culture in the making of class relations«, in: George Ritzer (Hg.), The Wiley-Blackwell companion to sociology, Oxford, 2011, 269 – 286, S. 269.

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die Stelle, an der die ›Logik‹ der Einteilung am verwundbarsten ist. Von allen mimetischen Kräften halten sich die zwischen den Menschenwesen zirkulierenden Affekte am wenigsten an das Gebot einer geduldigen Reproduktion der sozialen Aufteilungen. Jedes hierarchische System wird daher Mechanismen der Affektkontrolle entwickeln, die die Kräfte der Bindung und Abstoßung im Sinn der bestehenden Teilung zu lenken versuchen. Doch leidet die Steuerungsabsicht unter der prinzipiellen Unberechenbarkeit der Wünsche. Affekte ignorieren Systemgrenzen und Zuständigkeitsbereiche; sie neigen dazu, zwischen den sozialen Gruppen zu springen; sie wirken in unvorhersehbarer Weise ansteckend; und in Fällen großer Erschütterung kann es sogar passieren, dass die kollektive Gefühlsaufwallung das herrschende System der Trennungen suspendiert: Auf den Feldern, so weit das Auge reichte, sah man Menschen von allen Ständen durcheinander liegen, Fürsten und Bettler, Matronen und Bäuerinnen, Staatsbeamte und Tagelöhner, Klosterherren und Klosterfrauen: einander bemitleiden, sich wechselseitig Hülfe reichen, von dem, was sie zur Erhaltung ihres Lebens gerettet haben mochten, freudig mitteilen, als ob das allgemeine Unglück alles, was ihm entronnen war, zu einer Familie gemacht hätte.95

Wie der weitere Verlauf der Kleistschen Erzählung vom Erdbeben in Chili bezeugt, halten solche Zustände der sozialen Sympathie gewöhnlich nicht lange an. Am nächsten Tag tritt die alte Ordnung der Trennung wieder in Kraft – oder eine neue, die mit anderen Ausschlüssen und Herabsetzungen verbunden ist. Doch sollte man nicht denken, dass die Momente des affektiven Überschwangs (wenn die Gefängnisse gestürmt werden und die Revolutionäre auf die Turmuhren schießen) in einer Geschichte der sozialen Differenzierungsformen keine Rolle spielen. Anders als die Systemtheorie glaubt, folgen die Teilungen der Gesellschaft nicht einfach einer inneren Logik der Systemdifferenzierung; es handelt sich um kontingente, geschichtliche Prozesse, in denen die kleinen und großen Ausbrüche der Wut, der Entrüstung und der Sympathie zu ganz unerwarteten Wendungen führen können. Trotz aller Versuche, die soziale Aufteilung sachlich und neutral zu begründen, sie als eine notwendige Konsequenz von ›funktionaler Differenzierung‹ hinzustellen, wird die Frage, wie geteilt wird, stets offen und umkämpft bleiben – was nicht zuletzt daran liegt, dass sie wie kaum eine andere affektiv besetzt ist.

95  Heinrich von Kleist, »Das Erdbeben in Chili«, in: ders., Sämtliche Werke und Briefe. Zweibändige Ausgabe in einem Band, hg. v. Helmut Sembdner, Bd. 2, München, 2001, 144 – 159, S. 152. Vgl. Joseph Vogl, »Einleitung«, in: ders. (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M., 1994, 7 – 27, S. 7.

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DIE ALTE ORDNUNG. ANSICHTEN DER STÄNDEGESELLSCHAFT Der wohl profilierteste Gegenbegriff zu dem der Klassengesellschaft ist der der ›Stände‹- bzw. ›Standesgesellschaft‹. In der neueren geschichtswissenschaftlichen Diskussion hat er die »Kategorie der feudalen Gesellschaft« ersetzt 1 und wird allgemein als »brauchbarer Epochenbegriff für die Zeit von 1300 bis 1800« akzeptiert.2 Dieses Paradigma der ›ständischen Gesellschaft‹ soll im Folgenden näher betrachtet werden. Dabei soll nicht bezweifelt werden, dass sich wesentliche Momente der sozialen Ordnung des Mittelalters und der Frühen Neuzeit zutreffend damit beschreiben lassen. Das kritische Interesse richtet sich eher darauf, wie der Begriff in der Geschichtswissenschaft eingesetzt wurde, nämlich als ein Operator der Trennung, durch den eine neue von einer alten Zeit geschieden wurde. Von der Standesgesellschaft wurde gesprochen, um die eigene, ›moderne‹ Gesellschaft davon abzusetzen, sei es, um ihre Freiheiten zu feiern oder den Verlust von ›Gemeinschaft‹ zu beklagen. Historiographische Konzeptionen von Standesgesellschaft verraten daher unter Umständen mehr über die ideologischen Bedürfnisse der Moderne als über die Realität des mittelalterlichen Europa. Doch kann ihre Untersuchung in anderer Weise ergiebig sein. Die Mythologien der Standesgesellschaft sind selbst ein Teil der Absetzungsbewegung, durch die sich die neuzeitliche Klassengesellschaft von der alten Gesellschaft getrennt hat. Aus ihnen erfährt man vielleicht nicht, wie es in Mittelalter und Früher Neuzeit ›wirklich gewesen‹ ist; dafür aber geben sie einen guten Eindruck davon, wie die klassenförmige Neuaufteilung des Sozialen ihren Unterschied zu der bestehenden Einteilungsweise definierte, wo sie ihre wesentlichen Angriffspunkte fand und auf welchen Wegen sie sich von der alten Ordnung entfernte.

Vom Nutzen der Vormoderne für die Moderne In einer vielzitierten Passage des Kommunistischen Manifests beschreiben Marx und Engels den Beginn bürgerlich-kapitalistischer Herrschaft als einen schroffen Umsturz der gesellschaftlichen Beziehungsformen: 1  Winfried Schulze, »Die ständische Gesellschaft des 16./17. Jahrhunderts und die moderne

historische Forschung«, in: Hans Erich Bödeker und Ernst Hinrichs (Hg.), Alteuropa – Ancien régime – Frühe Neuzeit. Probleme und Methoden der Forschung, Stuttgart-Bad Cannstatt, 1991, 51 – 7 7, S. 51 – 52. 2  Peter Blickle, Unruhen in der ständischen Gesellschaft 1300 – 1800, München, 2012, S. 4.

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Die Bourgeoisie, wo sie zur Herrschaft gekommen, hat alle feudalen, patriarchalischen, idyllischen Verhältnisse zerstört. Sie hat die buntscheckigen Feudalbande, die den Menschen an seinen natürlichen Vorgesetzten knüpften, unbarmherzig zerrissen und kein anderes Band zwischen Mensch und Mensch übriggelassen als das nackte Interesse, als die gefühllose ›bare Zahlung‹.3

Das Neue tritt als Neues hervor, indem es sich vom Alten absetzt. Wenn Marx und Engels das Bild eines pittoresken, »buntscheckigen« und »idyllischen« Mittelalters beschwören, so tun sie das, damit sich die »gefühllose« Welt der »baren Zahlung«, d. h. der kapitalistischen Ausbeutung, umso deutlicher davon abhebt. Um einen ›Bruch‹, ›Einschnitt‹ oder ›Paradigmenwechsel‹, eine ›Revolution‹ oder ›Epochenschwelle‹ als solche hervortreten lassen, muss der Kontrast zwischen dem Alten und dem Neuen maximiert werden. Am Neuen muss alles ignoriert werden, was aus der alten Zeit noch mitgeschleppt wird; umgekehrt muss das Alte älter oder archaischer aussehen, als es jemals war. Zahlreiche Darstellungen zur Geschichte der Frühen Neuzeit beruhen auf einem solchen Binarismus des Vorher/Nachher. Einer übertriebenen Vorstellung von der Wandelbarkeit und Flüssigkeit der Moderne entspricht eine ebenso übertriebene Vorstellung von der Starrheit und Trägheit der alten Gesellschaften. Einer solchen dramatischen Überzeichnung ist auch Niklas Luhmann nicht entgangen, als er im dritten Band seiner Studien zu Gesellschaftsstruktur und Semantik den Übergang von der mittelalterlichen Ständeordnung zur modernen Gesellschaft als »Umstellung […] von gesellschaftlicher Stratifikation auf funktionale Differenzierung« 4 zu fassen versuchte. Dieses »Auswechseln einer Differenzform gegen eine andere« konnte nicht einfach als »Reparatur« der gesellschaftlichen Ordnung beschrieben werden. Es war vielmehr – »im strengen systemtheoretischen Sinne« – als »Katastrophe« zu verstehen.5 Da es Luhmann vor allem darauf ankam, diese Systemkatastrophe greifbar zu machen, hat er sich mit historischen Feinheiten nicht aufgehalten. Das »europäische Mittelalter«, so erklärte er, biete »im großen und ganzen das Bild einer stratifizierten, auf Rangunterschiede aufgebauten Gesellschaft«,6 wobei sich allerdings auch »eine segmentäre Differenzierung nach Familien, Häusern, Herrschafts- und Klientelverhältnissen des Adels erhalten« habe.7 In einer Rezension wies der Mediävist Otto Gerhard Oexle auf die historischen Verkürzungen hin, die Luhmann vornehmen musste, um sein Übergangsmodell funktionieren zu lassen. Die Gesellschaft des Mittelalters sei keineswegs nur »segmentär« oder »stratifi3  4  5  6  7 

Marx u. Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, S. 464. Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik, S. 66. Ebd., S. 7. Ebd., S. 165. Ebd., S. 165 – 166.

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D ie alte O rdnung . A nsichten der S tändegesellschaft

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katorisch« differenziert gewesen; vielmehr habe es mit Gilde, Zunft, Bruderschaft und Kommune schon im Mittelalter zahlreiche Formen der Vereinigung oder Verbrüderung gegeben, die quer zu den Ordnungen von Familie oder Schicht verliefen.8 Wenn die mittelalterliche Gesellschaft »ausschließlich als Ständegesellschaft […] und das heißt: wesentlich als Adelsgesellschaft« dargestellt werde,9 so gerate damit u. a. die außerhalb der Ständeordnung gewachsene Klasse der städtischen Bürger aus dem Blick. Indem Luhmann systematisch die archaischen Aspekte der mittelalterlichen Gesellschaft hervorhebe, schreibe er – so der grundlegende Vorwurf – einen eingespielten »modernen Diskurs über das Mittelalter« fort, »in dem anhand des Mittelalters über die Moderne geredet wird«.10 Tatsächlich laufen Modernisierungserzählungen stets Gefahr, von einer allzu schlichten und archaisierenden Vorstellung der vormodernen Welt auszugehen. Wie der Historiker J. G. A. Pocock kritisiert hat, wird in zahlreichen Geschichten des Übergangs vom Mittelalter zur Neuzeit die »traditionelle Gesellschaft« in selbstverständlicher Weise als »träge und präpolitische Antithese zur ›Modernisierung‹« gefasst.11 Insbesondere das mittelalterliche Ständesystem wird häufig als eine Art symbolische Nullstufe der historischen Entwicklung betrachtet, als Inbegriff einer ›kühlen‹, unbeweglichen Ordnung, die erst durch eine von außen kommende Dynamik in Bewegung versetzt wird. Der Verdacht liegt nahe, dass der Eindruck des Unverrückbaren, Ewigen, der die ständische Ordnung umgibt, wesentlich auf ihre Entgegensetzung zur Flüssigkeit und Wandelbarkeit der Moderne zurückgeht. Was man Standesgesellschaft nennt, wäre dann nicht zuletzt ein Effekt der statuarischen Darstellung, eine Art Standbild-Effekt.

Fremdheit und Vertrautheit Ein verwandtes Problem der historischen Annäherung betrifft die Frage, welchen Grad von Fremdheit oder Nähe wir den mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Gesellschaften zuschreiben müssen oder können. Die marxistische Geschichtsschreibung ist dabei stets von der größtmöglichen Verwandtschaft ausgegangen. Überzeugt davon, dass in jeder Gesellschaft der ökonomische Unterschied den Ausschlag gibt, betrachtete sie die Ständeordnung als ein juridisch kodifiziertes Schema, dessen hierarchische Differenzierungen sich ›in letzter Instanz‹ auf ökonomische Gegensätze zurückführen ließen: »Dies ist der grundlegendste aller Einwände gegen den Begriff der Standesgesellschaften. Ohne Bezug auf Machtunterschiede kann keine Hierarchie existieren; Machtunterschiede, die nichts 8  Vgl. Otto Gerhard Oexle, »Luhmanns Mittelalter«, Rechtshistorisches Journal, Jg. 10, 1991, 53 – 66, S. 62. 9  Ebd., S. 61. 10  Ebd. 11  J. G. A. Pocock, The Machiavellian moment. Florentine political thought and the atlantic republican tradition, Princeton, N. J., 1975, S. 338.

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mit Reichtum zu tun haben, sind völlig unvorstellbar.« 12 Den komplizierten und spitzfindigen Selbstbeschreibungen der alten Gesellschaften wollten marxistische Historiker nicht zu viel Kredit einräumen; sie gingen davon aus, dass es sich dabei um ideologische Konstruktionen handelte, hinter denen mit etwas Mühe die zugrundliegenden Klasseninteressen aufgespürt werden konnten: Natürlich beziehen sich die Schemata des Standes, der Hierarchie und des Grades nicht ausschließlich auf die Produktionsweise, sondern auf reiche und vielstimmige soziale Unterschiede in einer entschieden vormodernen gesellschaftlichen Totalität, in der Fragen der Ökonomie in komplexer Weise mit Fragen der Religion, Alphabetisierung, Kriegsführung, Familienstruktur und Kultur verwoben sind. Aber diese frühneuzeitlichen Schemata der Sozialstruktur würden zusammenbrechen und sinnlos werden, wenn sie nicht zumindest teilweise und sogar, wie ich behaupten würde, in erster Linie Klassenbeziehungen darstellen würden.13

Als Beleg für die begrenzte Wirksamkeit der Ständestruktur führt James Holstun an, dass eine feine Ausdifferenzierung der hierarchischen Unterscheidungen ohnehin nur in den oberen und mittleren Schichten vorgenommen worden sei; die unteren Ränge seien dagegen in der gesellschaftlichen Wahrnehmung »zu einer einzigen Gruppe verschmolzen«, die sich selbst vor allem durch ihren Gegensatz zu den Höherstehenden und Reichen definierte.14 Weil, wie William Doyle zugesteht, »frühneuzeitliche Gesellschaften sich selbst zweifellos in Standesbegriffen beschrieben«, sei es für Historiker »sowohl nützlich als auch legitim, sie unter anderem in diesen Begriffen zu analysieren«.15 »Aber die Stände zu einem ausschließlichen Kriterium zu erheben und damit die Bedeutung der wirtschaftlichen Unterschiede zu leugnen«, führe eher »zu einem Rückschritt als zu einem Fortschritt in unserem Verständnis solcher Gesellschaften«.16 Mehr oder minder explizit geht auf diese Weise die marxistische Analyse davon aus, dass die Gesellschaft der Frühen Neuzeit sich nicht wesentlich von der modernen Gesellschaft unterscheidet; die äußere Verschiedenheit lässt sich jedenfalls erheblich reduzieren, wenn angenommen werden kann, dass es in der einen wie der anderen Ordnung letztlich vor allem um den Gegensatz von Arm und Reich geht. Die radikalste Gegenposition findet sich in den Ansätzen, die von einer irreduziblen Fremdheit, ja geradezu einer »anthropologischen Distanz« zwischen

12  William Doyle, »Myths of order and ordering myths«, in: Michael L. Bush (Hg.), Social

Orders and social classes in Europe since 1500. Studies in social stratification, London, 1992, 218 – 229, S. 221. 13  James Holstun, Ehud’s dagger. Class struggle in the English Revolution, London, 2002, S. 99. 14  Vgl. ebd., S. 100. 15  Doyle, »Myths of order and ordering myths«, S. 224. 16  Ebd., S. 222.

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»uns« und den Menschen der »alten Gesellschaft« ausgehen.17 Ein unerwarteter Abgrund der Fremdheit hat sich beispielsweise vor Michel de Certeau aufgetan, als er die katholische Mystik des 16. und 17. Jahrhunderts untersuchte: »Ich wollte im 17. Jahrhundert nach etwas Ausschau halten, von dem ich annahm, dass es identisch mit dem eines Christen des 20. Jahrhunderts sei.« 18 Dabei wurden ihm jedoch die spirituell entrückten Gläubigen der Frühen Neuzeit »zu ›Wilden‹ in dem Sinn, in dem Levi-Strauss von seinen Bororos oder anderen Gesellschaften spricht«.19 Am deutlichsten traten die Meinungsverschiedenheiten über den Stellenwert des ständischen Ordnungsmusters in einer historiographischen Debatte hervor, die in den 1960er Jahren in Frankreich geführt wurde. Die marxistischen Historiker Ernest Labrousse und Albert Soboul plädierten für eine Klassenanalyse der frühneuzeitlichen Gesellschaft; dagegen opponierte der Historiker Roland Mousnier, der davon ausging, dass die Gesellschaft des Ancien Régime als eine hierarchische société d’ordres beschrieben werden müsse, die mit einer Klassengliederung vollkommen unvereinbar war. Anders als die Marxisten waren Mousnier und seine Gefolgsleute der Überzeugung, dass die hierarchische Verfassung des Ständesystems keineswegs nur die ideologische Bemalung der alten Gesellschaft darstellte, sondern vielmehr deren innere Struktur ausmachte: Labrousse: Nein, die Klassifizierung nach Ständen ist eine rechtliche Klassifikation. Mousnier: Nein! Überhaupt nicht! […] Sie wollen in der Ständegesellschaft nichts anderes als ein rechtliches Konstrukt, eine juridische Maske sehen, aber sie war nichts dergleichen: Es handelte sich um eine Frage des gesellschaftlichen Verhaltens von Gruppen und Individuen, und solches Verhalten fällt unter das Dach des Sozialen, nicht wahr?20

Mousnier, der durch die Sozialstrukturanalysen von Émile Durkheim und Talcott Parsons geprägt war,21 gestand zwar zu, dass in jeder Gesellschaft mehrere Differenzierungsweisen koexistieren können, ging jedoch davon, dass ihr Gesamt17  Vgl. Fanny Cosandey, »À propos des catégories sociales de l’Ancien Régime«, in: dies.

(Hg.), Dire et vivre l’ordre social en France sous l’Ancien Régime, Paris, 2005, 9 – 43, S. 9.

18  Michel de Certeau, Histoire et psychanalyse entre science et fiction, Paris, 2016, S. 220.

Ein Hinweis auf diese Stelle findet sich bei Cosandey, »À propos des catégories sociales de l’Ancien Régime«, 32 – 33, Anm. 1. 19  Certeau, Histoire et psychanalyse entre science et fiction, S. 222. 20  Roland Mousnier, Albert Soboul u. Ernst Labrousse, »Description and measurement in social history. A discussion«, in: Jacques Revel und Lynn Avery Hunt (Hg.), Histories. French constructions of the past, New York, 1995, 147 – 158, S. 152. 21  Vgl. Peter Burke, »The language of orders in early modern Europe«, in: Michael L. Bush (Hg.), Social Orders and social classes in Europe since 1500. Studies in social stratification, London, 1992, 1 – 12, S. 2.

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charakter jeweils durch ein dominantes Teilungsmodell bestimmt werde. Für die Frühe Neuzeit sei dies die Ständeordnung gewesen, die sich in Frankreich bis etwa 1750 unbeschädigt erhalten habe: Sie besteht aus einer Hierarchie von Abstufungen (›Ständen‹ oder ›conditions‹), die sich alle voneinander unterscheiden und die nicht nach dem Reichtum ihrer Mitglieder, ihrer Konsumfähigkeit oder ihrer Rolle im Prozess der Produktion materieller Güter organisiert sind, sondern nach der Wertschätzung, der Ehre und dem Rang, den die Gesellschaft sozialen Funktionen zuschreibt, die überhaupt keine Verbindung mit der Produktion materieller Güter haben müssen.22

Grundsätzlich war Mousnier darauf bedacht, die Ordnung der alten Gesellschaft, die er als »geschlossen« und »offiziell hierarchisiert« charakterisierte, von der Klassengesellschaft abzuheben, die er als eine »offene Gesellschaft« beschrieb, »in der die Individuen frei sind und gleiche Rechte genießen« 23 – wobei seine erklärte Vorliebe der ersten Form galt. Klassen haben für Mousnier nur eine »de facto-, keine de jure-Existenz«;24 ihnen fehlt es an der Verbindlichkeit, die die alte Ordnung auszeichnete: Der Begriff der sozialen Klasse basiert auf der rein faktischen Beobachtung, dass sich eine gewisse Anzahl von Menschen in ähnlicher Weise benimmt und reagiert und bestimmte Grundgedanken teilt, was sich in einigen Fällen mit einem Bewusstsein dieser Ähnlichkeit und praktisch identischer Grundinteressen verbindet.25

Dagegen sei die Standesordnung tief in die gesellschaftlichen Beziehungen eingelassen gewesen. Die juridische Kodifizierung bildete, Mousnier zufolge, nur ihren oberflächlichsten Aspekt; insgesamt war die ständische Ordnung »das Ergebnis eines sozialen Phänomens, nämlich des Verhaltens von Individuen zueinander. Und das kann niemals gesetzlich fixiert werden. Aber in diesem Verhalten haben Sie etwas, das die Beziehungen einer Standesgesellschaft und nicht die einer Klassengesellschaft ausdrückt.« 26 In ähnlicher Weise, allerdings mit Blick auf die Gesellschaft Indiens, hat der französische Anthropologe Louis Dumont die Fremdheit und Andersartigkeit einer ›hierarchischen‹ Vergesellschaftungsweise betont. Ein Beobachter, der durch

22  Roland Mousnier, Social hierarchies. 1450 to the present (1969), London, 1973, S. 23. 23  Roland Mousnier, Jean-Pierre Labatut u. Yves Durand, »Problems of social stratification«,

in: Jacques Revel und Lynn Avery Hunt (Hg.), Histories. French constructions of the past, New York, 1995, 154 – 158, S. 154. 24  Ebd. 25  Ebd. 26  Mousnier, Soboul u. Labrousse, »Description and measurement in social history«, S. 151.

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die Schule der »modernen egalitären Ideologie« 27 gegangen sei, sei »sozusagen unfähig«, eine vom Gedanken der religiösen Reinheit geprägte Ordnung »voll zu erkennen«;28 er setze »Hierarchie« unwillkürlich mit »gesellschaftlicher Schichtung« oder mit »Machthierarchie« gleich. Dies sei aber, so Dumont, »nicht Hierarchie im eigentlichen Sinn, auch nicht die tiefste Wurzel dessen, was man so nennt« 29. Wenn Dumont derart auf der radikalen Andersheit einer hierarchischen, d. h. heiligen Ordnung beharrt, so bezieht er sich auf das indische Kastensystem, dessen Wirklichkeit mit ›soziozentrischen‹ Begriffen wie ›soziale Stratifikation‹30, ›Klasse‹31 oder ›Rassismus‹32 nicht annähernd erfasst werden könne. Die hierarchischen Züge der abendländischen Gesellschaften hat Dumont nicht eigens in den Blick genommen. Wie Peter Burke bemerkt hat, identifizierte Dumont den »Gegensatz von hierarchischen und egalitären Gesellschaften mit dem zwischen Indien und dem Westen, so als ob die privilegierten Stände der Geistlichkeit und des Adels in Europa nicht existiert hätten«.33 Die Historikerin Fanny Cosandey hat dagegen Dumonts Postulat der absoluten Fremdheit und Amodernität auch für die christliche Ständegesellschaft geltend gemacht. Ihrer Auffassung nach ist diese wesentlich vom Gedanken der Hierarchie, d. h. einer heiligen Ordnung geprägt und lässt sich unter Gesichtspunkten der sozialen Schichtung nicht hinreichend verstehen: Der fundamentale Unterschied zwischen den Konzepten der Hierarchie und der ›sozialen Stratifikation‹ kann die Misserfolge erklären, die sich ergeben, wenn man die sozialen Klassifikationen, die spezifisch für die liberalen Gesellschaften von gestern sind, auf die Gesellschaften des Ancien Régime überträgt.34

Cosandey zufolge hat auch der Westen »eine indigene Theorie der Hierarchie entwickelt, und zwar die, die er aus den apokryphen Schriften zog, die dem Dionysius Areopagita zugeschrieben wurden«.35 Gestützt auf die pseudo-dionysische Lehre von der doppelten, d. h. kirchlichen und weltlichen Hierarchie, habe die Kirche bis zur Reformation als »vinculum societatis« funktioniert und »die korporative Integration sichergestellt«. Als »diese Funktion seit dem 17. Jahrhundert auf die 27  Louis M. Dumont, Gesellschaft in Indien. Die Soziologie des Kastenwesens (1966), Wien, 1976, S. 14. 28  Ebd., S. 13. 29  Ebd., S. 34. 30  Vgl. ebd., S. 255. 31  Vgl. ebd. S. 290. 32  Vgl. ebd., S. 255. 33  Peter Burke, History and social theory, Ithaca, NY , 1993, S. 63. 34  Cosandey, »À propos des catégories sociales de l’Ancien Régime«, S. 24. 35  Ebd. Zur Hierarchienlehre des Dionysius Areopagita vgl. Kapitel 13, Abschnitt »Himmlische und weltliche Hierarchie«.

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Monarchie überging«, habe sie diese Aufgabe nur noch »mit einer viel geringeren Integrationskraft« erfüllen können.36 Von den Hierarchie-Theoretikern lässt sich lernen, dass es im Umgang mit den Differenzierungen der alten Gesellschaft darauf ankommt, nicht vorschnell die ›indigenen‹ Unterscheidungen für irrelevant zu erklären und sie auf ein heutiges, soziologisches Vokabular der Schichtung oder Klassifikation zu reduzieren.37 Auch wenn es wohl kaum möglich ist, vergangene Gesellschaften so zu beschreiben, wie sie sich selbst begriffen haben, so sollten zumindest die Hinweise auf eine radikale Unverträglichkeit mit dem heutigen Begriffsraster ernst genommen werden. Eine Annäherung an die Wirklichkeit der Standesgesellschaft sollte den Versuch einschließen, klassifikatorische Beschreibungen, die einer späteren epistemologischen und sozialen Formation entsprechen, soweit es geht, zu vermeiden. Dies betrifft z. B. die Versuche der Sozialgeschichte, durch quantitative, ökonometrische Berechnungen die Klassenstruktur einer Gesellschaft zu offenbaren; es betrifft aber auch die Art, wie die ständischen Differenzierungen beschrieben werden. Anstatt Standesverhältnisse von einem Raster differentieller Merkmale und Positionen aus zu denken (eine Auffassung, die schon so etwas wie eine abstrakte Anordnung, eine Klassifikation impliziert), sollten sie eher so betrachtet werden, wie sie sich den Akteuren der Zeit dargestellt haben, als ein implizites, in den gesellschaftlichen Praktiken verankertes Wissen von der richtigen Verortung und der angemessenen Entfernung, die gegenüber den anderen Mitgliedern der Gesellschaft einzunehmen und einzuhalten sind. Bestimmendes Kriterium wäre dann nicht mehr die (abstrakte) soziale Differenz, sondern die (konkrete) räumliche Distanz; eine Praxeologie der Abstände, die sich gut mit dem Programm einer mediologischen und mimetologischen Beobachtung von Teilungspraktiken in Einklang bringen lässt.38 Zu widersprechen ist den Theoretikern der Hierarchie allerdings, wenn sie die frühneuzeitliche Ständegesellschaft zu einer ganz anderen, ›heiligen‹ Ordnung stilisieren. Dies gilt besonders für den Schauplatz England. Einige der Protagonisten dieses Buchs, wie der Projektemacher William Petty, der Arzt Bernard Mandeville oder der Satiriker Tom Brown, hätten auf die Unterstellung, sie lebten in einer durch und durch von religiösen Bindungen beherrschten Welt, wohl nur geantwortet: ›We have never been so amodern‹.

36  Ebd., S. 28. 37  Nach Cosandey ist es »völlig falsch«, zu sagen: »stratification, like kinship, is a cultural

universal, however various its forms« (sie zitiert eine Äußerung von W. G. Runciman). Dies laufe darauf hinaus, »den etischen Begriff der Klasse dem emischen Begriff der Ordnung zu assimilieren«. Ebd., S. 31. 38  Vgl. die Erläuterungen zu »Medien und Mimesis« in Kap. 6.

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Die Anti-Klassengesellschaft und ihre Reichweite Ihre eindeutigste Bestimmung erfährt die mittelalterliche Gesellschaft durch ihren Gegensatz zur Klassengesellschaft – sowohl der antiken wie auch der modernen. Klassenteilung gehört zum ›Undenkbaren‹ des Mittelalters, nicht im Sinn logischer Denkunmöglichkeit, sondern im Sinn eines Gedankens, den man ›sich nicht erlaubt‹, der keine gesellschaftliche Wirksamkeit erfahren kann, weil er nicht zum Bestand der anerkannten und gewohnten Ideen gehört.39 Die vormoderne Gesellschaft kennt nicht nur kein einheitliches Prinzip der Klassifizierung, sie möchte auch keines kennen. Eine Einteilung der Bürger nach ihrem Einkommen, wie sie in Athen und Rom üblich war, wäre nicht mit der christlichen Lehre zu vereinbaren gewesen, die sich in ihrer »Verurteilung von Besitz und Reichtum«, in der »Schätzung der Armut« und in der »neuen Bewertung der körperlichen Arbeit« radikal von den Wertvorstellungen und hierarchischen Prinzipien der antiken Gesellschaften absetzte.40 So ist am Beginn der christlichen Gemeinschaften durchaus so etwas wie ein antiklassifikatorischer Affekt zu finden, ein Widerwille gegen die Einteilung nach äußerlichen Merkmalen und Kriterien, der sich als unmittelbare Reaktion auf die Klassifikationsleidenschaft der antiken Gesellschaften verstehen lässt.41 Im christlichen Denken erhielt sich diese Abwehr des Klassifizierungsdenkens als ein bestimmender Zug, auch nachdem die anfängliche Ideologie der Gleichheit längst neuen und komplizierten Systemen der gesellschaftlichen Gliederung und Unterordnung gewichen war. So waren die Gesellschaften des Mittelalters stets darauf bedacht, die sozialen Unterschiede nicht auf ein durchsichtiges Klassifikationsprinzip zurückzuführen, sie nicht mit der Willkür eines menschlichen Einteilungsaktes zu verbinden. Die Stellung eines Menschen im sozialen Gefüge sollte nicht aus einem Sortier- oder 39  Zum Begriff des »Undenkbaren« einer Epoche, vgl. Lucien Febvre, Das Problem des Unglaubens im 16. Jahrhundert. Die Religion des Rabelais, Stuttgart, 2002; vgl. auch Philippe Ariès, »Das Geheimnis«, in: ders., Saint-Pierre oder die Süße des Lebens. Versuche der Erinnerung, Berlin, 1994, 22 – 34, S. 27. 40  Otto Gerhard Oexle, »Stand, Klasse [Abschnitte I-VI ]«, in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politischsozialen Sprache in Deutschland, 6: St-Vert, Stuttgart, 2004, 155 – 200, S. 170. 41  Ein solcher antiklassifikatorischer Gestus lässt sich, wie Erich Auerbach gezeigt hat, schon in den neutestamentlichen Erzählungen nachweisen: Zwar finde sich auch hier »die Verwendung griechischer Redefiguren«. »Aber der Geist der Rhetorik, der die Gegenstände nach Arten, genera, einteilte und jedem Gegenstand seine Stilform gleichsam als das ihm seinem Wesen nach zukommende Gewand überwarf, konnte schon deshalb sie nicht beherrschen, weil sich der Gegenstand in keine der bekannten Arten einordnen ließ. Eine Szene wie die Verleugnung des Petrus paßt in kein antikes genus; zu ernst für die Komödie, zu alltäglich- zeitgenössisch für die Tragödie, politisch viel zu unbedeutend für die Geschichtsschreibung – und sie hat eine Form von Unmittelbarkeit bekommen, die es in der antiken Literatur nicht gibt.« Erich Auerbach, Mimesis. Dargestellte Wirklichkeit in der abendländischen Literatur, Tübingen, 2001, S. 48.

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Zählvorgang hervorgehen, sie war ihm vielmehr durch die gottgegebene Ordnung vorgeschrieben. Das Wort ›Stand‹ fasst diese Ideologie der Ortszuweisung bündig zusammen: Das Individuum steht dort, wo Gott es hingestellt hat. Nicht die Eigenschaften, die Leistungen oder der Reichtum des Subjekts entscheiden über seinen Ort in der Hierarchie; es ist vielmehr der vorgegebene Ort, der die Rechte und Verpflichtungen des Individuums festlegt, seine Eigenheiten und Merkmale hervorbringt. Für die Gesellschaften des christlichen Mittelalters war dies eine bindende Vorstellung von sozialer Ordnung. Über die Reichweite des Modells gibt es jedoch verschiedene Auffassungen. Während z. B. Sombart der Meinung war, dass es »das ganze europäische Mittelalter hindurch […] nur Stände, keine Klassen gegeben« habe,42 halten es andere Historiker keineswegs für ausgemacht, dass die Ständeordnung stets und überall die gesamte Gesellschaft umfasste. So hat z. B. der Mediävist Karl Bosl im Hinblick auf die »Zeit bis zum 12. Jahrhundert« vorgeschlagen, auf die vereinheitlichende Rede von den Ständen zu verzichten und stattdessen »von einem Herrenstand, einer Priesterkaste und einer Leibeigenenklasse […] zu sprechen«.43 Auch im Hoch- und Spätmittelalter umgreift die Ständeordnung bei weitem nicht alle Bereiche der Gesellschaft. Ausgeschlossen von den ständischen Privilegien war eine vielfältige Menge von Standeslosen: landlose Arme, Unfreie, umherziehende Bettler und Hausierer, unehelich Geborene, Schauspieler, ›Narren‹, Geächtete, Ketzer, Rechtlose, und Angehörige »unehrlicher Berufe«.44 Juden befanden sich in einer prekären Randstellung. Abhängig von der wirtschaftlichen Lage waren sie entweder vollkommen ausgeschlossen oder partiell (als ›Judenstand‹) in die städtische Ordnung integriert.45 Von »Vollinklusion« 46 lässt sich in Bezug auf die Ständegesellschaft nur reden, wenn damit die vollständige Inklusion ihrer anerkannten Mitglieder in Institutionen wie Haushalt oder Korporation gemeint ist. Eine »Vollinklusion aller Menschen in die Gesellschaft« 47 konnte die Ständeordnung ebensowenig verwirklichen wie die moderne, funktional differenzierte Gesellschaft. Die, die nicht dazu gehörten, hatten in der Ständegliederung buchstäblich keinen Ort. Sie bildeten eigene Subgesellschaften mit anderen Einteilungskriterien; von der Mehrheitsgesellschaft wurden sie nach ganz unständischen, eher ›modern‹ anmutenden Gesichtspunk42  Werner Sombart, Der moderne Kapitalismus. Historisch-systematische Darstellung gesamteuropäischen Wirtschaftslebens von seinen Anfängen bis zur Gegenwart. Zweiter Band, zweiter Halbband (1902), München, Leipzig, 1919, S. 1095. 43  Karl Bosl, »Kasten, Stände, Klassen im mittelalterlichen Deutschland«, in: ders., Die Gesellschaft in der Geschichte des Mittelalters, Göttingen, 1987, 61 – 83, S. 69 – 70. 44  Vgl. Hans-Peter Hasenfratz, Die toten Lebenden. Eine religionsphänomenologische Studie zum sozialen Tod in archaischen Gesellschaften, Leiden, 1982, S. 74 – 76. 45  Eberhard Isenmann, Die deutsche Stadt im Mittelalter 1150 – 1550. Stadtgestalt, Recht, Verfassung, Stadtregiment, Kirche, Gesellschaft, Wirtschaft (2012), Köln, 2014, 153 – 158. 46  Luhmann, Die Gesellschaft der Gesellschaft, S. 836. 47  Ebd., S. 630.

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ten (selbstverschuldete/ unverschuldete Armut; nützliche/ schädliche Fremde) beurteilt. Entgegen dem Anschein gibt es also im Mittelalter keine allumfassende Standesordnung, in der alle Differenzen erfasst und gebunden wären. Vielmehr muss man auch für diese Zeit von einer Gleichzeitigkeit und sogar von einer Konkurrenz verschiedener Differenzierungsprinzipien ausgehen.

Das Bild der Großen Kette Zahlreiche Übergangsgeschichten kontrastieren die Beweglichkeit der neuen, kapitalistischen Gesellschaft mit dem Bild einer statischen, in sich ruhenden Ordnung, in der oben und unten noch klar getrennt waren und in der jeder und jede intuitiv wusste, wo sein oder ihr Platz war. Ein in diesem Zusammenhang häufig aufgerufenes Bild ist das der Great Chain of Being. Auf der Suche nach den Elementarideen (»unit-ideas«) des menschlichen Denkens war der deutsch-amerikanische Historiker Arthur O. Lovejoy auf diesen Ideenkomplex gestoßen, der sich unter wechselnden Namen von der griechischen Antike bis ins 19. Jahrhundert erhalten hatte. Die Vorstellung, dass alles in der Welt – von »den niedersten, gerade noch dem Nichtsein entgangenen Dingen« bis hin zum »ens perfectissimum« 48 – durch eine »große Kette der Wesen« verbunden sei, findet sich, wie Lovejoy nachweist, schon bei Platon und Aristoteles. »In Form eines fertigen metaphysischen Systems« erscheint sie jedoch erst im Neoplatonismus, am deutlichsten in den Emanationslehren von Plotin und Dionysius Areopagita.49 Wie Lovejoy betont, handelt es sich um mehr als nur um einen philosophischen Gedanken. Er spricht von einem »Seinsentwurf«,50 einer kosmologischen Konzeption, die gleichermaßen die Ordnung der Natur wie die der Menschen betrifft. Dabei lässt er keinen Zweifel an dem hierarchischen Charakter dieses ontologischen Modells: »Artunterschiede werden [bei Plotin] notwendig gleichgesetzt mit Unterschieden in der Vortrefflichkeit, mit Rangunterschieden in der Hierarchie des Seins.« 51 Marxistische Kritiker würdigten diesen Hinweis auf die hierarchische Konstruktion der Großen Kette, betrachteten es jedoch als »serious omission«,52 dass Lovejoy nicht nach dem Zusammenhang der ideellen mit den gesellschaftlichen Rangordnungen gefragt habe. Wie der Historiker Charles Trinkaus bemerkte, sei doch das eigentlich Erstaunliche an der Great Chain of Being, dass sie seit ihren Anfängen bei Platon nicht nur »die Struktur 48  Arthur O. Lovejoy, Die große Kette der Wesen. Geschichte eines Gedankens (1936), Frank-

furt a. M., 1993, S. 78. Vgl. ebd., S. 81. Ebd., S. 32. Ebd., S. 84. Charles E. Trinkaus, Ernest Nagel, Arthur O. Lovejoy, u. a., »Four letters on Ernest Nagel’s review of Lovejoy’s ›The great chain of being‹«, Science & Society, Jg. 1, N° 3, 1937, 410 – 416, S. 410. 49  50  51  52 

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der Klassengesellschaft reflektiert«, sondern auch dazu gedient habe, »um die Klassenherrschaft zu rechtfertigen und zu stärken«: »Was geschah, war, dass die himmlische Hierarchie, die als Widerspiegelung der stratifizierten Gesellschaft entstand, eingesetzt wurde, um diese Gesellschaft als die einzige kosmisch mögliche zu rechtfertigen.« 53 Lovejoy selbst wollte nicht ausschließen, dass die kosmologische Ordnung die gesellschaftliche Struktur reflektiere; für eine solche Behauptung fehle es jedoch an »konkreten historischen Beweisen«.54 Auch was die Frage der ideologischen Rechtfertigung anging, war Lovejoy vorsichtig: Er gestand zu, dass »die in der Kosmologie von der Kette der Wesen verankerten Prinzipien als Waffen gegen soziale Unzufriedenheit und vor allem gegen egalitäre Bewegungen« eingesetzt werden konnten.55 Belege für einen solchen apologetischen Einsatz des Begriffs fand er jedoch erst bei den Konservativen des 18. Jahrhunderts. Von einem Zusammenhang der Großen Kette mit der gesellschaftlichen Ordnung des Mittelalters oder der Renaissance ist bei Lovejoy nicht die Rede. Von späteren Autoren wurde Lovejoys Modell jedoch umstandslos auf die Ordnung der Ständegesellschaft übertragen. In dem 1943 erschienenen Buch The Elizabethan World Picture demonstrierte der Literaturwissenschaftler E. M. W. Tillyard die Wirksamkeit der Vorstellung von der Great Chain in den Werken von Shakespeare, Donne und Milton. Für ihn handelte es sich um ein Konzept, das »selbst Elisabethanern von bescheidener Intelligenz« 56 unmittelbar einleuchten musste. Allerdings interessierte er sich nicht für die Verbreitung dieser Vorstellung im Volk. Ihm genügte die Feststellung, dass »der gebildete Kern, der die geläufigen Glaubensinhalte des Elisabethanischen Zeitalters diktierte«,57 daran glaubte. Die Great Chain of Being habe nicht nur als ein kosmologisches Deutungsmuster und poetologisches Organisationsprinzip, sondern auch als verpflichtendes Muster der ständischen Ordnung funktioniert. Es hat wohl mit dem Einfluss von Tillyards Buch zu tun, dass die Große Kette bis heute als »die vielleicht mächtigste und umfassendste Metapher« der Ständegesellschaft beschrieben wird.58 Zu einer kritischen Einschätzung der gesellschaftlichen Wirksamkeit dieser Metapher haben vor allem Vertreter des New Historicism beigetragen. Ihnen zufolge hat das Modell der Great Chain of Being in der Elisabethanischen Zeit schon aufgehört, das Urbild einer stabilen und unangefochtenen Ordnung darzustellen; es habe keineswegs mehr als fragloses und unangefochtenes System der sozialen Ebd., S. 410. Ebd., S. 413. Lovejoy, Die große Kette der Wesen, S. 248. Eustace Mandeville Wetenhall Tillyard, The Elizabethan world picture. A study of the idea of order the age of Shakespeare, Donne and Milton (1942), New York, 1959, S. 12 – 13. 57  Ebd., S. 13. 58  Robert O. Bucholz u. Joseph P. Ward, London. A social and cultural history, 1550 – 1750, Cambridge, 2012, S. 5. 53  54  55  56 

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Verortung funktioniert. Viel eher müsse darin eine mythologische Konstruktion gesehen werden, der angestrengte Versuch, eine bereits ins Wanken geratene Ordnung zu stützen. Tillyard sei der harmonisierenden Selbstbeschreibung der Epoche auf den Leim gegangen sei und habe übersehen, dass das Konzept der Great Chain of Being »fundamentale Widersprüche« aufwies, die es zu einer »Arena des politischen und ideologischen Konflikts« machten.59 Demnach handelt es sich um eine Mystifikation, wenn die englische Ständegesellschaft des 17. oder 18. Jahrhunderts so geschildert wird, als ob der mittelalterliche Seinsentwurf der Großen Kette noch ungebrochene Verbindlichkeit und Wirksamkeit besäße. Dass die Botschaft der Ein- und Unterordnung in Sonntagspredigten und königlichen Proklamationen ständig wiederholt wurde, lässt sich nicht als Beleg für die Stärke des Konzepts nehmen, es kann ebensogut als Zeichen seiner Schwächung verstanden werden. Da die Standesordnung nicht mehr stillschweigend befolgt wurde, musste sie explizit gemacht werden. Was als intuitive Weltbeschreibung begonnen hatte, war zur ideologischen Platzanweisung geworden. In engster Verbindung mit dem Gedankenkomplex der Großen Kette hat sich die Auffassung herausgebildet, dass es sich bei der Standesgesellschaft um eine zwar streng hierarchische, dabei aber ›harmonische‹ Ordnung gehandelt habe – eine Vorstellung, die zu den unvergänglichen Topoi der Modernekritik gehört. Auch Marx und Engels spielen darauf an, wenn sie (natürlich mit ironischem Unterton) von den »idyllischen Verhältnisse[n]« 60 der feudalen und patriarchalen Herrschaft sprechen. Tatsächlich enthält die Metapher der Kette nicht nur die Idee einer hierarchischen Abstufung, sondern zugleich die einer Kontinuität und Kontiguität aller Wesen. Die Große Kette verbindet Gott mit dem geringsten seiner Geschöpfe. Durch sie teilt er sich der Welt mit, und alles in der Welt, steht, wenn auch in vermittelter Form und hierarchischer Abstufung, mit ihm in Kontakt. Zwar wurde die »Logik des Kontinuitätsprinzips«, wie Lovejoy zugesteht, »selten ganz ernst genomme[n]«.61 Zumindest potentiell schloss jedoch das Konzept der Großen Kette die Idee ein, dass jedes Glied »sich von dem unmittelbar über und unter ihm« nur minimal unterschied, dass es von ihm »durch den ›kleinstmöglichen‹ Grad an Verschiedenheit« getrennt war.62 Die Gliederungsweise der Great Chain erscheint damit als unvereinbar mit späteren Ordnungskonzepten, die auf einer exakten Grenzziehung zwischen den zu ordnenden Elementen beruhen. Statt eines Denkens »in klar abgesonderten, sauber definierten Klassenbegriffen« habe man es hier, so Lovejoy, mit »einem Denken in stetigen Übergängen, in 59  Vgl. Jürgen Pieters, Moments of negotiation. The new historicism of Stephen Greenblatt, Amsterdam, 2001, 29 – 31. 60  Marx u. Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, S. 464. 61  Lovejoy, Die große Kette der Wesen, S. 78. 62  Ebd.

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unendlich feinen Abschattungen zwischen den Dingen, in ineinander verzahnten Wesensbegriffen« zu tun. Maßgeblich für die Ontologie der Kette sei nicht die Einteilung in Arten, sondern vielmehr die Einfügung in den »Fluss« bzw. das »universale Ineinander« der Dinge.63 Idealerweise bildet also die hierarchische Ordnung des Mittelalters ein Gewebe feinster Abstufungen, in dem die Differenzen durch Ähnlichkeiten austariert sind und der universelle Zug zur Integration die Momente der Trennung überwiegt. Für den ideologischen Hausgebrauch dürfte allerdings der Aspekt der fließenden Übergänge von nicht allzu großer Bedeutung gewesen sein. Wenn – in Predigten oder Proklamationen – das Instrument der Großen Kette hervorgeholt wurde, so geschah dies nicht, um die Sanftheit der Übergänge zu betonen, sondern um an die Einhaltung der Abstände zu erinnern. Eine soziale Harmonielehre, die dem Gedanken des Übergangs, der Vorstellung sich verwischender Unterschiede oder ungenauer Abgrenzungen größeren Raum bieten würde, wird man zumindest in den offiziellen Selbstrepräsentationen mittelalterlicher oder frühneuzeitlicher Gesellschaften nicht finden. Dass »Ungleichheit« in der ständischen Gesellschaft durchwegs als »ein positiv besetzter Begriff« begriffen wurde 64 – und dass hierarchische Differenzierung tatsächlich mit dem Gedanken der Harmonie verbinden wurde – dürfte weniger daran gelegen haben, dass die Übergänge zwischen den sozialen Positionen so gut ausmoduliert gewesen wären. Es hatte wohl eher mit der instinktiven Verknüpfung von Hierarchie und Sicherheit zu tun. Nur die bereitwillige Ein- und Unterordnung schien ein friedliches Zusammenleben zu garantieren. So lag für Augustinus der »Friede des Staates […] in der geordneten Eintracht der Bürger im Befehlen und Gehorchen«; Ordnung definierte er als diejenige »Verteilung gleicher und ungleicher Dinge, die jedem den gebührenden Platz anweist«.65 Eine Art »Erpressung zur Sicherheit« 66 findet sich also auch am Ursprung der mittelalterlichen Ständehierarchie. In der Rückschau ergibt sich daraus die »beruhigende« Idee einer stabilen Ordnung, in der die Zumutung des Gehorsams durch die Stabilität der Verortung und die Verlässlichkeit der Beziehungen kompensiert war.67 63  Ebd., S. 75. 64  Werner Conze, »Stand, Klasse [Abschnitt VII ]«, in: Otto Brunner, Werner Conze und

Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 6: St-Vert, Stuttgart, 2004, 200 – 217, S. 207. 65  Aurelius Augustinus, Vom Gottesstaat. De civitate dei. Buch 11 bis 22, München, 1991, Buch 19, Kap.13, S. 552. 66  Jean Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod (1976), München, 1982, S. 281. 67  Vgl. Penelope J. Corfield, »Class by name and number in eighteenth-century Britain«, History, Jg. 72, N° 234, 1987, 38 – 61, S. 40: »Belief in catenation was reassuring. It offered a model of an interlinked society, in which all components had an allotted role, of equal importance to the grand design but not necessarily of equal power, wealth, or prominence in terrestrial terms.«

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Ein fast perfektes System Eine Ordnung, in der »jeder Mensch und jedes Ding seinen eigenen göttlich sanktionierten Platz« hat, muss unweigerlich als »relativ statisch« erscheinen.68 Dabei handelt es sich nicht um ein einfaches Fehlen von Dynamik, so als ob die alte Gesellschaft noch nichts von der Möglichkeit der Veränderung erfahren hätte. Vielmehr wird Veränderung aktiv vermieden; die soziale Struktur ist explizit auf Beharrung ausgelegt. In Begriffen wie ›Stand‹, ›état‹, ›estate‹ oder ›station‹ ist die Idee einer bleibenden, ›statischen‹ Ordnung deutlich ausgesprochen: »›Stand‹ (mhd. und mnd. ›stant‹) ist Verbalsubstantiv zu ›stehen‹ und bezeichnet die Handlung, den Ort und die Art des Stehens. Es ist analog gebildet dem lat. ›status‹ (von stare), dem dt. ›stat‹ entspricht.« 69 Standesgliederung und Ordnungsanspruch fallen aber auch schon in der antiken Verwendung des lateinischen Begriffs ›ordo‹ zusammen: Das Wort steht nicht nur für den »Inbegriff der göttlich geschaffenen, wohlgefügten Welt als eines Ganzen«, es bezeichnet auch die »Teile«, d. h. die einzelnen Stände (ordines, ordres oder orders), die das Ganze der Gesellschaft ausmachen. So kann das Prinzip des ›ordo‹ als diejenige Ordnung auftreten, »durch die alles in gutem ›Stande‹ gehalten wurde«.70 Das Ständeschema bildet auf diese Weise nicht einfach eine existierende Ordnung ab. Es ist vielmehr ein Muster zur Herstellung und ein Propagandainstrument zur Aufrechterhaltung einer Ordnung. Dies zeigt sich besonders deutlich am System der trifunktionalen Gliederung, einem alten, schon in der Antike zu findenden Deutungsschema, das die Teilung der Gesellschaft durch den Unterschied der Aufgaben und Zuständigkeiten erklärt. Dieses Modell der Trifunktionalität, das nach Georges Dumézil zur Grundausstattung aller indogermanischen Kulturen gehört,71 wird im europäischen Mittelalter reaktiviert: Die »Unterscheidung jener, die beten, jener, die kämpfen, und jener, die arbeiten (oratores, bellatores, laboratores)«,72 bildet die Grundlage der sich über Jahrhunderte haltenden Rede von den ›drei Ständen‹: Klerus, Adel, Bauern. Georges Duby hat insbesondere auf den in diesem Schema mitformulierten Stabilitätsanspruch hingewiesen: Diese Worte definieren die gesellschaftliche Ordnung – das heißt die politische Ordnung –, das heißt die Ordnung schlechthin. Drei ›Stände‹, drei festgelegte, stabile Kategorien, drei hierarchisch gestaffelte Unterteilungen. […] Die höchste 68  David Rosen u. Aaron Santesso, The watchman in pieces. Surveillance, literature, and liberal personhood, New Haven, 2013, S. 28. 69  Oexle, »Stand, Klasse [Abschnitte I-VI ]«, S. 156. 70  Conze, »Stand, Klasse [Abschnitt VII ]«, S. 200. 71  Vgl. Georges Dumézil, Mythe et épopée I. L’idéologie des trois fonctions dans les épopées des peuples indo-européens (1968), Paris, 1986. 72  Oexle, »Stand, Klasse [Abschnitte I-VI ]«, S. 185 – 186.

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zum Himmel gewandt, die beiden anderen zur Erde, alle drei darum bemüht, den Staat zu unterstützen, wobei die mittlere Ordnung für Sicherheit sorgt, während die untere die beiden anderen ernährt. Drei sich ergänzende Funktionen also. Eine trianguläre Solidarität. Ein Dreieck: eine Basis, eine Spitze, und vor allem jene Ternarität, die auf geheimnisvolle Weise ein Gleichgewichtsgefühl vermittelt.73

Dem geheimnisvollen Charme dieses Gleichgewichtsgefühls konnten sich auch die Ordnungssuchenden des 20. Jahrhunderts nicht entziehen. So betrachtete der englische Kybernetiker und Systemtheoretiker Anthony Wilden die mittelalterliche Gesellschaft, insofern sie Kooperation vor Wettbewerb stellte, als annähernde Verwirklichung einer »steadystate economy«.74 Die feudale Produktionsweise sei zwar nicht weniger ausbeuterisch gewesen als jedes andere »klassenzentrierte System«, sie zielte jedoch nicht auf Profitmaximierung durch lineare Expansion, sondern auf die »Maximierung der Gewissheit durch zyklische Wiederholung«:75 »Die mittelalterliche Wirtschaft, so wie sie zum Beispiel 1416 in den ikonischen Bildern des Stundenbuchs des Herzogs von Berry dargestellt wurde, war ihrem Wesen nach ein homöostatisches System, dessen Fluktuationen sich eher aus der Abfolge der Jahreszeiten ergaben als aus selbsterzeugten Arten von Unordnung.« 76 Im Modell der Great Chain of Being, in den scholastischen Metaphysiken und in seinen theologisch-alchemischen Spekulationen habe das Mittelalter, so Wilden, »eine verehrungswürdige und im Prinzip kybernetische Konstruktion von sozialer und natürlicher Realität« verwirklicht. Im Unterschied zu späteren Steuerungsmodellen beruhe dieses nicht auf dem äußeren Hinzutreten von Kommando und Kontrolle, sondern auf der Wirksamkeit eines systemimmanenten, unlokalisierbaren und allgegenwärtigen Prinzips, das die Theologen mit dem Ausdruck ›Gott‹ belegten: Wenn Gott überall im System ist, dann ist Gott, die letztendliche Bedingung, keine kontrollierende Instanz außerhalb des Systems, wie zum Beispiel ein Haushaltsthermostat. Mit anderen Worten, der primäre Ort von Zwang und Kontrolle in diesem mittelalterlichen System ist genau dort, wo er tatsächlich in allen nichtkonstruierten lebenden Systemen ist: Es sind die strukturellen Beziehungen des Systems selbst.77

73  Georges Duby, Die drei Ordnungen. Das Weltbild des Feudalismus (1978), Frankfurt a. M., 1993, S. 11. 74  Anthony Wilden, »Changing frames of order. Cybernetics and the machina mundi«, in: Klaus Krippendorff (Hg.), Communication and control in society, New York, 1979, 9 – 29, S. 16. 75  Ebd., S. 16 – 17. 76  Ebd., S. 17. 77  Ebd., S. 17 – 18.

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Unter dem Gesichtspunkt der Systemerhaltung erscheint also das ökonomischtheologische Modell der mittelalterlichen Gesellschaft als nahezu perfekt. Erst im 20. Jahrhundert, als die Newtonschen Energiegleichgewichtsmodelle sich als unzureichend erwiesen, sei man dazu gekommen, ein ähnliches Konzept der immanenten Selbststeuerung »wiederzuentdecken« – gemeint ist natürlich die Theorie der autopoietischen Systeme.78

Sehnsucht nach Gemeinschaft Eine der heute herrschenden Vorstellungen von mittelalterlicher Standesgesellschaft hat sich gegen Ende des 18. Jahrhunderts herausgebildet, als sich – im Gefolge Rousseaus – eine neue Form der Gesellschaftskritik zu verbreiten begann. Der neuzeitliche, absolutistische Staat wurde als eine abstrakte, seelenlose Maschine wahrgenommen; der »bürgerlichen Gesellschaft« (d. h. hier: der staatlich verfassten Gesellschaft) wurde vorgeworfen, dass sie die Menschen »nicht vereinigen« könne, »ohne sie zu trennen; nicht trennen, ohne Klüfte zwischen ihnen zu befestigen, ohne Scheidemauern durch sie hin zu ziehen«.79 Gegen die staatliche Vergesellschaftung, die »auf äußerlichen Verbindungen« beruht und »so leicht in bürgerliche Anordnungen ausarten« kann, setzten die Unzufriedenen des Ancien Régime auf eine neue Form der Vereinigung, die auf einem inneren Zusammenhang, »auf dem gemeinschaftlichen Gefühl sympathisierender Geister« beruhen sollte.80 In diesem Zusammenhang erfuhr das zuvor als ›barbarisch‹ oder ›gotisch‹ verworfene Mittelalter eine neue Wertschätzung. In den Texten der katholischen Romantik erschien es als eine »schöne glänzende Zei[t]«, in der die Menschen noch durch ein »großes gemeinschaftliches Interesse« 81 verbunden waren. Die hier wirksame Entgegensetzung der Vergesellschaftungsformen – oberflächliche, durch Vertragsverhältnisse bestimmte Assoziation vs. tiefe, auf persönliche Verpflichtung und territoriale Einheit gegründete Bindung – fand 1877, in Ferdinand Tönnies’ Abhandlung zu Gemeinschaft und Gesellschaft ihre kanonische Formulierung. In der »Gemeinschaft« sind die Menschen »verbunden […] trotz aller Trennungen«; in der »Gesellschaft« bleiben sie hingegen »getrennt […] trotz aller Verbundenheiten«.82 Das Mittelalter, bestimmt durch »Familienleben 78  Ebd., S. 18. 79  Gotthold Ephraim Lessing, »Ernst und Falk. Gespräche für Freimäurer« (1779), in:

ders., Werke [in drei Bänden], Bd. 2: Kritische und philosophische Schriften, München, Zürich, 1995, 1075 – 1109, S. 1086. 80  Ebd., S. 1103. 81  Novalis, »Die Christenheit oder Europa. Ein Fragment, geschrieben im Jahre 1799«, in: ders., Werke, hg. v. Gerhard Schulz, München, 1969, 499 – 518, S. 499. 82  Ferdinand Tönnies, Gemeinschaft und Gesellschaft. Grundbegriffe der reinen Soziologie (1887), Berlin, 1922, S. 39

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und Hauswirtschaft«, wird hier zum paradigmatischen »Zeitalter der Gemeinschaft«.83 Tönnies betont, wie sehr in der ganzen Dorf-Kultur, und auch dem darauf beruhenden Feudalsystem, die Idee der naturgemäßen Verteilung und dieselbe bestimmende und darin beruhende des geheiligten Herkommens, alle Wirklichkeiten des Lebens und ihnen korrespondierende Ideen seiner richtigen und notwendigen Ordnung beherrschen, und wie wenig darin die Begriffe des Tausches und Kaufes, des Vertrages und der Satzung leisten und vermögen.84

Eine solche Entgegensetzung von abstrakten Tauschbeziehungen und konkreten Bindungen bestimmt kurz darauf (1896) auch Georg Simmels Versuch, den »Gegensatz der neueren Zeit […] gegen das Mittelalter« auf eine soziologische »Formel« zu bringen: Im Mittelalter findet sich der Mensch in bindender Zugehörigkeit zu einer Gemeinde oder zu einem Landbesitz, zum Feudalverband oder zur Corporation; seine Persönlichkeit war eingeschmolzen in sachliche oder sociale Interessenkreise, und die letzteren wiederum empfingen ihren Charakter von den Personen, die sie unmittelbar trugen. Diese Einheitlichkeit hat die neuere Zeit zerstört.85

In seinem Buch Der moderne Kapitalismus (1902) übernimmt Werner Sobart die Entgegensetzung von Gemeinschaft und Gesellschaft und identifiziert sie mit dem Gegensatz von Standes- und Klassenordnung: »War der Stand ein organisches Glied einer Volksgemeinschaft, so ist die Klasse ein mechanischer Bestandteil einer Gesellschaft.« 86 Stände sind bei Sombart »auf Lebensgemeinschaft beruhende, in ein Gemeinwesen organisch eingegliederte Großverbände«; Klassen dagegen werden »äußerlich«, »durch gemeinsame Interessen an einem Wirtschaftssystem« zusammengehalten; sie sind lediglich »mechanisch« in die Gesellschaft eingefügt;87 sie entstehen nicht »auf natürliche Weise«, sondern werden »künstlich gemacht«.88 Eine solche Gegenüberstellung von naturwüchsiger, organischer Ständeordnung und künstlicher, mechanischer Klassenordnung findet sich in vielen Varianten des konservativen und völkischen Antikapitalismus der Zwischenkriegszeit. 83  Ebd., S. 248. 84  Ebd., S. 32 – 33. 85  Georg Simmel, »Das Geld in der modernen Cultur« (1896), in: ders., Gesamtausgabe

Band 5. Aufsätze und Abhandlungen 1894 bis 1900, hg. v. Heinz-Jürgen Dahme u. David P. Frisby, Frankfurt a. M., 1992, 178 – 196, S. 178. 86  Sombart, Der moderne Kapitalismus, S. 1093. 87  Ebd., S. 1091. 88  Ebd., S. 1093.

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Der »Abbruch« der Gesellschaft und ihr »Neubau« als (Volks-)Gemeinschaft wird dabei zum politischen Programm. »Der wahre Staat«, den 1920 der Nationalökonom und Vordenker des Austrofaschismus, Othmar Spann, in Aussicht nahm, war ein Ständestaat, in dem der »Grundirrtum« des Individualismus beseitigt sein und »Aufgehobenheit statt Wettbewerbes« herrschen sollte.89 In wieder anderer Weise spielte der österreichische Historiker Otto Brunner die naturwüchsigen Bindungen der alten, ländlichen Welt gegen die mechanischen Beziehungen der staatlich verfassten Gesellschaft aus: Für ihn lag das Prinzip der Zusammengehörigkeit nicht in der rechtlich kodifizierten Stände- oder Zunftordnung, sondern in der patriarchal geführten Wirtschafts- und Schutzgemeinschaft des »herrschaftlichen Hauses«: »Diese Herrengewalt erscheint als Herrschaft, Schutz, Vogtei, Pflege, Munt. Die schirmend bewehrte Hand ist ihr Kennzeichen.« 90 Die hier beschworenen Bilder einer lokalen, familialen, nachbarschaftlichen, persönlichen Form der Vergemeinschaftung entsprechen ungefähr dem, was Niklas Luhmanns wesentlich nüchterner als »Inklusionsindividualität« bezeichnet hat.91 »Alle Gesellschaften vor Beginn der Neuzeit« 92 hätten auf dem »Prinzip der Individualisierung durch Inklusion« 93 beruht: Individuen mußten irgendwo in der Gesellschaft, und das heißt für den Normalfall: in einer Familie oder einem Familienhaushalt verankert sein, um als Individuen zu gelten. Nur so konnten sie eine individuelle, ihrer Eigenart und ihren Verdiensten entsprechende Behandlung verdienen. Individualität wurde durch Inklusion in die Gesellschaft und nur so erreicht.94

Für eine »Individualität im modernen Sinn« habe es dagegen unter den »sozialstrukturellen Bedingungen Alteuropas« keinen »Platz« gegeben.95 In einem auf die Erfüllung von Gemeinplätzen angelegten Kommunikationssystem habe das Individuum nicht als ein »Sachverhalt von Bedeutung« hervortreten können.96 Der Selbstbezug sei der Anpassung an die Verhaltenserwartungen der nächsten sozialen Umgebung untergeordnet gewesen: »Auf eine heute schwer nachvollziehbare Weise war man im Mittelalter übrigens davon ausgegangen, daß der 89  Othmar Spann, Der wahre Staat. Vorlesungen über Abbruch und Neubau der Gesellschaft, gehalten im Sommersemester 1920 an d. Univ. Wien, Leipzig, 1921, S. 66 u. S. 231. 90  Otto Brunner, Land und Herrschaft. Grundfragen der territorialen Verfassungsgeschichte Südostdeutschlands im Mittelalter, Baden bei Wien, 1939, S. 297. 91  Niklas Luhmann, Gesellschaftsstruktur und Semantik. Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Band 3 (1989), Frankfurt a. M., 2012, S. 160. 92  Ebd., S. 347. 93  Ebd., S. 156. 94  Ebd., S. 347. 95  Ebd., S. 173. 96  Ebd., S. 175.

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Fürst (der Hofmann etc.) im Spiegel nicht etwa sich selber sieht, sondern das, was von ihm erwartet wird.« 97 Auch wenn es sich hier um eine stark verallgemeinernde Beschreibung handelt, die nur allzu gut mit der geläufigen Auffassung von der mittelalterlichen »Fesselung« und der neuzeitlichen »Emanzipation« des Individuums übereinstimmt,98 so stellen doch ›Lokalität‹ und ›Einbettung‹ zweifellos wesentliche Merkmale von sozialer Verortung in einer Standesgesellschaft dar. Im Unterschied zu den im 17. Jahrhundert auftauchenden Verfahren der sozialen Klassifizierung, die auf äußerlichen, quantitativ bestimmten Einteilungsakten beruhen, bezeichnet der ›Stand‹ einer Person eine auch juristisch befestigte Position, die bestimmte Rechte und Pflichten mit sich bringt. Es handelt sich nicht um eine Anzeige des relativen Erfolgs innerhalb eines Systems flottierender Wertschätzungen, sondern um die absolute Festlegung des sozialen Orts innerhalb eines Systems genau beschriebener Abhängigkeiten.

Rang und Rangelei Das Bild der Standesgesellschaft scheint also untrennbar mit der Vorstellung einer stabilen, gleichbleibenden Ordnung verbunden zu sein. Diese wird entweder als buchstäblich stillgestellte, gleichsam gefrorene Struktur gedacht, die jede Veränderung ausschließt, oder – wie bei Anthony Wilden zu sehen war – als eine Form der Homöostase, die es dem System erlaubt, im Rahmen einer ›kleinen Ökonomie‹ das Gleichgewicht zu halten und die Struktur der hierarchischen Differenzierung zu reproduzieren. Häufig geht die Vorstellung der Immobilität auch über die Idee der Strukturerhaltung hinaus: Dann wird davon ausgegangen, dass in der mittelalterlichen Gesellschaft auch die Elemente nur sehr eingeschränkt beweglich gewesen seien, d. h. dass soziale Mobilität weitgehend ausgeschlossen gewesen sei. Autoren, die glauben, dass das Modell der Großen Kette der Wesen für den Zusammenhalt der Ständegesellschaft von ausschlaggebender Bedeutung gewesen sei, versäumen nicht darauf hinzuweisen, dass diese Kette in den Augen der Zeitgenossen keinesfalls eine ›Leiter‹ darstellte: »Weil sie Gottes Plan entsprach, weil jeder vom Höchsten Wesen in seinen Rang versetzt wurde, weil alle Autorität von Ihm kam, war es eine schwere Sünde, die Kette anzugreifen, den Vorgesetzten zu widersprechen, oder sogar, wenn auch nur in der Theorie, zu versuchen, zu einem anderen Rang aufzusteigen.« 99 Mit dem Hinweis auf die Great Chain wird zugleich die Möglichkeit ausgeschlossen, dass es in der alten, hierarchisch stratifizierten Gesellschaft so etwas wie ›rank struggle‹, also einen dem Klassenkampf vergleichbaren ›Ständekampf‹ gegeben haben könne: 97  Ebd., 123, Anm. 163. 98  Vgl. Oexle, »Luhmanns Mittelalter«, S. 59. 99  Bucholz u. Ward, London, S. 6.

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Es mag so etwas wie ›Rangbewusstsein‹ gegeben haben, in Form des ›Seineneigenen-Platz-in-der Gesellschaft-Kennens‹ (ob von hoher oder niedriger Geburt). Aber es gab sicherlich keinen begrifflichen Spielraum für ›Rangkampf‹ oder ›Rangkonflikt‹: Das wäre undenkbar gewesen, wie ein Wettstreit zwischen den Speichen eines Rades oder ein Kampf bis auf den Tod zwischen den Sprossen einer Leiter.100

Dies scheint eine allzu große Vereinfachung zu sein: Hält man sich nur an die mittelalterlichen »Tugendlehren, vitae und Standesspiegel«, so kann leicht der Eindruck einer erstarrten Gesellschaft entstehen. Doch nehmen diese Schriften, wie Karl Bosl hervorgehoben hat, »Werden und Wandel nicht wahr, sie sehen nur die Ewigkeit der Ordnungen, die keiner Kritik unterliegen«.101 Die Kodifikationen der Ständeordnung sind keine Abbildungen empirischer Verhältnisse, sondern transzendentale Schemata, normativ-ethische Setzungen, nach denen die Verhältnisse sich richten sollten. So hat auch Georges Duby darauf hingewiesen, dass es sich bei der Schilderung einer Ständehierarchie immer »um ein instituiertes Bild handelt, um jene Idee, die man sich in einem bestimmten Milieu – dem der Schreiber und der Vertreter der Gerichtsbarkeit – von den gesellschaftlichen Verhältnissen machte. Dieses Unterscheidungsraster war insofern zwingend, als es für ebenso unbeweglich gehalten werden konnte, wie das Gesetz es zu sein hatte. Anerkennenswert und anerkannt, weil es dem alten Brauch treu blieb.« 102 In allen Phasen des Mittelalters gab es, den Kodifikationen der Ordnung zum Trotz, eine beträchtliche Mobilität zwischen den Ständen, die sich in den offiziellen Repräsentationen nicht niederschlug. Und es gab Fälle, in denen die Veränderungen nicht mehr ignoriert werden konnten, in denen das Ordnungssystem umgearbeitet werden musste. Ein Beispiel ist das Schicksal des Schemas der Trifunktionalität. Den weltlichen und kirchlichen Bürokraten, die das System »in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts« zu reformulieren und zu aktualisieren versuchten, glitt es bald »aus den Händen«.103 »Angesichts gesellschaftlicher Verhältnisse, die nun endgültig zu komplex wurden, als daß sie leicht durchschaubar, leicht verständlich gewesen wären«, erwies sich das Schema der Dreigliederung als »unbrauchbar«.104 Was sollte man zum Beispiel mit den »Ministerialen« anfangen, einer Art Dienstleistungselite, die sich im Umkreis der großen aristokratischen Häuser herausgebildet hatte und die weder zum Adel noch zu den »Mühseligen«, den einfachen Leuten gerechnet werden konnte: »Sie waren schon zu zahlreich, zu gewichtig geworden, als daß man sie weiterhin mit den bäuerlichen Arbeitern 100  Penelope J. Corfield, »From rank to class. Innovation in Georgian England«, History

Today, N° 37 (2), 1987, 36 – 40, S. 37. Bosl, »Kasten, Stände, Klassen im mittelalterlichen Deutschland«, S. 80. Duby, Die drei Ordnungen, S. 221. Ebd., S. 372. Ebd., S. 362.

101  102  103  104 

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hätte verwechseln können. Man mußte sie absondern, ihnen einen eigenen Platz in jenen imaginären Rastern einräumen, in denen man dachte, um die Vielfalt der sozialen Stellungen durchschaubar zu machen.« 105 So muss die trifunktionale Ordnung bald in eine Vierergliederung überführt werden, die nun auch noch einen neuen Stand, den der »Bürger und Bediensteten« umfasst.106 Mit der Einbeziehung von Bürgern und Kaufleuten wird das »klassisch[e] Dreierschema« 107 nicht einfach nur ausgeweitet; es erfährt eine grundlegende Transformation: Die ›Bürger‹ als eigene Gruppe zu klassifizieren, bedeutete das Zugeständnis, daß das Land nicht mehr alles war, daß es einen anderen, vom Land unterschiedenen gesellschaftlichen Raum mit eigenen Strukturen gab: das urbane Milieu; und daß dort Spezialisten der dritten Funktion zu finden waren, die diese nicht mehr auf die gleiche Art erfüllten; das mußte man berücksichtigen, wollte man die Gesellschaft in Begriffen der Funktionalität analysieren.108

Anders als es die Selbstbeschreibungen der alten Gesellschaft suggerieren, ist die ständische Ordnung keineswegs vollkommen starr und unbewegt; sie passt sich den demographischen Veränderungen und den Verschiebungen in der Machtstruktur an. In ähnlicher Weise wird auch das geläufige Bild von der Unverrückbarkeit der Standespositionen zu befragen sein. Wenn Marx behauptet, dass in der Standesgesellschaft die gesellschaftliche Position eines Menschen als eine »von seiner Individualität unzertrennliche Qualität« betrachtet worden sei, weshalb »ein Adliger […] stets ein Adliger, ein Roturier stets ein Roturier« geblieben sei,109 so entspricht dies vielleicht dem Ideal der alten Ordnung, keineswegs aber ihrer Wirklichkeit. Im Unterschied zur Klassenordnung ist der soziale Ort zwar deutlich und dauerhaft markiert, er muss aber dennoch laufend verteidigt werden. Die Stellung, die ein Individuum oder eine Familie errungen hat, ist nicht für alle Zeiten gesichert; wie die höfischen Zeremonielle drastisch zeigen, muss sie durch eine ständige Rangarbeit, durch permanente Statusaufmerksamkeit erhalten und ausgebaut werden: Rang ist also kein invarianter Schatz, aus dem ein Individuum sich bedienen kann, wo auch immer es ist. Stets schwankend, hängt er von der Funktion ab, die in einer bestimmten Situation anerkannt wird. Für einen Höfling besteht die Schwierigkeit darin, sich nicht unterhalb der Stellung wiederzufinden, die er sonst erwarten dürfte. Kurz gesagt: Sich über die anderen zu erheben, indem er sich vor sie, Ebd., S. 311. Ebd., S. 312. Oexle, »Stand, Klasse [Abschnitte I-VI ]«, 188. Duby, Die drei Ordnungen, S. 312 – 313. Karl Marx u. Friedrich Engels, »Die deutsche Ideologie« (1845 – 1846), in: dies., Werke (MEW ), Bd. 3, Berlin, 1956 ff., 11 – 530, S. 76.

105  106  107  108  109 

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über sie oder an ihre rechte Seite stellt, kraft seines Dienstalters, Rangs oder des Ansehens seines Titels, ist essentiell für die Bewahrung seines sozialen Kapitals. Es ist die Einschreibung in den Raum, durch die sich die Rangeigenschaften der Individuen und Gruppen bemessen.110

So mag das Ideal der ständischen Ordnung im vollkommenen »Immobilismus« bestehen; »die Obsession am richtigen Ort zu sein« sorgt jedoch dafür, dass diese Ordnung nicht zur Ruhe kommt, dass sie ständig von Streitigkeiten durchzogen wird.111 Untergraben wird das Ziel der Bewahrung des Status quo insbesondere dadurch, dass die gesellschaftlichen Akteure in ihren Statuskämpfen »lieber nach oben zielen« als »das Risiko einzugehen, abzustürzen«.112 Angesichts solcher Rangeleien gibt es keinen Grund, warum man nicht von einem ›rank struggle‹ sprechen sollte. Man müsste sich nur davor hüten, die Merkmale des Klassenkampfs darauf zu übertragen. Der Kampf, um den es hier geht, ist nicht ein Kampf zwischen den Ständen oder gar für die Aufhebung der Stände, es handelt sich vielmehr um Positionierungskämpfe innerhalb des ständischen Rahmens, Kämpfe, die das System der hierarchischen Unterordnung eher bestätigen als angreifen. Zudem muss man den lokal begrenzten Charakter dieser Kämpfe berücksichtigen; es handelt sich nicht um eine Auseinandersetzung zwischen entgegengesetzten Polen der Gesellschaft, sondern um Kämpfe mit den unmittelbaren Nachbarn, die die gleiche Position beanspruchen. Eine übergeordnete Frontenbildung ist daher wenig wahrscheinlich. Allerdings sind durchaus Kettenreaktionen vorstellbar, in denen der Kampf um die Plätze sich über mehrerer Rangstufen fortpflanzt: »Nach Art eines Domino-Effekts zieht ein schlecht verkettetes Stück all jene mit, die hinter ihm kommen, und bestimmt damit die Funktionswerte für die zukünftige Anordnung der verschiedenen Teile neu.« 113 Aus ihrer Untersuchung der höfischen Prestigekämpfe hat Fanny Cosandey den Schluss gezogen, dass das gewöhnliche Bild von der Unbeweglichkeit und Starrheit der feudalen und ständischen Hierarchien revidiert werden müsse. Im Unterschied zu einer Klassifikation, in der die sozialen Gruppen »durch klar definierte Demarkationslinien« getrennt seien, bilde die hierarchische Ordnung »ein durch Fluidität gekennzeichnetes System«, in dem alle Elemente der Gruppe wechselseitig »in Funktion der jeweils anderen bestimmt« seien.114 Was das Verfahren der Klassifizierung angeht, so übersieht diese Darstellung, dass dabei zwar die Definitionen rigide sind, die Merkmale jedoch willkürlich gewählt werden 110  111  112  113  114 

Cosandey, Le rang, S. 172 – 173. Ebd., S. 201. Ebd., S. 453. Ebd., S. 462. Ebd., S. 460.

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können – weshalb die soziale Mobilität in einer Klassenordnung doch erheblich größer ist als in einer Ständegesellschaft. Dennoch lohnt es sich, die Idee der »fluidité« aufzugreifen: Anstatt sich die ständische Ordnung als ein starres, unverrückbares Gefüge vorzustellen, kann man sich an das Bild eines breiten Flusses halten, der verschiedene Fließgeschwindigkeiten aufweist: Während an den Rändern der Eindruck einer unendlich langsamen, stagnierenden Bewegung entstehen kann, haben die, die (wie Cosandeys Höflinge) in der Strömung stehen, alle Hände voll zu tun, um nicht unterzugehen oder ihren Platz an einen anderen zu verlieren.

Abschied vom Feudalismus Die zu Beginn dieses Kapitels zitierte Stelle aus dem Kommunistischen Manifest erweckt den Eindruck, als sei die moderne, bürgerliche Herrschaft des Geldes unmittelbar in Konkurrenz zu feudalen, persönlichen Abhängigkeitsbeziehungen getreten. Eine solche unmittelbare Konfrontation ›mittelalterlicher‹ Produktionsverhältnisse mit der neuen Herrschaft des Kapitals hat es in Europa durchaus gegeben, z. B. in den deutschen Ländern östlich der Elbe, wo sich die »feudale Exploitation der leibeigenen Bauern« bis ins 19. Jahrhundert hielt.115 Wo das Feudalprinzip herrschte, war die gesellschaftliche Ordnung stark territorialisiert, d. h. sie war durch lokale Bindungen und persönliche Abhängigkeitsverhältnisse bestimmt: Die Immobilität des Grundeigentums bedingte strikte persönliche Fixierung der Herrschenden wie der Beherrschten an den Boden, in Form von Vasallität, Hörigkeit und Leibeigenschaft. Sie determinierte auf dem Lande, aber auch in der Stadt, eine Sozialordnung rechtlich kodifizierter Zwänge, Bindungen und Abstufungen, die nicht einmal generationsweise austauschbar waren.116

Allerdings beruhte die grundlegende Formel der Vasallität – »Der ›Mann‹ eines anderen Mannes sein« 117 – nicht allein auf Unterwerfung und erpresster Gefolgschaft. Die feudale Ökonomie der Grundherrschaft schloss Momente der Aushandlung und des Ausgleichs mit ein. Lehen und Dienstverpflichtung waren Gegenstand einer vertraglichen Bindung, die auf der Reziprozität der Verpflichtungen beruhte. Wie Marc Bloch gezeigt hat, kann die westeuropäische Vasallität »als Wechselbeziehung auf der Grundlage ungleicher Pflichten« betrachtet werden. Das Ritual der »Huldigung«, das den »Kuss beider Münder« miteinschloss, macht »aus dem Lehnsherrn weniger einen einfachen Gebieter […], der nur dazu 115  Mauke, Die Klassentheorie von Marx und Engels, S. 42. 116  Ebd., S. 43. 117  Marc Bloch, Die Feudalgesellschaft (1939), Stuttgart, 1999, S. 201.

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berufen ist, zu empfangen, sondern den Partner eines echten Vertrages. ›Ebenso‹, schrieb Beaumanoir, ›wie der Mann seinem Herrn Treue und Loyalität aufgrund seiner Huldigung schuldet, genausoviel schuldet der Herr seinem Mann.‹« 118 Solche persönlichen, auf Verpflichtung und Vertrauen beruhenden Verhältnisse unterscheiden sich markant von späteren, kapitalistischen Austauschbeziehungen. Insofern ist es nicht verwunderlich, wenn die bürgerliche Klassenherrschaft immer wieder mit den Verhältnissen der feudalen und patriarchalen Herrschaft konfrontiert wird. Für die in diesem Buch zu betrachtende Entwicklung – England im 17. Jahrhundert – funktioniert diese Gegenüberstellung jedoch nicht. Feudalismus in seiner klassischen Ausprägung, als Ökonomie des Lehens und der Frondienste, existierte in England seit dem späten Mittelalter nicht mehr. Wie der Sozialhistoriker Harold Perkin deutlich gemacht hat, war das England der Frühen Neuzeit im Unterschied zu zahlreichen kontinentaleuropäischen Ländern keine »Kastengesellschaft mit exklusiven, durch Geburt bestimmten Statuskategorien«.119 Das immer wieder applizierte Feudalismus-Etikett sei daher völlig ungeeignet, eine Hierarchie zu beschreiben, »die weder auf militärischen noch auf Arbeitsdiensten beruhte und die durch ein außergewöhnliches Maß an sozialer Mobilität gemildert wurde«.120 Wie in keiner anderen europäischen Gesellschaft hätten es in England die Grundherren verstanden, sich von den Fesseln des Feudalismus zu befreien und ihre als Lehen gegebenen Ländereien in persönlichen, verkäuflichen Besitz zu verwandeln: Beinahe seit der Errichtung des Feudalismus wurde es ihr Hauptziel, seinen Lasten zu entgehen. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts konnten sie das Land nach Belieben erteilen, verkaufen, verpachten oder vermachen, wobei sie lediglich den fiskalischen Belästigungen der Vormundschafts- und Heiratsregeln ausgesetzt waren. Diese Überreste der feudalen Ansprüche, die Gegenstand des gescheiterten Great Contract von 1610 waren, wurden 1645 abgeschafft, und die Abschaffung wurde bei der Restauration bestätigt […].121

Bedingter Besitz (Lehen) wurde in absoluten Besitz (Eigentum) überführt; ehemalige Lehnsherren verwandelten sich in kapitalistisch wirtschaftende Großgrundbesitzer; Gemeindeland, das außerhalb der Lehensökonomie verblieben war, verfiel der privaten Aneignung (die berühmte ›enclosure of the commons‹); von ihrem Land vertriebene Bauern wurden zu Tagelöhnern auf den großen Gütern: Angesichts dieser Entwicklungen lässt sich für das England der Frü118  Ebd., S. 306. 119  Harold James Perkin, The origins of modern English society 1780 – 1880 (1969), London,

New York, 2002, S. 22.

120  Ebd. 121  Ebd., S. 45.

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hen Neuzeit keineswegs von »in erster Linie feudalen Strukturen« 122 sprechen. Schon Anfang des 17. Jahrhunderts war in England, wie Ellen Meiksins Wood und Neal Wood hervorheben, keine »Feudalordnung in irgendeiner greifbaren Bedeutung des Begriffs« mehr zu erkennen.123 Ausgehend von den entwickelten Regionen Süd- und Ostenglands setzte sich bis zum Ende des 17. Jahrhunderts flächendeckend ein System des »agrarian capitalism« durch, das nicht durch das unmittelbare Abhängigkeitsverhältnis von Herr und Vasall, sondern durch eine neue, triadische Struktur von grundbesitzendem Rentier, kapitalistisch wirtschaftendem Pächter und lohnabhängigen Landarbeitern bestimmt war.124

Im Netz der Patronage Was das England des 17. Jahrhunderts angeht, gibt es also den von Marx und Engels beschworenen Kulturschock nicht: Die neue, bürgerliche Klassenherrschaft trifft hier nicht unmittelbar auf die »idyllischen Verhältnisse« der Feudalordnung. Die englischen Aristokraten hatten bereits über mehrere Generationen Gelegenheit, sich von den Verpflichtungen der alten Ordnung zu befreien und zu kapitalistischen Eigentümern und Geldverdienern zu werden. So bildet die hierarchische Ordnung dieser Zeit eine Art Kompromiss zwischen den alten, ›feudalen‹ Gepflogenheiten und dem neuen Diktat der flexiblen Marktbewertung. Harold Perkin hat eine Beschreibung der frühmodernen englischen Gesellschaft gegeben, die sich mit der Hypothese einer feudal-kapitalistischen Hybridformation gut in Einklang bringen lässt. Ihm zufolge gründet sich die hierarchische Ordnung des vorindustriellen England auf »die Zwillingsprinzipien von Eigentum und Patronage«.125 Dabei steht ›property‹ für den ›modernen‹ Aspekt dieser Herrschaftsform. Der Zugang zur regierenden Oberschicht wird nicht mehr allein durch Herkunft, sondern durch das Kriterium des Besitzes geregelt. Wer genügend davon anhäuft, kann umstandslos in die höchsten Positionen gelangen: »Nirgendwo lässt sich dies besser erkennen als in der Verteilung der politischen Macht. Regierung war in der alten Gesellschaft eine Funktion des Eigentums und spiegelte seine Verteilung wider.« 126 ›Landed property‹ bildete die Eigentumsform, die den höchsten Status garantierte, aber auch unterhalb dieser Ebene wurden »Ehre und Macht« nach Graden des Reichtums verteilt – »bis ganz 122  Theodora A. Jankowski, »Class categorization, capitalism, and the problem of ›gentle‹

identity in ›The Royall King and the Loyall Subject‹ and ›Eastward Ho!‹«, Medieval and Renaissance Drama in England, Jg. 19, 2006, 144 – 174, S. 146. 123  Ellen Meiksins Wood u. Neal Wood, A trumpet of sedition. Political theory and the rise of capitalism, 1509 – 1688, New York, 1998, S. 10. 124  Ebd., 16. Zur These des ›Agrarian Capitalism‹, s. o., Kap. 1, Abschnitt »Kapitalismus auf dem Lande«. 125  Perkin, The origins of modern English society 1780 – 1880, S. 32. 126  Ebd., S. 33.

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hinunter zum Cottager auf Gemeindegrund«.127 Gegenüber den Verhältnissen der feudalen Gesellschaft bedeutet dies eine genaue Umkehrung des Verhältnisses von Status und Besitz: Während in der feudalen Gesellschaft das Eigentum, zumindest in der Theorie, dem Status folgte – der Ritter wurde mit seinem Entgelt für einen kriegerischen Dienst entschädigt, den nur er zu erfüllen vermochte; der Leibeigene erhielt sein Land als Gegenleistung für die knechtische Arbeit, für die er niedrig genug war – folgte im postfeudalen England der Status dem Eigentum.128

Doch gehörte es zu den Tücken der postfeudalen Gesellschaft, dass sie sich nicht umstandslos als die Besitzgesellschaft zu erkennen gab, die sie war. Sie präsentierte sich weiterhin als eine Ordnung alten Herkommens – man könnte von einem ›Kapitalismus mit feudalem Antlitz‹ sprechen. Das rückwärtsgewandte Moment dieser Figuration belegt Perkin mit dem Namen ›Patronage‹. Neben dem Kriterium des Besitzes stellte die Fähigkeit zur Protektion, d. h. die Möglichkeit, ›Freunde‹ zu beschützen und zu fördern, den wichtigsten Statusfaktor dar. Gegenüber dem abstrakten Kalkül des Reichtums bildete die Patronage ein Moment des Ausgleichs. In ihr erhielt sich, unter Marktbedingungen, die Erinnerung an die personalisierten Herrschaftsverhältnisse des Feudalismus, bei denen es in vergleichbarer Weise darauf ankam, Beziehungen zu knüpfen und zu erhalten, Treuebeweise zu liefern und von der Gunst des Beschützers zu profitieren. Was heute als ›Korruption‹ verurteilt würde, bildete in der Frühen Neuzeit ein allgemein akzeptiertes Medium der gesellschaftlichen Teilhabe, das sich von der höchsten Ebene der Regierungspatronage bis zu den Gefälligkeiten, Gunstbezeigungen und kalkulierten Ehrerbietungen des gewöhnlichen Lebens erstreckte. In der Patronage hatte die Standesgesellschaft ein effektives Mittel gefunden, um die unzähligen, von ihr hervorgebrachten Hierarchiedifferenzen selektiv zu überbrücken. Während die Große Kette der Wesen nur ein gedankliches Modell des gesellschaftlichen Zusammenhalts darstellte, leisteten die allgegenwärtigen Bänder der »vertical friendship« 129 einen effektiven Beitrag zu seiner Konstruktion. Als »Mittelbegriff zwischen feudaler Huldigung und kapitalistischem Cash-Nexus« 130 knüpfte die Patronage tausende kleiner Fäden der Abhängigkeit, die den Untergebenen an seinen Herrn, den Künstler an seinen Mäzen, den jungen Politiker an seinen erfahrenen Förderer banden:

127  128  129  130 

Ebd., S. 32. Ebd. Ebd., S. 41. Ebd.

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In den Maschen fortwährender Loyalitäten, die äußerlich an den Ämtervergaben erkennbar waren, bringt uns das Patronat sehr nahe an die innere Struktur der alten Gesellschaft heran. Die Hierarchie lag nicht so sehr in der zufälligen Entgegensetzung von Grad zu Grad, Rang zu Rang, Status zu Status, sondern in den permanenten vertikalen Verbindungen, die die Gesellschaft, anstelle von horizontalen Klassensolidaritäten, zusammenhielten.131

Die regierende Elite der Großgrundbesitzer bezeichnet Perkin als eine »open aristocracy«.132 In keiner anderen Gesellschaft der Frühen Neuzeit habe es eine solche soziale Mobilität und eine solche Durchlässigkeit zwischen Bürgertum und Adel gegeben.133 Die Landherren, die sich von den feudalen Verpflichtungen gelöst und ihre Lehen in Privateigentum verwandelt hatten, bezahlten für diese Befreiung »indem sie ihre Reihen für alle öffneten, die die eine notwendige Bedingung erfüllen und den Kaufpreis eines Landgutes aufbringen konnten«.134 Weil die Zahl der großen Güter begrenzt war (und die Zersplitterung durch die Vererbung des gesamten Besitzes an den erstgeborenen Sohn vermieden wurden) erhielt sich eine dauerhafte, durch die Besitzverhältnisse garantierte Hierarchie. Das Personal unterlag dabei jedoch einer ständigen Fluktuation: Zweit- oder drittgeborene Söhne von Großgrundbesitzern konnten in die ›middle ranks‹ absinken, umgekehrt konnten reiche Kaufleute durch den Kauf von Land und Titeln in die höchsten Ränge der Aristokratie aufsteigen. Das so entstehende Fließgleichgewicht von Aufwärts- und Abwärts-Mobilität erwies sich als erstaunlich stabil: Plus ça change, plus c’est la même chose. Das Ergebnis war ein in sich geschlossenes System der sozialen Mobilität, das Form und Struktur der Gesellschaft genau so ließ, wie sie waren, ein ›stationärer Zustand‹, der auf der ruhelosen Bewegung der ihn konstituierenden Atome basierte.135

So lässt sich durchaus so etwas wie ein englischer Sonderweg der kapitalistischen Entwicklung konstatieren: Die ökonomische Modernisierung, die England lange vor der Industriellen Revolution erreicht, vollzieht sich im Kostüm der alten Zeit, »ohne grundlegende Reorganisation der Struktur von Industrie, Handel und Gesellschaft«.136 Auch unter den Bedingungen von Besitzökonomie und kapitalistischer Verwertung bewahrt sich die Gesellschaft über lange Zeit das Aussehen von »buntscheckigen Feudalbanden«.

131  132  133  134  135  136 

Ebd., S. 41. Ebd., S. 47. Ebd., S. 50. Ebd., S. 47. Ebd., S. 51. Ebd.

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Leerlauf der Unterscheidungen So findet sich im England des 16. und 17. Jahrhunderts ein ausgefeiltes System hierarchischer Abstufungen, das noch ganz den Anschein erweckt, als handele es sich um eine uralte und unverrückbare Ordnung. Wie einst in der Feudalzeit bildete der König die Spitze der Pyramide. Unter ihm stand die titled nobility, eine kleine Schicht aus »Herzögen, Markgrafen, Grafen, Vicomtes und Baronen«, die im Jahr 1550 »etwa 60 Familien« umfasste und dabei über etwa fünf bis zehn Prozent des Landbesitzes verfügte.137 Auf diese nobilitas maior folgte die nobilitas minor oder gentry. Ihre etwa 10.000 bis 15.000 »Ritter, Esquires und einfachen Gentlemen« besaßen im Jahr 1550 etwa die Hälfte des Landes.138 Deutlich abgesetzt von dieser Schicht der gentry, die zusammen mit der nobility die regierende Elite bildete, wurde schließlich der Rest der Gesellschaft in eine Stufenfolge gebracht: »führende Bürger und Angehörige der gelehrten Berufe, Großbauern, Bauern, Handwerker, Häusler und Arbeiter, Diener und Arme«.139 Zumindest auf dem Land, wo die Großgrundbesitzer ihre territoriale Verfügungsgewalt und ihre herrschaftliches Auftreten erfolgreich gegen staatliche Regulierungsansprüche verteidigten,140 bildete die Strukturierung nach orders, degrees und qualities bis weit ins 18. Jahrhundert hinein ein selbstverständliches und kaum angreifbares Ordnungsprinzip: »Isoliert, klein und arm, dominiert von den örtlichen Grundbesitzern und Klerikern, ohne Wahl der Konfession, waren diese Gemeinschaften eher hierarchisch und geschlossen.« 141 Neben der starren ländlichen Rangordnung lässt sich jedoch – am deutlichsten in London – eine »entschieden städtisch geprägte Hierarchie« erkennen,142 in der die Aufsteigerschichten der Händler und Handwerker eine entscheidende Rolle spielten. Das hier ausgebildete Einflusssystem, das auf »Reichtum und Leistung« beruhte, war kaum mit der zumindest nominell auf Geburt gegründeten Hierarchie der ländlichen Herrschaft in Einklang bringen.143 Zwar gehorchte auch das städtische Leben strengen Regeln der ständischen Unterordnung, die durch Institutionen wie Kirchengemeinde, Gilde und Haushalt abgesichert wurden. Doch in London, schon im 17. Jahrhundert eine der größten Städte der Welt, konnte sich die alte Ordnung der festgelegten Plätze und vorgeschriebenen Ehrerbietungen nur in 137  Vgl. Bucholz u. Ward, London, S. 5. 138  Ebd. 139  Keith Wrightson, »Estates, degrees, and sorts. Changing perceptions of society in

Tudor and Stuart England«, in: Penelope J. Corfield (Hg.), Language, history and class, Oxford, 1991, 30 – 52, S. 35. 140  Vgl. Perkin, The origins of modern English society 1780 – 1880, S. 55. 141  Bucholz u. Ward, London, S. 4. 142  Jankowski, »Class categorization, capitalism, and the problem of ›gentle‹ identity in ›The Royall King and the Loyall Subject‹ and ›Eastward Ho!‹«, S. 159. 143  Vgl. Bucholz u. Ward, London, S. 8.

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dem vergleichsweisen kleinen Bereich der »walled City« ungebrochen erhalten. Dagegen stellte der expandierende Bereich des »metropolitan London« wohl jenen Ort in England dar, »wo die Große Kette der Wesen am konsequentesten angegriffen wurde und ihr Funktionieren am wenigsten wahrscheinlich war«.144 Mit der Ausdifferenzierung verschiedener hierarchischer Systeme, die jeweils unterschiedliche Weisen der sozialen Verortung, der Distinktion und der Mobilität mit sich brachten, fiel es zunehmend schwer, ein einheitliches gesellschaftliches Unterscheidungsraster festzulegen. Zwei berühmt gewordene Staatsbeschreibungen aus der Regierungszeit Elisabeths zeugen von dieser Schwierigkeit. Sowohl in Sir Thomas Smiths De Republica Anglorum (verfasst in den 1560er Jahren, veröffentlicht 1583) als auch in William Harrisons The Description of England (erschienen 1577) geht es darum, der englischen Gesellschaft ein Bild ihrer selbst zu geben, in dem sie sich als eine harmonische und stimmige Ordnung wiedererkennen kann. Der Versuch, eine Rangfolge zu definieren, bereitet keine Schwierigkeiten, solange es um die Grade des höheren Adels geht. Im unteren Bereich werden jedoch die Abgrenzungen prekär. Ein Herzog ist ein Herzog, aber was einen Gentleman ausmacht und wodurch er sich von einem Bürger abhebt, ist alles andere als gewiss.145 Eine ähnliche Unsicherheit betrifft die Einordnung der neuen, im Zuge von kapitalistischer Aneignung und kolonialer Expansion großgewordenen Berufe, die sich weder im Schema der ländlichen Hierarchie noch in dem der traditionellen städtischen Ständeordnung unterbringen ließen, wie z. B. »Advokaten, Agenten und Handelsgehilfen, Fernhändler, Kaufleute, Geldverleiher, Schiffseigentümer und -pächter usw.« 146 Doch nicht nur die Einordnungen sind unklar, auch die Begrifflichkeit befindet sich im Übergang. Ausdrücke wie ›rank‹, ›order‹ oder ›estate‹ mit ihren »relativ statischen Implikationen« 147 sprechen von dem Versuch, noch einmal an das Modell der »three estates of the common wealth« 148 anzuknüpfen und jeden an seinen vorbestimmten Platz (»ech in his ranke« 149) zu setzen. Doch wird die Immobilität und Dauerhaftigkeit signalisierende Bezeichnung ›estate‹ nur noch gelegentlich gebraucht. Stattdessen tritt der Begriff ›degree‹ hervor,150 der bis dahin fast ausschließlich im universitären Kontext (im heutigen Sinn eines 144  Ebd., S. 7. 145  S. u., Kap. 14. 146  Jankowski, »Class categorization, capitalism, and the problem of ›gentle‹ identity in

›The Royall King and the Loyall Subject‹ and ›Eastward Ho!‹«, S. 146.

147  Corfield, »Class by name and number in eighteenth-century Britain«, S. 47. 148  Smith, Thomas, Sir, De republica Anglorum. The maner of gouernement or policie of the

realme of England, London, 1583, S. 7.

149  Ebd., S. 37. 150  Diese Ersetzung von ›estate‹ durch ›degree‹ kündigt sich an in Formulierungen, die

beide Begriffe enthalten: »according to their estate and degrée« (Ebd., S. 77.).

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›academic degree‹) benutzt worden war. In seiner Description of England geht Harrison auf die »traditionelle dreiteilige Unterscheidung« 151 nur noch insofern ein, als er den kirchlichen Stand in einem eigenen Kapitel abhandelt. Die Schilderung der weltlichen Gesellschaft aber nimmt auf das traditionelle Standesschema keine Rücksicht mehr. Unter der Überschrift »Of the Degrees of People in the Commonwealth of England« unterteilt Harrison das Volk in vier »Sorten« – ein Ausdruck, in dem schon etwas von der Arbitrarität der späteren Klassenteilung anklingt: »WE IN England divide our people commonly into four sorts, as gentlemen, citizens or burgesses, yeomen, and artificers or laborers.« 152 Die Abstufung bezeichnet hier nicht rechtlich definierte Zugehörigkeiten zu Ständen und Korporationen. Die Differenzierung zielt vielmehr darauf, die Grade von Besitz und Macht abzubilden. Von den »gentlemen of the greater sort« sind die mittleren Grade der »knights« und »esquires« zu unterscheiden, darunter stehen, »last of all, they that are simply called gentlemen«.153 Erscheinen auf diese Weise schon die Gentlemen als »divided into their conditions«, so gilt dies nicht weniger für die Bürger, Bauern und einfachen Leute. Die Angehörigen dieser »fourth and last sort of people« sind schlicht dadurch gekennzeichnet, dass sie in der Skala von Macht und Einfluss am weitesten unten stehen: Sie haben »neither voice nor authority in the commonwealth«; ihre Bestimmung ist es »to be ruled and not to rule other«.154 Charakteristisch für das neue Paradigma der Einteilung ist, dass der »Eifer der hierarchischen Einordung« sich nun auch auf diese unterste Stufe der Gesellschaft erstreckt: In einer bisher nicht gekannten Weise wird nun auch »unter dem gewöhnlichen Volk, unter denen die arbeiteten«, die Differenzierung vorangetrieben.155 Im Unterschied zu dem theologisch und moralphilosophisch aufgeladenen Konzept der drei Stände, das mit dem Versprechen einer heilen Welt einherging, kann die elisabethanische Ordnung der degrees als ein von allen Begründungen entleertes Modell der Unterordnung begriffen werden. Die Konzeption der gesellschaftlichen Hierarchie war hier, wie der Historiker Keith Wrightson angemerkt hat, »weniger mit universellen Idealen befasst als mit gegenwärtigen Realitäten, weniger mit Funktion als mit Platz, weniger mit den Differenzen der Berufung und des Berufs als mit den nüchternen Fakten des relativen Wohlstands, des Status und der Macht«.156 Während das Modell der drei Stände ein transzendentales Schema bildete, nach dem die Wirklichkeit sich richten sollte, nahmen Autoren wie Smith und Harrison empirische, in der Gesellschaft vorfindliche Statuslagen 151  Wrightson, »Estates, degrees, and sorts«, S. 33 – 34. 152  William Harrison, The description of England. The classic contemporary account of Tudor

social life, hg. v. Georges Edelen, Washington, D. C., New York, 1994, S. 94. Ebd., S. 94. Ebd., S. 118. Wrightson, »Estates, degrees, and sorts«, S. 41. Ebd., S. 42 – 43.

153  154  155  156 

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und Einteilungsweisen (»WE IN England divide our people…«) zum Ausgangspunkt für die Konstruktion eines normativen Rasters. Dies brachte eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich. Im Unterschied zum Stand, der rechtlich eindeutig definiert und von Geburt an festgelegt war, ging der gesellschaftliche Status eines Individuums (und darum ging es in der Ausdifferenzierung der degrees) aus einem komplizierten »Kalkül aus Eigentum, Privileg, Kleidung, Bildung, Ehre, Pflicht, Wohnort, Beruf, Freundschaft, Schönheit, Stärke und Weisheit« hervor,157 also aus einem heterogenen Gemenge von Zuschreibungen, die sich unablässig veränderten. Bereits hier, so könnte man sagen, wird rank zu einer Frage des ranking, also des ständigen Positionierungskampfes. Eine eindeutige Ordnung ließ sich damit nicht verwirklichen, vielmehr hing die Hierarchie der Wesen von den jeweils gewählten Beurteilungskriterien ab: »Der relative Status ergab sich aus dem Zusammenspiel einer Reihe von Variablen (von denen der Reichtum am wichtigsten war) in einem Prozess der sozialen Bewertung, der weitgehend informell war und blieb.« 158 So hatten die Autoren, die sich um eine Beschreibung der Gesellschaft in degrees bemühten, erhebliche Schwierigkeiten »bei der Festlegung von harten und schnell verfügbaren Kriterien des Status, und sie wurden nicht selten in einen Morast der inneren Inkonsistenz getrieben«.159 Schwerer wog jedoch das Legitimationsproblem, das sich aus dem Verzicht auf eine übergeordnete Begründung ergab. Letztlich gehörte nicht viel dazu, in dem Schema der graduellen Abstufungen eine bloße Abbildung und Fortschreibung der bestehenden gesellschaftlichen Ungleichheiten zu erkennen. Eine zynische, rein tautologische Auskunft – das Schema errichtet die Ordnung, die es darstellt – war natürlich nicht möglich. Daher die krampfhaften Bemühungen, dem Prinzip der graduellen Unterordnung im Nachhinein doch noch eine höhere Dignität zu verleihen, indem man es auf den Plan des »großen Architekten« zurückführte,160 indem man seine »Analogy with the Natural« 161 aufzuzeigen versuchte, oder indem man – in Zeiten der Aufklärung die letzte Rettung – seine pragmatische, zivilisationssichernde Funktion herausstrich: »Distinction of Rank is highly nec157  Steven Wallech, »›Class versus rank‹. The transformation of eighteenth-century English

social terms and theories of production«, Journal of the History of Ideas, Jg. 47, N° 3, 1986, 409, S. 409 – 410. 158  Wrightson, »Estates, degrees, and sorts«, S. 44. 159  Ebd., S. 43. 160  Vgl. Maurice Shelton, anon., An Historical and Critical Essay on the True Rise of Nobility, London, 1718, S. iv–v: »Men and Angels are regularly dispos’d by a Supreme and All-governing Power, there being several Hierarchies or Degrees establish’d in Heaven, as well as upon Earth, for the great Architect of the Universe hath fram’d all things in an incomparable Order, making Vessels of Honour and Dishonour, placing some in a Supereminent Degree, whilst others act in a subordinate Station; all conspiring friendly in an universal Harmony, but distinguishing Order from each other.« 161  Ebd., S. vi.

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essary for the Oeconomy of the World, and was never call’d in question but by Barbarians and Enthusiasts.« 162 Dabei lässt sich gut beobachten, wie das Prinzip der stratifikatorischen Ordnung, während es immer weniger zu überzeugen vermochte, in bemühter Weise weiterhin als selbstverständlichste Sache der Welt präsentiert wurde: »Nothing is more evident, than that wherever Men are united together in Society, they must be distinguished into different Orders«.163 In einer Hinsicht war das Konzept der ›hierarchy of degrees‹ durchaus erfolgreich. Es bildete eine »neue Konvention der sozialen Beschreibung, die die mittelalterliche Theorie der Stände schnell verdrängte und während des 17. Jahrhunderts vorherrschend blieb«.164 Als Versuch »einer sich wandelnden sozialen Realität eine intellektuelle Ordnung aufzuerlegen« hat es dagegen, wie Keith Wrightson bemerkt, nur begrenzten Erfolg gehabt.165 Letztlich sei »die Sprache der degrees« dem »Vokabular des Studiums und des Hofs, des Gelehrten, des Herolds und des Schreibers« verhaftet geblieben. Dagegen gebe es so gut wie keinen Hinweis darauf, »dass sie im Trubel des täglichen Lebens große Wertschätzung genoss«.166 Auch wenn also das Konzept der degrees in erster Linie eine Unterteilung ›auf dem Papier‹ darstellte, bezeichnet es doch einen entscheidenden Umschlagpunkt in der Entwicklung von der Stände- zur Klassengesellschaft. Die gesellschaftliche Stellung wurde nicht mehr als eine selbstverständliche, von Geburt an festgelegte Gegebenheit betrachtet; sie ergab sich vielmehr aus einem Mix vielfältiger, gegeneinander abzuwägender Zuschreibungen. Das Subjekt war nicht mehr einfach Substanz, es fand sich wieder als Integral seiner Akzidenzien. Von hier bis zum modernen Klassenbegriff ist es nur ein kleiner Schritt, ein Schritt der Komplexitätsreduktion. Was jemand ist, wird dann nicht mehr aus einer kaum überblickbaren Vielfalt von Beziehungen und Statuspositionen hervorgehen; es wird sich aus der Zurechnung zu dem einzigen, für die jeweilige Klassifikation als relevant betrachteten Sortierkriterium ergeben: Einkommen in Pfund, Familienstand, Zahl der Kinder, Wehrfähigkeit oder was auch immer. Gegenüber der Unübersichtlichkeit der degrees hatte der klassifikatorische Zugriff den Vorteil der Einfachheit. Es war wohl die Möglichkeit, klare Grenzen zu ziehen und unkomplizierte Zuordnungen zu treffen, die bewirkte, dass das Denken in Klassen schließlich zur Erosion der überkommenen Standesordnung führte, während das Denken in degrees in den ewigen Grübeleien der Statuspflege befangen blieb.

162  Ebd., S. v. 163  James Arbuckle, anon., »Nothing is more evident […]«, The Tribune, N° 13, 1729, 85 – 92,

S. 85.

164  Wrightson, »Estates, degrees, and sorts«, S. 43. 165  Ebd. 166  Ebd., S. 44.

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CLASSIS. ETWAS KLASSENARCHÄOLOGIE Im ersten Teil dieses Buchs stand die theoretische Diskussion im Vordergrund. Es wurde gefragt, was logische Klassifikationen mit sozialen Aufteilungen zu tun haben, und es wurden verschiedene Modelle vorgestellt, anhand derer sich dieser Zusammenhang näher beschreiben lässt. Nach diesen Vorbereitungen soll nun der Versuch einer historischen Rekonstruktion unternommen werden. Am Beispiel Englands soll gezeigt werden, wie sich allmählich, im Lauf des 17. Jahrhunderts, das Prinzip der Klassenteilung in der Welt des Sozialen durchzusetzen begann, und wie sich daraus schließlich, in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die neuartige Wahrnehmung einer in Klassen geteilten Gesellschaft, einer ›Klassengesellschaft‹ ergab. Die folgenden Kapitel beleuchten jeweils einzelne Episoden dieser Geschichte, und sie tun dies in mehr oder minder chronologischer Abfolge: Sie berichten, wie die Erinnerung an die antike Klassenteilung die utopischen Projekte der Bürgerkriegszeit beflügelte,1 wie die Aufteilung des irischen Territoriums das Projekt einer exakten, klassifikatorischen Landesbeschreibung hervorbrachte;2 wie aus der Zählung der Londoner Pesttoten die Politische Arithmetik hervorging und wie sie zu einem Regierungsinstrument wurde,3 wie sich die neuen Verhältnisse der Wahrnehmung von Ähnlichkeit und Unterschied gegen ihre Vorgänger durchzusetzen begannen,4 wie die klassifikatorischen Einteilungsweisen in den ›sozialen Medien‹ um 1700 (Zeitung, Kaffeehaus, Club etc.) Popularität und Evidenz gewannen,5 und schließlich, wie die Frage nach dem Modus der gesellschaftlichen Teilung in den ideologischen Schlachten des frühen 18. Jahrhunderts zu einem wesentlichen Spaltmoment wurde, durch das sich eine ›moderne‹ von einer ›alten‹ Gesellschaft trennte.6 In der geschichtlichen Darstellung gilt die größte Aufmerksamkeit den Techniken, Verfahren und Dispositiven, durch die sich die Klassenteilung im Sozialen effektiv durchgesetzt hat. Darin liegt der wichtigste Unterschied zu früheren Untersuchungen, die sich auf eine Begriffsgeschichte von ›Klasse‹ oder auf eine Ideengeschichte der Klassifikationsweisen beschränkt haben. Doch kann auch dieses Buch nicht umhin, sich zunächst an Begriffe zu halten. Operationen der Teilung verraten sich in einem Vokabular der Teilung. Namen, Begriffe und Diskurse können daher als Indizien genommen werden, als Spuren, die zu den 1  2  3  4  5  6 

S. u., Kap. 9. S. u., Kap. 10. S. u., Kap. 11 und 12. S. u., Kap. 13 und 14. S. u., Kap. 15 und 16. S. u., Kap. 17 bis 20.

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gesuchten Verfahren und Techniken der Klassenteilung führen. Wenn dieses Kapitel nach den Verwendungsweisen des Worts ›Klasse‹ fragt und dabei bis in die Antike zurückgeht, so deshalb, weil bereits die wortgeschichtliche Nachforschung in die Nähe der Prozesse führt, um die es in diesem Buch gehen soll: Abgrenzung, Einteilung, Neuordnung des Sozialen nach äußerlichen, quantitativen Kriterien.

Ein Wort und seine Vorkommnisse Die Frage nach dem ersten Auftritt des gesellschaftlichen Klassenbegriffs lässt sich sehr unterschiedlich beantworten, je nachdem was man darunter versteht. Bei Historikern, die die Vorgeschichte der Arbeiterklasse im Blick haben, findet sich häufig die Behauptung, die Rede von den sozialen Klassen sei kurz vor der Französischen Revolution aufgekommen, als die Widersprüche der aufkommenden Industriegesellschaft nicht mehr zu übersehen gewesen seien. Sehr verbreitet ist die Auffassung, das »Konzept der sozialen ›Klasse‹« sei »ein Produkt der umfassenden wirtschaftlichen und sozialen Veränderungen des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts«.7 Kultur- und begriffsgeschichtliche Arbeiten, wie z. B. die Keywords (1983) von Raymond Williams oder der Artikel »Stand, Klasse« im sechsten Band der Geschichtlichen Grundbegriffe (1990) nennen jedoch wesentlich frühere Verwendungen eines sozialen Klassenbegriffs.8 Sie beziehen sich dabei u. a. auf die zu Beginn des 18. Jahrhunderts entstandenen politischen und sozialreformerischen Schriften Daniel Defoes, die tatsächlich reiche Belege für eine moderne, quasi-soziologische Verwendung des Klassenbegriffs bieten.9 Begriffsgeschichtliche Untersuchungen, die auf dieses Weise das frühe 18. Jahrhundert als einen ersten Schauplatz des modernen Klassendiskurses in den Blick nahmen, legten jedoch zugleich Wert auf die Feststellung, dass man für alles, was zeitlich davor liegt, noch nicht von einem sozialen Klassenbegriff sprechen könne. So sei im 17. Jahrhundert das Wort Klasse zwar bereits im Hinblick auf Menschen gebraucht worden, »aber ohne soziale Implikationen moderner Art«.10 Wenn dieses Buch auf der Suche nach den Ursprüngen des Klassenvokabulars weit ins 17. Jahrhundert zurückgeht, so soll damit nicht behauptet werden, dass die Begriffsgeschichte etwas übersehen habe und dass es schon sehr viel früher einen 7  Asa Briggs, »The language of ›class‹ in early nineteenth-century England«, in: ders. u. John

Saville (Hg.), Essays in labour history 1886 – 1923 in memory of G D H Cole, London, 1967 – 7 1, 43 – 73, S. 43. Ähnlich Perkin, The origins of modern English society 1780 – 1880, S. 22: »Das Wort selbst kam in der zweiten Hälfte des [18.] Jahrhunderts in Gebrauch«. 8  Raymond Williams, Keywords. A vocabulary of culture and society (1976), New York, 1983, S. 61; Werner Conze, Otto Gerhard Oexle u. Rudolf Walther, »Stand, Klasse«, in: Otto Brunner, Werner Conze und Reinhart Koselleck (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, 6 (1990), Stuttgart, 2004, 155 – 284. 9  Defoe als volkstümlicher Propagandist des Prinzips der Klassenteilung wird auch in diesem Buch eine besondere Rolle spielen, vgl. das 18. Kapitel. 10  Williams, Keywords, S. 61.

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entfalteten gesellschaftlichen Klassenbegriff gegeben habe. Viel eher handelt es sich darum, die genealogische Forschung weiterzutreiben und danach zu fragen, wie dieser Klassenbegriff ›zusammengesetzt‹ wurde, wie er allmählich mit den »sozialen Implikationen« angereichert wurde, durch die er schließlich zu einem Operator der gesellschaftlichen Neuaufteilung werden konnte. Um diesen Prozess der Zusammensetzung nachvollziehen zu können, bietet es sich an, zunächst einmal herauszufinden, wie und ich welchen Zusammenhängen der Begriff der Klasse vor 1700 gebraucht wurde, also zu einer Zeit, in der er von seiner späteren Verwendung als sozialer Klassenbegriff noch nichts ahnen konnte. Was heißt also Klasse im 17. Jahrhundert? Frühere wortgeschichtliche Untersuchungen haben sich an das Vorkommen des Begriffs in den Lexika der Zeit gehalten. Heute ist dank der massenhaften Digitalisierung von englischen Druckschriften der Frühen Neuzeit eine wesentlich breitere Suche möglich:11 eine »automatisierte Diskursanalyse«,12 die allerdings, wie schnell zu merken ist, nur herausfinden kann, was gesagt wird, aber nicht, was nicht gesagt wird, und warum es nicht gesagt wird. In Anlehnung an die schon in der Antike gebräuchliche Verwendung des Worts classis für eine Flotte oder Flotteneinheit wird im Französischen und Englischen classe bzw. class verwendet, um unterschiedliche Schiffstypen zu bezeichnen. Der Begriff dient aber auch dazu, Matrosen verschiedener Heuerklasssen zu unterscheiden.13 Ebenfalls auf einen antiken Gebrauch geht die Verwendung des Worts Klasse für einen Jahrgang von Schülern zurück: In Rom wurde das Wort classis seit der Regierungszeit des Augustus als Ausdruck für ›Schulklasse‹ benutzt; in dieser Bedeutung findet es sich seit dem frühen 16. Jahrhundert in den europäischen Sprachen wieder. In England wird classis oder class gebraucht, um ein »ordinary meeting of the Pastors of the Churches neerly neighbouring« zu bezeichnen.14 In dem kirchensprachlichen Ausdruck »Classicall & Synodall Assemblies« bzw. »Classes & Synods« überlebt offenbar etwas von der militärischen Konnotation des Aufgebots, der Heeresversammlung.15 Seit dem späten 16. Jahrhundert wird Klasse als naturgeschichtlicher Einteilungsbegriff gebraucht. Eine frühe Verwendung findet sich in den De plantis libri XVI (1583) des Andreas Cesalpino,16 den Linné später als den »ersten wahren 11  Zu nennen sind vor allem die Webseiten Early English Books Online (EEBO ) (http://

eebo.chadwyck.com/home) und Eighteenth Century Collections Online (ECCO ) (http://gdc. gale.com/products/eighteenth-century-collections-online/), sowie die an der University of Michigan verankerten Projekte EEBO -TCP und ECCO -TCP (TCP für »Text Creation Partnership«), in deren Rahmen ein großer Teil des in EEBO und ECCO gescannten Materials in gründlich korrigierte Volltexte transformiert wurde. 12  Friedrich Kittler, Grammophon, Film, Typewriter, Berlin, 1986, S. 379. 13  Vgl. Herrnstadt, Die Entdeckung der Klassen, S. 105. 14  Robert Baylie, The Pastor’s Care and Dignity, and the People’s Duty, 1645, S. 198 – 199. 15  John Paget, A defence of church-government, London, 1641. 16  Vgl. Walther, »Stand, Klasse [Abschnitte VIII -XVI ]«, S. 220, Anm. 413.

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Systematiker« würdigen wird, dem die »Klarheit und Genauigkeit der botanischen Wissenschaft« zu verdanken sei.17 Aufschlussreich ist die Klassenteilung, die der Universalgelehrte John Johnston seiner 1633 veröffentlichten Thaumatographia naturalis gibt: Wenn hier Naturwunder »in classes decem divisa« sind, so ist damit nicht die Behauptung verbunden, dass solche Klassen in der Natur vorzufinden seien. Die Klassenordnung gibt sich vielmehr als Buchordnung zu erkennen: So ist z. B. nicht von einer Klasse der Vierfüßler die Rede, der entsprechende Abschnitt des Buchs ist vielmehr überschrieben mit »Thaumatographia naturalis, classis septima: In qua Quadrupedum Admiranda«,18 d. h. es geht hier nicht um die siebte Klasse der Welt, sondern um die siebte Klasse der Wunderbeschreibung, die sie enthüllt. Bei Johnston hat ›Klasse‹ die Funktion eines dramaturgischen Schnitts, vergleichbar einem Theatervorhang, der eine Szene von einer anderen trennt. Die gebräuchlichste Ableitung vom Substantiv class ist das Adjektiv classical. Man verwendet es als Bezeichnung für »our best, and most approved Authors«, für diejenigen, die »good credit and authority in the Schools« haben.19 Zugleich zeigt die Bildung neuer Verb- und Adjektivformen an, dass mit dem Begriff auch aktuelle Sortierarbeit geleistet wird. Während Formen wie ›classifier‹ oder ›to classify‹ sowie ›classification‹ erst im 18. Jahrhundert auftauchen, in deutlicher Abhängigkeit von der Verbreitung des Linné’schen Klassifikationsdenkens,20 wird schon im 17. Jahrhundert von einer Tätigkeit des ›Klassierens‹ gesprochen: So begrüßt der Arzt Andrew Brown 1691 die Möglichkeit, Krankheiten nach ihren »Symptomen und Phänomenen« zu ordnen: »to class them under one common Type«.21 Die Krankheiten verdienten es daher, »to be orderly classed up«.22 Früh wird auch schon von »Klassierbarkeit« gesprochen: Im Zusammenhang mit einem Universalsprachenprojekt, das sich ganz im Rahmen der aristotelischen Kategorienlehre bewegt, ist 1653 davon die Rede, dass die Künste, Techniken und Wissenschaften, weil sie »Qualitäten« seien, »prädikativ als Akzidenzien klassierbar« seien – »predicamentally classible under accidents«.23 So lässt sich vorläufig festhalten, dass der Klassenbegriff im 17. Jahrhundert durchaus vorkommt – zwar nicht massenhaft, aber doch in einer breiten Streuung von Bedeutungen und Anwendungen. Dazu gehört jedoch nicht, oder jedenfalls nicht offensichtlich, die systematische Unterscheidung von Menschen nach ihrer 17  Carl von Linné, Linnaeus’ Philosophia Botanica, hg. v. Stephen Freer, Oxford, New York,

2003, S. 31.

18  Jan Johnston, Iohannis Ionstoni Thaumatographia naturalis in classes decem divisa, Ams-

telodami, 1633, S. 335.

19  Thomas Blount, Glossographia: or A dictionary, interpreting all such hard vvords, London,

1656, o. P., Lemma »Classical«. 20  Vgl. z. B. Richard Pulteney, A General View of the Writings of Linnæus, London, 1781. 21  Andrew Brown, A vindicatory Schedule concerning the Cure of Fevers, Edinburgh, 1691, S. 26. 22  Ebd., S. 16 – 17. 23  Thomas Urquhart, Logopandecteision, or An introdvction to the vniversal langvage, London, 1653, o. P. [Preface to the second book].

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Stellung im gesellschaftlichen Gesamtzusammenhang. Als gesellschaftliche Teilungsbegriffe dominieren im 17. Jahrhundert immer noch die Begriffe der mittelalterlichen Ständelehre: im Französischen ›ordre‹ oder ›état, im Deutschen ›Stand‹ oder ›Rang‹, im Englischen ›order‹, ›rank‹, ›station‹ oder ›estate‹. Während diese Begriffe die aktuelle, sozusagen die lebende Ordnung des Sozialen beschreiben, scheint es für die Verwendung des Worts ›Klasse‹ eine Art unausgesprochener Etikette zu geben, die vorschreibt, dass man es – abgesehen von eingeführten Verwendungen wie z. B. ›Schulklasse‹ – nur zur Sortierung toter, lebloser oder jedenfalls unbeseelter Dinge heranzieht. Wenn der Begriff dennoch auf Menschen angewendet wird, so liegt darin eine Herabsetzung; man wird daher niemals die eigene Gruppe als Klasse bezeichnen, sondern allenfalls die der Anderen. Charakteristisch ist in diesem Sinn die frühe Verwendung des Worts bei dem spanischen Jesuiten José de Acosta, der sich 1588 darum bemüht, die Ureinwohner Amerikas nach dem Grad ihrer Missionierbarkeit zu unterscheiden. Er spricht von »classes […] barbarorum« 24 – eine Wortwahl, in sich deutlich der Gestus der naturkundlichen Einteilung verrät und die er in Bezug auf seinesgleichen vermutlich vermieden hätte. Wer den Begriff dagegen auf seine näheren Mitmenschen anwendet, lässt damit eine gewisse Anmaßung erkennen, eine Vermessenheit, die darin besteht, den anderen einzuordnen und als Sortiergut zu behandeln. Wenn beispielsweise in einer Eucharistie-Diskussion aus dem Jahr 1687 erwähnt wird, dass es in Bezug auf den Empfang des Abendmahls »two sorts or Classes of People« gebe, nämlich solche, die Brot und Wein nur »sacramentally« entgegennehmen, und solche, die dies auch »spiritually« tun,25 dann liegt in dieser Unterteilung der Gläubigen in Sorten oder Klassen zumindest eine laxe Redeweise, wenn es nicht den Charakter einer kalkulierten Unverschämtheit hat – ein polemisches Potential der Klassenrede, auf das später noch zurückzukommen sein wird.26 So wie es also etwas Ungehöriges hat, den Klassenbegriff zur Sortierung von Menschen zu verwenden, so scheint ein symmetrisches Tabu für die Teilungsbegriffe der gesellschaftlichen Standesordnung zu gelten: ›Ordre‹ oder ›order‹ bezeichnen nur ausnahmsweise eine Ordnung von Dingen;27 der Begriff ist reserviert für die vertikale Hierarchisierung von Menschen. Als Ausdruck für eine von Gott geschaffene und vom Menschen nicht zu verändernde Einrichtung der Welt, verträgt sich der Begriff der ›Ordnung‹ nicht mit dem der Klassengliederung,

24  Vgl. José de Acosta, »De promulgatione evangelii apud Barbaros« (1588), in: ders., De Natvra Novi Orbis Libri Dvo, Colonia Agrippina, 1596, 99 – 581, S. 108. 25  John Gother, An Answer to A discourse against Transubstantiation, London, 1687, S. 20 – 21. 26  S. u., Kap. 20, Abschnitt »Deklassierte und Klassizisten«. 27  Die Ausnahme betrifft die Baukunst, wo man von »architektonischen Ordnungen« spricht, vgl. Marie-France Piguet, »Réduire en classes/ être divisés en ordres. Les sources françaises du mot classe au 18e siècle«, Mots, N° Vol. 17, Numéro 1, 1988, 43 – 69, S. 46.

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der stets die Konnotation einer willkürlichen Einteilung nach veränderlichen menschlichen Kriterien enthält.

Zwei Diskursstränge Wenn, wie die Forschung sagt, ›Klasse‹ im 17. Jahrhundert »ein sozial indifferenter, formaler Einteilungsbegriff« blieb,28 wie konnte daraus der alles andere als sozial indifferente, vielmehr gesellschaftliche Differenz markierende und Parteinahme erzwingende Klassenbegriff des 18. und 19. Jahrhunderts entstehen? Eine geläufige Erklärung lautet, dass die Idee der sozialen Klasse auf einen Vorgang der Übersetzung zurückgeht: Der Klassenbegriff, der sich als naturwissenschaftlicher Einteilungsbegriff bewährt hatte, wurde Zug um Zug aufs Soziale übertragen. Die deutlichste Formulierung dieser Hypothese findet sich bei dem marxistischen Historiker Rudolf Herrnstadt. Er geht davon aus, dass »fortschrittliche Bürger den Begriff Klasse in die Naturwissenschaften eingeführt« und ihn »zu einem legitimen wissenschaftlichen Teilungsbegriff« gemacht hätten. Als Instrument einer wissenschaftlichen Neuordnung der Welt habe der Begriff geradezu »erregend, anspornend« gewirkt; in ihm habe sich »das Moderne, Aggressive« ausgedrückt, um das es den Protagonisten der Aufklärung ging: »das Vorstoßen in die Bereiche des exakten Wissens, das Handeln nach den Gesetzen des Diesseits, die Verbindung mit der Praxis, den sicheren Weg zum kapitalistischen Profit.« 29 »Von hier aus«, so Herrnstadt, »erscheint es nur natürlich, daß die Bourgeoisie auf einer bestimmten Stufe ihrer Entwicklung den naturwissenschaftlichen Begriff Klasse auf die Gesellschaft übertrug.« 30 Mary Poovey zeichnet in ihrem Aufsatz »The social constitution of ›class‹« ein differenzierteres Bild von neuzeitlicher Wissenschaft, aber auch ihrer Darstellung zufolge geht die Durchsetzung sozialer Klassifizierungsweisen auf das »classificatory thinking« des 17. Jahrhunderts zurück, genauer gesagt, auf die spezifische epistemische Konfiguration der wissenschaftlichen Revolution, in der eine rationalistisch-taxonomischer Darstellungsschematismus mit einer empirisch-praktischen Technik der Quantifizierung zusammenkam.31 Es lohnt sich hervorzuheben, dass der ›Erfolg‹ dieser Übersetzung des Klassenbegriffs von ›Natur‹ in ›Gesellschaft‹ vor allem damit zu tun hatte, dass das Prinzip ›Klasse‹ in diesem Diskurs als etwas Neues, noch nicht Dagewesenes präsentiert wurde. Der Klassenbegriff konnte als universelles Teilungswerkzeug Karriere machen, weil er als ein neuer, historisch nicht belasteter Begriff auftrat. Er konnte sich als ein neues, unverbrauchtes, gesellschaftlich noch nicht besetztes Einteilungsprinzip zur Geltung bringen. Die ›Ideologie‹ des Klassenbegriffs lag 28  29  30  31 

Conze, »Stand, Klasse [Abschnitt VII ]«, S. 218. Herrnstadt, Die Entdeckung der Klassen, S. 104. Ebd., S. 104. Vgl. Poovey, »The social constitution of ›class‹«.

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genau darin, sich als ein Instrument darzustellen, das gleichsam in der Natur selbst vorgefunden werden konnte, von der Geschichte nicht kontaminiert. So neigten die Politischen Arithmetiker, die das Prinzip der wissenschaftlichen Klassifizierung auf die menschlichen Angelegenheiten übertrugen, wie von selbst dazu, die Neutralität und Ahistorizität des Begriffs hervorzuheben. Jede Erinnerung an die ältere Geschichte des Klassenbegriffs (die, wie in den nächsten Abschnitten zu sehen sein wird, zuerst und vor allem eine Geschichte der sozialen Teilung war) wäre ihnen ungelegen gekommen; ihre Idee einer wissenschaftlichen Reorganisation des Sozialen verband sich mit der Vorstellung, auf ein übergeschichtliches, nicht von menschlichen »Minds, Opinions, Appetites, and Passions« abhängiges Einteilungsinstrument zurückgreifen zu können.32 Die Durchsetzung des Klassenbegriffs in der Moderne lässt sich auf diese Weise zumindest zum Teil auf ein gezieltes und gründliches Vergessen zurückführen: Die ›Klasse‹ konnte zum herrschenden Unterscheidungsprinzip werden, weil sie ihre ganze Vorgeschichte von sich abstreifte und sich allein als ein Kind des neuen wissenschaftlichen Geistes präsentierte. Eine solche Genealogie des gesellschaftlichen Klassendenkens aus den Verfahren der wissenschaftlichen Klassifikation erscheint als vollkommen einleuchtend. In Kapitel 12 soll in genau dieser Weise argumentiert und gezeigt werden, wie ein klassifikatorisches Erkenntnisprogramm, nämlich das der Politischen Arithmetik, daran mitgewirkt hat, die Evidenz einer in Klassen geteilten Gesellschaft hervorzubringen. Die Übersetzung des klassifikatorischen Prinzips von der Naturbeschreibung in die Gesellschaftsbeschreibung stellte zweifellos ein äußerst effektives Manöver dar, das nachhaltig die Konfiguration des gesellschaftlichen Klassenbegriffs bestimmte. Und nicht zuletzt hat die Erklärung das Gefühl der Stimmigkeit auf ihrer Seite: Es erscheint als schlüssig, dass die moderne Klassenteilung selbst aus etwas ›Modernem‹, nämlich dem Prinzip der wissenschaftlichen Klassifikation hervorgegangen ist. Doch muss man hinzufügen, dass dies nur die halbe Wahrheit ist. Zur Vorgeschichte der modernen Klassenteilung gehört ein zweiter Diskursstrang, der weit weniger ›modern‹ wirkt. Die frühneuzeitliche Konjunktur des Klassenbegriffs verdankt sich nicht allein dem Vorbild der neuesten Wissenschaften; sie hat auch mit einem gezielten Rekurs auf die älteste Geschichte zu tun. Noch bevor die Politischen Arithmetiker sich daran machten, die in der Naturerkenntnis erprobten Klassifikationstechniken auf politische Körper anzuwenden, wurde der Klassenbegriff bereits in anderer Weise in den politischen Diskurs eingespeist. Schon in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts, vor allem aber zur Zeit des Englischen Bürgerkriegs, machten einige politische Autoren den Versuch, den 32  William Petty, »Political Arithmetick« (1690), in: ders., The Economic writings of Sir William Petty, Vol. 1. Together with the Observations upon the bills of mortality more probably by Captain John Graunt, hg. v. Charles Henry Hull, Cambridge, 1899, 233 – 313, S. 244.

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Klassenbegriff der Antike zu reaktivieren und ihm eine aktuelle gesellschaftliche Bedeutung zu geben. Der in diesem Zusammenhang propagierte Klassenbegriff präsentierte sich nicht als ein historisch unschuldiges Einteilungsinstrument; er bezog seine Wirkungsmacht gerade aus der Anrufung der Vergangenheit, aus der Beschwörung der antiken Verhältnisse, die er auf die Gegenwart zu übertragen versuchte. Die Rede von der Klasse beanspruchte in diesem Fall nicht, einen gesellschaftlich indifferenten Einteilungsbegriff gefunden zu haben; sie spielte vielmehr ganz bewusst mit der Idee einer radikalen, handstreichartigen Neuaufteilung des Sozialen. Es war die Idee eines mit aller Macht durchgesetzten Teilungsakts, einer grundlegenden Neuordnung, die diese Art des Klassendiskurses für die sozialutopischen Entwürfe des 17. Jahrhunderts attraktiv machte. Anders als die Erzählung von der Geburt der Klasse aus dem Geist der wissenschaftlichen Revolution hat die zweite, ›amoderne‹ Abstammungslinie des Klassenbegriffs in der Forschung bisher kaum Beachtung gefunden. Sie soll im nächsten Kapitel genauer verfolgt werden. Um zu verstehen, wie dieser antikennostalgische Diskurs funktionierte, soll hier aber zunächst geklärt werden, was die Antike überhaupt dazu geeignet machte, der modernen Klassengesellschaft Modell zu stehen.

Der Nomos der Klasse Was verbindet die antike mit der modernen Gesellschaft? Auf die Frage lässt sich eine einfache Antwort geben: Beide lassen sich als Klassengesellschaften bezeichnen. Während die Historiker in vielen Fällen Schwierigkeiten hatten, das marxistische Interpretationsraster von Klasse und Klassenkampf auf vorindustrielle Gesellschaften anzuwenden, schienen die Begriffe im Fall des griechischen und römischen Altertums nur zu gut zu passen. So konnte Max Weber behaupten, dass die Antike »[f]ür den Kampf der Deklassierten gegen die Besitzenden […] die Hauptbeispiele« biete, »ebenso für den Gegensatz: Gläubiger – Schuldner, und: Bodenrentner – Deklassierter«.33 Und Michael Mann erklärte in seiner Geschichte der Macht: »Das klassische Griechenland ist die erste historische Gesellschaft, in der wir den Klassenkampf als ein dauerhaftes Merkmal von sozialem Leben deutlich ausmachen können.« 34 Der marxistische Historiker G. E. M. de Ste. Croix schließlich war von der Wirksamkeit des Klassenkampfs in der Antike so überzeugt, dass er ihn zum fundamentalen Erklärungsprinzip der griechischen und römischen Gesellschaft erhob.35 33  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 224 – 225. 34  Michael Mann, Geschichte der Macht. Bd. 1. Von den Anfängen bis zur griechischen Antike,

Frankfurt a. M., New York, 1994, S. 350. 35  Vgl. insbesondere Sainte Croix’ Zurückweisung alternativer Beschreibungsweisen im Abschnitt »Alternatives to class (status etc.)«, Sainte Croix, The class struggle in the ancient Greek world, S. 81 – 98.

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Schwierigkeiten gab es allerdings mit Marx’ These von der Sklaverei als dem fundamentalen Produktionsmodus der antiken Gesellschaft. Dieser ließ sich entgegenhalten, dass es nicht überall Sklaverei gab und dass sie in Griechenland erst spät zur dominanten Produktionsweise wurde. Entscheidender ist ein von Jean-Pierre Vernant gemachter Einwand: Die Sklaven bildeten nicht nur keine Klasse im Marx’schen Sinn (denn selbst wenn sie gegen ihre Unterdrücker siegten, würde sich dadurch nicht die Produktionsweise ändern), sie bildeten vielmehr überhaupt keine Klasse.36 Reduziert auf den Status von »lebendigen Werkzeugen« (Aristoteles) waren sie ausgeschlossen von den Klassenkämpfen, die sich im Innern der Gesellschaft vollzogen.37 Eine Abweichung vom Marx’schen Schema ergab sich auch durch die Vielfalt der Klassenverhältnisse im archaischen und klassischen Griechenland. Diese waren nicht einfach ökonomisch bestimmt; sie waren überdeterminiert durch die Abstammung, den rechtlichen Status etc.38 Und auch die Art der ökonomischen Determinierung entsprach kaum der Marx’schen Theorie: Die Klassenlage wurde nicht so sehr durch die Stellung im Produktionssystem determiniert, sondern durch das wandelbare Kriterium des Besitzes.39 Armut oder Reichtum, das war das wesentliche Kriterium der gesellschaftlichen Rangordnung, denn politische Beteiligung hing davon ab, dass man genügend Besitz hatte, um nicht selbst arbeiten zu müssen. »Deshalb können Handwerker und Bauern ebensowenig Bürger sein, wie Barbaren oder Sklaven dies sein können, und deshalb sind Besitz-Klassen zugleich politische Klassen.« 40 Aber die antiken Gesellschaften können nicht nur deshalb als Klassengesellschaften beschrieben werden, weil es Klassen und Klassenkampf gab, oder weil die Bürger sich selbst und die anderen ständig klassifizierten und dabei mit vielfältigen, schmeichelhaften und unschmeichelhaften Namen belegten.41 Für die Form der politischen Antikennachahmung, um die es hier gehen soll, ist vielmehr entscheidend, dass sich sowohl in Sparta als auch in Athen und Rom herausragende, teils mythische, teils geschichtlich dokumentierte Szenen finden lassen, in denen sich die Idee einer Neugründung der Gesellschaft mit der einer klassifikatorischen Neuaufteilung von Land und Leuten verbindet. Von Lykurg, dem legendären Gesetzgeber Spartas,42 wird berichtet, er habe einst, auf der Suche nach einer neuen Regierungsform, die den Konflikt zwischen 36  Vgl. Jean-Pierre Vernant, Mythos und Gesellschaft im alten Griechenland, Frankfurt a. M., 1987, S. 13. 37  Vgl. ebd., S. 24. 38  Vgl. ebd., S. 21. 39  Vgl. ebd., S. 23. 40  Oexle, »Stand, Klasse [Abschnitte I-VI ]«, S. 164. 41  Vgl. Moses I. Finley, Das politische Leben in der antiken Welt (1983), München, 1991, S. 12. 42  Von Lykurg lässt sich, wie schon Plutarch zugibt, »nichts sagen, das nicht bestritten werden könnte«. Von verschiedenen Historikern ist er in ganz unterschiedliche Zeitalter eingeordnet worden. Plutarch selbst kommt zu dem Schluss, er müsse »vor der ersten Olympiade« (d. h. vor 776 v. Chr.) gelebt haben. Vgl. Plutarch, Lives, Volume I. Theseus and Romulus.

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Armen und Reichen beheben könnte, das Orakel von Delphi befragt und den Auftrag bekommen, das Volk in »phylai« (Stämme) und »obai« (Nachbarschaften, ›communities‹) zu teilen, um dann von Zeit zu Zeit einen Senat zusammenzurufen (apellazein), bei dessen Entscheidungen das Volk die entscheidende Stimme und die Macht haben sollte.43 Eine zweite, wie Plutarch sagt, »sehr kühne« Maßnahme des Lykurg war die Neuverteilung des Landes. Um die zentrale Schwäche des Gemeinwesens, den Gegensatz von Reichtum und Armut, zu verbannen, habe Lykurg seine Mitbürger überredet, ihr gesamtes Land zusammenzulegen und es gleichmäßig neu aufzuteilen. Wenn alle in vollkommener Gleichheit der materiellen Mittel zusammenlebten, so würde es keinen anderen Anspruch auf Vorrang geben als den, der durch Tugend erworben wird. So wie Lykurgs Neuaufteilung ging auch die des athenischen Politikers Solon auf eine Krisensituation zurück. Solon, der 594 v. Chr. zum Archonten gewählt wurde, erhielt in einer Situation eskalierender politischer Konflikte weitgehende Machtbefugnisse, um als Schlichter einen Kompromiss zwischen Armen und Reichen auszuhandeln. Den einen gefiel er, weil er die Sprache der Gerechtigkeit sprach, und die anderen ließen ihn gewähren, weil sie im Falle eines Bürgerkriegs oder einer Tyrannenherrschaft mit höheren Verlusten zu rechnen gehabt hätten.44 Gegenüber dem maßlosen Ehrgeiz der Reichen, dem die maßlose Wut der Armen entsprach, versuchte Solon, eine maßvolle Ordnung, eine »eunomia« durchzusetzen, die die politische Stabilität wiederherstellen sollte.45 Wie bei Lykurg entsprang die von Solon geschaffene Ordnung einer doppelten Neuaufteilung. Zunächst handelte es sich um eine Neuverteilung des Landes. Die Schulden, die auf den Ländereien verarmter Bauern lagen, wurden aufgehoben. Solons Reform sollte dafür bekannt werden, dass sie die Erde von den »horoi« befreite, von den Steinen, die zur Markierung der Verpfändung auf die Felder gesetzt wurden, und in denen sich die Last der Schuldknechtschaft ausdrückte.46 Carl Schmitt, für den der Ursprung der gesellschaftlichen Macht im »Nomos der Erde«, im Akt der ursprünglichen, messenden Aufteilung des Landes liegt, schließt sich daher dem Urteil des Aristoteles an: Solon sei der wahre Gesetzgeber und Staatsgründer, ein »Nomothet, der, ebenso wie Lykurgos, durch Landteilung und Schuldentilgung Lycurgus and Numa. Solon and Publicola, Cambridge, MA , 1914, S. 205. Die Forschung geht seit längerem davon aus, dass es sich bei Lykurg um eine mythische Gestalt handelt, die nachträglich konstruiert wurde, um die Eigenheiten der spartanischen Verfassung zu erklären. Vgl. »Lykurgos der Nomothet von Sparta«, in: Georg Wissowa und Wilhelm Kroll (Hg.), Paulys Realencyclopädie der classischen Altertumswissenschaft, Erste Reihe, 26. Halbband, Stuttgart, 1927, 2442 – 2445. 43  Zusammengefasst nach: Plutarch, Lives, Volume I, S. 221 u. 223. 44  Vgl. Victor Ehrenberg, From Solon to Socrates. Greek history and civilization during the 6th and 5th centuries B.C (1968), London, New York, 2010, S. 49. 45  Vgl. Jean-Pierre Vernant, Die Entstehung des griechischen Denkens (1962), Frankfurt a. M., 1998, S. 84. 46  Vgl. Ehrenberg, From Solon to Socrates, S. 52.

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gleichzeitig Nomoi und eine Politeia geschaffen hat, während Drakon innerhalb einer bestehenden Politeia nur Nomoi gab«.47 Doch war Solon, was bei Carl Schmitt nicht erwähnt wird, nicht nur Landverteiler, sondern auch Menschenaufteiler. Zwar gab es schon vor seinen Reformen eine Klassenaufteilung des Volks, die sich nach der Position in der Heeresordnung richtete.48 Der entscheidende Akt Solons bestand aber darin, die militärische und damit die gesellschaftliche Hierarchie vom Vermögen (Landbesitz) abhängig zu machen. Die von Solon geschaffene Timokratie (von timé, übersetzbar mit ›Wert‹, was den gleichen Doppelsinn von finanzieller ›Schätzung‹ und ›Ehre‹ enthält) beruhte zunächst auf einem Akt der Zählung, einem allgemeinen Zensus, der der Feststellung des Vermögens diente. Auf der Basis dieser Zählung erfolgte die Zuordnung zu den einzelnen Klassen: Die Spitze der Pyramide bildeten die pentakosiomedimnoi, Großgrundbesitzer oder Kaufleute, die so genannt wurden, weil ihr Landbesitz jährlich mehr als 500 Scheffel Getreide abwarf. Darunter standen die hippeis (Reiter) mit einem Einkommen von mehr als 300 Scheffeln und die Zeugiten (Hopliten) mit einem Ertrag von mehr als 200 Scheffeln. Die breite Basis bildeten die Theten (Tagelöhner), die weniger als 200 Scheffel verdienten. Sie mussten im Heer als Leichtbewaffnete, in der Flotte als Ruderer Kriegsdienst leisten, und waren von politischen Ämtern ausgeschlossen. Angesichts dieses Ausschlusses der Bevölkerungsmehrheit ist es merkwürdig, dass die Athener Solon später als den Vater ihrer Demokratie betrachteten.49 Seine Zensusordnung war aber insofern revolutionär, als nicht mehr die Geburt, sondern die Größe des erzielten Einkommens die gesellschaftliche Stellung definierte.50 Genau dies machte, wie sich zeigen wird, Solon zu einer beliebten, aber auch mit Vorsicht gebrauchten Spielfigur in den politischen Debatten des 17. Jahrhunderts.

König Servius Das römische Pendant zu Solon heißt Servius Tullius. Die Situation, in der er auftritt, und die Leistungen, die ihm zugeschrieben werden, gleichen der Figuration des solonischen Kompromisses: Gesellschaftliche Spannungen aufgrund zunehmender ökonomischer Ungleichheit, eine Agrarreform zugunsten der Armen, zugleich ein Entgegenkommen gegenüber den Reichen durch die Neuaufteilung des Volkes nach Einkommensklassen. Auch die Zeit des Geschehens ist – aus dem Abstand von zweieinhalbtausend Jahren betrachtet – ungefähr die 47  Carl Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, Köln, 1950, S. 37. 48  Vgl. Ehrenberg, From Solon to Socrates, S. 52: »According to their military position they were divided into horsemen or knights (hippeis), the yoke-men (zeugitai), and the thetes, that is to say, cavalry, phalanx of hoplites, and men without military duties.« 49  Vgl. ebd., S. 54. 50  Vgl. ebd., S. 53.

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gleiche: das sechste Jahrhundert vor Chr. Was die Erzählung von Servius Tullius, die wie eine Kopie der Solon-Geschichte wirkt (und dies möglicherweise auch ist: ein nachträglicher Versuch, auch die römische Geschichte mit einem Landverteiler-Klassenteiler auszustatten), für die Genealogie des gesellschaftlichen Klassenbegriffs interessant macht, ist, dass hier das Wort Klasse zum ersten Mal in der lateinischen Form auftaucht, an die alle späteren Verwendungen anknüpfen werden. Es ist wohl vor allem der schlichte Umstand, dass die Klasse in diesem Fall ›Latein spricht‹, der dafür gesorgt hat, dass die Idee eines Ursprungs von Klassengesellschaft sich in besonderer Weise an den Namen Servius Tullius geheftet hat, und nicht an den von Solon. Besonders attraktiv für spätere gesellschaftliche Umverteilungsprojekte war auch, dass Servius Tullius, nach der Schilderung, die Livius von ihm gibt, kein Mann des Establishments war. Als Sohn eines Sabiners, der im Kampf gegen die Römer gefallen war, und seiner Frau, die als Gefangene nach Rom verschleppt worden war, galt er den Aristokraten als »ein Sklave, von einer Sklavin geboren«.51 Seine Thronbesteigung, die sich nach Livius aus der geschickten Ausnutzung eines Machtvakuums ergab, ist also auch als eine Machtergreifung der unteren Schichten zu lesen, im Unterschied zu Solons Ermächtigung, die gerade darauf beruhte, dass er als ein Mann der Mitte verstanden wurde. Was die agrarische Aufteilung angeht, ist die Darstellung des Livius nicht sehr ergiebig: So heißt es einmal, Servius habe sich, konfrontiert mit einer Art Misstrauensvotum, »die Geneigtheit des Volkes dadurch gewonnen, daß er das dem Feind abgenommene Ackerland Mann für Mann an sie verteilte«.52 An anderer Stelle aber ist davon die Rede, die Aristokraten hätten Servius als »Gönner der untersten Hefe des Volkes« betrachtet und ihm vorgeworfen, er habe »aus Haß gegen das Ansehen anderer den Vornehmen ihr Land entrissen und es an den Abschaum verteilt«.53 Während das erste Verfahren den Charakter eines populistischen Wahlgeschenks hat, würde eine Enteignung der aristokratischen Landbesitzer tatsächlich einen neuen ›Nomos der Erde‹ instituieren. Ausführlicher ist Livius’ Bericht über die Neuordnung des Volkes durch Servius Tullius. Diese vollzieht sich entlang von zwei Achsen. Einmal gibt es die schon bei Lykurg zu findende Aufteilung nach Kriterien der territorialen Zugehörigkeit, der räumlichen Nachbarschaft: »Er teilte die Stadt nämlich nach den Bezirken und Hügeln, die bewohnt waren, in vier Teile und nannte diese Teile tribus«.54 51  Titus Livius, Ab urbe condita, Liber I. Römische Geschichte, 1. Buch. Lateinisch/ deutsch, hg. v. Robert Feger, Ditzingen, 2006, S. 125. 52  Ebd., S. 139. 53  Ebd., S. 145. 54  Ebd., S. 135 Livius fügt die Vermutung an, dass »tribus« wohl von »dem Wort tributum [Steuer]« komme. Man kann aber ziemlich sicher sein, dass es sich umgekehrt verhält. Bei tribus handelt es sich wohl um eine ältere Bezeichnung, die sich von dem Zahlwort drei herleitet. Tribus wäre dann »einer der drei Stämme« (Alois Walde, Lateinisches etymologisches

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Als wichtiger aber betrachtet bereits Livius die andere Form der Aufteilung, die Servius Tullius einführt, und die ihn zum Schöpfer einer neuen Gesellschaftsordnung macht: Jetzt schreitet er zum weitaus größten Friedenswerk, damit die Nachkommen – wie Numa der Stifter des göttlichen Rechts gewesen – in gleicher Weise den Servius als den Gründer der Gliederung innerhalb der Bürgerschaft und der auf Stufung von Verdienst und Vermögen beruhenden Stände rühmen sollten. Er führte nämlich die Schätzung ein, eine für das künftige Großreich sehr nützliche Einrichtung, kraft deren im Krieg und im Frieden die Auflagen nicht wie vorher nach der Kopfzahl, sondern nach dem Vermögensstand festgesetzt werden sollten; dann schrieb er auf Grund der Schätzung Klassen und Hundertschaften und folgende für den Krieg wie für den Frieden passende Ordnung vor […].55

Statt wie Solon von vier, geht Servius Tullius von sechs verschiedenen Vermögensklassen aus. Die Zuordnung zu einer dieser Klassen entscheidet über die Einordnung in die militärische Hierarchie, über die Höhe der Besteuerung und über den Grad der politischen Beteiligung. Entsprechende Bedeutung kommt dem Akt der Zählung oder Schätzung, dem »census« zu. Er ist gleichzeitig Volkszählung, Musterung der waffenfähigen Männer, Steuerveranlagung und Wahlverfahren. Und er soll noch mehr sein, ein Gründungsakt von Gesellschaft: Nachdem die Veranlagung durchgeführt war – er hatte sie beschleunigt durch ein Gesetz über die Nichtveranlagten, das mit Gefängnis und Tod drohte –, sagte er an, alle römischen Bürger, Reiter und Fußvolk, jeder in seiner Hundertschaft, sollten bei Tagesanbruch auf dem Marsfeld antreten. Dort stellte er das ganze Heer in Ordnung auf und entsühnte es durch ein Eber-Widder-Stieropfer; es wurde Gründungsopfer geheißen, weil damit die Veranlagung beendet wurde.56

Ähnlich wie Solons Kompromiss brachte Servius’ Klassenschema eine wirtschaftliche Entlastung der Armen, aber gleichzeitig ihre politische Entmündigung mit sich. Offensichtlich gelang es Servius, die Macht der Clans, d. h. des ländlichen Patriziats, zu beschränken.57 Gleichzeitig erhielt eine neue Schicht von städtischen

Wörterbuch, Heidelberg, 1910, S. 791), was mit der Beobachtung übereinstimmt, dass sich die Macht in Italien in der Frühzeit Roms auf drei Stämme verteilte (vgl. Eugen Täubler, Die umbrisch-sabellischen und die römischen Tribus, Heidelberg, 1930). 55  Livius, Ab urbe condita, Liber I. Römische Geschichte, 1. Buch., S. 131. 56  Ebd., S. 135. 57  Vgl. Jean-Claude Richard, »Patricians and plebeians. The origins of a social dichotomy«, in: Kurt A. Raaflaub (Hg.), Social struggles in archaic Rome. New perspectives on the conflict of the orders, Malden, Mass, 2005, 107 – 127, S. 113.

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Reichen mehr Einfluss, da die politische Partizipation nun, wie Livius erklärt, vom Einkommen abhing: [E]s wurde nicht mehr – wie es von Romulus her überliefert war und wie es die nachfolgenden Könige beibehalten hatten – jedem Mann ohne Unterschied ein Stimmrecht von gleichem Gewicht und gleichem Rang verliehen, sondern es wurden Abstufungen gemacht derart, daß zwar keiner vom Recht auf Abstimmung ausgeschlossen erschien, jedoch die Einflußnahme gänzlich den Vornehmen der Bürgerschaft blieb: Die Ritter nämlich wurden zuerst aufgerufen, dann die 80 Hundertschaften der ersten Klasse; ergab sich hier Stimmenungleichheit – was selten der Fall war –, dann die der zweiten Klasse; und fast nie mußten sie so weit hinuntergehen, daß sie zu den untersten Schichten kamen.58

Die gesellschaftliche Macht konzentrierte sich demnach in der ersten Klasse. Diese war nach dem Zeugnis von Aulus Gellius so herausgehoben, dass mit dem Ausdruck »classici« (zur Klasse gehörend) nicht etwa alle Bürger bezeichnet wurden, »sondern nur die Bürger der ersten (reichsten) Abtheilung«. Als »infra classem« habe man dagegen die Mitglieder der anderen Klassen bezeichnet, die unterhalb dieser einzig zählenden Klasse standen.59 In der untersten Klasse findet sich schließlich die große Menge derer wieder, die gar kein Vermögen vorweisen können und entsprechend von jeder politischen Beteiligung ausgeschlossen sind, die proletari und capite censi, d. h. die »nur nach Köpfen gezählten Besitzlosen«.60

Zur Realität der Urszene Soweit der Bericht über Servius Tullius und seinen Akt der Klassenteilung. Zur historischen Realität dieser Szene bemerkt Mommsen, sie liege »in demselben Dunkel, wie alle Ereignisse einer Epoche, von der wir was wir wissen, nicht durch historische Ueberlieferung, sondern nur durch Rückschlüsse aus den späteren Institutionen wissen«.61 Von neueren Historikern ist die geschichtliche Existenz des Servius Tullius rundweg bestritten worden. R. M. Ogilvie zufolge muss man sich nur die Liste der römischen Könige ansehen, um zu erkennen, dass jeder eine bestimmte mythische Gründungsfunktion zu erfüllen hat:

58  Livius, Ab urbe condita, Liber I. Römische Geschichte, 1. Buch., S. 133. 59  Aulus Gellius, Die attischen Nächte, hg. v. Fritz Weiss, Leipzig, 1875, S. 352 (Buch VII ,

13. Cap. 1). 60  Claude Nicolet, »Der Bürger und der Politiker«, in: Andrea Giardina (Hg.), Der Mensch der römischen Antike, Essen, 2004, 27 – 66, S. 52. 61  Theodor Mommsen, Römische Geschichte. Band 1: Bis zur Schlacht von Pydna (1854), Berlin, 1868, S. 92.

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Romulus war der Krieger-Gründer, Numa der Priester-Gesetzgeber (so dass alle religiösen Neuerungen ihm zugeschrieben werden), Tarquinius der Ältere der Erbauer der Stadt, Servius Tullius der Begründer der Verfassung, Tarquinius Superbus der Tyrann. Fakten und Fiktionen werden in dieses vorgefasste Rahmenwerk eingepasst.62

Unzweifelhaft ist, dass es Livius und anderen Geschichtsschreibern, die die Geschichte von Servius Tullius erzählten, nicht auf historische Tatsächlichkeit ankam. Es ging ihnen darum, »vorbildhafte Beispiele« 63 (exempli documenta) zu geben, nicht nur für die individuelle tugendhafte Lebensführung, sondern auch für die Regierungskunst. Einem inzwischen verwöhnten Volk sollte gezeigt werden, »durch welche Männer und mit welchen Künsten zu Hause und im Krieg die Herrschaft errungen und vermehrt wurde«.64 Die Schilderungen der Herrschaft von Servius Tullius müssen daher als anachronistisch betrachtet werden. Wenn z. B. von Servius’ Teilung des Volkes in sechs (oder fünf) Klassen die Rede ist, so wird damit offenbar eine spätere militärisch-soziale Struktur auf die römische Frühzeit projiziert.65 Dass eine solche historische Verschiebung stattgefunden hat, ergibt sich auch daraus, dass die von Livius genannte Geldwährung der »Asse« im sechsten Jahrhundert noch nicht bekannt war. Der Bericht des Plinius, wonach Servius Tullius der erste war, der Bronze-Münzen (»pecunia«) prägen ließ, lässt sich historisch nicht bestätigen.66 So wird darüber diskutiert, ob die frühesten Schätzungen des Vermögens sich noch nach der »Zahl von Rindern und Schafen« richteten,67 ob der »jährliche Ertrag an Korn« für die Einordnung maßgeblich war,68 oder ob der Wert der Bürger in der möglicherweise schon verbreiteten proto-Währung gegossener Bronzeklumpen (»aes rude«) ausgedrückt wurde.69 Wahrscheinlich lassen sich Status und Funktion der Erzählung von Servius Tullius am besten erfassen, wenn man sie, mit einem Begriff Freuds, als »Urszene« bezeichnet. Also solche kann sie im vollen Wortsinn gelten: Einmal, weil es buchstäblich um einen Moment des Ur-Sprungs (bzw. der Ur-Teilung) geht, einen ersten begründenden Moment, von dem sich eine ganze weitere Geschichte R. M. Ogilvie, Early Rome and the Etruscans, Glasgow, 1976, S. 20. Livius, Ab urbe condita, Liber I. Römische Geschichte, 1. Buch., S. 7 (Vorrede). Ebd. Vgl. Ogilvie, Early Rome and the Etruscans, S. 46. Paul Einzig, Primitive money in its ethnological, historical and primitive aspects (1949), Oxford, 1966, S. 227. 67  Einar Gjerstad, »Innenpolitische und militärische Organisation in frührömischer Zeit«, in: Hildegard Temporini und Wolfgang Haase (Hg.), Aufstieg und Niedergang der römischen Welt. Geschichte und Kultur Roms im Spiegel der neueren Forschung, Berlin, 1972, 136 – 188, S. 175 – 176. 68  Ebd. 69  Einzig, Primitive money in its ethnological, historical and primitive aspects, S. 227. 62  63  64  65  66 

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ableiten soll. Zum anderen, weil es sich erkennbar um eine Szene handelt, d. h. um eine imaginierte Begebenheit, eine nachträglich konstituierte Realität. Wie die Urszene, auf die Freud in seinen analytischen Sitzungen gestoßen ist (die bildhafte Erinnerung an den elterlichen Koitus), ist auch die geschichtliche Urszene »radikal unbeobachtbar«: »Sie kann nur aus ihren Wirkungen erschlossen werden.« 70 Wie die psychische Urszene, so schwankt auch die Servius-TulliusSzene zwischen Realität und Phantasie, zwischen Mythos und Geschichte. Bei Freud selbst gibt es keine einheitliche Haltung zur Frage der Realität der Urszene. Zunächst geht er davon aus, dass an der Geschichte etwas dran sein müsse, dass es also einen realen Kern gibt, der nachträglich durch die Phantasien des Kindes überformt wird. In der ersten Fassung der »Wolfsmann«-Analyse bittet er daher seine Leser, »sich mit mir zum vorläufigen Glauben an die Realität dieser Szene zu entschließen«.71 Im Zusammenhang mit seiner Abkehr von der »Verführungstheorie« zieht Freud aber auch den Gedanken in Betracht, dass die Szene gar nicht real stattgefunden haben muss: Es könne sich auch um »Phantasiebildungen« handeln, »die verdrängten Wunschregungen Ausdruck verleihen«.72 Letztendlich ist es, wie Freud später bemerkt, für die Analyse gar nicht entscheidend, ob die Szene real stattgefunden hat oder nicht: Die »psychische Wirksamkeit« ist die gleiche. Ähnliches gilt, so könnte man sagen, auch für die Wirksamkeit historischer Urszenen, auch für sie ist es, in Freuds Worten, »gleichgültig, ob man sie als Urszene oder als Urphantasie gelten lassen will«.73 Auf diese Weise lässt sich das Servius-Tullius-Szenario von der ursprünglichen Klassenteilung als ein Ereignis verstehen, das so nicht stattgefunden haben muss, um dennoch sehr spürbare geschichtliche Wirkungen zu zeitigen. Dabei lassen sich zwei Etappen der Wirksamkeit unterscheiden. Der römischen Gesellschaft, die sich mit Livius an dieses Ereignis ›erinnerte‹, bot die Szene eine plausible Erklärung der institutionellen Realität, mit der sie konfrontiert war, nämlich einer in Klassen geteilten Gesellschaft. Wenn es nicht die Geschichte von Servius Tullius gegeben hätte, hätte man eine andere, strukturell ähnliche erfinden müssen. Die Servius Tullius-Szene hat hier also den Status einer notwendigen Erkenntnisbedingung; man könnte sagen, sie hat transzendentalen Charakter: Selbst nicht empirisch erfahrbar, muss man sie dennoch voraussetzen, um bestimmte empirische Vorkommnisse (wie die Klassenteilung) erklären zu können. Für die Nachwelt verlor sich diese Funktion der Erklärung. Die Menschen des christlichen Mittelalters lebten nicht in Klassengesellschaften, sie ›brauchten‹ 70  Markus Klammer, Figuren der Urszene. Material und Darstellung in der Psychoanalyse Freuds, Wien, 2013, S. 43. 71  Freud, Sigmund, »Aus der Geschichte einer infantilen Neurose (›Der Wolfsmann‹)« (1918 [1914]), in: ders., Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey, Frankfurt a. M.: Fischer, 1982, Bd. 8, 125 – 232, S. 158. 72  Klammer, Figuren der Urszene, S. 150 – 151. 73  Freud, »Aus der Geschichte einer infantilen Neurose (›Der Wolfsmann‹)«, 130, Anm. 5.

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daher auch keine Erinnerung an legendäre Urväter der Klassenteilung. Und als schließlich, im 17. Jahrhundert, Lykurg, Solon und Servius Tullius wieder aus der geschichtlichen Versenkung geholt wurden, dann geschah dies nicht, um eine Gegenwart zu verstehen, sondern um, in der Anknüpfung an eine ehrwürdige Vergangenheit, eine bessere Zukunft einzurichten.

Klasse als Appell Dass die Servius-Tullius-Szene im Europa der Frühen Neuzeit wiederentdeckt und reaktiviert werden konnte, dass sie, wie im nächsten Kapitel zu sehen sein wird, zum Bezugspunkt einer neuen Art von Politik werden konnte, hat nicht zuletzt damit zu tun, das Livius mit seinem Bericht nicht nur eine Geschichte, sondern ein Modell geliefert hat. Seine Darstellung legt die Fundamente des Prinzips Klassenteilung frei, an ihr kann man sehen, wie ›Klasse‹ funktioniert. Da ist zunächst das in der Klassenteilung enthaltene Moment der Willkür, der eigenmächtigen Neubestimmung, das aus Sicht der traditionellen Ordnung nur als Anmaßung verstanden werden kann. Im Unterschied zu Numa Pompilius beansprucht Servius nicht, ein göttliches Recht zu verkünden, er beruft sich auch nicht – wie Lykurg – auf den Spruch eines Orakels. Seine Klassenaufteilung gibt sich vielmehr von Anfang an als eine menschliche Setzung, als ein »jus humanum« zu erkennen.74 Deutlich wird in Livius’ Darstellung die klassifikatorische Teilung der Gesellschaft als ein Machtakt gekennzeichnet. Zunächst handelt es sich um die Macht, die notwendig ist, um die Teilung durchzusetzen. Dies gelingt nur durch die Drohung der Gewalt. Wer sich der Klassifizierung entzieht, wird mit »Gefängnis und Tod« bestraft.75 Dann aber, und vor allem, handelt es sich um die Macht, die im Akt der Teilung selbst liegt, eine produktive Macht, die eine neue Ordnung, eine neue Gesellschaft hervorbringt. Der im späteren, wissenschaftlichen Klassenbegriff vergessene Machtaspekt der klassifikatorischen Einteilung tritt hier in aller Drastik hervor. Die von Servius vorgenommene Klassifikation ist sicher auch als eine Beschreibung von Gesellschaft zu verstehen (insofern der Zensus die Leute und die Höhe ihrer Vermögen registriert), die Beschreibung gibt sich aber zugleich ganz unverhüllt als Vorschrift zu erkennen. Klasse bildet Ordnung nicht einfach ab, sie stellt sie vielmehr her.76

74  Philipp Eduard Huschke, Die Verfassung des Königs Servius Tullius als Grundlage zu einer

römischen Verfassungsgeschichte, Heidelberg, 1838, S. 54.

75  Livius, Ab urbe condita, Liber I. Römische Geschichte, 1. Buch., S. 135. 76  Vgl. Walther, »Stand, Klasse [Abschnitte VIII -XVI ]«, S. 219: »Der Begriff ist eindeutig

politisch motiviert und dient weniger der Gesellschaftserkenntnis als ihrer Steuerung. Nicht ein der Realität angemessenes Ordnen steht im Vordergrund, sondern die Ordnung selbst. Livius’ Klassenbegriff ist alles andere als neutral oder bloß formal: ›Klasse‹ fungiert als Ordnungsbegriff und politisches Ordnungsinstrument zugleich.«

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Etwas von der Macht, die Servius Tullius als dem Urvater der Klassifikation zukommt – Livius nennt ihn »conditorem omnis in ciuitate discriminis ordinumque«,77 den Begründer aller Unterscheidung und Ordnung in der Bürgerschaft – scheint sich jedem mitzuteilen, der sich in die Position des Klassifikators begibt. Die ersten, die davon etwas abbekommen, sind die Zensusbeamten. Ihre herausgehobene Position erklärt sich dadurch, dass die Klassifikation der Einkommen die zentrale gesellschaftliche Verteilinstanz darstellt; sie bildet einen »Ordnungsrahmen«, der zugleich »der Rekrutierung, der Steuererhebung und auch der Stimmabgabe dient«.78 Im republikanischen Rom, dessen politische Struktur sich mit dem Ausdruck »Zensus-Staat« (»cité censitaire« 79) umreißen lässt, haben die Zensoren die Aufgabe, »alle Bürger in ein System (ratio) einzuordnen, das ihnen einen genau umschriebenen Platz in einer rigoros hierarchischen Ordnung zuweist«.80 Dabei liegt die Macht des Zensors nicht so sehr in den Momenten der Willkür, die in der bürokratischen Apparatur der Steuerschätzung erhalten bleiben,81 sondern vielmehr in der regelmäßigen Anwendung des klassifikatorischen Urteils: »Indem der Zensor eine faktische Wahrheit mit zwingender Autorität bestimmen konnte, war er es, der mit Hilfe der Kardinalzahl eine diskrete Rangreihung durchführte, darin die Positionsinhaber einer sozialen Stelle sich ausschließlich durch ihr Verhältnis zu den anderen Stellen evaluiert fanden.« 82 Selbst auf den geringsten Zensor, der nur ein Rädchen der großen Klassifikationsmaschinerie ist, überträgt sich auf diese Weise noch etwas von der Einteilungsmacht des Servius Tullius: Klassifizieren heißt eine Ordnung schaffen, heißt die Dinge und Menschen zur Existenz zuzulassen. Später wird zu sehen sein, dass es dieser Kitzel einer (wenn auch noch so illusorischen) Verfügungsmacht ist, durch die sich das klassifikatorische Denken in der Zeit um 1700 am effizientesten verbreitet: als eine Art Gesellschaftsspiel, bei dem jeder den andern klassifiziert und evaluiert.83 Es gibt einen weiteren Vorzug der Servius-Tullius-Szene, der sie geeignet macht, als eine Urszene der klassifikatorischen Ordnung zu funktionieren. Sehr deutlich erscheinen hier gewisse mediale Voraussetzungen, ohne die sich die Zählung und Klassifikation von Menschen nicht gut denken lässt. Es handelt sich vor allem um das Postulat der Stillstellung, des Anhaltens von Bewegung. Dieses Gebot ist 77  Livius, Ab urbe condita, Liber I. Römische Geschichte, 1. Buch., S. 130. 78  Nicolet, »Der Bürger und der Politiker«, S. 39. 79  Claude Nicolet, Le métier de citoyen dans la Rome républicaine, Paris 1976, zit. nach

Finley, Das politische Leben in der antiken Welt, S. 25. 80  Nicolet, »Der Bürger und der Politiker«, S. 37. 81  Vgl. ebd.: »[D]er Magistrat hat nämlich zum Zweck der Belohnung oder der Bestrafung jederzeit das Recht, die faktischen Daten zu verändern und jemanden zu privilegieren oder herabzustufen.« 82  Katzmair, »Ordnungen des Zählens«, S. 48. 83  S. u., Kap. 16.

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heute durch die Einführung von Satellitenkameras, RFID -Chips, Transpondern und anderen kontrollgesellschaftlichen Instrumenten außer Kurs gesetzt. Sowohl im 6. vorchristlichen wie auch im 17. nachchristlichen Jahrhundert lässt es sich weder technisch noch gedanklich umgehen. Aus Livius’ Schilderung der servianischen Teilung wird deutlich, dass sich die Idee des Zensus ursprünglich eng mit der Forderung nach der gleichzeitigen Anwesenheit aller Bürger verbindet: Alle sollen »bei Tagesanbruch auf dem Marsfeld antreten. […] 80000 Bürger sollen bei diesem Opfer gezählt worden sein«.84 Das Ideal des Zensus besteht darin, dass alle sich auf der begrenzten, homogenen und überschaubaren Fläche eines Feldes versammeln und in praesentia zählen und ordnen lassen. Selbst wenn man annimmt, dass Livius’ Zahlenangabe wahrscheinlich um das Zehnfache übertrieben ist, eine Steuerschätzung auf freiem Feld wird auch mit 8000 Bürgern nicht möglich gewesen sein. Im späteren Rom liefen die Schätzungen nacheinander in allen einzelnen Tribús ab, und erstreckten sich, wie Claude Nicolet ergänzt, »über einen Zeitraum von 18 Monaten (weil pro Arbeitstag vielleicht tausend Deklarationen erledigt werden)«.85 Dennoch spielte die Idee der Versammlung, das Postulat der Anwesenheit, offenbar für lange Zeit eine beherrschende Rolle. So musste bis 89 v. Chr. »in jedem Fall die Mehrheit der Bürger nach Rom reisen, wenn sie von allen Vorteilen des census profitieren wollten«.86 Wenn auch absolute Einheit des Ortes kaum zu verwirklichen gewesen sein dürfte, so musste das Zensussystem zumindest an einem anderen Postulat festhalten: der Stillstellung der Bewegung. Wie der Mathematiker Henri Poincaré – bezeichnenderweise an einem militärischen Beispiel – illustriert, hängt das Gelingen von Klassifizierung von der Stillstellung der zu klassifizierenden Elemente ab: Wir erfahren, dass zwei Soldaten Mitglieder des gleichen Regiments sind, und wir wollen daraus schließen, dass sie Mitglieder der gleichen Brigade sind; wir haben das Recht dazu, vorausgesetzt, dass nicht während der Zeit unserer Überlegungen einer der beiden Männer in ein anderes Regiment versetzt wird.87

Es genügt jedoch nicht, diese Vorsichtsregel zu verwenden; eine ernsthafte Klassifikation müsste für die tatsächliche Unbeweglichkeit ihres Sortierguts sorgen, auch wenn es, wie Poincaré gesteht, Fälle gibt, »in denen das nicht möglich ist«.88 Aus dem Postulat der Stillstellung, der Einnahme eines festen Ortes, das in den Volkszählungen, Steuererhebungen und Musterungen aller Zeiten eine Rolle Livius, Ab urbe condita, Liber I. Römische Geschichte, 1. Buch., S. 135. Nicolet, »Der Bürger und der Politiker«, S. 48. Ebd., S. 49. Henri Poincaré, »The logic of infinity«, in: ders., Mathematics and science. Last essays, N. Y., 1963, 45 – 64, S. 45. 88  Ebd. 84  85  86  87 

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gespielt hat (»Und jedermann ging, dass er sich schätzen ließe, ein jeder in seine Stadt…«), resultiert, wie man sich leicht erklären kann, eine besondere Nähe des Zensussystems zur militärischen Anordnung: Männer in Reih’ und Glied lassen sich leichter zählen als Kinder auf einem Schulhof. Der Zusammenhang von Zensusordnung und militärischer Struktur erweist sich vor allem in der Institution der comitia centuriata, der gesetzgebenden Volksversammlungen, die offenbar zu Beginn des 5. Jahrhunderts aus der Praxis der militärischen Aushebung hervorgingen: »Der Militärdienst, abgestuft nach dem Census, war die Basis, auf der die Soldaten in der Versammlung, nach Maßgabe des Census, Stimmrecht hatten.« 89 In den Comitia hatten sich alle im vorhergehenden Zensus klassifizierten waffenfähigen Bürger einzufinden und gemäß ihrer Klassenposition aufzustellen, die zugleich ihre Stellung in der militärischen Hierarchie und den Wert ihrer Stimme in der Abstimmung ausdrückte. Die topologische Anordnung folgte der Schätzung im Zensus, aber sie schuf zugleich das Arrangement, durch das die Klassenteilung für alle sichtbar und politisch operationalisierbar gemacht wurde. Mit ihr wurde die timokratische Klassenordnung wie in einer Momentaufnahme festgehalten: ein tableau vivant der gesellschaftlichen Hierarchie, ein Gemälde des Sozialen und zugleich eine ›lebende Tabelle‹, aus der jeder seinen eigenen Wert und den der anderen ablesen konnte. Wenn es darum geht, nachzuzeichnen, welcher Mythos der Neuaufteilung in der politischen Imagination des 17. Jahrhunderts am Werk war und welche ›Erinnerungen‹ an die antike Klassenteilung dabei eine Rolle spielten, muss zumindest noch ein kurzer Blick auf die Etymologien des Wortes Klasse geworfen werden. Die schon in der Antike wirksame etymologische Neugier erfährt in der Kultur des Humanismus einen bemerkenswerten Aufschwung, nicht zuletzt im Zusammenhang mit der Suche nach der ›Ursprache‹, jener verlorenen gegangenen Sprache, in der Gott ursprünglich die Welt geordnet hatte.90 Zur Rekonstruktion der Urszene gehört es daher auch, die »Urworte« 91 in Augenschein zu nehmen, in denen die etymologische Forschung seit dem 17. Jahrhundert die Herkunft des Wortes Klasse vermutet hat. Die Hypothesen sind zahlreich: Das lateinische Wort classis wird u. a. zurückgeführt auf griech. κλάω, brechen. Aus dem Begriff περί-κλασις (für das »Umbrechen«, das Herumführen einer Hoplitenphalanx im Bogen) könnte sich die militärische Bedeutung »Abschnitt, Abteilung« heraus-

89  Gjerstad, »Innenpolitische und militärische Organisation in frührömischer Zeit«, S. 182. 90  Vgl. Umberto Eco, Die Suche nach der vollkommenen Sprache (1993), München, 1994. 91  Auch dieser Begriff findet sich bei Freud. Im Unterschied zu dem der Urszene hat er ihn

allerdings nicht erfunden, sondern aus der philologischen Forschung seiner Zeit übernommen. Vgl. Sigmund Freud, »Über den Gegensinn der Urworte« (1910), in: ders., Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey, Frankfurt a. M.: Fischer, 1982, Bd. 4, 227 – 234.

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gebildet haben.92 Klasse wird aber auch mit dem griechischen »kleio«, schließen, in Verbindung gebracht, »woraus (lateinisch) claudo wird, mit clavis, conclave und Klausur«.93 Die Ableitung von gr. κέλαδος, Krach, Lärm, mit der Betonung auf »Kriegslärm«, erscheint manchen plausibel,94 anderen jedoch »semantically unattractive«.95 Die im 17. Jahrhundert populärste Etymologie ist die schon im Altertum gebrauchte Erklärung, die classis mit dem Verb calare (gr. kalein) verbindet. Vehement wird diese Deutung im Etymologicon linguae latinae (1662) des holländischen Gelehrten Gerrit Janszoon vertreten: »Mihi quidem non dubium, quin classis aut à calando sit, aut Graeco κλεῖσις [Verschließung], quod ab eodem καλεϊν [rufen].« 96 Diese Etymologie, die das Erscheinen der Klasse von einem Akt des Aufrufs, des Appells, des Herbeirufens oder Zusammenrufens abhängig macht, setzt sich durch: In Chambers Cyclopædia von 1728 heißt es umstandlos: »The Word comes from the Latin Classis, of the Greek kalein, congrego, convoco; a Class being nothing but a multitude assembled apart.« 97 Eine Klasse entsteht demnach, wenn die Menschen dem Ruf ihrer Oberen folgen und sich ordentlich auf einem Platz aufstellen. Allerdings wäre Wissenschaft nicht Wissenschaft, wenn sich nicht auch die Mainstream-Hypothese, die classis auf calare zurückführt, noch einmal spalten ließe: Calare heißt rufen, aber das Signal, mit dem üblicherweise das Heer einberufen wurde, war ein Trompetenstoß, classicum genannt. Für diesen scheint wiederum eher die ›unattraktivere‹ Herkunft aus κέλαδος, Krach, Lärm in Frage zu kommen. Der Unterschied kann als nebensächlich erscheinen, aber für die Frage, was ›Klasse‹ ist, ist es doch nicht ganz unwichtig zu erfahren, durch welches Medium sie zustande kommt. In einem Fall hätte man es mit einer »Anrufung« zu tun, mit allen Implikationen der ideologischen Subjektivierung, die Althusser in seiner Schrift über die ideologischen Staatsapparate geschildert hat;98 im anderen Fall würde die Versammlung der Klasse durch eine »Anblasung« zustande kommen, sie wäre also das Resultat eines bloßen Signals, das nicht imaginäre Identifizierung, sondern lediglich funktionierende Reflexe voraus92  Herbert Petersson, »Lateinische und griechische Etymologien«, Glotta, Jg. 4, N° 3, 1913, 294 – 299, S. 294. 93  Dahlberg, Grundlagen universaler Wissensordnung, S. 16. 94  Petersson, »Lateinische und griechische Etymologien«, S. 294, Walde, Lateinisches etymologisches Wörterbuch, S. 167. 95  Michiel de Vaan, Etymological dictionary of Latin and the other Italic languages, Leiden, 2008, S. 118. 96  Gerrit Johan [Gerardus Johannes] Vossius, Etymologicon linguae latinae, Amsterdam, 1662, S. 163. 97  Ephraim Chambers, Cyclopædia: or, an universal dictionary of arts and sciences, Vol. 1 of 2, London, 1728, o. P. 98  Vgl. Louis Althusser, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg, 1977.

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setzt. Die Lösung dieses Problems ist nicht Jacques Derrida zu verdanken, der in seinem Buch Glas die Polysemie von classis, calare und classicum auskostet,99 sondern dem Rostocker Rechtshistoriker Philipp Eduard Huschke, der im Jahr 1834 eine geschichtliche Erklärung beisteuert: »Classis« komme »ohne Zweifel von calare dem civilrechtlichen feierlichen Rufen«, das urspünglich, in der Zeit der frühen Könige – »nur an die Geschlechtshäupter, nicht an das ganze Volk und Heer gerichtet wurde«.100 Später aber – seit Servius –, als »das ganze bewaffnete Volk ein organischer wohlgeübter Haufe (exercitus) geworden war«, habe man auf diese Umstände verzichten können, die Klasse sei »nun auch unmittelbar, aber auf äußerliche Weise, durch ein Instrument zusammenberufen« worden.101 Auch wie man zur Klassifizierung beordert wird, per mündlicher Einladung oder durch Trompetenstoß, erweist sich so als eine Frage des sozialen Unterschieds.

99  Vgl. Jacques Derrida, Glas (1974), Lincoln, Neb., 1986, S. 86: »The glas is first of all (clas, chiasso, classum, classicum) the signal of a trumpet destined to call (calare), convoke, gather together, reassemble as such, a class of the Roman people. There is given then glas in classical literature, but also in the class struggle: class.« 100  Huschke, Die Verfassung des Königs Servius Tullius als Grundlage zu einer römischen Verfassungsgeschichte, S. 134. 101  Ebd., S. 135.

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9.

SERVIUS TULLIUS KEHRT ZURÜCK. RENAISSANCEN DES KLASSENDENKENS Dieses Kapitels beschreibt, wie das Wissen von der antiken Klassenteilung in Mittelalter und Renaissance überwinterte und wie es, etwa seit dem Ende des 16. Jahrhunderts, wieder aus seinem Dornröschenschlaf zu erwachen begann. Insbesondere geht es um die im Vorfeld der Englischen Revolution einsetzenden Versuche, das Prinzip ›Klasse‹ zu einem Modell aktueller Politik zu machen. Diese Reanimationen des antiken Klassenprinzips scheinen zunächst vor allem der nostalgischen Idee einer Rückkehr zu antiker Größe verpflichtet zu sein. Wie das ausführlich behandelte Beispiel von James Harrington zeigt, verbindet sich damit aber auch die Vorstellung einer prinzipiellen Neuordnung der Gesellschaft nach quantitativen, ökonomischen Kriterien.

1000 Jahre ohne Klassen Mit dem Ende des römischen Reichs trat der soziale Klassenbegriff in eine mehr als tausendjährige Latenzphase ein. In der politisch-theologischen Ordnung des Mittelalters konnte das Wissen von der sozialen Klassifizierung keinen legitimen Platz beanspruchen. Das Wort »classis« selbst überlebte zwar in »Schule und Unterricht«;1 die Erinnerung an das soziale Einteilungsprinzip war dabei aber weitgehend ausgelöscht. Charakteristisch für die Art, wie die Erinnerung an die antike Klassenteilung in den Hintergrund gedrängt wurde, ist der Umgang mit Livius’ Erzählung von Servius Tullius. Während es für Cäsar, wie Mommsen bemerkt, noch eine Selbstverständlichkeit darstellte, auf das Beispiel des Servius zurückzugreifen, »um zu seinem neuen Staat das Muster zu finden«,2 wird der Gründungsakt des Servius Tullius in der Geschichtsschreibung des Mittelalters kaum erwähnt und keinesfalls als ›exemplum‹ angeführt. Dies hat wohl zum einen damit zu tun, dass die christlichen Autoren generell nichts davon hielten, »ausgerechnet profangeschichtliche Ereignisse, gar der Heiden, als musterhaft zu überliefern«.3 Es dürfte aber auch mit der besonderen Unverträglichkeit gerade dieser historischen Szene zu tun 1  Walther, »Stand, Klasse [Abschnitte VIII -XVI ]«, S. 217. 2  Theodor Mommsen, Römische Geschichte. Band 3: Von Sullas Tode bis zur Schlacht von

Thapsus (1856), Berlin, 1922, S. 483. 3  Reinhart Koselleck, »Historia Magistra Vitae. Über die Auflösung des Topos im Horizont neuzeitlich bewegter Geschichte«, in: Reinhart Koselleck, Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten, Frankfurt a. M., 2015, 38 – 66, S. 41.

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haben, die der gottverfügten Ständeordnung eine menschengemachte Alternative gegenüberstellte. Im kollektiven Gedächtnis der mittelalterlichen Gesellschaft konnte das Wissen von der einstigen Realität der Klassenteilung daher nur als verdrängtes überleben, als eine Art historischer Giftmüll, den man nicht ganz loswerden konnte, der aber in geeigneter Weise eingekapselt und daran gehindert werden musste, in der Gegenwart aktiv zu werden. Als eine wirksame Form der Unschädlichmachung hat sich die Einschließung des prekären Wissens im Bereich der historischen Gelehrsamkeit erwiesen. Durch Livius, dessen Bücher zur römischen Geschichte auch im Mittelalter kopiert und damit erhalten wurden,4 konnte man zwar potentiell erfahren, dass es einmal eine Aufteilung von Menschen nach dem profanen Kriterium des Reichtums gegeben hatte. Dieses Wissen blieb jedoch ohne Konsequenzen für die Gegenwart, weil es als rein antiquarisches Wissen gehandelt wurde, als eines, das nur die Vergangenheit der heidnischen Antike betraf. Auch die Antikenleidenschaft der Renaissance änderte zunächst nichts an der Verdrängung des Klassenbegriffs. Der von den italienischen Humanisten betriebene Wetteifer (aemulatio) mit der Antike lief auf eine höchst selektive Imitationspraxis hinaus. Senecas Bienengleichnis 5 folgend, ahmten die Dichter und Maler nicht unterschiedslos alles nach, was sie im lateinischen Blumengarten fanden, sondern wählten genau jene Blüten aus, die geeignet waren, den gewünschten Honig hervorzubringen. Zum Gegenstand der Nachahmung wurde, was als ästhetisch und ethisch vortrefflich erschien, was als Exemplum der Tugend, des Mutes und wahrer humanitas gelten konnte. Die Servius-Tullius-Geschichte, die letztlich nur von der technischen Lösung eines machtpolitischen Problems berichtete, trug zur moralischen Erbauung nichts bei und war daher auch nicht imitationswürdig. Diese Praxis eines limitierten und geschmäcklerischen Antikenrecyclings wurde durch Machiavellis Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio gründlich revolutioniert. Die Leistungen Athens und Roms erschienen hier nicht mehr als zu bewundernde Altertümer, die man wie »das Bruchstück einer alten Bildsäule« erwarb, um sein Haus damit zu schmücken.6 Sie wurden vielmehr als Modelle genommen, als exemplarische Vorführungen politischer Handlungsmacht, die es zu studieren und nachzuahmen galt. Tatsächlich war Machiavelli der Auffassung, dass die Geschichte sich wiederhole und dass deshalb die Wechselfälle der antiken Geschichte unmittelbar als Lehrstücke für die gegenwärtige, Florentiner Politik genommen werden könnten: »Wer also sorgfältig die Vergangenheit untersucht, 4  Vgl. Marielle de Franchis, »Livian manuscript tradition«, in: Bernard Mineo (Hg.), A companion to Livy, Chichester, 2015. 5  Vgl. Lucius Annaeus Seneca, Epistles 66 – 92, Cambridge, Mass, 1920, S. 277. 6  Niccolò Machiavelli, Politische Betrachtungen über die alte und die italienische Geschichte, hg. v. Erwin Faul, Köln, Opladen, 1965, S. 3.

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kann leicht die zukünftigen Ereignisse in jedem Staate vorhersehen und dieselben Mittel anwenden, die von den Alten angewandt wurden […].« 7 Die Geschichte Roms, wie sie in den (zu dieser Zeit bekannten) ersten zehn Büchern des Livius dargestellt war, bildete für Machiavelli keinen Gegenstand der Verehrung, sondern eine Fundgrube von Anschauungsmaterial, an dem die politische Klugheit sich üben konnte. Anders als im Principe geht es in den Discorsi nicht um die Etablierung und Sicherung fürstlicher Alleinherrschaft, sondern um die Einrichtung einer republikanischen Regierungsform, um die Frage der Erhaltung von Gleichheit und Freiheit. Machiavelli zufolge kann allerdings auch die demokratische Verfassung nur aus dem Gründungsakt eines Einzelnen, eines »prudente ordinatore d’una repubblica« hervorgehen: Es ist eine allgemeine Regel, daß eine Republik oder ein Königreich niemals oder nur selten von Anfang an gut eingerichtet oder vollkommen neu gestaltet wird, wenn es nicht durch einen einzigen geschieht, der den Plan angibt und aus dessen Geist alle Anordnungen hervorgehen. Deshalb muß ein weiser Gesetzgeber einer Republik […] nach der unumschränkten Gewalt streben.8

Aus dem Personal der Alten Geschichte stechen daher die Gesetzgeber- und Gründer-Figuren hervor: »Moses, Lykurg, Solon und andre Gründer von Reichen und Republiken, die alle nur deshalb Gesetze zum allgemeinen Besten zu geben vermochten, weil sie sich Gewalt beigelegt hatten.« 9 Machiavellis offensichtliche Vorliebe gilt Lykurg, der in Sparta eine so gleichmäßige Machtverteilung geschaffen hatte, dass seine Verfassung 800 Jahre lang unangetastet bestehen blieb.10 Servius Tullius jedoch, das römische Pendant zu Solon, taucht in Machiavellis Galerie der Gründerfiguren nicht auf. Dabei hätte er durchaus als Vorbild für moralfreie Machtpolitik dienen können – ein Mann, der nicht durch Geburt, sondern durch entschlossenes Handeln (»Dein ist die Königsherrschaft, wenn Du ein Mann bist« 11) an die Macht kommt und sich dabei auch eines Tricks bedient: Um sich als Herrscher einzuführen, verheimlicht er zunächst den Tod des Königs und gibt vor, an seiner Stelle zu handeln.12 Doch Machiavelli erwähnt Servius Tullius nur kurz, als abschreckendes Beispiel eines allzu vertrauensseligen Herrschers, der den Hass seiner Rivalen verkennt und sich in falscher Sicherheit wiegt: »Sicherlich war es von Servius Tullius unklug, zu glauben, die Söhne des Tarquinius würden sich damit bescheiden, die Schwiegersöhne des Mannes zu sein, 7  Ebd., S. 91. 8  Ebd., S. 29 – 30. 9  Ebd., S. 30 – 31. 10  Vgl. ebd., S. 9. 11  Livius, Ab urbe condita, Liber I. Römische Geschichte, 1. Buch., S. 127. 12  Vgl. ebd., S. 129.

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dessen Könige zu sein sie sich berechtigt glaubten.« 13 So kommen Machiavellis Discorsi, zweifellos die erste große Wiederaufnahme der antiken Politik, ganz ohne eine Erinnerung an den mythischen Gründungsakt des Servius Tullius und an die Realität der römischen Klassenteilung aus. Wie der italienische so verfolgt auch der englische Renaissance-Humanismus die Idee einer Reformation des Gemeinwesens (»commonwealth«) anhand antiker Vorbilder.14 Doch auch hier – bei Autoren wie Thomas More, Thomas Starkey oder Thomas Elyot – gehört die Geschichte von Servius Tullius nicht zu dem Bestand beispielhafter Episoden, aus denen man eine Lehre für die Gegenwart ziehen möchte. Idee und Praxis der Klassenteilung scheinen im humanistischen Programm einer Wiederbelebung der Antike keinen Ort zu haben, jedenfalls wird die Servius-Tullius-Szene nirgends zur Imitation empfohlen. Eine analoge Dynamik der Verdrängung lässt sich am Gebrauch des Wortes Klasse ablesen: Spätestens ab dem 14. Jahrhundert übernehmen die europäischen Sprachen den Begriff. Soweit er im Zusammenhang mit sozialer Einteilung verwendet wird, geschieht dies nie im Hinblick auf die aktuelle gesellschaftliche Ordnung, sondern stets nur in Bezug auf die römische Antike. So findet sich das (laut Littré) erste Vorkommen des Worts in französischer Sprache in einer um 1355 von Pierre Bersuire angefertigten Übersetzung von Livius’ Römischer Geschichte: »Servius ordena tout le pueple [sic] romain en cinq grandes distinctions, lesquelles il appela classes«.15 In dieser antiquarischen Bedeutung, als Ausdruck für eine abgelegte, nicht mehr relevante Form der gesellschaftlichen Teilung wandert der Begriff – offenbar im 16. Jahrhundert – auch ins Englische ein.16 Allerdings sorgt eine Art metaphorischer Sprossung dafür, dass sich der Anwendungsbereich des Begriffs allmählich ausdehnt. Während die Ausdrücke ›class‹ oder ›classis‹ (soweit sie überhaupt im sozialen Sinn verwendet werden) zunächst ausschließlich auf die Verhältnisse der römischen Antike bezogen werden, werden sie im 17. Jahrhundert auch eingesetzt, um die soziale Gliederung anderer Gesellschaften zu bezeichnen. Die Bedingung einer solchen Begriffswahl scheint aber zu sein, dass es sich dabei um Gesellschaften handelt, die historisch oder räumlich weit genug entfernt sind, um nicht mit der eigenen verwechselt zu werden, wie beispielsweise die der frühmittelalterlichen Sachsen,17 der alten

13  Machiavelli, Politische Betrachtungen über die alte und die italienische Geschichte, S. 237 – 238. 14  Vgl. Markku Peltonen, Classical humanism and republicanism in English political thought.

1570 – 1640, Cambridge, 1995, S. 8 – 9.

15  Émile Littré, Dictionnaire de la langue française. Tome Premier A-C, Paris, 1873, S. 639. 16  Tilly, »Social Class«, S. 3. 17  Vgl. Nathaniel Bacon, An historical and political discourse of the laws & government of

England from the first times to the end of the reign of Queen Elizabeth, London, 1682, S. 29 »[T] the Saxons in their first state in Germany were distributed into four Classes, vie. the Nobles, the Free-men, the Manumitted Persons, and the Bond men«.

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Schotten,18 oder der zeitgenössischen Chinesen.19 Diese Verwendung des Begriffs lässt sich mit der des später aufkommenden Kastenbegriffs vergleichen: Seine Funktion ist vor allem die einer Distanzierung und Exotisierung, die die Differenz zur eigenen Form der gesellschaftlichen Ordnung betont.

Formen der Wiederkehr Während das Prinzip ›Klasse‹ auf diese Weise noch auf Abstand gehalten wird, ist es an anderer Stelle längst in die Diskussion der gesellschaftlichen Ordnung eingedrungen. Ein wichtiges Einfallstor für die Ausweitung des Klassendenkens bildete die französische staatsrechtliche Diskussion. Die Six livres sur la république (1576) des Jean Bodin bilden ein frühes Beispiel für die Anwendung des Klassenbegriffs »auf die französische Gesellschaft als französische Gesellschaft – und nicht einfach als Analogon der Antike«.20 Der Ausdruck »classe« wird nun nicht mehr nur »in Bezug auf das römische Modell« verwendet. Er wird hier vielmehr – in einer »nominalistischen« Weise – als ein abstrakter, (sozio-) logischer Einteilungsbegriff verstanden, der dazu dienen kann, eine »Gruppe von Individuen mit gemeinsamen Attributen« zu bezeichnen.21 Als ein solcher abstrakter Teilungsbegriff, der nicht mehr an eine bestimmte historische Situation gebunden ist, erhält der Begriff der Klasse eine neuartige Virulenz. Er wird als eine Art Spaltprinzip in der politischen Theorie wirksam. Dies zeigt sich beispielsweise in Charles Loyseaus Traité des ordres et simples dignitez (1610), einer späten Ständelehre, die sich der Befestigung der alten, trifunktionalen Ordnung der mittelalterlichen Gesellschaft verschrieben hat: Die einen sind in besonderer Weise zum Gottesdienst bestimmt, andere zur Bewahrung des Staats durch die Waffen, und wieder andere zu seiner Ernährung und Erhaltung durch die Übungen des Friedens. Dies sind die drei Ordnungen

18  Vgl. George Buchanan, The history of Scotland written in Latin by George Buchanan;

faithfully rendered into English, London, 1690, S. 192: »Lands were allotted him, […] and they were then taken out of the Class of the Plebeians, into the Order of the Nobility«. 19  Vgl. Giovanni Francesco Gemelli Carreri, »A Voyage Round the World« (1699), in: Anon. (Hg.), A Collection of Voyages and Travels, Vol. IV , London, 1704, S. 345: »The Mandarines of the [Chinese] Empire, are divided into nine Classes, and every Class into nine Degrees«. Die Verwendung des Klassenbegriffs ist in diesem Fall eine Zutat des englischen Übersetzers. Im italienischen Original war noch von »Ordnungen« und »Graden« die Rede: »I Mandarini di tutto l’Impero si distinguono in nove ordini: ed ogni ordine e diviso in nove gradi.« ders., Giro del mondo. Volume quarto Contenente le cose più ragguardevoli veduto nella Cina, Napoli, 1700, S. 231. 20  Dallas L. Clouatre, »The concept of class in French culture prior to the Revolution«, Journal of the History of Ideas, Jg. 45, N° 2, 1984, 219 – 244, S. 225. 21  Ebd., S. 225.

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[ordres] oder Generalstände [Estats generaux] Frankreichs, der Klerus, der Adel und der Dritte Stand.22

Doch Loyseau begnügt sich nicht damit, den Stand [ordre] als die »stabilste und vom Menschen am wenigsten zu trennende Würde und Eigenschaft« zu preisen,23 er will die Notwendigkeit der hierarchischen Ordnung auch geschichtlich demonstrieren. Daraus ergibt sich der angestrengte Versuch, die gesellschaftliche Hierarchie des alten Rom mit der Ordnung der drei Stände in Einklang zu bringen: Im einfachen Volk von Rom lässt sich das Äquivalent des dritten Standes finden; die Ritterschaft entspricht dem Adel; und der ›Stand‹ der Senatoren muss den Klerus vertreten, den es in dieser Form in Rom nicht gegeben hat. Anstatt die zeitlose Gültigkeit der dreifaltigen Standesordnung zu erweisen, bringt der historische Vergleich jedoch eine ganze Reihe von Komplikationen mit sich. Wie Loyseau ausführlich darlegt, war die römische Bürgerschaft nicht einfach in drei Stände gegliedert, sondern wurde zusätzlich noch von vier bis fünf anderen Teilungsprinzipien durchquert: Nun waren die Römer aber auf vier Weisen geteilt, nimirum aut per tribus, aut per censum, aut per familias, aut per Ordines, d. h. entweder durch die Stadtviertel, oder durch die Mittel [moyens], oder durch die Herkunft [races], oder durch die Berufsstände [ordres] und Beschäftigungen [vacations] eines jeden. Ich lasse auch noch eine fünfte Aufteilung zu, die es in der Republik [Estat populaire] gab, nämlich durch Parteien und Faktionen […]. Weil die Eigenschaft, ein römischer Bürger zu sein, allen drei Ständen des römischen Volkes zukam, so umfassten auch diese fünf Teilungen das ganze römische Volk im Allgemeinen, d. h. auch die Senatoren und die Ritter, ebenso wie das gemeine Volk.24

Loyseaus Ausflug in die Antike (der auch die Servius-Tullius-Szene nicht auslässt 25) hat daher einen zwiespältigen Effekt: Seine Darstellung Roms soll dazu dienen, die ewige Gültigkeit der Standeshierarchie zu bestätigen, doch ihr Diskurseffekt besteht paradoxerweise eher darin, die Unruhe der römischen Klassen- und Parteienkämpfe in die Wahrnehmung der gesellschaftlichen Ordnung einziehen zu lassen. Auch wenn Loyseaus Traktat das traditionelle Ständesystem verteidigt, so trägt er doch dazu bei, das Denken in »Klassen« (und anderen nicht-ständischen Aufteilungsmustern) gesellschaftsfähig werden zu lassen – einfach dadurch, dass er es zum Gegenstand des politischen Räsonnements macht.

22  23  24  25 

Charles Loyseau, Traité des ordres et simples dignitez, Paris, 1610, S. 2. Ebd., S. 4. Ebd., S. 22. Vgl. ebd., S. 22.

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Auch im elisabethanischen England ist es ein beliebtes Spiel, die gegenwärtige Ordnung mit antiken Vorbildern zu vergleichen. Dabei mischt sich wie von selbst etwas vom antiken Vokabular in die Beschreibung der zeitgenössischen Standesgesellschaft. In seiner bereits in den 1560er Jahren verfassten und 1583 Jahren veröffentlichten Abhandlung De Republica anglorum unterscheidet Thomas Smith in bis dahin nicht gekannter Weise zwischen vier »sorts of men«. Es zeugt von der untergründigen Wiederbelebung des antiken Klassenparadigmas, wenn hier die vierte, niedrigste »Sorte« von »men which doe not rule« zugleich als »Klasse« bezeichnet und mit dem römischen Proletariat gleichgesetzt wird: The fourth sort or classe amongest vs, is of those which the olde Romans called capite censij proletarij or operae, day labourers, poore husbandmen, yea marcantes or retailers which haue no frée lande, copi holders, and all artificers, as Taylers, Shoomakers, Carpenters, Brickemakers, Bricklayers, Masons, &c.26

Den größten Anteil an der Wiedereinspeisung des versunkenen Klassenwissens in den englischen politischen Diskurs dürfte jedoch nicht Smiths politischer Traktat gehabt haben, sondern ein Schulbuch. 1614 veröffentlicht der Schulrektor Thomas Godwyn eine English exposition of the Romane antiquities, die zahlreiche Auflagen erleben und für ein Jahrhundert das maßgebliche (weil einzige) Lehrbuch zur römischen Geschichte bleiben wird. Hier findet sich in einer allgemeinverständlichen, englischsprachigen Kurzfassung der Kern des durch Livius überlieferten Wissens von der ursprünglichen Klassenteilung des römischen Volkes: Servius Tullius caused a generall valuation of every citizens estate throughout Rome, to be taken vpon record together with their age: and according to their estates and age, he divided the Romanes into six great armies or bands which he called Classes; though in truth there were but fiue of speciall note: the sixt contained none but the poorer sort and those of no worth or esteeme. The valuation of those in the first Classis was not vnder two hundred pounds, and they alone by way of excellency were termed Classici: and hence figuratiuely are our best and worthiest authors called Classici scriptores, Classicall authors.27

26  Smith, Thomas, Sir, De republica Anglorum, S. 33. 27  Thomas Godwyn, Romanæ historiæ anthologia. An English exposition of the Romane an-

tiquities, Oxford, 1614, S. 104 – 105. Jedem Gymnasiasten des 17. Jahrhundert konnte also klar sein, dass hehre Begriffe wie ›das Klassische‹ oder ›die Klassik‹ ihren Ursprung in der Praxis der sozialen Klassifizierung hatten. Spätere Autoren haben das mit einer gewissen Verblüffung wiederentdeckt. Vgl. z. B. Ernst Robert Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter (1948), Bern, 1993, S. 255 – 257; Peter Stallybrass u. Allon White, The politics and poetics of transgression, London, 1986, S. 1 – 2; Richard Terdiman, »Is there class in this class?«, in: Harold Aram Veeser (Hg.), The new historicism, New York, NY , 1989, 225 – 230, S. 226.

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Mit dieser Schulbuchversion der römischen Geschichte steht nicht nur eine allgemein zugängliche, konzise Version von Livius’ Erzählung zur Verfügung. Durch die Art der Präsentation wird dem Altertumswissen zugleich ein möglicher Bezug zur Gegenwart eingeräumt. Godwyn bewirbt sein Buch damit, dass darin »many Romane and English offices are paralleld and divers obscure phrases explained«.28 Gegenüber der antiquarischen Konservierung steht hier also die Aktualisierung des Wissens, die Beziehung zwischen Gegenwart und Vergangenheit im Vordergrund. Die Nachahmung der Alten hat nicht den Charakter einer passiven Übernahme, sondern den einer aktiven Hervorbringung. Denn die Nähe von antiker und frühneuzeitlicher Gesellschaft ist keineswegs einfach gegeben. Die Ähnlichkeiten zwischen den alten und neuen Verhältnissen stellen sich nicht von selbst ein, sie müssen vielmehr freigelegt, evident gemacht werden – unter anderem dadurch, dass die Hindernisse der Anähnlichung (»obscure phrases«) aus dem Weg geschafft werden. Eine Arbeit der Angleichung ist nötig, um die Ähnlichkeit zu schaffen. Historische Mimesis gibt sich damit als ›Projekt‹ zu erkennen, in dem Sinn, dass die Ähnlichkeiten zunächst einmal entworfen oder pro-jiziert werden müssen, bevor sie entdeckt und erkannt werden können.29 Angesichts der Verbreitung von Godwyns Kompendium der römischen Geschichte ist anzunehmen, dass das Buch nicht unwesentlich dazu beigetragen hat, die Servius-Tullius-Geschichte aus ihrer fast vollständigen Vergessenheit zu holen und den jahrhundertelang verschütteten sozialen Klassenbegriff wieder in Umlauf zu bringen. Einige der Akteure, die in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts das Konzept der Klassenteilung gezielt einsetzten und ihm eine neue gesellschaftliche Wirksamkeit verschafften, wie John Harrington oder William Petty, dürften dem Begriff Klasse und der Idee der sozialen Klassenteilung zum ersten Mal in den Romane antiquities begegnet sein.

Auftritt der Gesetzgeber In seiner klassischen Studie The Machiavellian Moment hat J. G. A. Pocock die Frage aufgeworfen, wie sich innerhalb der starren englischen Ständegesellschaft des 17. Jahrhunderts die revolutionäre Vorstellung eines freien, nur seinen eigenen Interessen und moralischen Maßstäben verpflichteten Bürgers durchsetzen konnte. Dies, so seine Antwort, konnte nur funktionieren, indem sich die neuen Werte als alte Tugenden präsentierten, als Verwirklichungen des antiken Ideals 28  Godwyn, Romanæ historiæ anthologia, Titelseite. 29  Vgl. Gunter Gebauer u. Christoph Wulf, Mimesis. Kultur, Kunst, Gesellschaft, Reinbek

bei Hamburg, 1992, S. 432 – 433: »Mimetische Prozesse beruhen nicht auf Ähnlichkeiten. Erst wenn eine Bezugnahme von einer mimetischen auf eine andere Welt eingerichtet worden ist, kann es zu einem Vergleich zwischen beiden Welten kommen und das Tertium comparationis bestimmt werden. Ähnlichkeit ist eine Folge von mimetischer Bezugnahme.«

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der vita activa.30 Radikale, republikanische und demokratische Ideen konnten in die herrschende Ideologie eindringen, unter der Bedingung, dass sie sich nicht unmittelbar als ›machiavellistisch‹ offenbarten, sondern sich im antiken Gewand, beispielsweise dem des Tacitus präsentierten. So fanden sich seit dem Tod Elizabeths I. (1603) in den Traktaten zur monarchischen Macht immer häufiger Vorstellungen eines »harmonischen Ausgleichs« zwischen den Ständen oder einer »gemischten Regierung«, die sich kaum mit der traditionellen Doktrin einer sich von Gott über den König bis zum letzten Untertan fortpflanzenden Autorität vereinbaren ließen. Weil sie sich jedoch als Darstellungen antiker und nicht etwa zeitgenössischer Verhältnisse ausgaben, wurden sie nicht als ungehörig oder aufrührerisch betrachtet. Als dann schließlich, zur Jahrhundertmitte, »das monarchische Paradigma zusammenbrach und der König zugeben musste, dass er, gezwungenermaßen oder rechtmäßigerweise seine Macht mit anderen teilte, stand die Terminologie schon bereit, um die Regierung Englands als eine ausgeglichene Beziehung zwischen König, Lords und Commons zu charakterisieren«.31 Erfüllt die griechische und römische Einkleidung also zunächst eine Art Camouflage-Funktion, die es der neuen Ideologie des »mixed government« erlaubt, unbemerkt Terrain zu gewinnen, so bekommt der Bezug auf die Antike in der Zeit des Bürgerkriegs eine neue Qualität: Der Rückgang aufs Altertum stellt nun weniger einen Kunstgriff dar, um die Radikalität der Gedanken zu verstecken. Er funktioniert vielmehr geradezu als Ausweis von Radikalität, als Zeichen der Bereitschaft, die schlechten gegenwärtigen Verhältnisse zu verlassen und sich an die Herstellung eines neuen Roms zu machen. Auf diese Weise wird in der diskursiven Unruhe des Englischen Bürgerkriegs das gelehrte, antiquarische Wissen zu einem Spieleinsatz der aktuellen Politik. In den Verfassungsdebatten, die nach der Hinrichtung des Königs losbrechen, blühen die Theorien einer Volkssouveränität nach römischem Modell, und ihre Verfasser sind offensichtlich bemüht, Machiavellis Stellenbeschreibung des besonnenen politischen Beraters zu entsprechen: »ein einsichtiger Mann, der die Staatsverfassungen des Altertums kennt« 32. So kommen in den politischen Traktaten der 1640er und 1650er Jahre die Gesetzgeberfiguren der alten Geschichte zu neuen Ehren. Lykurg und Solon bilden die unangefochtenen Vorbilder der republikanischen Umwälzung, weil von ihnen gesagt werden kann, dass sie nicht nur eine neue Regierung, sondern ein neues Gesetz, ein neues Prinzip der gesellschaftlichen Aufteilung verwirklicht haben. Da man von Machiavelli weiß, dass ein wahrer Staatsgründer nicht nur Weisheit, sondern auch Macht besitzen muss, ist kaum einer der Pamphletisten vermessen genug, die Rolle des selbstlosen Gesetzgebers für sich selbst in Anspruch zu nehmen. Sie wird gewöhnlich 30  Pocock, The Machiavellian moment, S. 335. 31  Ebd., S. 355. 32  Machiavelli, Politische Betrachtungen über die alte und die italienische Geschichte, S. 122.

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Cromwell angetragen, mit dem Hintergedanken, ihn dadurch von dem Vorhaben einer autokratischen Machtausübung abzuhalten. 1652 wendet sich Gerrard Winstanley, Wortführer der Digger-Bewegung, an Cromwell. Er adressiert ihn als einen Moses, der das Volk aus der Knechtschaft geführt habe, und nun in der Lage sei, ihm ein neues Gesetz zu geben. Als Sieger des Bürgerkriegs, der »die Macht über das Land« in seiner Hand habe, müsse Cromwell sich entscheiden: Er könne das Land den unterdrückten Kleinbauern (Commoners) übereignen und dadurch zum ruhmreichen Schöpfer eines Reichs der Freiheit werden. Er könne aber auch die Macht »aus der Hand des Königs in andere Hände legen« und die alten Gesetze aufrechterhalten – dies würde bedeuten, dass seine »Weisheit und Ehre für immer vernichtet« wären und er die Grundlage für eine größere Sklaverei lege, als man je gekannt habe.33 In ähnlicher Weise bemüht der Journalist Marchamont Nedham, dessen 1651 – 52 verfasste Editorials zum Mercurius Politicus als früheste Manifeste des englischen demokratischen Republikanismus gelten können,34 die Figur des Lykurg, um Cromwell eine egalitäre Verteilung der Macht nahezulegen: So wie nach der spartanischen Verfassung der König nicht mehr Wert hatte als die Senatoren, »so the Senate was restrained by Laws, walking in the same even pace of subjection with the People«.35 Es ist nicht verwunderlich, dass auf der anderen Seite die Verteidiger einer uneingeschränkten Alleinregierung, sei es der eines Königs oder eines Militärdiktators, jeden Bezug auf die antike republikanische Tradition vermeiden und den Wert der historischen Beispiele zu diskreditieren versuchen. So findet sich in Thomas Hobbes’ Leviathan (1656) bezeichnenderweise keine Spur von Moses, Lykurg, Solon oder Servius Tullius. Die machiavellistische Devise, von der Antike zu lernen, wehrt Hobbes explizit ab. In der Lektüre der Alten sieht er vielmehr eine der wesentlichen Ursachen für die Zerrüttung der öffentlichen Sicherheit: And as to Rebellion in particular against Monarchy; one of the most frequent causes of it, is the Reading of the books of Policy, and Histories of the antient Greeks, and Romans; […] From the reading, I say, of such books, men have undertaken to kill their Kings, because the Greek and Latine writers, in their books, and discourses of Policy, make it lawfull, and laudable, for any man so to do; provided before he do it, he call him Tyrant.36

Während Hobbes jeden Bezug auf die Antike vermeidet und seinen Lesern zu bedenken gibt, »[t]hat Wisedome is acquired, not by reading of Books, but of 33  Winstanley, »The Law of Freedom in a Platform«, S. 276. 34  Vgl. Pocock, The Machiavellian moment, S. 382. 35  Marchamont Nedham, The excellencie of a free-state, or, the right constitution of a common-

wealth (1656), hg. v. Blair Worden, Indianapolis, Ind., 2011, S. 37. 36  Hobbes, Leviathan, S. 258.

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Men«,37 unternimmt Sir Robert Filmer, der wichtigste Vertreter der Lehre des Gottesgnadentums, die Anstrengung, die von den Demokraten angeführten Beispiele antiker Volksherrschaft zu diskreditieren. In seinen Observations upon Aristotle’s Politiques (1652) legt er dar, »that the Roman government was never truly popular, for that in her greatest show of popularity, there were to be found above ten servants for every citizen or freeman, and of those servants, not one of them was allowed any place, or voice in government«.38 Doch auch diejenigen Bewohner Roms, die sich Bürger nennen durften, seien keineswegs gleichmäßig an der Macht beteiligt worden. So ist es ausgerechnet der glühende Verfechter einer monarchischen, patriarchalischen Ordnung, der in überzeugender Weise die Ungerechtigkeit des antiken Klassenwahlrechts offenlegt: [T]hus the nobles and richer men who were but few in comparison of the common people did bear the chief sway, because all the poorer sort, or proletarian rabble, were clapped into the sixth class, which in reckoning were allowed but the single voice of one Century, which never came to voting: whereas in number they did far exceed all the five other classes or Centuries […].39

Die Utopie der Neuaufteilung Der ausgefeilteste republikanische Verfassungsentwurf aus den Jahren zwischen der Enthauptung des Königs (1649) und der Wiederherstellung der Monarchie (1660) ist The Commonwealth of Oceana (1656) von James Harrington. Harringtons Werk, das vor allem durch die Erfindung bestimmter grundlegender Verfahren demokratischer Politik, z. B. des Abstimmungsverfahrens der ›ballotage‹ oder des Rotationsprinzips bekannt geworden ist, gewann seinen größten Einfluss in den amerikanischen Kolonien: Sowohl die 1681 von William Penn geschaffene Verfassung von Pennsylvania als auch die durch John Adams ausarbeitete und 1780 verabschiedete Verfassung der USA orientieren sich eng an dem von Harrington entworfenen System einer ›balance of power‹. In unserem Zusammenhang ist Harringtons Oceana von besonderem Interesse, weil es sich um die erste politische Programmschrift handelt, in der die antike Klassenteilung ausdrücklich zum Modell einer künftigen Gesellschaft erhoben wird. Diskursiver Hintergrund der Veröffentlichung ist offenbar – ein weiteres Mal – das Bemühen, Cromwell von der monarchischen Alleinherrschaft abzuhalten, indem man ihm den ehrenvollen Posten des weisen und mächtigen Gründers 37  Ebd., S. 10. 38  Robert Filmer, »Observations upon Aristotle’s Politiques, Touching Forms of Govern-

ment« (1652), in: ders., Patriarcha and other political works of Sir Robert Filmer, hg. v. Peter Laslett, Oxford, 1949, 185 – 229, S. 212. Mit »Centuries« sind die ›Zenturien‹ der römischen Heeresordnung gemeint. 39  Ebd., S. 214.

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der Republik anbot.40 Cromwell, der in der Oceana mit dem klangvollen Namen »Olphaus Megaletor« belegt und mit Ehrentiteln wie »most victorious captain and incomparable patriot, »pater patriae«, »Lord Archon« und »sole legislator« überhäuft wird, hat diese Absicht offenbar schnell erraten. Nach der Lektüre von Harringtons Traktat soll er gesagt haben, dieser Gentleman wolle ihn wohl durch eine Finte seiner Macht berauben; er aber werde das, was er mit dem Schwert erobert habe, nicht wegen eines »little paper Shot« aufgeben.41 Im Mittelpunkt der Oceana steht die von Machiavelli übernommene Frage nach der Möglichkeit einer stabilen Regierung. Die konventionelle Ansicht, nach der die Ständegesellschaft die besten Voraussetzungen biete, um dem Ausgleich zwischen »the one, the few, and the many« zu schaffen, weist Harrington als Irrtum zurück. Die »gothic balance« oder »modern prudence«, die die »ancient prudence« der antiken Welt ersetzt habe, habe sich vielmehr als ein andauerndes »wrestling match« erwiesen, in dem König, Adel und Volk allein den Ehrgeiz gehabt hätten, die Macht an sich zu reißen und die jeweils anderen Kräfte zu unterdrücken.42 Ähnlich wie Hobbes, dessen Leviathan fünf Jahre zuvor, 1651, erschienen war, geht es Harrington um die Einrichtung einer Verfassung, die den fruchtlosen Kampf der Parteien beenden und eine stabile gesellschaftliche Situation schaffen könnte. Anders als Hobbes glaubt Harrington jedoch nicht an die Möglichkeit, die politische Organisationsweise durch vernunftgemäße Übereinkunft erneuern zu können. Eine Regierung auf eine bloße Idee zu gründen, auf etwas, das nicht den wirklichen gesellschaftlichen Gegebenheiten entspricht, heißt für ihn nichts anderes als »to build Castles in the Air«.43 Anstatt wie Hobbes von abstrakten Prämissen auszugehen und daraus in quasi-mathematischer Weise die notwendige Herrschaftsweise ableiten, hält sich Harrington an das Vorbild Machiavellis und versucht durch die empirische Untersuchung einer breiten Palette von Regierungsformen herauszufinden, welche davon sich am ehesten für das Commonwealth von Oceana, d. h. für die zu errichtende englische Republik eignen könnte. Aus dem vergleichenden Studium der Verfassungen der Juden, Spartas, Roms, Venedigs und Englands ergibt sich eine Art Erfahrungsregel, die Harrington als allgemeines Gesetz der Geschichte festhält: Diejenigen Regierungsformen sind die stabilsten, die in ihrer Zusammensetzung am besten die herrschenden Besitzverhältnisse abbilden.

40  Vgl. Richard Olson, The emergence of the social sciences, 1642 – 1792, New York, 1993, S. 79. 41  John Toland, »The Life of James Harrington«, in: James Harrington, The Oceana of

James Harrington, Esq., and His Other Works, hg. v. John Toland, Dublin, 1737, xiii–xliv, S. xx. 42  James Harrington, »The Commonwealth of Oceana« (1656), in: ders., The commonwealth of Oceana, and, A system of politics, hg. v. J. G. A. Pocock, Cambridge, New York, 1992, 1 – 266, S. 53. 43  James Harrington, »Political Aphorisms«, in: ders., The Oceana of James Harrington, Esq., and His Other Works, hg. v. John Toland, Dublin, 1737, 515 – 523, S. 520.

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Die schon bei Machiavelli zu findende Einsicht, dass die Regierungsform die Verhältnisse der Gleichheit oder Ungleichheit zwischen den Menschen berücksichtigen müsse – »sonst schafft man etwas, das ohne Verhältnis und von kurzer Dauer ist« 44 – wird hier in einen strengen ökonomischen Determinismus überführt: Überall, ob in der Geschichte von Athen, Rom, Florenz oder England, folgt die Ordnung der Regierung der Ordnung des Besitzes. Wenn eine Regierungsweise versagt, dann liegt das daran, dass »die Verteilung der politischen Autorität nicht mehr richtig der Verteilung des Besitzes« entspricht,45 dass die »superstructures« der gesellschaftlichen Aufteilung und politischen Partizipation nicht mehr den »foundations«, also den gegebenen Besitzverhältnissen entsprechen. Politische Klugheit besteht entsprechend vor allem darin, der Realität der ökonomischen Verhältnisse gerecht zu werden; sie ist gleichbedeutend mit »the skill of raising such superstructures of government as are natural to the known foundations«.46 Was England angeht, so sind die ökonomischen Grundlagen, wie Harrington hervorhebt, wesentlich durch Landbesitz bestimmt. Von alles überragender Bestimmungsmacht ist daher die Form der Landverteilung, das »agrarian law«. Ein »equal commonwealth«, ein Gemeinwesen, das nicht laufend vom Streit der Parteien zerrissen werden soll, bedarf daher nicht nur demokratischer Regierungsinstrumente, es bedarf auch einer ausgeglichenen Verteilung des Grundbesitzes: »An equal agrarian is a perpetual law establishing and preserving the balance of dominion, by such a distribution that no one man or number of men within the compass of the few or aristocracy can come to overpower the whole people by their possessions in lands.« 47 Forderungen nach einer umfassenden Neuaufteilung oder gar Vergesellschaftung des Bodens, wie sie die Bewegungen der Levellers und Diggers erhoben hatten, macht sich Harrington nicht zu eigen. Aus seiner Sicht, der eines Gentleman und mittleren Eigentümers, ist die Verteilung des Landbesitzes in England bereits so ausgeglichen, dass der Errichtung eines »equal Commonwealth« nichts im Wege steht. So kann die Agrargesetzgebung von Oceana sich darauf beschränken, einer Konzentration des Landes in der Hand weniger Großgrundbesitzer entgegenzuwirken.48

Machiavelli, Politische Betrachtungen über die alte und die italienische Geschichte, S. 123. Pocock, The Machiavellian moment, S. 387. Harrington, »The Commonwealth of Oceana«, S. 60. Ebd., S. 33. Lediglich Eigentümer von Landgütern mit einem jährlichen Ertrag von mehr als 5.000 £ sollten gezwungen sein, ihr Land unter ihren Söhnen aufzuteilen. Zudem sollte es untersagt sein, Ländereien neu erwerben, wenn dadurch der gesamte Grundbesitz einen Ertragswert von 2.000 £ pro Jahr überschritt. Vgl. ebd., 101. 44  45  46  47  48 

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Klassenteilung im römischen Kostüm Harrington teilt die Vorliebe Machiavellis für die antiken Gesetzgeberfiguren. Moses, Theseus, Lykurg, Solon und Romulus werden geschätzt als diejenigen, die mit einem Schlag die alten Regelungen beiseiteschoben und ein neues Gesetz errichteten. Als Inbegriff des Gesetzgebers ragt in der Oceana die Figur des Lykurg hervor, denn dieser hatte nicht nur die dauerhafteste gesellschaftliche Ordnung geschaffen, sondern auch die, die mit den wenigsten Gesetzen auskam. Das Lykurgsche Modell, dessen Erfolg unter anderem auf dem Verbot des Geldhandels und der Abschottung Spartas gegenüber allen fremden Einflüssen beruhte, ließ sich allerdings unter den Bedingungen der kommerziellen Revolution und eines ausgreifenden Seehandels nicht wiederbeleben. Selbst Harrington, der in seiner Bestimmung des Reichtums an dem konventionellen Maßstab des Landbesitzes festhielt, musste zugeben, dass der Handel aus der Definition der neuen englischen Republik nicht wegzudenken war: »The Spartan could have not trade; the Oceaner may have all.« 49 Auf diese Weise – gleichsam als Ersatz für den allzu altmodischen Lykurg – kommt nun, erstmals in einem politischen Programmentwurf der Neuzeit, Servius Tullius wieder zu Ehren. Von ihm weiß man, dass er sich mit der Verteilung von Menschen auskannte; er ist bekannt als »this king which distributed the people, according to the cense or valuation of their estates, unto six classes«.50 Dass er in der Oceana nicht offen als mustergültiger Gesetzgeber präsentiert und als solcher mit Cromwell in Verbindung gebracht wird, hat wohl vor allem damit zu tun, dass er sich selbst zum König gemacht hatte – eine politische Option, von der Harrington und andere Republikaner den Lord Protector gerade abzubringen versuchten.51 Dennoch ist unübersehbar, dass das Gemeinwesen von Oceana viel eher nach dem Modell des Servius Tullius als nach dem des Lykurg oder Solon geschaffen ist. Die Anweisungen zur methodischen Gliederung der Bürger von Oceana sind, wie Harrington zugibt, »not without a near resemblance of the Roman division«.52 Bis in die Bezeichnungen hinein (Zenturien, Zensus, Classis) werden 49  Ebd., 110. 50  Ebd., 74. 51  Jonathan Swift hatte es, meherer Jahrzehnte später, nicht mehr nötig, solche Rücksichten

zu nehmen. 1701 gibt er eine Schilderung des Servius Tullius, die in durchsichtiger Weise als Porträt Cromwells angelegt ist: »[…] Servius Tullius, a stranger, and of mean extraction, was chosen protector of the kingdom by the people, without the consent of the senate; at which the nobles being displeased, he wholly applied himself to gratify the commons, and was by them declared and confirmed no longer protector, but king.« Jonathan Swift, »Discourse of the contests and dissensions between the nobles and the commons in Athens and Rome« (1701), in: Jonathan Swift, The Works of the Rev. Jonathan Swift, hg. v. Thomas Sheridan u. John Nichols, London, 1801, 289 – 346, S. 315. 52  Harrington, »The Commonwealth of Oceana«, S. 147.

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die Teilungspraktiken der römischen Klassengesellschaft wiederaufgenommen, so z. B. die Einteilung des Volks »into freemen or citizens, and servants«,53 die Zuweisung zur Fuß- oder Reitertruppe »by the Cense or valuation of their Estates« 54 oder die Aufteilung »according unto the places of their habitation, unto parishes, hundreds and tribes«.55 Auch die Praxis der jährlich einzuberufenden Bürgerversammlungen folgt ganz dem Vorbild der comitia centuriata, mit dem Unterschied, dass in Oceana nicht mit Trompeten, sondern mit Kirchenglocken zum Appell gerufen werden soll.56 Harrington war sich der revolutionären Natur seiner Regierungsvorschläge wohl bewusst. Wenn eine Regierung neu geformt (»new modell’d«) werde, dürfe man sich nicht von den bestehenden staatlichen Gesetzen (»Civil Lawes«) einschränken lassen. Die Rechtsgelehrten, die dazu raten, die Regierung ihren Gesetzen anzupassen, dürfe man genauso wenig beachten, wie den Schneider, der erwartet, dass man den Körper in sein Wams zwängt.57 So wendet sich Harrington offenbar entschieden dem Neuen zu. Doch belegt der ganze Gang seiner Argumentation die Marx’sche Erfahrungsregel, nach der das revolutionäre Neue nur im Gewand des Alten auftreten kann: Auch Harrington, im Begriff »sich und die Dinge umzuwälzen, noch nicht Dagewesenes zu schaffen«, kommt nicht umhin, die »Geister der Vergangenheit« heraufzubeschwören, ihnen »Namen, Schlachtparole, Kostüm« zu entleihen, »um in dieser altehrwürdigen Verkleidung und mit dieser erborgten Sprache die neue Weltgeschichtsszene aufzuführen«.58 Die historische Kostümierung musste Harrington als ganz natürlich erscheinen. Er liebte die römische Dichtung und Geschichtsschreibung (besonders Livius),59 und er hatte sich, bevor er sich für eine Karriere in der Politik entschied, als Vergil-Übersetzer versucht.60 Wie Machiavelli macht er jedoch keinen antiquarischen, sondern einen modernen Gebrauch von den antiken Texten: Die historischen Figuren und Situationen dienen nicht als Vorbilder, sondern als Modelle, als Material einer vergleichenden, abschätzenden Untersuchung. Es gibt also in der ›Nachahmung der Alten‹ so etwas wie eine reflexive Differenz, eine Prüfung oder Auswahl, die darüber entscheidet, welche Vergangenheit zur Wiederholung zugelassen wird. Die Antike hat für Harrington wie für andere Modernisierer des 17. Jahrhunderts die Funktion eines historischen Katapults: Um das schlechte Alte,

Ebd., S. 75. Ebd., S. 76. Ebd., S. 77. Vgl. ebd., S. 78. Vgl. ebd., S. 41. Marx, »Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte«, S. 115. Vgl. Arihiro Fukuda, Sovereignty and the sword. Harrington, Hobbes, and mixed government in the English civil wars, Oxford, New York, 1997, S. 16. 60  Alois Riklin, Die Republik von James Harrington 1656, Bern, 1999, S. 74. 53  54  55  56  57  58  59 

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das prekäre »gotische Gleichgewicht« (»gothic balance« 61) zu überwinden und zu einem wirklichen »Equal Commonwealth« zu gelangen, muss man sich ins Ältere, in die große Zeit des republikanischen Rom versetzen. Die Utopie einer agrarisch geprägten, egalitären ›New Model Society‹ bezieht ihre Autorität aus der Vergangenheit. Die Revolution präsentiert sich hier im buchstäblichen Sinn als Re-volution, als ein Versuch, die Zeit zurückzudrehen und zu einem Zustand anfänglicher Ordnung zurückzukehren. Es ist leicht zu erkennen, dass die Gleichheit, die in Harringtons Equal Commonwealth herrschen soll, eine recht exklusive Angelegenheit ist. Es geht nicht darum, die Gleichberechtigung aller Bürger zu verwirklichen. Vielmehr handelt es sich darum, innerhalb einer Elite von ein paar tausend Grundbesitzern ein stabiles Gleichgewicht der Kräfte herzustellen. Aufgrund der Bindung der politischen Beteiligung an den Landbesitz lässt sich auch nicht von einem ›bürgerlichen‹ Projekt sprechen. Wie John Pocock bemerkt hat, schrieb Harrington »at the last moment when it was possible to ignore the power of capital in the formation of states«.62 Fest verankert in der »anticommercial tradition« des englischen Landadels,63 zog Harrington nie in Betracht, dass Kaufleute in Staatsdingen etwas mitzureden haben könnten. So muss man sich eingestehen, dass der erste moderne Entwurf einer ›Klassengesellschaft‹ keineswegs auf den Expansionsgeist der Bourgeoisie oder auf die Dynamik der kapitalistischen Verwertung zurückging. Es handelte sich im Gegenteil um den Versuch, gegen alle Ansprüche des moneyed wealth den Vorrang der Grundherrschaft zu sichern. Eine ausgeglichenere Verteilung unter den Landbesitzern sollte dazu dienen, deren Überlegenheit zu sichern. Wenn auf diese Weise Harringtons Vorstellung von gesellschaftlicher Teilhabe – zumindest aus Sicht des aufstrebenden Bürgertums – als geradezu reaktionär erscheinen muss, so kann andererseits der wissenschaftliche (oder bürokratische) Zug, den die Idee der Klassenteilung annimmt, als ›modern‹ bezeichnet werden. Wie Machiavelli zeigt sich Harrington fasziniert von der Möglichkeit, durch einen einmaligen Einteilungsakt eine für Jahrhunderte andauernde Ordnung zu stiften. Anders als Machiavelli interessiert er sich aber auch für die Details, sozusagen die verwaltungstechnischen Durchführungsbestimmungen der gesellschaftlichen Neueinteilung. Der erste Akt bei der Errichtung eines Gebäudes, so Harrington, »can be no other than fitting and distributing the materials.« Ebenso muss am Anfang eines Commonwealth der richtige Zuschnitt und die richtige Verteilung des Menschenmaterials stehen:

61  Harrington, »The Commonwealth of Oceana«, S. 48. 62  J. G. A. Pocock, »Introduction«, in: James Harrington, The commonwealth of Oceana,

and, A system of politics, hg. v. J. G. A. Pocock, Cambridge, New York, 1992, vii–xxv, S. xxiv. 63  Vgl. Arthur H. Williamson, »An empire to end empire. The dynamic of early modern British expansion«, Huntington Library Quarterly, Jg. 68, N° 1 – 2, 2005, 227 – 256, S. 252.

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The materials of a commonwealth are the people; and the people of Oceana were distributed by casting them into certain divisions, regarding their quality, their ages, their wealth, and the places of their residence or habitation.64

Die neue Ordnung der Gleichheit kann nur verwirklicht werden, wenn die Menschen »methodically collected« und »methodically distributed« werden.65 Mit der Idee einer ekstatischen Gemeinsamkeit, eines glücklichen Kollektivismus, in dem alle Differenzen ausgelöscht wären, hat Harringtons »Equal Commonwealth« nichts zu tun. Es zielt nicht darauf, das System der hierarchischen Differenzierung zu beseitigen, sondern dieses auf einen objektiven Maßstab zu gründen, mehr Genauigkeit in die Unterscheidung einzuführen. Die Utopie ist nicht die einer klassenlosen, sondern vielmehr die einer vollkommen durchklassifizierten Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der alle Machtdifferenzen sich auf reale, ›objektiv‹ bestimmbare Unterschiede gründen. Gerechtigkeit erscheint als eine Frage der genaueren Zumessung. Das Prinzip der Klassenteilung, das bis dahin im politischen Diskurs nur als historische Reminiszenz und gelehrte Anspielung vorkam, erfährt durch Harringtons Oceana eine unverhoffte Reaktivierung und Aktualisierung. Es ist insbesondere der Hang zur methodischen, bürokratischen Erfassung, der Harringtons Entwurf für die gesellschaftlichen Modernisierungsprojekte des 17. Jahrhunderts anschlussfähig macht. Von nun an ist ›Klasse‹ nicht mehr nur Abjekt, verworfene, ›heidnische‹ Vergangenheit. Für manche wird sie zum Projekt, zur Verheißung einer vernünftigen, besseren Zukunft.

64  Harrington, »The Commonwealth of Oceana«, S. 75. 65  Ebd., 77.

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EIN NEUER LANDVERMESSER. WILLIAM PETTYS IRISCHE MISSION Wie dieses und die beiden folgenden Kapitel deutlich machen sollen, lässt sich für die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts durchaus von so etwas wie einem ›Projekt Klasse‹ sprechen: In einer Epoche extremer diskursiver Erhitzung wurde von verschiedener Seite und in wiederholten Anläufen der Versuch unternommen, die alten Ordnungsschemata beiseite zu räumen und einen neuen Regulationsmodus der sozialen Stellung und politischen Beteiligung durchzusetzen. Den organisiertesten Vorstoß in diese Richtung bildet die Politische Arithmetik. William Petty, ihr wichtigster Begründer, hat die klassifikatorische Einteilung zu einem Mittel nicht nur der Wissenschaft, sondern auch der Politik gemacht. Er soll hier zunächst als Leiter eines kartographischen Großprojekts, des irischen Down Survey von 1655 – 1656, vorgestellt werden.

Klasse als Projekt ›Projekt‹ ist tatsächlich kein schlechtes Wort, um die Art der Ausbreitung des Klassenprinzips zu bezeichnen, von der im Folgenden die Rede sein soll. Es handelt sich dabei keineswegs um eine anachronistische Zuschreibung. Denn das Wort hat im 17. Jahrhundert genau den schillernden Sinn eines ›Plans‹ oder ›Vorschlags‹ zu einer technologisch-politisch-ökonomischen Verbesserung, der hier zur Debatte steht. Die heute bekannteste zeitgenössische Stellungnahme zur Projektemacherei des 17. Jahrhunderts ist Daniel Defoes Essay upon Projects (1697). Den »Projecting Humour« seiner Zeit, den er mit der Explosion der Finanzierungsgeschäfte und dem Aufkommen windiger Figuren wie dem Börsenmakler verbindet, lässt Defoe mit dem Jahr 1680 beginnen – d. h. etwa der Zeit, in der er selbst als Kaufmann und Projekteschmied tätig geworden war –, er gesteht aber zu, dass dieses politische »Monster« schon in der Zeit des Bürgerkriegs »something of life« gehabt habe.1 Anscheinend sind es aber nicht die Engländer, die das Phänomen erfunden haben. Eine erste Welle der Projektemacherei lässt sich schon für das Spanien des späten 16. Jahrhunderts verzeichnen.2 In der englischen öffentlichen Debatte tauchen Projekte und Projektemacher seit Anfang des 17. Jahrhunderts auf. Unter einem »projector« 1  Daniel Defoe, An Essay Upon Projects, London, 1697, S. 24. 2  Vgl. Markus Krajewski, »Über Projektemacherei. Eine Einleitung«, in: ders. (Hg.), Projek-

temacher. Zur Produktion von Wissen in der Vorform des Scheiterns, Berlin, 2004, 7 – 28, S. 16.

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wird dabei, zunächst ohne abwertende Konnotation, ein »devisor of a new plan« verstanden.3 Bald jedoch verbindet sich der Begriff mit der Vorstellung eines nach Macht und persönlicher Bereicherung strebenden Intriganten, der sich in »strange projects« und »projected plots« verliert.4 Häufig tritt der projector als ein »inventor of things« auf, als Autor nützlicher, den Fortschritt der Menschheit vorantreibender Erfindungen. Als solcher kann er sich jedoch nicht auf die Rolle des intellektuellen Urhebers beschränken, er muss zugleich auch der Propagandist seiner Erfindungen sein, er muss einen Mäzen finden, der die Finanzierung übernimmt, oder er muss einen Regenten überzeugen, die politischen Rahmenbedingungen herbeizuführen, die die Verwirklichung seines Projekts ermöglichen können. Auch wenn es um eine rein mechanische Erfindung geht, beschränkt sich die Reichweite des Projekts nicht auf die technische Herstellung eines Dings. Wie die Wissenschaftshistorikerin Jessica Ratcliff hervorhebt, ist jede Erfindung vielmehr »gleichzeitig intellektuell (z. B. die Idee einer Butterpresse oder eines Salzmonopols), politisch (das tatsächliche Patent oder Monopol) und materiell (z. B. die angeblich neue Art der Gewinnung oder Verarbeitung von Salz, wie sie im Patent beschrieben ist).« 5 Zudem ist im 17. Jahrhundert der Begriff der Erfindung ohnehin viel weniger an die Idee der Erschaffung eines materiellen, abgrenzbaren Objekts gebunden als dies heute der Fall ist. Ausdrücke wie ›engine‹, ›device‹ oder ›instrument‹ bezeichnen nicht nur »Objekte und Artefakte«, sie können ebenso auf »literarische, rhetorische oder logische Schöpfungen« angewandt werden 6 – oder auch, wie in diesem Kapitel zu sehen sein wird, auf neue Organisationsweisen, administrative Verfahren und Regierungstechniken. So entsteht, parallel zur Figur des Erfinders nützlicher Apparate (und häufig in Personalunion mit dieser) die Figur des politischen Projektemachers, der bevorzugt in Zeiten des Umbruchs und des Staatsnotstands auf den Plan tritt, um seine ›modest proposals‹ zur Effektivierung des Kriegswesens, des Handels, der Armenfürsorge oder der Steuereintreibung zu unterbreiten. Während die inventors of things in zahlreichen satirischen Schriften mit vergleichsweise mildem Spott bedacht werden, richtet sich gegen die selbsternannten Politikberater von Anfang die bitterste Häme. In Ben Jonsons Komödie Volpone (1607) wird der englische Geschäftsmann Sir Politick Would-Be, der in Venedig

3  Ratcliff, »Art to cheat the common-weale«, S. 343. Vgl. Christine MacLeod, Inventing the Industrial Revolution. The English patent system, 1660 – 1800, Cambridge, 1989, S. 245, Anm. 148: »Während ›projector‹ oft einen abwertenden Unterton hatte, scheint das Wort auch neutral im Sinn von ›undertaker‹ (in der frühmodernen Bedeutung) oder des heutigen ›entrepreneurs‹ verwendet worden zu sein.« 4  Ratcliff, »Art to cheat the common-weale«, S. 343. 5  Ebd., S. 344. 6  Vgl. ebd., S. 343 – 344.

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»with certain projects that I have; which I may not discover« 7 hausieren geht, zum kläglichen Opfer der höheren, italienischen Intrigenkunst. Ein 1642 anonym veröffentlichtes, dem Dramatiker Thomas Heywood zugeschriebenes Pamphlet zielt auf die Hybris des Expertentums, auf den Anspruch des Projektemachers, »a man of great government« zu sein,8 der sich für »better then a Parliament« halte,9 wenn es darum gehe, das Commonwealth zu reformieren. Wenn der Projektemacher hier in eine Reihe mit Zuhältern und Kupplerinnen gestellt und als »the Pest, or Canker generall of the Commonwealth« 10 bezeichnet wird, wenn das klägliche Scheitern seiner Projekte besungen und ihm ein armseliger Tod zugedacht wird, dann zeigt diese Investition von Wut, dass das ›projecting‹ im politischen Machtspiel der Zeit kein unwesentlicher Faktor war. Zugleich liegt darin aber auch ein ernstzunehmender Hinweis auf »die systematische Nähe des Projekts zum Scheitern«.11 Projekte gehen nicht nur ausnahmsweise, sondern regelmäßig schief. Damit ist nicht nur gemeint, dass viele Projektemacher zu den »chief undertakers of improbabilities, or rather of impossibilities« gehörten,12 sondern vielmehr, dass Projekte, auch wenn sie Erfolg haben, gewöhnlich nicht auf das hinauslaufen, was ursprünglich projektiert war. Dass es, wie in diesem Kapitel dargestellt werden soll, einen Plan zur Klassenteilung von Gesellschaft gab, heißt also nicht, dass dieses Projekt sich im Sinne seiner Erfinder verwirklicht hätte. Aber immerhin, es gab ein Projekt, und dieses soll hier betrachtet werden.

Irlandpläne Wie am Ende des vorangegangenen Kapitels deutlich werden sollte, lässt sich James Harringtons Oceana als ein ins Gewand der Antike gekleideter Aufruf zu einer fundamentalen Neuordnung der Gesellschaft nach ökonomischen Kriterien verstehen. Die Propaganda für die Neuaufteilung des Volks vereint sich mit einer Rhetorik der Freiheit. Die Auflösung des alten, inadäquat gewordenen Ordnungsschemas und seine Ersetzung durch einen neuen, rationaleren Modus der gesellschaftlichen Gliederung erscheint als ein Akt der Befreiung, der gesellschaftlichen Emanzipation: Ihren ersten Auftritt hat Klassengesellschaft als Utopie einer besseren, gerechteren Ordnung. Zugleich erscheint Klassifizierung auch als eine technische Bedingung des »equal commonwealth«:13 Ohne ordent7  Ben Jonson, Volpone, or, The fox. Webster’s German Thesaurus edition, hg. v. Philip M.

Parker, 2005, S. 143. 8  Thomas Heywood, Hogs caracter of a projector. Wherein is disciphered the manner and shape of that vermine, London, July 15, 1642, S. 5. 9  Ebd., S. 2. 10  Ebd., S. 3. 11  Krajewski, »Über Projektemacherei. Eine Einleitung«. 12  Heywood, Hogs caracter of a projector, S. 3. 13  Harrington, »The Commonwealth of Oceana«, hier S. 33 – 34.

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liche Sortierung des Volkes, ohne methodische Registrierung und Aufteilung der Wahlberechtigten lassen sich die von Harrington erdachten demokratischen Abstimmungsverfahren nicht verwirklichen. Harrington selbst hatte ziemlich optimistische Vorstellungen von der Umsetzung philosophischer Ideen in politische Strukturen: »Formation of government is the creation of a political creature after the image of a philosophical creature«.14 Nach dem Tod Cromwells im September 1658 bemühte er sich intensiv darum, der Utopie zur Wirklichkeit zu verhelfen. Der im Juli 1659 von einer Reihe von republikanischen Abgeordneten eingebrachte Vorschlag zu einer Verfassungsreform im Sinn von Harringtons Oceana blieb erfolglos. Die Idee einer auf demokratischer Wahl und Ämterrotation beruhenden politischen Vertretung wurde aber im Rota Club weiterverfolgt, einem außerparlamentarischen Diskussionszirkel, den Harrington und seine Freunde in den letzten Monaten vor der Restauration des Königtums, von November 1659 bis Februar 1660 unterhielten und in dem die von Harrington vorgeschlagenen Abstimmungsverfahren praktisch erprobt wurden. Aber auch wenn Harrington als ›devisor of a new plan‹ auftrat und sich aktiv um dessen Umsetzung bemühte, so war er doch noch zu sehr ein Verehrer der Antike und der humanistischen Gelehrsamkeit, um dem Rollenklischee des politischen Projektemachers zu entsprechen. Er sah sich offenbar eher in der Gesellschaft der griechischen und römischen Rat- und Gesetzgeber als in jener der modernen Projektemacher und Entrepreneure. Als er im November 1661 verhaftet und der republikanischen Verschwörung beschuldigt wurde, verteidigte er sich damit, dass er kein Politiker, sondern lediglich ein Privatgelehrter sei, der Vorschläge zur Verbesserung des Gemeinwesens gemacht habe – in einer Reihe mit Platon, Aristoteles, Livius und Machiavelli.15 Dennoch gibt es auch in Harringtons utopischem Programm einen Zug zur Sozialtechnologie, der dem Geist des neuen politischen Unternehmertums entspricht. Bezeichnenderweise tritt er weniger in den Reformvorschlägen zur politischen Neuordnung Englands hervor, als in den kolonial- und wirtschaftspolitischen Plänen zum Umgang mit der unterworfenen Nachbarinsel Irland.16 Für Harrington verband sich die Forderung nach Gleichheit im Innern ganz 14  James Harrington, »A System of Politics Delineated in short and easy Aphorisms«, in:

ders., The commonwealth of Oceana, and, A system of politics, hg. v. J. G. A. Pocock, Cambridge, New York, 1992, 267 – 293, S. 273. 15  Vgl. Riklin, Die Republik von James Harrington 1656, S. 84. 16  Irland wird nicht erst bei Harrington zum Experimentierfeld der gesellschaftlichen Neuaufteilung. Schon in Richard Beacon’s Solon his follie: or a politiqve discourse (1594), dem wahrscheinlich ersten englischen Traktat, der »gründlichen und positiven Gebrauch von Machiavellis Republikanismus« macht, bietet das Problem der Kolonisierung Irlands den Vorwand, um Fragen zu erörtern, die sich in Bezug auf England nicht stellen ließen, wie z. B. die Forderung nach einer »gemischten Regierung«, die einen »Ausgleich zwischen Adel und Volk« herstellen und die Menge »vor der Unterdrückung durch die Mächtigen« beschützen sollte. Vgl. Peltonen, Classical humanism and republicanism in English political thought, S. 76.

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selbstverständlich mit der nach imperialer Überlegenheit nach außen, und er rechtfertigte den englischen Kolonialismus mit dem Hinweis darauf, dass auch die Engländer erst durch die Römer gelernt hätten, nicht mehr »nackt und in gefleckten Tierhäuten herumzulaufen«.17 In der Oceana wird Irland, das hier den Namen »Panopea« trägt, als die »nachgiebige Mutter eines faulen und kleinmütigen Volkes« dargestellt, als ein Land, das schon in alten Zeiten den »Waffen Englands unterworfen«, durch Aufstandsversuche »fast entvölkert« und »auf Dauer mit einer neuen Rasse [race] neu bepflanzt [replanted]« worden sei.18 Weil das Volk immer weiter verkomme (»they come still to degenerate«), sei es unwahrscheinlich, »waffenfähige Männer« aus Irland zu erhalten. Angesichts der Fruchtbarkeit des Bodens und der bequemen Handelshäfen solle England seine Beziehung zu Irland vor allem zum Wohle seines Geldbeutels (»for the best in relation unto her purse«) organisieren. In dieser Hinsicht, so Harrington, wäre es am besten gewesen, das Land mit Juden neu zu bevölkern (»by planting it with Jews«). Wenn man ihnen erlaubt hätte, ihren eigenen Riten und Gesetzen zu folgen, so wären sie »aus allen Teilen der Welt« zusammengeströmt und hätten der heruntergekommenen Insel zu wirtschaftlichem Aufschwung verholfen. Die Überlassung Irlands hätte sich England, »abgesehen von den Zöllen, die die Provinzialarmee finanzieren würden«, durch einen jährlichen Betrag von zwei Millionen Pfund abgelten lassen können – ein vorteilhafter Handel, wie ihn keine der beiden Seiten irgendwo anders gefunden hätte.19 Von einem jüdischen Irland konnte Harrington im Jahr 1656 nur noch im Konjunktiv der Vergangenheit sprechen, weil er sehr wohl wusste, dass auf der Insel gerade ein ganz anderes Siedlungsprogramm vorangetrieben wurde. 1649 – 1652 hatten die von Oliver Cromwell befehligten parlamentarischen Truppen den Aufstand gälischer Iren und royalistisch-katholischer Engländer mit äußerster Brutalität niedergeschlagen. Mit dem 1652 ratifizierten Act for the Settlement of Ireland wurde die besetzte Insel einem umfassenden Kolonisierungsprogramm unterworfen. Etwa zweieinhalb Millionen acres (ca. 1 Million Hektar) Land wurden als Reparationsleistung für den Aufstand im November 1641 konfisziert.20 Betroffen waren davon »alle Häupter der einheimischen römisch-katholischen Bevölkerung und der größte Teil des alten anglo-irischen Adels«, sowie »alle, die mehr oder weniger in den Widerstand gegen das Commonwealth verwickelt waren«.21 Außerdem sollten in einem massiven Umsiedlungsprogramm bis zu 100.000 katholische Iren von den Grafschaften im östlichen Teil der Insel in die Harrington, »The Commonwealth of Oceana«, 48. Ebd., S. 6. Ebd. Frank T. Prendergast, »The Down Survey of Ireland«, Survey Ireland, N° 14, 1997, 43 – 52, S. 44. 21  Edmond George Petty-Fitzmaurice, The life of Sir William Petty, 1623 – 1687, London, 1895, S. 25.

17  18  19  20 

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westlichste Provinz Connaught, westlich des Flusses Shannon, »transplantiert« werden.22 Tatsächlich waren es bis 1654 etwa 45.000 Iren, die nach Connaught umgesiedelt wurden,23 zehntausende wurden in die englischen Kolonien deportiert oder gingen in französische oder spanische Heeresdienste.24 Ein weiterer und wesentlicher Aspekt dieser als Cromwellian Settlement bekannt gewordenen Strafaktion war die Bezahlung von Schulden: Viele Soldaten der New Model Army hatten statt ihres Solds das Versprechen bekommen, nach siegreichem Feldzug in Ländereien ausgezahlt zu werden. Dazu kamen die Forderungen der sog. ›adventurers‹, privater Finanziers, die dem Parlament im Jahr 1642 eine Million Pfund vorgestreckt hatten, um den irischen Aufstand niederschlagen zu können.25 Mit der Verteilung des beschlagnahmten Besitzes an die Soldaten und Gläubiger sollten deren Ansprüche befriedigt und zugleich die englische Vorherrschaft in Irland befestigt werden. Wie im Folgenden gezeigt werden soll, kommt dieser imperialen Neuordnung Irlands eine Schlüsselrolle in der Entstehung von Klassengesellschaft zu. Den englischen Eliten stellte sich die Insel als ein Land dar, dessen soziale und gesellschaftliche Ordnung nichts Erhaltenswertes aufwies, und dessen Bewohner durch ihre Renitenz gegenüber den englischen Zivilisierungsversuchen jedes Recht auf Selbstbestimmung verloren hatten. In der politischen Imagination der Eroberer bildete Irland »a white paper«,26 eine tabula rasa, deren überkommene territoriale, kulturelle und religiöse Einschreibungen bedenkenlos ausgelöscht und durch neue Besitzmarkierungen ersetzt werden konnten. Es lässt sich hier schon vorwegnehmen, dass es bei der Neuaufteilung Irlands in den Jahren nach der Cromwell’schen Eroberung nicht einfach um eine quantitative Verschiebung der Besitz- und Machtverhältnisse von den irischen Bewohnern zu den englischen Siedlern ging. Es handelte sich vielmehr zugleich um die Einführung eines neuen Teilungsprinzips, um ein großangelegtes Unternehmen zur Durchsetzung einer klassifikatorischen Neuordnung von Gesellschaft. Wenn man sagen kann, dass die neuzeitliche europäische Klassengesellschaft eine englische Erfindung ist, so muss man hinzufügen, dass ihre grundlegenden Mechanismen zuerst in Irland erprobt wurden.

22  Vgl. Aaron James Henry, »William Petty, the Down Survey, population and territory

in the seventeenth century«, Territory, Politics, Governance, Jg. 2, N° 2, 2014, 218 – 237, S. 222. Ted McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, Oxford, 2009, S. 94. Vgl. ebd., S. 93. Vgl. ebd., S. 92. William Petty, »A Treatise of Taxes, and Contributions« (1662), in: ders., The Economic writings of Sir William Petty, Vol. 1. Together with the Observations upon the bills of mortality more probably by Captain John Graunt, hg. v. Charles Henry Hull, Cambridge, 1899, 1 – 97, S. 9. 23  24  25  26 

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Der Down Survey 1641 – im Jahr der irischen Rebellion – hatte Thomas Heywood noch gespottet, ein Projektemacher sei »a great traveller in England and Wales, but dares not go into Ireland with his projects«.27 In den 1650er Jahren jedoch, nach dem militärischen Sieg der Engländer, wird Irland zum privilegierten Objekt und zur exemplarischen Bühne der politischen Projektemacherei. Die sich aus dem Act of Settlement ergebenden Enteignungen und Umsiedlungen vollziehen sich in einem ›joint venture‹ von staatlicher Gewaltausübung und privatem Gewinnstreben. Ihr unternehmerischer Charakter zeigt sich u. a. darin, dass sie vor allem unter dem Gesichtspunkt ihrer technischen Durchführbarkeit betrachtet und in eher kaufmännischen als politischen Begriffen diskutiert werden. So ist die Rede von einem »Transplanting-work«, das nur langsam vor sich gehe,28 von einem »great work of Transplantation«, das noch nicht vollendet sei,29 oder von einem »business of transplanting«, das entschlossen zu Ende gebracht werden müsse.30 Besonders deutlich tritt der Projektcharakter der kolonialen Neuordnung in dem Teil des Unternehmens hervor, der die dritte Aufgabe des Act for the Settlement betrifft: die Verteilung des beschlagnahmten Landes unter 35.000 englischen Soldaten und »adventurers«. Wie die Verantwortlichen bald erkennen, ist die dafür nötige Parzellierung Irlands nur auf der Grundlage einer gründlichen Bestandsaufnahme des Landes und seiner Bewohner zu erreichen. Der Auftrag, die beschlagnahmten Ländereien kartographisch zu erfassen und ihren Wert festzusetzen, ging im Jahr 1653 zunächst an einen Arzt namens Benjamin Worsley,31 der während Cromwells Irland-Feldzug als Surgeon General der englischen Armee gedient hatte.32 Worsley hatte experimentalphilosophische und alchemistische Interessen und gehörte in den 1640er Jahren dem Hartlib Circle und dem Invisibile College um Robert Boyle an. Seit 1646 verfolgte er zunehmend großangelegte ökonomische Projekte wie die Förderung der britischen Salpeter-Produktion und war maßgeblich am Zustandekommen des Navigations Act (1651) beteiligt,33 der vorsah, dass der gesamte Handel mit England oder

Heywood, Hogs caracter of a projector, S. 5. Anon., Mercurius Politicus, From Thursday July, 13. to Thursday July 20. 1654, S. 3636. Anon., Mercurius Politicus, From Thursday July 26, to Thursday August 2, 1655, S. 5501. »Letter from Dublin, 27th July, 1655«, zit. nach John Patrick Prendergast, The Cromwellian settlement of Ireland, New York, 1868, S. 103. 31  McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 86. 32  Oxford DNB article: Worsley, Benjamin, online verfügbar unter: http://www.oxforddnb. com.oxforddnb.emedia1.bsb-muenchen.de/view/article/38153. Zuletzt geprüft am 1. Oktober 2016. 33  Ebd. 27  28  29  30 

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seinen Kolonien auf englischen Schiffen stattfinden sollte.34 Bald nachdem er zum Surveyor General of Land ernannt worden war und das Unternehmen der Landvermessung in Gang gesetzt hatte, bekam Worsley unerwartet Konkurrenz durch einen Mann, der ihm in mehrfacher Hinsicht sehr ähnlich war. William Petty war ebenfalls Arzt, er hatte wie Worsley dem Hartlib-Circle angehört, er hatte sich mit Alchemie beschäftigt,35 er hatte unterschiedliche Projekte entworfen, und er war 1652 auf dem gleichen Schiff wie Worsley nach Irland gereist, um dort Physician General to the Army zu werden, eine Stellung, wie sie Worsley zehn Jahre zuvor eingenommen hatte. Im Sommer 1654 konfrontierte Petty seinen alten Bekannten mit einer harschen Kritik an der unzureichenden Systematik und am schleppenden Fortgang der Vermessungsarbeiten.36 Zugleich stellte er Worsleys wissenschaftliche Reputation in Frage, indem er ihm vorhielt, Projekte zu verfolgen, die vor allem dazu dienen sollten, »to become suddenly rich, as by the Universal Medicine, Making of Gold, Sowing of Salt-Petre, Universal Trade, Taking great Farms &c.« 37 Petty präsentierte einen neuen Vorschlag, der nicht nur eine umfassendere und detailliertere Vermessung vorsah, sondern dies auch noch zu einem günstigeren Preis und in einer wesentlich kürzeren Zeit (in zwei statt 13 Jahren) zu erledigen versprach. Der Angriff, dem wohl ein Mix aus »persönlichen, philosophischen und politischen« Animositäten zugrunde lag,38 war erfolgreich. Auf Druck der Armee, die sich von Pettys »extraordinary proposals« und »thought projects« vermutlich eine gerechtere Abfindung der Soldaten versprach,39 akzeptierte die Regierung das Angebot und betraute Petty – gegen Worsleys erbitterten Einspruch – im Dezember 1654 mit der Durchführung des sog. Down Survey. William Petty ist heute vor allem als Wissenschaftler in Erinnerung. Von mehreren Disziplinen – der Nationalökonomie, der Demographie, der Statistik – wird er als Gründerfigur reklamiert. Auch sein Anteil an der Institutionalisierung der Wissenschaftsbewegung des 17. Jahrhunderts wird regelmäßig hervorgehoben: Petty war nicht nur Teil des Hartlib Circle und des Gresham College, sondern – im November 1660 – auch eines der Gründungsmitglieder der Royal Society. Seinen Zeitgenossen bot Petty jedoch ein weniger eindeutiges Erscheinungsbild. Freunde hoben seine »Tallents in Philosophy, Physick, Navigation, Poetry, Surveying,

34  Vgl. Gianni Vaggi u. Peter D. Groenewegen, A concise history of economic thought. From mercantilism to monetarism, Basingstoke, Hampshire, 2003, S. 21. 35  Ted McCormick, »Alchemy in the Political Arithmetic of Sir William Petty (1623 – 1687)«, Studies in History and Philosophy of Science Part A, Jg. 37, N° 2, 2006, 290 – 307, S. 300. 36  McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 95. 37  William Petty, Reflections upon some persons and things in Ireland (1660), Dublin, 1790, S. 106. 38  McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 96. 39  Petty, Reflections upon some persons and things in Ireland, S. 154.

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Calculations and Politicall Arithmetick« hervor.40 Feinde sahen in ihm einen politischen Opportunisten, bedenkenlosen Geschäftemacher und Verächter der Religion. Ein durchgehender, in allen Bereichen seiner intellektuellen Tätigkeit wirksamer Zug ist aber wohl der Imperativ der praktischen Nutzanwendung und technischen Optimierung. Pettys schriftliche Hinterlassenschaft besteht aus Hunderten von kurzen, zwei- bis dreiseitigen ›Proposals‹, die er sehr schnell produzierte und meist auch schnell wieder zur Seite legte:41 Pläne für ein Pestkrankenhaus und eine neue Brücke in London, Entwürfe für eine Siedlung in Pennsylvania, Vorschläge für eine Steuerreform, für die Neuregelung der Kircheneinnahmen oder die Umgestaltung der Gerichtshöfe, schließlich das über mehrere Jahre hinweg verfolgte Projekt eines neuen Schiffstyps, eines doublebottom-vessel oder twin-hulled ship, einer Art von Katamaran, dessen Prototyp, genannt »The Experiment«, sich als sehr schnell erwies, unglücklicherweise jedoch in einem Sturm zerbrach. Vor allem drehten sich Pettys Pläne um Irland, »seine Besiedlung, religiöse Organisation und schließlich seine gesamte Bevölkerung«.42 Auch bei den veröffentlichten Schriften, auf die sich Pettys späterer Ruhm als »Vater der politischen Ökonomie und […] Erfinder der Statistik« gründet,43 handelt es sich, wie schon der Herausgeber der 1899 erschienenen Werkausgabe bemerkt hat, keineswegs um »bewusste Ausarbeitungen eines mehr oder minder klar erfassten ökonomischen Systems«: »Jede von ihnen war, ganz im Gegenteil, durch irgendeinen Zeitumstand hervorgerufen und richtete sich, wenn nicht formal so doch faktisch, auf eine tagesaktuelle Frage.« 44 So reagierte beispielsweise der Treatise of Taxes (1662) auf die Veränderung der Staatseinkünfte im Zuge der Restauration, das Verbum Sapienti (1664) kreiste um die Kosten des Krieges mit Holland, und im Hintergrund der Political Arithmetick (entworfen ca. 1671 – 72) stand der Versuch, Charles  II . »von den Bestechungsgeldern Ludwigs XIV . unabhängig zu machen«.45 Während Petty von sich selbst gerne als »the Doctor« 46 sprach und

40  Robert Southwell, »Epigraph«, in: William Petty u. Robert Southwell, The Petty-Southwell correspondence, 1676 – 1687, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, London, 1928, 333 – 334, S. 333. 41  McCormick, »Alchemy in the Political Arithmetic of Sir William Petty (1623 – 1687)«, S. 291 – 292. 42  Frances Harris, »Ireland as a laboratory. The archives of Sir William Petty«, in: Michael Cyril William Hunter (Hg.), Archives of the scientific revolution. The formation and exchange of ideas in seventeenth-century Europe, Woodbridge, Suffolk, 1998, 73 – 90, S. 86. 43  Marx, »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band«, S. 288. 44  Charles Henry Hull, »Introduction«, in: William Petty, The Economic writings of Sir William Petty, Vol. 1. Together with the Observations upon the bills of mortality more probably by Captain John Graunt, hg. v. Charles Henry Hull, Cambridge, 1899, xiii-xci, S. lxi. 45  Ebd., S. lxi 46  Petty, Reflections upon some persons and things in Ireland, passim.

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sich seine »dexterity in making experiments« 47 zugutehielt, sahen andere in ihm vor allem einen Mann des Managements, einen genialen Organisator, dem man ebenso die Oberaufsicht über Manufaktur und Handel anvertrauen konnte wie die Regierung einer Plantage: »If I were a Prince, I should make him my second Counsellor at least. There is nothing difficult to him.« 48 Auch wenn Petty den Begriff für sich selbst nicht verwenden wollte,49 so wurde er zu seiner Zeit vor allem als ein »projector and a contractor« wahrgenommen,50 als ein »improver« und »virtuoso«,51 der seinen Erfindungsgeist und seine Neigung zum Experiment auf das ganze gesellschaftliche Feld ausgedehnt hatte. Die von Petty unternommene Vermessung Irlands bietet ein beeindruckendes Beispiel für die Leistungsfähigkeit dieser Form von angewandter Wissenschaft. Der Down Survey ist zwar nicht die erste Bestandsaufnahme des irischen Grundbesitzes, aber die erste, die ein umfangreiches Kartenwerk hervorbrachte. Wie der von Petty gewählte Name deutlich machen sollte, wurden die Informationen über Land und Leute nicht mehr in Form schriftlicher Kataloge zusammengefasst. Die Messungen wurden vielmehr unmittelbar in Form geometrischer Darstellungen zu Papier gebracht (»plotted down on Paper« 52). Pettys Down Survey, der sich in 1430 Kartenblättern unterschiedlichen Maßstabs niederschlug, gilt als erste detaillierte kartographische Erfassung eines ganzen Landes und stellt das wohl größte »staatlich finanzierte wissenschaftliche Projekt seiner Zeit« dar.53 Petty selbst hat immer wieder den gewaltigen Umfang des Auftrags hervorgehoben und sich stolz als den Mann bezeichnet, »who measured as much Line by the Chayne and the Circumferences in 13 monthes as would incompase the whole Globe of the Earth neer 6 times about«.54

47  Ebd., S. 7. 48  John Evelyn, Memoirs of John Evelyn […] Comprising His Diary, from 1641 to 1705 – 6,

London, 1827, S. 403. 49  Im Treatise of Taxes bedauert Petty den »poor inventor«, der sich nach einem Fehlschlag seiner Unternehmungen as »projector or worse« beschimpfen lassen muss. Petty, »A Treatise of Taxes, and Contributions«, S. 75. Die Zurückweisung des Begriffs lässt ahnen, dass Petty damit rechnete, selbst als »projector« deklariert zu werden. Im Übrigen ist es, wie Thomas Heywood 1642 bemerkt hatte, geradezu ein Erkennungszeichen des Projektemachers, nicht als solcher bezeichnet werden zu wollen: »And of all professions, a [Bawd], a Pimpe, a Cobler, and a Projector, hate to be call’d by their proper names, though they love their trades.« Heywood, Hogs caracter of a projector, S. 2. 50  Harris, »Ireland as a laboratory«, S. 74. 51  McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 40. 52  Prendergast, »The Down Survey of Ireland«, S. 46. 53  McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 95. 54  William Petty, »No. 30. A colloquium between A. B. C. concerning a new instrument of government [1682]«, in: ders., The Petty Papers. Some Unpublished Writings of Sir William Petty, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, Bd. 1, Boston and New York, 1927, 103 – 111, S. 104.

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Wesentlich ist aber nicht so sehr das Ausmaß der Unternehmung als vielmehr die Tatsache, dass hier zum ersten Mal ein politisch-administratives und ökonomisches Projekt nach Regeln des ›scientific management‹ durchgeführt wurde. Worsley hatte für sein Vermessungsprojekt ausgebildete Landvermesser engagiert, die alle nach ihren eigenen Gewohnheiten und Vorstellungen agierten. Petty dagegen erkannte, dass für die elementaren Vermessungsarbeiten im Gelände keine spezialisierten Kenntnisse nötig waren. Er entließ daher den »Vulgus of ignorant, immethodical, loytering, disunited, emulating and contentious Surveyors« 55 und ersetzte ihn durch tausend entlassene Soldaten, die unmittelbar seinem Befehl und seiner Kontrolle unterstanden. Dem Modell der cartesischen Analyse folgend,56 entwarf Petty eine »principall division of this whole worke«,57 die die komplexe Aufgabe der Vermessung Irlands in hunderte kleiner Arbeitsschritte zerlegte. Das Prinzip der Arbeitsteilung, dessen ökonomischen Vorteil Petty in seinen späteren ökonomischen Schriften am Beispiel der Manufaktur-Produktion darlegen sollte,58 wurde hier in einem großangelegten Feldversuch praktisch erprobt. Auch wenn die Soldaten, wie Petty meinte, nicht zu den »nimblest wits« zählten, so erschienen sie doch als »headfull and steddy minded« genug, um nach kurzem Training die ihnen anvertrauten einfachen Arbeiten auszuführen.59 Zudem hatten sie gegenüber den Landvermessern den Vorteil, an Strapazen gewöhnt zu sein und sich gegen die Angriffe der von Enteignung bedrohten Landbevölkerung wehren zu können.60 Die fehlende Ausbildung und Eigeninitiative der Beschäftigten konnte Petty durch ein akribisches Disziplinarsystem ausgleichen. Er war stolz darauf, das Unternehmen ständig »under my own eye« zu haben und von Leuten beaufsichtigt zu wissen, »who daily eat and drank with me«.61 Durch die Berichte der »Dictrict Surveyors« blieb er im Dubliner Hauptquartier laufend über den Stand der Arbeiten informiert. Zudem waren die Landvermesser dazu angehalten, »gegenseitig ihre Bücher zu inspizieren und für die Wahrheit der Messungen und Beschreibungen zu bürgen« – sie wurden auf diese Weise »zu ihrer eigenen Polizei«.62 55  Petty, Reflections upon some persons and things in Ireland, S. 106. 56  Vgl. Olson, The emergence of the social sciences, 1642 – 1792, S. 61. 57  William Petty, History of the Cromwellian survey of Ireland. A. D. 1655 – 6, commonly called

›The down survey‹, hg. v. Thomas Aiskew Larcom, Dublin, 1851, S. XV . 58  Vgl. Petty, »Political Arithmetick«, S. 260. 59  Petty, History of the Cromwellian survey of Ireland, S. XV  – XVI . 60  Unter den Bedingungen der Besetzung wurde die kartographische Erfassung des Landes selbstverständlich als »hostile intrusion« wahrgenommen (Bernhard Klein, Maps and the writing of space in early modern England and Ireland, Basingstoke, 2001, 122); »allein im Oktober 1655 wurden acht von Petty’s Landvermessern von Gegnern des Cromwell’schen Siedlungsprojekts getötet«. Prendergast, »The Down Survey of Ireland«, S. 48. 61  Petty, Reflections upon some persons and things in Ireland, S. 106. 62  Henry, »William Petty, the Down Survey, population and territory in the seventeenth century«, S. 225.

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Abbildung 1: Detail aus Down Survey-Karte, 1656, County of Limmerick, Barony of Kenry (mit Bleistift-Korrekturen).

Um eine gleichmäßige Abbildung des irischen Territoriums zu erreichen, legte der neue Surveyor General besonderen Wert auf die Standardisierung der Vermessungs- und Aufschreibetechniken. Die Messungen wurden mit einheitlich hergestellten, teils von Petty selbst verbesserten Instrumenten durchgeführt; Aufzeichnungen mussten in eigens gebundenen »uniforme bookes« und auf standardisierten Papierbögen vorgenommen werden; und für die Eintragung der topographischen Details durften ausschließlich die genormten Bleistifte und Farben des kartographischen Büros verwendet werden.63 Jede subjektive Abwandlung des Sehens, jede idiosynkratische Färbung der Darstellung sollte auf diese Weise ausgeschaltet werden. Am Ende eines mit maschineller Exaktheit funktionierenden Registrierungsprozesses sollte Irland in einer idealen Gesamtschau zu überblicken sein, die nichts davon verriet, dass sie sich aus tausenden von unterschiedlichen Einzelbeobachtungen zusammensetzte.

Das Recht der ersten Messung Der Down Survey kann als eine Pionierleistung neuzeitlicher Wissenschaft betrachtet werden, nicht zuletzt in dem Sinn, den Heidegger ihr in seinem Weltbild-Aufsatz gegeben hat: Forschung als »Entwurf«, der in seiner methodischen Strenge bereits vorzeichnet, »in welcher Weise das erkennende Vorgehen sich an den eröffneten Bezirk zu binden hat«;64 wissenschaftliches Erkennen als ein »Vorstellen, das darauf zielt, jegliches Seiende so vor sich zu bringen, daß der rechnende Mensch des 63  Petty, History of the Cromwellian survey of Ireland, S. XIV –XV . 64  Martin Heidegger, »Die Zeit des Weltbildes« (1938), in: ders., Holzwege, Frankfurt a. M.,

1980, 73 – 110, S. 75.

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Seienden sicher und d. h. gewiß sein kann«.65 Doch ist ein Kartograph, der wie Petty, ein ganzes erobertes Land neu vermisst, mehr als nur ein Wissenschaftler. Er ist ein politischer Akteur, der mit dem Eingriff in die territoriale Ordnung zugleich einen tiefen Einschnitt in die soziale Ordnung vornimmt. Die offensichtliche Seite dieser politischen Operativität liegt in der Neuverteilung der gesellschaftlichen Besitz- und Machtverhältnisse. Der Down Survey ist heute in Irland vor allem dafür bekannt, zwei Jahrhunderte der »Protestant Ascendancy« 66 eingeleitet zu haben: »Der Landbesitz der irischen Katholiken, der um 1600 bei ungefähr 80 % und 1641 noch bei fast 60 % lag, war im Jahr 1688 auf 22 % reduziert; es waren das Cromwellian Settlement und Petty, sein Werkzeug, die den Unterschied machten.« 67 So kann Pettys Down Survey, mit einem Begriff von Carl Schmitt, als ein neuer »Nomos der Erde« bezeichnet werden. Als »erste Messung und Verteilung des nutzbaren Bodens« bildet er »ein erstes Maß, das alle weiteren Maße in sich enthält« – und dies sowohl »nach außen« (indem er das Recht der englischen Eroberer gegen die irischen Eigentümer behauptet), als auch »nach innen« (indem er innerhalb der kolonialen Gesellschaft eine neues Recht setzt): »Nach Innen, das heißt innerhalb der landnehmenden Gruppe, wird mit der ersten Teilung und Einteilung des Bodens die erste Ordnung aller Besitz- und Eigentumsverhältnisse geschaffen.« 68 Doch die Bedeutung des Down Survey erschöpft sich nicht in der Neuordnung der Besitz- und Machtverhältnisse zwischen Engländern und Iren. Der Down Survey ist nicht nur ein Ereignis in der Geschichte Irlands, sondern auch ein Ereignis in der Geschichte des Denkens, jedenfalls des Denkens von Gesellschaft. Denn es handelt sich nicht einfach um eine Umverteilung von Land und Leuten, Besitz und Einfluss nach bekannten Kriterien. Pettys Vermessungsunternehmen führt vielmehr ein neues Prinzip der Teilung ein. Es propagiert eine neue Weise, die Dinge und Menschen zu unterscheiden; es steht für eine neue Art, gesellschaftliche Ordnung zu denken. Petty selbst war sich der Machtposition, die sich mit dem ›Recht der ersten Messung‹ verband, sehr wohl bewusst. Noch bevor es um die Frage der Aufteilung des Bodens unter den Eroberern ging, sorgte die kartographische Repräsentation dafür, die irische Wildnis überhaupt erst einmal in ein quantitativ definiertes, messbares Territorium zu überführen. Wie Petty einige Jahre nach dem Survey feststellte, war Irland nun erkennbar »divided into Provinces, Counties, Baronies, Parishes, and Farm-lands«; die Grenzen zwischen den einzelnen Gebieten waren »Geometrically delineated«.69 Ebd., S. 85. McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 117. Ebd. Schmitt, Der Nomos der Erde im Völkerrecht des Jus Publicum Europaeum, S. 16. William Petty, »The political anatomy of Ireland« (1672), in: ders., The Economic writings of Sir William Petty, Vol. 1. Together with the Observations upon the bills of mortality more probably by Captain John Graunt, hg. v. Charles Henry Hull, Cambridge, 1899, 121 – 231, S. 206. 65  66  67  68  69 

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Abbildung 2: Down Survey-Karte, 1656, County of Antrim, Barony of Cary, Parish of Kilfaghtrim, mit eingezeichnetem Sumpfgebiet (»BOGGE «).

Früher dagegen, so Petty, hätten sich die Grenzen und die Größen der Gebiete keineswegs nach der Karte gerichtet, sondern nach wechselnden klimatischen Bedingungen und lokalen Machtverhältnissen: For as a Territory bounded by Bogs, is greater or lesser as the Bog is more dry and passible, or otherwise: So the Country of a Grandee or Tierne 70 in Ireland, became greater or lesser as his Forces waxed or weaned; for where was a large Castle and Garison, there the Jurisdicton was also large.71

So liegt ein wesentlicher Effekt des Down Survey darin, in ganz neuer Weise zu bestimmen, was Territorium heißt: etwas, das nicht mehr von lokalen Mächten, von der raumergreifenden Gewalt der Sümpfe und Grundherren abhängig ist, sondern von seiner Verzeichnung auf einer amtlichen Karte. Geht es also auf der einen Seite um die Löschung der alten, stets mit dem Makel des Ungefähren und der Willkür behafteten Setzungen, so handelt es sich andererseits darum, neue klassifikatorische Unterscheidungen zu treffen, die sich nun nach objektiven, quantitativen Kriterien richten sollen. Die New 70  Tierney: anglisierte Form des irischen Ausdrucks Ó Tiarnaigh für Herr oder Meister. 71  Ebd., S. 206.

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Yorker Literatur- und Kulturhistorikerin Mary Poovey gehört zu den wenigen, die diesen Aspekt des Pettyschen Unternehmens bemerkt und deutlich formuliert haben. Ihr zufolge kann Pettys Down Survey als »an early attempt to implement classificatory thinking« betrachtet werden.72 Tatsächlich kreiste das ganze Vermessungsprojekt um ein Klassifizierungsproblem. Die Soldaten, die ihre Schuldscheine einlösen wollten, drangen darauf, dass bei der Verteilung des Landes die Qualität des Bodens berücksichtigt wurde. Sie wollten nicht zulassen, dass ein Regiment »mit 10.000 acres Land in den Bergen von Kerry« abgefunden wurde, während ein anderes »10.000 acres der reichen Weiden von Tipperary oder Limerick« erhielt.73 Petty wies seine Leute daher an, nicht nur die Größe und Lage der beschlagnahmten Ländereien genau festzuhalten, sondern auch »to distinguish by admeasurement the profitable from the unprofitable, or returne by good estimate the aliquot part of the same«.74 Seltsamerweise forderte Petty die Landvermesser nicht auf, zunächst einmal nur die empirisch feststellbaren Merkmale festzuhalten und es einer höheren Instanz zu überlassen, ob das Land als profitabel oder unprofitabel zu gelten hatte. Die Entscheidung über die Profitabilität sollte vielmehr zuerst getroffen und dann durch nachgereichte Details erhärtet werden: You are carefully to describe […] as first whether it be profitable or unprofitable, and then of what species or kind each of the said land is, as whether the profitable be arable, meadow, or pasture; and even of what sort or sorts the pasture land it selfe is, as whether it be boggy, heathy, fursy, rocky, woody, mountainouse, and the like, &c.75

In der Praxis war es dann allerdings so, dass die topographischen Informationen auf der Karte eingezeichnet wurden, während die Kategorisierung als profitabel oder unprofitabel in einem tabellarischen Beiblatt, dem sog. ›terrier‹ vorgenommen wurde. Während der Down Survey alle anderen kulturellen Einschreibungen ins irische Territorium, vor allem solche religiöser oder politischer Natur, systematisch herunterspielte, bildete der Gegensatz von profitabel und unprofitabel sein zentrales Unterscheidungskriterium. Pettys Vermessungsprojekt betrachtete, wohl zum ersten Mal, das irische Territorium unter dem vorrangigen Gesichtspunkt seines Ertrags und trug auf diese Weise dazu bei, den neuen Maßstab des ökonomischen Werts zu installieren, an dem künftig alles, nicht nur das Land, sondern auch die Leute, zu messen sein sollte. 72  73  74  75 

Poovey, »The social constitution of ›class‹«, S. 20. Prendergast, The Cromwellian settlement of Ireland, S. 128. Petty, History of the Cromwellian survey of Ireland, S. 46. Ebd., S. 47 – 48.

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Abbildung 3: Down Survey, 1656, County of Donegal, barony of Enishowen, Parishes of Colduffe Clancae and Donogh, Kartenblatt (»Map«).

Insofern stellt der Down Survey nicht einfach nur eine neue Beschreibung, sondern geradezu eine Neuschreibung des Territoriums dar – von ihm kann man ohne Übertreibung sagen, dass er »Irland verändert« und seine Gesellschaft transformiert habe.76 Für Petty selbst lag in dieser transformatorischen Wirkung der eigentliche Nutzen der kartographischen und demographischen Repräsentation. Die Darstellung war zugleich eine Herstellung, nicht nur ein Mittel zu Abbildung des Bestehenden, sondern ein Instrument zur Durchsetzung einer neuen Ordnung: And finally when wee have a cleere view of all persons and things, with their powers & familyes, wee shall bee able to Methodize and regulate them to the best advantage of the publiq and of perticular persons.77

76  Vgl. McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 102. 77  William Petty, »No. 25. The Registry of Lands, Commodities, and Inhabitants (1660 – 61)«,

in: ders., The Petty Papers. Some Unpublished Writings of Sir William Petty, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, Bd. 1, Boston and New York, 1927, 77 – 90, S. 90.

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Abbildung 4: Down Survey, 1656, County of Donegal, Barony of Enishowen, Parishes of Colduffe Clancae and Donogh, tabellarisches Beiblatt (»Terrier«).

Die unvorsichtige Formulierung des letzten Halbsatzes weist auch schon auf die Schwierigkeiten hin, in die Petty als Generalzensor des irischen Landes geriet: Nicht ganz grundlos wurde vermutet, dass er selbst zu den »perticular persons« gehörte, die vorrangig von dem Unternehmen der Landverteilung profitierten. Am wenigsten Anstoß erregte noch die Tatsache, dass Petty sich einen Teil des für die Vermessung Irlands vereinbarten Gehalts in Anteilsscheinen für Landbesitz auszahlen ließ. Mit dem restlichen Geld kaufte er Pfandbriefe von Soldaten auf – nach seinem Zeugnis stets von offiziellen Maklern und ohne die Notlage Bedürftiger auszunutzen.78 Eine bedenkliche Konstellation ergab sich jedoch, als Petty im Juli 1656, aufgrund seiner »experience arising from the management of the survey«, zu einem der »commissioners for setting out lands to the army« ernannt wurde,79 eine Aufgabe, die er praktisch im Alleingang erledigte.80 Derjenige,

78  Prendergast, The Cromwellian settlement of Ireland, S. 138. 79  Petty, Reflections upon some persons and things in Ireland, S. 108. 80  Vgl. McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 104.

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der die Messung durchgeführt und die Kriterien der Bewertung festgelegt hatte, war nun auch für »the distribution and setting forth of the lands« zuständig.81 Aus dem Abenteuer des Down Survey ging Petty als einer der größten Grundbesitzer Irlands hervor. Seine über mehrere Provinzen verteilten Ländereien erbrachten ihm vor der Restauration einen jährlichen Ertrag von 18.000 Pfund pro Jahr; aber auch nach den Verlusten der 1660er Jahre, als er im Zuge der ›Restoration‹ einen Teil der Güter an die früheren Eigentümer zurückgeben musste, konnte Petty, wie sein Biograph Aubrey erwähnt, vom Mount Mangerton in der Grafschaft Kerry noch etwa 50.000 acres (etwa 200 Quadratkilometer) seines eigenen Landes überblicken.82 Während Petty auf diese Weise in kurzer Zeit einen beträchtlichen Reichtum anhäufte, ging die Vergabe des Landes an die Soldaten schleppend voran. Die Unzufriedenheit derer, die glaubten, mit minderwertigem Land abgefunden zu werden, entlud sich gegen den Leiter des Verteilungsverfahrens. Petty wurde mehrfach der Vorteilsnahme und der Inkompetenz beschuldigt und verbrachte viel Zeit damit, in Gerichtsverfahren seinen Besitz zu verteidigen.83 Er, der doch nur ein neues, gerechteres Aufteilungsverfahren vorgeschlagen hatte, sah sich nun, wie er beklagte, dem Vorwurf der Habgier, der Ungerechtigkeit, des Betrugs, der Untreue, sowie der Verachtung und Unterdrückung der »kleinen Leute« (»of the lower party«) ausgesetzt.84 Die Neuaufteilung, die manchen, und vor allem wohl ihm selbst, als eine »divine invention« erschien, stellte sich in den Augen anderer als ein »abominable project« dar.85 Petty konterte die gegen ihn erhobenen Vorwürfe mit einer gründlichen Dokumentation des Down Survey-Projekts und einer polemischen Replik auf seine Gegner, die er als religiöse Sektierer bloßzustellen versuchte.86 Auch das politisch-wissenschaftliche Programm einer »Politischen Arithmetik«, das er in der Restaurationszeit ausarbeitete, lässt sich diesen Verteidigungsanstrengungen zurechnen. Die von Petty gefundene neue Wissenschaft lieferte jedoch nicht nur eine theoretische Rechtfertigung des Down Survey. Sie ging weit darüber hinaus, indem sie die Methodik der Teilung und Zählung auf alle Aspekte des Sozialen ausweitete.

81  Petty, Reflections upon some persons and things in Ireland, S. 103. 82  Vgl. John Aubrey, ›Brief lives‹ Chiefly of contemporaries, set down by John Aubrey, between

the years 1669 & 1696. Volume II , hg. v. Andrew Clark, Oxford, 1898, S. 142. 83  Vgl. Hull, »Introduction«, S. xxv. 84  Petty, Reflections upon some persons and things in Ireland, S. 126. 85  Petty, History of the Cromwellian survey of Ireland, S. 210. 86  Vgl. Petty, Reflections upon some persons and things in Ireland, S. 170.

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11.

IN REIHEN UND SPALTEN. JOHN GRAUNTS ENTDECKUNG DER TABELLE Der von William Petty Mitte der 1650er Jahre vorgenommene Down Survey bildete eine wesentliche Etappe in der Entwicklung des Programms, das später als »Political Arithmetick« bezeichnet werden sollte.1 Einen zweiten, nicht weniger entscheidenden Schritt bildeten die tabellarischen Berechnungen, mit denen wenige Jahre später ein gewisser John Graunt, Kaufmann aus London, hervortrat. Seine 1662 veröffentlichten Natural and Political Observations upon the Bills of Mortality gelten heute als das »bahnbrechende Werk«, »das effektiv die Sozialstatistik und die historische Demographie begründete«.2 Möglicherweise hatte Petty, der mit Graunt befreundet war, einen gewissen Anteil an dem Buch. Während Sir John Evelyn 1675 in einem Tagebucheintrag davon ausging, dass Petty der Autor der »ingenious deductions« sei »which go under the name of Mr Graunt«,3 gibt es aus heutiger Kenntnis keinen Grund, Graunts Autorschaft anzuzweifeln. Petty scheint zu dem Werk aber zumindest Daten aus seiner Geburtsstadt Romsey beigesteuert zu haben und als Berater in medizinischen Fragen tätig gewesen zu sein.4

»These neglected papers« Als Graunt 1662 seine Natural and Political Observations präsentierte, tat er das in dem stolzen Bewusstsein, etwas vollkommen Neues gefunden zu haben, einen Gegenstand, noch nie berührt von »any of the Learned Pens« 5 und weit entfernt von allem, »what is already in other Books« 6. Graunts Entdeckung bestand darin, Tabellen ernst zu nehmen, sie als einen Gegenstand und zugleich als ein Mittel der wissenschaftlichen Forschung zu begreifen.

1  Zu Pettys Down Survey siehe das vorhergehende Kapitel, zu seiner Ausformulierung der

Politischen Arithmetik siehe das folgende Kapitel. 2  Paul Slack, »Government and information in seventeenth-century England«, Past & Present, Jg. 184, N° 1, 2004, 33 – 68, S. 42. 3  Zit. nach Hull, »Introduction«, S. xxxix. 4  Vgl. McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 131. 5  Graunt, Natural and Political Observations, S. 3. 6  Ebd., o. P. [Widmung].

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Abbildung 5: Londoner Bill of Mortality vom September 1665,

aus der Zeit der ›Great Plague‹.

Im London des 17. Jahrhunderts dienten die Bills of Mortality – wöchentlich veröffentlichte Angaben über ›those who have died in the citie of London‹ – als eine Art Frühwarnsystem gegen die Pest. Wie Graunt beklagt, machten auch diejenigen seiner Mitbürger, die regelmäßig die wöchentlichen Sterbezettel bezogen, kaum einen anderen Gebrauch davon, »als darüber in der nächsten Versammlung (»company«) zu sprechen«, oder, in Pestzeiten, um zu sehen, »wie die Krankheit zunahm oder abnahm, so dass die Reichen die Notwendigkeit ihrer Abreise beurteilen konnten«.7 Graunts wissenschaftliche Revolution beginnt mit der Intuition, dass »diese vernachlässigten Papiere« (»these neglected Papers«),8 »diese armen verachteten Sterbezettel« (»these poor despised Bills of Mortality«)9 noch 7  Ebd., S. 1. 8  Ebd., S. 2 9  Ebd., S. 72.

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für »andere und größere Zwecke« 10 bestimmt sein könnten als nur für Smalltalk und Pestbeobachtung. Denen, die sie zu lesen wussten, sollten die unscheinbaren Listen der toten Londoner ihren inneren Reichtum offenbaren: Sie bildeten eine neue Art von Ressourcen, einen Schatz an Information. Aber Graunts Buch entdeckte nicht nur Listen und Tabellen als Gegenstände der wissenschaftlichen Forschung, es propagierte auch einen neuen, tabellarischen Modus der Darstellung. An die Stelle »langwieriger Erzählungen« (»tedious Narrations«)11 und »vielbändiger Kompendien« (»voluminous Transcriptions«)12 sollte die einfache und unmittelbar evidente graphische Auseinanderlegung von Fakten und Zahlen treten. So konnte Graunt eine Revolution nicht nur des Inhalts, sondern auch der Form für sich reklamieren. Wohin auch immer seine Berechnungen ihn führen würden, er konnte es schon als Erfolg für sich verbuchen, »mehrere unübersichtliche Bände auf ein paar einleuchtende Tabellen reduziert zu haben« (»to have reduced several great confused Volumes into a few perspicuous Tables«).13 Mit Graunt beginnt das Tabellenformat, das seine Fähigkeiten schon in der Erkundung der Natur unter Beweis gestellt hatte, die Analyse des politischen Körpers zu erobern.

Graunts Datenkritik Graunt hat die Stellung seiner Observations im wissenschaftlichen Kontext seiner Zeit deutlich markiert. Er widmet das Werk Sir Robert Moray, dem Präsidenten der Royal Society, und er präsentiert es als ein Stück »Natural History«, geschrieben im Geist von Francis Bacon. Man könnte also eine Untersuchung im Stil der neuen, empirischen Naturforschung erwarten. Aber wie schon der Titel des Buchs deutlich macht, handelt es sich nicht um eine direkte Beobachtung von Dingen, sondern um eine Beobachtung von Listen und Tabellen (»Bills«), das heißt um eine Beobachtung von früheren Beobachtungen. Graunts Arbeit besteht nicht im Zählen, sie besteht eher darin, frühere Zählungen zu evaluieren. Seine Methode kann daher vielleicht am besten als ›Datenkritik‹ beschrieben werden. Graunt wirft neues Licht auf alte Zahlen. Die Interpretation von Zahlen als Zeichen weicht hier, wie Rüdiger Campe bemerkt hat, einem systematischen »Blick auf Daten«.14 Wesentlich ist dabei der Aspekt der kritischen Prüfung: Damit Daten (lat. ›datum‹, das Gegebene) als Daten wirken können, dürfen sie eben nicht einfach als ›gegeben‹ genommen werden. Es muss vielmehr gefragt werden, wie, von wem, und mit welchen Mitteln sie gegeben wurden. Ebd., S. 1. Ebd., o. P. [Widmung]. Ebd., S. 72. Ebd., o. P. [Widmung]. Rüdiger Campe, »Was heißt: eine Statistik lesen? Beobachtungen zu Daniel Defoes ›A Journal of the Plague Year‹«, MLN , N° Vol. 116, 3, German Issue, 2001, 521 – 535, S. 522.

10  11  12  13  14 

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Diese epistemologische Frage nach der Gegebenheit der Zahlen bestimmt den ersten Teil von Graunts Buch. Im Detail rekonstruiert Graunt die Umstände, unter denen die Daten der Bills of Mortality produziert wurden. Folgt man seinen Beschreibungen, so lässt sich die Fabrikation der Sterbezettel als eine Kette von medialen Übertragungen begreifen. Jeder Übersetzungsschritt resultiert in einem neuen Arrangement von Daten und produziert auf diese Weise neue Evidenz. Alles beginnt mit dem Dilemma der Leichenbeschauer, der so genannten ›searchers‹, die das oft nicht besonders klare Resultat ihrer Untersuchung auf einen festgelegten Eintrag in einer Liste möglicher Todesursachen reduzieren mussten. Einen weiteren Schritt der Übertragung bildete die Papierarbeit der Gemeindeschreiber (›parish clerks‹), die aus den einlaufenden Todeszertifikaten »eine wahre Angabe aller Taufen und Begräbnisse der Vorwoche« zusammenzustellen hatten, einschließlich der Angabe »of what disease every particular partie in their Bill menconed dyed«.15 Dieser Akt des Sortierens und Zusammenzählens bereitete die nächste Etappe vor: Jeden Dienstagabend musste der Gemeindeschreiber seine Pfarrlisten beim zentralen Zunfthaus (der »Guild Hall«) der Gemeindeschreiber abliefern.16 Am Mittwochmorgen übernahm dann der Schreiber der Gilde und dampfte die verschiedenen lokalen Listen auf eine zentrale Liste ein: »On Wednesday the general Accompt is made up, and Printed, and on Thursdays published.« 17 Graunts Beobachtungen vollziehen auf diese Weise eine Kette von medialen Transmissionen nach. Sie beschreiben, was passiert, wenn Beobachtungen in Formularen registriert, Formulare in Listen konvertiert, und Listen zu Tabellen zusammengestellt werden. Da die Formblätter, die für die erste Datenerhebung verwendet wurden, nicht erhalten sind, kann ihre Medialität nur indirekt rekonstruiert werden. Offenbar hat es eine Liste fester Einträge für die Todesursachen gegeben, einschließlich solch nichtssagender Formulierungen wie »suddenly«.18 Aber das Vorkommen von singulären oder kuriosen Fällen wie »Fainted in a bath« 19 oder »Planet strucken« 20 zeigt, dass auch freie Einträge möglich waren. Für diejenigen, die wie Graunt versuchten, die auf diese Weise geführten Listen als Quellen der Sozialstatistik zu verwenden, stellte die Inkonsistenz der Datenerhebung ein erhebliches Problem da. Das unvermeidliche Moment der Willkür, das in der Datensammlung liegt, wird durch die ungenaue, alltagssprachliche Formulierung 15  G[uildhall] Library], MS . 4891, zit. nach J.C Robertson, »Reckoning with London. In-

terpreting the Bills of Mortality before John Graunt«, Urban History, Jg. 23, N° 03, 1996, 325 – 350, S. 332. 16  James Chaplain Christie, Some account of parish clerks, more especially of the Ancient Fraternity (Bretherne and Sisterne) of S. Nicholas, now known as the Worshipful Company of Parish Clerks, London [s. n.], 1893, S. 139. 17  Graunt, Natural and Political Observations, S. 11. 18  Ebd., Tabelle nach S. 9. 19  Ebd., Tabelle nach S. 74. 20  Ebd., S. 14.

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der Klassifikationskriterien weiter verschärft. Bevor Graunt seine Tabellen evaluieren konnte, musste er erst einmal Hermeneutik betreiben und sich beispielsweise fragen, »what the searchers mean by Infants«: Bezog sich der Ausdruck auf »Children that cannot speak« oder meinte er »Children under two or three years old«?21 Tatsächlich hätte im Fall der Sterberegister »ein bisschen Standardisierung« den Informationswert der Daten beträchtlich erhöht.22 Graunt selbst war sich bewusst, »dass Zählungen ein anerkanntes Klassifikationsschema erfordern«.23 Seine Observations können als Anstoß zu einem solchen neuen, wissenschaftlichen Weg der Datenerhebung betrachtet werden. Bis zu einem gewissen Grad waren sie darin sogar erfolgreich. Offenbar »wurden die Bills nach Graunts Pamphlet nach und nach auf höhere Standards gebracht«.24 Den nächsten Schritt in der Verfertigung der Bills of Mortality bildete der Übergang vom Formular zur Liste. Wie Schrifthistoriker gezeigt haben, kann die Praxis des Auflistens für Verwaltungszwecke als die älteste Form der schriftlichen Aufzeichnung überhaupt betrachtet werden. Listenartige Darstellungen, die die Dinge dieser Welt in ihrer Anzahl festhalten, sind seit dem vierten Jahrtausend v. Chr. bekannt;25 und seitdem haben die Menschen nicht aufgehört, Verzeichnisse von Dingen, Tieren und menschlichen Wesen anzufertigen. Die epistemischen Qualitäten der Liste beruhen vor allem auf der Ausnutzung der Zweidimensionalität der Schreibfläche. Im Unterschied zur linearen Sequenz des gesprochenen Worts oder des geschriebenen Texts eröffnet das flächige Arrangement die Möglichkeit, eine große Zahl von Einträgen mit einem einzigen Blick zu erfassen. Der Vorteil der relativen Einheit (die Definition eines Adressierungsschemas in Reihen und Spalten) verbindet sich hier mit dem Vorteil der relativen Offenheit. Zu jedem Eintrag kann immer noch ein weiterer hinzugefügt werden. So gibt es nicht nur eine unendliche Zahl von Listen, sondern jede Liste ist in sich selbst unendlich.26 Aber der entscheidende Vorzug der Liste liegt nicht so sehr in ihrer unbegrenzten Aufnahmefähigkeit, sondern in der Möglichkeit, die registrierten Daten weiterzuverarbeiten. Daten, die in Reihen und Spalten gefasst sind, haben den Vorteil, dass sie, wie Jack Goody sagt, »reanalysiert und reformuliert« werden können,27 dass sie, wie Bruno Latour sagt, »neu gemischt und neu kombiniert« 21  Ebd., S. 14. 22  McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 134. 23  Anthony M. Endres, »The functions of numerical data in the writings of Graunt, Petty,

and Davenant«, History of Political Economy, Jg. 17, N° 2, 1985, 245 – 264, S. 248. 24  Robertson, »Reckoning with London. Interpreting the Bills of Mortality before John Graunt«, S. 347. 25  Vgl. Hans Jörg Nissen, Peter Damerow u. Robert K. Englund, Frühe Schrift und Techniken der Wirtschaftsverwaltung im alten Vorderen Orient. Informationsspeicherung und -verarbeitung vor 5000 Jahren, [Bad Salzdetfurth], 1990. 26  Vgl. Umberto Eco, Die unendliche Liste, München, 2009. 27  Goody, The domestication of the savage mind, S. 100.

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werden können.28 Das graphische Format der Liste erlaubt es nicht nur, zwischen den Reihen und Spalten hin und her zu laufen, um auf diese Weise schnell auf die gewünschte Information zuzugreifen, es bietet auch die Möglichkeit, die eingetragenen Daten willkürlich zu extrahieren und in neue Zusammenhänge zu bringen. Dieser Schritt kann als Übergang von der Liste zur Tabelle beschrieben werden. Die Liste gehorcht immer noch den Erfordernissen der Aufzeichnung; sie bezeugt immer noch die empirischen Umstände der Datenhebung. So erhält sich zum Beispiel die chronologische Ordnung der Registrierung in der topologischen Ordnung der Listeneinträge. Mit dem Übergang zur Tabelle wird diese Erinnerung an den empirischen Ursprung abgestreift. Nur in nackter, abstrakter Form gehen die Daten in die Tabelle ein. Beobachten lässt sich ein solches ›Abstreifen‹ im Übergang von der einfachen Liste, die die Taufen und Begräbnisse einer einzelnen Gemeinde enthält, zu der wöchentlichen Bill of Mortality, in der die Daten aller Kirchengemeinden zusammengefasst sind. In dem ersten Dokument werden die Toten noch als Einzelfälle aufgelistet, mit Name, Adresse und Todesursache. Das zweite Dokument kennt keine Namen und Adressen mehr, und die individuellen Fälle erscheinen nur als Zahl oder als Bruchteil einer Summe. Wenn die Toten einer Gemeinde zuvor ein ganzes Blatt Papier für sich beanspruchen konnten, so müssen sie nun in eine Tabellenreihe passen. Die Todesursache, die zuvor für jeden Sterbefall einzeln notiert wurde, wird nun zu einem numerischen Wert in einer Spalte. Ähnlich wie die Liste provoziert die Tabelle eine selektive, sprunghafte Lektüre. Die gedruckten Bills of Mortality enthielten nicht nur Tabellen. Über die Seite verteilt waren auch Bilder und emblematische Darstellungen sowie kurze Texte. In Pestjahren konnte man volkstümliche Rezepte und Gebete finden, die gegen die Ansteckung helfen sollten. Während diese vermutlich intensiv rezipiert wurden, dürfte kaum jemand die Zahlenkolonnen vollständig ›gelesen‹ haben. Wie Graunt berichtet, beschränkten sich die Londoner darauf, »to look at the foot, how the Burials increased, or decreased; And, among the Casualties, what had happened rare, and extraordinary in the week currant«.29 Graunts Beschreibung zeigt an, in welchem Maß das Lesen einer Tabelle sich von dem einer Liste unterscheidet. Wenn man in einer Liste – zum Beispiel einem Sterberegister – von Zeile zu Zeile oder von Seite zu Seite springt, so geschieht dies gewöhnlich, weil man nach etwas Bestimmtem sucht, beispielsweise dem Eintrag für eine bestimmte Person. Der Blick auf eine Tabelle dagegen richtet sich nicht auf den individuellen Fall. Er kann besser als Abtasten einer Oberfläche beschrieben werden, als ein Blick, der über die Reihen und Spalten gleitet, auf der Suche nach tabellenspezifischen Aussagen.

28  Latour, »Drawing Things Together«, S. 286. 29  Graunt, Natural and Political Observations, S. 1.

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Abbildung 6: A Generall or Great Bill for this Yeere, London 1625.

So wie Listen in Tabellen gebracht werden können, so können neue Tabellen aus alten Tabellen zusammengestellt werden. Was die Bills of Mortality angeht, so geschieht dies jedes Jahr »am Donnerstag vor Weihnachten«, wenn die Gilde der Pfarrschreiber eine »Allgemeine Rechnung des ganzen Jahres« (»a general Accompt of the whole Year«) veröffentlicht.30 Der Evidenzeffekt, der durch die jährliche Zusammenstellung hervorgebracht wird, der Eindruck eines allgemeinen Überblicks, ist nicht zu haben ohne einen Prozess der Reduktion, der Kondensation von Information, der unvermeidlich etwas Willkürliches hat. So könnte man sagen, dass die jährlichen Accompts zugleich weniger und mehr Information erhalten als die wöchentlichen Bills: weniger, denn um in den begrenzten Raum der Jahresrechnung einzugehen, müssen zahlreiche Unterscheidungen, die in den wöchentlichen Bills noch enthalten waren, ausgelassen werden. In anderer Hinsicht enthalten sie ein Mehr-Wissen, das in den wöchentlichen Daten nicht enthalten war, nämlich eine Ansicht des Ganzen und seiner Entwicklung in der Zeit.

30  Ebd., S. 4.

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Die Tabellierung geht weiter So weit zu Graunts Rekonstruktion der medialen Prozeduren, die in der Fabrikation der Bills of Mortality am Werk waren. Doch was tut Graunt selbst mit den Tabellen, deren Hervorbringung er so minutiös beschrieben hat? Er hält sich an die Möglichkeit, das Tabellierte weiter zu tabellieren. Wie er selbst sagt, besteht seine Methode darin, »to look out all the Bills I could«, um sie dann auf neue Tabellen zu reduzieren – »so as to have a view of the whole together, in order to the more ready comparing of one Year, Season, Parish, or other Division of the City, with another«.31 Der erste und wichtigste Effekt der Tabellierung besteht darin, eine Übersicht zu schaffen. In dieser Hinsicht folgt Graunt dem Ratschlag, den Francis Bacon in seinem New Organon gegeben hatte: A natural and experimental history is so diverse and disconnected that it confounds and confuses the understanding unless it is stopped short, and presented in an appropriate order. So tables must be drawn up and a coordination of instances made, in such a way and with such organisation that the mind may be able to act upon them.32

Aber der eigentliche Vorteil der Tabelle – und der wichtigste Grund, sie als ein ›Medium‹ zu betrachten – besteht nicht darin, dass sie einfach nur klarer und deutlicher repräsentieren würde, was man bereits wusste oder auf andere Art hätte wissen können. Vielmehr kann man sagen, dass es ein spezifisch tabellarisches Wissen gibt, dass also bestimmte Objekte und Evidenzen allein durch die Tabelle und durch tabellarische Praktiken zur Existenz gelangen. Die Tabelle lässt ›Dinge‹ zum Vorschein kommen, die zuvor nicht sichtbar waren, weil sie erst im Akt der tabellarischen Abstraktion selbst produziert werden. Während eine einzelne Liste, die »The Number of all those that hath dyed in the Citie of London« enthält,33 nur das So-Sein der Dinge reflektiert, ist es möglich, eine unerwartete Regelmäßigkeit in diesen vermeintlich zufälligen Ereignissen zu finden, sobald man mehrere Tabellen miteinander in Vergleich setzt. Graunts größter Schritt in der Neuorganisation des Wissens kann als ein solcher Übergang von Zahlen zu Zahlenverhältnissen beschrieben werden. Wenn man numerische Daten nicht nur in dem begrenzten räumlichen und zeitlichen Kontext betrachtet, in dem sie gewonnen wurden, sondern sie mit Zahlen einer 31  Ebd., S. 2. 32  Francis Bacon, The New Organon (1620), hg. v. Lisa Jardine u. Michael Silverthorne,

Cambridge, 2000, S. 109. 33  Dies war die Formel, mit der die frühen Bills of Mortality überschrieben waren, vgl. The number of all those that hath dyed in the citie of London and the liberties. From the 28 of December 1581 unto the 27, of December 1582 … also the number … that have dyed of the plague in which in every parish, London, 1583.

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anderen Serie in Beziehung setzt, kann sich eine vollständig andere Evidenz ergeben. Die Zahlen bezeugen dann nicht mehr nur das Auftreten bestimmter Ereignisse zu einer bestimmten Zeit. Stattdessen lassen sie Muster, Serien, Trends hervortreten – und nähren auf diese Weise die Hoffnung, dass die menschlichen Angelegenheiten eines Tages genauso sicher und vorhersagbar sein könnten wie die Bewegung der Planeten. In Graunts Observations wird diese neue Erkenntnismöglichkeit mit einer geradezu spielerischen Entdeckerfreude durchgespielt. Wie der Autor zugibt, »there is much pleasure in deducing so many abstruse and unexpected inferences out of these poor despised Bills of Mortality«.34 Der einfachste Weg zu solch glücklichen Ableitungen besteht darin, Daten miteinander zu vergleichen, die simultan, aber an verschiedenen Orten gesammelt wurden. Dies erlaubt es, die Proportionen innerhalb eines gegebenen oder angenommenen Ganzen zu bestimmen. Während seine Zeitgenossen davon überzeugt waren, dass ungefähr drei Frauen auf einen Mann kamen, konnte Graunt mit Zahlen beweisen, »dass das exakte Verhältnis 16 Männer zu 15 Frauen beträgt«.35 Eine zweite Dimension ergibt sich, wenn die proportionalen Verhältnisse im zeitlichen Verlauf betrachtet werden. Wenn man beispielsweise die Verteilung der Todesursachen über mehrere Jahre oder Jahrzehnte verfolgt, so kann man feststellen, dass es – abgesehen von den epidemischen Krankheiten, die durch stark schwankende Zahlen gekennzeichnet sind – spezifische Todesursachen gibt, die »a constant proportion unto the whole number of Burials« ausmachen,36 wozu nicht nur die chronischen Krankheiten und die Unfälle gehören, sondern auch die Selbstmorde. Solche wiederkehrenden Proportionen können als feste Maße im Fluss der Daten betrachtet werden; sie dienen als eine Art Eichmarken, um andere Variablen zu prüfen. Zugleich eröffnet die tabellarische Synopsis die Möglichkeit, die zeitlichen Veränderungen in ihrer Regelmäßigkeit zu beschreiben. Aus den Schwankungen der Todesrate, die in einer kurzzeitigen Beobachtung als zufällig erscheinen, lassen sich bei der Betrachtung eines längeren Zeitraums stabile Muster und langfristige Trends erkennen. Sicherlich sind solche für den politischen Diskurs des 17. Jahrhunderts charakteristischen Begriffe wie ›improvement of trade‹, ›growth of wealth‹, ›increase of people‹ oder ›advancement of learning‹ nicht erst durch die Techniken der tabellarischen Repräsentation in die Welt gekommen. Dennoch kann man sagen, dass es das Medium der Tabelle war, das den Parolen des ›Fortschritts‹, wie die neue, bürgerliche Regierungskunst sie verkündete, eine besondere Überzeugungskraft und visuelle Evidenz verlieh. Dinge wie ›Wachstum‹ oder ›Wohlfahrt‹, die im gewöhnlichen Leben unsichtbar bleiben, werden durch Tabellen sichtbar 34  Graunt, Natural and Political Observations, S. 72. 35  Endres, »The functions of numerical data in the writings of Graunt, Petty, and Dave-

nant«, S. 248. 36  Graunt, Natural and Political Observations, S. 18.

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gemacht. So wird sich die spätere Politische Arithmetik, die sich selbst als »the Art of Reasoning, by figures, upon Things Relating to Government« definiert,37 ganz wesentlich auf die Darstellungsmöglichkeiten der Tabelle stützen. Um ihre Landsleute zu überzeugen, »dass der Handel und Reichtum Englands mächtig vorangekommen« sei,38 oder dass England »die erste Handelsnation in der ganzen Welt« geworden sei,39 mussten Männer wie Gregory King und Charles Davenant keine großen Worte machen, sie konnten einfach ihre Tabellen sprechen lassen. In den heutigen, wesentlich ausgeklügelteren Formen der Datenvisualisierung findet sich dieser ideologische Evidenzeffekt noch wesentlich verstärkt. Der entscheidende Abstraktionsschritt aber war mit der Methode der tabellarischen Reduktion schon geleistet worden. Begriffliche Einheiten wie zum Beispiel ›Bevölkerung‹, ›Nationaleinkommen‹ oder ›Ökonomie‹ verdanken ihre Existenz nicht zuletzt den Techniken der Tabellierung und Klassifikation, wie sie von Graunt und seinen Zeitgenossen entwickelt wurden.

Die Handelsbilanz des Lebens und Sterbens Es ist nicht überflüssig, darauf hinzuweisen, dass John Graunt von Beruf ein Kaufmann war, ein wohlhabender Kurzwarenhändler und Vorsteher der Tuchhändlergilde. Dadurch erklärt sich erstens sein Interesse an den Bills of Mortality. Graunt selbst bemerkt, dass die Händler gewohnt gewesen seien, die Sterbezettel zu lesen, um daraus zu schließen, »what doings they were like to have in their respective dealings«.40 Zweitens kann Graunts Beruf auch seinen Widerwillen gegen »idle, and useless Speculations« erklären, sowie seine Neigung zu einem Wissen, das »some real fruit« bringt.41 Graunt lässt keinen Zweifel daran, worin dieser Nutzen besteht. In seiner Wissenschaft dreht sich alles darum, eine »sicherere und zuverlässigere« Form von »Handel und Regierung« zu finden,42 einen neuen Weg, das Soziale zu verstehen und zu verwalten. Diese neue »Art of Governing« bzw. »true Politiques«,43 die Graunt – »with all humble submission« 44 – den Mächtigen ans Herz legt, soll sich nicht länger auf bloßes Raten und Ausprobieren verlassen. Sie soll sich auf ein genaues und kontinuierliches Wissen

37  Charles Davenant, Discourses on the Publick Revenues, and on the Trade of England, London, 1698, S. 2. 38  Gregory King, zit. nach Slack, »Government and information in seventeenth-century England«, S. 67. 39  Charles Davenant, zit. nach ebd., S. 67. 40  Graunt, Natural and Political Observations, S. 1. 41  Ebd., S. 2. 42  Ebd., S. 73. 43  Ebd., S. 72. 44  Ebd., o. P. [Widmung].

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von den gesellschaftlichen Kräften und Ressourcen stützen, auf eine gründliche Kenntnis von »the Land, and the hands of the Territory«.45 In zweierlei Hinsicht lässt sich hier von einer Politik der Genauigkeit sprechen: Erstens geht es darum, genau zu zählen: »It is no less Necessary to know how many People there be of each Sex, State, Age, Religion, Trade, Rank, or Degree«.46 Doch Zählungen vorzunehmen, die den traditionellen Einteilungen folgen, genügt nicht. Der entscheidende Schritt besteht darin, neue Unterscheidungen zu treffen, neue Kriterien des Zählens zu definieren, die den traditionellen Kriterien zuwiderlaufen und sie im Lauf der Zeit ersetzen werden. So entsteht ein vollkommen neues Bild des Sozialen, wenn die Leute nicht mehr nach ›Rank‹, ›Degree‹ oder ›Estate‹ angeordnet, sondern nach ihrem wirtschaftlichen Nutzen klassifiziert werden, so dass zum Beispiel die Reichen nach ihrem Steuerbeitrag und die Armen nach ihrer Arbeitsfähigkeit sortiert und gezählt werden. Es scheint mir wichtig, festzuhalten, dass diese neue, ›quantitative‹ Konzeption des Sozialen nicht einfach nur einen ideologischen ›Reflex‹ des Übergangs vom traditionellen Ständesystem zur neuen, kapitalistischen Klassengesellschaft darstellt. Es ist vielmehr die Quantifizierung selbst, die die Gesellschaft transformiert. Und es ist die Tabelle, die als ihr wirksamstes Medium betrachtet werden kann. Die Tabelle spiegelt nicht einfach wider, was ›dort draußen‹ im Sozialen vorhanden ist. Sie führt vielmehr die Kriterien ein (und verstärkt sie laufend im Gebrauch), die die neue soziale Hierarchie bestimmen werden. Als eine Agentur der Unterscheidung und Verteilung spielt sie eine wichtige Rolle in der Neuaufteilung des Sozialen, die man als Heraufkunft der Klassengesellschaft bezeichnet. Graunt selbst verweist auf die besondere Konfiguration, die das Medium der Tabelle mit der Frage der politischen Ordnung verbindet. In seiner Widmung an Sir Robert Moray spricht er von »the Mathematiques of my Shop-Arithmetique«,47 auf die alle seine Berechnungen sich gründeten. Das ist nicht einfach eine Koketterie mit dem Status des »Amateurwissenschaftlers«.48 Es handelt sich vielmehr um einen klaren Hinweis, wo nach den Ursprüngen der Sozialstatistik und Demokratie zu suchen ist, nämlich in den Medienpraktiken der »kaufmännischen Buchhaltung«.49 Wie Philip Kreager gezeigt hat, kann Graunts Tabellierungsmethode auf die Technik der doppelten Buchführung zurückgeführt werden, die bereits im 15. Jahrhundert von den Finanzbehörden Genuas und Venedigs praktiziert worden war und die durch Luca Paciolis Summa de Arithmetica (1494) in ganz Europa Verbreitung gefunden hatte. Ebd., S. 72. Ebd., S. 73. Ebd., o. P. [Widmung]. John M. Last, »Epidemiology – History«, in: Stephen Lock, John M. Last und George Dunea (Hg.), The Oxford Illustrated Companion to Medicine, 2001, 272 – 275, S. 273. 49  Philip Kreager, »New light on Graunt«, Population Studies, Jg. 42, N° 1, 1988, 129 – 140, S. 130. 45  46  47  48 

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Die Prozedur, die in England mindestens seit der Mitte des 16. Jahrhunderts in Gebrauch war,50 sah vor, dass jede von einem Kaufmann vorgenommene Transaktion doppelt vermerkt wurde: Aufeinander folgende Transaktionen, die sich auf ein Konto bezogen, wurden zweimal, in parallelen Spalten, in ein Kassenbuch eingetragen, wobei ein Eintrag die wechselnde Bilanz der Schuld, der andere die des Kredits anzeigte. Der Vergleich oder das Größenverhältnis zwischen den beiden Spalten in Bezug auf Ausgangswerte und folgende Bilanzen ermöglichte dem Kaufmann eine sofortige Einschätzung des gegenwärtigen und vergangenen Kontostands, in Bezug auf andere. Dies machte es möglich, Buchführungsfehler aufzuspüren, Verluste einzukreisen und wirkliche Gewinne von den diversen Schwankungen der Einkünfte zu unterscheiden.51

In ihrem Buch A History of the modern fact hat Mary Poovey dieser Buchhaltungstechnik eine entscheidende Rolle in der Formierung der wissenschaftlichen Methodik zugeschrieben. Als eine Art sich selbst überprüfendes System wurde die doppelte Buchführung nicht nur zu einem »Ausweis kaufmännischer Tugend« und zu einem Modell der moralischen Selbstregulierung,52 sie diente auch als ein »Modell für jene Art von ›interesselosem‹ Wissen, das Naturphilosophen über die natürliche Welt anbieten wollten«.53 Ausschlaggebend für diesen umfassenden Erfolg ist jener »Genauigkeitseffekt« (»effect of accuracy«),54 der durch die formale Korrektheit der Aufschreibeprozedur hervorgebracht wird: Obwohl die Richtigkeit der ursprünglichen Aufzeichnungen nicht verifiziert werden konnte, sorgte die formale Präzision der Bücher dafür, dass die Aufzeichnungen so funktionierten, als ob sie nicht nur präzise, sondern auch richtig wären.55

Was auch immer durch den Filter des tabellarischen double-check lief, konnte als ›präzise‹ und ›akkurat‹ durchgehen, auch wenn die empirische Basis keineswegs gesichert war. Für einen Kaufmann hatte die doppelte Buchführung nicht einfach nur die operationale Funktion, die Kontrolle des laufenden Geschäfts zu erleichtern. Ebenso wichtig war die »rhetorisch[e] Funktion«,56 nämlich eine vollständige Transparenz des ganzen Geschäfts zu suggerieren.

50  51  52  53  54  55  56 

Vgl. Yamey, Edey u. Thomson, Accounting in England and Scotland, 1543 – 1800, S. 155. ff. Kreager, »New light on Graunt«, S. 135. Poovey, A history of the modern fact, S. xvi-xvi. Ebd., S. 11. Ebd., S. 58. Ebd., S. 64. Ebd., S. 64.

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Theoretisch hätte die Technik des double-entry bookkeeping zu jedem Moment eine exakte »Bewertung des Gesamtvermögens eines Kaufmanns« ermöglicht. In der Praxis jedoch »wurde eine solche Berechnung so gut wie nie durchgeführt«.57 Wenn auf diese Weise die »vollständige Offenlegung nur eine Fiktion« war,58 so war sie jedenfalls eine äußerst wirksame Fiktion. Es lag eine Art ideologischer Mehrwert in der Technik der doppelten Buchführung, der ihre Überführung in andere Bereiche erleichterte, nicht nur in die Wissenschaft, sondern auch in die Politik. Das 1608 erschienene Livre de compte de prince a la maniere d’Italie von Simon Stevin entwarf eine Regierung des Staates, die ganz dem Modell der doppelten Buchführung folgen sollte. Der beste Herrscher wäre demnach derjenige, der aus seinen Büchern jederzeit den Zustand des gesamten Königreichs ablesen könnte, so wie ein Kaufmann aus seinen Büchern den Stand seiner Geschäfte abliest.59 Graunts kaufmännischer Zugang zum Problem der Regierung, seine Idee einer Politik von »Peace, and Plenty«,60 die den Staat so führen würde wie ein Kaufmann sein Geschäft führt, war also nicht neu. Graunt war auch nicht der erste, der versuchte, die Evidenzeffekte der tabellarischen Repräsentation auf das Feld der politischen Analyse zu übertragen. Neu dagegen ist sein Verständnis davon, was das vorrangige Objekt des auf diese Weise definierten Staatsunternehmens ist oder sein sollte. Nach Graunt ist die Ökonomie des Staates nicht so sehr eine Ökonomie der Dinge, sondern der Menschen. So entwirft er seinen Staatshaushalt als einen Bevölkerungshaushalt. Gegen die Verwendung des Begriffs ›Bevölkerung‹ ließe sich natürlich einwenden, dass Graunt selbst das Wort ›population‹ nicht benutzt. Überhaupt taucht das Wort im 17. Jahrhundert selten auf, und wenn, dann wird es meistens in einer aktiven, transitiven Form verwendet, im Sinne von »peopling«, d. h. eine Stadt oder ein Land zu bevölkern.61 Um dagegen die »fulness of people« zu bezeichnen, werden eher die Begriffe »populosity« or »populousness« verwendet.62 In der merkantilistischen Theorie des 17. Jahrhunderts wird ›populousness‹ ein wichtiges Konzept; es impliziert jedoch nicht mehr als das Postulat eines allgemeinen Zusammenhangs zwischen der Gesamtzahl der Menschen und dem ökonomischen Reichtum eines Landes.63 Eine interessante Verschiebung in der Anlage des Konzepts findet sich bei Francis Bacon. In einer 1625 erschienenen Fassung seines 57  Kreager, »New light on Graunt«, S. 135 f. 58  Vgl. Poovey, A history of the modern fact, S. 64. 59  Zu Simon Stevins Traktat vgl. Bernhard Siegert, Passage des Digitalen. Zeichenpraktiken

der neuzeitlichen Wissenschaften 1500 – 1900, Berlin, 2003, S. 49 – 55. 60  Graunt, Natural and Political Observations, S. 72. 61  Vgl. Nathan Bailey, An universal etymological English dictionary, London, 1675, o. P. 62  Vgl. ebd., o. P. 63  Vgl. Andrea A. Rusnock, »Biopolitics. Political Arithmetic in the enlightenment«, in: William Clark, Jan Golinski und Simon Schaffer (Hg.), The sciences in enlightened Europe, Chicago, 1999, 49 – 68, S. 54.

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Essays Of Seditions and Troubles benutzt er nicht nur den Begriff ›population‹, sondern geht auch über das Konzept der ›populousness‹ hinaus. Anstatt einfach nur die Gesamtzahl der Menschen zu erfassen, solle man lieber innerhalb dieser Zahl nach der wirtschaftlichen Nützlichkeit der einzelnen Anteile fragen: Neither is the Population, to be reckoned onely by number. For a smaller Number, that spend more, and earne less, do wear out an Estate sooner than a greater Number that liue lower, and gather more.64

Zum Imperativ der Zählung gesellt sich hier der Imperativ der Unterscheidung, ein doppelter Auftrag, dem Graunt nach Kaufmannsart gerecht werden wird. Seine Wortwahl macht deutlich, dass er das Leben und Sterben in London als ein Spiel der ökonomischen Transaktionen begreift. Für das Ganze der Bevölkerung benutzt Graunt Wörter wie Summe (»sum«), Totale (»total«) oder Stapel (»pile«), während die einzelnen Fraktionen oder Teilsummen als Konten (»accompt«, die archaische Form von ›account‹) bezeichnet werden. Fälle von Geburt oder Tod können auf diese Weise als Eingänge und Abgänge betrachtet werden, die die Bilanz eines bestimmten Kontos vergrößern oder verringern. Indem man die verschiedenen Konten miteinander vergleicht und aneinander überprüft, kann man hoffen, eine Übersicht über das gesamte Geschäft zu bekommen, beziehungsweise, in Graunts Fall, »of the whole Pyle, call’d London«.65 Auf diese Weise kann Graunt, obwohl er das Wort nicht gebraucht hat, als einer der Erfinder des Konzepts der ›Bevölkerung‹ betrachtet werden. Er scheint nicht nur der erste gewesen zu sein, der die Tatsachen des Lebens und des Todes nach dem Modell der Handelsbilanz begriff, er sah auch Eingriffe in diesen Haushalt vor, die sich sehr wohl als »Bio-Politik der Bevölkerung« beschreiben lassen.66 Wenn »Bio-Macht« definiert ist als »Eintritt des Lebens und seiner Mechanismen in den Bereich der bewußten Kalküle und die Verwandlung des Macht-Wissens in einen Transformationsagenten des menschlichen Lebens«,67 dann können Graunts Observations als eine ihrer ersten Manifestationen betrachtet werden – auch wenn Foucault den Auftritt des Konzepts »etwas später – um die Mitte des 18. Jahrhunderts« 68 datiert und in seinen Vorlesungen zur Gouvernementalität nur einen knappen Hinweis auf Graunt gibt.69 Graunt selbst war der Auffassung, dass seine Observations sowohl der »Political History« als auch der »Natural History« angehörten, »some concerning Trade 64  Francis Bacon, »Of Seditions and Troubles«, in: ders., The Essayes, or Covnsels, Civill & Morall, London, 1625, 76 – 89, S. 83. 65  Graunt, Natural and Political Observations, S. 54. 66  Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 166. 67  Ebd., S. 170. 68  Ebd., S. 166. 69  Vgl. Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 113.

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and Government, others concerning the Air, Countries, Seasons, Fruitfulness, Health, Diseases, Longevity, and the proportions between the Sex and Ages of Mankind«.70 Der entscheidende Punkt ist hier offensichtlich die Überkreuzung der Verfahren: Politische Probleme werden nach Art der empirischen Naturforschung behandelt, und Aspekte des natürlichen Lebens, wie Geburt, Gesundheit, Krankheit und Tod, werden als politische Fragen diskutiert. Graunts Berechnungen der Altersverteilung, der Sterblichkeit, der Fruchtbarkeit usw. erzeugen nicht nur ein neues Wissen von der Bevölkerung als eines »dynamischen, von eigenen Gesetzen regierten Körpers«,71 sie bringen auch die Idee einer »honest harmless Policy« hervor,72 die sich der bisher blind ablaufenden Prozesse des Lebens annehmen und sie – im Namen der allgemeinen Wohlfahrt – der Kontrolle und Regulierung unterwerfen soll.

Politik der Tabelle An dieser Stelle ist es nicht so wichtig festzustellen, bis zu welchem Grad eine Biopolitik der Bevölkerung in Graunts Observations schon verwirklicht war.73 Hier ist es eher interessant, zu fragen, wie es überhaupt zu einer Verbindung von Leben und Politik kommen kann, wie die verwirrte Sphäre der menschlichen Angelegenheiten, dominiert von Furcht und Hoffnung, zu einem Gegenstand des Wissens und der rationalen Verwaltung werden kann. Ein erster Schritt besteht darin, für die Beschreibung der menschlichen Welt nur jene Kriterien zuzulassen, die auch dazu dienen können, die natürliche Welt zu erfassen, nämlich, wie William Petty es formulieren wird, »Number, Weight, or Measure«.74 Diese quantitative Methode vermittelt die Idee einer objektiven Repräsentation des Sozialen, die sich nicht mehr auf »the mutable Minds, Opinions, Appetites, and Passions of particular Men« verlassen müsste.75 Ein zweiter wichtiger Schritt in der Übertragung von ›Welt‹ in ›Wissen‹ ist die tabellarische Anordnung der numerischen Daten. Es ist dieser Schritt, der die Spezifität der Graunt’schen Methode ausmacht. Es ist auch der, der ihn am engsten mit der Episteme seiner Zeit verbindet. Wie Foucault gezeigt hat, waren die Wissenschaften des klassischen Zeitalters (des Barock) davon besessen, eine Ordnung der Zeichen (der Wörter) zu erstellen, die in perfekter Weise der OrdGraunt, Natural and Political Observations, o. P. [Widmung]. Zohreh Bayatrizi, Life sentences. The modern ordering of mortality, Toronto, 2008, S. 62. Graunt, Natural and Political Observations, S. 72. Inwiefern in Bezug auf Graunt und Petty von ›Biopolitik‹ gesprochen werden kann, wird in Kap. 12, Abschnitt »Facetten der Biomacht«, diskutiert. 74  William Petty, »185. Petty to Edward Southwell [3 November 1687]«, in: ders. u. Robert Southwell, The Petty-Southwell correspondence, 1676 – 1687, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, London, 1928, 318 – 322, S. 322. 75  Petty, »Political Arithmetick«, S. 244. 70  71  72  73 

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nung der Dinge entsprechen sollte. Das Medium, das diese Zusammenfügung leisten sollte, war das tableau, ein Begriff, der einiges an Verständlichkeit gewinnt, wenn man ihn, wie es in der englischen Übersetzung von Les mots et les choses geschieht, schlicht und medienhistorisch einleuchtend, mit table, d. h. Tabelle, übersetzt. Das »Projekt einer allgemeinen Wissenschaft der Ordnung« 76 vollzieht sich durch die Anordnung der Zeichen »in geordneten Tabellen von Identitäten und Unterschieden«.77 Der auf diese Weise eröffnete »Raum des Wissens« (»espace de savoir«)78 ist ein »Tabellenraum« (»éspace en tableau«).79 Es ist die Tabelle (»le tableau«), die in der klassischen Episteme den »Ort aller möglichen Ordnungen bildet, die Matrix all ihrer Beziehungen, die Form, dergemäß alle Wesen in ihrer singulären Individualität verteilt werden«.80 Einen Latour’schen Begriff aufnehmend, könnte man sagen, dass die tabula, ob sie nun tableau, Tafel oder table genannt wird, zu jener Zeit den »universal exchanger« darstellt,81 durch den die verschiedensten Vorkommnisse registriert, benannt, sortiert und verglichen werden können. Foucault hat gezeigt, was diese Auferlegung eines tabellarischen Rasters für die Sprachwissenschaften, die Naturgeschichte und die Ökonomie bedeutete. Es lässt sich jedoch auch fragen, was dies für das Verständnis von Gesellschaft und Politik bedeutete. Wo und in welchem Ausmaß macht das Tabellenformat einen Unterschied in der Konstitution des politischen Wissens?

Der Stand der Dinge Einer der offensichtlichen Vorzüge der tabellarischen Repräsentation ist die Synopsis, die Gelegenheit, viele Einzelheiten mit einem Blick zu erfassen. Die politische Konnotation ist offensichtlich: Die statistische Sicht ist zugleich ein strategischer Überblick. Wie ein Armeegeneral, der von seinem Feldherrnhügel das Schlachtfeld kontrolliert, seine Truppen beurteilt und anordnet, überblickt der politische Arithmetiker sein Datenmaterial, gruppiert und re-gruppiert es nach seinen wechselnden Erkenntnisinteressen.82 Wie die geographische Kartierung (›survey‹), so impliziert auch die demographische Erschließung (ebenfalls ›survey‹ genannt) einen Blick ›von oben‹, eine panoptische Sicht, erhaben über die Bodenperspektive der Individuen. Eine wichtige Implikation des tabellarischen Dispositivs ist damit die Entfernung des Betrachters vom Betrachteten. Das 76  Michel Foucault, Les mots et les choses. Une archéologie des sciences humaines (1966),

Paris, 1968, S. 86. Ebd., S. 86. Ebd., S. 89. Ebd., S. 90. Ebd., S. 263. Latour, »Drawing things together«, S. 54. Vgl. Katzmair, »Ordnungen des Zählens«, S. 46.

77  78  79  80  81  82 

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Tableau kann auf diese Weise als ein Distanzierungsmedium begriffen werden: ein Medium, das eine Repräsentation der Welt für einen ›neutralen‹ Beobachter schafft, der selbst nicht Teil der Szene ist.83 Eine andere räumliche Implikation der tabellarischen Repräsentation ist die Reduktion einer multidimensionalen Realität auf die Zweidimensionalität eines Papierbogens. Wie die Oberfläche eines Tisches (table) so verlangt auch eine Tabelle (table) nach der Anordnung von Dingen auf einer homogenen, klar definierten Oberfläche. Dazu kommt, dass die zeitliche Dimension ausgelöscht wird. Wie der Raum im allgemeinen, so muss der tabellarische Raum als eine »Ordnung des Koexistierenden« begriffen werden, als eine »Ordnung der Existenz« für alles, was zugleich ist.84 Dinge in Tabellen zu setzen heißt, sie zu synchronisieren; es heißt, die Historizität des »Raumes« auf die Zeitlosigkeit eines logischen »Orts« zu reduzieren.85 Unweigerlich ist die Konstruktion der tabellarischen Ordnung an einen Akt der Stillstellung gebunden. Wenn sie gezählt und sortiert werden sollen, dürfen die Dinge und Menschen sich nicht bewegen. Daher, so sagt man, der Erfolg der ersten Volkszählung in Kanada: »[D]ie Leute waren wenige und im tiefsten Winter festgefroren, als der Zensus vorgenommen wurde.« 86 Und daher auch der Name Staat: Das in Italien aufgekommene Wort geht auf jenen Akt des Anhaltens zurück, durch den ein Kaufmann einmal im Jahr sein Geschäft unterbrach, um dessen Zustand (stato) zu prüfen.87 In diesem Zusammenhang stellt die aufkommende Statistik nicht einfach nur die Wissenschaft dar, die zum Staat gehört (und daher in den deutschen Ländern ›Staatenkunde‹ genannt wird), sondern auch die, die den Fluss der Zeit unterbricht, um einen ›état présent‹ oder ›status actualis‹ der Dinge festzuhalten.88 Dies ist augenfällig in den Titeln, mit denen die politischen Arithmetiker ihre Zahlensammlungen überschreiben, wie zum Beispiel »The Present State of England« oder »The State of the Poor«. Das hier sichtbar werdende Ideal ist das einer statischen, sozusagen gefrorenen Welt, in der sich nichts bewegt außer dem Auge des Forschers. Damit fällt auch neues Licht auf John Graunts Beschäftigung mit den Bills of Mortality. Es ist vielleicht kein Zufall, dass der erste Versuch, eine Politik des Lebens zu etablieren, damit beginnt, die Toten zu zählen, das heißt diejenigen, die am wenigsten in der Lage sind, sich von der Stelle zu rühren. 83  Vgl. die analogen Bemerkungen von Crary zur Funktionsweise der Camera Obscura: Jonathan Crary, Techniken des Betrachters. Sehen und Moderne im 19. Jahrhundert (1990), Dresden, 1996, S. 49 – 51. 84  Gottfried Wilhelm Leibniz, »Aus den ›Metaphysischen Anfangsgründen der Mathematik‹«, in: ders., Hauptschriften zur Grundlegung der Philosophie, Band 1, hg. v. Ernst Cassirer, Hamburg, 1996, 53 – 68, S. 54. 85  Vgl. Michel de Certeau, Kunst des Handelns (1980), Berlin, 1988, S. 217 – 220. 86  Ian Hacking, The taming of chance (1990), Cambridge, U.K, New York, 2002, S. 17. 87  Vgl. Siegert, Passage des Digitalen, S. 48. 88  Vgl. Robert A. Horváth, »La quantification et les débuts de la science statistique et sociologique«, Population (French Edition), Jg. 33, N° 1, 1978, 85 – 99, S. 86.

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Unterscheidung und Entscheidung Ein zweites politisch relevantes Merkmal der tabellarischen Repräsentation liegt in der Fähigkeit, Unterscheidungen zu treffen und Entscheidungen zu forcieren. Auf den ersten Blick scheint eine Tabelle vollkommen dem Ideal einer neutralen, objektiven, wissenschaftlichen Repräsentation zu entsprechen. Für Francis Bacon bildete die Tabelle ein »System von Plätzen« oder »Positionen«, das den Vorteil hatte, jederzeit »von unabhängigen Beobachtern« überprüft werden zu können.89 Im gleichen Sinn verstand John Graunt seine Tabellenarbeit als einen transparenten, nichtrhetorischen Modus der Wissenspräsentation. Wie an einer Schultafel sollte jeder Fehler erkannt und gleich moniert werden können: »I have, like a silly Schole-boy […] brought a bundle of Rods wherewith to be whipt, for every mistake I have committed«.90 In solchen Bildern der Dienstbarkeit wird die Macht der Tabelle verschleiert. Indem Graunt die jederzeitige Korrigierbarkeit der Rechnungen hervorhebt, dissimuliert er den Zwang, der in der Form der Tabelle liegt. Zwar kann jeder einzelne Eintrag bestritten werden; das Schema der Tabelle selbst aber ist nicht verhandelbar. Jeder, der eine Tabelle ausfüllt, übernimmt mehr oder minder bewusst das ihr zugrundeliegende Klassifikationssystem und bestätigt die von ihr vorgeschriebenen Unterscheidungen. Es scheint, als hätte diese unsichtbare »Wirkmacht der Tabellenform« ganz wesentlich damit zu tun, dass die »eigentlichen ›Kriterien‹ der Unterscheidung […] dabei nicht sprachlich, sondern graphisch vollzogen« sind.91 Selbst wenn, was selten passiert, das kategoriale System der Tabelle infrage gestellt wird, so bleibt dabei doch die tabellarische Form selbst unangetastet. Die ideologische Macht der Tabelle liegt in ihrem graphischen Raster, in ihrer Fähigkeit, die Logik der Unterscheidung mit der Evidenz der sinnlichen Wahrnehmung auszustatten: Was sich in einer bestimmten Tabellenspalte befindet, ist nicht nur logisch, sondern auch sichtbar von dem getrennt, was in einer anderen Spalte untergebracht ist. Der entscheidende Punkt, der es erlaubt, von einer epistemischen Wirksamkeit der Tabelle zu sprechen, ist, dass sie nicht nur anordnet und aufräumt, was bereits unterschieden ist, sondern dass sie selbst, dank ihrer graphischen Struktur, den Akt der Unterscheidung forciert. So ist es, wie Jack Goody bemerkt hat, in mündlicher Rede […] ohne weiteres möglich, ›Tau‹ in einem bestimmten Kontext als ein Phänomen der Erde und in einem anderen Kontext als eins des

89  Vgl. Kreager, »New light on Graunt«, S. 130 – 131. 90  Graunt, Natural and Political Observations, S. 3. 91  Arndt Brendecke, »Tabellen und Formulare als Regulative der Wissenserfassung und

Wissenspräsentation«, in: Wulf Oesterreicher, Gerhard Regn und Winfried Schulze (Hg.), Autorität der Form – Autorisierung – institutionelle Autorität, Münster, 2003, 37 – 53, S. 41.

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Himmels zu behandeln. Wenn man jedoch damit konfrontiert ist, daß das Wort in einer bestimmten Untergruppe einer Liste oder einer bestimmten Spalte innerhalb einer Tabelle stehen soll, hat man zwischen zwei Möglichkeiten eine Wahl zu treffen: Das Wort muß entweder oben oder unten oder in einer rechten oder linken Spalte eingereiht werden.92

Wenn die Form der Tabelle auf diese Weise zur Entscheidung zwingt, so kann die Tabellenlinie als paradigmatischer Operator dieser Scheidung betrachtet werden. »Die Linie«, so Sibylle Krämer, »ist Bedingung der Möglichkeit von Unterscheidung, sie produziert also Unterscheidbarkeit, ohne selbst dem anzugehören, was durch sie unterschieden wird«. Tabellenlinien können demnach (wie auch die Linien eines kartographischen Rasters) als »quasitranszendentale Primärlinien« betrachtet werden, »welche die Inskriptionen von Wissensdingen überhaupt erst ermöglichen«.93 Die Tabellenlinie bildet auf diese Weise ein Medium zur Auslöschung von Ambivalenz. Als Operator der Entscheidung unterstützt sie das Erscheinen von deutlich bestimmten Objekten – Entitäten, die einen wohldefinierten Platz im logischen Raster der Tabelle haben. Genau dies, der gleichsam eingebaute Zwang zur Unterscheidung, könnte ein Grund für die erstaunliche Karriere der Tabelle im Lauf der wissenschaftlichen Revolution sein: Besser eine falsche Zuordnung zu machen als die Welt in ihrer Unbestimmtheit zu lassen. Aber die Unterscheidung ist auch eine Entscheidung – was der Tabelle eine politische Dimension verleiht. Durch ihre Struktur selbst, die nur klare unzweideutige Einträge erlaubt, zwingt sie dazu, eine Entscheidung zu treffen.94

Von der Repräsentation zur Simulation Der Aufstieg der Tabelle im 17. Jahrhundert steht in enger Verbindung mit dem allgemeinen Projekt der klassischen Episteme: die Dinge der Welt in einer rationalen Ordnung der Zeichen zu erfassen. Weil die bestehenden, natürlichen Sprachen nur Wörter mit mehrfacher und unsicherer Bedeutung hervorbringen, müssen neue, künstliche Sprachen geschaffen werden, in denen die Zeichen wahrhaftig, wie William Petty sagt, als »the Images and the Representatives of

92  Jack Goody, »Woraus besteht eine Liste?«, in: Sandro Zanetti (Hg.), Schreiben als Kulturtechnik. Grundlagentexte, Berlin, 2012, 338 – 396, S. 387. 93  Sybille Krämer, Achte Vorlesung: ›Diagrammatik‹. Facetten eines Forschungsprogramms, Freie Universität Berlin, 2009, online verfügbar unter: http://userpage.fu-berlin.de/~sybkram/media/downloads/Vorlesung_AugeDesDenkens/VL 8 %20-%20Facetten%20eines%20 Forschungsprogramms.pdf. Zuletzt geprüft am 17. September 2018. 94  Vgl. Brendecke, »Tabellen und Formulare als Regulative der Wissenserfassung und Wissenspräsentation«, S. 50.

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things« 95 funktionieren würden. Es überrascht nicht, dass die UniversalsprachenProjekte der Zeit allesamt zum Tabellenformat neigen. Die Tabelle kann nicht nur jedem beliebigen Ding einen festen Platz in einer räumlichen Ordnung zuweisen; aus der Zuordnung zu einer bestimmten Zeile und Spalte ergibt sich zugleich die Möglichkeit, ihm eine eindeutige Zeichenkombination zuzuweisen. So scheint es, als könnte die Utopie der Universalsprache, die Dinge in ihrer systematischen Ordnung abzubilden, sich schließlich im Medium der Tabelle verwirklichen: »Die Tabelle [le tableau] der Zeichen wird das Bild der Sache sein.« 96

Abbildung 7: Die Ordnung der Zeichen als Ordnung der Dinge. Tabelle aus John Wilkins, An essay towards a real character and a philosophical language, London: Gellibrand, 1668.

Dieser Traum hat sich nicht verwirklicht. Das hat damit zu tun, dass es keine unzweideutige und universale logische Ordnung der Dinge gibt, die nur noch durch die Sprache repräsentiert werden müsste. Ironischerweise jedoch hat das Versagen der Universalsprachen-Projekte in keiner Weise den Ruf ihres zentralen Mediums, der Tabelle, beschädigt. Eher könnte man sagen, dass das Tabellenformat selbst eine Universalsprache geworden ist, deren weltweiter Erfolg sich nicht zuletzt auf ihre Einfachheit gründet. Wie Jack Goody betont hat, bestanden die ältesten Schreibpraktiken darin, Dinge zu zählen und in Listen und Tabellen 95  William Petty an Samuel Hartlib (Anfang 1649), zit. nach McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 61. 96  Foucault, Les mots et les choses, S. 80.

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festzuhalten – lange vor der Erfindung des phonetischen Alphabets. Auch viele heutige Graphien: mathematische Notationen, Tabellierungen, Computercodes etc. kommen im Prinzip ohne jeden Bezug auf gesprochene Sprache aus. Insofern sie »den ursprünglichen pragmatischen Zweck der Graphé« weiterführen, nämlich Registrieren, Zählen, Rechnen, können sie dem ›konservativsten‹ Strang in der Entwicklung der Schrift zugerechnet werden.97 In ihnen erhält sich der archaische Glaube an die Referenz der Zeichen, die Idee, dass ein Eintrag in einer Liste notwendig einem Ding oder einem Merkmal in der Realität entsprechen müsse. Auf diese Weise lebt der Traum der Repräsentation in der Tabelle fort: die schöne Illusion einer unzweideutigen Übereinstimmung von Zeichen und Dingen. Doch Tabellen sind nicht nur Medien für die Beschreibung, sondern auch für die Konstruktion von Welten. Francis Bacon betrachtet es als eine ausgemachte Sache, dass Tabellen nicht einfach nur eine gegebene Ordnung reflektieren, sondern sie vielmehr schaffen. Das ist der Grund, warum er sie »tables of discovery« nennt – wobei ›discovery‹ hier nicht nur Entdeckung, sondern auch Erfindung meint.98 Die Dinge in einer angemessenen Ordnung (»in an appropriate order«) zu präsentieren, bedeutet, sie in einen solchen Zustand zu versetzen, »dass der Geist auf sie einwirken kann« (»that the mind may be able to act upon them«).99 Die Tabellen sind also Medien, nicht nur um Dinge zu repräsentieren, sondern auch, um auf sie einzuwirken, um sozusagen ›in effigie‹ mit ihnen umzugehen. In seinem 1680 verfassten Entwurf gewisser Staatstafeln hat Leibniz diese Idee einer wechselseitigen Ersetzbarkeit von Operationen im Realraum und Operationen im Tabellenraum aufgenommen und für eine neue, tabellengestützte Regierungskunst fruchtbar zu machen versucht. Es handelt sich um tabellarische Beschreibungen, die es einem Souverän erlauben sollten, »alles […] was zusammen gehöret, gleichsam in einem augenblick zu übersehen«.100 Dass Tabellen sich so gut dazu eignen, um die, wie Leibniz sagt, »Connexion der Dinge« zu erfassen, liegt an dem »gleichsam Mathematische[n] beständige[n] Modell«, das ihnen zugrundliegt. Durch dieses wird »alles in die enge getrieben, und augenscheinlich oder handgreiflich gemacht«.101 Wie in den Projekten für eine Universalsprache wird hier von der tabellarischen Form erwartet, ein klares und eindeutiges Repräsentationsverfahren zur Verfügung zu stellen, in dem jedes ›Ding‹ durch eine eindeutige Kombination von klassifikatorischen Merkmalen definiert ist. Leibniz’ Utopie der Tabelle geht 97  Peter Koch, »Graphé. Ihre Entwicklung zur Schrift, zum Kalkül und zur Liste«, in: Peter Koch und Sybille Krämer (Hg.), Schrift, Medien, Kognition. Über die Exteriorität des Geistes, Tübingen, 1997, 43 – 81, S. 67. 98  Bacon, The New Organon, S. 82. 99  Ebd., S. 109. 100  Gottfried Wilhelm Leibniz, »Entwürff gewisser Staats-Tafeln [Frühjahr 1680]«, in: ders., Politische Schriften, 3. Band, Berlin, 2001, 340 – 349, S. 345. 101  Ebd., S. 345.

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jedoch weiter als die empiristischen Programme der englischen politischen Arithmetik. Anstatt die Realität nur besser abzubilden, sollen Tabellen auch in der Lage sein, auf die Realität zu wirken. Wenn erst einmal eine ›characteristica universalis‹ gefunden wäre, die eine vollständige und exakte Repräsentation der Welt leisten könnte, dann sollte es möglich sein, alle möglichen Ereignisse des realen Raums durch entsprechende Veränderungen im Tabellenraum vorwegzunehmen. Es ist typisch für Leibniz’ allumfassenden Rationalismus, dass eine solche Simulation nicht nur für die physikalische Welt ins Auge gefasst wird, sondern auch für den gesellschaftlichen Raum. Bernhard Siegert hat auf Leibniz’ Idee einer perfekten Repräsentation des Sozialen hingewiesen, die es erlauben würde, »en metaphysique et en morale« fast genauso präzise zu rechnen wie in der Geometrie und Analysis. »Die Polizey, die mit einer solchen ›ecriture rationelle‹ ausgerüstet wäre, müßte keine Untersuchungen mehr anstellen, sondern bloß noch rechnen.« 102 Dieses Projekt einer rechnerischen Simulation des Sozialen sollte fortgesetzt werden. Im 20. Jahrhundert manifestierte es sich zum Beispiel in dem vom britischen Wissenschaftler Stafford Beer entworfenen ›Cybersyn‹ des chilenischen Staats 103 oder in der von Horst Herold, dem Präsidenten des westdeutschen Bundeskriminalamts, ausgedachten Methode der Rasterfahndung.104 Der Traum der kybernetischen Kontrolle basiert jedoch selbst in seinen raffiniertesten Formen immer noch auf der Idee des 17. Jahrhunderts, dass die Gesellschaft in Tabellenform gebracht werden kann. Natürlich lässt sich einwenden, dass eine in einem Computerprogramm realisierte Tabelle nicht das gleiche ist wie eine auf einer Tafel gezeichnete oder in ein Buch gedruckte Tabelle. Die Betonung der Unterschiede und Modifikationen sollte jedoch nicht daran hindern, eine grundlegende Kontinuität zu erkennen. Vielleicht stellt die Geschichte der Tabelle in dieser Hinsicht einen einzigartigen Fall dar. Die Größe, Form und Materialität von Tabellen kann variieren, sie sind jedoch alle auf das gleiche Funktionsschema angewiesen, einen einfachen Mechanismus der räumlichen Verteilung, der nicht ohne weiteres geändert oder verworfen werden kann. Dank diesem ›unveränderlichen Kern‹ bleiben Tabellen über lange Zeiträume, buchstäblich über Jahrtausende hinweg, als Tabellen erkennbar. Es ist die elementare Ebene der logisch-räumlichen Verteilung, die Ebene des ›Betriebssystems‹, auf der die Kontinuität zwischen den verschiedenen Ordnungen der tabellarischen Darstellung zu suchen ist. 102  Siegert, Passage des Digitalen, S. 168. 103  Vgl. Sebastian Vehlken, Environment for Decision – Die Medialität einer kybernetischen

Staatsregierung. Eine medienwissenschaftliche Untersuchung des Projekts Cybersyn in Chile 1971 – 7 3, M. A.-Thesis, Bochum, Ruhr-Universität, Institut für Medienwissenschaften, 2004. 104  Vgl. Lea Hartung, Kommissar Computer. Horst Herold und die Virtualisierung des polizeilichen Wissens (Diplomarbeit, Bauhaus-Universität Weimar, 2005), Freie Universität Berlin, Otto-Suhr-Institut für Politikwissenschaft. StaR P – Neue Analysen zu Staat, Recht und Politik, N° 7, Berlin, 2010; David Gugerli, Suchmaschinen. Die Welt als Datenbank, Frankfurt a. M., 2009.

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12.

ANATOMIE DES SOZIALEN. DER AUFTRAG DER POLITISCHEN ARITHMETIK Bereits John Graunts Tabellenwissenschaft zeigte eine charakteristische Überkreuzung von naturwissenschaftlichen Erkenntnisweisen und politischen Verfahrensweisen: Politische Probleme wurden nach Art der empirischen Naturforschung angegangen, während umgekehrt Aspekte des natürlichen Lebens (wie Geburt, Gesundheit, Krankheit und Tod) als politische Fragen verhandelt wurden. Die bisher blind ablaufenden Prozesse des Lebens wurden durch mathematische Berechnung in den Bereich des Erkennbaren und damit auch der politischen Regulierung überführt. Die Ausformulierung dieses Programms blieb William Petty überlassen: Sein Projekt einer Politischen Arithmetik verstand sich ebenso sehr als Wissenschaft wie als Regierungstechnik.

Eingreifende Wissenschaften Auch wenn Petty den Begriff der Political Arithmetic wohl erst in den 1660er Jahren geprägt hat, und auch wenn das gleichnamige Buch erst 1671 – 72 verfasst wurde,1 scheint er das Programm einer rationalen, auf Messbarkeit und Zählbarkeit beruhenden Regierungswissenschaft schon wesentlich früher verfolgt zu haben. Im Winter 1659/1660, nach seiner Rückkehr aus Irland, hatte Petty regelmäßig die Versammlungen von James Harringtons Londoner Rota Club besucht.2 Einige der diskutierten Ideen haben bei ihm offenbar einen starken Eindruck hinterlassen. Pettys Kritik an seinem früheren Mentor Thomas Hobbes 3 geht ebenso auf Harringtons Oceana zurück wie sein Entwurf eines auf dem Dezimalsystem aufbauenden Schemas der demokratischen Repräsentation.4 Umgekehrt scheint der Einfluss geringer gewesen zu sein. Eine kurze, von einem Mitglied des Rota Club verfasste Notiz zeigt jedoch, in welche Richtung Petty die Diskussionen um eine neue Verfassung Englands zu lenken versuchte: »Sir W. 1  Vgl. McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 169. 2  Vgl. z. B. Samuel Pepys’ Tagebucheintrag vom 10. Januar 1660: »Thence to the Coffee-

house, where were a great confluence of gentlemen; viz. Mr. Harrington, Poultny, chairman, Gold, Dr. Petty, &c., where admirable discourse till 9 at night.« Samuel Pepys, The diary of Samuel Pepys, M. A. F. R.S, Clerk of the Acts and Secretary to the Admiralty. Volume 1, hg. v. Henry Benjamin Wheatley, London, Cambridge, 1893, S. 15 – 16. 3  Vgl. McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 129. 4  Vgl. Frank Amati u. Tony Aspromourgos, »Petty contra Hobbes. A previously untranslated manuscript«, Journal of the History of Ideas, Jg. 46, N° 1, 1985, 127 – 132, S. 131.

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Petty was a Rota man, and troubled Mr. James Harrington with his arithmeticall proportions, reducing politic to numbers.« 5 Regieren nach Zahlen, aus dieser beharrlich verfolgten Idee, die auch seine Zusammenarbeit mit John Graunt bestimmt haben dürfte, resultierte in den Jahren nach der Restauration Pettys lebhafte Beschäftigung mit Fragen der Besteuerung, der Regulierung des Handels, des Geldverkehrs.6 Nach mehreren Jahren in London zog Petty 1667 wieder nach Irland und hielt sich bis 1673 vorwiegend in Dublin und auf seinen Besitzungen in der Grafschaft Kerry auf, die er als Hauptsitz seiner Unternehmungen, als »the seate of project and designe« betrachtete.7 In Irland entwarf er seine Hauptschriften zur Politischen Arithmetik, und Irland war auch ihr Gegenstand. Die Datengrundlage dieser Arbeiten entstammte dem Vermessungsprojekt der 1650er Jahre, denn Petty hatte dafür gesorgt, »the copies of the Down Survey« für seinen privaten Gebrauch zu behalten.8 Im Unterschied zum Down Survey handelt die 1672 verfasste und handschriftlich verbreitete (erst 1691 in gedruckter Form veröffentlichte) Political Anatomy of Ireland jedoch nicht nur »Of the Lands of Ireland«,9 sie bezieht auch »People, Houses, and Smoaks; their Number, Differences, and Values« in ihre Rechnung ein.10 Neben Fragen der Regierung, der Kirchenverwaltung und des Militärwesens geht es um »Religion, Diet, Cloaths, Language, Manners, and Interest of the several present Inhabitants of Ireland«.11 »The Anatomy of…« ist im 17. Jahrhundert kein ungewöhnlicher Buchtitel. Neben John Donnes Anatomy of the World (1611) und Robert Burtons Anatomy of Melancoly (1621) gab es u. a. auch eine Anatomy of Conscience (1626), eine Anatomy of Englands Vanity (1634), eine Anatomy of the Separatists (1642), eine Anatomy of Play (1651) und eine Anatomy of Pestilence (1666). Der Ausdruck meinte nichts anderes als die methodische Zergliederung, die systematische Auseinanderlegung eines Themas. Auch den Begriff der Politischen Anatomie musste Petty nicht erfinden. Er hatte ihn vermutlich von Harrington, der das erfahrungswissenschaftliche Vorgehen der Anatomie gegen das deduktive Verfahren von Thomas Hobbes’ »Politischer Geometrie« gesetzt hatte.12 Ungewöhnlich ist jedoch die Konsequenz, 5  Aubrey, ›Brief lives‹ Chiefly of contemporaries, set down by John Aubrey, between the years 1669 & 1696, S. 148. 6  McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 126 – 127. 7  Petty to John Petty, 26 March 1661, zit. nach Harris, »Ireland as a laboratory«, S. 75. 8  Pettys Testament, zit. nach Thomas Aiskew Larcom, »Editor’s Preface«, in: William Petty, History of the Cromwellian survey of Ireland. A. D. 1655 – 6, commonly called ›The down survey‹, hg. v. Thomas Aiskew Larcom, Dublin, 1851, i–xvii, S. i. 9  Petty, »The political anatomy of Ireland«, S. 135. 10  Ebd., S. 141. 11  Ebd., S. 198. 12  Vgl. Olson, The emergence of the social sciences, 1642 – 1792, S. 81. Vgl. auch I. Bernard Cohen, »Harrington and Harvey. A theory of the state based on the new physiology«, Journal of the History of Ideas, Jg. 55, N° 2, 1994, 187 – 210, S. 207.

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mit der Petty die Metaphorik der anatomischen Zergliederung durchhielt. Wie er im Vorwort erklärt, habe schon Francis Bacon in seinem Essay über The Advancement of Learning (1605) einen »wohlüberlegten Vergleich« »between the Body Natural and Body Politick« angestellt. Wenn man die Gemeinsamkeiten betrachte, sei es nur vernünftig, anzunehmen, dass die Anatomie nicht nur die beste Grundlage zur Erhaltung der Gesundheit des individuellen, sondern auch des politischen Körpers darstelle. Wer dessen »Symmetry, Fabrick, and Proportion« nicht kenne, dessen Politik müsse so unsicher und zufällig bleiben wie die Heilpraxis »of Old-women and Empyricks«.13 Wenn sich der Down Survey mit dem Traum des territorialen Überblicks verband, so dominiert in der Political Anatomy die Phantasie des Einblicks in einen geschlossenen Körper. Die anatomische Metaphorik macht deutlich, dass die wesentlichen strukturellen Eigenheiten des Body Politick nicht offen zutage liegen, sondern durch die analytische Zerlegung erst geschaffen werden. »Symmetry, Fabrick, and Proportion« des Körpers geben sich nicht dem oberflächlichen Blick der Erfahrungsheilkunde zu erkennen. Sie zeigen sich erst dem Anatomen, der mit seinen Werkzeugen in die Tiefe des Körpers eindringt und dessen elementare Strukturen freilegt. Wie Petty einräumt, sind die Instrumente der politischen Analyse noch längst nicht so vollkommen wie ein anatomisches Besteck. Statt der zahlreichen Hilfsmittel, die eine solche Arbeit erfordere, stünden dem politischen Analytiker für seine »curious Dissections« lediglich »ein gewöhnliches Messer und ein Lappen [clout]« zur Verfügung. Seine groben Annäherungen reichten gerade dazu aus »to find whereabout the Liver and Spleen, and Lungs lye«; sie genügten jedoch nicht »to discern the Lymphatick Vessels, the Plexus, Choroidus, the Volvuli of vessels within the Testicles«.14 Die Werkzeuge der Zerlegung sind, mit anderen Worten, noch nicht sehr genau. Die Richtung, in die sich die Analyse entwickeln soll, ist jedoch vorgegeben. Der politische Anatom kann sein Messer schärfen, indem er die Grundlage seiner Unterscheidungen verbessert, indem er mehr zählt und genauer vermisst, den ganzen »Body Politick« bis in die kleinsten Details der quantitativen Bestimmung unterwirft. Wenn Petty die medizinische Bedeutung der Anatomie betont, so legt er nahe, dass auch die politische Analyse sich nicht in der Zergliederung eines toten Körpers erschöpft. Der ehemalige Oxforder Anatomieprofessor versteht sich zweifellos zugleich als Chirurg: als einer, der durch seine Kenntnis der inneren Strukturen des Körpers gezielte Eingriffe zu seiner Gesundung unternehmen kann.15 Die analytische Zerlegung des Body Politick geschieht nicht um ihrer 13  Petty, »The political anatomy of Ireland«, S. 129. 14  Ebd., S. 129 – 130. 15  Ein spektakuläres Beispiel seiner Kunst hatte Petty geliefert, als er im Dezember 1650

die zur Sektion bestimmte, gerade vom Galgen genommene Kindsmörderin Anne Greene wieder ins Leben zurückbeförderte, vgl. McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 77 – 80.

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selbst willen. Sie soll dazu dienen, den Körper in einer neuen, besseren Weise wieder zusammenzusetzen. Für die Erprobung dieses analytisch-synthetischen Verfahrens gibt Irland das ideale politische Versuchstier ab: Furthermore, as Students in Medicine, practice their inquiries upon cheap and common Animals, and such whose actions they are best acquainted with, and where there is the least confusion and perplexure of Parts; I have chosen Ireland as such a Political Animal, who is scarce Twenty years old; where Intrigue of State is not very complicate, and with which I have been conversant from an Embrion; and in which, if I have done amiss, the fault may be easily mended by another.16

Einmal mehr wird damit die unterworfene Insel zum Labor der Experimentalpolitik,17 zum Versuchsgelände, auf dem Formen der Erfassung und Regierung von Menschen ausprobiert werden, die man anderswo nicht vorzuschlagen wagt. Wie Petty kühl bemerkt, lassen sich gewisse Experimente besser am »armen Irland« als am »stolzen England« durchführen, ganz abgesehen davon, »that the Kings Government is somewhat more absolute in Ireland than in England«.18 Das beherrschende Thema der Political Anatomy of Ireland ist die Frage der richtigen Zusammensetzung des politischen Körpers. Petty lässt keinen Zweifel daran, dass politische Instabilität vor allem auf ein gestörtes Gleichgewicht, ein ungleiches Verhältnis zwischen den einzelnen Teilen oder Organen des Body Politick zurückzuführen ist. Umgekehrt soll sich politische Stabilität aus einem ausgewogenen Verhältnis, einer stimmigen Zusammensetzung des Staatskörpers ergeben. Der politische Anatom, der mit Hilfe seiner Berechnungen ein disproportionales Verhältnis zwischen den Komponenten des politischen Körpers entdeckt, kann sogleich als Arzt tätig werden und Maßnahmen einleiten, um eine neue, stabilere Proportion zu erreichen. Für die Diagnose und Kur des irischen Patienten handelt es sich darum, von den oberflächlichen Symptomen zu den verborgenen Ursachen vorzudringen. Mit klarem Blick für den wahren Stand der Machtverhältnisse kann Petty die Furcht seiner Leser zerstreuen, dass kurzfristig ein neuer irischer Aufstand ausbrechen und die englische Herrschaft in Irland beenden könne. Zwar steht den etwa 300.000 englischen und schottischen Protestanten eine auf den ersten Blick bedenkliche Überzahl von etwa 800.000 katholischen Iren gegenüber. Eine differenzierte Betrachtung der Zahlen lässt jedoch einen Aufstand als sehr unwahrscheinlich 16  Petty, »The political anatomy of Ireland«, S. 129. 17  Den Ausdruck »Experimentalpolitik« hat Georg Christoph Lichtenberg im Hinblick

auf die Französische Revolution geprägt; er passt aber auch auf Pettys Irlandprojekte. Vgl. Georg Christoph Lichtenberg, Die Aphorismen-Bücher (1902 – 1908), hg. v. Albert Leitzmann, Frankfurt a. M., 2005, Aphorismus L 320, S. 836. 18  Petty, »No. 30. A colloquium between A. B. C. concerning a new instrument of government [1682]«, S. 108.

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erscheinen. Überall, so weist Petty nach, sind die britischen Protestanten und ihre Kirche in überlegener Situation. Sie besitzen 4/4 aller Ländereien, 5/6 aller Häuser überhaupt und 9/10 aller Häuser in befestigten Städten, zudem verfügen sie über 2/3 des Außenhandels. Sechs von acht Iren leben dagegen »in a brutish nasty Condition, as in Cabins, with neither Chimney, Door, Stairs nor Window; feed chiefly upon Milk and Potatoes«.19 Ihre Kriegslaune sei dadurch deutlich vermindert, zudem sei der Anteil der Soldaten unter den Protestanten wesentlich höher als unter den »Papisten«. Doch gesteht Petty zu, dass die zahlenmäßige Überlegenheit der Iren ein chronisches Stabilitätsproblem darstellen muss. Später, in einem 1686 verfassten Papier, wird er festhalten, was die dramatischsten Folgen dieses Ungleichgewichts sein konnten: Entweder bekamen die Katholiken, durch einen Wechsel der Thronfolge, die Oberhand in Irland und verständigten sich mit Frankreich darauf, »to invade and conquer England and bring in Popery into all the 3 Kingdoms«,20 oder England müsste zu den härtesten Maßnahmen greifen: To have 100 of the cheife hangd. 1000 sold to Algier. 5000 sent to America. 10.000 exchangd for French Protestants. 150m families transplanted into Great Brittaine. No papists allowd. No trust nor preferment. 2 1/2 millions of Lands taken away. Their names, Language, Genealogyes, Customs, quite abolished.21

In der Political Anatomy of Ireland ist Petty erkennbar darum bemüht, zwischen diesen Extremen hindurchzusteuern und einen technischen Ausgleich des Problems zu finden. Wenn einige »furious Spirits« darauf hofften, dass die Iren wieder rebellieren und dann endgültig mit dem Schwert besiegt würden, so sei das nicht nur »impious and inhumane«, es könne auch die vernichten, »who have rashly wish’d for those occasions«.22 In die verfahrene Diskussion bringt Pettys Political Anatomy of Ireland einen durchaus neuen Gesichtspunkt ein. Ohne dies ausdrücklich zu sagen, entwertet sie den Diskurs der politischen und religiösen Feindschaft, der die Beziehungen zwischen Iren und Engländern bestimmte, und versucht stattdessen, das Sicherheitsproblem der englischen Bewohner Irlands nüchtern und mit sozialtechnischem Sachverstand zu lösen. Dazu gehört auch, die Iren nicht als prinzipiell verworfene Subjekte zu verteufeln, sondern die Ursachen ihrer Renitenz zu erklären. So gibt es bemerkenswerte Passsagen, in denen Petty jede Unterstellung einer substantiellen Andersheit der Iren zurückweist und ihre vermeintlich natürlichen 19  Petty, »The political anatomy of Ireland«, S. 156. 20  William Petty, »No. 19, The Ship of Ireland between Scilla and Charybdis«, in: ders., The

Petty Papers. Some Unpublished Writings of Sir William Petty, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, Bd. 1, Boston and New York, 1927, 56, S. 56. 21  Ebd. 22  Petty, »The political anatomy of Ireland«, S. 155.

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Laster wie Verrat, Diebstahl oder Faulheit auf die wenig ermutigenden Umstände ihres Lebens sowie auf allzu leichte Gelegenheiten zurückführt.23 Pettys Versuch einer ›realpolitischen‹, technischen Lösung des Irlandproblems mündet in weitreichende bevölkerungspolitische Planspiele. Diese gehen zunächst von dem konventionellen Gesichtspunkt einer Sicherung der englischen Überlegenheit aus: If an Exchange was made of but about 200 M. [200.000] Irish, and the like number of English brought over in their rooms, then the natural strength of the British would be equal to that of the Irish; but their Political and Artificial strength three times as great; and so visible, that the Irish would never stir upon a National or Religious Account.24

Solche Zwangsumsiedlungen waren im Europa der Frühen Neuzeit »nichts Neues«.25 Wenige Jahre vor Pettys Political Anatomy waren zehntausende irische Katholiken nach Connaught ›transplantiert‹ worden. Dabei war aber die Vorstellung maßgeblich gewesen, den Feind draußen zu halten. Für Petty geht es hingegen darum, das arithmetische Ungleichgewicht durch »proportionable mixture« auszugleichen.26 Deutlicher als in dem wiederholt aufgenommenen Projekt zur Umsiedlung von hunderttausend Familien wird dies in dem Vorschlag, nur die Frauen auszutauschen: »that 40m women should bee brought out of England, to marry with Irish men, so as each familie may have English mothers or mistresses in it.« 27 Von der aufgezwungenen Vermischung der einfachen Leute (denn nur die Ärmsten sollen von der Verschickung betroffen sein) verspricht sich Petty eine schnelle »Transmutation« 28 des irischen in das englische Volk, eine Auflösung der Feindseligkeiten, die auf einer »thorough union of Interests upon natural and lasting Principles« beruht:29 »Moreover, when the Language of the Children shall be English, and the whole Oeconomy of the Family English, viz. Diet, Apparel, &c. the Transmutation will be very easy and quick.« 30 Statt militärische Mittel 23  Vgl. ebd., S. 202: »They are accused also of much Treachery, Falseness, and Thievery; none of all which, I conceive, is natural to them […].« 24  Ebd., S. 157 – 158. 25  Ted McCormick, »Transmutation, inclusion, and exclusion. Political Arithmetic from Charles II to William III «, Journal of Historical Sociology, Jg. 20, N° 3, 2007, 259 – 278, S. 267. 26  Petty, »Political Arithmetick«, S. 300. 27  William Petty, »No. 21. Of Reconciling the English and the Irish and Reforming Both Nations. 1686«, in: ders., The Petty Papers. Some Unpublished Writings of Sir William Petty, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, Bd. 1, Boston and New York, 1927, 59 – 63, S. 61. 28  Zu den alchemistischen Implikationen des Begriffs vgl. McCormick, »Alchemy in the Political Arithmetic of Sir William Petty (1623 – 1687)«. 29  Petty, »The political anatomy of Ireland«, S. 157. 30  Ebd., S. 158 – 159.

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zur Besiedlung und Sicherung Irlands einzusetzen, soll es genügen, die Natur für sich arbeiten zu lassen. Wie Petty immer wieder betont, wird der politische und finanzielle Nutzen eines solchen großen Austauschprojekts die Kosten und Unannehmlichkeiten bei weitem übersteigen.31 Petty selbst war sich im Klaren, dass seine Vorschläge als extravagant oder frivol erscheinen konnten. Dass sie nicht verwirklicht wurden, hat aber wohl vor allem damit zu tun, dass sie eine allzu große Gleichgültigkeit gegenüber religiösen und politischen Identifizierungen verrieten. Fragen des Glaubens und der ideologischen Überzeugung hatten für Petty eine ganz untergeordnete Bedeutung. Für einen »Ingenieur der Macht« 32 war es politisch irrelevant, ob der englische König protestantisch oder katholisch war, entscheidend war, dass er seine Souveränität behaupten konnte. Dies ist wohl einer der Gründe, warum Petty nach der Thronbesteigung des katholischen James II . (1685) keine Bedenken hatte, die Idee der »proportionable mixture« unter umgekehrtem Vorzeichen weiterzuverfolgen: Die zur Sicherung der protestantischen Vorherrschaft entworfenen Transmutationspläne pries er dem König nun als ein Mittel zur Rekatholisierung Irlands an.33

Politische Rechenkunst In seinem zu Beginn der 1670er Jahre verfassten, aber erst posthum (1690) veröffentlichten Buch Political Arithmetic verallgemeinert Petty die am irischen Versuchstier erprobten Analysemethoden und präsentiert sie als eine neue Wissenschaft des Politischen. Das Vorwort zeigt beispielhaft, wie die alten vorurteilsbehafteten Maximen der Politik durch neue, objektive Kriterien der Beurteilung ersetzt werden sollen. Nur allzu verbreitet sei z. B. die Ansicht, »dass die Landrenten allgemein« fielen, dass »das ganze Königreich jeden Tag ärmer und ärmer« werde; dass es »keinen Handel und keine Beschäftigung für die Leute« gebe, obwohl zugleich »das Land unterbevölkert [under-peopled]« sei; dass »Irland und die Kolonien in Amerika« eine »Bürde für England« darstellten; dass »die Holländer uns im Wettrennen um die Seemacht auf den Fersen« seien, und dass die Franzosen so »reich und mächtig« geworden seien, dass es nur ihrer Gnade zu verdanken sei, »wenn sie ihre Nachbarn nicht verschlingen«.34 Diesen pessimistischen Einschätzungen will Petty nicht nur mit anderen, weniger erregten Beobachtungen entgegentreten (wie z. B. der, dass »Men eat, and drink and laugh as they use to do« 35), sondern mit der ganzen Autorität genauer Zahlenangaben. 31  Vgl. Petty, »No. 21. Of Reconciling the English and the Irish and Reforming Both Nations. 1686«, S. 63: »The charge may bee 1100m£; the benefit in 7 years will be decuple, or 11 millions.« 32  Juri Mykkänen, »›To methodize and regulate them‹. William Petty’s governmental science of statistics«, History of the Human Sciences, Jg. 7, N° 3, 1994, 65 – 88, S. 67 – 68. 33  Vgl. McCormick, »Transmutation, inclusion, and exclusion«, S. 275 – 276, Anm. 30. 34  Petty, »Political Arithmetick«, S. 241 – 242. 35  Ebd., S. 244.

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Um zu beweisen, dass es um England – entgegen dem Augenschein – doch nicht so schlecht bestellt ist, müsse man nicht viel mehr tun, als zu rechnen (»than to compute«):36 The Method I take to do this, is not yet very usual; for instead of using only comparative and superlative Words, intellectual Arguments, I have taken the course (as a Specimen of the Political Arithmetick I have long aimed at) to express my self in Terms of Number, Weight, or Measure, to use only Arguments of Sense, and to consider only such Causes, as have visible Foundations in Nature; leaving those that depend upon the mutable Minds, Opinions, Appetites, and Passions of particular Men, to the Consideration of others.37

Pettys formuliert hier im Nachhinein die Theorie zu der sozialwissenschaftlichen Revolution, die sein Freund John Graunt mit den Observations on the Bills of Mortality vollzogen hatte: Auch zur Beschreibung der menschlichen Angelegenheiten sollen nur noch jene Beobachtungen zugelassen werden, die sich an die methodische Grundregel der neuzeitlichen Naturwissenschaft halten, nämlich nur das zu berücksichtigen, was sich in »Zahlen, Maßen und Gewichten« erfassen lässt.38 Wie Petty gerne zugibt, liegt das Verdienst seiner Politischen Arithmetik nicht in der Erfindung neuer mathematischer Verfahren.39 Ihre Originalität sieht er vielmehr darin, die Rechenkunst auf »other than purely mathematicall matters« anzuwenden, »by reducing many termes of matter to termes of number, weight, and measure, in order to be handled Mathematically«.40 Mit der Applikation von »mathematical reasoning« auf »all the concerns of human life« 41 verbindet Petty die Idee einer objektiven Beschreibung des Sozialen, die nicht mehr von schwankenden Meinungen und unberechenbaren Leidenschaften abhängig wäre. Damit rückt auch die von Graunt in Aussicht genommene Politik von »Peace and Plenty« 42 in greifbare Nähe: Die Politische Arithmetik will einer vernünftigen, an Fakten und nicht an Meinungen orientierten Entscheidung Raum geben.

36  Ebd., S. 309. 37  Ebd., S. 244. 38  Alexandre Koyré, Leonardo, Galilei, Pascal. Die Anfänge der neuzeitlichen Naturwissen-

schaft, Frankfurt a. M., 1998, S. 154. 39  Vgl. Tony Aspromourgos, On the origins of classical economics. Distribution and value from William Petty to Adam Smith, London, 1996, S. 59. 40  Petty, »185. Petty to Edward Southwell [3 November 1687]«, S. 322. 41  Anon., »An Extract of two Essays in Political Arithmetick […] by Sr. William Petty Knight. R. S. S.«, Philosophical Transactions of the Royal Society of London, N° 183, 1686, 152, S. 152. 42  Graunt, Natural and Political Observations, S. 72.

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Zählen und Zerlegen »Let there be Lists«:43 Dieser Satz, den Petty im März 1661 an seinen Cousin und Mitarbeiter John Petty schreibt, bezeichnet paradigmatisch, was am Anfang des ganzen Unternehmens steht. Zunächst einmal müssen Daten erhoben werden, es muss gezählt werden, und Zahlen müssen aufgeschrieben werden. Doch ist dies nur der erste Schritt. Die eigentliche Wissenschaft beginnt mit der Auswertung des gewonnenen Datenmaterials. Es geht nicht nur darum, zu zählen, sondern Zählungen miteinander zu vergleichen, Zahlenverhältnisse zu erstellen, sie in Proportion zu anderen Zahlenverhältnissen zu setzen. »Einfache Zahlen und Quantitäten«, so der Historiker Paul Slack, »ergaben wenig Sinn, wenn sie nicht mit anderen verglichen wurden. Es bedurfte eines Vergleichsmaßstabs, um Zahl, Maß oder Gewicht in ein richtiges Verhältnis zu setzen.« 44 Entsprechend wird in der Praxis der Politischen Arithmetik die Aufforderung zur Zählung immer mit der Ermahnung zur ordentlichen Differenzierung verbunden. Eine gute Regierung, so John Graunt, muss »the Land, and the hands of the Territory« nicht nur nach Maß und Zahl, sondern auch »according to all their intrinsick, and accidental differences« erfassen.45 Und Charles Davenant weist noch 1698 darauf hin, dass »in Computing any new Duty, the Number of the People will be an uncertain Guide to those who do not distinguish rightly, between the Rich and the Poor of a Country«.46 Was als einfache Zählung erscheinen kann, erweist sich damit als ein Zusammenspiel von Quantifizierung und Taxierung, oder – in der Sprache der barocken Wissenschaften – von »›Mathesis‹ und ›Taxonomia‹«.47 Zählen heißt Klassifizieren, und Klassifizieren heißt Zählen. Beide Operationen sind aufeinander angewiesen, sie können ohne einander nicht sein. Um zunächst die eine Richtung zu betrachten: Insofern es darauf ankommt, nicht irgendetwas, sondern ganz bestimmte Dinge zu zählen, schließt jede Zählung ein kategoriales Urteil, eine Klassifizierung mit ein. »Zählen beginnt immer mit einer namentlichen Klassifizierung, die mit einem Urteil über Klasseneinschluss oder -ausschluss einhergeht, z. B. beschäftigt/arbeitslos; messbar in Geldbegriffen/nicht messbar in Geldbegriffen; männlich/weiblich usw.« 48 Ein unausgesprochenes Beurteilungssystem entscheidet darüber, ob eine Pflanze als 43  Petty to John Petty, 19 March 1661, BL MS Add, 72850,f.35r. zit. nach McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 126. 44  Slack, »Government and information in seventeenth-century England«, S. 63. 45  Graunt, Natural and Political Observations, S. 72. 46  Davenant, Discourses on the Publick Revenues, and on the Trade of England, S. 28. 47  Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 107 f. 48  Anthony M. Endres, Economic thought and numerical observations. Studies in ›political arithmetic‹, Doctor of Philosophy thesis, University of Wollongong, Department of Economics, 1982, online verfügbar unter: http://ro.uow.edu.au/theses/1317, S. 114 – 115 S. 114 – 115.

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Blume oder als Unkraut, ein Mensch als gesund oder krank gezählt wird: »Die Zählung verlangt nach Arten von Dingen oder Menschen, die gezählt werden können. Zählen ist hungrig nach Kategorien.« 49 Schon auf der elementarsten Ebene der Zählung setzt also eine klassifikatorische Tätigkeit ein: Quantitative Daten können auf viele unterschiedliche Weisen gesammelt werden, allen gemeinsam ist aber ein Prozess der Klassifizierung. So kann es z. B. das Bedürfnis geben, eine Anzahl von Ereignissen, Leuten oder Handlungen innerhalb eines bestimmten gesellschaftlichen Settings zu zählen. Vor dem Zählen muss jedoch das, was gezählt werden soll, erst klassifiziert werden: Wenn zum Beispiel herausgefunden werden soll, wie viele Kinder es in einer Schule gibt, müssen alle, die in der Schule sind, erst einmal in Kinder und Andere (Lehrer, Sekretärinnen, Putzkräfte usw.) geteilt werden.50

»Zählen« ist daher sowohl »eine Rechenoperation, in der Zahlen verwendet werden«, als auch »eine Fall-zu-Fall-Entscheidung, was gezählt werden soll, und entsprechend, »was als etwas zu Zählendes zählt«.51 Umgekehrt sind die kategorialen Einteilungen der Politischen Arithmetiker angewiesen auf die Ablesung von Zahlenwerten. Ihre klassifikatorischen Unterscheidungen, wie z. B. die von »profitablem und unprofitablem Land, befestigten und unbefestigten Städten, Iren und Engländern sind nichts ohne die Zahl, durch die ihre Qualitäten verglichen werden können.« 52 Dinge, Menschen oder Ereignisse werden aufgrund distinkter und numerisch definierbarer Kennzeichen einer bestimmten Kategorie zugeordnet, in eine bestimmte Klasse gesteckt. Die Strenge der klassischen Ordnung des Wissens besteht gerade darin, dass die Zuordnung eines Dings zu einer Menge anderer Dinge nicht mehr, wie in der Renaissance-Episteme, nach Prinzipien der Ähnlichkeit, der Analogie oder der Nachbarschaft vorgenommen wird, sondern nach äußerlich erkennbaren, abzählbaren oder messbaren Merkmalen. Ein gezählter oder gemessener Wert ermöglicht die eindeutige Entscheidung, welchen Platz ein Element auf dem Tableau der Dinge und Wesen einzunehmen hat, in welcher Reihe und Spalte einer Tabelle es einzutragen ist. Wie John Graunt bei seiner Analyse der Bills of Mortality bemerkt hatte, ist der Begriff »infant«, wenn er ohne quantitative Bestimmung gebraucht wird, äußerst unscharf. Damit können sowohl Kinder, die noch nicht sprechen können, also 49  Hacking, »Biopower and the avalanche of printed numbers«, S. 280. 50  Nigel Gilbert, Analyzing tabular data. Loglinear and logistic models for social researchers,

London, 1993, S. 13. 51  Aryn Martin u. Michael Lynch, »Counting things and people. The practices and politics of counting«, Social Problems, Jg. 56, N° 2, 2009, 243 – 266, S. 246. 52  Henry, »William Petty, the Down Survey, population and territory in the seventeenth century«, S. 227.

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auch solche, die noch nicht laufen können gemeint sein – in sehr unterschiedlichem Alter.53 Einigt man sich jedoch darauf, mit »infants« Kinder unter zwei Jahren zu bezeichnen, so ist das Problem behoben: Von jedem Kind (zumindest jedem getauften und amtlich registrierten) kann gesagt werden, ob es jünger oder älter als zwei Jahre ist. Auf eine solche Vereindeutigung der Klassifikationskriterien zielen auch die Steuerreformen des 17. Jahrhunderts. Taxiert wird nicht mehr nach Status, sondern nach Vermögen: Man befindet sich in dieser oder jener Steuerklasse, weil das Vermögen unter oder über einem bestimmten Grenzwert liegt, oder weil das Haus zwei und nicht drei Schornsteine hat. Die Zahl bildet das universelle Maß, nach dem die Politische Arithmetik ihre Klassen bildet. Ausschlaggebend für die Platzierung ist der messende Vergleich, eine Bestimmung von Identität und Unterschied, die allein auf zählbare Größen Rücksicht nimmt. Während es also – in der Logik der Politischen Arithmetik – die Klassifizierung ist, die die Dinge möglich macht (d. h. als abzählbare Einheiten konstituiert), ist es umgekehrt die Quantifizierung, die die Dinge wirklich macht (d. h. sie als gegebene Dinge, als ›Daten‹ registriert). Was nach der Eröffnung einer Liste oder einer Tabellenspalte nur als reine Möglichkeit vorhanden ist (z. B. Einhörner), wird durch seine Zählung zum wirklich vorhandenen Ding (z. B. durch die Eintragung ›1‹ in der Spalte ›Einhörner‹). Wie der Wiener Soziologe Harald Katzmair in einer historisch-epistemologischen Arbeit zur »quantitativen Konstruktion des Sozialen« gezeigt hat, verwiesen die »von den Politischen Arithmetikern gebildeten Klassen und Typen von Lebewesen und Dingen« zunächst nur »auf reine ›Möglichkeiten‹, als stünden sie in ideeller Bereitschaft für die Ordnung des Faktischen«. Sobald jedoch den Begriffen Zahlen zugeordnet wurden, zeigte »sich in der anzahlmäßigen Verteilung eine ›reale‹ Ordnung des Faktischen an, die […] als Repräsentation der Ordnung des Sozialen figurierte«.54 Die wechselseitige Bedingtheit von Quantifizierung und Klassifizierung lässt sich vielleicht am besten durch die Variation eines Satzes von Immanuel Kant beschreiben: Klassen ohne Zahlen sind leer, Zahlen ohne Klassifizierung sind blind.55 Zählung und Differenzierung müssen zusammenkommen, um eine Repräsentation von Welt im Sinne der neuen, am Vorbild der Naturforschung orientierten Wissenschaft hervorzubringen. Es ist daher, wie Katzmair bemerkt hat, kein Zufall, wenn sich der »Diskurs der Politischen Arithmetik des 17. und 18. Jahrhunderts […] genau im Kreuzungspunkt zwischen einer sozialstatistischen mathesis universalis und einer soziale ›Klassen‹, ›Kollektive‹, ›Gruppen‹ anordnenden taxinomia situiert«.56 53  Graunt, Natural and Political Observations, S. 13. 54  Katzmair, »Ordnungen des Zählens«, S. 45. 55  Vgl. Kant, Kritik der reinen Vernunft, S. 95 [A 51; B 75]: »Gedanken ohne Inhalt sind leer,

Anschauungen ohne Begriffe sind blind.« 56  Katzmair, »Ordnungen des Zählens«, 71 (Anm. 30).

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Mit seiner Politischen Arithmetik verband Petty, wie wir gesehen haben, den Anspruch auf eine vorurteilsfreie, neutrale Repräsentation des Sozialen. Die »arithmetischen Figuren« wurden den »Figuren der Rede« vorgezogen, »weil die Sprache, die von ungenauen Metaphern abhing, von Natur aus für Manipulationen anfällig war«.57 Die »comparative and superlative Words« der traditionellen Staatenbeschreibung sollten durch eine eindeutige Ausdrucksweise »in Terms of Number, Weight, or Measure« ersetzt werden.58 Mit der mathematischen Notation verband sich die Hoffnung, zu einer eindeutigen Darstellung der Außenwelt zu gelangen, in der jeder angegebene Zahlenwert einer Anzahl wirklicher Dinge oder einer zwischen ihnen bestehenden Proportion entsprach. Doch auch Petty bemerkte, dass sich aus den gleichen Zahlen ganz unterschiedliche Schlussfolgerungen ziehen ließen, dass die Irrtümer und Ungenauigkeiten der Sprache sich in der arithmetischen Erfassung der Welt wiederholen konnten. So sah er sich gezwungen, auch in der mathematischen Beschreibung noch einmal eine Säuberung durchzuführen, die wahren von den falschen Darstellungen zu trennen. Das wirkliche Rechnen musste von einem »imaginary way of computing« unterschieden werden.59 Doch nicht erst, wenn es um das Rechnen geht, wird das Unternehmen der Politischen Arithmetik von der Zweideutigkeit heimgesucht, die durch das Verbot einer metaphorischen Redeweise 60 und durch die Reduktion auf quantitative Bestimmungen gerade ausgeschlossen werden sollte. Eine grundsätzliche Schwierigkeit ergibt sich bereits auf der Ebene des Zählens, der numerischen Erfassung. Quantifizierung und Klassifizierung sind wechselseitig aufeinander verwiesen – dadurch gerät das ganze Unternehmen in einen nicht aufzulösenden Zirkel. Die Klassifizierung soll nach objektiven, quantitativen Kriterien geschehen; umgekehrt setzt aber die Zählung bereits eine Klassifizierung voraus, sie setzt voraus, dass man weiß, ›was als was zählt‹. Weil sie immer ein »kategoriales Urteil« einschließen,61 können Zählungen streng genommen nie ›objektiv‹ sein. Sie hängen – ganz abgesehen von den Möglichkeiten des Irrtums oder der Fälschung – immer von der Willkür eines Einteilungsaktes ab, der darüber befindet, ›was als was‹ zu zählen ist, bzw. welcher Maßstab und welche Grenzwerte bei einer Messung zu setzen sind. 57  Mary Poovey, »Between Political Arithmetic and Political Economy«, in: John B. Bender (Hg.), Regimes of description. In the archive of the eighteenth century, Stanford, Calif., 2005, 61 – 76, S. 61. 58  Petty, »Political Arithmetick«, 244. 59  Petty, »A Treatise of Taxes, and Contributions«, S. 89. 60  Vgl.: Gottfried Gabriel, »Logisches und analogisches Denken. Zum Verhältnis von wissenschaftlicher und ästhetischer Weltauffassung«, in: Alex Burri (Hg.), Sprache und Denken. Language and thought, Berlin, 1997, 370 – 384, S. 372: »Metaphern, die Lieblingskinder der Rhetorik, werden von den Logikern nicht zugelassen, weil deren Bedeutung nicht scharf begrenzt ist.« 61  Martin u. Lynch, »Counting things and people«, S. 246.

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Dass es, entgegen dem Anschein, nicht so einfach ist, zu zählen; dass jede Zählung einen klassenlogischen Urteilsakt enthält, der auch anders vorgenommen werden könnte, wird vor allem dann deutlich, wenn es zum Streit kommt, ob dies oder das als solches zu zählen ist, ob beispielsweise ein Treffer im Fußballspiel als ›Tor‹ gewertet werden kann oder nicht. In solchen Fällen wird die Auseinandersetzung durch die numerische Objektivierung nicht ausgeschaltet, sie entzündet sich vielmehr gerade an ihr. Die Unklarheiten werden keineswegs geringer, wenn die Zählung auf politischem Terrain stattfindet. Die Offiziere, die im Zuge der Umsetzung des Cromwellian Settlement feststellen sollten, wer als »Irish Papist« nach Connaught umgesiedelt werden sollte, wandten sich bald mit Gegenfragen an ihre Vorgesetzten: Sind unter irischen Papisten auch jene irischen Frauen zu verstehen, die katholisch sind, aber mit Engländern und Protestanten verheiratet? Was ist mit den Iren, die zum Protestantismus übergegangen sind? Was mit denen, die auf irischem Boden geboren sind, deren Eltern aber Engländer sind? Was mit denen, die zuerst in der Rebellenarmee gekämpft, dann aber dem Commonwealth gedient haben? Werden die Männer, die »transplantable widows« geheiratet haben, dadurch selbst »transplantable«? Wie sollen die Kinder der nach Spanien ausgewanderten Iren beurteilt werden? Was genau meinen die Mitglieder der Irlandkommission mit dem Ausdruck »Irish widows of English extract«?62 Petty machte durch den Down Survey Bekanntschaft mit den Schwierigkeiten, die sich aus den vermeintlich einfachen Akten des Zählens und Messens ergeben können. Seine Vermessungstätigkeit hatte er explizit von allen politischen Streitigkeiten freihalten wollen, indem er eine objektive, allein an den messbaren Größen orientierte Registrierung der irischen Territorien vorschlug. Jedoch konnte er nicht verhindern, dass über die Kriterien der Beschreibung und Bemessung ein nicht enden wollender Zwist ausbrach. Dies betraf besonders die Unterscheidung zwischen profitablem und unprofitablem Land, von der sich nicht ernsthaft behaupten ließ, dass sie allein aus quantitativen Bestimmungen hervorging. Wie Mary Poovey hervorgehoben hat, handelte es sich um eine alles andere als unparteiische, vielmehr hochgradig politische Entscheidung: Wenn z. B. Wälder oder Berge als unprofitabel deklariert wurden, dann hieß dies, »die Tatsache zu ignorieren, dass Holz und Eisenerz potentiell zu den am besten verkäuflichsten Ressourcen Irlands gehörten«. Wenn andererseits allein Acker- und Weideland als profitabel betrachtet wurde, so lag darin die implizite Aufforderung an die neuen Besitzer, »eine gewisse Bereitschaft zur ständigen Niederlassung und zur Landwirtschaft« zu zeigen, damit Irland zu einer »dauerhaften, sich selbst versorgenden und lenkbaren englischen Kolonie« werden konnte.63

62  Zusammengefasst nach Prendergast, The Cromwellian settlement of Ireland, S. 96 – 97. 63  Poovey, »The social constitution of ›class‹«, S. 21 – 22.

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Unabhängig davon, welchen Nutzen Petty als Bodenspekulant möglicherweise aus der Undurchsichtigkeit der Wertzumessung zog,64 als Wissenschaftler war er nicht glücklich damit, Unterscheidungen treffen zu müssen, die sich nicht auf quantitative Bestimmungen zurückführen ließen. 1660, in seinen Reflections upon some persons and things in Ireland, beklagt er »[t]he infinite difficulty and indeed impossibility of making certain and regular distinctions between profitable and unprofitable lands«.65 Allerdings sollte Petty sich mit diesem Eingeständnis einer Unmöglichkeit nicht zufriedengeben. Sein ehrgeizigstes theoretisches Vorhaben bestand darin, auch für den Wert des Landes ein quantitatives und damit »sicheres und regelmäßiges« Kriterium zu finden.

Politik als Management So sehr Petty auf dem Anspruch einer neutralen, wissenschaftlichen Beschreibung beharrte, so sehr zeigt seine Praxis als Projektemacher, dass das Zählen für ihn kein Selbstzweck war. »In der Hitze des Gefechts«, so McCormick, »waren es nicht genaue, absolute Zahlen, auf die es ankam, sondern relative Proportionen: das Verhältnis der französischen zu den englischen Schiffen, der Protestanten zu den Katholiken in Irland, usw. Diese Zahlen waren weniger wichtig als Fakten an sich, sondern eher als Abkürzungen, um sprechende Vergleiche anzustellen – argumentative Stützen und Handlungsantriebe.« 66 So war Pettys Gebrauch der Zahlen weniger »buchhalterisch« als »politisch«; es ging nicht nur darum, Land und Leute zu beschreiben, »sondern dem Souverän zu zeigen, wie er sie manipulieren konnte«.67 Pettys Politische Arithmetik kann daher ebenso gut als eine »arithmetische Politik« verstanden werden,68 als Vorschlag für eine neue, auf numerische Daten gestützte Staatsführung, eine bis dahin noch nicht bekannte Kunst des »Governing by Numbers«.69 Wesentliches Kennzeichen der neuen Regierungskunst, die Petty den wechselnden Souveränen Englands anbot, ist der Verzicht auf juridische und moralische Erwägungen und die Konzentration auf die Mittel und Wege der Durchführung. Die ins Auge gefassten staatlichen Eingriffe sind nicht als 64  Vgl. T. C. Barnard, »Sir William Petty, his Irish estates and Irish population«, Irish Economic and Social History, N° vol. 6, 1979, 64 – 69, 65: »In 1666, when Petty hoped to acquire the entire baronies of Iveragh, Dunkerron and Glanerought, he was probably deliberately vague about the land’s resources.« 65  Petty, Reflections upon some persons and things in Ireland, S. 104. 66  McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 206. 67  Ebd., S. 178 – 179. 68  Vgl. Klaus Hamberger u. Harald Katzmair, Arithmetische Politik und ökonomische Moral. Zur Genealogie der Sozialwissenschaften in England, Wirtschaftsuniversität Wien. Working Papers, N° 33, Wien, 1995. 69  Vgl. Nikolas Rose, »Governing by numbers. Figuring out democracy«, Accounting, Organizations and Society, Jg. 16, N° 7, 1991, 673 – 692.

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gesetzliche Regelungen von Rechten und Pflichten der Untertanen zu verstehen, sondern als technische Maßnahmen, als unmittelbare, ›ärztliche‹ Interventionen in den Body Politick, die dessen reibungsloses Funktionieren sichern sollen. Mary Poovey spricht in diesem Zusammenhang von der Entstehung einer »economic rationality«, die sich aus dem Zusammentreffen der (mit dem Namen Hobbes verbundenen) »political rationality« mit der (auf Bacon zurückgehenden) »scientific rationality« ergab. Obwohl Spuren dieser beiden Denkweisen in ihr erhalten blieben, bildete sie doch eine eigene, neuartige Formation des Wissens: Während die politische Rationalität artikuliert wurde als ein Versuch, die Macht einer souveränen Regierung zu sichern, und während die wissenschaftliche Rationalität so gefasst wurde, dass sie einen außerhalb der Politik liegenden Bereich abgrenzte, wurde die ökonomische Rationalität formuliert, um einer Beziehung Sinn abzugewinnen, die für die entstehende bürgerliche Gesellschaft des späten 17. Jahrhunderts zentral war, die Beziehung zwischen individueller Produktivität und nationalem Wohlstand.70

Tatsächlich kann man sagen, dass die Protagonisten der Politischen Arithmetik den Imperativen der ökonomischen Rationalität in vollkommener Weise entsprachen. So wie der in doppelter Buchführung geschulte Kaufmann John Graunt die Bevölkerungsbilanz Londons nach dem Vorbild der Handelsbilanz begriff, so betrachtete der Projektemacher Petty die Führung eines Staates wie die Leitung eines Unternehmens (bzw. einer Unternehmung), nämlich als eine Frage des »Managements«.71 Nicht auf Gesetze, Konventionen, Überzeugungen war Rücksicht zu nehmen, sondern auf das reibungslose und ertragreiche Funktionieren der Abläufe. »Unity, industry, and obedience« lautete die Maxime, an der sich das Staatswesen ausrichten sollte, um »Common Safety, and each Man’s particular Happiness« zu verwirklichen.72 Solche Tugenden waren kaum per Gesetz zu verordnen. Es ließen sich jedoch technische Maßnahmen ergreifen, um sie zu fördern, z. B. durch Umschichtungen der Bevölkerung, durch ökonomische Anreize oder neue Formen der Kontrolle. Entsprechend zeigte Petty, im Unterschied beispielsweise zu James Harrington, niemals den Ehrgeiz, zum 70  Poovey, »The social constitution of ›class‹«, S. 17. 71  Petty schätzt das Wort »management« und wendet es auch auf Aufgaben an, die bis dahin

nicht primär unter dem Gesichtspunkt der Verwaltung gesehen wurden. So spricht er vom »management« eines Krieges (William Petty, »No 18. Another More True and Calm Narrative of the Stellement and Sale of Ireland«, in: ders., The Petty Papers. Some Unpublished Writings of Sir William Petty, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, Bd. 1, Boston and New York, 1927, 49 – 55, S. 49) oder vom »management« der Aufstandsbekämpfung (ders., »No. 24. The Case and Condition of the Protestants in Ireland anno 1687«, in: ders., The Petty Papers. Some Unpublished Writings of Sir William Petty, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, Bd. 1, Boston and New York, 1927, 67 – 72, S. 68). 72  Petty, »Political Arithmetick«, S. 313.

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Gesetzgeber aufzusteigen. Er reklamierte für sich vielmehr die Rolle des gewitzten Sozialtechnologen, des Experten, der dafür geschätzt wird, dass er die »practicable meanes«,73 die »way[s] of computing« 74 und »new Instrument[s] of Government« 75 bereitstellt, um effektive Veränderungen im Body Politick zu bewirken. Im Hinblick auf eine solche technisch versierte Regierungsklugheit ließ es sich Petty ausnahmsweise sogar gefallen, als Projektemacher bezeichnet zu werden: »If you understand by Project, a method of Forecasting and computeing, there is much of such project in this essay.« 76

Der menschliche Reichtum Es wäre voreilig, die neue ökonomische Rationalität, die Petty in die Politik einführte, mit dem Schlagwort Kapitalismus zu belegen. So wie Petty wirtschaftete, war er wohl Kapitalist, er wusste es jedoch nicht. In seinen Schriften gibt es weder den Namen noch den Begriff des Kapitals.77 Sein Grundsatz, der Natur ihren Lauf zu lassen,78 mag ihn als einen frühen ›Liberalen‹ erscheinen lassen, doch muss man berücksichtigen, dass seine konkreten Vorschläge zur Verbesserung der Ökonomie ganz innerhalb der Logik des Merkantilismus verblieben: Sie zielten auf die Optimierung des Staatshaushalts, nicht auf die Freiheit der Märkte. Auch wenn, wie man wohl sagen kann, Pettys ganzes Denken auf Gewinn zielte, war er doch weit davon entfernt, die Mehrwertakkumulation dem ›stummen Zwang der ökonomischen Verhältnisse‹ zu überlassen; er rechnete vielmehr grundsätzlich mit der Notwendigkeit politischen Zwangs, sei es zur Disziplinierung der unmittelbaren Produzenten, sei es zur Aufrechterhaltung vorteilhafter, d. h. ungleicher Tauschverhältnisse im internationalen Handel. Auch seine Praktiken des Zählens und Rechnens fügten sich in das merkantilistische Programm einer »Analyse der Reichtümer«.79 Neu war jedoch die Richtung, die die Suche nach den Quellen des Wohlstands nahm. Während im frühen Mer73  William Petty, »No. 20a. Advertisment«, in: ders., The Petty Papers. Some Unpublished Writings of Sir William Petty, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, Bd. 1, Boston and New York, 1927, 56 – 57, S. 56 – 57. 74  Petty, »Political Arithmetick«, S. 267. 75  Petty, »No. 30. A colloquium between A. B. C. concerning a new instrument of government [1682]«, S. 103. 76  Ebd. 77  Vgl. Hartwig, »Petty – oder: die Geburt der Arbeitswertlehre aus ökonomischen Problemen des frühen Kapitalismus«, S. 96. 78  Vgl. Petty, »A Treatise of Taxes, and Contributions«, S. 60: »We must consider in general, that as wiser Physicians tamper not excessively with their Patients, rather observing and complying with the motions of nature, then contradicting it with vehement Administrations of their own; so in Politicks and Oconomicks the same must be used; for Naturam expellas furcâ, licet usque recurret [Horaz].« 79  Vgl. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 211 ff.

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kantilismus Geld als Essenz des Reichtums betrachtet und die finanzielle Macht einer Nation mit den angehäuften Gold- und Silberreserven identifiziert wurde, wandte sich Petty von den »oberflächlichen Phänomenen des Zirkulationsprozesses« 80 ab und erklärte die bisher unsichtbaren Größen Land und Arbeit zu »Mutter« und »Vater« des gesellschaftlichen Reichtums.81 Mit Zahlen konnte er demonstrieren, wie stark die Bedeutung des Geldreichtums überschätzt wurde. Bei Steuern und Abgaben habe man immer »too great a stress on the matter of Money« gelegt, dabei habe dieses an den ganzen Wertbeständen [effects] des Staates nur einen Anteil von 6 zu 667: »That is, not one to 100.« 82 Als wesentliche Quelle des Reichtums kamen nun »the people« in den Blick, oder, wie man durchaus sagen kann: die Bevölkerung. Denn Petty betrachtete nicht die Individuen, ihm ging es um den Gesamthaushalt. Die Einzelnen mochten sterben, die Gattung aber war ewig, ein stabiler Reichtumsfaktor wie der Landbesitz: »For although the Individiums of Mankind be reckoned at about 8 years purchase; the Species of them is worth as many as Land, being in its nature as perpetual, for ought we know.« 83 Weil es das Volk ist, das »the Naturall and true riches of his Kingdome« ausmacht, so muss ein König »att all tymes know whether his People [..] multiply or diminish, grow richer or poorer«.84 Pettys Überlegungen entsprechen weitgehend der in der Frühen Neuzeit zum Gemeinplatz gewordenen Doktrin des Bevölkerungsreichtums.85 Diese kreiste zunächst um die Gesamtzahl der Einwohner,86 dann aber insbesondere – mit dem steten Verweis auf Holland – um die Bevölkerungsdichte. Diese stand, wie Petty erkannte, in unmittelbarer Relation zum Wert des Landes. Wenn Land der gleichen Größe in England viermal so viel Wert hatte wie in Irland, aber nur ein Drittel oder Viertel von dem, was es in Holland wert war, so lag das daran, dass »England is four or five times better Peopled than Ireland, and but a quarter so well as Holland«.87 Eine zu dünne Besiedelung hatte, wie Petty bemerkte, nicht nur den Nachteil, höhere relative Verwaltungskosten zu verursachen: »There is no doubt that the same People, far and wide dispersed, must spend more upon their

80  Hartwig, »Petty – oder: die Geburt der Arbeitswertlehre aus ökonomischen Problemen des frühen Kapitalismus«, S. 91. 81  Vgl. Petty, »A Treatise of Taxes, and Contributions«, S. 68: »That Labour is the Father and active principle of Wealth, as Lands are the Mother«. 82  William Petty, »Verbum Sapienti« (entstanden ca. 1665), in: ders., The Economic writings of Sir William Petty, Vol. 1. Together with the Observations upon the bills of mortality more probably by Captain John Graunt, hg. v. Charles Henry Hull, Cambridge, 1899, 101 – 120, S. 114 83  Ebd., S. 108. 84  Petty, »No. 25. The Registry of Lands, Commodities, and Inhabitants (1660 – 61)«, S. 78. 85  Vgl. Julian Hoppit, »Political Arithmetic in eighteenth-century England«, The Economic History Review, N° New Series, Vol. 49, No. 3, Aug., 1996, 516 – 540, S. 525. 86  Vgl. Rusnock, »Biopolitics«, S. 55. 87  Petty, »Political Arithmetick«, S. 286.

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Government, and Protection, than the same living compactly.« 88 Wie im Hinblick auf Irland deutlich wurde, stand eine zu große Verstreuung der Menschen auch einer Intensivierung der wirtschaftlichen Aktivität im Wege: Ireland being under peopled, and Land, and Cattle being very cheap; there being every where store of Fish and Fowl; the ground yielding excellent Roots (and particularly that bread-like root Potatoes) and withal they being able to perform their Husbandry, with such harness and tackling, as each Man can make with his own hands; and living in such Houses as almost every Man can build; and every House-wife being a Spinner and Dyer of Wool and Yarn, they can live and subsist after their present fashion, without the use of Gold or Silver Money; and can supply themselves with the necessaries above named, without labouring 2 Hours per diem.89

Abbildung 8: »under-peopled«: The County of Donagall, Down-Survey-Karte, 1656.

Die »Unterbevölkerung«, die es den Iren erlaubte, eine bescheidene Subsistenzwirtschaft zu unterhalten und »Ex sponte Creatis, or with little labour« 90 zu leben (ein Zustand, den man auch als paradiesisch bezeichnen könnte), betrachtete 88  Ebd., S. 300. 89  Ebd., S. 272 – 273. 90  Petty, »A Treatise of Taxes, and Contributions«, S. 34.

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Petty als Ursache aller Probleme Irlands, als Grund für die mangelhafte Entwicklung der Insel und ihre Unterlegenheit gegenüber England. Petty war sich bewusst, dass sich das holländische Reichtums- und Bevölkerungswunder auf der anderen Seite des Ärmelkanals nicht einfach wiederholen ließ: Es hätte ein Volk erfordert, in dem »all hands to Work« gesetzt wurden, in dem »Rich and Poor, Young and Old« sich daran machten, »the Art of Number, Weight, and Measure« zu studieren, und das die Klugheit besaß, die Faulen durch Arbeit anstatt durch Verkrüppelung zu bestrafen.91 Der Bevölkerungsreichtum, der sich in Holland durch günstige kulturelle Bedingungen ergeben hatte, konnte in England und Irland nur durch gezielte politische Interventionen, durch unmittelbare demographische Manipulationen erreicht werden. Um eine »regular and well compacted City« 92 oder ein entsprechend ordentlich strukturiertes Königreich hervorzubringen, musste man sich der Mittel der Bevölkerungstransplantation bedienen, wie sie in Irland zu anderen Zwecken schon erprobt worden waren. Das Problem der Unterbevölkerung konnte gelöst werden, wenn der Staat bestimmte »superfluous Territories« aufgab und die dort ansässigen »People with their moveables« in anderen Landstrichen konzentrierte.93 Entsprechend hoffte Petty darauf, dass die Bewohner von New England baldmöglichst »into Old England« retransplantiert würden,94 und er entwickelte – im Rahmen einer als »Dream or Resvery« 95 deklarierten Abschweifung – die Idee, »all the moveables and People of Ireland, and of the Highlands of Scotland« in den verbleibenden Rest von Großbritannien zu transportieren: Sowohl der König als auch seine Untertanen wären dann »more Rich and Strong, both offensively and defensively, than now they are«.96 Die Originalität der Politischen Arithmetik ist jedoch nicht in solchen Planspielen zur Vergrößerung oder Verdichtung von Bevölkerung zu suchen. Ihre wirkliche Neuerung bestand im analytischen Zugriff auf den Bevölkerungskörper, in der Einführung eines Maßstabs der Unterscheidung, der im Innern des Body Politick die ökonomisch einträglichen Anteile von den unergiebigen Elementen trennte. So unterscheidet Petty in seiner Political Anatomy of Ireland zunächst zwischen denjenigen, die aktiv zu Handel und Gewerbe beitragen, und solchen die dies nicht tun, wie z. B. Arbeitsunfähige (»impotents«), Kinder unter 7 Jahren, aber z. B. auch Studenten oder Soldaten. Die Menge der etwa 780.000 Iren, die als »fit for trade« gelten können,97 lässt sich erneut unterteilen: Etwa 380.000 Männer und 91  Petty, »Political Arithmetick«, S. 261. 92  Edward Chamberlayne, The present state of England. Part III . and Part IV ., London,

1683, S. 57. 93  Petty, »Political Arithmetick«, S. 301. 94  Ebd. 95  Ebd., S. 285. 96  Ebd. 97  Petty, »The political anatomy of Ireland«, S. 145.

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Frauen sind in nützlichen Gewerben oder davon abhängigen Dienstleistungen beschäftigt. Ihnen steht eine Zahl von 400.000 arbeitsfähigen Iren gegenüber, die keiner produktiven Beschäftigung nachgehen. Als unproduktiv ist insbesondere der in Irland weit verbreitetete »Trade of drink« zu betrachten,98 der sich in einer beeindruckenden Zahl von ale-houses niederschlägt. Allein in Dublin, einer Stadt mit 4000 Familien, gibt es nach Pettys Zählung 1180 Alehouses und 91 öffentliche Brauereien. Für ganz Irland lässt sich annehmen, dass etwa ein Drittel der Bevölkerung an die Ökonomie des Trinkens gebunden ist. Denn zu den etwa 180.000 Mitgliedern des Gastgewerbes müssen noch etwa 200.000 »Casherers and Fait-neants« hinzugerechnet werden.99

Abbildung 9: Seite aus: William Petty,

The Political Anatomy of Ireland, London, 1691.

Pettys überaus vernünftige Schlussfolgerung lautet: Wenn man 2/3 der Gasthäuser einspart (ohne deshalb weniger Alkohol verkaufen zu müssen), so stehen in Irland 340.000 »spare hands« zur Verfügung, die für öffentliche Arbeiten eingesetzt werden können und auf diese Weise den »local« oder »universal wealth« pro Jahr um 2.380.000 Pfund vermehren. Dies ist eine Argumentation, die bei Petty ständig und in immer wieder neuen Variationen wiederkehrt. Wenn »the 98  Ebd. 99  Ebd.

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Hands of Ireland« mit einer »geeigneten Beschäftigung« versorgt und »bei der Arbeit gehalten« werden, so werden sie »jährlich eine Million mehr verdienen«;100 wenn die Maßnahme auf alle Untertanen des Königs von England ausgedehnt wird, dann kann der zusätzliche Ertrag bei zwei Millionen liegen.101 Solche Rechnungen sollen nicht nur deutlich machen, dass der eigentliche Reichtum des Landes in seinen Arbeitskräften liegt, sie sollen auch zeigen, wer den Schlüssel zu dieser brachliegenden Ressource besitzt. Es ist die Politische Arithmetik, die die nötigen »computations« anstellt, um die »spare hands« zu entdecken und sie einer produktiven Arbeit zuzuführen. In einer bisher nicht gekannten Weise geraten damit die Massen der Armen in den Fokus des ökonomischen Interesses. Sie werden nun nicht mehr nur als ›flocks‹, als zu hütende Herden betrachtet, sondern auch als ›stocks‹, als Ansammlungen potentieller Arbeitskraft, die zum Reichtum des Landes beitragen können.102 Der politische Arithmetiker Charles Davenant wird dies später deutlich aussprechen, wenn er »the Bodies of Men« als »the most valuable Treasure of Country« bezeichnet und die Auffassung vertritt, dass »the ordinary People« dem Gemeinwohl ebenso sehr dienen könnten wie die Reichen, »if they are employ’d in honest Labour«.103 Unter der Hand wird damit ein bisher nicht gekanntes Beurteilungssystem von gesellschaftlicher Stellung eingeführt. Die neue Einteilung des Sozialen gründet sich auf die Frage, was ein Individuum zum gesellschaftlichen Reichtum beiträgt. Betrachtet man den Beitrag zur Handelsbilanz, so wird man nicht mehr Adel und Klerus die größte Achtung zollen, sondern jenen »Stocks of laborious and ingenious Men«, die als Handwerker und Architekten die Grundlage für einen gehobenen Lebensstil legen oder als Kaufleute oder koloniale Eroberer »Gold, Silver, and Jewels of the Country« vermehren.104 Entsprechende Abwertung erfahren all diejenigen, »which produce no material thing, or things of real use and value in the Commonwealth« 105. Dazu gehören nicht nur die Adeligen, die »do nothing at all, but eat and drink, sing, play, and dance«, oder die Gelehrten, die sich mit »Metaphysicks, or other needless Speculation« abgeben,106 sondern auch Politiker und Anwälte, die »no fruit at all« hervorbringen und lediglich wie 100  Ebd., S. 189. 101  Vgl. Petty, »Political Arithmetick«, S. 307. 102  Ein Gentleman aus Sussex stellt 1678 fest, England sei in der ganzen Welt bekannt »as

abounding with huge stocks of Wool, Hemp, Flax, Poor People, and Beggars«, und er schlägt vor, die beiden letztgenannten Lagerbestände durch »Publick County-Working-Houses of Confinement, for administring Instruction, Encouragement, and Correction« abzubauen. Richard Haines, Provision for the Poor: Or, Reasons for the Erecting of a Working-Hospital in every County, London, 1678, S. 7. 103  Charles Davenant, An Essay upon the Probable Methods of Making a People Gainers in the Balance of Trade, London, 1699, S. 50. 104  Petty, »Political Arithmetick«, S. 270. 105  Ebd. 106  Ebd.

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eine Art Spieler (»Gamesters«) um das kämpfen, was »the labours of the poor« hervorgebracht haben.107 In solchen Beurteilungen zeigt sich, dass es Petty nicht allein darauf ankommt, eine neue, objektivere Beschreibung des Sozialen zu geben. Mit der Einführung der Unterscheidung zwischen reichtumsfördernden und reichtumsvermindernden Menschen verbindet sich zugleich die Vorstellung einer neuen gesellschaftlichen Ordnung, in der die ökonomisch Nützlichen systematisch gefördert und die Unnützen zurückgedrängt werden sollen. Wie Petty anlässlich der Großen Pest von London sarkastisch feststellt, macht die Epidemie keinen Unterschied »between the well and the ill-affected to Peace and Obedience, or between the Bees and the Drones«.108 Umso mehr aber müsse es die Aufgabe der Politischen Arithmetik sein, solche Unterscheidungen zu treffen und jene Elemente zu stärken, die »the blood and nutritive juyces of the Body Politick« darstellten.109 Auch für die Unterscheidung zwischen reichtumshebenden und -senkenden Menschen suchte Petty nach einem objektiven, d. h. quantitativen Kriterium. Er fand es im Begriff des Werts (»value«), den er, wenn auch nicht ganz konsequent, an den Begriff der Arbeit koppelte.110 Er ermöglichte es ihm, unterschiedliche Formen des Reichtums miteinander in Beziehung zu setzen, so dass sich nun der Wert einzelner Menschen oder ganzer Bevölkerungen ebenso in Pfund ausdrücken ließ, wie der eines Stücks Boden: »If 6 Millions of People be worth 417 millions of pounds Sterling, then each head is worth 69l. or each of the 3 millions of Workers is worth 138l. which is 7 years purchase, at about 12d. [pence] per diem.« 111 Doch Pettys Ehrgeiz der numerischen Reduktion ging noch weiter: Er wollte nicht nur einen Weg finden, um »art«, also komplizierte, technisch zusammengesetzte Arbeit auf »Simple Labour« zurückzuführen. Er glaubte, dass Gleichsetzungen wie die zwischen »Land and Labour« sich ebenfalls zwischen so unterschiedlichen Größen wie »drudging Labour, and Favour, Acquaintance, Interest, Friends, Eloquence, Reputation, Power, Authority, &c.« herstellen ließen.112 In seiner Political Anatomy habe er nur deshalb darauf verzichtet, die entsprechenden Gleichungen aufzustellen, weil solche Feinheiten der symbolischen Ökonomie für die Aufteilung Irlands keine entscheidende Rolle spielten.

Petty, »A Treatise of Taxes, and Contributions«, S. 28. Petty, »Verbum Sapienti«, S. 110. Petty, »A Treatise of Taxes, and Contributions«, S. 28. Petty hat sowohl »land« als auch »labour« als Quellen des Werts betrachtet. Eine wirkliche Theorie des Arbeitswerts, die es ihm erlaubt hätte, »land« in »labour« auszudrücken, hat er nicht entwickelt. Vgl. Hartwig, »Petty – oder: die Geburt der Arbeitswertlehre aus ökonomischen Problemen des frühen Kapitalismus«, S. 116. 111  Petty, »Verbum Sapienti«, S. 108. 112  Petty, »The political anatomy of Ireland«, S. 182. 107  108  109  110 

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Facetten der Biomacht Wie der Verfasser der großen Petty-Biographie, Ted McCormick, eher nebenbei bemerkt, ergebe sich aus Pettys unveröffentlichten Manuskripten ein »much more ambitiously ›biopolitical‹ program than even Foucauldian readings of political arithmetic have envisioned«.113 Tatsächlich ist die an Foucault anschließende Biopolitik-Diskussion der letzten Jahre in der historischen Einschätzung der Politischen Arithmetik und ihrer Hauptexponenten Graunt und Petty eher zurückhaltend gewesen. Das kann daran liegen, dass Foucault selbst zu Graunt nur wenige Sätze gesagt 114 und auf Pettys Politische Anatomie Irlands lediglich angespielt hat.115 Nun wäre es für die Beschreibung der politischen Technologien des 17. Jahrhunderts eigentlich nicht so wichtig, ob sie einem Foucault’schen Begriff von Biopolitik entsprechen. Wenn es sich dennoch lohnt, einen kurzen Blick auf die von McCormick erwähnten foucaultianischen Lesarten der Politischen Arithmetik zu werfen, dann vor allem deshalb, weil die Klärung von Begriffen wie ›Biomacht‹, ›Disziplin‹ oder ›Bevölkerung‹ dazu beitragen kann, die spezifischen Machtwirkungen des von Graunt und Petty vorangetriebenen Erkenntnisunternehmens genauer zu bestimmen. Eine konzise Bestimmung des Begriffs »Biomacht« findet sich im ersten Band von Foucaults Sexualität und Wahrheit: Konkret hat sich die Macht zum Leben seit dem 17. Jahrhundert in zwei Hauptformen entwickelt, die keine Gegensätze bilden, sondern eher zwei durch ein Bündel von Zwischenbeziehungen verbundene Pole. Zuerst scheint sich der Pol gebildet zu haben, der um den Körper als Maschine zentriert ist. Seine Dressur, die Steigerung seiner Fähigkeiten, die Ausnutzung seiner Kräfte, das parallele Anwachsen seiner Nützlichkeit und seiner Gelehrigkeit, seine Integration in wirksame und ökonomische Kontrollsysteme – geleistet haben all das die Machtprozeduren der Disziplinen: politische Anatomie des menschlichen Körpers. Der zweite Pol, der sich etwas später – um die Mitte des 18. Jahrhunderts – gebildet hat, hat sich um den Gattungskörper zentriert, der von der Mechanik des Lebenden durchkreuzt wird und den biologischen Prozessen zugrundeliegt. Die Fortpflanzung, die Geburten- und die Sterblichkeitsrate, das Gesundheitsniveau, die Lebensdauer, die Langlebigkeit mit allen ihren Variationsbedingungen wurden zum Gegenstand eingreifender Maßnahmen und regulierender Kontrollen: Bio-Politik der Bevölkerung.

113  McCormick, »Transmutation, inclusion, and exclusion«, S. 260. 114  Foucault, Sicherheit, Territorium, Bevölkerung, S. 113 – 114. 115  Vgl. ebd., S. 396 »Und man weiß, daß sich die Statistik zunächst genau da entwickelt

hat, wo die Staaten kleiner waren oder da, wo die Situation günstig war, wie zum Beispiel in dem von England besetzten Irland.«

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Die Disziplinen des Körpers und die Regulierungen der Bevölkerung bilden die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert hat.116

Für Foucault selbst scheint außer Frage zu stehen, dass Graunts und Pettys Regierungswissenschaften dem Pol der Disziplin zuzurechnen sind (schließlich verwendet er für diesen ausdrücklich Pettys Begriff der »Politischen Anatomie«). Er scheint jedoch in der Politischen Arithmetik keine »Bio-Politik der Bevölkerung« zu sehen, da eine solche ja erst »um die Mitte des 18. Jahrhunderts« ihren Auftritt haben soll. Die Beziehungen der Politischen Arithmetik zu diesen beiden Paradigmen: Disziplin und Bevölkerung, sollen hier kurz diskutiert werden. Was den ersten Punkt angeht, so ist bezweifelt worden, ob sich die Politische Arithmetik tatsächlich, wie Foucault es tut, dem Paradigma der Disziplin zuordnen lässt. Harald Katzmair zufolge besteht die historische Besonderheit der Politischen Arithmetik gerade darin, dass sie in der Position des großen Überblicks, der strategischen Position des »Feldherren« verbleibe und nicht in die Niederungen der disziplinarischen Zurichtung hinabsteige: Der Diskurs der Politischen Arithmetik zielte im 17. und 18. Jahrhundert nicht auf das Leben der Dinge und deren Sein als moralische oder biologische Körperwesen, sondern er betrachtete Dinge und also auch Lebewesen als klassenlogische Gattungs- oder Massewesen: Gattungen von Arbeitskräften, Abteilungen von Krankheitsträgern, Mengen von Privateigentümern und Konfessionsträgern konstituieren den Raum der sozialen und natürlichen Ordnung. Nicht die Ansammlung der individuellen Körper, ihre mikrophysikalische Verteilung, Trennung und Ausrichtung wurde statistisch taxiert, vielmehr waren es global und molar organisierte Gattungen, Gruppen und Spezies von Dingen und Menschen, die als Produktionseinheiten klassifiziert und vom Feldherrenhügel des ›Surveyors‹ aus gezählt, organisiert und umgruppiert wurden.117

Tatsächlich handelt es sich bei den von den Politischen Arithmetikern ins Auge gefassten Eingriffen in den Body Politick überwiegend um Verschiebungen großer Massen zur Herstellung einer »good Balance« oder »right proportion«: Arbeitskräfte, die an einer Stelle im Überfluss zur Verfügung standen, sind an Orte zu verpflanzen, wo sie fehlen;118 Menschen sollen von unproduktiven Wirtschaftssektoren (z. B. alehouses) in produktive Sektoren (z. B. öffentliche Arbeiten) überführt werden;119 die Zahl von Priestern, Juristen und Ärzten soll vom statistisch

116  117  118  119 

Foucault, Sexualität und Wahrheit, S. 166. Katzmair, »Ordnungen des Zählens«, S. 46 – 47. Vgl. Mykkänen, »›To methodize and regulate them‹«, S. 77. Vgl. McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 188.

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ermittelten Bedarf, also z. B. von Einwohner- oder Krankheitszahlen abhängig gemacht werden.120 Katzmair folgert daraus, dass der »konkret lepröse und rachitische Leib des in den Vororten Londons umherstreifenden Bettlers […] für den Politischen Arithmetiker nicht primärer Gegenstand des Wissens« gewesen sei.121 Diesem gehe es darum, den »sozialen Ort« des Bettlers in einer Tabelle zu vermerken, »ohne dessen ›angestammte‹ Orte, die Gosse und die Londoner Arbeitshäuser, reflektieren zu müssen«.122 Dies mag in der Theorie stimmen, in der Praxis der Politischen Arithmetik ist die Betrachtung des Allgemeinen jedoch von der des Besonderen nicht zu trennen. So ist es gerade die empirische Beobachtung realer Bettler (»the vast numbers of Beggars, swarming up and down this City, do all live, and seem to be most of them healthy and strong« 123), die John Graunt dazu führt, sich an statistische Berechnungen zu machen und zu zeigen, »how few starve of the many that beg«.124 Aber auch dies soll wiederum keine abstrakte Erkenntnis bleiben. Die Einsicht in die Zahlenverhältnisse soll vielmehr benutzt werden, um einen »Peer of the Parliament« oder ein »Member of his Majestie’s Council« davon zu überzeugen, dass die Bettler in staatliche Obhut genommen werden, »that so they might live regularly, and not in that Debauchery, as many Beggars do; and that they might be cured of their bodily Impotencies, or taught to work, &c. each according to his condition, and capacity; or by being employed in some work (not better undone) might be accustomed, and fitted for labour.« 125 Die Erfassung des sozialen Orts verbindet sich also in ganz handfester Weise mit der Zuteilung eines Platzes in einer Disziplinarinstitution. Tabellarisch aufgenommene Daten werden auch darüber entscheiden, welche Art der Beschäftigung der Bettler annehmen muss – »each according to his condition, and capacity«. Die von den politischen Arithmetikern eingenommene Haltung des großen Überblicks lässt sich daher von den kleinen und kleinlichen Disziplinarprozeduren ihrer Zeit nicht trennen. Als Anatom ist Petty die mikroskopische Perspektive ebenso vertraut wie die makroskopische: »I have been perhaps too long in describing the minutiae of very ordinary and small operations; but I hope no philosopher will despise this, no more, than he would the anatomy of a mouse or frog«.126 Und als Projektemacher weiß Petty, dass molare Umverteilungen stets 120  Vgl. Hartwig, »Petty – oder: die Geburt der Arbeitswertlehre aus ökonomischen Pro-

blemen des frühen Kapitalismus«, S. 121. Katzmair, »Ordnungen des Zählens«, S. 51. Vgl. ebd. Graunt, Natural and Political Observations, S. 19. Ebd., o. P. Ebd., S. 19. William Petty, »Of making cloth with sheeps wool« (1661), in: Thomas Birch, The history of the Royal Society of London for improving of natural knowledge, from its first rise, vol. 1 (1756), London, 1756 – 1757, 55 – 65, S. 60.

121  122  123  124  125  126 

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innerhalb eines Gewimmels molekularer Prozesse durchgesetzt werden müssen. So entwirft er nicht nur Pläne für große Bevölkerungsverschiebungen, sondern er stellt auch detaillierte Überlegungen zu ihrer Ausführung, zu ihren Kosten und Hindernissen, den nötigen Ermunterungen oder Zwangsmaßnahmen an: »Query, the expence, time, and other difficultys of so many removalls? […] By what allurements or compulsion shall the same bee done? and whether within 5 years?« 127 Die deutlichste Annäherung zwischen der statistischen Sichtweise des Politischen Arithmetikers und den Praktiken von »Government and Discipline« 128 findet sich aber wohl in Pettys Vorschlag zum Umgang mit den »überzähligen« Armen, die keiner produktiven Beschäftigung zugeführt werden können: Now as to the work of these supernumeraries, let it be without expence of Foreign Commodities, and then ’tis no matter if it be employed to build a useless Pyramid upon Salisbury Plain, bring the Stones at Stonehenge to Tower-Hill, or the like; for at worst this would keep their mindes to discipline and obedience, and their bodies to a patience of more profitable labours when need shall require it.129

Umstritten ist andererseits auch die Beziehung der Politischen Arithmetik zum Konzept der Bevölkerung. Foucault sieht darin eine ›Entdeckung‹, die erst »in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts« gemacht worden sei und nicht mit früheren, ähnlich klingenden Begriffen verwechselt werden dürfe: Die Bevölkerung ist eine Gruppe, die nicht einfach nur aus vielen Menschen besteht, sondern aus Menschen, die von biologischen Prozessen und Gesetzen durchdrungen, beherrscht und gelenkt sind. Eine Bevölkerung hat eine Geburtenrate, eine Alterskurve, eine Alterspyramide, eine Sterblichkeitsrate und einen Gesundheitszustand. Eine Bevölkerung kann zugrunde gehen oder sich entwickeln.130

Nun ist klar, dass man im 17. Jahrhundert noch keine statistischen ›Kurven‹, keine ›Alterspyramide‹, und auch kein Wissen von ›biologischen Gesetzen‹ antreffen kann. Dennoch lässt sich mit guten Gründen behaupten, dass John Graunt, der das Leben und Sterben in London als Eingänge und Abgänge von einem Konto begriff und für dieses Spiel ökonomischer Transaktionen eine Art Handelsbilanz aufzustellen versuchte,131 zumindest einen entscheidenden Schritt in Richtung 127  Petty, »No. 21. Of Reconciling the English and the Irish and Reforming Both Nations.

1686«, S. 62.

128  Petty, »The political anatomy of Ireland«, S. 189. 129  Petty, »A Treatise of Taxes, and Contributions«, S. 31. 130  Michel Foucault, »Die Maschen der Macht. ›As malhas do poder‹, Vortrag an der philo-

sophischen Fakultät der Universität Bahia, 1976«, in: ders., Schriften in vier Bänden. Dits et Ecrits, hg. v. Daniel Defert u. François Ewald, Bd. 4, Frankfurt a. M., 2005, 224 – 244, S. 235. 131  S. o., Kap. 11, Abschnitt »Die Handelsbilanz des Lebens und Sterbens«.

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des modernen Konzepts von Bevölkerung als eines »dynamischen, von eigenen Gesetzen regierten Körpers« gemacht hat.132 In unserem Zusammenhang besonders interessant ist eine andere Variante dieser Kritik. Sie will sozusagen strenger sein als Foucault selbst, und lässt daher das Konzept der Bevölkerung erst für das 19. Jahrhundert gelten. So wirft der historische Soziologe Bruce Curtis Foucault vor, den wesentlichen Unterschied zwischen den älteren, merkantilistischen und polizeiwissenschaftlichen Bevölkerungskonzepten und dem biologistischen Bevölkerungskonzept des 19. Jahrhunderts vernachlässigt zu haben.133 Dieser liege in der gesellschaftlichen Grundlage, von der die Begriffe und Praktiken jeweils ausgingen. Im ersten Fall, dem der Souveränitäts- und Polizeigesellschaften, habe man es mit einem hierarchisch strukturierten, eine feste Ordnung der Plätze verfügenden Gesellschaftskörper zu tun. Die hier wirksam werdenden »anatomo-politics and body-politics« seien, so Curtis, »perfekt vereinbar mit dem Konzept des Bevölkerungsreichtums [populousness], mit der Logik der Polizei und mit dem Aufschwung der Statistik«.134 Diese bleibe einer »Logik der Klassifikation« verhaftet, »in der die Dinge als Ausdrücke von Wesenheiten [expressions of essences] an ihre angemessenen Plätze gestellt werden«.135 Dies alles habe jedoch nichts mit dem Konzept der Bevölkerung zu tun, das vielmehr fest mit den »liberal modes of government« im 19. Jahrhundert verbunden sei.136 Von Bevölkerung könne erst die Rede sein, wenn das alte System der hierarchischen Differenzierung zusammengebrochen sei und die Subjekte, Objekte und Ereignisse eines Territoriums in Bezug auf willkürlich gesetzte Maßstäbe miteinander verglichen werden könnten: »Im Unterschied zum Bevölkerungsreichtum [populousness], dessen Logik sich auf die hierarchische Differenzierung von Wesenheiten (Ritter kämpfen, Priester beten, Bauern pflügen) gründet, hängt Bevölkerung [population] vom Begriff einer gemeinsamen abstrakten Essenz ab.« 137 Nur aufgrund bereits errichteter und durchgesetzter Äquivalenzbeziehungen könne es geschehen, dass »ein Körper dem anderen gleichkomme, dass jeder Tod, jede Geburt, jede Heirat, jede Scheidung usw. jeder möglichen anderen äquivalent wird«.138 Solange diese Veränderung der gesellschaftlichen Struktur nicht eingetreten sei, könne von Bevölkerung, »properly conceived«,139 nicht die

132  133  134  135  136  137  138  139 

Bayatrizi, Life sentences, S. 62. Curtis, »Foucault on governmentality and population«, S. 507. Ebd., S. 528. Ebd. Ebd., S. 507. Ebd., S. 508 – 509. Ebd., S. 529. Ebd., S. 507.

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Rede sein. Es sei daher irreführend, wenn Foucault von einer »Entdeckung« der Bevölkerung im 18. Jahrhundert spreche.140 Nach diesem strengen Urteil müsste es unmöglich sein, im Zusammenhang mit Graunts oder Pettys Vorschlägen zur Neukomposition des Sozialen von Bevölkerungspolitik zu sprechen. Denn zweifellos geht die englische Gesellschaft der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts noch nicht davon aus, dass alle Teile des sozialen Körpers sich umstandslos und im Hinblick auf beliebig festgesetzte Merkmale wie Reichtum, Körpergröße, Fruchtbarkeit oder Arbeitsleistung bemessen und vergleichen lassen. Insofern wäre sie vom modernen Konzept der Bevölkerung tatsächlich noch weit entfernt. Doch ist die soziale Hierarchie auch wieder nicht so festgefügt, wie Curtis unterstellt, wenn er (noch für das 18. Jahrhundert!) von einer unverminderten Wirksamkeit der mittelalterlichen Ordnung der drei Stände ausgeht. Vor allem aber scheint Curtis in der Vorstellung gefangen zu sein, dass es sich bei neuen sozialtechnologischen Konzepten wie dem der Bevölkerung um Überbauphänomene handele, die nur dann auftreten können, wenn die gesellschaftliche Basis dafür schon gelegt sei. So sei es »die Zerstörung der Statusdifferenzen des Ancien Regime gewesen«, die es ermöglicht habe, dass »zuerst der Traum und dann die Praxis der Bevölkerung« entstehen konnte.141 Gegen diese Ableitung, die davon ausgeht, dass neue ideologische Entwürfe und politische Verfahren nur reflektieren können, was schon da ist, möchte ich versuchsweise eine andere Hypothese setzen, die sich besser mit dem Projektdenken des 17. Jahrhunderts verträgt. Sie kehrt die von Curtis vorgeschlagene Reihenfolge um. Es ist nicht die durchgesetzte Herrschaft des allgemeinen Äquivalents, die zunächst das Konzept der Bevölkerung und dann die Praxis der Bevölkerungspolitik hervorbringt. Umgekehrt lässt sich sagen, dass es die bevölkerungspolitischen Ideen und Praktiken Pettys und seiner Zeitgenossen sind, die wesentlich dazu beitragen, die kapitalistische Ordnung der allgemeinen Austauschbarkeit zu errichten. Inmitten der alten, postfeudalen Gesellschaft erproben sie die neuen, flexiblen Verfahren der quantitativen und klassifikatorischen Wertzumessung, auf die sich kapitalistische Verwertung und liberale Regierungsweise gründen werden. Weil die traditionelle Hierarchie noch weitgehend intakt ist, kann sich dieses Projekt der Klassifizierung nicht auf die ganze Gesellschaft erstrecken. Gentlemen lassen sich nicht gerne zählen, aus Furcht vor höherer Besteuerung wehren sie sich auch gegen die genaue Erfassung ihres Besitzes. Umso entschiedener werden die Verfahren der quantitativen Bestimmung an denen erprobt, die in der Hierarchie ganz unten stehen. Die Techniken der Politischen Anatomie richten sich zunächst, wie Petty treffend sagt, auf »cheap and common Animals«.142 Als erstes Versuchskaninchen der neuen Ordnung dient Irland, eine gründlich 140  Ebd., S. 528. 141  Ebd., S. 529. 142  Petty, »The political anatomy of Ireland«, S. 129.

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unterworfene Kolonie. Zugleich erstrecken sich die Verfahren der messenden und vergleichenden Beurteilung aber auch auf den ärmsten und rechtlosesten Teil der englischen Bevölkerung, auf alle, die ihrer Registrierung, Zählung, Vermessung und Verschickung keinen wirksamen Widerstand entgegensetzen können. Im Zählen, Ordnen, Hin- und Herschieben der Kolonisierten und der Armen übt sich der Geist der klassifikatorischen Einteilung, der später einmal die ganze Gesellschaft erfassen wird. Hält man sich an ihre historische Genealogie, so ist Klassengesellschaft nichts anderes als die Fortführung von Bevölkerungspolitik mit anderen Mitteln.

Das Erbe des Surveyors Das Programm der Politischen Arithmetik läuft, wie zu sehen war, auf eine radikale Neueinschätzung der gesellschaftlichen Hierarchien hinaus. Umso bemerkenswerter ist, dass William Petty, der Erfinder, keine dauerhaften Sympathien für eine republikanische oder demokratische Regierungsform entwickelte. Das Interesse daran beschränkte sich offenbar auf die kurze Episode in Harringtons Rota Club. In seiner politischen Einstellung blieb Petty zumindest insofern ein Anhänger von Hobbes, als er prinzipiell dem ›Leviathan‹, d. h. der Konzentration der Macht in einer Person, sei es der eines Lordprotektors oder der des Königs, den Vorzug gab.143 Das Soziale erschien Petty nicht als ein harmonischer Kosmos, sondern als ein Chaos, das nur durch den ordnenden Eingriff eines absoluten Herrn gemeistert werden konnte.144 Durchgehend findet sich bei ihm das Bild eines vertikalen Kommunikationsflusses: Von unten steigen die Informationen auf; von oben werden die Befehle erteilt.145 Politische Arithmetik wird als Rechenkunst im Dienst eines zentralen Herrschers verstanden, und zumindest in seiner Rhetorik stimmt Petty vollkommen mit den Herrschaftsbegründungen des Absolutismus überein: For how wonderful is it, that the spiritt of one Generall of an Army should influence, consimulate & semitrize the Minde, manner and Motions of 40000 men, or rather that one Monarch should consenture and draw together the Mentall & Corporall Facultyes of 10 Millions of Men, —as Burning Glasses do gather & converge many thousand Beams of the Sun into one focus or burning point.146

Vgl. Petty-Fitzmaurice, The life of Sir William Petty, 1623 – 1687, S. 96. Bayatrizi, Life sentences, S. 70. Vgl. Mykkänen, »›To methodize and regulate them‹«, S. 77. William Petty, »No. 87. The Scale of Creatures [1677]. (A Letter to Sir Robert Southwell)«, in: ders., The Petty Papers. Some Unpublished Writings of Sir William Petty, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, Bd. 2, Boston and New York, 1927, 21 – 34, S. 28.

143  144  145  146 

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Vor diesem Hintergrund erscheint es nur als konsequent, dass Petty die meisten seiner Schriften nicht im Hinblick auf eine Veröffentlichung verfasste, sondern »for circulation in the corridors of power«.147 Es handelte sich nicht um Anstöße für die öffentliche Diskussion, sondern um Ratschläge an den Herrscher, wie er seine Regierung besser einrichten könne. Petty selbst legte offenbar weniger Wert darauf, sichtbarer Repräsentant der Macht zu sein (eine Position, die ihm im Fall des Down Survey nur Ärger eingebracht hatte), als im Hintergrund die Fäden zu ziehen. Die Macht nach der er strebte, war nicht die Befehlsgewalt des Politikers, sondern die geheime Überlegenheit des Wissenden. Schon in seiner ersten Veröffentlichung, The advice of W. P. to Mr. Samuel Hartlib, hatte Petty sich selbst die Rolle eines unermüdlichen Sammlers und unübertrefflichen Auswerters von Informationen auf den Leib geschrieben. In dem von ihm entworfenen »Nosocomium Academicum«, einer Ausbildungsklinik, in der systematisch meteorologische und astrologische Beobachtungen mit Krankheitskonjunkturen abgeglichen werden sollten, beanspruchte er für sich selbst die Position des »Steward«, eines vielseitig gebildeten Koordinators, der das Gehirn der ganzen Institution bilden sollte: In briefe, he shall have an influence upon all the rest, and all the rest reciprocally upon him, so that he being made acquainted with all the Histories taken in the Hospitall, Laboratory, Anatomicall Chamber, garden, &c. may give the reason of the most notable Phænomena hapning in either of them.148

So wie sich Petty hier in der Rolle eines Wissenden sieht, der mit einem Blick (»uno intuito«) die gesamte Arbeit seiner Vorgänger überfliegen und deren Stärken und Schwächen ausgleichen kann,149 so wird er sich auch später als ein Mann verstehen, der durch Informationen herrscht. Seine Berufung sieht er im Amt des Surveyors, des Zensors und Registrators. Er projektiert Volkszählungen und Poll-Tax-Erhebungen, propagiert die Einrichtung von Meldebehörden und Grundbuchämtern. Für Irland entwirft er 1660 – 61 ein »Registry of Lands, Commodities, and Inhabitants«,150 für England 1671 ein »Register Generall of People, Plantations, & Trade«.151 Ihm selbst ist darin die Stelle des »Registrar Generall« vorbehalten, dessen Aufgabe es ist, »to give the King a true State of the 147  Terence W. Hutchison, Before Adam Smith. The emergence of political economy, 1662 – 1776,

Oxford, 1988, S. 29.

148  William Petty, The Advice of W. P. to Mr. Samuel Hartlib for the Advancement of some

particular Parts of Learning, London, 1647, S. 12 – 13.

149  Vgl. ebd., S. 25. 150  Petty, »No. 25. The Registry of Lands, Commodities, and Inhabitants (1660 – 61)«, S. 77. 151  William Petty, »No. 49. Register Generall of People, Plantations, & Trade of England

[1671]«, in: ders., The Petty Papers. Some Unpublished Writings of Sir William Petty, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, Bd. 1, Boston and New York, 1927, 171 – 172, S. 171.

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Nation at all times«.152 In einer ebenfalls auf ihn selbst zugeschnittenen Stellenbeschreibung skizziert er das Amt eines irischen »Surveyor Generall«, der – »to the better and more easy Administration of our Government« – alle überhaupt verfügbaren Daten in ein »Systeme to bee called the State Survey of that Our Kingdome« integrieren sollte.153 Als Entlohnung soll der Surveyor ein Fünftel des Überschusses erhalten, den er für den König erwirtschaftet, eine Forderung, die nur gerecht sei: »For if no purchase, no pay.« 154 Petty kannte recht gut den Wert seines Wissens. Er war davon überzeugt, dass nur »sehr wenige« seine Talente besaßen, und er wusste, dass noch weniger bereit waren, sich mit Schlussfolgerungen vom Typ der Politischen Arithmetik den Kopf zu zerbrechen.155 Doch konnte Petty trotz zahlreicher Versuche kein öffentliches Amt erringen. Wie einer seiner Bekannten annahm, spielte dabei der Neid der Konkurrenten die größte Rolle: »He never could get favour at Court, because he out witted all the projecters that came neere him.« 156 Ebenso wahrscheinlich ist, dass Petty, wie er selbst glaubte, im Zuge der Querelen um den Down Survey dem »private design of a very few persons« zum Opfer gefallen war, deren Ziel es war, ihn für die öffentliche Verwaltung zu diskreditieren.157 Wie auch immer – weil Petty sich in gewisser Weise selbst im Weg stand, konnte er seine hochfliegenden bevölkerungspolitischen und sozialreformatorischen Pläne nicht verwirklichen. Von ihm kann jedoch gesagt werden, dass er die Instrumente und Verfahren bereitgestellt hat, auf die sich die neue, bürokratische Beherrschung von Land und Leuten stützen sollte.

Vom Projekt zur Staatswissenschaft Auch nach Pettys Tod (1687) blieb die Politische Arithmetik eine Projektwissenschaft. Im Unterschied zu den mitteleuropäischen ›Statistikern‹ waren ihre Vertreter, wie Alain Desrosières schreibt, »keine Universitätstheoretiker, die eine globale und logische Beschreibung des Staates im Allgemeinen gaben, sondern Männer unterschiedlicher Herkunft, die sich im Laufe ihrer Tätigkeit ein praktisches Wissen zusammengeschmiedet hatten und dieses der ›Regierung‹ anboten«.158 152  Ebd., S. 172. 153  William Petty, »No. 29. A commission for the survey of the lands, people, trade &

revenues, in Ireland«, in: ders., The Petty Papers. Some Unpublished Writings of Sir William Petty, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, Bd. 1, Boston and New York, 1927, 98 – 102, S. 100. 154  Petty, »No. 30. A colloquium between A. B. C. concerning a new instrument of government [1682]«, S. 106. 155  Ebd., S. 107. 156  Evelyn, Memoirs of John Evelyn […] Comprising His Diary, from 1641 to 1705 – 6, S. 404. 157  Petty, Reflections upon some persons and things in Ireland, S. 83. 158  Alain Desrosières, Die Politik der großen Zahlen. Eine Geschichte der statistischen Denkweise (1993), Berlin, 2005, S. 28.

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Doch hatten die neuen »men of numbers«, wie sie genannt wurden,159 mehr Glück als Petty. Nach der Glorious Revolution von 1688 machten die Regierungen gerne von dem Angebot Gebrauch, durch eine genauere Analyse der Reichtumsquellen höhere Steuereinnahmen aus dem ›Body Politick‹ zu extrahieren. In den Händen von Charles Davenant und Gregory King, den wichtigsten Exponenten der zweiten Generation, wird die Politische Arithmetik zu dem Regierungsinstrument, von dem Graunt und Petty geträumt hatten. Davenant veröffentlicht 1698 eine Art Programmschrift, in der er »Political Arithmetick« definiert als »the Art of Reasoning, by Figures, upon Things relating to Government«.160 Hier handelt es sich erkennbar darum, die »Computing Faculty« 161 von dem Ruf der Projektemacherei zu befreien, die ihr zu Pettys Zeiten anhing und sie als eine seriöse Regierungskunst zu präsentieren. Davenant kritisiert Pettys Rechenfehler und voreilige Schlussfolgerungen, vor allem aber distanziert er sich von der offenen politischen Instrumentalisierung der Zahlen. Petty habe allzu oft Ergebnisse produziert, die dem König gefallen mussten – »for which Reason we have ground to suspect, he rather made his Court, than spoke his Mind«.162 Statt erratener oder geschönter Zahlen will die neue Politische Arithmetik »true knowledge« zur Verfügung stellen,163 ein Wissen, das der Politik nützt, gerade weil es nicht politisch gefärbt ist. Davenant weist darauf hin, dass für ›Political Computers‹ auch in technischer Hinsicht ganz neue Zeiten angebrochen waren. Waren Graunt und Petty noch auf Pfarrbücher, Bills of Mortality und lückenhafte Steuerhebungen angewiesen, so hatte inzwischen eine »variety of new taxes« für eine wesentlich breitere Datengrundlage gesorgt.164 Merkwürdigerweise hat die Geschichtsschreibung Davenants Verkündung eines epistemologischen Bruchs Glauben geschenkt und seine Zweiteilung übernommen: So wird Pettys politische Rechenkunst allgemein als die ideologische, vorwissenschaftliche Epoche der Politischen Arithmetik betrachtet, als eine Zeit des wilden Projektemachens, in der manipulierte Zahlen als Waffen im ideologischen Bürgerkrieg eingesetzt wurden. Die Politische Arithmetik habe hier keinen »neutral mode of economic analysis« gebildet, sie sei vielmehr als »part of an explicit political program« hervorgetreten.165 Insbesondere die weit ausgreifenden bevölkerungspolitischen Pläne Pettys zeigten, dass die Politische Arithmetik nicht als ökonomische Wissenschaft entstanden sei, sondern als »an 159  Vgl. z. B. Samuel Pepys, »Mr. Pepys to Mr. Newton, November 22, 1693«, in: ders.,

Memoirs of Samuel Pepys, Esq.,. Volume V. Correspondence, hg. v. Richard Lord Braybrooke, London, 1828, S. 193. 160  Davenant, Discourses on the Publick Revenues, and on the Trade of England, S. 2. 161  Ebd., S. 6. 162  Ebd. 163  Ebd., S. 10. 164  Ebd., S. 2. 165  McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 8.

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ambitious art of government by demographic manipulation«.166 Statt von »social science« müsse man eher von »social engineering« sprechen.167 Dagegen sei die Politische Arithmetik wenige Jahre nach Pettys Tod »almost beyond recognition« verändert gewesen: Ursprünglich entworfen als eine Weise, mit unvermeidlichem Konflikt und Streit umzugehen, gegründet auf die Annahme einer inhärent ungeordneten Gesellschaft, wurde die Politische Arithmetik in den frühen Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts in ein ziemlich andersartiges soziales, wissenschaftliches und religiöses Schema integriert. Sie wurde nun dazu gebraucht, um die Annahme von Ordnung und Stabilität sowohl in der Gesellschaft wie auch in der physischen Welt zu stützen.168

Der neuen Generation sei es gelungen, die Politische Arithmetik von ihren »peculiar and outdated political purposes« zu befreien und sie »as a putatively apolitical tool of quantitative analysis« neu zu erfinden.169 Anders als in Pettys »ambitious program of demographic manipulation« sei hier die »quantitative method of socio-economic analysis« konsequent verwirklicht worden. Den Anfang der modernen Sozialwissenschaften müsse man eher hier als bei Graunt und Petty sehen.170 Ein Zug zur Verwissenschaftlichung wird auch darin gesehen, dass die Interessen von staatlicher Arkanpolitik und Politischer Arithmetik auseinanderzulaufen begannen. Tatsächlich waren die »men of numbers« darauf angewiesen, ihre Daten öffentlich zu machen und auszutauschen. Dem stand die »Tendenz der Regierungen« entgegen, statistische Informationen wegen ihres möglichen militärischen Werts als »highly classified« zu behandeln.171 Andererseits war auch die Loyalität der frühen Statistiker geteilt: An neuen Steuerprojekten interessierte sie häufig nicht der mögliche finanzielle Gewinn für die Krone, sondern allein die Ausbeute an neuen Bevölkerungsdaten. Die politischen Arithmetiker bewiesen einen wissenschaftlichen Datenhunger und einen Willen zur Systematisierung, der durch die trägen staatlichen Maßnahmen nicht befriedigt werden konnte. Auch wenn es wohl keine »statisticians’ conspiracy« 172 gegeben hat, konnte zu166  Ebd., S. 10. 167  Ebd., S. 206. 168  Peter Buck, »Seventeenth-century Political Arithmetic. Civil strife and vital statistics«,

Isis, Jg. 68, N° 1, 1977, 67 – 84, S. 83.

169  McCormick, »Transmutation, inclusion, and exclusion«, S. 271. 170  Ebd., S. 268. 171  Paul F. Lazarsfeld, »Notes on the history of quantification in sociology. Trends, sources

and problems«, Isis, Jg. 52, N° 2, 1961, 277 – 333, S. 279.

172  Colin Brooks, »Projecting, Political Arithmetic and the act of 1695«, The English His-

torical Review, Jg. 97, N° 382, 1982, 31 – 53, S. 53.

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mindest der Eindruck entstehen, dass manche Steuerprojekte nur wegen der zu gewinnenden Daten unternommen wurden. Doch sollte der Interessenkonflikt zwischen den zählenden Gentlemen und dem Staat nicht überbewertet werden. Auch die neue Politische Arithmetik verstand sich nicht als zweckfreie Sozialforschung, sondern als Regierungswissenschaft. Charles Davenant benannte ganz klar den politischen Nutzen, dem sie ihre Existenz verdankte: For without doubt, it must very much help any Ruler to understand fully that Strength which he is to guide and direct; since he may thereby know how many are fit for War, what Hands support the Common-wealth by their Labour and Industry, and what sort of Men are Idle and Useless in it.173

Wenn die Politische Arithmetik in der Zeit von der Glorious Revolution (1688/89) bis zum Tod von Queen Anne (1714) ihre höchste Blüte erlebte, dann vor allem deshalb, weil sie sich umstandslos in den Dienst des »Militärischen Fiskalstaats« stellte,174 einer Staatsbürokratie, der es vor allem darauf ankam, laufend waffenfähige Männer und Geld für die Kriege gegen Frankreich zu mobilisieren. Die Arbeit von Leuten wie Charles Davenant oder Gregory King folgte dem Imperativ, die Kriegsfähigkeit des Landes zu erkunden und die nötigen Ressourcen für die Feldzüge auf dem Kontinent bereit zu stellen.175 Unter diesem Vorzeichen blieben Zählungen zunächst der Logik des Projekts verhaftet. Sie dienten meist dazu, kurzfristig möglichst viel Geld aufzutreiben. War die Steuer dann eingenommen, neigte die Regierung dazu, die Sache zu vergessen und eine neue Zählung erst dann in Gang zu setzen, wenn sie wieder Geld brauchte. Die Politischen Arithmetiker drängten dagegen zu längerfristigen Überlegungen. Ihre Zahlen sollten nicht nur einem ad-hoc-Interesse dienen, sondern eine vorausschauende Politik und langfristige Planung ermöglichen. Statt in einer akuten Situation zu fragen, wie auf die Schnelle möglichst viele Soldaten rekrutiert werden können, sollten sich die Regierungen besser Gedanken darüber machen, wie dauerhaft mehr Soldaten für das Land erzeugt werden konnten, beispielsweise durch eine Senkung der Kindersterblichkeit.176 Statt sich bei jeder neuen Steuereintreibung von dem tatsächlichen Ertrag überraschen zu lassen, sollte man lieber eine laufende Buchhaltung einführen, die es erlauben würde, zukünftige Steuereinnahmen vorauszu-

173  Davenant, Discourses on the Publick Revenues, and on the Trade of England, S. 18. 174  Slack, »Government and information in seventeenth-century England«, S. 36. Vgl. Mi-

chael J. Braddick, State formation in early modern England, c. 1550 – 1700, Cambridge England, New York, 2000, S. 177 – 285. 175  Vgl. Slack, »Government and information in seventeenth-century England«, S. 63. 176  Vgl. Hoppit, »Political Arithmetic in eighteenth-century England«, S. 528.

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sehen.177 Mit solchen Argumenten arbeiteten die Politischen Arithmetiker darauf hin, überfallartige Zählungsprojekte durch laufende Datenerfassung zu ersetzen. So liegt der eigentliche Unterschied zwischen der alten und der neuen Politischen Arithmetik nicht darin, dass die zweite ›wissenschaftlicher‹ oder weniger ›politisch‹ wäre als die erste. Er liegt eher in der Verstetigung und Konsolidierung der Zählungen. Sobald die Datenerfassung regelmäßig und unterbrechungsfrei funktionierte, bekam sie selbst etwas Staatsförmiges: Pettys vagabundierende Projektwissenschaft verwandelte sich in eine kontinuierliche Staatsbuchhaltung, in Statistik. Allerdings waren dieser Tendenz zur Verstaatlichung der Politischen Arithmetik auch Grenzen gesetzt. So flaute Anfang des 18. Jahrhunderts, mit der sog. ›Finanziellen Revolution‹, das Interesse an Volkszählungen wieder ab. Die Steuereintreibung erschien als ein mühsames Geschäft – sehr viel schneller konnte der Staat sich das Geld auf dem Kapitalmarkt besorgen. Nach 1702 wurden daher nur noch wenige »Versuche zur Berechnung der Bevölkerung der Nation« unternommen.178

Der Klassenbegriff der Politischen Arithmetik Die Politische Arithmetik lässt sich als ein Projekt zur klassifikatorischen Neuordnung der Gesellschaft begreifen. Dazu bedürfte es nicht unbedingt des Begriffs der Klasse. Doch ist es wohl kein Zufall, dass dieser Begriff, der gerade erst aus einem tausendjährigen Schlaf erwacht war, im Kontext der Politischen Arithmetik sein Revival als sozialer Einteilungsbegriff erlebt. Petty selbst verwendet ihn gelegentlich, alternierend mit anderen »terms of number« wie »›sort‹, ›branch‹, ›degree‹, ›estate‹ und ›condition‹«.179 Wenn er das Wort ›class‹ oder ›classis‹ einsetzt, so geht aus dem Kontext meist hervor, dass es sich um die Einordnung in eine Vermögens- und Steuerklasse handelt, nicht um die Formulierung eines allgemeinen gesellschaftlichen Einteilungsprinzips.180 Es scheint, als sollte nicht gleich offenbar werden, worauf das Prinzip einer Klassifizierung nach Wertkriterien hinauslief. So findet sich in Pettys Vorschlägen zur Steuerreform meist ein Nebeneinander von neuen und alten Einteilungsformen. Zuerst werden die Untertanen ganz traditionell nach Ständen aufgeführt, dann wird innerhalb der Stände nach Einkommen differenziert. Die doppelte Gliederung spiegelt sich in einer entsprechend zweideutigen Terminologie. Die Formulierung »Order or Classes« 181 erlaubt es, das neue Einteilungskriterium ins Spiel zu bringen, ohne damit die alte Ordnung frontal anzugreifen. Vgl. Brooks, »Projecting, Political Arithmetic and the act of 1695«, S. 35. Ebd. Vgl. Walther, »Stand, Klasse [Abschnitte VIII -XVI ]«, S. 220. Vgl. z. B. Petty, »The political anatomy of Ireland«, S. 163. William Petty, »No. 54. Of a Poll Bill. 1685«, in: ders., The Petty Papers. Some Unpublished Writings of Sir William Petty, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, Bd. 1, 177  178  179  180  181 

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Ein von Petty häufig verwendeter Ausweichbegriff ist »sort of«, ein Ausdruck, der im 17. Jahrhundert eingesetzt wurde, um Unterscheidungen zu bezeichnen, die auf einen willkürlichen, äußerlichen Einteilungsakt (eine »Sortierung«) zurückgingen. Wie Keith Wrightson hervorgehoben hat, stand die Rede von »sorts of men« dem späteren sozialen Klassenbegriff vor allem durch den polemischen Einsatz der Unterscheidung nahe: »Unlike the vocabulary of degrees, it was a language pregnant with conflict, aligning the ›richer‹ against the ›poorer‹, the ›better‹ against the ›meaner‹, ›vulgar‹, ›common‹, ›ruder‹, or ›inferior‹ sorts.« 182 So lässt sich sagen, dass die »language of ›sorts‹« der späteren »language of class« den Weg gebahnt hat:183 Man konnte das neue Prinzip der ökonomischen Einteilung des Sozialen in den Diskurs einführen, ohne den Klassenbegriff verwenden zu müssen, der allzu stark mit der Vorstellung einer ›republikanischen‹ Infragestellung des monarchischen Systems verbunden war. Allerdings finden sich auch bei Petty Momente, in denen der Klassenbegriff unverhüllt benutzt wird, in denen das neue Prinzip der ökonomischen Klassifizierung unmittelbar dem Namen Klasse zusammenfällt. In einer bemerkenswerten Formulierung spricht Petty vom Geld als einem Medium der Auflösung bestehender sozialer Grenzen. Münzen kennen keine Standesschranken – »They pass freely from hand to hand among all classes.« 184 In der Politischen Arithmetik der zweiten Generation setzt sich die Karriere des Klassenbegriffs fort. Bei dem Statistiker Gregory King wird das Kunstwort ›class‹ im Sinn einer willkürlichen Neuaufteilung gebraucht, als ein Begriff, der nicht vorgibt, sich auf eine in der Gesellschaft gegebene Wirklichkeit zu beziehen, sondern sich vielmehr als Ergebnis einer Operation der Klassifizierung zu erkennen gibt: »I distributed my people into classes, I proportioned their food and raiment and other expenses, I considered how this answered the general product of the land.« 185 In einem ähnlichen Sinn wird in der Steuergesetzgebung von ›classes‹ gesprochen: als Einheiten, die durch den Vorgang der Taxierung bzw. Klassierung erzeugt werden. Dies ist übrigens eine Entwicklung, die sich parallel auch in Frankreich, und zwar mit einem leichten zeitlichen Vorsprung vollzieht: Die in den 1660er Jahren eingeführte Besteuerung nach Einkommensklassen beschränkt sich dort anfangs noch auf den Dritten Stand, wird aber schon Anfang der 1670er Jahre auf alle

Boston and New York, 1927, 182 – 184, S. 184.

182  Wrightson, »Estates, degrees, and sorts«, S. 47. 183  Ebd., S. 45. 184  William Petty, Sir William Petty his Quantulumcunque concerning money. To the Lord

Marquess of Halyfax, anno 1682, London, 1695, S. 158.

185  Gregory King, »Natural and Political Observations upon the State and Condition

of England« (1697), in: Joan Thirsk und J. P. Cooper (Hg.), Seventeenth-century economic documents, Oxford, 1972, 790 – 798, S. 795.

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Steuerpflichtigen angewendet.186 In der allgemeinen »capitation« (Kopfsteuer) von 1695 wurde schließlich »die Gesamtheit der französischen Nation nach ihrem Reichtum oder mutmaßlichen Einkommen in zweiundzwanzig Klassen eingeteilt«.187 Die Ausdrucksweise der Steuereintreiber übertrug sich auch auf den alltäglichen Diskurs: So wird 1681 in einer Reisebeschreibung gesagt, das »Peuple François« sei »distingué en trois classes, & chaque classe en trois ordres«.188 In diesem Zusammenhang ist auch von den »classes du tiers Estat« die Rede: Sie seien zwar nicht so wohlhabend wie die der Kirche und nicht so kriegerisch wie die des Adels, dafür aber zahlenmäßig umso beträchtlicher.189 Im Unterschied zur französischen ›capitation‹ hält die englische ›Poll-Tax‹ von 1695 an der doppelten Redeweise von »ranks and classes« bzw. »Classes and Ranks« fest.190 Auch der politische Arithmetiker Charles Davenant verwendet durchgehend dieses Begriffspaar.191 Es lässt sich jedoch eine allmähliche Umkehrung des Verhältnisses von Rang und Klasse beobachten: Während zunächst noch der Rang darüber entscheidet, in welche Klasse ein Individuum eingeordnet wird, wird zunehmend die (Einkommens-)Klasse zum Kriterium für die Bemessung des Rangs. Es war wohl gerade die ›Armut‹ des Klassenbegriffs, die Tatsache, dass er nicht, wie der Standesbegriff, »with a wealth of meaning« ausgestattet war,192 die es ihm gestattet hat, als gesellschaftlicher Transformationsbegriff wirksam zu werden. ›Klasse‹ wurde nicht mit den komplizierten Gliederungen der traditionellen Gesellschaft in Verbindung gebracht; das Wort stand für die Möglichkeit einer einfachen, nach objektiven Kriterien vorzunehmenden Neueinteilung, die die althergebrachten Ortzuweisungen genauso wenig respektieren musste wie die Naturwissenschaftler, die zur gleichen Zeit, ebenfalls mit Hilfe des Klassenbegriffs, das Reich der Natur neu ordneten. Bereits Rudolf Herrnstadt hat darauf hingewiesen, dass der Begriff Stand – »wie sich schon aus dem Wort ergibt« – auf »etwas Vertikales« verwies, während der Begriff der Klasse die Idee einer horizontalen Anordnung hervorrief.193 Die Tableaus der Naturgeschichte gaben ein anschauliches Beispiel dafür, dass die verschiedenen Arten nicht – wie im 186  Vgl. Clouatre, »The concept of class in French culture prior to the Revolution«, S. 230. 187  Ebd. 188  Louis Du May, Le Prudent Voyageur: Contenant La Description Politique de tous les Etats

du Monde, Genève, 1681, S. 175.

189  Ebd., S. 178. 190  Vgl. »Act for Pole-Money. June 27, 1695«, in: The Laws and Acts Made in the Fifth Session

of the First Parliament […]. Holden at Edinburgh the Ninth day of May 1695, Edinburgh, 1695, 414 – 418, S. 417. 191  Vgl. Davenant, Discourses on the Publick Revenues, and on the Trade of England, S. 16; ebd., S. 18 – 19; Davenant, An Essay upon the Probable Methods of Making a People Gainers in the Balance of Trade, S. 13. 192  Wallech, »›Class versus rank‹«, S. 410. 193  Herrnstadt, Die Entdeckung der Klassen, S. 105.

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Modell der Great Chain of Being – räumlich untereinander angeordnet werden mussten. Sie konnten auch nebeneinander Platz finden. Zugleich transportierte der Begriff der Klasse die Idee einer laufenden Veränderbarkeit von Ordnung. Während Begriffe wie ›order‹, ›rank‹ oder ›degree‹ auf eine stabile gesellschaftliche Hierarchie verwiesen, in der alles an seinem Platz blieb, konnte mit dem Begriff der Klasse nicht nur die Idee einer Neuaufteilung, sondern auch die eines Kampfes um diese Teilung aufkommen.

Die Ideologie der Ideologiefreiheit In seiner Einschätzung der Politischen Arithmetik unterscheidet der Petty-Biograph Ted McCormick in einer geradezu klassischen Weise zwischen Werkzeug und Gebrauch: Die Politische Arithmetik, jedenfalls in der verwissenschaftlichten Form, die sie nach 1688 angenommen habe, sei zweifellos ein mächtiges Instrument zur Setzung sozialer Unterscheidungen gewesen. Welche Unterscheidungen getroffen wurden und welche Ziele damit verfolgt wurden, sei damit jedoch nicht vorgegeben gewesen: Sie war ein wesentliches Werkzeug des Einschlusses und Ausschlusses, sowohl in politischer, ökonomischer, als auch in sozialer Hinsicht. Denn sie entschied in jedem gegebenen Moment darüber, wer und wieviele in welche Kategorie fielen. Aber sie war nicht mehr als ein Werkzeug. Sie brachte weder die Fragen hervor, die sie beantwortete, noch entschied sie, wie die Antworten gebraucht werden sollten. Sie war, um noch einmal Davenant zu zitieren, eine ›Method of Reasoning‹, kein politisches Programm.194

Es stimmt, dass King und Davenant, anders als Petty, die Politische Arithmetik nicht mehr unmittelbar sozialchirurgischen Zwecken unterstellten. Dennoch lässt sich auch im Hinblick auf die erneuerte Politische Arithmetik nicht von einem neutralen Werkzeug sprechen, dessen politischer Charakter sich allenfalls aus den guten oder schlechten Absichten seiner Anwender ergeben hätte. Wie jedes andere Dispositiv der Erkenntnis hatte auch die Politische Arithmetik ihre ›eingebaute‹ Ideologie, der jeder, der sie benutzte, folgen musste, auch wenn er sich dessen nicht bewusst war. Die bis heute fortwirkende ›ideologische‹ Erbschaft der Politischen Arithmetik lässt sich unter drei Aspekten zusammenfassen: erstens der Anschein der politischen Neutralität, zweitens die Unterstellung der quantitativen Erfassbarkeit des Sozialen, drittens die Neuformatierung der Gesellschaft als Klassengesellschaft. Erstens: ›Ideologisch‹ war die Politische Arithmetik schon dadurch, dass sie sich als ›unideologisch‹ präsentierte. Sie funktionierte als politisches Instrument, ge194  McCormick, »Transmutation, inclusion, and exclusion«, S. 260.

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rade weil sie sich als unpolitisch beschrieb, weil sie sich als unantastbare, ›objektive‹ Beschreibung des Sozialen ausgab, weil sie nicht im Gewand der menschlichen Geschichte, sondern als ›natural history‹ auftrat.195 Die neue Klassifikation des Sozialen, die sie vornahm, sollte nichts von der Willkür der alten Einteilungen haben, sie sollte sich vielmehr mit geradezu naturgesetzlicher Notwendigkeit aus den numerisch bestimmten Eigenschaften der einzelnen Elemente des Body Politick ergeben. Die Quantifizierung enthielt das Versprechen eines Wissens, das frei sein sollte von den »distorting effects of controversy and conflict«; sie eröffnete die Aussicht auf eine bis dahin nicht gekannte »social harmony«, die sich auf die gemeinsame Anerkennung ihrer objektiven, wissenschaftlichen Erklärungsprinzipien gründete.196 Zum ersten Mal schien eine Regierung möglich zu sein, die von niemandem bestritten werden konnte, weil sie nicht den Interessen einer einzelnen Fraktion, sondern dem objektiven, auf Zahlen gestützten Urteil der Wissenschaft entsprach. Auch wenn dieses Versprechen der sozialen Harmonie sich nicht verwirklicht hat, in der Geschichte der Herrschaftsgefüge markiert die Politische Arithmetik dennoch einen wesentlichen Einschnitt. Sie steht für den Übergang zu einer Herrschaft, die sich nicht mehr als solche zu erkennen gibt, die sich als Verwaltung verkleidet. Zweitens: William Petty hatte versucht, die numerische Repräsentation als die allein gültige, weil unparteiische Abbildung des Sozialen zu etablieren.197 Als wirklich sollte nur gelten, was »definite, empirical meaning« hatte und »capable of strict quantitative expression« war.198 Petty begründete damit eine gewisse Tradition der quantitativen Sozialforschung, für die, in den Worten von Bourdieu, »ein Objekt, das mit den verfügbaren Techniken nicht erfasst oder gemessen werden kann, keine wissenschaftliche Existenz besitzt«.199 Wie in den Anfängen der Politischen Arithmetik noch deutlich erkennbar war, stellt die Utopie einer in Zahlenverhältnisse gebrachten Gesellschaft sehr wohl ein politisches Programm dar. Graunt und Petty betrachteten die Mathematik nicht als ein neutrales Mittel zur Darstellung von Ordnung, sie begriffen sie als Mittel zu ihrer Fabrikation.200 Wenn dieses Mittel allein nicht funktionierte, so war es die Aufgabe des Staates, ein wenig nachzuhelfen und die Dinge in eine der Mathematik entsprechende Ordnung zu bringen. So gibt Petty in der Political Arithmetic zu, dass seine Zahlen bei dem verfügbaren Stand der Technik nicht immer »true, certain, and evident«

McCormick, William Petty and the ambitions of Political Arithmetic, S. 125. Vgl. Buck, »Seventeenth-century Political Arithmetic«, S. 67. Poovey, A history of the modern fact, S. 124. Aspromourgos, On the origins of classical economics, S. 59. Pierre Bourdieu, J. C. Chamboredon u. Jean Claude Passeron, The craft of sociology. Epistemological preliminaries (1968), Berlin, New York, 1991, S. 48. 200  Vgl. Buck, »Seventeenth-century Political Arithmetic«, S. 67.

195  196  197  198  199 

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sein könnten. Aber er merkt an: »Yet [they] may be made so by the Sovereign Power«.201 Auch für die Politischen Arithmetiker der zweiten Generation ging es nicht einfach darum, die Gesellschaft in Zahlen zu beschreiben. Es handelte sich ebenso darum, eine Gesellschaft hervorzubringen, die sich in Zahlen erfassen ließ. Zweifellos sah das wissenschaftliche Ethos vor, dass die Erkenntnis sich nach dem Objekt richtete – dies schloss aber nicht aus, dass man die Dinge und Menschen so versammelte, anordnete, aufstellte und gruppierte, dass sie sich leichter zählen und einteilen ließen. Pettys Empfehlung, die Bevölkerung dicht zu konzentrieren, verriet auch das Eigeninteresse des Volkszählers: Es war einfacher, »to gather information and collect taxes«,202 wenn die Menschen nicht über ein riesiges Areal verstreut waren. Grundsätzlich begrüßten die Politischen Arithmetiker jede staatliche Maßnahme, die die Zählung der Menschen und Dinge erleichterte. Dazu gehörte insbesondere die Standardisierung der Maße und Gewichte, die im 17. und 18. Jahrhundert gegen vielfältige lokale Widerstände vorangetrieben wurde. Zugleich musste der Umgang mit Zahlen rationalisiert und von religiösen Tabus und abergläubischen Praktiken gereinigt werden.203 Am liebsten wäre es den Men of Numbers gewesen, wenn die öffentlichen Behörden bei der Errichtung ihrer Institutionen den Imperativ der Zählung stets mitberücksichtigt hätten. Eines von Pettys Projekten war der Plan für eine Mauer um London: Sie sollte u. a. dazu dienen »To dennote the Citty of London« (eine eher anachronistische symbolische Funktion) und »To encrease the value of enclosed lands« (eine aktuelle ökonomische Funktion). Sie sollte aber auch – und das dürfte Petty am meisten interessiert haben – die Aufgabe haben, »To take an accompt of all persons and things going in and out of the Citty«.204 Ein solches Zähldispositiv hätte nicht nur den Vorteil gehabt, dass man die Leute nicht aufsuchen musste, um sie zu zählen (denn sie hätten sich selbst gezählt). Es hätte sich damit zugleich der Traum verwirklich, die Bevölkerung nicht nur als stillgestellten, toten Körper auf dem Seziertisch vor sich zu haben, sondern sie in Aktion, in ihren Bewegungen und Transaktionen zu erfassen. Wie Nicolas Rose bemerkt hat, lässt sich der Aufstieg der Zahlen im gesellschaftlichen Leben unterschiedlich bewerten. Grob gesagt, gebe es »a benign American history and a less optimistic European history«.205 Nach der amerikanischen 201  Petty, »Political Arithmetick«, S. 244. 202  Poovey, »The social constitution of ›class‹«, S. 27. 203  Vgl. Keith Thomas, »Numeracy in early modern England. The Prothero lecture«, Trans-

actions of the Royal Historical Society, Jg. 37, 1987, 103 – 132. 204  William Petty, »No. 11. London Wall«, in: ders., The Petty Papers. Some Unpublished Writings of Sir William Petty, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, Bd. 1, Boston and New York, 1927, 32 – 33, S. 32. 205  Nikolas Rose, Powers of freedom. Reframing political thought, Cambridge, 2008, S. 203.

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Variante bildet die numerische Erfassung der Gesellschaft eine unentbehrliche Voraussetzung für die Einrichtung demokratischer Abstimmungsverhältnisse und Entscheidungsprozeduren. Zugleich trägt sie dazu bei, Herrschaft ›objektiver‹, d. h. weniger willkürlich zu machen. So erklärt beispielsweise der in Princeton lehrende Soziologe Paul Starr: Eine statistische Regel ist eine Vorkehrung, um Entscheidungen unpersönlich zu machen oder sie wenigstens so erscheinen zu lassen. […] Wie unvollendet sie auch sein mag, eine gesetzliche Regel tendiert dazu, den Gebrauch von Macht einzuschränken und erweitert dabei die Freiheit. Statistische Systeme helfen dabei, ähnliche Zwecke zu erreichen, und können so, trotz ihrer Unvollkommenheiten, ebenfalls zu unserer Freiheit beitragen.206

In der kulturkritischen, ›europäischen‹ (bzw. ›kanadischen‹) Perspektive erscheint die Statistik in einem weniger milden Licht, nämlich als unverzichtbares Mittel einer anonymisierten, bürokratischen Herrschaft, die auf die Nivellierung und Gleichrichtung des gesellschaftlichen Lebens zielt. Die ihr zugeschriebene Neu­ tralität verdeckt nur ihre Komplizenschaft mit dem Unternehmen der Normalisierung. So hat Ian Hacking darauf hingewiesen, dass das Aufkommen eines Begriffs wie ›normal people‹ nur vor dem Hintergrund der langfristigen Gewöhnung an statistische Erfassung zu verstehen ist: Leute sind normal, wenn sie der zentralen Tendenz solcher Gesetze entsprechen, während die an den Extremen pathologisch sind. Wenige von uns wollen als pathologisch gelten, daher versuchen ›die meisten von uns‹ sich normal zu machen, was sich wiederum darauf auswirkt, was normal ist.207

Ein Hinweis auf den generellen Zusammenhang von numerischer Ideologie und gesellschaftlicher Normalisierung lässt sich bei Rüdiger Campe finden. Die Zählung enthält von Anfang an eine Tendenz zur Mäßigung, zur »moderatio«: Etwas zählbar zu machen heißt, es in die »Grenzen des Erfaß- und Meßbaren« zu bringen. Es bedeutet aber auch, es im politischen Sinn zu ›moderieren‹, es zu mäßigen, es regierbar zu machen.208 So stellt die zählbare Wirklichkeit eine normalisierte und gemäßigte Wirklichkeit dar. Sie erlaubt quantitative Ungeheuerlichkeiten, das Riesengroße oder Planetarische, aber sie schließt jeden Gedanken an ein Unermessliches, an nicht Mess- und Zählbares aus – nicht nur jeden Gedanken an eine Transzendenz, sondern auch jede Vorstellung einer 206  Paul Starr, »The Sociology of Official Statistics«, in: William Alonso und Paul Starr (Hg.), The politics of numbers, New York, 1989, 7 – 57, S. 56 – 57. 207  Hacking, The taming of chance, S. 2. 208  Vgl. Campe, »Was heißt: eine Statistik lesen?«, S. 534.

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anderen, nicht bezifferbaren Wirklichkeit. Eine Demokratie im Zahlenformat ist daher eine von vorneherein beschränkte, gezähmte, um ihr mögliches Anderssein gebrachte Demokratie. Drittens: Hinter dem Programm der Politischen Arithmetik stand – über die pragmatischen Ziele, die damit verfolgt wurden, hinaus – die Utopie einer gesellschaftlichen Neuordnung: Petty und seine Nachfolger teilten die Vision einer neuen, weniger willkürlichen, vielmehr an objektiven, messbaren Verdiensten orientierten sozialen Hierarchie. Das wichtigste Kriterium, das über den sozialen Ort eines Individuums entschied, sollte »the individual’s relationship to economic productivity« sein.209 Damit dies geschehen konnte, musste erst einmal tabula rasa gemacht werden, mussten die alten, überkommenen Differenzen ausgelöscht werden. Entsprechend arbeitete Petty an der Diskreditierung aller traditionellen Unterscheidungen des Glaubens, der Kultur, der Sprache oder der politischen Gefolgschaft. Diese Formen der subjektiven Identifizierung, die seiner Zeit so wichtig waren, rechnete er dem Bereich der Stimmungen und Meinungen zu, dem, was er als »Perverseness and Humor« der Menschen bezeichnete.210 Je weniger die Leute sich tatsächlich von den anderen unterschieden, desto wütender behaupteten sie ihre Differenz und Eigenheit: ein Fanatismus der kleinen Differenzen, den Petty auch dadurch subvertierte, dass er nahezu beliebig zwischen den Identifizierungen hin- und hersprang. Als hervorstechendste persönliche Eigenschaft hoben Pettys Freunde seine mimetische Begabung hervor, die er selbst als »Art of Ridiculing« bezeichnete:211 Sir William […] had such a faculty of imitating others, that he would take a text and preach, now like a grave orthodox divine, then falling into the Presbyterian way, then to the phanatical, the quaker, the monk and frier, the Popish priest, with such admirable action, and alteration of voice and tone, as it was not possible to abstain from wonder, and one would sweare to heare severall persons.212

Ein solcher, wenn man so will, ›identitätskritischer‹ Zug findet sich auch im Programm der Politischen Arithmetik, insofern es dieser darum geht, die alten, für den gesellschaftlichen Unfrieden verantwortlichen Differenzen »politically meaningless« zu machen, die »coherence of these categories themselves« zu unter-

209  Poovey, »The social constitution of ›class‹«, S. 28. 210  William Petty, »A Treatise of Ireland, 1687«, in: ders., The Economic writings of Sir William

Petty, Vol. 2. Together with the Observations upon the bills of mortality more probably by Captain John Graunt, hg. v. Charles Henry Hull, Cambridge, 1899, 545 – 621, S. 576. 211  Vgl. William Petty, »107. Petty to Southwell. Pickadilly, 4° May 1686«, in: ders. u. Robert Southwell, The Petty-Southwell correspondence, 1676 – 1687, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, London, 1928, 191 – 193, S. 193. 212  Evelyn, Memoirs of John Evelyn […] Comprising His Diary, from 1641 to 1705 – 6, S. 403 – 404.

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minieren.213 Eine solche Arbeit der Destruktion geschah natürlich vor allem im Hinblick darauf, ungehindert das neue Sortierkriterium des Werts durchsetzen zu können. Die Vergleichbarkeit nach quantitativen Maßstäben setzte voraus, dass die qualitativen Unterschiede eingeebnet wurden, dass die Schranken, die den Übertritt von einer Kategorie in die andere verwehrten, niedergerissen wurden. Es hat zunächst den Anschein, als würde Pettys Monotheismus des Werts alle bisher verpflichtenden Differenzierungen aus der Betrachtung ausschließen, so dass es letztlich gleichgültig wäre, ob ein ökonomisch erfolgreiches Individuum als Engländer oder Ire, als Protestant oder Katholik, als Mann oder Frau, als Europäer oder Afrikaner geboren ist. Wie Mary Poovey unterstrichen hat, trifft dies nicht zu. Der Imperativ der ökonomischen Optimierung »erforderte die Anerkennung mindestens einer Form der Differenz, deren Modus der Produktivität sich nicht mit der Art von Rationalität vertrug, die mit Quantifizierung einherging. Dies war der Unterschied des Geschlechts«.214 Was das Geschlecht anging, so folgte Petty den traditionellen Unterscheidungen: Seine bevölkerungspolitischen Pläne reduzierten den Anteil der Frauen auf die Funktion der Reproduktion von Bevölkerung. Es gibt jedoch noch eine weitere, aus quantitativ-ökonomischen Gesichtspunkten nicht zu rechtfertigende Unterscheidung, an der Petty festhielt, oder die er, genauer gesagt, neu erfand. Der Beginn einer taxonomischen Klassifizierung von Menschen nach ›Rassen‹ (und damit die Geburt des wissenschaftlichen Rassismus) wird gewöhnlich in dem 1684 veröffentlichten Buch Nouvelle division de la terre par les différentes espèces ou races des Arzts und Gelehrten François Bernier verortet. Jedoch hatte Petty bereits einige Jahre zuvor, 1677, das System einer »Scale of Creatures« entworfen. Dort wurden verschiedene »Races and generations« unterschieden und in eine Rangordnung gebracht, die von »Middle Europeans« bis zu »the Most beastlike of all the [Sorts] of Men« reichte.215 Der Imperativ der rationalen Klassifizierung verhinderte also keineswegs, dass bestimmte alte, willkürliche Einteilungen (wie die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung) beibehalten wurden. Er führte zugleich dazu, dass neue, ebenso willkürliche Unterscheidungen (wie die der ›Rasse‹) eingeführt wurden, die umso schwerer zu bestreiten waren, als sie sich den Anschein der wissenschaftlichen, objektiven Feststellung gaben. Auch die Politische Arithmetik der zweiten Generation, die unter William und Mary zur Staatswissenschaft aufrückte, hielt, wie McCormick bemerkt hat, an der Phantasie der tabula rasa, des radikalen Neuanfangs fest: Ihr grundlegendes Versprechen war, »die Regierung zu vereinfachen, indem Geschichte ausgelöscht wurde: All diese Kategorien, die verworrenen Geschichten dahinter und die Ausschlussmaßnahmen, die durch solche Geschichten rechtfertigt wurden, sollten 213  McCormick, »Transmutation, inclusion, and exclusion«, S. 260. 214  Poovey, »The social constitution of ›class‹«, S. 30. 215  Petty, »No. 87. The Scale of Creatures [1677]«, S. 31.

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zum Verschwinden gebracht werden.« 216 Ähnlich wie die naturwissenschaftlichen Klassifikationsprojekte zielte die Politische Arithmetik auf eine Neufassung ihres Gegenstands, die alle bisherigen Beschreibungs- und Ordnungsversuche obsolet machte. Sie erstellte ein Bild der Gesellschaft wie sie wirklich war: ein Bild, das sich ergab, wenn man von den oberflächlichen und historisch kontingenten Fraktionierungen absah und nur die messbaren Tatsachen der ökonomischen Leistung betrachtete. Insofern bildete »das frühe klassifikatorische Denken eine polemische Alternative zu dem Paradigma, mit dem soziale Teilungen in dieser Periode am häufigsten in Begriffe gefasst wurden, ein Paradigma, das religiöse und politische Zugehörigkeiten betonte«.217 So beginnt die Herrschaft der Klassenideologie mit der Durchsetzung eines neuen Bildes vom Body Politick: Es waren die von der Politischen Arithmetik betriebenen Klassifizierungen, die zum ersten Mal die Evidenz einer nach ökonomischen (d. h. ›objektiven‹) Kriterien strukturierten, in Klassen geteilten (und nicht mehr nach Ständen geordneten) Gesellschaft hervorbrachten. Dieser Aspekt der Sichtbarmachung wird vor allem in den Schriften von Charles Davenant immer wieder betont: Die Politische Arithmetik ließ ein England sichtbar werden, wie man es zuvor noch nicht kannte – und das sich auch nicht so einfach erfahren ließ, da die Wahrnehmung einer in Klassen geteilten Gesellschaft auf einer wissenschaftlichen Abstraktion beruhte. Wie Davenant betont, sind es die Zählungen, die tabellarischen Vergleiche und Unterscheidungen, durch die wir die Klassen sehen können: [F]rom those Books [the Poll-Tax Registers] we may not only see the number, but divide the People into such proper Classes and Ranks, as may in a manner show the Wealth and Substance of the whole Kingdom. […]. The Distinctions […] are a very great Light into the different Classes of the People.218

Mit solchen Unterscheidungen wollte die Politische Arithmetik nicht nur eine ›wahrere‹ Abbildung des Sozialen geben. In dem Maß, in dem sie eine neue Darstellungsweise von Gesellschaft präsentierte, betrieb sie zugleich deren Neustrukturierung. Die neue Beschreibung schuf eine neue Fassung des politischen Körpers. Den Protagonisten des Projekts musste dies nicht unbedingt bewusst sein. Gregory King, neben Davenant der wichtigste Protagonist der zweiten Generation der Politischen Arithmetik, hatte zweifellos eher konservative politische Impulse. Seiner Vorstellung nach »sollte das alte England wiederhergestellt werden. Die gesellschaftliche Ordnung musste stabilisiert, wenn nicht sogar

216  McCormick, »Transmutation, inclusion, and exclusion«, S. 268. 217  Poovey, »The social constitution of ›class‹«, S. 18. 218  Davenant, Discourses on the Publick Revenues, and on the Trade of England, S. 16.

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›eingefroren‹ werden«.219 Noch 1688 findet sich bei King eine Tabelle, die schlicht die alten Einteilungen reproduziert, indem sie »26 ›Ranks, Degrees, Titles and Qualifications‹ in einer Reichweite von ›Temporal Lords‹ bis hin zu ›Vagrants‹« unterscheidet.220 Indem King die ständische Rangordnung jedoch durch Wertkriterien ergänzte, trug auch er zur Unterminierung der alten Ordnung bei. Seine späteren Tabellenwerke lieferten eine »Rangfolge der sozialen Ordnung, die den Bezug zu den wirtschaftlichen Verhältnissen mit einem System der Wertschätzung« verband.221 Die gesellschaftliche Stellung wurde nun nicht mehr allein nach Ansehen und ostentativem Konsum beurteilt, sondern auch nach Einkommen und Produktivität sortiert. Entscheidend ist aber vor allem, dass Gregory King die von Petty getroffene Unterscheidung von produktiven und unproduktiven Menschen aufgriff; dies ist der Moment, in dem bei ihm der Begriff der Klasse eine operative Funktion bekommt: Mr. King divides the whole Body of the People, into two Principal Classes, viz. Increasing the Wealth of the Kingdom — 2,675,520 Heads, Decreasing the Wealth of the Kingdom — 2,825.000 Heads. By which he means, That the First Class of the People, from Land, Arts and Industry maintain themselves, and add every Year something to the Nation’s General Stock [while] That of the Second Class, […] sick and impotent People, idle Beggars and Vagrants; are nourish’d at the Cost of Others; and are a Yearly Burthen to the Publick, consuming Annually so much as would be otherwise added to the Nation’s general Stock.222

Diese Unterscheidung zwischen reichtumsfördernden und reichtumsmindernden Menschen ist das wesentliche Sortierkriterium der Politischen Arithmetik. Klassengesellschaft beginnt mit einem Urteil, das die eine Hälfte der Leute für ökonomisch und damit auch für sozial wertlos erklärt.

Die Geduld der Techniken Natürlich kann man sagen, und das wäre die marxistische Erklärung, dass die in der Politischen Arithmetik auftretende ›quantitative‹ Konzeption des Sozialen mit ihren neuen Werturteilen nur einen ideologischen ›Reflex‹ des Übergangs zur kapitalistischen Klassengesellschaft darstelle. Petty, King, Davenant und ihre Kollegen würden also nur nachvollziehen, was sich an ökonomischen Wandlun219  Brooks, »Projecting, Political Arithmetic and the act of 1695«, S. 41. 220  Wrightson, »Estates, degrees, and sorts«, S. 34. 221  David Cressy, »Describing the social order of Elizabethan and Stuart England«, Lite-

rature and History, N° 3, 1976, 29 – 44, S. 33. 222  Davenant, An Essay upon the Probable Methods of Making a People Gainers in the Balance of Trade, S. 49 – 50.

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gen in der Gesellschaft vollzogen hatte. Doch das Programm der Quantifizierung und klassifikatorischen Erfassung des Sozialen ergibt sich nicht von selbst aus der Vermehrung der Tauschbeziehungen und aus der Akkumulation von privatem Kapital. Die Politische Arithmetik ist zunächst eher ein merkantilistisches Projekt, sie dient der staatlichen Wirtschaftslenkung und nicht der Entfesselung der Märkte. Anstatt die Politische Arithmetik als ein Epiphänomen des aufkommenden Kapitalismus zu betrachten, erscheint es mir sinnvoller, genauer anzusehen, was sie tut, welche Veränderungen im sozialen Gefüge ihr zugeschrieben werden können. Zweifellos handelt es sich bei den ›Klassen‹ der Politischen Arithmetik zunächst nur um, mit Bourdieu gesagt, Klassen »auf dem Papier«: Sie sind »von theoretischer Natur«, existieren nur »als Theorie«.223 Und von dieser Theorie kann auch nicht behauptet werden, dass sie unmittelbar geeignet gewesen wäre, ›die Massen zu ergreifen‹. Im Gegenteil, die gewöhnlichen Leute haben immer ganz gut erkannt, dass es sich bei Zählungen, Registrierungen und Klassifizierungen um Herrschaftsmaßnahmen handelte, die darauf abzielten, sie höher zu besteuern oder in den Krieg zu zwingen. Daher die häufigen und nicht selten gewaltsamen Widerstände gegen Volkszählungen, Musterungen und Steuerschätzungen. Zudem hatte die neue Ordnung der Klassifikation den Nachteil der Abstraktheit und Unanschaulichkeit. Während die alte Ordnung sich in einem dichten Netz von gesetzlichen Bestimmungen, institutionellen Beziehungen, architektonischen Anordnungen, alltäglichen Praktiken und eingefleischten Verhaltensweisen materialisierte, beruhte die neue Sichtweise von Gesellschaft als Klassengesellschaft auf einer wissenschaftlichen Abstraktion. Sie stellte zunächst nicht viel mehr dar als ein theoretisches Konstrukt, das in einigen wenigen gelehrten Abhandlungen zu finden war. Doch lässt sich auch von der Ideologie der Quantifizierung und Klassifizierung sagen, dass sie – peu à peu – Boden gewann und sich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung durchsetzte, nicht so sehr durch Argumente, sondern vielmehr durch eine langsame Arbeit der Gewöhnung und Einübung in die Praktiken und Verfahren der Zählung und klassifikatorischen Einteilung. So beschränkt sich die ideologische Wirksamkeit der Politischen Arithmetik nicht auf die Verbreitung einer neuen Botschaft oder auf die Ausweitung des Klassenvokabulars. Ihre Effizienz liegt mindestens ebenso sehr auf der Ebene der politischen Technologien, in der Einführung eines Bündels neuer Verfahren und Medien des Politischen, die zukünftig an der Formatierung von Gesellschaft beteiligt sein sollten. Wenn die Berechnungen der Politischen Arithmetiker auf das Bild einer in Klassen geteilten Gesellschaft hinausliefen, so waren es die Praktiken und Verfahren der Zählung, Sortierung und Darstellung, in denen dieses Bild sich ständig neu erzeugte, in denen die sonst abstrakt bleibende Erkenntnis der Klassenteilung Evidenz und Überzeugungskraft gewann. 223  Bourdieu, »Sozialer Raum und ›Klassen‹«, S. 12.

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In dieser Hinsicht kann die Bedeutung der kleinen Veränderungen und der stetigen Wiederholung nicht genug betont werden. Die Klassengesellschaft wurde nicht über Nacht eingeführt. Über einen langen Zeitraum mehrten sich die Prozesse und Techniken, die dem Modus der Klassenteilung entsprachen, und sie drängten zunehmend die älteren Modi der gesellschaftlichen Aufteilung zurück. In den administrativen Verfahren der Volkszählung, der Steuererhebung, der Rekrutierung, der Landvermessung, der Armenfürsorge und Krankenpflege wurden die neuen Kriterien der Einteilung laufend fortgeschrieben und praktisch durchgesetzt. Man kann sagen, dass es diese Mikropraktiken der Zählung und Einteilung waren, aus deren Häufung und Verfestigung sich schließlich jene »bürokratische, administrativ-statistische Konzeption des Politischen« ergab, »deren Ausgangspunkt nicht mehr rechtsförmige Verträge zwischen Subjekten […] sind, sondern das bürokratische ›Management‹ […] generisch klassifizierter Bevölkerungen«.224 Neben der Proliferation von Klassifizierungspraktiken, die offenkundig ›von oben‹ durchgesetzt wurden und insofern leicht als Instrumente der Beherrschung erkennbar waren, gab es jedoch noch einen zweiten Modus der Ausbreitung des sozialen Klassendenkens, der eher horizontal verlief und insofern effizienter war, als er weniger Widerstände hervorrief. Ein unterschwelliger Effekt der Politischen Arithmetik bestand darin, dass gegen Ende des 17. Jahrhunderts zunehmend Zahlenmaterial in die politische Diskussion eingefüttert wurde. Nicht nur in den parlamentarischen Debatten, auch in den Pamphleten und in den gelehrten Abhandlungen wurde es regelrecht Mode, die Argumentation auf statistische Erhebungen zu stützen.225 Wie Peter Burke in seiner Biographie Ludwigs XIV . schildert, blieb davon auch die Repräsentation der Herrschaft nicht unberührt: Die Inschriften älterer Medaillen auf Ludwigs Taten orientierten sich noch an dem Vorbild römischer Kaiser. Jetzt hingegen finden wir Beispiele für Statistik: Zweiundzwanzig der zwischen 1672 und 1700 geschlagenen Medaillen sind mit statistischen Angaben versehen. ›Zwanzig Städte am Rhein innerhalb eines Monats vom Dauphin eingenommen‹ […] (1688), achtzig Städte erobert (1675), dreihundert Kirchen erbaut (1686), siebentausend Gefangene gemacht (1695), sechzigtausend Seeleute angeworben (1680) und ›Zwei Millionen Kalvinisten in den Schoß der Kirche zurückgeführt‹ […] (1685).226

Ein vergleichbarer Gewöhnungseffekt ergab sich durch den immer selbstverständlicher werdenden Gebrauch von Tabellen zur Visualisierung numerischer 224  Pornschlegel, »Vögel mit Schlangen«, S. 251. 225  Vgl. Slack, »Government and information in seventeenth-century England«, S. 65,

Hoppit, »Political Arithmetic in eighteenth-century England«, S. 518, Eisenberg, Englands Weg in die Marktgesellschaft, S. 87. 226  Peter Burke, Ludwig XIV . Die Inszenierung des Sonnenkönigs, Berlin, 2009, S. 159 – 160.

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Daten. Zwar sorgte das Platzproblem, das die kleinformatigen, meist nur vierseitigen Zeitungen hatten, dafür, dass in der gedruckten Tagespresse »almost never any pictures, graphs, or charts« zu sehen waren.227 In der Verwaltung, im Geschäftsleben, in der Naturforschung waren Tabellen jedoch allgegenwärtig, und sie wurden zunehmend als ein Mittel zur schnellen Information über komplexe Sachverhalte gebraucht. In der diagrammatischen Darstellung der Tabelle konnten klassifikatorische Zuordnungen mit unschlagbarer Evidenz demonstriert werden. Was sie, neben anderen Medien der graphischen Repräsentation, so erfolgreich machte, ist, wie Bruno Latour schreibt, »der einzigartige Vorteil, den sie in rhetorischen oder polemischen Situationen verschaffen. ›Sie zweifeln an dem, was ich sage? Ich werde es Ihnen zeigen.‹« 228 Ein weiterer Grund, warum die Tabelle in so effizienter Weise zur Verbreitung der klassifikatorischen Denkweise beitrug, kann darin gesehen werden, dass sie sozusagen das Terrain definierte, auf dem sich die Auseinandersetzung um klassifikatorische Einteilungen abspielen sollte: Um die von ihr erzeugten Evidenzen zu kritisieren, musste man selber bessere vorlegen oder jedenfalls die grundlegende Voraussetzung der Aufteilung von Welt in Reihen und Spalten übernehmen. So wurde es, allein schon durch die Proliferation der statistischen Verfahren und Darstellungstechniken, zunehmend zur Selbstverständlichkeit, den eigenen sozialen Ort durch eine Ziffer in einer Tabelle bestimmt zu sehen – eine wesentliche Voraussetzung, um sich selbst als ein Klassenwesen zu begreifen.

227  Bucholz u. Ward, London, S. 172. 228  Latour, »Drawing Things Together«, S. 276.

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13.

ÄHNLICHKEIT UND GESELLSCHAFT. ARTENS DES ZUSAMMENHANGS Wie im ersten Teil dieses Buchs näher begründet wurde, kann es sich lohnen, den Übergang von einem gesellschaftlichen Differenzierungsprinzip zu einem anderen unter dem Aspekt der darin wirksamen mimetischen Prozesse zu betrachten. Und dies nicht nur deshalb, weil sich ein neues gesellschaftliches Einteilungsprinzip stets im Modus der Nachahmung verbreiten und durchsetzen wird, sondern auch deshalb, weil sich die Einteilungsweisen selbst nach ihren mimetischen Qualitäten unterscheiden lassen. Die Systeme der gesellschaftlichen Differenzierung unterscheiden sich nicht nur durch die Kriterien der Unterscheidung sondern auch durch die Art, wie ein Unterschied gemacht wird. Eine Betrachtung der mimetischen Bezüge kann diese Unterschiede der Unterscheidung freilegen; sie kann zeigen, welche ›Färbung‹ die Unterscheidung in dem einen oder anderen System annimmt; welche spezifische, materielle Qualität der Wahrnehmung von Ähnlichkeit und Unterschied jeweils zukommt.1 In diesem Kapitel soll die Relevanz des mimetologischen Ansatzes am historischen Material demonstriert werden. Der Unterschied zwischen Ständeordnung und Klassengesellschaft lässt sich auch als ein Unterschied in der Konfiguration von Mimesis begreifen. Gezeigt werden soll dies u. a. anhand des von Foucault beschriebenen Renaissance-Systems der »vier Ähnlichkeiten«, das sich als ein kaum verhülltes System zur Regulierung sozialer Abstände betrachten lässt, sowie anhand des magisch-esoterischen Systems der Alchemie, in dem die Ständeordnung ihre eigene Umkehrung und Verflüssigung träumte.

Mimesis ist politisch Dass Mimesis heute in erster Linie als »Nachahmung der Natur«,2 als »eine Weise künstlerischer Wirklichkeitsauffassung und -darstellung« sowie als »grundlegende Kategorie abendländischer Kunsttheorie« begriffen wird,3 hat wohl vor allem damit zu tun, dass die Mimesis-Diskussion über Jahrhunderte durch die Poetik des Aristoteles geprägt war: Dort findet sich tatsächlich ein bereits gezähmter, auf die kathartischen Wirkungen der Kunst eingeengter Mimesis-Begriff. 1  S. o., Kap. 6, Abschnitt »Die Farbe des Unterschieds«. 2  Anne Eusterschulte, »Mimesis«, in: Gert Ueding (Hg.), Historisches Wörterbuch der Rhe-

torik. Band 5: L-Musi, Tübingen, 2001, 1232 – 1294, Sp. 1232. 3  Ebd., Sp. 1233.

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Doch wurde Mimesis in der griechischen Kultur keineswegs ausschließlich oder in erster Linie als künstlerische Reproduktion einer stillgestellten Natur verstanden. Mimesis bezeichnete vielmehr eine breite Palette von nachahmenden Verhaltensweisen, von der körperlichen Nachäffung über die parodistische Rede bis zur Imitation im Bild, die häufig einen antagonistischen und kompetitiven Zug aufwiesen. Nachzuahmen hieß nicht einfach nur, abzubilden, es hieß Gewalt über einen Gegner zu gewinnen, den anderen durch sein Ebenbild zu bezwingen, ihn durch eine perfekte Vorspiegelung von Realität zu täuschen.4 Dabei bildete das Nachgeahmte nicht einfach ein Objekt der Darstellung. Es musste vielmehr ebenso als Subjekt aufgefasst werden, als ein Anderer, der jederzeit ›zurückahmen‹ konnte, der sich durch Akte der »antimimesis«,5 durch Mimikry, Maskenspiel und Gegenzauber dagegen wehren konnte, im Bild eingefangen zu werden. Dies galt nicht nur für Götter und Menschen, sondern auch für die Natur, die sich verbergen und verstellen, sich durch alle Arten der Verwandlung der Nachahmung entziehen konnte. Mimesis, später gleichbedeutend mit einer beflissenen, naturgetreuen Darstellung, in der Subjekt und Objekt der Repräsentation klar getrennt sind, steht in ihren Anfängen eher für die Gefahr der Vermischung und des Übergangs zwischen den Positionen: Durch die Nachahmung konnte man Macht über den anderen gewinnen, in der Angleichung an den anderen konnte man aber auch von ihm überwältigt werden. Diese Herkunft aus dem Wettstreit wird Mimesis nie ganz ablegen. Selbst in der scheinbar zahmen Variante einer künstlerischen ›imitatio naturae‹ bleibt das Moment der Verlockung, der Täuschung und Überwältigung erhalten: Die »Augenweide« einer gemalten Szenerie ist immer auch eine »Blickfalle«.6 Für die hier zu entfaltende Argumentation kommt es aber vor allem darauf an, dass Mimesis als ästhetisches Phänomen über den »›mimetischen‹ Naturbezug der Kunst« 7 weit hinausgeht. Die zu einer Zeit wirksamen Vorstellungen von Ähnlichkeit und die Operationsweisen der Nachahmung betreffen nicht nur den Bereich der Künste, sie betreffen in elementarer Weise die Art, wie gesellschaftliche Ordnung gedacht wird und welche Beziehungen unter den Subjekten sich herstellen. Dabei handelt es sich um eine wechselseitige Abhängigkeit: Einerseits beruht das Funktionieren einer gesellschaftlichen Hierarchie auf einer bestimmten Re4  Beispielhaft dafür ist der Wettstreit zwischen den Malern Zeuxis und Parrhasios, vgl. Elizabeth C. Mansfield, Too beautiful to picture. Zeuxis, myth, and mimesis, Minneapolis, Minn., 2007. 5  Vgl. Franz Passow, Handwörterbuch der griechischen Sprache. Erster Band, A-K, Leipzig, 1831 S. 217: »[antimimesis] das Gegennachahmen, Gegennachahmung«. 6  Jacques Lacan, Das Seminar. Buch XI . Die vier Grundbegriffe der Psychoanalyse (1964), Weinheim/ Berlin, 1987, S. 107. Vgl. Bernhard Siegert, »Der Blick als Bild-Störung. Zwischen Mimesis und Mimikry«, in: Claudia Blümle und Anne von der Heiden (Hg.), Blickzähmung und Augentäuschung. Zu Jacques Lacans Bildtheorie, Zürich, 2005, 103 – 126. 7  Eusterschulte, »Mimesis«, Sp. 1233.

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gulationsweise von Mimesis. Die Erhaltung einer Ordnung hängt davon ab, dass bestimmte Ähnlichkeiten erkannt, bestimmte Bezüge hergestellt werden, während andere Arten der Angleichung oder des Übergangs nicht in Betracht gezogen oder explizit verworfen werden. So lassen sich die Gliederungsprinzipien, die in diesem Buch zur Debatte stehen – Standesordnung und Klassenteilung – als Prinzipien der Organisation von Mimesis betrachten. Denn Stand und Klasse bezeichnen nicht nur unterschiedliche Formen der gesellschaftlichen Aufteilung, in ihnen artikulieren sich auch ganz verschiedene Vorstellungen davon, wie die Dinge und Menschen zusammengehören, wie sie sich den anderen angleichen und wodurch sie sich von anderen absetzen. Anderseits sind auch die ästhetischen Konzeptionen der Ähnlichkeit, ob sie als implizites Wissen oder als explizites Regelwerk in Erscheinung treten, stets unmittelbar ›politisch‹. In den Vorstellungen davon, wie die Dinge sich ähneln, wodurch sie sich unterscheiden, wie sie sich aneinander angleichen oder wie sie miteinander in Verbindung treten, offenbart sich eine ganze Matrix hierarchischer Bezüge. So wie die Formen der sozialen Aufteilung als Formen der mimetischen Bezugnahme lesbar sind, so künden die Regulationsweisen von Mimesis von den Imperativen der sozialen Bindung und Spaltung. Dieser Zusammenhang von mimetischer und sozialer Ordnung soll hier an ein paar ausgewählten Episoden aus einer Geschichte der Ähnlichkeit näher beleuchtet werden.

Gute Mimesis, schlechte Mimesis Die erste umfassende Auseinandersetzung mit Phänomenen der Mimesis findet sich in Platons Politeia. Bezeichnenderweise dreht sich die Diskussion hier keineswegs um die Rolle der Nachahmung in den Künsten. Die »Frage der Mimesis« ergibt sich vielmehr aus der »Diskussion eines breiteren Themenfeldes: politische Organisation, Erziehung, das Ideal der Gerechtigkeit und die Natur des philosophischen Wissens«.8 Anders als bei Aristoteles, der die pädagogischen und konstruktiven Wirkungen der künstlerischen Mimesis hervorheben wird, stehen bei Platon die affektive Macht und damit auch die mögliche auflösende, zersetzende Wirkung der Mimesis im Zentrum des Interesses. Weit davon entfernt, das Lob der Mimesis zu singen, sieht Platon es vielmehr als seine Aufgabe an, vor ihren Gefahren zu warnen. Seine »Theorie der Mimesis« ist keine Kunsttheorie; eher kann sie als »eine Theorie des politischen Lebens« bezeichnet werden.9 In der Politeia wird Mimesis als ein äußerst weites Konzept eingeführt, das alle Arten von künstlerischer oder handwerklicher Hervorbringung umfasst. Zugleich betrifft es auch den Bereich der darstellenden Künste. Hier steht es nicht nur für die Identifikation des Schauspielers mit seiner Rolle, sondern auch für die des 8  Matthew Potolsky, Mimesis, New York, London, 2006, S. 17. 9  Ebd., S. 29.

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Zuschauers mit der Darbietung. Zudem bildet Mimesis ein unumgängliches und unverzichtbares Moment in der Erziehung von Menschen: »Oder meinst du, es gebe eine Möglichkeit, daß einer das, womit er gern umgeht, nicht nachahme? — Unmöglich, sagte er.« 10 Diese Unvermeidbarkeit von mimetischer Identifikation ist es, die ihre ›Gefährlichkeit‹ ausmacht. Ohne zu wissen, wie ihnen geschieht, werden die Menschen sich dem angleichen, was sie anzieht. Als besonders tückisch erscheint Platon eine bestimmte Form der mimetischen Identifikation, nämlich die schauspielerische Darstellung der Rede eines anderen »als wäre er ein anderer«:11 »Aber sich selbst einem andern nachbilden in Stimme oder Gebärde, das heißt doch den darstellen, dem man sich nachbildet?« 12 Anders als die »einfache Erzählung«,13 die den nötigen Abstand zum Berichteten wahrt, läuft die überschwängliche, theatralische oder rhetorische Mimesis Gefahr, sich allzu sehr dem Nachgeahmten auszusetzen und von ihm in Beschlag genommen zu werden: Denen, die zu gut imitieren, kann es passieren, dass sie »von der Nachahmung das Sein davontragen«.14 Im Unterschied zu Aristoteles, der Mimesis als ein Instrument der Weltaneignung begreift, erkennt Platon darin eine prinzipiell gefährliche Macht der Identitätsdiffusion. Bei ihm erhält sich die Ahnung, »dass das mimetisch affizierte Subjekt eine fundamentale Selbstverwandlung durchmacht« 15 – und vor den möglichen Exzessen einer solchen mimetischen Preisgabe glaubt Platon den Staat und seine Bürger schützen zu müssen. Wenn Mimesis »wie eine Droge« wirkt,16 so bildet die Politeia das Manifest einer rigiden Drogenpolitik: Mimesis wird nicht vollkommen verbannt werden können, denn es gibt bestimmte, eng definierte Umstände, unter denen sie heilsame, gesellschaftsförderliche Wirkungen zeigt. Doch muss sie grundsätzlich der strengsten Kontrolle unterworfen werden. Insbesondere der für die Erhaltung des Staates so wichtige Kriegerstand muss vor der Gefahr der »mimetischen Kontamination« bewahrt werden.17 Es müssen Maßnahmen getroffen werden, damit die Wächter der Stadt nur den guten und aufbauenden Wirkungen der Mimesis ausgesetzt werden, nicht den schlechten und zerstörerischen. Platons Abhandlung über den Staat liest sich daher über weite Strecken wie eine Liste von Mimesis-Geboten und -Verboten. 10  Platon, »Politeia«, in: ders., Phaidon, Politeia. Nach der Übersetzung von Friedrich Schleier-

macher, hg. v. Walter F. Otto, Ernesto Grassi u. Gert Plamböck, Reinbek, 1968, 67 – 310, S. 214 (500c-d). 11  Ebd., S. 126 (393c). 12  Ebd., S. 126 (393c). 13  Ebd., S. 127 (394b). 14  Ebd., S. 128 (395c). 15  Friedrich Balke, »Ähnlichkeit und Entstellung. Mindere Mimesis und maßgebender Anblick bei Platon und Walter Benjamin«, Comparatio, N° Band 7/ Heft 2, 2015, 261 – 283, S. 264. 16  Potolsky, Mimesis, S. 20. 17  Ebd., 28.

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Grundsätzlich möchte Platon seine Wächter so wenig wie möglich den Versuchungen der Mimesis aussetzen. Weil sie sich allein auf ihre Aufgabe konzentrieren sollen, die »Freiheit der Stadt« zu schützen, sollen sie am besten »gar nichts anderes verrichten oder nachahmend darstellen«. Da aber, wie Platon ahnt, der Imitationsdrang nicht zu unterdrücken ist, muss wenigstens dafür gesorgt werden, dass die Wächter nicht die falschen Objekte nachahmen: [W]enn aber darstellen, dann mögen sie nur, was dahin gehört, gleich von Kindheit an nachahmen, tapfere Männer, besonnene, fromme, edelmütige und anderes der Art, Unedles aber weder verrichten noch auch es nachzuahmen geschickt sein.18

Denen, die »tüchtige Männer werden sollen« kann es nicht erlaubt werden, »ein Weib dar[zu]stellen«, aber »auch nicht Mägde und Knechte, welche tun, was Knechte pflegen«. Dass sie nicht »schlechte« und »feigherzige« Männer imitieren sollen, versteht sich von selbst, doch »auch Wahnsinnigen muß man sie nicht gewöhnen sich ähnlich zu machen in Reden oder Taten. Denn kennen muß man freilich wahnsinnige ebenso wie böse Männer und Frauen, dichten aber oder darstellen nichts von ihnen.« 19 So ist Mimesis »für Platon überhaupt nur akzeptabel, wenn sie jederzeit einen gewissen Abstand zwischen Nachahmenden und Nachgeahmten garantiert und sich als Nachahmung zu erkennen gibt«.20 Diese Forderung nach der Wahrung der Abstände ist nicht nur ästhetisches Prinzip, sondern auch politischer Imperativ. Für die Kaste der Krieger kommt alles darauf an, ›sich nicht gehen zu lassen‹, die sozialen Unterschiede zu respektieren, die eingenommenen Positionen zu halten, keine Zweideutigkeit in der äußeren Erscheinung aufkommen zu lassen. Mimesis kann in der hierarchischen Struktur des Philosophen-Staats nur gestattet werden, wenn sie die Abstände wahrt und bestätigt: als neidlose Nachahmung des Höherstehenden, die sich nicht an dessen Stelle zu setzen versucht; als ehrfürchtige Imitation eines Vorbilds, die dessen Originalität und Überlegenheit nicht in Frage stellt. Ganz gegen die Ordnung aber wäre es, wenn einer, der oben steht, »sich dem Schlechteren nachbilden« wollte, wenn er sich in die »Formen Schlechterer […] einzuzwängen und abzudrücken« versuchte.21 Dies wäre mit der größtmöglichen »Schmach« verbunden, es sei denn, es würde »ganz zum Scherz geschehen«.22 So richten sich Platons Mimesis-Verbote vor allem gegen die in der Nachahmung liegende Gefahr der Überschreitung und Einschleifung sozialer Grenzen. 18  19  20  21  22 

Platon, »Politeia«, S. 128 (395c). Ebd., 128 (395a/396a). Balke, »Ähnlichkeit und Entstellung«, S. 264. Platon, »Politeia«, S. 129 (396d-e). Ebd., S. 129 (396e).

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Mimesis muss bekämpft werden, weil sie die Möglichkeit einer »maßlosen Anähnlichung der Welt« birgt.23 Damit die hierarchische Unterordnung funktioniert, dürfen die Menschen einander nicht zu ähnlich werden. Sie sollen nicht begehren, was ihnen nicht zusteht, und sie sollen sich nicht mit dem gemein machen, was unter ihrer Würde ist. Doch ist Mimesis in Platons Universum nicht einfach nur ein unliebsames Element der Störung, das die sozialen Abstände untergräbt und den Unterschied von Vorbild und Abbild verwirrt. Das Urteil über die Mimesis hat vielmehr systematische Bedeutung, es wird selbst zu einem Kriterium der hierarchischen Einteilung. Vereinfacht gesagt: Je ›mimesishafter‹ eine Erkenntnisart, eine Repräsentationsform oder eine menschliche Verhaltensweise ist, desto weiter unten steht sie auf der Stufenleiter, die vom reinen Guten zum finstersten Bösen führt. Am deutlichsten wird dies in Platons Kritik der Bilder. Wie Jean-Pierre Vernant gezeigt hat, kann Platon als Erfinder des ›modernen‹ Bildbegriffs gelten; mit ihm beginnt die uns heute geläufige Rede von den ›bloßen Bildern‹. Die von Xenophon entworfene und von Platon ausgeführte »Theorie der Mimesis« markiert die Wende vom Bild als »Vergegenwärtigung des Unsichtbaren« zum Bild als »Imitation der Erscheinung«:24 Das Symbol, durch das eine Macht des Jenseits, das heißt ein grundsätzlich unsichtbares Wesen in dieser Welt aktualisiert und präsent gemacht wurde, hat sich in ein Bild verwandelt, produziert durch eine kunstgemäße Nachahmung, die durch die Eigenschaft des technischen Geschicks und des illusionistischen Vorgehens nunmehr in die allgemeine Kategorie des ›Fiktiven‹ eintritt – dessen, was wir Kunst nennen. Von nun an untersteht das Bild dem figurativen Illusionismus, umso mehr, als es sich nicht in den Bereich der religiösen Wirklichkeiten einfügt.25

Für Platon ergibt sich daraus bekanntlich eine hierarchische Stufenfolge der Bildtypen: An höchster Stelle findet sich das Urbild, die vom Schöpfergott hervorbrachte Idee. Menschliche Bilder ahmen dieses Urbild nach – und entfernen sich mit jedem Schritt der Nachahmung von ihm: Ein Handwerker, der einen Tisch baut, schafft damit ein »Abbild« der von Gott stammenden Idee des Tischs.26 Ein Künstler, der einen von einem Schreiner verfertigten Tisch malt, wird nur noch ein Bild des Abbilds, ein »Trugbild« produzieren. Aus dieser niedrigen Stellung in der Nachahmungskette erklärt sich Platons Abneigung gegen die Maler und Dichter. Deren »Nachbildnerei« ist umso verwerflicher, als sie durch sinnliche 23  Balke, »Ähnlichkeit und Entstellung«, S. 265. 24  Jean-Pierre Vernant, Mythe et pensée chez les Grecs. Études de psychologie historique (1965),

Paris, 1996, S. 340. 25  Ebd., S. 341. 26  Platon, »Politeia«, S. 288 (596b).

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Verführungskraft ihre »Ferne von der Wahrheit« vergessen lässt:27 »Selbst also schlecht und mit Schlechtem sich verbindend erzeugt die Nachbildnerei auch Schlechtes.« 28 Einen Virtuosen der Nachahmung, der »in die Stadt käme und auch seine Dichtungen uns darstellen wollte«, soll man daher freundlich, aber bestimmt abweisen und »in eine andere Stadt geleiten«.29 Der Grad der mimetischen Verführungskraft wird auf diese Weise zum Sortierkriterium für Bilder und Menschen. Gilles Deleuze hat angedeutet, dass es bei Platons Unterscheidung und Hierarchisierung der Bilder – vom Urbild über das Abbild zum Trugbild – nicht zuletzt um die Frage der politischen Zuverlässigkeit, der Loyalität gegenüber der hierarchischen Ordnung geht. Wer allzu viel mimetisches Vermögen offenbart, wie z. B. die Sophisten,30 wird im Staat kein Amt erlangen können. So hat Platons Theorie der Mimesis auch etwas von einer Gesinnungsprüfung für Anwärter der gehobenen Beamtenlaufbahn: »Die Ansprüche sortieren, den wahren Bewerber vom falschen unterscheiden.« 31 Dabei handelt es sich – unter den Bedingungen eines generalisierten Mimesisverdachts – gar nicht so sehr darum, »die richtigen Bewerber zu ermitteln«. Es geht vielmehr darum, »dem falschen Bewerber nachzustellen, das Sein (oder eher das Nicht-Sein) des Trugbildes zu definieren«.32

Himmlische und weltliche Hierarchie Als entscheidender Vermittler, der Platons Modell einer hierarchischen Stufenfolge der Seinsweisen in die christliche Kultur übersetzt hat, gilt ein anonymer Autor, der sich selbst als Dionysius Areopagita, d. h. als der von Paulus bekehrte griechische Ratsherr und erste Bischof von Athen, ausgab. Tatsächlich dürfte dieser Verfasser einer Reihe höchst einflussreicher Schriften eher »gegen Ende des 5. Jahrhunderts gelebt haben«.33 In der Forschung wird er daher als »Pseudo-Dionysius Areopagita« oder, korrekter, als »Dionysius Pseudo-Areopagita« bezeichnet.34 Bekannt geworden ist Dionysius vor allem durch seine Transformation der neoplatonischen Lichtmetaphysik in christliche Lichttheologie. Seine Schriften sprechen von einem Gott, der in einer paradoxen Weise ganz jenseits der Welt Ebd., S. 294 (603a). Ebd., S. 294 (603b). Ebd., 130 (398a). Vgl. Deleuze, Logik des Sinns, S. 313: »Der Sophist selbst ist das Sein des Trugbildes, der Satyr oder Zentaur, der Proteus, der sich überall einmischt und einschleicht.« 31  Ebd., S. 312. 32  Ebd., S. 313. 33  Kurt Ruh, Geschichte der abendländischen Mystik, Band 1. Die Grundlegung durch die Kirchenväter und die Mönchstheologie des 12. Jahrhunderts, München, 2001, S. 31. 34  Ebd. 27  28  29  30 

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und zugleich in der Welt gegenwärtig ist. In diesem Zusammenhang kommt die Lichtmetapher ins Spiel: Aufgrund seiner medialen Eigentümlichkeit, nämlich zu sehen zu geben und selbst zugleich der Sichtbarkeit entzogen zu sein, eignet sich das Licht ganz hervorragend, die immanent-transzendente Doppelnatur Gottes zu beschreiben. Das Licht selbst ist – wie Gott – unerkennbar; auf sein wahres Wesen lässt sich nur in Formeln der Überbietung (»überlichtes« Licht) und des Widerspruchs (»dunkles Licht«) anspielen. Darin liegt das Paradox der mystischen Erfahrung: Als Blick ins reine Licht ist die Schau Gottes eine Erfahrung der absoluten Dunkelheit. Zugleich jedoch nimmt dieses Licht seinen Weg in die Welt und wird in ihr sichtbar. Anders als Plotins Lichtmystik, die nur eine Alles-oder-Nichts-Alternative kannte: entweder die Gefangenschaft in der Finsterwelt der Materie oder die mystische Schau des reinen Lichts, enthält die Licht-Theologie des Dionysius die Idee einer graduellen Teilung und Mitteilung des Lichts, seiner vielfältigen medialen Übertragung, Brechung und Verwandlung.35 Für unseren Zusammenhang ist vor allem interessant, wie diese Mitteilung geschieht, nämlich in einer streng hierarchisch angelegten Kette von Übertragungen. Die dionysischen Schriften über die himmlische und die weltliche Heilsordnung (De coelesti hierarchia und De ecclesiastica hierarchia) legen sehr genau fest, auf welchen Wegen und über welche vermittelnden Instanzen sich das göttliche Licht ausbreiten soll. Das von Dionysius möglicherweise erfundene, vor ihm jedenfalls nicht gebräuchliche Wort ›Hierarchie‹,36 das in der Kirchensprache eine »innerlich festbestimmte Rangordnung« bezeichnen wird,37 deutet an, dass die Verteilung des Lichts sich als eine vertikale Bewegung, als eine kontrollierte Weitergabe über festgelegte Stationen vollziehen soll. Mit der Idee einer allgemeinen Verbreitung des göttlichen Lichts wird zugleich der Apparat ins Auge gefasst, der diese Massenkommunikation verwirklichen soll. So wie die Schrift über die himmlische Hierarchie die Entäußerung Gottes an die Welt als eine Kaskade von Lichtergießungen von einer Seinsstufe zur nächsten begreift, so entwirft der Traktat über die kirchliche Hierarchie ein Schema von medialen Vermittlungen, durch das jeder Gläubige Zugang zum göttlichen Licht erhalten kann. Dabei handelt es sich zum einen um »handgreiflich[e] Leitung« durch »sichtbare Kultformen«,38 zum anderen aber um die Einrichtung einer festgefügten institu35  Diesen Aspekt einer medialen ›Kommunikation‹ oder ›Kommunion‹ des Lichts hat Erwin Panofsky betont, als er die These aufstellte, dass die Lichtarchitektur der gotischen Kirchen letztlich nichts anderes sei als gebaute neoplatonische Lichttheologie, vgl. Erwin Panofsky, »Abbot Suger of St.-Denis« (1946), in: ders., Meaning in the visual arts. Papers in and on art history, Garden City, N.Y, 1955, 108 – 145. 36  Dionysius Areopagita, Des heiligen Dionysius Areopagita angebliche Schriften über die beiden Hierarchien, hg. v. Josef Stiglmayer, Kempten, München, 1911, 4, Anm. 1 (Anmerkung des Herausgebers). 37  Friedrich Kluge, Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache, Berlin, 1971, S. 308. 38  Dionysius Areopagita, Des heiligen Dionysius Areopagita angebliche Schriften über die beiden Hierarchien, S. 3.

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tionellen Ordnung, die die Verteilung des Lichts zu einer kontrollierten Übung und zu einem Monopol des kirchlichen Kommunikationsapparats macht: »So wird also jede Stufe der hierarchischen Ordnung gemäß ihrem entsprechenden Range zur Mitwirksamkeit mit Gott erhoben.« 39 Über die Aufgaben des Bischofs, des »göttliche[n] Hierarch[en]«, schreibt Dionysius: »Ohne eine Mißgunst […] läßt er gotterfüllt die Strahlen seiner lichtvollen Unterweisungen allzeit den Katechumenen leuchten, soweit es der Geist der Hierarchie verlangt, in schöner Ordnung und stufenmäßiger Abfolge, entsprechend dem Maße der Empfänglichkeit, die ein jeder für das Heilige besitzt.« 40

Abbildung 10: Die kirchliche Hierarchie: Illustration zu einer

Schrift Gilberts von Limerick, 13. Jahrhundert, Cambridge University Library, MS Ff.1.27, p. 238. 39  Ebd., S. 22. 40  Ebd., S. 110 – 111.

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In der pyramidalen Ordnung der kirchlichen Hierarchie beschreibt die Kaskade der Lichtverteilung eine Bewegung von oben nach unten, vom obersten Hirten bis zum einzelnen Gläubigen. Zugleich gibt es jedoch auch eine Aufwärtsbewegung. Dem »descending theme« der Lichtausschüttung entspricht das »ascending theme« der Nachahmung.41 So wie die höherstehenden Wesen den unteren »von dem ihnen zuströmenden Glänze neidlos mitteilen«, so werden die unteren die oberen imitieren und sich in »wetteiferndem Streben« dem Licht zuwenden 42 – wobei sie sich immer nur so weit zu Gott erheben können, wie es ihrer Stellung und dem zugeteilten Licht entspricht: Die Hierarchie ist nach meiner Ansicht eine heilige Stufenordnung, Erkenntnis und Wirksamkeit. Sie will nach Möglichkeit zur Ähnlichkeit mit der Gottheit führen und gemäß den ihr von Gott verliehenen Erleuchtungen in entsprechendem Verhältnis zum Nachbilde Gottes erheben.43

Der Zusammenhalt der heiligen Kommunikationsordnung ergibt sich so aus einer ständigen Wechselbewegung von Lichtgabe und Nachahmung. Bemerkenswert daran ist insbesondere die gereinigte Form, in der Mimesis hier auftritt. Während Platon die Nachahmung als eine zersetzende Kraft begriffen und aus seinem Idealstaat verbannt hatte, erscheint sie bei Dionysius als der Kitt, der die Menschen »in schöner Ordnung und stufenmäßiger Abfolge« 44 hält und sie zu willigen Empfängern der göttlichen Lichtbotschaft macht.

Die Ordnung der Prozession Vielleicht ist es keine allzu große Übertreibung, zu sagen, dass die Ständeordnung des christlichen Europa auf dem Vertrauen in diese ›gute‹, ›aufbauende‹ Seite der Mimesis beruht. Ein explizites Zeugnis dieses Vertrauens findet sich bei dem deutschen Philosophen Christian Wolff, der in § 132 seiner 1719 erschienenen Vernünfftigen Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen die Idee der Ordnung unmittelbar mit der der Ähnlichkeit verknüpft:

41  Der Mediävist Walter Ullmann verwendet das Begriffspaar »descending theme«/»ascending theme« zur Beschreibung von Formen der Legitimation von Macht im Mittelalter. Es eignet sich aber auch dazu, die in einer hierarchischen Kette wirksamen Dynamiken zu beschreiben. Vgl. Walter Ullmann, Law and politics in the Middle Ages. An introduction to the sources of medieval political ideas, Cambridge, 1976, S. 30 – 31. 42  Dionysius Areopagita, Des heiligen Dionysius Areopagita angebliche Schriften über die beiden Hierarchien, S. 67. 43  Ebd., S. 18. 44  Ebd., S. 111.

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Wenn vielerley zusammen als eines betrachtet wird, und findet sich darinnen, wie es neben und auf einander erfolget, etwas ähnliches, so entsteht daraus eine Ordnung, daß demnach die Ordnung nichts anders ist, als die Aehnlichkeit des mannigfaltigen in dessen Folge auf und nach einander.45

Bezeichnend ist das Beispiel, das Wolff heranzieht, um diesen Zusammenhang von Ordnung und Ähnlichkeit zu belegen: Man saget, die Leute gehen in einer Proceßion ordentlich, wenn sie Paar und Paar gehen, der Vornehmere zur Rechten, der nicht so vornehme ist, zur Lincken, und gleichergestalt die Vornehmeren in den vorhergehenden, die nicht so vornehme sind, in den folgenden Paaren. Worinnen besteht nun hier die Ordnung? Allerdings in demjenigen, wodurch die Ordnung gehoben wird, wenn ich sie nicht mehr lasse Paar-weise gehen, noch nach dem Range neben und hinter einander, das ist […], wenn ich dasjenige wegnehme, darinnen die mannigfaltigen, die sich hier unterscheiden lassen […] einander ähnlich sind.46

Die kirchliche oder weltliche Prozession, der festliche Umzug, in dem die Menschen in scheinbar selbstverständlicher Weise die Ähnlichkeit mit ihresgleichen suchen und sich an dem Platz einfinden, der ihrem Stand, Rang und Geschlecht entspricht, wird hier also als perfekte Verwirklichung eines auf dem Zusammenfinden von Ähnlichkeiten beruhenden Ordnungsprinzips begriffen. Dass es sich dabei nicht um eine isolierte Wahrnehmung handelt, zeigt die Übernahme von Wolffs Erklärung und Beispiel in den Artikel »Ordnung, ordo« (1740) des Zedlerschen Universallexicons. Wer sich im Deutschland des 18. Jahrhunderts darüber informieren wollte, was Ordnung ist, bekam als erstes die Auskunft, dass Ordnung vorhanden sei, wenn »die Leute […] in einer Proceßion ordentlich« gehen.47 Wolffs selbst war sogar der Meinung, dass eine Ordnung umso ordentlicher sei (und entsprechend auch »mehr Wahrheit« 48 aufwies), je mehr ›Ähnlichkeit‹ sie enthielt. Entsprechend ließen sich Prozessionen nach dem Grad der in ihnen wirksamen Ähnlichkeitsbeziehungen unterscheiden: Wenn eine Menge Menschen ordentlich gehen; so kann sich in ihrem Gehen viel oder wenig Aehnlichkeit befinden. […] Wenn die Menge der Menschen, die in 45  Christian von Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, Franckfurt und Leipzig, 1738, S. 68. 46  Ebd., S. 68 – 69. 47  Anon., »Ordnung, ordo […] in der Metaphysik«, in: Johann Heinrich Zedler (Hg.), Großes vollständiges Universallexicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 25 (1740), Halle, Leipzig, 1732 – 54, 1797 – 1799, Sp. 1797. 48  Wolff, Vernünfftige Gedancken von Gott, Der Welt und der Seele des Menschen, Auch allen Dingen überhaupt, S. 78.

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einer Proceßion gehen, in verschiedene Cörper sich eintheilen lässet; so ist eine neue Aehnlichkeit, wenn das Vornehmere jederzeit vorher gehet. Und es kommet noch eine dazu, wenn die Glieder eines jeden Cörpers einerley Trachten haben, und so weiter fort.49

Tatsächlich war die Ständeordnung zu ihrer Erhaltung darauf angewiesen, dass die Menschen sich unablässig selbst einordneten, indem sie sich an Ähnlichkeiten orientierten und die Gemeinsamkeiten forcierten. Eine solche Ordnung bedurfte entsprechender Dispositive, die das Vergleichen und Erkennen von Ähnlichkeiten möglich machten; sie bedurfte der Bilder, in denen die Ordnung sich verwirklichte und Evidenz gewann. Ein solches Dispositiv, ein solches Bild stellte die Prozession dar. Sie funktionierte, und deshalb erscheint sie bei Christian Wolff als Sinnbild von Ordnung überhaupt, als eine Art von theatralischer Darstellung, in der die Standesgesellschaft ihr eigenes hierarchisches Prinzip sichtbar machte. Dieser Aspekt der Zurschaustellung von ›guter Ordnung‹ steht im Mittelpunkt kirchlicher, fürstlicher und städtischer Repräsentationspolitik. Prozessionen und offizielle Umzüge der Frühen Neuzeit lassen sich auf diese Weise als bildhafte Anordnungen, als Displays zur Darstellung von Ordnung begreifen: Eine procession générale ordnete Realität. Sie zielte nicht einfach auf irgendeinen nützlichen Zweck wie das Ende einer Trockenheit oder die Erhebung in den Amtsadel. Sie existierte im gleichen Modus, wie viele Äußerungen und Werke der Kunst existieren, als reiner Ausdruck: eine gesellschaftliche Ordnung, die sich vor sich selbst repräsentiert.50

Solche Selbstrepräsentationen von Gesellschaft waren nicht einfach »Miniaturabbilder der sozialen Struktur«; sie sollten vielmehr »das Wesen der Gesellschaft, ihre wichtigsten qualités und dignités« ausdrücken.51 Ein öffentlicher Festumzug gab nicht die empirischen sozialen Verhältnisse wieder; er bildete einen »Akt öffentlicher Pädagogik«,52 der vorführen sollte, »was an der gesellschaftlichen Ordnung wirklich und essentiell ist«.53 Gegenstand der Aufführung war mit anderen Worten nicht die reale Beschaffenheit der Gesellschaft, sondern das ideale Prinzip ihrer Ordnung. So ist die Prozession darauf angelegt, eine unabhängig von ihr existierende, schon seit Urzeiten bestehende Ordnung zu aktualisieren. 49  Ebd., S. 77 – 78. 50  Robert Darnton, »A bourgeois puts his world in order. The city as a text«, in: ders., The

great cat massacre and other episodes in French cultural history, New York, NY , 1999, 107 – 143, S. 124. 51  Ebd., S. 123. 52  Michael D. Bristol, Carnival and theater. Plebian culture and the structure of authority in Renaissance England (1985), Hoboken, 2014, S. 59. 53  Ebd.

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Das Bild, das sie gibt, ist als Selbstvergewisserung und Bestätigung der sozialen Hierarchie zu verstehen: Alle treten in genau der Aufstellung an, die der ›natürlichen‹ Ordnung der Gesellschaft entspricht. Grundsätzlich stützt sich das Unternehmen der Repräsentation hier noch auf die vertrauensvolle Annahme, »dass es eine unsichtbare aber nichtsdestotrotz reale und absolute Ordnung gibt, die unabhängig von menschlicher Kunstfertigkeit besteht«.54

Abbildung 11: Kupferstich aus: Francis Sandford, The History of the Coronation of the most high, most mighty, and most excellent Monarch, James II , London 1687, pl. 20.

Doch ist die mediale Darstellung, wie immer, zugleich eine Herstellung. Prozessionen und Umzüge bilden gesellschaftliche Ordnung nicht nur ab, sie produzieren sie zugleich.55 In den »Spektakeln der Autorität« führte sich die Gesellschaft ein 54  Ebd., S. 60. 55  Diese Herstellung beruht jedoch darauf, dass sie sich nicht als solche zu erkennen gibt.

Gerade in dem Bezug auf eine unwandelbare Ordnung der Unterschiede lag die ideologische Überzeugungskraft der Prozession. Sie hätte kaum funktioniert, wenn sie behauptet hätte, lediglich den Status quo der Machtverteilung abzubilden.

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ideales Bild ihrer eigenen Ordnung und Einheit vor; sie übte damit auf sich selbst eine »Art von mimetischer Magie« aus, die diese Einheit und Ordnung tatsächlich zustande brachte.56 Prozessionen, Umzüge, Sitzordnungen waren nicht einfach nur lebende Displays der Ständeordnung, sie stellten nicht bloße Anzeigetafeln dar, die eine bestehende Platzverteilung wiedergaben. Sie funktionierten vielmehr zugleich als Operatoren der Verteilung, als Dispositive der Verortung. Die Menschen der vormodernen Gesellschaft hatten ein waches Bewusstsein davon, dass die Medien der Standesrepräsentation selbst an der Etablierung von Stand und Stellung beteiligt waren, dass eine Verschiebung in der symbolischen Matrix eine entsprechende Veränderung des sozialen Orts mit sich bringen konnte: Änderungen in der Rangordnung mussten öffentlich demonstriert werden, aber meistens musste dabei gegen bestehende Positionen gekämpft werden. Jeder Versuch, in der Rangfolge aufzusteigen, bedeutete einen möglichen Schlag für die, die sich schon am Platz befanden, und deren Ehre auf diese Weise in Frage gestellt wurde.57

Die daraus resultierenden Kämpfe ›um den richtigen Platz‹ sind in den letzten Jahren verstärkt in den Fokus der Historiker gerückt. Wie Marian Füssel anhand der Geschichte der Freiburger Fronleichnamsprozession gezeigt hat, gab der »Platz in der Rangfolge einer Prozession […] nicht nur Auskunft über die Stellung der Person im sozialen Gefüge einer Korporation oder eines städtischen Gemeinwesens, sondern konstituierte diese Position überhaupt erst«.58 Daher die »fortwährenden Auseinandersetzungen um den Vorrang«, die keineswegs nur einen Nebenaspekt der religiösen Handlung darstellen, sondern vielmehr die »eigene soziale Realität des frühneuzeitlichen ›Homo Hierarchicus‹« bezeugen.59 Zu ähnlichen Schlussfolgerungen kommt Thomas Weller in Bezug auf die notorischen »Streitigkeiten um Kirchenstühle«: »Wer sich im Kirchenraum positionierte, positionierte sich damit auch im sozialen Raum.« 60 So reflektiert die Sitzordnung 56  Ebd., S. 61. 57  Willem Pieter Blockmans u. Esther Donckers, »Self-representation of court and city in

Flanders and Brabant in the fifteenth and early sixteenth centuries«, in: Willem Pieter Blockmans und Antheun Janse (Hg.), Showing status. Representation of social positions in the late Middle Ages, Turnhout, 2011, 81 – 111, S. 91. 58  Marian Füssel, »Hierarchie in Bewegung. Die Freiburger Fronleichnamsprozession als Medium sozialer Distinktion in der Frühen Neuzeit«, in: Patrick Schmidt und Horst Carl (Hg.), Stadtgemeinde und Ständegesellschaft. Formen der Integration und Distinktion in der frühneuzeitlichen Stadt, Berlin, 2007, 31 – 55, S. 33. 59  Ebd., S. 53. 60  Thomas Weller, »Ius subselliorum templorum. Kirchenstuhlstreitigkeiten in der frühneuzeitlichen Stadt zwischen symbolischer Praxis und Recht«, in: Christoph Dartmann, Marian Füssel und Stefanie Rüther (Hg.), Raum und Konflikt. Zur symbolischen Konstituierung gesellschaftlicher Ordnung in Mittelalter und Früher Neuzeit, Münster, 2004, 199 – 224, S. 223.

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in der Kirche zweifellos die hierarchische Ordnung der Ständegesellschaft. Diese Ordnung gelangt jedoch überhaupt erst zu »sozialer Existenz« 61 durch die symbolischen Positionskämpfe, in denen die Unterschiede und Abstände laufend neu verhandelt werden. Die Menschen der Frühen Neuzeit konnten auf diese Weise in Prozessionen und anderen Anordnungen die soziale Ordnung nicht nur ›lesen‹. Indem sie sich vordrängten oder andere verdrängten, konnten sie daran auch mitschreiben – wobei es allerdings nicht darum ging, das Ordnungsschema zu verändern, sondern sich selbst an anderer, höherer Stelle einzutragen. Mit einem Begriff, der der Frühen Neuzeit teuer war, lässt sich die Prozession als eine ›Allegorie‹ der Ständeordnung bezeichnen. Eine Allegorie ist, in einer sehr weiten Definition, der Versuch, einen abstrakten Sachverhalt in einem anschaulichen Bild zu fassen. Dabei geht es zugleich immer auch darum, hinter der trügerischen Erscheinungswelt eine wichtigere Realität freizulegen, einen tieferen Sinn zu entbergen. Wenn das Ziel der Allegorie darin besteht, »durch die Komplexität und augenscheinliche Unordnung der sozialen Erfahrung hindurch eine zusammenhängende Ordnung zu repräsentieren«,62 so kann die Prozession als Leitallegorie der Ständegesellschaft betrachtet werden. Denn die Prozession gibt, zumindest auf den ersten Blick, das Musterbild einer klaren und einfachen Ordnung ab. Im »Unterschied zu anderen Formen der symbolischen Ordnung«, wie z. B. »Kleidung und Titulatur«, folgt sie »einer räumlichen Logik der Eindeutigkeit«; sie bildet ein System der Platzverteilung, »in dem eine Position in der Regel nicht doppelt besetzt werden kann«.63 Im räumlichen Schema der Prozession hätte die frühneuzeitliche Gesellschaft also ein perfektes, durchsichtiges Bild der Ordnung gefunden, von der sie sich durchdrungen weiß. Der Allegorie käme damit die Funktion einer didaktischen Hinführung zu: Das Bild der Prozession würde in einleuchtender Weise zeigen, wie einfach und natürlich die gesellschaftliche Ordnung funktioniert. Doch dies ist, wie David Rosen und Aaron Santesso in ihrem Buch The watchman in pieces gezeigt haben, nur die eine Seite der »allegorischen Kultur« zwischen Renaissance und Barock. Wenn zunächst eine arglose Lektüre dominiert, die der Allegorie zutraut, »offen, lebhaft und kraftvoll« die Wahrheit zu sagen,64 so setzt sich bald eine skeptischere Haltung durch, der die Allegorie zur Chiffre für die Undurchsichtigkeit des Zusammenhangs von Darstellung und Wirklichkeit wird. Nicht mehr die Wahrheit, sondern die »Trauer« ist nun, mit Walter Benjamin gesagt, die »Mutter der Allegorien«.65 Ebd., S. 201. Bristol, Carnival and theater, S. 62. Füssel, »Hierarchie in Bewegung«, S. 38. Rosen u. Santesso, The watchman in pieces, S. 22. Walter Benjamin, »Ursprung des deutschen Trauerspiels« (1928), in: ders., Gesammelte Schriften, hg. v. Rolf Tiedemann, Hermann Schweppenhäuser, Theodor W. Adorno u. Gershom Scholem, Bd. I.1, Frankfurt a. M., 1980, 203 – 430, S. 403. 61  62  63  64  65 

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Was die Prozession angeht, so war zu sehen, dass die Einfügung in die soziale Hierarchie nicht so reibungslos geschieht, wie es den Anschein hat. Hinter den Kulissen der festlichen Umzüge tobt ein beständiger, eifersüchtiger Positionierungskampf. Als Allegorie der Ständegesellschaft bildet daher auch die scheinbar mustergültige Ordnung der Prozession nur ein »Bild der erstarrten Unruhe«.66 Vollends offenbar wird dies in den karnevalistischen Umzügen und »Mock Processions« der Frühen Neuzeit, in denen das allegorische Prinzip sozusagen auf den Kopf gestellt wird: Wie in den offiziellen Spektakeln sind auch in den Festumzügen des Karnevals Elemente der gesellschaftlichen Struktur, der gesellschaftlichen Veränderung und des materiellen Produktionsprozesses miteinander verbunden, aber die Bilder des Karnevals sind nicht belebt durch die Ähnlichkeit zwischen einem sichtbaren Zeichen und einer unsichtbaren aber wertvollen Bedeutung. Karneval ist eine Travestie. Kostüme, Rang- und Identitätsabzeichen und alle anderen symbolischen Erscheinungsformen werden zu Zwecken der aggressiven Verhöhnung und des Gelächters parodiert und veruntreut.67

In den populären Persiflagen des Ordnungsdispositivs ›Prozession‹ zeigt sich die Ambivalenz des allegorischen Verfahrens: Lesbar ist nicht mehr die Stabilität der Ordnung, sondern vielmehr ihre Willkürlichkeit und Fragilität. Statt in der Form eines durchsichtigen Gleichnisses erscheint das Soziale in der Form eines Rätselbildes.

Foucaults Renaissance Von seinem Buch Die Ordnung der Dinge hat Michel Foucault gesagt, dass es sich dabei »insgesamt um eine Geschichte der Ähnlichkeit« handele.68 Ähnlichkeit wäre demnach ein übergreifender Begriff, dessen Schicksale über die Jahrhunderte verfolgt werden können, der darüber Auskunft gibt, wie zu einer bestimmten Zeit die Identitäten und Unterschiede zwischen den Dingen hervorgebracht werden. In einem engeren Sinn jedoch assoziiert Foucault den Begriff der Ähnlichkeit mit der Episteme der Renaissance. Im Wissen der Renaissance spiele die Ähnlichkeit »eine tragende Rolle«;69 ihr Denken bewege sich im »Element der Ähnlichkeit«.70 Im zweiten Kapitel des Buchs nimmt Foucault das Denken der Ähnlichkeit auseinander. Die verwirrende Vielfalt der Bezüge, die darin am 66  Walter Benjamin, Das Passagen-Werk. Erster Band, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M., 1983, S. 463. 67  Bristol, Carnival and theater, S. 63. 68  Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 27. 69  Ebd., S. 46. 70  Ebd., S. 83.

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Werk sind, reduziert er in eingängiger Weise auf eine Matrix von »vier Ähnlichkeiten«. Es gibt demnach in der Renaissancewelt vier verschiedene Weisen, in denen Dinge einander ähnlich sein können: erstens durch convenientia, eine Gemeinsamkeit des Orts, eine Beziehung der räumlichen Nähe, der Nachbarschaft oder Berührung; zweitens durch aemulatio, eine Konstruktion von Gleichheit durch Reflexion nach dem Modell des Spiegels oder des Echos; drittens durch analogia, eine Ähnlichkeit, die auf der Entsprechung von Relationen beruht; und viertens durch sympathia, die weder auf örtliche Nähe, noch auf bildliche oder strukturelle Ähnlichkeit gegründet ist, sondern eher für einen unberechenbaren Übersprung zwischen den Sphären steht. Foucault ist dafür kritisiert worden, dass er dieses »System der Ähnlichkeiten«,71 das er aus einer nicht allzu großen Zahl von esoterischen und naturmagischen Texten der Zeit destilliert hatte, als die dominante Episteme der Renaissance ausgab. Er habe ignoriert, dass die ähnlichkeitsmagischen, neoplatonisch-esoterischen Traktate der Renaissance keineswegs dem damaligen Stand der Wissenschaft entsprachen, dass sie vielmehr von der aristotelisch-empirischen Naturforschung schon früh als bloßer »stuff of fantasy« betrachtet worden waren.72 Wenn die Renaissance in Die Ordnung der Dinge als eine »Welt der Ähnlichkeit« 73 erscheine, so liege dies an dem eingeschränkten Korpus, auf das Foucault sich gestützt habe: Für Foucault bildet diese Lehre von den Korrespondenzen die Grundstruktur des Geistes des 16. Jahrhunderts. Wie Levi-Strauss auf eine unverständliche Landschaft blickte – deren Formen, deren Geschichte selbst plötzlich durch die Entdeckung einer unterirdischen, dem Auge verborgenen, aber vom Geologen auszugrabenden Bruchlinie verständlich werden konnte – so glaubt Foucault, dass er in dem genialen Gezeter des Paracelsus oder in della Portas handlichem Rezeptbuch die erkenntnistheoretischen Grundlagen einer ihm fremden Zivilisation gefunden habe.74

Der Eindruck ist nicht von der Hand zu weisen, dass Foucault die Episteme der Renaissance auf ein magisches »Spiel der Ähnlichkeiten« reduziert hat,75 damit sich die folgende, ›wissenschaftliche‹ Episteme der Klassik möglichst dramatisch davon absetzen konnte. Dennoch lohnt es sich, das von ihm geschilderte Modell der vier Ähnlichkeiten im Auge zu behalten. Es mag sein, dass das Denken in Korrespondenzen, Einflüssen und geheimen Anziehungen im 16. Jahrhundert 71  Ebd., S. 74. 72  Ian Maclean, »Foucault’s Renaissance episteme reassessed. An Aristotelian counterblast«,

Journal of the History of Ideas, Jg. 59, N° 1, 1998, 149 – 166, S. 154.

73  Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 91. 74  George Huppert, »Divinatio et eruditio. Thoughts on Foucault«, History and Theory,

Jg. 13, N° 3, 1974, 191, S. 199.

75  Foucault, Die Ordnung der Dinge, 88.

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nicht gerade die Avantgarde der Wissenschaft bezeichnete. Es bildete jedoch ein alltägliches, überaus einflussreiches Welterklärungsmodell, eine ›spontane Ideologie‹, die nicht nur Fürsten und einfachen Leuten einleuchtete, sondern auch den Gelehrten, selbst wenn sie in der Theorie gegen das magische Denken auftraten. Von der Popularität der Astrologie, der Alchemie, der Chiromantie, der Traumdeutung und anderer hermetischer Künste zeugen Tausende von Druckschriften; ihr Einfluss war umso größer, als sich das esoterische Wissen selbst in seiner veröffentlichten Form immer mit dem Ruch des Geheimnisses zu umgeben wusste. Die Wirksamkeit des Ähnlichkeitsdenkens zeigt sich aber vor allem auch darin, wie die Menschen die Dinge ihrer Welt anordneten, vom Einräumen eines Apothekenschranks über die Gliederung eines Reiseberichts bis zur Einrichtung eines Museums. Hier sind durchgehend convenientia und ihre Kolleginnen am Werk: Nicht klassenlogische Unterteilungen entscheiden über den Ort, den ein Ding einzunehmen hat, sondern räumliche Nachbarschaften, Gewohnheiten des Zusammenlebens oder des Gebrauchs, bildliche Ähnlichkeiten, Analogieschlüsse oder die Sympathie oder Antipathie, die ein Ding an ein anderes bindet oder es von ihm abstößt. Hier soll es vor allem um einen Aspekt dieses Denkens der Ähnlichkeit gehen, der bei Foucault ganz ausgeblendet wird. Es ist dies der Zusammenhang der Spiele der Ähnlichkeit mit den gesellschaftlichen Beziehungen. Zunächst gibt es bei Foucault eine vielversprechende Andeutung. Er erklärt ausdrücklich, dass sein Versuch, die Ordnung einer Epoche freizulegen, weder auf die elementaren Strukturen der Ordnung, auf die »Ordnungscodes« zielt, noch auf die (wissenschaftlichen und philosophischen) »Theorien«, in denen diese Strukturen sich reflektieren. Ihm geht es erklärtermaßen um die »›Mittel‹-Region« (»région ›médiane‹«), in der, wie er sagt, »die nackte Erfahrung der Ordnung und ihrer Seinsweisen« stattfindet.76 Man könnte denken, dass zu diesem Bereich einer impliziten, alltäglichen Einübung von Ordnung auch und gerade die Erfahrung politischer und sozialer Ordnung gehört. Gesellschaftliche Implikationen der Renaissance-Episteme kommen jedoch bei Foucault nicht zur Sprache, was umso merkwürdiger ist, als die Mehrzahl der von ihm genannten Ähnlichkeitsbegriffe ganz unverhohlen sozialen Verhältnissen nachgebildet ist: Der semantische Raster der Ähnlichkeit ist im sechzehnten Jahrhundert reich: ›Amicitia, aequalitas (contractus, consensus, matrimonium, societas, pax et similia) consonantia, concertus, continuum, paritas, proportio, similitudo, con­ iunctio, copula‹.77

76  Ebd., S. 23 – 24. 77  Ebd., S. 46.

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Foucault war offenbar nicht an der Frage interessiert, inwiefern die von ihm beschriebenen Ähnlichkeitsbeziehungen mit sozialen Positionierungen zu tun haben könnten, und auch in der Sekundärliteratur zur Ordnung der Dinge gibt es keine Versuche, die epistemische Ordnung der Renaissance mit der Struktur des Ständesystems in Verbindung zu bringen. Dagegen ließe sich – beispielsweise unter Berufung auf die klassische Studie Über einige primitive Formen von Klassifikation von Émile Durkheim und Marcel Mauss 78 – die Vermutung anbringen, dass die Episteme der Ähnlichkeit, bevor sie ein System zur Auslegung der Welt im Ganzen wurde, zunächst einmal ein System zur Interpretation der nächsten sozialen Beziehungen war – ein Versuch, die eigene Stellung in einem komplexen, zunehmend unübersichtlicher werdenden Beziehungsgeflecht zu beschreiben. Wenn die Episteme der Renaissance die ganze Welt in Begriffen der Nähe, der bildlichen oder strukturellen Entsprechung, der Zuneigung oder Abneigung dachte, dann dachte sie sie in Begriffen, die unmittelbar der Orientierung im sozialen Raum entstammten. Die Hermeneutik der Natur war auf diese Weise nichts anderes als eine ins Kosmische geweitete Hermeneutik der Gesellschaft: Die Entzifferung der Welt folgte der Entzifferung des Sozialen.

Der Schauplatz der Alchemie In diesem Zusammenhang lohnt es sich, einen Blick auf den Formenkomplex der Alchemie zu werfen, in dem das das Ähnlichkeitsdenken der Renaissance seinen gelehrtesten Ausdruck und seine größte Verbreitung gefunden hat. Hunderte von theoretischen Traktaten, praktischen Anleitungen und üppig ausgestatteten Emblembüchern zeugen davon, dass es eine beträchtliche Nachfrage nach dem ›arkanen‹ Wissen der Alchemie gab. Zugleich beweisen die in Literatur und Kunst der Frühen Neuzeit allgegenwärtigen Anspielungen auf Verheißung und Mühen des ›Großen Werks‹, dass sich die Reichweite des alchemistischen Imaginären nicht auf den relativ kleinen Kreis derer beschränkte, die sich den Aufwand tatsächlicher Experimente leisten konnten. Über die technische Anwendung hinaus bildete das Wissen der Alchemie vielmehr eine Art populärwissenschaftlicher Mythologie mit geradezu universellen Einsatzmöglichkeiten: Mit ihr ließ sich die Welt erklären; aus ihr ließen sich ethische Lehren ziehen; und sie stellte ein allgemeines Schema des Denkens zur Verfügung, das sich auf beliebige andere Gegenstandsbereiche übertragen ließ. So war die Alchemie im England des 17. Jahrhunderts mehr als nur eine esoterische Praxis, mehr als nur die private Grille reicher Exzentriker, die sich in ihrem Haushalt ein Labor einrichten ließen. Im gesellschaftlichen Imaginären der Epoche nahm sie einen prominenten Platz ein – nicht zuletzt aufgrund ihrer intimen Verbindung mit dem Gold, das als 78  Zu Durkheim und Mauss, s. o., Kap. 2, Abschnitt »Die sozialen Quellen der Logik«.

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Leitstern des Merkantilismus zugleich die Leitmetapher der elisabethanischen Kultur bildete.79 Es liegt also nahe, nach dem sozialen Sinn der alchemistischen Konstruktionen zu fragen, nach dem, was sie über die Ordnung der Gesellschaft verraten. Die Fülle und scheinbare Beliebigkeit der hermetischen Bildlichkeit scheint einer solchen Erklärung zunächst im Wege zu stehen: Die Verwirrung wurde durch die esoterische Natur der Literatur der Alchimie verschlimmert, die als ein Fundus alter und geheimer Weisheit verstanden wurde und stark von der Sprache und den Anliegen der Astrologie, des Neuplatonismus und des Kabbalismus beeinflusst war. In der geheimnisvollen und pittoresken Symbolik der Abhandlungen wurden Substanzen nach den Planeten, die sie regierten, oder nach Königen und Königinnen, Löwen, Drachen, Hermaphroditen und Kröten usw. bezeichnet; chemische Prozesse wurden als Vorgänge der Geburt, der Verstümmelung, der Verdauung, der Kopulation und des Ertrinkens beschrieben.80

In seinem 1914 erschienenen Buch Probleme der Mystik und ihrer Symbolik hat der Psychoanalytiker Herbert Silberer gezeigt, was man tun kann, um die Verwirrungsstrategien der alchemistischen Geheimniskrämer zu unterlaufen und sich trotz aller mutwilligen Verrätselung »in den hermetischen Schriften zurechtzufinden«: »[A]bgesehen von einer gewissen Übung in der Bildersprache der Alchemisten ist es notwendig, sich die Worte, die gebraucht werden, gleichsam wegzudenken und einzig auf den Zusammenhang zu achten, in dem sie stehen.« 81 Demnach kommt es nicht auf die Erklärung der einzelnen Terme an (die in den Texten laufend vertauscht werden); entscheidend ist vielmehr die Erfassung des Zusammenhangs oder des Musters von Beziehungen, in denen sie stehen. Silberer hat dieses Verfahren eingesetzt, um zu den psychischen Motiven vorzustoßen, die die alchemistische Vorstellungswelt regieren.82 Der gleichen Fährte folgend hat 79  Vgl. William H. Sherman, »›Gold is the strength, the sinnewes of the world‹. Thomas

Dekker’s ›Old Fortunatus‹ and England’s Golden Age«, Medieval and Renaissance Drama in England, Jg. 6, 1993, 85 – 102, S. 86: »Gold was a—possibly the—master trope in late Elizabethan England.« 80  Martin Butler, »Introductory Note«, in: Ben Jonson., The selected plays of Ben Jonson. Vol. 2: The Alchemist, Bartholomew Fair, The New Inn, A Tale of a Tub, hg. v. Martin Butler, Cambridge, 1989, 3 – 7, S. 7. 81  Herbert Silberer, Probleme der Mystik und ihrer Symbolik, Wien, 1914, S. 78. 82  Tatsächlich sind die Schilderungen des chymischen Prozesses (allein schon deshalb, weil die Metallgewinnung als Zeugungs- und Gebärvorgang verstanden wird) so reich an sexuellen Konnotationen, dass die Analyse nicht mehr zu tun hat, als das Offensichtliche als solches zu benennen: »Was anfangs als kühne Vermutung erscheinen mochte, wie der Vatermord, der Mutterinzest, die Auffassung des roten Blutes und der weißen Knochen als Mann und Weib, die Fäkalien als Zeugungsstoff, das Gefängnis als Uterus: all das hat sich als beliebtes Bildwerk bei den alchemistischen Autoren erwiesen.« Ebd., S. 89.

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C. G. Jung in der Alchemie die »archetypischen Gestaltungen des Unbewußten« wiedergefunden,83 und auch Gaston Bachelard nahm an, dass man die spezifischen Erkenntnishindernisse der Alchemie nur verstehen könne, wenn man sie auf »tiefere Quellen im Unbewußten« zurückführe.84 Während es auf diese Weise zu einer vertrauten Vorstellung wurde, dass die Alchemie etwas mit den Abgründen der Seele oder schlicht mit Sex zu tun hat,85 hat es nur wenige Versuche gegeben, sie auf ihre gesellschaftlichen Triebgründe zurückzuführen. In den Schriften von Marx finden sich zwar zahlreiche Anspielungen auf die Alchemie, er hat sie jedoch nie zum Gegenstand der Analyse gemacht, sondern sie – in einer Weise, die selbst an das allegorische Verfahren der Alchemisten erinnert 86 – als Generalmetapher für die irrationalen, zauberischen und fetischismusverdächtigen Aspekte der Geldökonomie eingesetzt: Alles wird verkäuflich und kaufbar. Die Zirkulation wird die große gesellschaftliche Retorte, worin alles hineinfliegt, um als Geldkristall wieder herauszukommen. Dieser Alchimie widerstehn nicht einmal Heiligenknochen […].87

Wenn die Wandlungsprozesse des Kapitals als alchemistische Transmutation beschrieben werden können, so liegt der Umkehrschluss nahe, dass bereits in der Alchemie so etwas wie ein Keim kapitalistischer Wertvergesellschaftung verborgen liegt. Dies scheint jedenfalls im 19. Jahrhundert so wahrgenommen worden zu sein. Goethes Faust lässt sich, wie der Ökonom Hans-Christoph Binswanger gezeigt hat, als eine Meditation über den Zusammenhang von »Geld und Magie« lesen: Die »moderne«, auf Papiergeld und Kredit beruhende Wirtschaft erscheint hier als »eine Fortsetzung der Alchemie mit anderen Mitteln«.88 Eine explizite Formulierung dieser Genealogie findet sich bei Mallarmé: In seinen Betrachtungen über die Magie bezeichnet er die Alchemie als den »glorreichen, überstürzten und verwirrten [troublé] Vorläufer« der »politischen Ökonomie«: »Der Nullstein [pierre nulle], genannt der des Philosophen, träumt das Gold, aber er kündigt, in Gestalt der Finanz, den Kredit der Zukunft an, damit dem Kapital 83  Vgl. Carl Gustav Jung, Studien über alchemistische Vorstellungen, hg. v. Lilly Jung-Merker u. Elisabeth Rüf, Olten, Freiburg im Breisgau, 1988, S. 273. 84  Gaston Bachelard, Die Bildung des wissenschaftlichen Geistes. Beitrag zu einer Psychoanalyse der objektiven Erkenntnis (1938), Frankfurt a. M., 1987, S. 92. 85  Vgl. Wolfram Eberhard, A history of China (1948), Berkeley, Los Angeles, 1977, S. 105: »When we hear of alchemy, or read books about it we should always keep in mind that many of these books can also be read as books of sex.« 86  Karen Pinkus schlägt daher eine neue Form der Kapital-Lektüre vor: »Reading Capital I Alchemically«, vgl. Karen Pinkus, Alchemical mercury. A theory of ambivalence, Stanford, California, 2010, S. 141. 87  Marx, »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band«, S. 145. 88  Hans Christoph Binswanger, Geld und Magie. Eine ökonomische Deutung von Goethes Faust (1985), Hamburg, 2005, S. 51.

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vorausgehend […].« 89 Auf solchen Intuitionen aufbauend haben spätere Theoretiker der Alchemie immer wieder deren gesellschaftliche Avantgardefunktion hervorgehoben: Wie Mircea Eliade behauptet, hätten die Alchemisten, in ihrem Drang, sich über die Gegebenheiten der Natur hinwegzusetzen, die »Ideologie der modernen Welt« vorweggenommen. Die wahre Erbschaft der Alchemie bestehe nicht in ihrem Beitrag zur modernen Chemie (zu dieser habe sie nur »unbedeutende Fragmente« beigesteuert); sie sei vielmehr »in den Systemen der politischen Ökonomie« zu finden, »in den säkularisierten Theologien des Materialismus, Positivismus und des unbegrenzten Fortschritts, kurz, überall dort, wo […] sich die eschatologische Bedeutung von Arbeit, Technologie und wissenschaftlicher Naturausbeutung enthüllt«.90 So originell eine solche Genealogie zunächst wirkt (ausgerechnet die Alchemie, die stets als Fortschrittshindernis betrachtet wurde, erweist sich als Motor der modernen Fortschrittsideologie), für die Frage nach dem Zusammenhang von alchemistischer Semantik und frühneuzeitlicher Gesellschaftsstruktur sind solche generellen Urteile wenig ergiebig. Der Formenkomplex der Alchemie ist zu vielschichtig, um einseitig einer Tendenz zur Moderne oder zum Kapitalismus zugeschlagen zu werden. Als überaus vielgestaltiges und wandelbares Symbolsystem stellte die Alchemie eine Sprache zur Verfügung, in der sich alles Mögliche formulieren ließ, nicht nur geheime Rezepturen, große Versprechungen und fromme Beteuerungen,91 sondern auch – mit dem Vorzug der chiffrierten Darstellung – weltliche Lockungen, sexuelle Begehrlichkeiten und politische Utopien. In der Alchemie fanden die Autoren der Frühen Neuzeit eine Sprache, die es erlaubte, »gleichzeitig Entwicklungen in dem Bereich, den wir ›Ökonomie‹ nennen, und Konflikte in den Feldern, die wir als ›Psychologie‹ oder ›Religion‹ bezeichnen, zu betrachten«.92 So wäre es verfehlt, die Alchemie einer bestimmten politischen oder religiösen Tendenz zuzuordnen, denn wie ihre Geschichte zeigt, konnten darin sowohl restaurative wie auch revolutionäre Anliegen verpackt werden. Es ist auch nicht sinnvoll, die Alchemie im Ganzen mit der Bewegung des aufkommenden Kapitalismus zu identifizieren. Peggy Knapp lässt sich in ihrer Analyse zweier literarischer Alchemismus-Darstellungen – Geoffrey Chaucers The Canon’s Yeo89  Stéphane Mallarmé, »Magie«, in: ders., Divagations, Paris, 1897, 324 – 327, S. 325, vgl. Jean-Joseph Goux, The coiners of language, Norman, London, 1994, S. 110. 90  Mircea Eliade, The forge and the crucible (1956), Chicago, 1978, S. 173. 91  Was die großen Versprechungen angeht, vgl. Anon., »Ein güldener Tractat vom Philosophischen Steine«, in: Johann Grasshoff (Hg.), Dyas chymica tripartita, das ist, sechs herrliche Teutsche philosophische Tractälein, Franckfurt am Mayn, 1625, 11 – 66, S. 66: »Denn Goldes vnnd edler Carfunckelsteine waren da kein Ende, verjüngerung und Wiedererstattung natürlicher Kräfte, wie auch Wiederbringung verlorner Gesundheit vnd hinnehmung aller Kranckheiten war ein gemein Ding daselbsten.« 92  David Hawkes, Idols of the marketplace. Idolatry and commodity fetishism in English literature, 1580 – 1680, New York, 2001, S. 147.

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man’s Tale (geschrieben gegen Ende des 14. Jahrhunderts) und Ben Jonsons The Alchimist (1610 uraufgeführt) – stark von Marx’ suggestiven Analogien leiten; sie kommt zu dem erwartbaren Ergebnis, dass die Alchemie in beiden Fällen auf einen »capitalism yet to come« verweise.93 Der Unterschied liege allerdings darin, dass »Merkmale des Kapitalismus« zur Zeit von Jonsons The Alchemist »deutlich zu beobachten« waren,94 während the Canon’s Yeoman’s Tale allenfalls als eine prophetische »Vision von moderner, protokapitalistischer Gesellschaft« gelten konnte.95 Dies führt zu der kaum zu beantwortenden Frage, ob dann auch die Alchemie der Antike schon als eine Vorwegnahme moderner, kapitalistischer Verhältnisse zu gelten habe.

Gold und Geltung Die soziale Indikatorfunktion der Alchemie ist offenbar nicht darin zu sehen, dass sie unmittelbar eine bestimmte politische oder ökonomische Tendenz verkörperte. Eher kann man sagen, dass sie einen Schauplatz, einen Austragungsort zur Verfügung stellte, auf dem die verschiedensten Kämpfe, darunter auch die um die soziale Hierarchie, in symbolisch chiffrierter Form ausgefochten werden konnten. Das ambivalente Erscheinungsbild der Alchemie in der Frühen Neuzeit – Kunst der spirituellen Läuterung oder betrügerisches Gewinnstreben – erklärt sich nicht zuletzt dadurch, dass in ihr zwei verschiedene symbolische Ökonomien im Streit lagen: eine, die dem Gold einen intrinsischen, spirituellen Wert zuschrieb, und eine, die den Wert aller Dinge aus dem Spiel der Tauschbeziehungen hervorgehen ließ. Der englische Literaturwissenschaftler David Hawkes hat anhand alchemistischer Motive in der Lyrik von John Donne den Unterschied zwischen den beiden Auffassungen herausgearbeitet. Der alchemistischen Doktrin zufolge stellte das Gold den vollkommensten aller Stoffe dar, gleichsam das privilegierte Übergangsobjekt zur Welt der unkörperlichen, spirituellen Wesenheiten: »Die Tatsache, dass es weder rostet noch zerfällt, führte zu der Annahme, dass Gold unter aller geschaffenen Materie die perfekteste Mischung der vier Elemente enthalten muss. Die Umwandlung von unedlen Metallen in Gold würde demnach die Anwesenheit des Elixiers anzeigen, und dies allein erklärt die zentrale Bedeutung der Goldherstellung für das alchemistische Unterfangen.« 96 Zumindest in der Theorie war diese spirituelle Auffassung des Goldes unvereinbar mit seiner Schätzung als Geldwert: »Jeder Versuch, die Alchemie zur Bereicherung 93  Peggy Ann Knapp, »The work of alchemy«, Journal of Medieval and Early Modern Studies, Jg. 30, N° 3, 2000, 575 – 599, S. 576. 94  Ebd., S. 577. 95  Ebd., S. 580. 96  Hawkes, Idols of the marketplace, S. 152.

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zu nutzen, stand dem Geist des gesamten Projekts diametral entgegen. Gold als etwas zu betrachten, das einen finanziellen oder quantitativen Wert enthielt – und nicht eine wesenhafte oder qualitative ›Tugend‹ –, hieß eine Weltanschauung zu offenbaren, die in direktem und unvereinbarem Widerspruch zur alchemistischen Ontologie stand.« 97 Soweit die Ideologie – die Praxis der Alchemie lief dagegen auf einen Dauerkonflikt zwischen den beiden Einstellungen hinaus, der sich in der Literatur der Zeit in einer zwischen »Metamorphose oder Reinigung« und »Falschheit oder Kapitalismus« schwankenden Bildlichkeit niederschlug.98 Wie Hawkes zeigt, ist John Donnes Lyrik für eine symptomatische Lektüre des alchemistischen Imaginären deshalb besonders aufschlussreich, weil hier der Kampf zwischen den beiden Ökonomien in krisenhafter Zuspitzung zutage tritt. In dem Gedicht »On Love’s Progress« (ca. 1593) hängt das lyrische Ich zwar noch der althergebrachten, substantialistischen Auffassung des Goldes an, kann sich aber zugleich dem Zauber des Geldwerts nicht entziehen: I, when I value gold, may think upon The ductileness, the application, The wholesomeness, the ingenuity, From rust, from soil, from fire ever free, But if I love it, ’tis because ’tis made By our new nature, use, the soul of trade.99

Mit der Vorherrschaft der quantitativen, vergleichenden Wertzumessung ist der Untergang des alten, auf Teilhabe, Verwandtschaft und essentiellen Bezügen beruhenden Systems der Ähnlichkeiten besiegelt. 1611 gibt John Donne eine melancholisch-lakonische Verlustmeldung heraus: »The art is lost, and correspondence too.« 100 Zur gleichen Zeit (1610) inszeniert Ben Jonsons The Alchimist den Triumph der abgebrühten, tauschökonomischen Auffassung des Goldes in der selbstbewussten Haltung des Unternehmers Sir Epicur Mammon. Als dieser daran erinnert wird, dass der Stein der Weisen nur von einem »pious, holy, and religious man, One free from mortal sin, a very virgin« hergestellt werden könne, erwidert Mammon, das könne schon sein, aber damit sei noch nichts darüber gesagt, wer den Stein am Ende in der Hand halte: »But I buy it. My venture brings it me«.101 Der kapitalistische Händler erscheint hier als der rationalere Goldsucher. Ohne danach zu fragen, was das Gold ist, interessiert er sich nur für seinen Preis. 97  Ebd., S. 153. 98  Katherine Eggert, Disknowledge. Literature, alchemy, and the end of humanism in Renais-

sance England, Philadelphia, 2015, S. 4. 99  Zit. nach Hawkes, Idols of the marketplace, S. 162. 100  »The First Anniversary: An Anatomy of the World« (1611), zit. nach ebd., S. 164. 101  Ben Jonson, »The Alchimist«, in: ders., The selected plays of Ben Jonson. Vol. 2: The Alchemist, Bartholomew Fair, The New Inn, A Tale of a Tub, hg. v. Martin Butler, Cambridge, 1989, S. 44.

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Spätestens seit in den 1570er Jahren eine kapitalistische Unternehmung namens »The Society of the New Art« darauf spekulierte, mit Hilfe alchemistischer Techniken aus unedlen Metallen in großen Mengen Quecksilber und Kupfer zu erzeugen,102 erscheint es als unmöglich, eine rigide Trennung der ökonomischen Anschauungen – spirituell-qualitativ vs. materiell–quantitativ – durchzuhalten: Die Alchemie, die sich bis dahin das Ansehen einer idealistischen, spirituellen Bemühung erhalten konnte, wird im 17. Jahrhundert zunehmend mit den negativen Seiten der Wertvergesellschaftung identifiziert. Auch wenn ihre Adepten stets die Lauterkeit ihrer Absichten betonen, steht die Alchemie in der öffentlichen Wahrnehmung für die Aspekte der Täuschung, der Wandelbarkeit, der Ambivalenz, die an modernen Warenverhältnissen hervortreten. Der alchemistischen Bildlichkeit lässt sich auf diese Weise eine Art seismographischer Funktion zusprechen. In allegorischer Einkleidung zeichnet sie nach, welche Erschütterungen und Umwertungen die symbolische Ökonomie der Zeichen heimsuchten. Doch stellt die Alchemie nicht nur einen Schauplatz des Widerstreits ökonomischer Tendenzen dar; sie lässt sich zugleich als Theater der sozialen Beziehungen begreifen, als ein Theatrum Chymicum, auf dem die Chemie des Sozialen zur Aufführung gelangte. Zunächst lässt sich feststellen, dass die Alchemie darauf bedacht war, eine Ordnung der Wesen zu etablieren, in der alles seinen vorbestimmten Platz hatte. Als eine »value-related hierarchy«, die von »the highest spiritual empyrean heaven« bis zu »the lowest, grossest, vilest depths of matter« reichte,103 bildete das Universum der Alchemisten eine getreue Entsprechung zur irdischen Ständeordnung, insbesondere in der neuzeitlichen Ausdifferenzierung einer ›society of degrees‹. Zugleich zeichnet sich jedoch in den Schilderungen des alchemistischen Prozesses die Dynamik ab, die diese Gesellschaft erfasst hat. Die allegorischen Schilderungen des Großen Werks sind auch deshalb so verwirrend, weil die Substanzen (bzw. die Personen oder Tiere, durch die sie vertreten werden) unablässig ihre Gestalt, Farbe und Stellung wechseln: Die Position in der Hierarchie ist in keiner Weise gesichert, sie ist vielmehr einem ständigen Wandel ausgesetzt, der, wie im Traum oder im Märchen, als unvorhersehbar und wundersam erlebt wird.104 So ist es vielleicht nicht zu weit hergeholt zu sagen, dass der Wandlungsprozess der Alchemie unter anderem auch für die Versprechungen, Beschwerlichkeiten und Gefahren des sozialen Aufstiegs steht, sowie für die Unsicherheit der Zeichen, die den Weg dorthin weisen. Die Mühseligkeit und alptraumhafte Zähigkeit, mit 102  Vgl. Sherman, »›Gold is the strength, the sinnewes of the world‹«, S. 90 – 91. 103  Norma E. Emerton, »Creation in the thought of J. B. van Helmont and Robert Fludd«,

in: Piyo Rattansi und Antonio Clericuzio (Hg.), Alchemy and Chemistry in the 16th and 17th Centuries, Dordrecht, 1994, 85 – 101, S. 90. 104  Ohne die Andeutung auszuführen spricht Fanny Cosandey im Zusammenhang mit den Rangstreitigkeiten der höfischen Gesellschaft von einer »alchimie des rangs«, Cosandey, Le rang, S. 461.

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der sich die Wandlungen vollziehen, lässt sich auch darauf zurückführen, dass sich die Bewegung des sozialen Positionswechsels unter den Bedingungen einer Gesellschaft vollzieht, die eine solche Mobilität gerade nicht vorsieht. Die Gesellschaft, in deren Traumregionen sich die alchemistischen Transmutationen abspielen, ist noch keine entwickelte Marktgesellschaft, deren Teilnehmer allein durch den ökonomischen Zwang regiert würden. Die alten persönlichen und korporativen Bindungen haben immer noch beherrschende Gewalt; zugleich jedoch müssen die Subjekte mit der verstörenden Erfahrung zurechtkommen, dass sich die Verhältnisse der Über- und Unterordnung durch finanziellen Gewinn oder Verlust jederzeit umkehren können: Ich war groß, vnd wurd geringe: Nun aber bin ich, alß ich gedemütigt worden, enige Königin erhaben vber viel Königreiche: ich bin Getödtet vnd wiederlebendig gemachet; Mir Armen sind die grossen Schätze der Weisen vnd Gewaltigen vertrawet und vbergeben.105

Es scheint, als seien die sozialen und politischen Konnotationen der alchemistischen Spekulationen zumindest zeitweise auch als solche erkannt und bewusst instrumentalisiert worden. Um 1600 wurde in den alchemistischen Kreisen Neapels über die symbolischen Bedeutungen der Destillation diskutiert, »wobei die alchemistische Kunst als eine Metapher der Gesellschaftsreform betrachtet wurde, eine Reinigung der Gesellschaft durch Abtrennung, ähnlich dem alchemistischen Scheideprozess«.106 In Ben Jonsons The Alchimist wird das Stadthaus, in dem sich in Abwesenheit des Herrn ein alchemistisches Betrügertrio eingenistet hat, zum Inbegriff deterritorialisierter und künstlicher sozialer Beziehungen, die in eklatantem Gegensatz zur traditionalen Welt des ländlichen Grundbesitzes stehen: Neue Möglichkeiten entstehen, die eine ernsthafte Konkurrenz zu der traditionellen Ordnung bilden, die ursprünglich den Haushalt von Lovewit strukturiert hat. Der alchemistische Prozess selbst stellt eine Alternative zu den sozialen Hierarchien und Ahnengeschichten dar, wie sie in den Landhaus-Erzählungen gefeiert werden.107

Die stärkste und dauerhafteste politische Besetzung erfuhr jedoch die alchemistische Denkfigur des ›solve et coagula‹, die das Wechselspiel von Lösung und Verbindung, von Verflüssigung und Verfestigung im alchemistischen Prozess 105  Anon., »Ein güldener Tractat vom Philosophischen Steine«, S. 64. 106  William Eamon, »A theater of experiments. Giambattista Della Porta and the scientific

culture of Renaissance Naples«, in: Arianna Borrelli, Giora Hôn und Yaakov Zik (Hg.), The optics of Giambattista Della Porta (ca. 1535 – 1615). A reassessment, Cham, 2017, 11 – 38, S. 19. 107  Anne M. Myers, Literature and architecture in early modern England, Baltimore, Md., 2013, S. 91.

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bezeichnete. Die Lösung der stofflichen Bindungen, exemplarisch vertreten durch das fließende Element des Quecksilbers, wurde immer wieder mit der Auflösung der gesellschaftlichen Bindungen und der Zerstörung der ständischen Hierarchien in Verbindungen gebracht; dieser Tendenz zur Verflüssigung wurde das verfestigende, ›konservative‹ Gegenprinzip des Schwefels entgegengesetzt. In dem 1617 erstmals veröffentlichten Emblembuch Atalanta fugiens illustriert der paracelsische Arzt Michael Maier den Gegensatz der Prinzipien anhand einer Episode aus Ovids Metamorphosen: Atalanta, die stolze und unabhängige Jägerin, Inkarnation des flüssigen Quecksilbers, weigert sich zu heiraten. Bezwungen wird sie von Hippomenes, der den Schwefel und damit das Moment der Festigkeit vertritt; er besiegt sie im Wettlauf, indem er durch drei auf den Weg geworfene goldene Äpfel ihre Aufmerksamkeit fesselt.

Abbildung 12: Michael Maier u. Matthaeus Merian, Atalanta Fugiens, hoc est, Emblemata Nova De Secretis Naturae Chymica. Oppenheim: de Bry; Gallerus, 1618, Titelblatt (Detail).

Welchem Pol der Formel ›solve et coagula‹ der Vorzug gegeben wird, hängt nicht zuletzt von der politischen Einstellung ab. So findet sich bei Gerrard Winstanley, dem Protagonisten der radikalen Landlosen-Bewegung der Diggers, eine alchemistische Bildlichkeit, in der der Begriff der »Transmutation« eine starke politisch-eschatologische Aufladung erfährt.108 Dagegen zeichnet Elias Ashmole, 108  David Mulder, The Alchemy of revolution. Gerrard Winstanley’s occultism and seventeenth-

century English communism, New York, 1990. Kritisch zu Mulders Betonung der alchemistischen Komponente in Winstanleys Denken: Ariel Hessayon, »Gerrard Winstanley and Jacob Boehme«, Cromohs (Cyber Review of Modern Historiography), N° 18, 2013.

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der im Englischen Bürgerkrieg die royalistische Partei unterstützt hatte, in seinem Theatrum chemicum Britannicum (1652) ein Bild der Alchemie, in dem die Kräfte der Ordnung und Beharrung über die des Wandels und der Auflösung triumphieren: »Die hierarchische und mysteriöse Struktur des Universums, wie sie in Ashmoles Schriften über Alchemie und Magie dargestellt wird, spiegelt das Dekorum, die Ordnung und Ehrerbietung der heraldischen Weltsicht wieder.« 109 Insbesondere wendet sich Ashmole gegen die Annahme, dass die Metalle nur veredelt werden könnten, wenn sie zunächst in den Stoff zurückverwandelt würden »whereof they were first made and fashioned«.110 Denn dies hieße nichts anderes als »to make division and dissolution, that is destruction«.111 Nicht die radikale Zersetzung, sondern die Bewahrung der geschaffenen Ordnung und die Orientierung an den etablierten Ähnlichkeitsstrukturen führt nach Ashmole zur Gewinnung des Steins der Weisen: Es sei »the near Neighbourhood of Mettals«, die es erlaube, sie ohne Zerstörung ineinander zu überführen.112

Vier Ähnlichkeiten, revisited Wie von den Bildern der Alchemie ließe sich auch von den von Foucault beschriebenen Figuren der Ähnlichkeit zeigen, inwiefern sie nicht nur als Weisen der Welterkenntnis, sondern zugleich als Techniken der sozialen Verortung funktionieren. Bei dem Renaissance-Wissen von den Ähnlichkeiten, von den möglichen Verbindungen der Dinge, geht es immer auch um ein Wissen von den sozialen Beziehungen, von den möglichen oder unmöglichen Verbindungen unter den Menschen. Versuchsweise ließe sich fragen, ob nicht das ganze System der Ähnlichkeiten ein intellektuelles Werkzeug bildet, das recht genau auf eine ganz bestimmte soziale Problemstellung reagiert. Vergegenwärtigt man sich das Porträt, das der Historiker Harold Perkin von der postfeudalen Patronagegesellschaft gegeben hat,113 so erscheint es nicht absurd, die von Foucault beschrieben Episteme der Ähnlichkeit als ein Interpretationssystem zu betrachten, bei dem es immer auch darum ging, sich im Dickicht einer solchen Gesellschaft zu orientieren und durch Ausnutzung der verschiedenen Beziehungs- und Einflussverhältnisse die eigene Stellung zu verbessern. Die »vier Ähnlichkeiten« lassen sich auf dieser Weise als unterschiedliche, aber ineinandergreifende Modi der Interpretation und Manipulation von Verhältnissen sozialer Mimesis beschreiben. So bildet die convenientia, die Beziehung der Nachbarschaft oder Kontiguität, ein Erkennungszeichen von sozialer Nähe und Zugehörigkeit, das seine Vertraut109  Michael Hunter, Science and the shape of orthodoxy. Intellectual change in late seventeenth-

century Britain, Woodbridge, 1995, S. 31. Elias Ashmole, The Way to Bliss; In Three Books, London, 1658, S. 195. Ebd. Ebd. S. o., Kap. 7, Abschnitt »Im Netz der Patronage«.

110  111  112  113 

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heit und Selbstverständlichkeit aus dem früheren feudalen Prinzip der territorialen Bindung bezieht. Sie kann z. B., wie in der Prozession, von der Gleichartigkeit der sozialen Position zeugen, oder aber, wie im Gefolge eines Herrn, von der Enge eines Loyalitäts- und Vertrauensverhältnisses. Als »berührungslose Ähnlichkeit« 114 formt die aemulatio ein System der Kommunikation, das »vom Gesetz des Ortes frei ist« 115, das es also erlaubt, losgelöst vom lokalen Herrschaftskontext, die Anzeichen des Standes und die Einflusskreise der Macht zu erkennen und zu deuten. Schon dem Namen nach handelt es sich um eine Figur der Rivalität. Anstatt Nachbarschaften und Ketten der Abhängigkeit zu begründen, schafft sie »konzentrische, reflexive und rivalisierende Kreise«,116 die jeweils die Wirkungen ihrer Macht bezeichnen – eine Charakterisierung, die gut mit Perkins Beschreibung der elisabethanischen Einflusssysteme in Einklang zu bringen ist: In diesem Zeitalter der gleißenden Höflinge und konkurrierenden Favoriten formte die Patronage die Gesellschaft zu einem komplexen Sonnensystem um. Planeten um Planeten, Mond um Mond, alle drehen sich um die Sonne und das Zentrum ihrer Welt, die Königin selbst. Bacon schaffte es gerade rechtzeitig, sich vor der Kollision zweier solcher Satellitensysteme zu retten, denen der Essex und der Cecils.117

Die soziale Dimension der analogia kann in ihrer Funktionalität für die Ideologie der Ein- und Unterordnung gesehen werden. Per analogiam konnte einsichtig gemacht werden, dass die hierarchische Platzzuweisung der Ständegesellschaft notwendig und natürlich war: Der Mikrokosmos entsprach dem Makrokosmos, die gesellschaftliche Rangordnung fand ihre Bestätigung in der Hierarchie der himmlischen Wesen, in der Anordnung der Planeten oder in der Stufenfolge der Metalle. Bei diesen Analogien scheint es sich weniger um ausgeführte Vergleiche (A verhält sich zu B wie X zu Y) gehandelt zu haben, sondern viel eher um einen unmittelbaren Kurzschluss zwischen den Sphären. Der imperative Charakter der Analogie besteht darin, dass sie nicht zu einem Vergleich der Verhältnisse einlädt, sondern schlicht deren Identität behauptet: Der Stein der Weisen ist der Christus der Natur, und Christus ist der philosophale Stein des Geistes. Merkur, der Vermittler zwischen der Sonne und dem Mond […] ist der Christus in der Welt der Materie, so wie Christus, Mittler zwischen Gott und der Welt, das geistige Quecksilber des Universums ist. Es ist mehr als nur eine

114  115  116  117 

Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 49. Ebd., S. 48. Ebd., S. 50. Perkin, The origins of modern English society 1780 – 1880, S. 41.

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Allegorie oder ein Vergleich. Die Analogie ist tiefer. Auf materielle und spirituelle Prozesse lassen sich die gleichen Symbole anwenden, weil es im Grunde eine Identität zwischen ihnen gibt. Die Identität der Symbole erklärt sich durch die Identität der Prozesse.118

Die Momente der sympathia und antipathia schließlich erweisen sich als aufschlussreich im Hinblick auf die spezifische Funktionsweise des Patronagesystems. Im Unterschied zum Gesetz der convenientia, in dem noch die territoriale Bindung und die vertragliche Natur des Feudalverhältnisses durchscheint, spielt die sympathia, in Foucaults Worten, »in freiem Zustand in den Tiefen der Welt« und »durchläuft in einem Augenblick die weitesten Räume«;119 sie kündet also von einer Deterritorialisierung der sozialen Welt, in der jederzeit, durch eine Laune des Schicksals, jedes Element mit jedem anderen in Verbindung treten kann. Sympathie als überraschende, durch keine räumliche Nähe, durch keine äußere Ähnlichkeit und durch keine strukturelle Übereinstimmung begründete Anziehung, die sich zwischen den entferntesten Positionen des Kosmos herstellen kann, könnte also durchaus eine Figur sein, in der sich die unberechenbaren Launen der Patronage ausdrücken. »Vom Planeten zum von diesem beherrschten Menschen fällt die Sympathie wie von fern der Blitz«,120 heißt es bei Foucault. Ebenso unvorhergesehen aber kann beispielsweise einem armen Tuchmachersohn wie William Petty die Protektion eines anerkannten Philosophen wie Hobbes zuteilwerden, und ebenso plötzlich kann die Gunst eines Schutzherrn oder Mäzens auch wieder entzogen werden – was sich dann durch das korrespondierende Moment der antipathia erklären lässt. Die sympathia ist aber auch deshalb von Interesse, weil sich in ihr eine Tendenz zur Angleichung und Vermischung bemerkbar macht, die stark an Platons Mimesiswarnungen erinnert: Die Sympathie ist eine Instanz des Gleichen (Même), die so stark und so pressierend ist, daß sie sich nicht damit begnügt, eine der Formen der Ähnlichkeit zu sein. Sie hat die gefährliche Kraft, zu assimilieren, die Dinge miteinander identisch zu machen, sie zu mischen und in ihrer Individualität verschwinden zu lassen, sie also dem fremd zu machen, was sie waren. Die Sympathie transformiert. Sie verändert, aber in der Richtung des Identischen, so daß, wenn ihre Kraft nicht ausgeglichen würde, die Welt sich auf einen Punkt reduzierte, auf eine homogene Masse, auf die finstere Gestalt des Gleichen.121

118  119  120  121 

Alexandre Koyré, Mystiques, spirituels, alchimistes du XVI e siecle allemand, 1971, S. 114. Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 53. Ebd. Ebd., S. 54.

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Wieder findet sich bei Foucault kein entsprechender Hinweis, aber die soziale Konnotation ist auch hier offensichtlich: In der sympathia liegt eine entropische Macht der Entdifferenzierung, die, wenn sie nicht durch die Gegenkraft der antipathia zurückgehalten würde, nicht nur die Unterschiede zwischen den Dingen, sondern auch die gesellschaftlichen Hierarchien in sich zusammenfallen lassen würde. Heute wird gelegentlich in positiver Weise auf die magia naturalis der Renaissance Bezug genommen, so als ob darin ein Vorschlag für eine mögliche Ordnung der Welt läge, die nicht auf rigiden Abgrenzungen, sondern eher auf weicheren, unbestimmten Übergängen beruhen würde. Insbesondere das Moment der Sympathie erscheint als Indiz dafür, dass das Denken der Ähnlichkeit sich noch in anderer Weise dem Ganzen der Natur zu öffnen wusste als das spätere, klassifikatorische Denken der Naturwissenschaft.122 Es entsteht der Eindruck, als hätten die Menschen der Renaissance bei der Bestimmung der Abstände gerne auch mal ein Auge zugedrückt und die Grenzen zwischen den Wesen im Ungefähren gelassen. Betrachtet man jedoch die Episteme der Ähnlichkeit als ein Interpretationssystem des Sozialen, sieht die Sache weniger friedlich aus. Angesichts dessen, was Freundschaft innerhalb des Patronagesystems bedeutet, nämlich eine Gunsterweisung, die auf der Erwartung einer Gegenleistung, einer ›Gefälligkeit‹ beruht, erscheint sympathia nicht mehr als Bewegung der freudigen Annäherung an das Andere, sondern – gemeinsam mit antipathia – als ein spezifisches Moment des Beziehungsgefüges der Patronage. Der Artikel »Sympathie« aus dem Zedlerschen Lexikon zeigt dafür ein sicheres Gespür: Sympathie und Antipathie werden hier als Affekte vorgestellt, deren Richtung vom Herrn zum Knecht verläuft, nicht umgekehrt: Mancher Herr, welcher viel Bediente hat, liebet offtmahl einen unter solchen dergestalt, daß er ihn allenthalben vorziehet, da er auch hingegen gleichfalls einen andern, ob er schon das seinige wohl ausrichtet, gar nicht vertragen kan, sondern es sind ihm alle seine Actionen verdrießlich […].123

Die sympathia eines Paten ist unter diesen Umständen ein Angebot, ›das man nicht ablehnen kann‹. Ihre Zeichen (oder die einer sich ankündigenden antipathia) zu erkennen und richtig zu deuten, gehört zu den elementaren Lektürefähigkeiten, die das soziale Überleben innerhalb des paternalistischen Abhängigkeitssystems sichern. 122  Vgl. Jane Bennett, »Of material sympathies, Paracelsus, and Whitman«, in: Serenella

Iovino und Serpil Oppermann (Hg.), Material ecocriticism, Bloomington, Ind., 2014, 239 – 252.

123  Anon., »Sympathie«, in: Johann Heinrich Zedler (Hg.), Großes vollständiges Universalle-

xicon aller Wissenschaften und Künste, Bd. 41 (1744), Halle, Leipzig, 1732 – 54, 744 – 750, Sp. 749.

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Ebenso lässt sich vermuten, dass die im Ähnlichkeitsgefüge der Renaissance zutage tretende Unbestimmtheit oder Vagheit der Übergänge nicht so sehr mit einer gelasseneren Haltung gegenüber dem Anderen zu tun hat, sondern vielmehr mit der permanenten Unsicherheit über die Realität der Beziehungen und die Wirksamkeit der Einflüsse. Die Verortung in der deterritorialisierten, postfeudalen Patronage-Gesellschaft ist keineswegs selbstverständlich. Im Dickicht der Bezüge bedarf es vielmehr einer beständigen Interpretationsarbeit, nicht nur um seinen Platz zu finden, sondern auch um jene Bande zu pflegen, die Schutz und Aufstieg versprechen. Ein spätes Zeugnis des daraus resultierenden sozialen Stresses bieten die Aufsteiger-Romane des 18. Jahrhunderts. Sie sprechen von den Mühen und dem Scheitern des Zurechtfindens in einer Welt, die nicht mehr von den festen Strukturen der Standesgesellschaft, sondern von den wechselnden Konjunkturen der Schutz- und Freundschaftsbeziehungen beherrscht wird: Die Charaktere dieser Romane begegnen nicht einer monolithischen und unwiderstehlich verpflichtenden Gesellschaftsstruktur, sie treffen eher auf eine diffuse und vielfältige Sammlung von Individuen, die nur teilweise durch die institutionellen Arrangements definiert sind, deren Teil sie sind. […] Aber in den narrativen Versionen einer solchen Gesellschaft definieren sich die Charaktere häufig durch die ausgeklügelte Manipulation oder durch den Widerstand gegen diese Patronagebeziehungen, die durchgehend als tragisch ineffizient und auf verkommene Art eigennützig, manchmal aber nur als komisch erfolglos erscheinen.124

Von der Ähnlichkeit zum Unterschied Wie die hier vorgestellten Stationen einer Geschichte der Ähnlichkeit deutlich machen sollten, sind die Weisen der mimetischen Bezugnahme immer auch mit Fragen der sozialen Hierarchie verbunden. Besonders deutlich wird dies in dem von Foucault beschriebenen Übergang von der Ordnung der Ähnlichkeit zur Logik der Klassifizierung. Es handelt sich dabei nicht nur um unterschiedliche Weisen, die Welt zu ordnen. Die Menschen selbst ordnen sich an – nach jeweils unterschiedlichen Kriterien der Ähnlichkeit, in einem jeweils unterschiedlichen Verständnis von Identität und Differenz, durch jeweils unterschiedliche Praktiken der Angleichung. Dies ist sozusagen die ›innere Logik‹ des Prozesses, der als Übergang von der Standes- zur Klassengesellschaft bezeichnet wird: Irgendwie veränderte sich eine soziale Ordnung, die auf einem breiten System von ›Ähnlichkeiten‹ basierte, in eine soziale Ordnung, die sich auf ein System von

124  John Richetti, The English novel in history, 1700 – 1780, London, New York, 1999, S. 12.

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Differenzen gründet. Der Kosmos, der sich im ›Status‹ verkörperte, verwandelt sich in eine differenzierte Welt, die auf der Zuordnung zur Klasse beruht.125

Will man die Revolution des Ähnlichkeitsregimes auf einen kurzen Begriff bringen, so kann man sagen, dass in der Standesgesellschaft der Unterschied die Merkmale bestimmt, während umgekehrt in der Klassengesellschaft die Merkmale den Unterschied bestimmen. So wie in der naturgeschichtlichen Ordnung des 16. Jahrhunderts »die Identität der Pflanzen und Tiere« durch eine »oft sichtbare und mitunter verborgene, positive Markierung gesichert« war, so trug auch in der ständischen Ordnung jedes Wesen »eine Markierung«, die nach der Art eines »gemeinsamen Wappens« seine Zugehörigkeit bezeichnete. Zumindest idealerweise »signalisierte« jede Art sich selbst – »und drückte ihre Individualität unabhängig von allen anderen aus«.126 Der soziale Ort eines Individuums lag auf diese Weise von vornherein fest, und die äußeren Merkmale dienten lediglich dazu da, diese festgelegte Position für alle erkennbar zu machen und die damit verbundenen Ansprüche zu bekräftigen. Ähnlichkeit des Orts oder der äußeren Erscheinung waren ein sicheres Zeichen für die Ähnlichkeit der sozialen Stellung. Diese Möglichkeit der ›Position‹, der schlichten Setzung und Selbstbehauptung von Identität, verschwindet, so Foucault, mit der neuen, klassifikatorischen Episteme des siebzehnten Jahrhunderts: Das heißt, daß jede Bezeichnung durch eine bestimmte Beziehung zu allen anderen möglichen Bezeichnungen geschehen muß. Das zu erkennen, was einem Einzelwesen eigen ist, heißt, vor sich die Einteilung oder die Möglichkeit zu haben, die Gesamtheit der anderen zu klassifizieren. Die Identität und das, was sie markiert, werden durch das Residuum der Unterschiede definiert. Ein Tier oder eine Pflanze ist nicht das, was das Stigma anzeigt (oder verrät), das man an ihnen entdeckt. Es ist das, was die anderen nicht sind.127

Wohl auch aus dramaturgischen Gründen hat Foucault das Auftauchen eines neuen wissenschaftlichen Einteilungsprinzips als ein plötzliches Hervortreten gekennzeichnet, als einen Einschnitt oder Bruch, der sich auf die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts datieren lasse. Bezieht man die Formen der gesellschaftlichen Differenzierung in die Betrachtung mit ein, wird man eher von einem langsamen Übergang sprechen müssen, und man wird erste Anzeichen der Erosion des Ähnlichkeitsprinzips schon deutlich früher erkennen können. Ein »Beginn des offenen Wettbewerbs auf dem Gebiet der Distinktionszeichen« lässt sich schon 125  Christopher Warley, Sonnet sequences and social distinction in Renaissance England,

Cambridge, New York, 2005, S. 13.

126  Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 188. 127  Ebd., S. 188.

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für die Marktgesellschaften der Renaissance veranschlagen; mit der »Demokratie der Konkurrenz« ergibt sich auch die Wahrnehmung einer »Willkürlichkeit des Zeichens«:128 »Das Prinzip der Ähnlichkeit« ist nun »nicht mehr ein unbestrittenes Prinzip des Wissens und Repräsentierens. Die Symbole beginnen, eher als willkürlich und weniger als zuverlässig zu erscheinen, was – je nach Standpunkt – als lustig oder alarmierend empfunden wird.« 129 Mitglieder einer Standesgesellschaft hielten sich an handfeste Ähnlichkeiten, sie definierten ihre Stellung in Bezug auf ihre unmittelbare Umgebung und auf die direkt über- oder ungeordneten Glieder der Abhängigkeitskette, in der sie sich befanden. In jedem Gewerbe und jedem Arbeitszusammenhang waren die Menschen hauptsächlich mit »internen Statusdifferenzen« beschäftigt;130 sie kamen nicht auf die Idee, ihre Probleme der sozialen Positionierung mit denen einer anderen hierarchischen Kette zu vergleichen. Wie David Underdown bemerkt hat, dachten »die meisten Menschen« des 17. Jahrhunderts »immer noch in vertikaler, lokaler Hinsicht, als Mitglieder von Gemeinschaften«: »Innerhalb dieser Gemeinschaften waren sie sich ihres Status und ihrer Rolle als Herren oder Diener sehr bewusst; sie waren sich jedoch weniger der Tatsache bewusst, dass sie eine Identität der Interessen mit anderen Herren oder Dienern im ganzen Land besaßen.« 131 So wird ein Tagelöhner, der in die hierarchische Struktur städtischer Handwerksarbeit eingelassen ist, nicht von sich aus erkennen, dass er mit dem Glied einer anderen Kette (beispielsweise einem ländlichen Tagelöhner) etwas gemeinsam hat. Dies ist durchaus verwunderlich, denn die Technik der Analogie, die im Denken der Renaissance eine so große Rolle spielte, hätte eigentlich dazu dienen können, solche Ähnlichkeiten zu entdecken.132 Offenbar war das Ähnlichkeitssystem der Renaissance so auf Hierarchieerhaltung geeicht, dass es wie von selbst dazu neigte, die Wirksamkeit der Analogie auf einen vertikalen Gebrauch zu beschränken. Sie erlaubte es, auf verschiedenen Stufen der Seinsordnung (wie im Himmel so auf Erden) jeweils die gleichen Beziehungsmuster zu entdecken. Dagegen blieb eine laterale Erkennung von Ähnlichkeiten ausgeschlossen; die Analogie wurde also nicht eingesetzt, um segmentäre Spaltungen der Gesellschaft zu überbrücken und beispielsweise die Ähnlichkeit der Lebenslagen von Bauern unterschiedlicher Regionen hervorzuheben. Eine kontextübergreifende Art der analogischen Wiedererkennung (»…weil du auch ein Arbeiter bist …«) scheint dem späteren Klassendenken vorbehalten zu sein. Klassenwahrnehmung setzt voraus, dass die Beobachtung von Identitäten und Unterschieden auf weitere Bereiche der Gesellschaft ausgreift, über den Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, S. 80. Bristol, Carnival and theater, S. 64. Perkin, The origins of modern English society 1780 – 1880, S. 20. David Underdown, Revel, riot, and rebellion. Popular politics and culture in England, 1603 – 1660, Oxford, New York, 1985, S. 168. 132  Dank an Martin Siegler für den Hinweis! 128  129  130  131 

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eigenen Gesichtskreis hinaus. Sie erfordert eine Einbeziehung von abstrakten Ähnlichkeiten, von Ähnlichkeiten, die sich nicht in selbstverständlicher Weise zwischen den benachbarten Gliedern einer Kette herstellen, sondern die quer dazu verlaufen. Die Wahrnehmung von Identitäten und Unterschieden beruht damit nicht mehr auf dem unmittelbar Augenfälligen, sondern auf einer Konstruktion. Welcher Klasse Menschen zugehören, richtet sich, wie es bei Lenin heißt, »nach ihrem Platz in einem geschichtlich bestimmten System der gesellschaftlichen Produktion, nach ihrem (größtenteils in Gesetzen fixierten und formulierten) Verhältnis zu den Produktionsmitteln, nach ihrer Rolle in der gesellschaftlichen Organisation der Arbeit und folglich nach der Art der Erlangung und der Größe des Anteils am gesellschaftlichen Reichtum, über den sie verfügen«.133 All dies sind abstrakte Vergleichskriterien, die dem Mitglied einer Standesgesellschaft nicht in den Sinn gekommen wären. Im Gegenteil, seine ganze Art, die Welt zu ordnen, musste einer solchen willkürlichen, sich über die vielfältigen traditionellen und lokalen Abhängigkeits- und Loyalitätsbeziehungen hinwegsetzenden Analyse widerstreben. Damit eine Gesellschaft sich in Klassen teilte (und nicht mehr in Stände, Ränge, Grade, Gewerbe, Würden usw.), musste zunächst einmal das soziale Wahrnehmungssystem von Ähnlichkeitsdenken auf Klassenlogik umgestellt werden. Die Kette sympathetischer und analogischer Verhältnisse, die alle Wesen miteinander verband, musste zerrissen werden, damit die Dinge und Menschen als einzelne nach ihren diskriminierenden Merkmalen erfasst und in eine neue, systematische Ordnung gebracht werden können. Um die Durchsetzung dieser neuen Wahrnehmung von sozialer Ähnlichkeit (und damit des Einteilungsprinzips ›Klasse‹) geht es in den folgenden drei Kapiteln. Mimesistheoretisch lässt sich der Übergang von der Ständeordnung zur Klassenteilung als Krise eines festgefügten Ähnlichkeits- und Nachahmungsregimes und seine Ersetzung durch eine neue Ordnung der Identitäten, Unterschiede und Abstände beschreiben. Dabei können zwei Stränge der Entwicklung unterschieden werden (die allerdings ineinandergreifen): Erstens die Prozesse der Auflösung, die Schwächungen, Inkonsistenzen, Dysfunktionalitäten, die das alte Gliederungsprinzip befallen und es seinem Untergang zutreiben (14. Kapitel), und zweitens die Prozesse der Vervielfältigung, der Einübung und ›Haltbarmachung‹, die das neue Prinzip der Klassenteilung im gesellschaftlichen Feld wirksam werden lassen (15. und 16. Kapitel).

133  Vladímir Iljítsch Lenin, »Die große Initiative« (1919), in: ders., Werke, Bd. 29, Berlin,

1955 – 1965, 397 – 424.

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14.

HERR UND AFFE. VON DER SCHWIERIGKEIT EIN GENTLEMAN ZU SEIN Prozesse der Imitation spielen, wie das vorige Kapitel zeigen sollte, eine wesentliche Rolle in der Konstitution und Aufrechterhaltung sozialer Ordnung, sie bergen aber auch – als ›exzessive Mimesis‹ – die Gefahr einer übermäßigen Angleichung der Positionen, einer Einschleifung der Differenzen, die schließlich zum Zusammenbruch der gesellschaftlichen Hierarchie führen kann. Wenn die Ständegesellschaft sich über Jahrhunderte als stabiles System zur Festlegung von Unterschieden und Rängen, zur Regulierung von Abstand und Nähe, zur Bestimmung des Eigenen und des Fremden erhalten konnte, so hatte dies nicht zuletzt damit zu tun, dass sie die gesellschaftlichen Nachahmungen einer strengen Kontrolle unterwarf. Ihr Niedergang, der sich über die ganze Periode der Frühen Neuzeit hinzieht, lässt sich auch darauf zurückführen, dass diese Einhegung der Mimesis nicht mehr funktionierte, dass die gleichen Nachahmungsprozesse, die lange der Stabilisierung der gesellschaftlichen Hierarchie gedient hatten, nun an ihrer Auflösung arbeiteten. Wenn die Sozialgeschichte sich für den Übergang von der Standes- zur Klassenordnung interessierte, so hat sie dabei meistens das Phänomen der »emergence of class«, die Herausbildung sozialer Klassen im 19. Jahrhundert, ins Visier genommen. Der langwierige »process of dissolution«, der zum Untergang des Standesprinzips führte, ist dagegen, wie der Historiker Keith Wrightson bemerkt hat, von der Forschung kaum beachtet worden.1 Zweifellos aber muss, damit sich so etwas wie ›The Making of Class‹ ereignen kann, vorher eine Art ›Unmaking of Estate‹ stattgefunden haben. Dieses Kapitel soll andeuten, welchen Anteil mimetische Prozesse an der langsamen Erosion des Standesprinzips haben. Im Mittelpunkt stehen Momente, in denen Mimesis ›gefährlich‹ wird, in denen eine entfesselte Nachahmung die Unterscheidungsprozesse unsicher macht und auf diese Weise die sozialen Abstände unterläuft. Mehrere öffentliche Debatten des 17. und 18. Jahrhunderts wären geeignet, die Wirksamkeit einer solchen ›Dialektik der Nachahmung‹ zu demonstrieren, so z. B. der Streit um den Luxuskonsum der unteren Schichten, die Polemik über die ›Unverschämtheit der Dienstboten‹ oder die konservative Verurteilung kultureller Standestransgressionen. Zu diesen Komplexen liegen jedoch schon Untersuchungen vor,2 so dass hier ein anderes – für die Standes1  Vgl. Wrightson, »Estates, degrees, and sorts«, S. 31. 2  Zu den Luxusverboten und Kleiderordnungen der Frühen Neuzeit, siehe u. a. Maxine

Berg u. Elizabeth Eger (Hg.), Luxury in the eighteenth century. Debates, desires and delectable

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ordnung des frühneuzeitlichen England allerdings zentrales – Problem ins Auge gefasst werden soll, nämlich das des Gentleman-Seins in Zeiten inflationärer Gentleman-Nachahmung.

Was ist ein Gentleman? Die Ständebeschreibungen der englischen Renaissance haben den Ehrgeiz, die Gesellschaft noch einmal in das hierarchische Raster von ranks und estates zu bringen. Zumindest »von den Graden des knight oder esquire aufwärts« gibt es dabei keine Probleme.3 Die Schwierigkeiten beginnen bei der Gentry, die eine weite und unbestimmte Übergangszone zwischen dem erblichen Adel und dem Bürgertum bezeichnete: »Wie sollte die Gesellschaft mit der flüssigsten aller Gruppen, der Gentry, umgehen, vor allem im Hinblick darauf, dass ihre ›Definition‹ es erlaubte, sie sowohl in ›feudalen‹ als auch in ›kapitalistischen‹ Begriffen zu betrachten?« 4 Die Unsicherheit war umso prekärer, als die »fundamentalste Dichotomie« der englischen Gesellschaft zwischen dem »gentleman« und dem »non-gentleman« verlief.5 Alles kam darauf an zu sagen, wer zu den Gentlemen gehörte, denn nur, wer mindestens diesen Status für sich reklamieren konnte, zählte etwas in der Gesellschaft und hatte eine Stimme in der politischen Auseinandersetzung. Doch eben dies: zu bestimmen, was ein Gentleman eigentlich sei, wurde im England der Frühen Neuzeit immer schwieriger. Im Unterschied zum kontinentaleuropäischen Adel konnte sich die englische Gentry nicht auf offiziell verliehene Titel berufen. Wie Thomas Smith in seiner Republica Anglorum feststellte, »ordinarily the king doth only make knights and create barons or higher degrees: for as for gentlemen, they be made good cheape in England«.6 Zunächst war die Zugehörigkeit zur Gentry vor allem durch das informelle Kriterium des ›alten‹, d. h. ererbten Landbesitzes definiert: »Gentility is goods, Houndmills, Balsingstoke, Hampshire, New York, 2003; Alan Hunt, »The goverance of consumption. Sumptuary laws and shifting forms of regulation«, Economy and Society, Jg. 25, N° 3, 1996, 410 – 427. Zur Ambivalenz der Nachahmungen zwischen Diener und Herr vgl. Sandra Sherman, »Servants and semiotics. Reversible signs, capital instability, and Defoe’s logic of the market«, ELH , Jg. 62, N° 3, 1995, 551 – 573; Elizabeth Rivlin, »Mimetic service in ›The Two Gentlemen of Verona‹«, ELH , Jg. 72, N° 1, 2005, 105 – 128; Markus Krajewski, Der Diener. Mediengeschichte einer Figur zwischen König und Klient, Frankfurt a. M., 2010. Zur Subversion von Standesunterschieden durch Theater, Karneval, Parodie, Cross-Dressing etc. vgl. Stallybrass u. White, The politics and poetics of transgression; Dror Wahrman, The making of the modern self. Identity and culture in eighteenth-century England, New Haven, 2004. 3  Jankowski, »Class categorization, capitalism, and the problem of ›gentle‹ identity in ›The Royall King and the Loyall Subject‹ and ›Eastward Ho!‹«, S. 158. 4  Ebd., S. 149. 5  Lawrence Stone, »Social mobility in England, 1500 – 1700«, Past & Present, N° 33, 1966, 16 – 55, S. 17. 6  Smith, Thomas, Sir, De republica Anglorum, S. 27.

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nothing but ancient riches«,7 so lautete die Faustregel, die William Cecil Burghley in den 1580er Jahren seinem Sohn Robert mitgab. Doch war der Maßstab des ›alten Reichtums‹ zu dieser Zeit schon ins Wanken geraten. Reichgewordene Händler, die ein Landgut kauften, konnten sich mit etwas Einfallsreichtum auch »Wappen und Ahnentafel« beschaffen.8 Auf diese Weise erfüllten sie das traditionelle Kriterium des landed wealth, auch wenn ihr Reichtum sehr jungen Datums war. In der Praxis jedoch hing die Zurechnung zur Gentry nicht allein vom Landbesitz ab, sondern von einer ganzen Reihe von Faktoren, über deren Gewichtung man sich ständig stritt. »A Gentleman is understood many wayes«,9 so William Petty, der als Self-made-Gentleman wusste, wovon er sprach. Gentleman konnte man demnach sein: erstens als »Sohn« eines Gentleman; zweitens indem man über einen festen Jahresertrag, »besonders aus Landbesitz« (»Terra firma«) verfügte; drittens durch Blutsverwandtschaft oder Heiratsverbindung »mit vielen anderen Gentlemen, und zwar für viele vergangene Jahre«; viertens, indem man »so viel Besitz, ob beweglich oder in Land« besaß, dass man »sich ohne irgendwelche gewinnsüchtige Betätigung erhalten« konnte; fünftens, indem man seine Arbeit und Zeit in die »gerechte Regierung und Verteidigung der gesamten civitas, seiner Nachbarn und Freunde« investierte; sechstens, in dem man sich den Habitus eines Gentleman zulegte, sich »proud to the humble and humble to the proud« verhielt und damit eher die »äußeren Zeichen« als »wirkliche Beweise« einer ehrenwerten Persönlichkeit präsentierte.10 Das Kriterium der äußeren Erscheinung wird von Petty als letztes in der Reihe und mit der nötigen Verachtung aufgeführt, was jedoch kaum verdecken kann, dass es bei der Bestimmung eines Gentleman eine immer größere Bedeutung gewonnen hatte. Schon Thomas Smith hatte den Gentleman wesentlich durch die Performanz des Gentleman-Seins bestimmt: [A]nd to be shorte, who can liue idly and without manuall labour, and will beare the port, charge and countenaunce of a gentleman, he shall be called master […] and shall be taken for a gentleman.11

Land und Lifestyle – das waren die zwei wichtigsten Ingredienzien, um einen Gentleman zu machen, und sie wurden vor allem in dieser Kombination wirk7  William Cecil Baron Burghley, Certaine Precepts Or Directions for the Well Ordering and

Carriage of a Mans Life (1585), London, 1615, S. 8. 8  John William Allen, English political thought, 1603 – 1660. Vol. I: 1603 – 1644, London, 1938, S. 42. 9  William Petty, »No. 133. Of Civility and a Gentleman«, in: ders., The Petty Papers. Some Unpublished Writings of Sir William Petty, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, Bd. 2, Boston and New York, 1927, 186 – 189, S. 187. 10  Ebd., S. 188. 11  Smith, Thomas, Sir, De republica Anglorum, S. 27.

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sam. Das Urbild des Gentleman war das des Grundeigentümers, der auf seinem Landsitz lebte und sich, frei von den Zwängen der Arbeit und des Geschäfts, seinen Interessen hingab: Der Landbesitzer unterschied sich vom Rest nicht so sehr durch die Höhe seines Einkommens, sondern dadurch, dass es nicht durch eigene Arbeit erworben war. Und der Rest zollte ihm den uneingeschränkten Tribut der Bewunderung, des Neides und des Nacheiferns. Denn der leisured gentleman war das Ideal, nach dem die ganze Gesellschaft strebte und an dem sie ihr Glück und ihren Ehrgeiz maß.12

Dies ist, wie Harold Perkin zuspitzend bemerkt hat, der Grund dafür, dass es im Englischen nie ein eigenes Wort für ›Bourgeoisie‹ gegeben hat. Wer es als Bürger geschafft hatte, ein beträchtliches Vermögen anzuhäufen, hatte zumeist kein anderes Ziel, als Grundbesitz zu erwerben und sich damit in die landed gentry einzukaufen. Zwar finden sich auch im 17. Jahrhundert immer wieder Artikulationen eines eigenen, ›bürgerlichen‹ Selbstbewusstseins, das die Geschäfts- und Arbeitsethik der Kaufleute und Handwerker gegen die moralische Verwahrlosung der Gentry in Anschlag bringt,13 aber dieser Statusstolz der neuen »middling sort« (der am deutlichsten bei Defoe hervortreten wird 14), blieb im wesentlichen auf die radikalen Puritaner, die ›Dissenters‹ beschränkt, die ihre eigenen Netze des Einflusses unterhielten und es sich daher leisten konnten, sich außerhalb des traditionellen, auf Landbesitz gestützten Patronagesystems zu stellen.15 Im Großen und Ganzen scheint jedoch im England der Frühen Neuzeit das von Gabriel Tarde aufgestellte Gesetz der »Nachahmung des Überlegenen durch das Unterlegene« 16 seine Gültigkeit behalten zu haben: Für die meisten bürgerlichen Aufsteiger blieb der leisured gentleman das unbestrittene Idol, an dem sich alle Imitationen ausrichteten. Zugleich wurden allerdings die Konturen dieses Urbilds immer unschärfer, nicht zuletzt durch die Annäherung zwischen landed wealth und moneyed wealth. Traditionell sollte die wirtschaftliche Tätigkeit eines Gentleman sich auf die »oeconomicall discipline for the gouernment of his house« beschränken.17 Alles kam darauf an, den Besitz für sich und seine Nachkommen zu erhalten. Die kleinste 12  Perkin, The origins of modern English society 1780 – 1880, S. 46. 13  Vgl. Jankowski, »Class categorization, capitalism, and the problem of ›gentle‹ identity

in ›The Royall King and the Loyall Subject‹ and ›Eastward Ho!‹«, S. 163.

14  Vgl. Juraj Kittler, »The enlightenment and the bourgeois public sphere (Through the eyes

of a London merchant-writer)«, in: John Nerone (Hg.), Media history and the foundations of media studies, Malden, MA , 2013, 1 – 18, S. 7. 15  Vgl. Perkin, The origins of modern English society 1780 – 1880, S. 29. 16  Tarde, Die Gesetze der Nachahmung, S. 238. 17  Burghley, Certaine Precepts Or Directions for the Well Ordering and Carriage of a Mans Life, Titelseite.

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Unvorsichtigkeit konnte »Pfändung oder Verkauf« und damit den Untergang des sorglosen Herrenlebens bedeuten: »And that Gentleman that selleth an acre of lande, looseth anounce of credite«.18 Selbst William Petty, der einen anderen Typ von Ökonomie vertrat, zählte es zu den Charakteristika eines Gentleman, dass er sich aller »mercenary employments« enthielt und seine Einkünfte »in due and laudable proportions« in seine Güter reinvestierte.19 Doch wurde dieses Ideal einer konservativen, ›nachhaltigen‹ Ökonomie nicht nur dadurch aufgeweicht, dass immer mehr Mitglieder der Kaufmannsschicht in die Gentry einwanderten. Auch die Eigentümer, die sich auf »ancient riches« berufen konnten, betrachteten Land immer weniger als eine Verpflichtung, sondern immer mehr als eine Ressource, aus der regelmäßiger Profit gezogen werden konnte, die sich aber auch frei veräußern ließ. Aus »›lords‹ of land« waren »›owners‹ of land« geworden.20 So bildete Landbesitz zwar nach wie vor das entscheidende Kriterium der Zugehörigkeit zur Oberschicht – dieser Besitz änderte jedoch seinen Charakter, sobald nicht nur Geschäftsleute zu Grundeigentümern, sondern auch Grundeigentümer zu Geschäftsleuten wurden. Die wechselseitige mimetische Angleichung von Landadel und kommerzieller Mittelschicht, von landed wealth und moneyed wealth, war zu Beginn des 18. Jahrhunderts schon so weit fortgeschritten, dass Defoe erklären konnte: Trade is so far here from being inconsistent with a Gentleman, that, in short, trade in England makes Gentlemen, and has peopled this nation with Gentlemen; for, after a generation or two, the tradesmen’s children, or at least their grand-children, come to be as good Gentlemen, Statesmen, Parliament-men, Privy-Counsellors, Judges, Bishops, and Noblemen, as those of the highest birth and most ancient families; and nothing too high for them.21

Affiges Verhalten 1621 spricht der anglikanische Geistliche Robert Burton von der Krankheit der Melancholie, die England heimgesucht habe: »a disease so frequent […] in these our daies […] so often happening […], as few there are that feele not the smart of it«.22 Besonderen Anlass zu schwermütiger Betrachtung bot die Leere und Eitelkeit der gesellschaftlichen Statusansprüche. Unter dem Blick des Melancholikers

Ebd., S. 10. Petty, »No. 133. Of Civility and a Gentleman«, S. 187. Warley, Sonnet sequences and social distinction in Renaissance England, S. 6. Daniel Defoe, The complete English tradesman. In familiar letters, directing him in all the several parts and progressions of trade, London, 1726, S. 376. 22  Robert Burton, The Anatomy of Melancholy. What it Is, with All the Kinds, Causes, Symptomes, Prognostickes, and Seuerall Cures of it (1621), Oxford, 1638, S. 76.

18  19  20  21 

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zerfiel auch die Figur des Gentleman zu Staub. Der von allen begehrte Titel der Ehre war auf ein Nichts, auf den Reichtum der Vorfahren gebaut: [W]hat is it of which thou boastest so much? […] Thy great great great grandfather was a rich citizen, and then in all likelihood a usurer, a lawyer, and then a— a courtier, and then a– a country gentleman, and then he scraped it out of sheep, &c. And you are the heir of all his virtues, fortunes, titles; so then, what is your gentry, but […] ancient wealth? that is the definition of gentility. [O]ur nobles are measured by their means. And what now is the object of honour? What maintains our gentry but wealth?23

So ist es nach Burton allein der Reichtum, der der Gentry so etwas wie »Sein« verleiht (»gives esse to it«), denn die gewöhnlichen Beschäftigungen eines Gentleman sind keineswegs geeignet, eine solche ontologische Festigkeit zu erzeugen: If he can hawk and hunt, ride a horse, play at cards and dice, swagger, drink, swear, take tobacco with a grace, sing, dance, wear his clothes in fashion, court and please his mistress, talk big fustian, insult, scorn, strut, contemn others, and use a little mimical and apish compliment above the rest, he is a compleat, […] a well-qualified gentleman; these are most of their employments, this their greatest commendation.24

Mit seiner Verwerfung einer affektierten, »mimischen« und »äffischen« Höflichkeit steht Burton nicht allein. Sie bildet ein Grundmotiv der konservativen Kritik, die den Verfall der gesellschaftlichen Abstände und der ›natürlichen‹ Unterscheidungen beklagt und die Figur des Gentleman, des wichtigsten Verhaltensideals der Gesellschaft, davon bedroht sieht, in bloße Karikatur umzuschlagen. Dass jeder, der das nötige Geld hatte und sich einen irgendwie vornehm wirkenden Habitus zulegte, zur Gentry zählen sollte, erschien denen, die schon länger dazugehörten, als eine unerträgliche Vorstellung. In wesentlichen Aspekten stellt diese konservative Kritik der Standesüberschreitung eine Neuauflage von Platons Mimesis-Kritik dar. Dass die Menschen nicht mehr in ihrem Stand verbleiben, dass sie mit ihrem Los unzufrieden werden, hat vor allem damit zu tun, dass sie zu Höhergestellten nicht mehr nur aufschauen, sondern es ihnen gleichtun wollen. So ist es eine verbreitete Klage, dass »now a dayes most men live aboue their callings, and promiscuously step forth Vice versa, into one anothers Rankes. The Countrey mans Eie is vpon the Citizen: the Citizen vpon the Gentleman: the Gentleman vpon the Nobleman.« 25 Ein »Apish 23  Ebd., S. 311. 24  Ebd. 25  Edward Misselden, Free trade, or, The meanes to make trade florish, London, 1622, S. 12.

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Humour of Imitation« verleitet die Menschen dazu, alles nachzuahmen, was sie bei einem anderen sehen, auch wenn es ganz gegen ihre Natur ist – so wie »das Tanzen für einen Elefanten«.26 Dass die Epidemie der Nachahmung derart um sich greifen konnte, ist, wie sich zahlreiche Autoren eingestehen, vor allem die Schuld der oberen Stände. Denn dass die einfachen Leute – wie die Kinder und die ›Wilden‹ – der Nachahmung verfallen, kann man ihnen nicht zum Vorwurf machen; sie gehorchen einem gleichsam naturgesetzlichen Zwang: »For the Vulgar are an apish Generation, they live on Imitation, and are carried away by the Example of Great ones, as the inferior Orbs by the Motion of the superior.« 27 Anders verhält es sich mit dem Gentleman: Seine Aufgabe wäre es, die Praktiken der Nachahmung im Zaum zu halten und sie in die richtige Richtung zu lenken. Stattdessen imitiert er selbst die neuesten Moden und regt damit seine Untergebenen an, ihm zu folgen: »They applaud his Extravagancies first, and then adopt them by Practice.« 28 Die weit verbreitete Kritik am Verfall der gesellschaftlichen Abstände ist daher immer auch Kritik einer außer Kontrolle geratenen Nachahmung. Besonders deutlich wird dies in den zahlreichen Reflexionen über den Zustand des Gentleman. Hier findet man stets die gleiche Gegenüberstellung: Der Gentleman, wie er früher war, bildete ein imitationswürdiges Vorbild; der Gentleman, wie er ›nowadays‹ in Erscheinung tritt, stellt nur noch ein Abbild, eine Kopie dar. In unzähligen Variationen wird noch einmal das Profil des wahren, englischen Gentleman in Erinnerung gerufen: Er ist der Mann, der nicht nachahmt, sondern durch sein ganzes Verhalten Anlass zur Nachahmung bietet. Er ist der »Consistent Man«, der Mann, der niemals schwankt, der Mann, dessen »Rules and Actions are mathematically Square and Coherent«, dessen ganzes Leben wie »a regular, stately Edifice« erscheint, der durch die »Changes or Chances of Life« nicht gebeugt wird, der sich durch »Loss, Danger, and Death it self« seinen Weg bahnt, den »Preferment, Money, Titles, Convenience« nicht beeindrucken können, der sich nur »Truth and Honour« verpflichtet weiß, der sich in »Twenty or Forty Years« kaum verändert, und der in dieser Unerschütterlichkeit »a Pleasure to God, and a Pattern to Men« darstellt.29 Ein solcher Mann wird nicht in Modeausdrücken (»mode phrases«) sprechen, sondern in »such words as are most plain to be understood«; seine Verhaltensweisen werden »most manly« sein – und daher »least

26  Judith Drake, anon., An Essay in Defence of the Female Sex. In which are Inserted the Characters of a Pendant, a Squire, a Beau, a Vertuoso, a Poetaster, a City-critick, &c. in a Letter to a Lady, London, 1696, S. 67 27  William Darrell, A Gentleman instructed in the Conduct of a Virtuous and Happy Life. Written for the instruction of a young nobleman (1704), 1709, S. 87. 28  Ebd., S. 88. 29  Henry St. John, 1st Viscount Bolingbroke, anon., The Way to Bring the World to Rights: Or, Honesty the Best Policy at All Times, and in All Places, London, 1711, S. 15

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apish, fantastical or constrained«.30 Doch diese bewunderunsgwürdige Einfachheit des Charakters ist, wie immer wieder festgestellt werden muss, »utterly lost in the World«: An die Stelle der »simplicity of Behaviour«, die den Gentleman alten Typs auszeichnete, sind in Zeiten der allgemeinen Nachahmungssucht »a Thousand little Inventions« getreten,31 kleine Formen des ›mimicking‹, aus denen sich lediglich ein Scheinbild des Gentleman-Seins ergibt. Wie bei Platon handelt es sich auch in der Mimesis-Kritik der Frühen Neuzeit nicht darum, jede Nachahmung zu verdammen. »Imitation and Practice« sind unabdingbar, wenn es darum geht, einem jungen Mann beizubringen, was »virtue« ist.32 »Education and Discipline form our manners« – und sie können dies nicht »without imitation«.33 Wenn Nachahmung empfohlen wird, dann allerdings stets mit genauer Angabe der Richtung: Gentlemen haben Modelle zu sein, nicht Kopien. Alles ist darauf angelegt, sie – wie auch ihre Frauen – zu »moving Obiects of imitation« zu machen, »both in life and death«.34 Weil sie ständig unter Beobachtung stehen, ständig der Nachahmung unterliegen, müssen sie sich jederzeit als makellose Vorbilder zeigen: »There is not an accent which you utter, a sentence you deliver, any motion in your carriage or gesture, which others eye not, and eying assume not.« 35 Anders als die Laster der »niederen Sorte der Menschheit« sind »die Verbrechen der Gentlemen« nie nur »persönlich«. Das Unglück, das sie verursachen, endet nicht einfach dort, »wo es begann«. Durch Nachahmung pflanzt es sich fort »wie die Pest« und wird auf diese Weise »universell«.36 Wer als Vorbild gelten will, kann sich nicht zugleich als Imitator zeigen. Andere nachzunahmen offenbart das Fehlen eigener Maßstäbe, es demonstriert Abhängigkeit, ist eine Sache des Pöbels. Dem Herrn kommt es zu, das Bild eines in sich ruhenden Seins abzugeben, eines Seins, das keiner äußeren Versicherung bedarf und nicht auf die Anerkennung anderer angewiesen ist. Daraus ergibt sich die »posture« eines wahren Gentleman, dessen Rede stets »free, native and generous« 37 sein und die nichts von jener »strained affectation, or servile and forced imitation« 38 haben wird, durch die die sozialen Emporkömmlinge sich 30  Margaret Cavendish, »Selections from the ›CCXI Letters‹ of the Duchess«, in: Margaret Cavendish, The Cavalier and His Lady. Selected from the Works of the First Duke and Duchess of Newcastle, 1872, 235 – 284, S. 270 31  Richard Steele, »The Tatler, N° 12. Saturday, May 7, 1709«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 1, London, 1898 – 1899, 106 – 114, S. 109. 32  Darrell, A Gentleman instructed in the Conduct of a Virtuous and Happy Life, S. 15. 33  Obadiah Walker, Of education, especially of young gentlemen, Oxon, 1673, S. 6. 34  Richard Brathwaite, The English gentlevvoman, London, 1631, S. 159. 35  Ebd. 36  Darrell, A Gentleman instructed in the Conduct of a Virtuous and Happy Life, S. 87. 37  Richard Brathwaite, The English gentleman, London, 1630, S. 87. 38  John King, A sermon on the 30th of January, being the day on which that sacred martyr, King Charles the First, was murdered, London, 1661, S. 57.

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wichtig zu machen suchen. Gegenüber der natürlichen Autorität und anstrengungslosen Eleganz, die den Herrn alten Typs ausmachten, zeugen die »mimicke and apish action«, die »phantasticke imitation or servile affectation« der neuen Gentlemen nur von der »degenerate qualitie or disposition«, in der die ständische Herrschaft sich befindet.39 Das geduldige Kräftemessen der sozialen Rangzumessung ist einem unruhigen Flattern der Nachahmungen gewichen. »Language and Discourse« der herrschenden Elite sind »All affected and Apish«, wenn nicht gar »vile, sinfull and Abominable« geworden.40 Von vielen Mitgliedern vornehmer Familien, die in der Kirche erscheinen, muss gesagt werden, dass sie »not any solidity in the interior« haben. Ihre scheinbare Andacht besteht nur aus »apish tricks«, sie erschöpft sich »in a certain light and childish imitation of countenances and gestures«.41 Die Haltung des Gentleman, ursprünglich ausgezeichnet durch gravitätische Selbstgewissheit und unerschütterliche Ruhe, hat sich dem Verhalten von Affen, diesen »great and mischievous imitatours of all they see«,42 angenähert. Eine »Apish Ingenuity« ist an die Stelle dessen getreten, was als »sober Invention, and Genuine wit« bezeichnet werden konnte: »A Mimicall tone, a Phantastick action, a Couchant sense, and a Phrase Rampant, quarter the Coat of our Modern Gentile Wit.« 43 Dass ein reicher Mann »a pretty apish kind of a Gentleman« ist, gilt nicht als außergewöhnlich; er ist damit einfach nur »like other Gentlemen«.44 Im Tanzunterricht gibt es immer weniger junge Herren, die sich »with a gracefull presence« Respekt zu verschaffen wissen;45 dagegen mehrt sich die Zahl derer, die das gezierte Verhalten und die »mimicke trickes« der Tanzmeister imitieren – und dadurch wie »Iacke-an-Apes in gay cloathes« wirken.46 Ein der Mode verfallener Gentleman wird so viel Mühe und Schmerzen darauf verwenden, »to new-mold his Body at the Dancing-School«, als ob seine größte Furcht es wäre, die Form zu behalten, die »Gott und die Natur« ihm gegeben haben.47 Wenn auf diese Weise das ganze Leben eines Gentleman nicht anderes ist als eine einzige »studied imitation of all the vanities Imaginable«,48 so wird dies auch die politische Kultur

Brathwaite, The English gentleman, S. 87. Clement Ellis, The gentile sinner. Or, England’s brave gentleman, Oxford, 1660, S. 31. Nicolas Caussin, The Holy Court in Five Tomes (1638), 1678, S. 301. Ebd. Ellis, The gentile sinner, S. 33. William Wycherley, The gentleman dancing-master a comedy, as it is acted by Their Majesties servants, London, 1693, S. 2. 45  Brathwaite, The English gentleman, S. 205. 46  Ebd., S. 204. Zum Ausdruck »Iacke-an-Apes«, vgl. Norman Blake, Shakespeare’s nonstandard English. A dictionary of his informal language, London, New York, 2004, S. 174: »Jack; Jack-a-nape, Jack-an-apes ›one who behaves like an ape, a coxcomb‹«. 47  Ellis, The gentile sinner, S. 30. 48  Ebd. 39  40  41  42  43  44 

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nicht unberührt lassen: Die »Unmanliness and Imprudence« der neuen Herren zeigt sich nicht zuletzt in ihrer Gewohnheit, »apishly to imitate some Men in a Set of Opinions which are at this Day in fashion«.49

Abbildung 13: Frontispiz aus: Judith Drake (anon.), An Essay in Defence of the Female Sex, London, 1696. 49  John Edwards, The Preacher. A Discourse, Shewing, what are the particular Offices and Employments of those of that character in the Church, London, [1705], S. xvii.

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Wie sich hier andeutet, ist die konservative Nachahmungskritik in eindeutiger Weise geschlechtspolitisch übercodiert: Nachahmung wird als ›weibisch‹ diskreditiert. Gegen diese Gleichsetzung erhebt sich gegen Ende des 17. Jahrhunderts die Stimme der Autorin Judith Drake. Sie kehrt allerdings die Zuschreibung nur um: Nun sind es die Männer, die als die Verweichlichten erscheinen.50 Entscheidend ist, dass von beiden Seiten die Nachahmung vor allem deshalb verworfen wird, weil sie die Grenzen zwischen den Geschlechtern aufweicht, eine Abwehr der sexuellen Ambiguität, die im Spott über die ›Fops‹, ›Beaus‹ und ›Pretty Fellows‹ des Londoner Nachtlebens deutlich zutage tritt. Eine politische Färbung erhält der Diskurs über die Gefahren der Mimesis durch die besorgte Frage nach der Identität der englischen Nation. Schon William Rankins’ Pamphlet The English Ape (1588) rügt die »äffische« (»Ape-Like«) Neigung der Engländer, »the disordered devises of forraine enormities« zu imitieren.51 Geblendet durch »Italian disguise« und verunstaltet durch »French fashion« würden die Engländer ihre »natürlichen Sitten« verleugnen,52 bis schließlich »unsere Bedingungen so verändert, unsere Sitten so verwandelt, unsere Stände so entfremdet [estranged]« wären, dass »our Countrey that nourisht us« nicht wiederzuerkennen sei.53 In einem Pamphlet von Thomas Dekker (1606) erscheint die »apishness« als eine der Seven Deadly Sins of London. Durch die achtlose Kombination von Versatzstücken fremder Moden gleiche die äußere Erscheinung eines Engländers dem zerstückelten Körpers eines Hingerichteten: For an English-mans suite is like a traitors bodie that hath beene hanged, drawne, and quartered, and is set vp in seuerall places: his Codpeece is in Denmarke, the collor of his Duble[t], and the belly in France: the wing and narrowe sleeue in ­Italy; the short waste hangs ouer a Dutch Botchers stall in Vtrich: his huge floppes speakes Spanish […].54

50  Vgl. Drake, anon., An Essay in Defence of the Female Sex. 51  William Rankins, The English Ape, the Italian Imitation, the Footesteppes of Fraunce. VV he-

rein is explaned, the wilfull blindnesse of subtill mischiefe, the striuing for starres, the catching of mooneshine: and the secrete found of many hollow hearts, London, 1588, S. 15. 52  Ebd., S. 3. 53  Ebd., S. 2. 54  Thomas Decker, The seven deadly sins of London drawn in seven several coaches, through the seven several gates of the City. Bringing the plague with them (1606), hg. v. Edward Arber, London, 1879, S. 36 – 37.

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Abbildung 14: Seite aus John Bulwer,

Anthropometamorphosis: man transform’d. Or, The artificiall changling historically presented, London, 1653.

Die hier angelegte Analogie zwischen menschlichem Körper und body politic wird in dem gelehrten Werk Anthropometamorphosis (1650) des Londoner Arztes John Bulwer weiter ausgeführt. Anhand zahlreicher, mit Holzschnitten ins Bild gesetzter Beispiele aus allen damals bekannten Weltgegenden warnt das Buch davor, den eigenen Körper kulturtechnisch zu verändern. Das Schlusskapitel über »The Pedigree of the English Gallant« bietet eine spekulative Gegenüberstellung zeitgenössischer englischer Kleidungen mit indigenen Formen des Körperschmucks, die auf den Nachweis hinauslaufen, dass es sich bei den modischen Extravaganzen »of our moderne Gallants« letztlich nur um »meere peece[s] of refined Barbarisme« handele.55 Neben der offen ausgesprochenen Warnung, keinen »Hochverrat gegen die Natur« 56 zu begehen und den gottgegebenen menschlichen Körper nicht durch die Nachahmung schlechter Beispiele zu verunstalten, hält Bulwer noch eine zweite, unterschwellige Botschaft bereit: So wie der menschliche darf auch der politische Körper nicht mutwillig, das heißt revolutionär verändert 55  John Bulwer, Anthropometamorphosis: man transform’d. Or, The artificiall changling historically presented, London, 1653 S. 540 u. 543. 56  Ebd., o. P. [Erklärung des Frontispizes].

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werden; er soll so verbleiben, wie er von Gott geschaffen wurde, nämlich in seiner monarchischen Verfassung.

Aporien der Anpassung Ohne zu verkennen, dass es sich dabei um ein ›Luxusproblem‹ handelt, kann man sagen, dass es im 17. Jahrhundert nicht ganz einfach war, ein Gentleman zu sein. Wie sollte sich ein Gentleman als solcher präsentieren, angesichts der vielfältigen und widersprüchlichen Erwartungen, die an ihn gerichtet wurden? Wahrscheinlich gab es so viele verschiedene Wege, mit dem Dilemma umzugehen, wie es Gentlemen gab. Doch scheint es, also ob sich die individuellen Auswege in drei Gruppen ordnen ließen. Man hätte es demnach, grob gesagt, mit drei grundlegenden Reaktionsweisen zu tun, die jeweils verschiedene Formen von Gentlemanhaftigkeit hervorbrachten. Als erste Form des Umgangs lässt sich die Anpassungsvariante nennen: Die Gentry bearbeitete ihr Identitätsproblem, indem sie ihre Identität veränderte. Wohl wissend, dass der Status eines Gentleman nicht mehr an familiäre Herkunft gebunden war, dass die Funktion der militärischen Gefolgschaft einer fernen Vergangenheit angehörte, dass das Kriterium des ›alten Reichtums‹ sehr dehnbar geworden war und dass die unmittelbare Gewissheit einer natürlichen Standesüberlegenheit unwiederbringlich dahin war, erfand sich die Gentry ein neues Standesideal, an dem sie sich ausrichten und neu formieren konnte. Die im 16. Jahrhundert aufgekommene Rede von den ›Tugenden‹ eines Herrn wird zum Leitmotiv der Gentleman-Traktate des 17. Jahrhunderts. »Vertue« erscheint nun als »the greatest Signall and Symbol of Gentry«, ein Kennzeichen, das eher durch »goodnesse of Person« als durch »greatnesse of Place« ausgedrückt werde.57 Das traditionell akzeptierte Kriterium der Tugenden ins Feld zu führen, ist ein geschickter Schachzug, denn damit wird nicht nur das Abstammungskriterium entkräftet, sondern auch die Bedeutung des Reichtums heruntergespielt: »For of all the meanes to make a gentleman, it is the most vile to be made for money. Bycaufe all other meanes bear some sign of vertue, this onely meane is to bad a meane, either to matche with great birth, or to mate great worth.« 58 So kann die für das Selbstbewusstsein der Gentlemen notwendige Fiktion aufrechterhalten werden, dass ihre gesellschaftliche Bevorzugung nicht allein darauf zurückgeht, dass sie »descended of noble bloud, in power great, in iewels rich« sind. Ihr herausgehobener Status gründet sich vielmehr auf ein ganzes Set vortrefflicher Charaktereigenschaften: »But to be a perfect Gentleman, is to bee measured in

57  Brathwaite, The English gentleman, o. P. 58  Richard Mulcaster, Positions. Wherin those circumstances be examined necessarie for the

training up of children, London, 1581, S. 194.

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his words, liberall in giving, sober in diet, honest in living, tender in pardoning, and valiant in fighting.« 59 Dass die Wirklichkeit eines gewöhnlichen Landedelmanns diesem Idealbild der Gentlemanliness nicht entspricht, wird natürlich immer wieder festgestellt. An diesem wunden Punkt setzen die Gentleman-Ratgeber und Benimmbücher des 17. Jahrhunderts an. Zahlreiche, häufig voneinander abschreibende Autoren sprechen von der Kluft, die sich zwischen Sein und Sollen eines Gentleman auftut, und bieten Rezepte an, wie sie zu schließen sei. Wenn Gentleman-Sein auf Haltung beruht, dann ist es auch erlernbar. Auf diese Weise wird im Laufe des 17. Jahrhunderts eine ganze Gesellschaftsschicht auf das neue Verhaltensideal der »politeness« umgestimmt.60 Als ›progressiv‹ oder ›whiggistisch‹ kann diese Ratgeberliteratur bezeichnet werden, weil sie prinzipiell den Gentleman-Status nicht mehr an Geburt oder Geld bindet. Das Problem liegt darin, dass das Gentleman-Sein durch die Betonung der tugendhaften Lebensführung von einer äußeren Leistung abhängig gemacht und damit de-essentialisisiert wird. Dies aber widerstrebt der Idee des Adels, der traditionell als »being inherent and Naturall« betrachtet wird: »Nobilitie hangeth not vpon the aiery esteeme of vulgar opinion, but is indeed of it selfe essentiall and absolute«.61 Ratgeberlesende Gentlemen geraten auf diese Weise in einen performativen Widerspruch: Je mehr sie versuchen, Gentleman zu werden, desto weiter entfernen sie sich von der Idee eines ›natürlichen‹, ungekünstelten Gentleman-Seins. Wie soll man jemals durch Nachahmung einem Urbild gleichkommen, dessen Auszeichnung darin besteht, Nachahmung nicht nötig zu haben?

Wunsch, ein Rowdy zu werden Angesichts dieser Aporien ist es nicht verwunderlich, dass die Anpassungsvariante mit ihren Tugend- und Höflichkeits-Forderungen von einigen Vertretern der Gentry rundweg verworfen wird. Offenbar hat der Diskurs der moralischen Korrektheit bei einer ganzen Reihe von Gentlemen nicht verfangen, so z. B. bei denen, »who maintain Drunkenness as a necessary Accomplishment of a Gentleman«.62 Andere haben in einer Art Trotzreaktion den Status des Gentleman 59  Thomas Gainsford, The rich cabinet. Furnished with varietie of excellent discriptions, exquisite charracters, witty discourses, and delightfull histories, deuine and morrall, London, 1616, S. 51 v. 60  Vgl. Markku Peltonen, »Politeness and whiggism, 1688 – 1732«, The Historical Journal, Jg. 48, N° 2, 2005, 391 – 414. 61  Henry Peacham, The Compleat Gentleman. Fashioning him absolute in the most necessary Commendable Qualities concerning Minde or Bodie that may be required in a Noble Gentleman, London, 1622, S. 3. 62  Anon. [»A. M. of the Church of England«], The reformed gentleman, or, The old English morals rescued from the immoralities of the present age, London, 1693, S. 34.

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zu verteidigen versucht, indem sie mutwillig die neuen Bescheidenheits- und Anstandsregeln verletzten. So kommt es zur Zeit der restoration zu einer merkwürdigen Welle von Äußerungen der Adelswillkür, die allerdings darunter leiden, dass sie nicht ganz echt wirken. Wenn die Londoner jeunesse dorée sich ostentativ einem überdrehten Konsum hingab, dann stellte dies wohl weniger eine Artikulation originärer Verschwendungssucht dar, als vielmehr die künstliche Inszenierung einer verflossenen ›aristokratischen‹ Ökonomie der Verausgabung: ein historisches Re-enactment vergangener Größe, das nicht zuletzt dazu diente, sich von der bürgerlichen, puritanischen Ideologie der Mäßigung und Sparsamkeit abzusetzen. Auch bei der »delirious immersion in violence, promiscuity, invective, duelling and theatrical excess«,63 die das Hofleben unter Charles  II . und James II . kennzeichnete, dürfte es sich um ein reaktives Verhalten gehandelt zu haben: Alles wirkt so, als sei es darum gegangen, noch einmal den gängigen Klischees von adeliger Selbstherrlichkeit zu entsprechen. So erklärt sich wohl auch das zu dieser Zeit erstmals auftauchende Phänomen der »upperclass hooligans« 64 – gelangweilte Aristokraten-Söhne, die sich in Banden wie »The Mums« oder »The Tityre-tus« zusammenschließen, um derbe Streiche und sinnlose Verbrechen zu begehen.65 Mimesistheoretisch wird es an dieser Stelle interessant: Denn offenbar ist es die äußerste Adelsarroganz und die Abwehr der aufsteigenden bürgerlichen Schicht, die die jungen Taugenichtse dazu bringt, sich noch weiter nach unten zu orientieren und sich zumindest spielerisch die Verhaltens- und Organisationsweisen der Gesetzlosen, der Verbrecher, Zuhälter und Herumtreiber zuzulegen. Doch ähnlich wie im Fall der »noblemen of rank [who] occasionally amuse themselves by going ›incognito‹ through the streets dressed as simple citizens«,66 handelte es sich bei diesen aufgesetzten Artikulationen eines »Second-hand vice« 67 wohl nur um kurze Ausflüge in den gesellschaftlichen Untergrund, die nicht zu einer wirklichen Transgression der Standesgrenzen führten. Für die anständige Gesellschaft stellten solche Eskapaden offenbar kein ernsthaftes Risiko dar. Dass sie sehr gelassen genommen wurden, hat wahrscheinlich vor allem damit zu hat, dass dem englischen Gentleman eine wirklich exzessive Mimesis (bei der er – mit Platon gesagt – »von der Nachahmung das Sein davongetragen« hätte) nicht zugetraut wurde. Er konnte noch so sehr versuchen, 63  Stallybrass u. White, The politics and poetics of transgression, S. 101. 64  C. John Sommerville, The news revolution in England. Cultural dynamics of daily infor-

mation, New York, 1996, S. 155. 65  John Timbs, Club life of London. With anecdotes of the clubs, coffeehouses and taverns of the metropolis during the 17., 18., and 19. centuries, London, 1866, S. 39. 66  César de Saussure, A foreign view of England in 1725 – 1729. The letters of Monsieur César de Saussure to his family, hg. v. Anne van Muyden-Baird, London, 1905, S. 113. 67  Richard Steele, »The Tatler, N° 27. Saturday, June 11, 1709«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 1, London, 1898 – 1899, 222 – 230, S. 224.

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alles »natürliche Gute« in ihm zu unterdrücken, um einen »künstlich kranken Charakter« zu bekommen; er konnte »so viel Wein saufen wie er will« und »Zoten reißen wie es ihm passt«: »he will never succeed: For Nobilis is no Rake«.68

Flucht in den Spleen Eine dritte Reaktionsform – neben der Anpassungs- und der Renitenzvariante – ist die der Resignation, der Flucht in die Melancholie. Dies ist die Form, in der sich der Ekel vor dem Verfall der natürlichen Abstände und vor der Einführung neuer, künstlicher Unterscheidungen am reinsten ausdrücken kann. Schon Burton’s Anatomy of Melancholy berichtet von dem Schmerz, der eine noble Seele überfällt, wenn sie mit den Herrschaftsansprüchen einer neuen Schicht profaner Geschäftemacher konfrontiert wird. Die Empfindsamen unter den Gentlemen leiden unter der neuen Art, die Welt zu ordnen, sie zu klassifizieren und den Wert jedes Ding zu taxieren, aber sie werden dagegen nicht einschreiten. Sie werden weder mitmachen, wie diejenigen, die sich nach dem Bild der politeness umformen, noch werden sie in reaktionärer Weise rebellieren und am Scheinbild vergangener Selbstherrlichkeit festhalten. Sie werden sich ins Private zurückziehen und sich ihrem ›Spleen‹ hingeben. Tatsächlich ist der Spleen eine Krankheit, die im 17. Jahrhundert groß wird, und eine, die bevorzugt Gentlemen befällt. Darüber hinaus scheint es sich um eine Krankheit zu handeln, die unmittelbar mit den neuen Verfahren der Klassifizierung in Verbindung steht. Traditionell handelte es sich bei »spleen« (wörtlich: Milz) um eine diffuse Diagnose, die häufig mit anderen, wie »rickets« (Rachitis) oder »livergrown« (Fettleber) zusammengeworfen wurde. Seit 1647 erscheint der Spleen in den Londoner Bills of Mortality als eine eigene Krankheit.69 Zum Tod scheint sie selten geführt zu haben: In John Graunts Table of Casualties für die Jahre 1647 bis 1660 werden pro Jahr meist weniger als 10 Fälle verzeichnet.70 Als eine Art Restkategorie diente ›spleen‹ offenbar dazu, all jene Fälle zu bezeichnen, die sich nicht eindeutig klassifizieren ließen – eine Ungenauigkeit der Zuschreibung, die in der medizinischen Literatur beklagt wurde: »[E]very Symptom, not already classed under some particular limited Distemper, is called by the general Name of Spleen and Vapours«.71 Wie Richard Blackmore, Dichter und Leibarzt von Queen Anne, bemerkte, war es schon schwierig genug, »essential Differences among regular Beings« zu bestimmen. Unter den »hypocondriacal and hysterical affections« (die nach volkstümlicher Ansicht aus der Milz aufstiegen) 68  Ebd., S. 225. 69  Vgl. Anders Hald, A history of probability and statistics and their applications before 1750,

Hoboken, N.J, 2003, S. 92.

70  Graunt, Natural and Political Observations (am Ende des Bandes eingefaltete Tabelle). 71  George Cheyne, The English malady: or, a treatise of nervous diseases of all kinds, as spleen,

vapours, lowness of spirits, hypochondriacal, and hysterical […], London, 1733, S. 194.

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für Übersicht zu sorgen, erwies sich jedoch als eine geradezu übermenschliche Aufgabe. Allzu groß waren die »peculiar Oddnesses and specifick Caprices« dieser Gemütskrankheiten; allzu »delicate and abstruse« waren die »Whimsies«, die ihnen zugrundlagen.72 Doch offenbar wurde der Spleen nicht nur als eine schwer klassifizierbare Krankheit betrachtet, er wurde ebenso als eine Klassifikations-Krankheit begriffen. Denn die Symptomatik des Spleen bestand wesentlich in der Unfähigkeit, zu klaren Unterscheidungen und Entscheidungen zu kommen, kurz, das eigene Leben in Ordnung zu halten. So sind die Geisteskräfte derer, die vom »Distemper vulgarly called the Spleen« befallen sind,73 »perpetually wavering and undetermined, […] whence they always vary and disagree with themselves, and continually spend their Hours in forming Schemes of Life; which however they seldom thorowly pursue, and are always exercised in making and breaking Resolutions« 74. Diese Unfähigkeit bzw. der Unwille, sich in eine bestimmte Kategorie einzufügen oder an einer einmal eingeschlagenen Richtung festzuhalten, mag die Lebenstüchtigkeit der vom Spleen Befallenen vermindert haben; der antiklassifikatorische Affekt erwies sich jedoch in anderer Hinsicht als außerordentlich produktiv. Als »Quality almost peculiar to this Nation« 75 führt der Spleen zu einer Massenproduktion von ›Originalen‹, von ›Individualisten‹, die sich ihrer jeweils spezifischen Grille hingeben: »This is the Province of the Comick Poet, and perhaps no Nation on Earth furnishes him with a greater Variety of original Humourists, or more surprizing, ridiculous, whimsical Characters, to be exposed on the Stage, than our own Island.« 76 Während, so Blackmore, von den Franzosen gesagt werde: »If you have seen one, you have seen all«, bieten die »Natives of Britain« ein reiches Bild der Verschiedenheit. Auf der vom Spleen geprägten Insel wird man nicht nur die zahlreichsten Unterschiede zwischen den Menschen finden, auch an ein und derselben Person werden innerhalb eines einzigen Tages »the Dispositions and Humours of all the Nations of Europe« in Erscheinung treten.77 Blackmore verortet den Grund des Spleens und damit der »Diversity of Genius and Disposition« in der Konstitution des englischen Körpers,78 der spezifischen Zusammensetzung seiner Körpersäfte. Dass diese englischste aller Krankheiten in der Zeit um 1700 eine solche Aufmerksamkeit erfährt, dürfte aber vor allem daran liegen, dass sie sehr weitgehend den Nöten der Standesherrschaft entspricht: Auf die Zumutung einer von außen auferlegten klassifikatorischen Gleichschaltung 72  Richard Blackmore, A treatise of the spleen and vapours: or, hypocondriacal and hysterical

affections, London, 1725, S. 264. Ebd., S. 239. Ebd., S. 241. Ebd., S. 258. Ebd., S. 269 – 270. Ebd., S. 261 – 262. Ebd., S. 261.

73  74  75  76  77  78 

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reagiert der Gentleman durch zwanghafte Flucht in die Originalität des Charakters. Tragischerweise ist auch dieser Versuch, der Klassifizierung zu entgehen, sich durch die Identifikation mit einem ganz speziellen Tick zu einem unverwechselbaren, nicht kategorisierbaren Individuum zu machen, zum Scheitern verurteilt. Nur die Originale selbst finden sich originell; von außen betrachtet erscheinen sie als eine endlose Reihe von »fanciful Persons«, die nach ihren »extravaganten und lächerlichen« Launen in »various Classes« eingeteilt werden können.79

Gentleman’s End Die Ungerechtigkeit der klassifikatorischen Einordung widerfährt nicht nur den melancholischen Verteidigern der alten Ordnung, den komischen Rittern des Spleens. Mit der Durchsetzung einer klassifikatorischen Ordnung scheint vielmehr grundsätzlich das Schicksal des Gentlemans besiegelt zu sein: Ein Gentleman, der in eine Klasse gesteckt werden kann, dessen Position sich von einer klassifikatorischen Bewertung ableitet, ist – jedenfalls nach den Maßstäben der alten, ständischen Ordnung – keiner mehr. Seine Position wird nun, wie die aller anderen auch, von ständig wechselnden Maßstäben der Bewertung abhängen, in erster Linie vom Reichtum. Ein deutliches Zeichen dieses Verfalls ist darin zu sehen, dass man im 18. Jahrhunderts von einer »class« 80 der Gentlemen zu sprechen beginnt – eine Redeweise, die sich konsequent mit einer ganz illusionslosen Beschreibung des Gentleman-Seins verbindet: »From this Account of the Foundation of Gentry amongst us, it is pretty plain, that it is not an immutable State, like Nobility, which is hereditary to a Race, whereas this depends entirely upon Riches.« 81

79  Ebd., S. 162. 80  So z. B. in Arbuckle, anon., »Nothing is more evident […]«, S. 86. 81  Ebd.

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15.

MASSENMEDIEN, KLASSENMEDIEN. DIE NEUFORMATIERUNG ENGLANDS In den Kapiteln 9 bis 12 wurde beschrieben, wie das zuvor in einem tausendjährigen Märchenschlaf versunkene Prinzip der sozialen Klassenteilung im England des 17. Jahrhunderts wiederentdeckt und im Rahmen des Großversuchs der ›Politischen Arithmetik‹ experimentell erprobt wurde. Die Wirksamkeit der klassifikatorischen Aufteilung beschränkte sich dabei allerdings auf ›von oben‹ aufoktroyierte Praktiken, die entsprechenden Widerständen ausgesetzt waren, ablesbar an den häufigen Angriffen auf das Klassifizierungspersonal, auf Landvermesser, Volkszähler, Rekrutierungsoffiziere oder Steuereintreiber. Umso größere Bedeutung kommt daher den vielfältigen und verstreuten Praktiken zu, durch die sich das Prinzip der klassenförmigen Sortierung von Dingen und Menschen im gesellschaftlichen Feld zu verbreiten begann, durch die es allmählich zu einem auch ›von unten‹ akzeptierten Maßstab der gesellschaftlichen Neuaufteilung wurde. Wie in diesem Kapitel gezeigt werden soll, ist dies ein Prozess, der einiges mit der Medienrevolution des 17. Jahrhunderts zu tun hat, mit dem Aufkommen einer Reihe von ›Massenmedien‹ (Flugblatt, Zeitung, Kaffeehaus, Club, Magazin…), die nicht nur neue Formen der politischen Artikulation, sondern auch neue Formen der sozialen Einteilung hervorbrachten. Die entstehenden ›Massenmedien‹ können ebenso als ›Klassenmedien‹ verstanden werden: als Agenturen zur Einübung und Durchsetzung einer klassifikatorischen Neuordnung von Gesellschaft – auch wenn diese Restrukturierung anfangs noch nicht unter dem Stern des Klassenbegriffs auftritt.

Die sogenannte bürgerliche Öffentlichkeit Es ist kaum möglich, etwas über die sozialen Implikationen der Neuen Medien des 17. und 18. Jahrhunderts zu sagen, ohne dabei auf den Begriff der ›bürgerlichen Öffentlichkeit‹ einzugehen, den Jürgen Habermas in seiner 1962 erschienenen Habilitationsschrift Strukturwandel der Öffentlichkeit geprägt hat. Während Habermas’ normatives Konzept der Öffentlichkeit in der deutschen Medienwissenschaft harsch kritisiert wurde,1 hat der Begriff nach der späten Übersetzung 1  Vgl. Friedrich Kittler, »Weil das Sein eine Geschichte hat. Ein Gespräch mit Friedrich A.

Kittler [geführt von Alessandro Barberi]«, Österreichische Zeitschrift für Geschichtswissenschaft, N° 11, 2000, 109 – 123, S. 112: »Die entsprechenden Analysen und ihre zugrundeliegenden Prämissen waren auch so gänzlich falsch – vor allem in Habermas’ Strukturwandel der Öffent-

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des Buches ins Englische (1989) unter dem Namen ›public sphere‹ eine zweite akademische Karriere gemacht, nicht nur in den Cultural studies, sondern auch in der Historiographie, wo er erstaunlicherweise immer größeren Umfang gewann und auf immer frühere Epochen der Englischen Geschichte angewendet wurde.2 Habermas hatte die ›bürgerliche Öffentlichkeit‹ im ersten Drittel des 18. Jahrhundert ins Auge gefasst; neuere Veröffentlichungen entdeckten eine ›public sphere‹ der Restaurationszeit,3 der Englischen Revolution,4 des späten 16. Jahrhunderts 5 – und sogar eine »post-Reformation public sphere«, die sich »von den 1530er bis in die 1630er« erstreckte.6 Im Unterschied zu Reinhart Koselleck, der in seinem 1559 erschienen Buch Kritik und Krise sehr unsanft mit der Idee der Öffentlichkeit umgegangen war und sie zu den moralischen Erpressungswerkzeugen des Bürgertums gezählt hatte,7 war Habermas darum bemüht, den Begriff zu ›retten‹ und ihn in eine Geschichte der kritischen, vernünftigen, aufgeklärten, demokratischen Willensbildung zu integrieren. Er interessierte sich weniger für die Partikularinteressen, die zu der Entstehung der Öffentlichkeit geführt hatten, als für die neuen Kommunikationsmöglichkeiten, die sich damit eröffneten. Auch wenn sich die Formen der Vereinigung (Kaffeehäuser, Clubs, Tischgesellschaften, Salons, Lesezirkel, Freimaurerlogen usw.) stark unterschieden, so sei ihnen doch gemeinsam gewesen, dass sie »eine der Tendenz nach permanente Diskussion unter Privatleuten« ermöglichten;8 sie förderten ein »Räsonnement«, in dem »die Autorität des Argu-

lichkeit […].«. Vgl. auch Rudolf Maresch, »Im Archiv der Öffentlichkeit. Rückblick auf eine fixe Idee, die das demokratische Bewusstsein vor fünfzig Jahren heimgesucht hat«, Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK ), N° 2013/2, 2013, 53 – 61, sowie Raimar Zons, »Wie ein Anfang in der Geisteswissenschaft zu machen ist. Eine Untersuchung am Beispiel Jürgen Habermas’ und Friedrich Kittlers«, Internationales Archiv für Sozialgeschichte der deutschen Literatur, Jg. 40, N° 2, 2015, S. 382. 2  Vgl. Peter Lake u. Steve Pincus, »Rethinking the public sphere in early modern England«, The Journal of British Studies, Jg. 45, N° 02, 2006, 270 – 292, S. 270: »The ›public sphere‹ has been moving backward in time.« 3  Vgl. David Zaret, »Religion, Science, and Printing in the Public Spheres of England«, in: Craig J. Calhoun (Hg.), Habermas and the public sphere, Cambridge, Mass., London, 1993, 212 – 235, S. 220. 4  Vgl. Joad Raymond, »The newspaper, public opinion, and the public sphere in the seventeenth century«, Prose Studies, Jg. 21, N° 2, 2008, 109 – 136, S. 128. 5  Vgl. Alexandra Halasz, The marketplace of print. Pamphlets and the public sphere in early modern England, New York, 1997, S. 163. 6  Lake u. Pincus, »Rethinking the public sphere in early modern England«, S. 273. 7  Vgl. Reinhart Koselleck, Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt (1959), Frankfurt a. M., 1989, S. 44: »Die Selbstgewißheit des moralischen Innenraums liegt in seiner Fähigkeit zur Publizität. Der Privatraum weitet sich eigenmächtig zur Öffentlichkeit aus, erst in ihrem Medium erweisen sich die persönlichen Meinungen als Gesetz.« 8  Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft (1962), Darmstadt, 1987, S. 52.

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ments« über »die der sozialen Hierarchie« triumphieren sollte.9 Als wesentliche Bedingung einer solchen »rationellen Verständigung« 10 nennt Habermas die Schaffung eines Raums, in dem (zumindest für die Dauer der Kommunikation) die gesellschaftlichen Unterschiede außer Kraft gesetzt sein sollten: Zunächst ist eine Art gesellschaftlichen Verkehrs gefordert, der nicht etwa die Gleichheit des Status voraussetzt, sondern von diesem überhaupt absieht. […] Les hommes, private gentlemen, die Privatleute bilden das Publikum nicht nur in dem Sinne, daß Macht und Ansehen der öffentlichen Ämter außer Kraft gesetzt sind; auch wirtschaftliche Abhängigkeiten dürfen im Prinzip nicht wirksam sein; Gesetze des Marktes sind ebenso suspendiert wie die des Staates.11

Habermas weist selbst darauf hin, dass ein solches Idealbild herrschaftsfreier Kommunikation keineswegs dem entsprach, was in »den Kaffeehäusern, den Salons und den Gesellschaften« tatsächlich vor sich ging. Dennoch sei eine solche »Idee des Publikums« mit den neuen Verkehrsformen »als objektiver Anspruch gesetzt und insofern, wenn nicht wirklich, so doch wirksam gewesen«.12 Historische Einwände gegen Habermas’ Konzeption der bürgerlichen Öffentlichkeit richteten sich vor allem gegen die Nonchalance, mit der das Auseinanderklaffen von Ideal und Wirklichkeit überspielt wurde. Seine Untersuchung, die offenbar »nicht von empirischen Befunden geleitet«, sondern »von einer vorformulierten Hypothese angetrieben« wurde,13 reduzierte die komplexe Kommunikationssituation im England des frühen 18. Jahrhunderts auf »eine Art pastorales Idyll, ein goldenes Zeitalter der kommunikativen Rationalität« 14 – um ausgehend von diesem »idealisierten Modell« die Geschichte von Blüte und Verfall der Öffentlichkeit zu erzählen.15 Habermas’ Behauptung, dass die Institutionen der bürgerlichen Öffentlichkeit die Standesunterschiede zumindest virtuell außer Kraft gesetzt hätten, ist vielfach bestritten worden, insbesondere mit Blick auf die sichtbaren und unsichtbaren Ausschlüsse, auf denen die Formierung des neuen Kommunikationsraums beruhte. Stallybrass und White haben darauf hingewiesen, welche »Arbeit der Ausschließung« nötig war, um aus dem Chaos des Londoner Nachtlebens jene 9  Ebd., S. 52. 10  Ebd., S. 53. 11  Ebd., S. 52. 12  Ebd. 13  Kittler, »The enlightenment and the bourgeois public sphere (Through the eyes of a

London merchant-writer)«, S. 3.

14  Markman Ellis, »General introduction«, in: ders. (Hg.), Eighteenth-century coffee-house

culture, vol. 1. Restoration satire, London, New York, 2016, xi–xxxi, S. xvii.

15  Vgl. Moyra Haslett, Pope to Burney, 1714 – 1779. Scriblerians to bluestockings, Basingstoke,

2003, S. 139.

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»verfeinerte Öffentlichkeit« aufsteigen zu lassen, in der die neue bürgerliche Mitte ihre Kommunikationsideale verwirklicht sehen konnte.16 Der ideologische Anspruch der ›public sphere‹, einer »inklusiven und universellen Klasse der Menschheit« Platz zu bieten, war leicht zu durchschauen; bei genauerem Hinsehen schien ihre Funktion eher darin zu bestehen, »eine ziemlich spezifische Sorte von Persönlichkeit hervorzubringen, die die sonderbare Überzeugung hegt, eine universelle Klasse der Menschlichkeit zu repräsentieren«.17 Doch nicht nur in den Akten des Einschlusses und Ausschlusses, die die Zugehörigkeit zur neuen Form der Gesellschaftlichkeit regeln, erweist sich das Öffentlichkeitssystem des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts als eine Maschinerie der Teilung und Neuaufteilung. Dies betrifft vielmehr auch den Binnenraum der so konstituierten ›bürgerlichen‹ Welt. Anders als Habermas’ idealisierende Darstellung suggeriert, besteht die Funktionsweise der Neuen Medien von 1700 keineswegs nur darin, einen Freiraum der standeslosen, demokratischen Kommunikation zu schaffen. Zwar haben Kaffeehäuser und Clubs, wie auch Zeitungen und Zeitschriften, zweifellos dazu beigetragen, die überkommenen Unterscheidungen der Standesordnung zu entkräften. Dies geschah jedoch weniger dadurch, dass sie einem impliziten Ideal der Gleichheit aller Kommunikationspartner folgten, als vielmehr dadurch, dass sie die alten Hierarchien zum Gegenstand eines frivolen Spiels der Zeichen machten und sich zugleich als Experimentalanordnungen zur Erprobung neuer gesellschaftlicher Aufteilungen anboten. In dem Maß, in dem sie die Aushöhlung der überkommenen Standesunterscheidungen vorantrieben, trugen sie zugleich zur Ausbreitung der neuen, klassifikatorischen Teilungsprinzipien bei. Und umgekehrt: Je hartnäckiger sie die Möglichkeit anderer, willkürlich getroffener Unterscheidungen ins Spiel brachten, desto mehr verlor das Prinzip der ständischen Differenzierung seine natürliche Evidenz – bis es schließlich an Realitätsmangel zugrunde gehen musste. So treten die sozialen Institutionen, die Habermas als Medien einer bürgerlichen Öffentlichkeit und damit eines freien, rationalen Diskurses beschreibt, zugleich als Medien einer neuen gesellschaftlichen Hierarchisierung in Aktion. Gerade weil Print-Medien, Kaffeehaus und Club die Schranken der alten Gesellschaft zumindest partiell außer Kraft setzten, konnten sie zu Spielfeldern für die Erprobung neuer sozialer Differenzierungen werden. Sie mussten nicht den Umweg über die Politik nehmen, um gesellschaftliche Wirkungen zu erzielen. Sie griffen unmittelbar ins Soziale ein, strickten an den gesellschaftlichen Beziehungen mit, indem sie laufend neue Gegenstände des Interesses, neue Weisen der Kommunikation, Formen des Zusammenseins und Selbstverständlichkeiten des Umgangs hervorbrachten. Als heterotopische Inseln des Egalitarismus bildeten sie zugleich Dispositive der 16  Stallybrass u. White, The politics and poetics of transgression, S. 105, 109. 17  Erin Mackie, »Introduction. Cultural and historical background«, in: dies. (Hg.), The com-

merce of everyday life. Selections from the Tatler and the Spectator, London, 1997, 1 – 32, S. 18 – 19.

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Klassifizierung, sie hatten die Wirkung von Sortieranlagen, die die Teilnehmer des Diskurses nach neuen, bisher nicht bekannten Kriterien in bestimmte Publika, in unterschiedliche Geschmacks- und Habitusgruppen einteilten.

Freiwillige Selbstsortierung Wie der amerikanische Literaturwissenschaftler Michael Warner bemerkt hat, ist es in der an Habermas anschließenden Tradition zur Gewohnheit geworden, die »arbitrary closures of the publics« zu beklagen, die gleichsam die Kehrseite der liberalen Öffnung des Diskurses bildeten. So wurde die Macht der Öffentlichkeit vor allem in negativen Begriffen – »in Begriffen der Ideologie, der Herrschaft oder des Ausschlusses« beschrieben, was dazu führte, dass man ihre – wie Warner in deutlichem Anklang an Foucault sagt – positive, produktive, seinserzeugende Seite aus dem Blick verlor.18 Diese liegt für Warner vor allem in der Macht der sozialen Formbildung. Die eigentliche machttechnische Innovation und spezifische Modernität der bürgerlichen Öffentlichkeit besteht in einer neuen Form der Adressierung, die aus verstreuten, sich gegenseitig fremden Menschen ein Publikum macht; eine Art der kollektiven Anrufung, deren Machteffekt sich als Erzeugung einer neuen Art von Gesellschaftlichkeit beschrieben lässt: »Die Projektion einer Öffentlichkeit ist eine neue, kreative und ausgesprochen moderne Form der Macht.« 19 Die wesentliche Funktion der neuen Sphäre der Öffentlichkeit ist also ›publication‹ – buchstäblich zu verstehen als Herstellung oder Formierung eines Publikums. Warner bindet diese Art der Neuformatierung des Sozialen eng an die spezifische Verbreitungs- und Adressierungsweise von periodischen Druckmedien, versteht ›publication‹ also als ein Phänomen der Massenpresse.20 Anders als beim Besuch einer Theatervorstellung oder bei der Teilnahme an einer Kneipendiskussion, in der die ›audience‹ durch die gemeinsame Anwesenheit der Zuhörer definiert war, geschah der Konsum von Druckschriften »mit dem Bewusstsein, dass die gleichen Druckerzeugnisse von einer unbestimmten Zahl von anderen konsumiert wurden«; die Wahrnehmung, als Leser Teil eines undefinierten größeren Publikums zu sein, war auf diese Weise »in die Bedeutung des gedruckten Objekts« gleichsam mit »eingebaut«.21 Für die in diesem Kapitel zu verfolgende Frage nach den Klassifikationsleistungen des Öffentlichkeitssystems ist die von Warner getroffene Unterscheidung zwischen ›the public‹ und ›a public‹ besonders aufschlussreich. Während »das Publikum« lediglich die ideale Instanz einer sozialen Gesamtheit bezeichnet, die 18  Michael Warner, »Publics and counterpublics«, Public Culture, Jg. 14, N° 1, 2002, 49 – 90,

S. 77.

19  Ebd. 20  Michael Warner, »The mass public and the mass subject«, in: Bruce Robbins (Hg.), The

Phantom public sphere, Minneapolis, Minn., 1997, 234 – 256, S. 237. 21  Ebd., S. 236 – 237.

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mit so ungenauen Ausdrücken wie »the people in general« belegt wird,22 ist unter ›einem Publikum‹ die konkrete Menge derjenigen zu verstehen, die durch eine bestimmte ›publication‹ erreicht werden. Im Unterschied zu ›dem Publikum‹ ist also ›ein Publikum‹ klar definiert: Die Gemeinsamkeit seiner Elemente besteht darin, dass sie sich durch eine bestimmte Art von Veröffentlichung adressieren lassen. Diese Art der adressierenden Zusammenfassung unzusammenhängender Einzelner zu einem Publikum konvergiert in mehreren Hinsichten mit den Ordnungsverfahren der klassifikatorischen Einteilung, die sich, wie wir gesehen haben, im Laufe des 17. Jahrhunderts von der Naturgeschichte ausgehend auf den Bereich des Sozialen ausweiten. Wie Warner hervorhebt, zeichnet sich das Publikum einer gedruckten Veröffentlichung wesentlich durch die Abstraktheit seines Zusammenhangs aus. Nicht eine bereits bestehende Bekanntheit ist die Grundlage der Beziehung, sondern gerade die Unbekanntheit, die Fremdheit: »Ein Publikum ist eine Beziehung unter Fremden.« 23 Was ein Publikum ist, ergibt sich nicht aus örtlicher Nähe, aus Verwandtschaft, Freundschaft und gewohnheitsmäßigem Zusammensein, sondern allein daraus, dass man sich von ein und demselben Medium adressieren lässt. Hier zeigt sich eine erste Übereinstimmung mit der Logik der Klassenteilung: So wie eine Klasse durch den Akt der Klassifikation, so existiert ein Publikum durch den Akt der Publikation; die Adressierung als Klasse entspricht der Adressierung als Publikum. Und auch die epistemologischen Probleme, die der Begriff des Publikums aufwirft, sind denen, mit denen die Klassentheorie zu kämpfen hat, verdächtig ähnlich: »Angesichts der Idee eines Publikums sind wir mit einer Art Henne-Ei-Zirkel konfrontiert. Könnte jemand öffentlich sprechen, ohne sich an ein Publikum zu wenden? Aber wie kann dieses Publikum existieren, bevor es angesprochen wird? Was wäre ein Publikum, wenn niemand es adressieren würde?« 24 Was die historische Wirksamkeit angeht, so liegt die Gemeinsamkeit vor allem darin, dass sowohl die Klassifikation als auch die Formierung eines Publikums als autonome symbolische Setzungen begriffen werden können, die nicht von bestehenden Ordnungsstrukturen abhängig sind, sondern sich vielmehr über diese hinwegsetzen und sie zumindest tendenziell durch andere, alternative Einteilungen und Zusammenschlüsse ersetzen können. Am Beispiel der Politischen Arithmetik war zu sehen, dass die soziale Klassifizierung nach quantitativen Gesichtspunkten (z. B. nach Einkommen oder Arbeitsleistung) mit einer impliziten Herabstufung der traditionellen ständischen Einteilungskriterien verbunden war. Jemanden nach äußerlich erkennbaren Merkmalen oder messbaren Größen in eine Klasse zu setzen, bedeutete, von allem abzusehen, was ihn in einem örtlich festgelegten und durch persönliche Beziehungen bestimmten Abhängigkeitsver22  Warner, »Publics and counterpublics«, S. 49. 23  Ebd., S. 55. 24  Ebd., S. 50.

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hältnis hielt. Eine ähnliche Bewegung der Ablösung von traditionellen Formen der sozialen Bindung kennzeichnet die Entstehung von Öffentlichkeiten im 17. Jahrhundert. Zumindest der Tendenz nach stellt ein Publikum einen »Diskursraum« dar, »der durch nichts anderes als durch den Diskurs selbst organisiert wird«;25 es bildet sich »unabhängig von staatlichen Institutionen, Gesetzen, formalen Rahmenbedingungen der Bürgerschaft oder bestehenden Institutionen wie der Kirche«.26 Auf diese Weise eröffnen die neuen Medien des 17. Jahrhunderts die Möglichkeit einer transversalen Kommunikation und einer anderen Form der sozialen Zugehörigkeit, die nicht mehr an die traditionellen Ordnungsstrukturen und institutionellen Vermittlungsformen gebunden ist. An dieser Stelle ist es nötig, auf einen Unterschied einzugehen, der das Unternehmen der Klassifizierung von den Entstehungsprozessen der bürgerlichen Öffentlichkeit zu trennen scheint. Klassifizierung von Menschen, in der Form, wie sie in der Politischen Arithmetik betrieben wurde, ist eine Neuordnung, die von außen auferlegt wird: Die klassifizierten Subjekte haben am Akt der Klassifizierung keinen Anteil; die Einordnung in eine Kategorie oder die Zumessung eines Zahlenwerts geschieht ohne ihre Mitwirkung, fast immer ohne ihr Wissen, häufig gegen ihren Willen und in einigen Fällen gegen ihren expliziten Widerstand. Wesentlich für die Formierung von Publika ist dagegen das Moment der Freiwilligkeit: Die Zugehörigkeit zu einem Publikum hängt allein von der »Aktivität ihrer Mitglieder« ab; sie steht in beispielhafter Weise für »das Modell des freiwilligen Zusammenschlusses«, das für die »civil society« des 18. Jahrhunderts maßgeblich werden sollte.27 Damit steht die bürgerliche Öffentlichkeit jedoch keineswegs in unüberwindlichem Gegensatz zum Projekt der Klassifizierung; sie trägt im Gegenteil wesentlich zu seiner Durchsetzung und Verbreitung bei, indem sie die Klassifizierung zu einer freiwillig betriebenen, selbstregulierten Diskursaktivität werden lässt. Die folgenden Abschnitte sollen zeigen, wie die Ausdifferenzierung der Publika in den verschiedenen public spheres im 17. Jahrhundert mit dem Unternehmen der Klassifizierung konvergiert. Die massenmediale Neuformatierung der Öffentlichkeit kommt zunächst weitgehend ohne Bezüge auf das parallel stattfindende Projekt der Quantifizierung und klassifikatorischen Ordnung des Sozialen aus. Doch werden sich die Diskursteilnehmer zunehmend der Sortier- und Unterscheidungsfunktionen der Massenmedien bewusst, sie machen sie sich zu eigen und beginnen Genuss daraus zu ziehen. So lässt sich gegen Ende des Jahrhunderts, angesichts eines ausdifferenzierten Medienangebots, so etwas wie eine Lust der Selbstklassifizierung konstatieren. Die Menschen lassen sich ihre Stellung in der Welt nicht mehr ausschließlich durch die überkommenen Platzanweisungen vor25  Ebd., S. 50. 26  Ebd., S. 51. 27  Ebd., S. 61.

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geben; maßgeblich für das Bewusstsein der eigenen Existenz werden die neuen Identifikationsangebote der Massenmedien. So verstehen sie sich beispielsweise als Träger eines ideologischen Auftrags, als Vertreter einer Meinung, als Besitzer eines bestimmten Wissens, als Besucher eines angesagten Kaffeehauses, als Mitglieder eines exklusiven Clubs oder als Leser einer geistreichen Zeitschrift. Dass die Formierung der Publika auf Freiwilligkeit beruht, bedeutet also nicht, dass sie mit dem Unternehmen der Klassifizierung unvereinbar wäre. Im Gegenteil, gerade die Zwanglosigkeit der Einübung sorgt dafür, dass die Klassifizierung von Menschen, die zunächst als ein ›von oben‹ auferlegtes Regierungskonzept beargwöhnt wurde, unter der Hand zu einer weit verbreiteten Beschäftigung, zu einer gewohnten Praxis wird. Die Durchsetzung des klassifikatorischen Denkens als Instrument zur Beschreibung des Sozialen beruht vielleicht gar nicht so sehr auf seiner regierungstechnischen Funktionalität, sondern vielmehr auf der Popularität, die es in der Medienkultur des 17. Jahrhunderts gewinnt. Wenn es darum geht, klassifikatorische Verfahren zu verbreiten, dann kann gar nichts Besseres passieren, als wenn die Menschen beginnen, sich selbst zu klassifizieren – aus Überzeugung, aus Spaß, oder weil sie sich eine Art von Erkenntnis davon versprechen.

Krieg der Pamphlete Wenn es, was kaum zu übersehen ist, eine kurzfristige und spektakuläre politische Wirksamkeit von ›Massenmedien‹ gibt, was lässt sich dann über ihre langfristigen und weniger offensichtlichen sozialen Effekte sagen? Diese Frage soll hier an einige Medien des 17. Jahrhunderts gerichtet werden, der Einfachheit halber in der Reihenfolge ihres geschichtlichen Auftretens: Pamphlet, Zeitung, Kaffeehaus, Club, galante Zeitschrift. Pamphlete stellen exemplarische Medien der diskursiven Überhitzung dar. Ihr Auftauchen in England verdankt sich den religiösen Kontroversen der postreformatorischen Ära. In den 1580er Jahren nutzten katholische Propagandaschriften und die Gegenschriften des Hofs und der High Church »das Potential des billigen Drucks als Vehikel der Auseinandersetzung«;28 seitdem hatten »Flugblätter einen festen Anteil an den Ständen der Buchverkäufer und waren ein zunehmend wichtiges Element in der Ökonomie des Buchhandels«.29 Doch blieb die »post reformation public sphere« auf einen relativ kleinen Kreis von Sendern und Adres­saten eingeschränkt.30 Die legitimen politischen und religiösen Kontroversen vollzogen sich »in streng kontrollierten Arenen der öffentlichen Diskussion, die 28  Joad Raymond, Pamphlets and pamphleteering in early modern Britain, Cambridge, 2006, S. 12. 29  Ebd. 30  Der Begriff wurde vorgeschlagen von: Lake u. Pincus, »Rethinking the public sphere in early modern England«, S. 273. Später hat Peter Lake selbstkritisch bemerkt, es sei nicht möglich gewesen, den Begriff »von seinem habermasianischen Gepäck zu befreien«: Peter

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dem Blick der Massen entzogen« waren;31 kontroverse und polemische Schriften konnten nur im Geheimen gedruckt werden und blieben auf diese Weise ein »›Untergrund‹-Phänomen«.32 Von einer Entfesselung der öffentlichen Kommunikation lässt sich erst für die 1640er Jahre sprechen. Auf die Abschaffung der Vorzensur im Jahr 1641 folgte eine wahre »print explosion«,33 die einen »kontinuierlichen Fluß von Flugschriften zu jedem Thema unter der Sonne« hervorbrachte.34 Eine von dem Londoner Buchhändler George Thomason zur Zeit des Geschehens angelegte Sammlung von Pamphleten umfasst 22.000 Titel für die Periode zwischen 1640 und 1660;35 aus einzelnen, besonders ereignisreichen Jahren sind fast 2.000 Titel erhalten.36 Zur Ausweitung der gedruckten Kommunikation trug die Tatsache bei, dass es sich um ein ausgesprochen billiges Medium handelte. Der Druck eines Buchs kostete nur »ein paar Schillinge pro Bogen«, und »die Stückkosten von Flugblättern und Pamphleten betrugen allgemein nur den Bruchteil eines Penny«.37 Die 1642 von den puritanischen Abgeordneten durchgesetzte Schließung der Theater trug weiter dazu bei, die Vormachtstellung der gedruckten Schriften zu befördern; sie bildeten nun nicht nur die »dominante literarische Form«,38 sondern auch den wichtigsten Kanal der politischen Artikulation. Auf diese Weise ergab sich die historisch neue und für alle Seiten gewöhnungsbedürftige Situation, dass sich das beherrschende Verbreitungsmedium nicht in den Händen der formellen Autorität, sondern in denen der Aufrührer befand.39 Wie Christopher Hill angemerkt hat, traf dies häufig ganz buchstäblich zu: Solange sich das Druckgewerbe noch nicht in eine »kapitalistische Industrie« verwandelt hatte, war das Drucken eine »small man’s occupation«, die mit relativ einfacher und transportabler Ausrüstung Lake, Bad Queen Bess? Libels, secret histories, and the politics of publicity in the reign of Queen Elizabeth I, 2016, S. 468. 31  Lake u. Pincus, »Rethinking the public sphere in early modern England«, S. 276. 32  Jason Peacey, »News, pamphlets, and public opinion«, in: Laura Lunger Knoppers (Hg.), The Oxford handbook of literature and the English Revolution, Oxford, 2012, 173 – 189, S. 175. 33  Jason Peacey, Politicians and pamphleteers. Propaganda during the English civil wars and interregnum, Florence, 2004, S. 27. 34  Christopher Hill, The world turned upside down. Radical ideas during the English Revolution (1972), London, New York, 1991, S. 361. 35  Vgl. Peacey, »News, pamphlets, and public opinion«, S. 173. 36  David Cressy, Literacy and the social order. Reading and writing in Tudor and Stuart England, Cambridge, 1980, S. 47. 37  Jason Peacey, Print and Public Politics in the English Revolution, Cambridge, 2013, S. 251. 38  Joad Raymond, »Introduction«, in: ders. (Hg.), Making the news. An anthology of the newsbooks of revolutionary England, 1641 – 1660, Moreton-in-Marsh, 1993a, 1 – 25, S. 2. 39  Vgl. Sharon Achinstein, »The politics of Babel in the English Revolution«, in: James Holstun (Hg.), Pamphlet wars. Prose in the English Revolution, London, 1992, 14 – 44, S. 18: »The situation of the press in the mid-seventeenth century was anomalous, however: it was largely in the hands of those who resisted monarchical authority, of those who constituted the opposition.«

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betrieben werden konnte. Unter den Druckern wie auch unter den ambulanten Händlern, die die Schriften vertrieben, fanden sich viele, die mit den radikalsten Positionen der Revolution sympathisierten und auch persönliche Risiken eingingen, um die Schriften der Levellers und Diggers unters Volk zu bringen.40 Mit der enormen quantitativen Zunahme der Veröffentlichungen verband sich zugleich eine »qualitative Verschiebung«, die »ebenso die Natur wie die Form der politischen Botschaften betraf«.41 Durch die »relative Straffreiheit, mit der Autoren und Verleger agieren konnten«, wurde es »viel einfacher, im Druck Dinge zu veröffentlichen, die in früheren Jahrzehnten undenkbar waren«.42 Vieles von dem, was zuvor in Manuskriptform oder in Form mündlicher Gerüchte zirkulierte, wurde nun in gedruckter Form veröffentlicht; zugleich schuf der Druck neue Formen der politischen Kommunikation, die im System der obrigkeitlichen Verlautbarung nicht vorgesehen waren, wie z. B. gedruckte Petitionen, die nun nicht mehr untertänigste Bitten darstellten, sondern Forderungen, denen die Tatsache der Veröffentlichung einen besonderen Nachdruck verlieh. Überhaupt schien alles, was gedruckt wurde, den Anstrich des ›Politischen‹ zu bekommen. Diskussionen, die sich auf lokale Themen bezogen, weiteten sich zu umfassenden Disputen, die die ganze ›Nation‹ angingen; Forderungen nach Gleichberechtigung in Glaubensdingen wandelten sich in Forderungen nach demokratischen Reformen; die religiöse Dissidenz ekstatischer Schwärmer ging in einen politischen Radikalismus über, der das ganze System der irdischen Herrschaft und Eigentumsverteilung in Frage stellte.43 Es ist daher kein Wunder, dass schon die Zeitgenossen den Druck, insbesondere den »cheap print« der Flugblätter und Pamphlete für die Unruhe im Volk und für die Eskalation revolutionärer Forderungen verantwortlich machten.44 Seit der Aufhebung der Zensur 1641 erhob sich von kirchlicher und monarchistischer Seite eine ständige Klage über die Flut der »needless, useless, senseless pamphlets«,45 die die Autorität des Staates bedrohten, Aufruhr stifteten und den Pöbel dazu verleiteten, in öffentlichen Angelegenheiten die Stimme zu erheben.46 Auch von republikanischen Autoren wurde der billige Druck umgehend als Mittel der revolutionären Veränderung erkannt. So wagte Samuel Hartlib in seiner utopischen Description of the Famous Kingdome of Macaria die Voraussage, dass »the art of printing will so spread knowledge that the common people, knowing 40  Vgl. Hill, The world turned upside down, S. 17. Vgl. a. Raymond, Pamphlets and pamphleteering in early modern Britain, S. 226. 41  Joad Raymond, »Introduction. Networks, communication, practice«, Media History, Jg. 11, N° 1 – 2, 2005b, 3 – 19, S. 8. 42  Peacey, »News, pamphlets, and public opinion«, S. 175. 43  Vgl. Raymond, Pamphlets and pamphleteering in early modern Britain, S. 227. 44  Vgl. Peacey, Print and Public Politics in the English Revolution, S. 2 45  Zit. nach ebd., S. 3 46  Vgl. ebd., S. 5

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their own rights and liberties, will not be governed by way of oppression«.47 Die höchste Meinung von der Wirksamkeit des Drucks hatten jedoch die Pamphletschreiber selbst. Sie sonnten sich in dem Bewusstsein, dass der Bürgerkrieg auch ein »Krieg der Worte« 48 war und dass sie als Professionelle der Kommunikation darin eine entscheidende Rolle spielten. Ein Holzschnitt aus einem Pamphlet des Levellers Richard Overton aus dem Jahr 1645 präsentiert den vorgeblichen Verfasser »Reverend Martin Mar-priest« als einen am Schreibtisch sitzenden Stier, der, während er (mit menschlicher Hand) die Feder führt, mit seinen Hörnern zugleich einen presbyterianischen Geistlichen ins Höllenfeuer stürzt.49

Abbildung 15: Richard Overton, A sacred Decretall, Europe [=London], 1645, Titelblatt. 47  Zit. nach ebd., S. 6 48  Lake u. Pincus, »Rethinking the public sphere in early modern England«, S. 279 49  Vgl. Raymond, Pamphlets and pamphleteering in early modern Britain, S. 228

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Ähnlich fasziniert von der Macht seines Schreibens war Marchamont Nedham, der in den Auseinandersetzungen des Englischen Bürgerkriegs und der Restauration mehrmals die Seiten wechselte, dabei aber stets seine Stellung als führender Zeitungsmacher und politischer Journalist seiner Zeit behaupten konnte. 1644 verkündet er im Mercurius Britanicus: »I have got the successe I aimed at, the uncheating, the undeluding, the undeceiving, the unmasquing, the uncovering, the un-Oxfording, the un-Bishoping, and I hope the un-Common-Prayering of the Kingdom too.« 50 Und 1652 blickt er stolz auf »our late Wars« zurück, »wherein the Pen Militant hath had as many sharp rancounters as the Sword«.51 Der Erfolg der Printkultur bemisst sich aber weniger an solchen triumphalen Äußerungen als an ihrer allmählichen Normalisierung. Die gedruckte Kommunikation verlor ihr kontroverses und militantes Ansehen und wurde zunehmend als selbstverständliches Mittel der politischen Artikulation betrachtet: »Diese Situation wurde wohl schon in den 1650er Jahren nicht mehr als vorübergehend empfunden, sondern von vielen als unvermeidbar und von manchen sogar als normal angesehen.« 52 Geradezu emblematisch verkörpert sich der Triumph der Print-Öffentlichkeit in einem 1641 gedruckten satirischen Flugblatt mit dem Titel »The World is Ruled and Governed by Opinion«. Die Illustration stammt von dem bedeutenden Zeichner und Kupferstecher Wenceslaus Hollar und zeigt »opinio«, wie sie mit verbundenen Augen und einem babylonischen Turm auf dem Kopf im Geäst eines Baumes sitzt. Auf ihrem linken Arm balanciert ein Chamäleon, mit der rechten Hand hält sie einen Zeige- bzw. Prügelstock. An den Ästen des Baums, der von einem Mann im Narrenkostüm gewässert wird, hängen bedruckte Blätter, die sich zum Teil schon gelöst haben und zu Boden fallen.53 Der Text, verfasst von Henry Peacham, dem Autor des vielverkauften Guidebooks The Compleat Gentleman (1622), identifiziert diese fliegenden Blätter als »those idle books and libels«, die »In every street, on every stall« zu finden seien und den »giddie vulgar« dazu dienten, ihre Urteile zu fällen, »bee they right or wrong«.54

50  Marchamont Nedham, »[Editorial:] There is such enquiring why I writ not […]«, Mercurius Brita[nn]icus, N° 51, From Monday the 23. of September, to Monday the 30. of Sept. 1644, 399 – 400, S. 399. Vgl. Blair Worden, Literature and politics in Cromwellian England. John Milton, Andrew Marvell, Marchamont Nedham, Oxford, New York, 2010, S. 20 – 21 51  Marchamont Nedham, »The Epistle Dedicatorie«, in: John Selden, Of the dominion or ownership of the sea. Two books, hg. v. Marchamont Nedham, London, 1652, s. p. 52  Lake u. Pincus, »Rethinking the public sphere in early modern England«, S. 280 53  Vgl. Raymond, »Introduction«, S. 6. 54  Henry Peacham u. Wenceslaus Hollar, The World is Ruled & Governed by Opinion, London, s. d. [1641].

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Abbildung 16: Henry Peacham und Wenceslaus Hollar, The World is Ruled & Governed by Opinion, London, s. d. [1641].

Die Botschaft ist also eindeutig: »Zu viele Meinungen signalisierten Chaos, und die Beteiligung der unteren und mittleren Schichten im politischen Leben der Nation würde in die Anarchie führen.« 55 Doch dürfte auch den zeitgenössischen Betrachtern der performative Widerspruch einer in Pamphletform vorgetragenen Pamphletkritik nicht entgangen sein. In ihrer Medialität unterschied sich Peachams und Hollars Flugschrift nicht von den gewöhnlichen Früchten des Meinungsbaums, und auch wenn darin die Herrschaft der ›opinio‹ kritisiert wurde, so stellte doch die Tatsache, dass diese Kritik per Druckschrift veröffentlicht und damit ›an alle‹ adressiert wurde, eine unfreiwillige Huldigung an eben diese öffentliche Meinung dar. Die Kritik der Meinung ist auch nur eine Meinung, und sie treibt die weitere Meinungsproduktion voran: »Cause one Opinion many doth devise / And propagate till infinite they bee«.56 55  Achinstein, »The politics of Babel in the English Revolution«, S. 21 56  Peacham u. Hollar, The World is Ruled & Governed by Opinion.

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So lässt sich für die 1640er Jahre von der Entstehung eines neuen politischen Kommunikationsraums sprechen, einer durch ›cheap print‹ konstituierten ›public sphere‹, die nichts mehr mit der repräsentativen, höfischen Öffentlichkeit alten Stils zu tun hat, die sich aber auch nicht mit dem Habermas’schen Bild von bürgerlicher Öffentlichkeit als einer freien, gleichen und rationalen Diskussion in Einklang bringen lässt. In den Auseinandersetzungen der Bürgerkriegszeit hatte die Vernunft, nach der Einschätzung von Joad Raymond, nur »limited currency«.57 Die in Pamphletform geführten Debatten entstanden nicht aus dem »Wunsch, eine Umgebung freier und offener Kommunikation zu schaffen, sondern aus dem Wunsch, zu manipulieren und mit rhetorischen Mitteln zu überreden«.58 Die Radikalen von 1640 schätzten das Pamphlet nicht nur als »populäres und partizipatives Forum der Debatte«, sondern auch als »eine lebhafte, witzige, polarisierende, kraftvolle, selbstbewusste, häufig unüberlegte Form der Adressierung«, die »rauflustige Zwischenrufe« mit einschloss.59 Ungewöhnliche Positionen erzeugten zwar nicht unbedingt größere Akzeptanz, auf jeden Fall aber größere Aufmerksamkeit – eine Erfahrung, die zur wechselseitigen Überbietung radikaler und fanatischer Wortmeldungen führte. Wie Christopher Hill bemerkt hat, dürfte es für Phantasten aller Couleur niemals einfacher gewesen sein, »gedruckt zu werden« als »in den kurzen Jahren extensiver Pressefreiheit« von 1641 bis 1660.60 In einem Markt, »der von gedrucktem Material überflutet wurde«, stellte »kalkulierte Exzentrik« zweifellos einen »Verkaufsvorteil« dar.61 Schon im Veröffentlichungsmodus des Pamphlets schien eine Eskalation der Debatten angelegt zu sein. Während der persönliche Austausch eine gewisse Vorsicht erforderte, verführte die gedruckte, meist anonyme Publikation zu einer »weniger maßvollen und weniger höflichen« Kommunikation, damit auch zu einer »Verhärtung oder Übertreibung von Spaltungen«.62 Im Unterschied zur mündlichen Äußerung, die zurückgenommen und vergessen werden konnte, stellte das gedruckte Wort ein unwiderrufliches Statement dar, das die angegriffene Seite ›nicht so stehen lassen‹ konnte und durch andere gedruckte Worte beantworten musste. Auf diese Weise entstanden Debatten, die sich über Monate und Jahre hinziehen konnten und immer umfangreichere und verschachteltere Antwortschriften hervorbrachten.63 Auch wenn dabei der ursprüngliche Anlass häufig aus den Augen geriet und die Diskussion immer unübersichtlicher wurde, liefen diese paper wars doch auf eine immer stärkere Entgegensetzung der Positionen hinaus. 57  Raymond, »The newspaper, public opinion, and the public sphere in the seventeenth century«, S. 123 58  Ebd., S. 129 59  Raymond, Pamphlets and pamphleteering in early modern Britain, S. 247 60  Hill, The world turned upside down, S. 17 61  Ebd. 62  Peacey, »News, pamphlets, and public opinion«, S. 179. 63  Vgl. ebd., S. 178.

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Wenn die neue Sphäre der Drucköffentlichkeit in den Jahren der Revolution als ein babylonisches Stimmengewirr beschrieben wurde, als ein Tummelplatz der unterschiedlichsten Formen von religiöser und politischer Dissidenz,64 so wirkte dieser Neigung zur Ausdifferenzierung und freien Sprossung der Konflikte ein mindestens ebenso starker Hang zur Gleichrichtung der Positionen und zur binären Aufspaltung des Feldes entgegen. In Bezug auf die Französische Revolution hat Francois Furet von einer politischen und ideologischen »Schleuderbewegung« gesprochen, einer Eigendynamik des revolutionären Geschehens, die sich nicht mit ökonomischen und sozialen ›Ursachen‹ erklären lasse: Ich hänge nicht an dieser Metapher aus dem Bereich des Autofahrens, falls jemand ein besseres Wort findet. Aber ich halte an der Idee fest, daß der revolutionäre Prozeß in seinem Ablauf und in der relativ kurzen Zeitspanne nicht auf den Begriff ›bürgerliche Revolution‹ reduziert werden kann […]; denn was an ihm eine dauerhafte Schleuderbewegung und ein Widerspruch gegenüber seiner gesellschaftlichen Natur ist, das entsteht durch eine autonome politische und ideologische Dynamik, die man als solche begrifflich fassen und analysieren muß.65

Im Fall der Englischen Revolution kann die eskalierende Dynamik der Entgegensetzung zu einem wesentlichen Teil der Medialität des ›cheap print‹ zugerechnet werden, der inhärenten Tendenz der Pamphletkultur, eine manichäische Interpretation des Sozialen hervorzubringen. So waren »billige und nicht lizenzierte Publikationen« wesentlich daran beteiligt, »einen Keil zwischen König und Parlament zu treiben«: »Indem sie Informationen über den Konflikt verbreiteten, ermutigten sie ihre Leser, zu bestimmten Themen Stellung zu nehmen. Sie verbreiteten auch Ängste in Bezug auf die zentralen Fragen, bei denen sich die gegnerischen Parteien nicht einigen konnten, zum Beispiel die Antwort auf die irische Rebellion.« 66 Die Polarisierung der Positionen machte es zusehends unmöglich, einen Ausgleich zu finden. Alle, die an der Debatte teilnahmen, fühlten sich verpflichtet, Partei zu ergreifen, und selbst wenn sie es nicht taten, wurden sie umgehend einem der beiden Lager zugerechnet. So ermöglichten die Druckschriften eine wilde Proliferation exzentrischer Äußerungen; zugleich setzten sie jedoch eine Dynamik der binären Entgegensetzung in Gang, durch die all die wilden Stimmen letztlich doch wieder auf einen bestimmenden politischen Gegensatz, eine beherrschende ideologische Spaltung abgebildet wurden. 64  Vgl. Achinstein, »The politics of Babel in the English Revolution«, S. 17 – 18; Raymond, »The newspaper, public opinion, and the public sphere in the seventeenth century«, S. 121. 65  François Furet (Hg.), 1789 – Vom Ereignis zum Gegenstand der Geschichtswissenschaft, Frankfurt a. M., 1980, S. 146. 66  Raymond, »Introduction«, S. 7.

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Zersplitterung und Haufenbildung Dass die polemischen Druckschriften eine durchschlagende politische Wirkung hatten, ist kaum zu übersehen. Sie sorgten dafür, dass die Sphäre der Öffentlichkeit, die im 17. Jahrhundert als Machtfaktor in Erscheinung trat, von Anfang an als ein polarisiertes, vom Gegensatz zweier feindlicher Positionen beherrschtes Feld wahrgenommen wurde – eine Polarisierung, die in den paper wars um ›Popish Plot‹67 und ›Exclusion Campaign‹68 sowie der damit einhergehenden Ausdifferenzierung der Parteien der Whigs und Tories ihren deutlichsten Ausdruck fand.69 Weniger deutlich ist, inwiefern die Pamphlete, über die politische Arena hinaus, auf das soziale Gefüge einwirkten, inwiefern sie, um einen Ausdruck von Marx zu paraphrasieren, die »organische Zusammensetzung« des Body Politick veränderten.70 Diese Frage ist wesentlich schwieriger zu beantworten als die nach den politischen Wirkungen. Während sich die Produktion der politischen Diskurse anhand der verbliebenen gedruckten Zeugnisse gut nachvollziehen lässt, lassen sich über ihre Rezeption und ihre langfristigen gesellschaftlichen Wirkungen nur Vermutungen anstellen. Da der Konsum von ›cheap print‹ durch einfache Leute in der Regel keine Archivspuren hinterlässt,71 können die Lektüresituationen meist nur indirekt erschlossen werden, z. B. aus Anreden an die Leserschaft.72 Was sich jedoch mit Sicherheit feststellen lässt, ist die enorme Ausweitung des lesenden und diskutierenden Publikums weit über die Schicht der im traditionellen Sinn ›Gebildeten‹ hinaus. Mit der ›print explosion‹ der Bürgerkriegszeit gewannen immer mehr »Menschen unterhalb des Niveaus der landbesitzenden 67  ›Popish Plot‹: Eine von 1678 bis 1781 durchgeführte Säuberungsaktion gegen englische Katholiken, ausgelöst durch die von dem Geistlichen Titus Oates konstruierte Theorie einer ›Papistenverschwörung‹. 68  ›Exclusion Crisis‹: 1679 begonnene Auseinandersetzung um verschiedene Gesetzesvorlagen (›Exclusion Bills‹), die darauf zielten, den Katholiken James, Herzog von York, von der Thronfolge auszuschließen. Der Gegensatz zwischen Befürwortern und Gegnern der Bills verfestigte sich in der Gegenüberstellung der Parteien der Whigs und Tories. 69  Nach der geläufigen Auffassung sind es die Parteien und Fraktionen, die sich mit Pamphleten bekriegen; aus einer medientheoretischen Perspektive stellt sich die Sache umgekehrt dar: Die ideologischen Binarismen und die entsprechenden politischen Positionen entstehen erst aus der Logik der Aufschaukelung, die sich aus dem unablässigen Spiel von Spiel von Rede und Widerrede, dem unablässigen Wechsel von Pamphlet und Anti-Pamphlet ergibt. 70  Marx spricht von der »organisch[en] Zusammensetzung des Kapitals«, z. B. in Marx, »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band«, S. 640. 71  Vgl. Joad Raymond, »Irrational, impractical and unprofitable. Reading the news in seventeenth-century Britain«, in: Kevin Sharpe und Steven N. Zwicker (Hg.), Reading, society, and politics in early modern England, Cambridge, 2003, 185 – 212, S. 190. 72  In solchen Adressierungen muss allerdings meist eine ironische oder polemische Färbung in Rechnung gestellt werden, so z. B. wenn Autoren von den Schriften anderer Autoren sagten, dass sie lediglich zum Verpacken von Fischen, zum Umhüllen von Tabak oder als Toilettenpapier dienen könnten, vgl. ebd., S. 196.

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Elite Zugang zu verschiedenen Formen von politischer Information, sei es weil sie diesen Zugang wollten, sei es, weil politische Fraktionen sich von ihrer Mobilisierung viel versprachen«.73 Pamphlete und Zeitungen bildeten die Grundlage für eine neue Form der politischen Kommunikation und Partizipation, die weit über London hinaus in die Provinz fortwirkte und prinzipiell das gesamte gesellschaftliche Spektrum erfasste. Eine erste Form der sozialen Wirksamkeit der Presse bestand also in der schier quantitativen Ausdehnung des Kreises derer, die als politisch relevante Subjekte gezählt werden mussten: »Darüber hinaus behaupteten einige Zeitgenossen […] nicht nur, dass die Druckkultur zur Entstehung und Verlängerung der Bürgerkriege beigetragen habe, sondern auch, dass sie unerwünschte soziopolitische Veränderungen herbeigeführt habe, indem sie die Mitglieder der unteren Stände in die politische Nation mit einbezogen habe.« 74 In seiner Description of England (1577) hatte William Harrison die »fourth and last sort of people« dadurch definiert, dass ihr »neither voice nor authority in the commonwealth« zukam.75 Mit der Print-Öffentlichkeit deutete sich, zum Missvergnügen der herrschenden Eliten, eine Verschiebung der Äußerungsbedingungen an: Unter dem Einfluss der billigen Druckschriften begannen auch die einfachen Leute eine Stimme für sich zu beanspruchen und maßen sich die Autorität zu, über die öffentlichen Dinge zu urteilen. Die »common people« der Revolutionszeit waren, so die verbreitete Wahrnehmung, zu »bold talkers« geworden, jederzeit bereit, einer »new fangled opinion« zu folgen, anstatt »constant to the old« zu bleiben.76 Eine royalistische Ballade mit dem Titel »The Anarchie« malte 1648 ein Schreckensbild der neuen Vielstimmigkeit, die sich aus der Verwerfung der alten Ordnungsmächte ergeben hatte: NOW that thanks to the Powers below,

We have ene done our doe, The Miter [Mitra] is downe, And so is the Crowne, And with them the Coronet too; Come Clownes [Bauerntölpel] and come boyes, Come hober de hoyes [›jugendliche Tollpatsche‹], Come Females of each degree, Stretch your throats, bring in your Votes, And make good the Anarchy. And thus it shall goe sayes Alice,

Lake u. Pincus, »Rethinking the public sphere in early modern England«, S. 290. Peacey, »News, pamphlets, and public opinion«, S. 182. Harrison, The description of England, S. 118. Richard Flecknoe, The Idea of His Highness Oliver, Late Lord Protector, &c. With Certain Brief Reflexions on His Life, London, 1659, S. 58 – 59.

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Nay thus it shall goe sayes Amy; Nay thus it shall goe sayes Taffie I trow, Nay thus it shall goe sayes Jamy.77

Solche Verunglimpfungen zeugen davon, in welchem Maß die tumultuöse Vielstimmigkeit der Print-Öffentlichkeit als Bedrohung der traditionellen Redeordnung und der ständischen Hierarchien angesehen wurde. Ein royalistischer Mercurius Pacificus zeichnete 1648 das Bild einer zutiefst fraktionierten und uneinigen Gesellschaft: »Divided as far as Hounds and Hares in antipathizing disaffection: Heads divided in opinions, like those of the Serpent Amphibena, one fighting with another, hearts divided, like fire and water, tongues divided, as still in Babel’s confusion, hands divided.« 78 Auch wenn es sich hier um eine dramatisierte, selbst parteiische Darstellung handelt, so lässt sich daraus doch entnehmen, dass der in der Pamphletliteratur eingeübte Krieg der Meinungen sich nicht auf den engeren Bereich der politischen und militärischen Auseinandersetzung beschränkte. Die Spaltung durchzog vielmehr das Alltagsleben, sorgte für Streit »in den Privathäusern, in den Trinklokalen und auf den Straßen«.79 In dem Maß, in dem die politische Orientierung zu einem bestimmenden Kriterium des sozialen Umgangs wurde, traten traditionelle Definitionen von Zugehörigkeit – Familie, Gefolgschaft, Nachbarschaft – in den Hintergrund. Mit dem Aufkommen politischer (und nicht mehr vorrangig religiöser) Ideologien bildete sich ein neuer Subjektivierungsmodus heraus. An die Seite des religiösen Fanatikers trat der ideologische Parteigänger, dessen ›Bewusstsein‹ sich durch eine politische Meinung oder Überzeugung definierte, also durch etwas, das nicht mehr lokalen Abhängigkeitsverhältnissen oder Wissenskontexten entsprang, sondern sich wesentlich auf die Autorität gedruckter Schriften stützte. Die entscheidende gesellschaftliche Wirksamkeit der Pamphletliteratur kann daher darin gesehen werden, so etwas wie ›politische Identität‹ hervorgebracht zu haben, eine neue Adressierungsweise, die die Menschen nicht mehr ausschließlich als Angehörige eines religiösen Glaubens, sondern zunehmend als Träger einer politischen Urteilskraft ansprach, so wie es z. B. Marchamont Nedham tat, wenn er seine republikanische Botschaft an »all truly pious, sober and Well-Affected-Englishmen« richtete.80 Wie Sharon Achinstein gezeigt hat, bestand die »ideologische Arbeit« der Englischen Revolution zu einem guten Teil in der »Konstruktion des

77  Thomas Jordan, anon., The Anarchie, Or the blessed Reformation since 1640. Being a new

Caroll wherein the People expresse their thankes and pray for the Reformers, s. l., 1648.

78  Zit. nach Achinstein, »The politics of Babel in the English Revolution«, S. 19. 79  Peacey, Print and Public Politics in the English Revolution, S. 2. 80  Anon. [Marchamont Nedham?], A Paralell Of Governments. Or, A Politicall Discourse

upon seven Positions, tending to the Peace of England, and the preservation of the Citie of London, s. l., 1647, o. P. [»The Epistle to the Reader«].

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revolutionären Lesers«,81 d. h. in der Schaffung von Subjekten, die im Streit der Meinungen als verlässliche Krieger ihre Sache vertreten konnten. Dabei handelte es sich keineswegs nur um die Forderung nach blinder Gefolgschaft; in ihrer Verteidigung der Pressefreiheit gingen Milton und andere Autoren vielmehr davon aus, dass eine von Propaganda und ›false news‹ bestimmte Öffentlichkeit vor allem geschulte und urteilssichere Leser erfordere, »die unter widersprüchlichen Interpretationen die Wahrheit aufspüren und ihre politischen Entscheidungen aufgrund einer kritischen Lektürepraxis treffen konnten«.82 Die Wirklichkeit der ›pamphlet wars‹ war allerdings eine andere. Die Polemik hatte hier vor allem den Effekt der ideologischen Vereinheitlichung und Polarisierung; sie führte eher zu Konformität und Haufenbildung als zu einer kritischen Prüfung der verschiedenen Wahrheitsangebote. Schon 1594, nach dem Auftreten der ersten Welle gedruckter Pamphlete, erhob sich die Klage, dass »friends and enemies on either side, according to their owne humors do feede the worlde with diuersitie of Reportes agreable to their owne affections and passions«.83 Ein Jahrhundert später erklärte Jonathan Swift, dass das heimische Pamphletgeschrei dem Wundergeschrei in »Popish Countries« vergleichbar sei; in beiden Fällen komme es den Urhebern nicht darauf an, ihre Gegner zu überzeugen, »but to raise the Spirits of their Friends, recall their Stragglers, and unite their Numbers by Sound and Impudence, as Bees assemble and cling together by the Noise of Brass«.84 Schon die Medien der frühen, politischen Öffentlichkeit kannten also die Effekte der diskursiven Gleichrichtung und des ideologischen Konformismus, die Tocqueville später an der amerikanischen Massenkultur bemerken sollte,85 und die im Hinblick auf heutige Phänomene der Internetkommunikation mit Begriffen wie ›Filterblase‹ oder ›Echokammer‹ beschrieben werden. Die Vereinheitlichungs- und Polarisierungsfunktion der durch ›cheap print‹ konstituierten Öffentlichkeit beschränkte sich nicht auf oberflächliche Diskurseffekte; wie die heutigen Social Media können die Pamphlete des 17. Jahrhunderts als ›Sozialmedien‹ betrachtet werden, als sozialtechnische Instrumente, die nicht nur die 81  Sharon Achinstein, Milton and the revolutionary reader, Princeton, NJ , 1994, S. 22. 82  Ebd., S. 176. 83  A True Report of Sundry Horrible Conspiracies (London, 1594), zit. nach Raymond, »Ir-

rational, impractical and unprofitable«, S. 186. 84  Jonathan Swift, »The Publick Spirit of the Whigs«, in: Jonathan Swift, English political writings 1711 – 1714. The conduct of the allies and other works, hg. v. Bertrand A. Goldgar u. Claude Rawson, Cambridge, 2008, 241 – 284, S. 246. 85  Vgl. Alexis de Tocqueville, »Über die Demokratie in Amerika« (1835), in: ders., Das Zeitalter der Gleichheit. Auswahl aus Werken und Briefen, hg. v. Siegfried Landshut, Köln, 1967, 1 – 116, S. 52: »Die Öffentlichkeit besitzt also bei den demokratischen Völkern eine einzigartige Macht, von der sich die aristokratischen Nationen nicht einmal in der Vorstellung ein Bild zu machen vermochten. Sie überzeugt nicht von ihren Anschauungen, sie zwingt sie auf und prägt sie den Gemütern durch einen gewaltigen geistigen Druck aller auf den Verstand des Einzelnen ein.«

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bestehenden gesellschaftlichen Hierarchien untergruben, sondern langfristig auch dazu beitrugen, die Gesellschaft im Sinn einer flexiblen, an der Konjunktur der ›Meinungen‹ orientierten Wertzumessung neu zu ordnen.

Print und Populismus Wie die Entfesselung der Pamphletkultur, so geht auch die Entstehung der ersten regelmäßig erscheinenden Londoner Zeitungen auf die revolutionäre Unruhe der 1640er Jahre zurück. Natürlich gab es schon vorher etablierte Formen des Austauschs von Nachrichten. Ein Bericht aus dem Jahr 1628 schildert einen Besuch in St. Pauls Walk, dem Mittelschiff der alten Kathedrale, das als Umschlagplatz für Gerüchte und Neuigkeiten aus aller Welt funktionierte: The noyse in it is like that of Bees, a strange humming or buzze-mixt of walking, tongues and feet: It is a kind of still roare or loud whisper. It is the great Exchange of all discourse, & no busines whosoeuer but is here stirring and afoot. […] It is the generall Mint of all famous lies […] It is the eares Brothell and satisfies their lust, and ytch. The Visitants are all men without exceptions, but the principall Inhabitants and possessors, are stale Knights, and Captaines out of Seruice, men of long Rapiers, and Breeches, which after all turne Merchants here and trafficke for Newes.86

Zugleich gab es seit den 1620er Jahren vereinzelte Experimente mit gedruckten ›Corantos‹,87 Nachrichtenkorrespondenzen nach kontinentaleuropäischem Vorbild. Sie konnten sich jedoch nicht dauerhaft etablieren, möglicherweise, weil sie es versäumten, ›domestic news‹ mit aufzunehmen.88 Regelmäßig erscheinende ›Zeitungen‹, die u. a. als ›weekly pamphlets of news‹, ›newsbooks‹, ›diurnalls‹ oder ›mercuries‹ bezeichnet wurden,89 finden sich dagegen erst seit 1641; ihr Auftauchen kann als »eine Folge der Englischen Revolution« betrachtet werden.90 Von den Pamphleten, die häufig ebenfalls »›genaue‹ und ›wahre‹ Berichte über neuere Ereignisse« anpriesen,91 unterschieden sich die Newsbooks durch die serielle Erscheinungsweise: Sie erschienen immer unter dem gleichen Titel, an einem festgelegten Wochentag sowie mit fortlaufender Nummerierung und brachten mit der Fortsetzungsform der Lektüre auch eine neue, engere Bindung zwischen Autor und Leser hervor. 86  Zit. nach Raymond, »The newspaper, public opinion, and the public sphere in the seventeenth century«, S. 114 – 115. 87  Vgl. Raymond, »Introduction«, S. 3. 88  Vgl. Peacey, »News, pamphlets, and public opinion«, S. 175 – 176. 89  Vgl. Raymond, »Introduction«, S. 2. 90  Ebd., S. 9. 91  Peacey, »News, pamphlets, and public opinion«, S. 176.

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Herausragendes Medium der parlamentarischen Partei war der maßgeblich von Marchamont Nedham verfasste Mercurius Britannicus, eine Antwort auf das royalistische Wochenblatt Mercurius Aulicus.92 Nach einer Anklage und Inhaftierung wechselte Nedham 1646 die Seiten und gab einen Mercurius Pragmaticus heraus, dessen erklärtes Ziel es war »[to] write his majesty back into his throne«.93 Der Sieg der parlamentarischen Partei führte zu einer erneuten Verhaftung und bald darauf zur Gründung eines weiteren Blattes, des Mercurius Politicus, in dem Nedham nun mit großer Verve die Sache des Commonwealth und der englischen kommerziellen Interessen vertrat, bis ihn die Restauration vorübergehend ins Exil zwang. Nedhams Zeitungsprojekte sind für diese Untersuchung besonders interessant, weil in ihnen – durch alle ideologischen Kehrtwendungen hindurch – der Aspekt der Schaffung und Bearbeitung eines Publikums eine besondere Rolle spielt. Nedham war wahrscheinlich der erste ›Populist‹ der Zeitungsgeschichte,94 ein Autor, der ›the people‹ als politisches Subjekt zu installieren versuchte und sich systematisch darüber Gedanken machte, wie politische Botschaften verpackt sein mussten, damit sie ›das Volk‹ erreichten. Während der Mercurius Britannicus unter dem aufklärerischen Slogan »For the better information of the people« erschien, entwarf Nedham für den Mercurius Politicus eine neue Schreibweise, die die republikanische Nüchternheit durch Elemente einer ›royalistischen‹, volkstümlichen und sinnlichen Rhetorik abmildern sollte; es ging darum, die Wahrheiten »in a jocular way« zu präsentieren, sie »in pleasing popular airs« zu hüllen und auf diese Weise »[to] make music to the common sense«.95 Es ist wahrscheinlich nicht übertrieben zu sagen, dass bei Nedham Publikum und ›Volk‹ in eins fielen: Mit seiner Leserschaft schuf er sich ein eigenes ›Volk‹, das er mit Stolz betrachtete und in einzelnen Figuren, pars pro toto, in seinen Schriften auftreten ließ. So rühmte er sich im Mercurius Britannicus, man werde in Stadt und Land keinen »young Apprentice that keepes shop« und keinen »Labourer that holds the Plough« finden, der nicht durch seine wöchentlichen Schriften von den Lügen und Manipulationen der royalistischen Presse erfahren habe.96 In seinen Adressen an das Publikum setzte sich Nedham bewusst über die bestehenden Standesgrenzen hinweg; er inszenierte sich als eine unparteiische Stimme des Volkes, vor deren Wahrheit alle gleich sein sollten: Mercurius Britannicus, so sagte er, sollte »a pen for the Publike onely« sein; er sollte den Provokationen von

92  Worden, Literature and politics in Cromwellian England, S. 17. 93  Mercurius Pragmaticus vom 11. Jan. 1648, zit. nach ebd., S. 18. 94  Blair Worden erwähnt, ohne näher darauf einzugehen, »the populist dimension of

Nedham’s thought«, vgl. ebd. S. 29. 95  Marchamont Nedhams Prospectus für den Mercurius Politicus aus dem Jahr 1650, zit. nach Peacey, Politicians and pamphleteers, S. 195. 96  Nedham, »[Editorial:] There is such enquiring why I writ not […]«, S. 399.

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Freunden und Feinden widerstehen und »speake truth to the King, as well as to Common people, to Queenes, as well as to Gentlewomen of a lower Rancke«.97 Prinzipiell gibt es hier also eine Nivellierung der bestehenden gesellschaftlichen Schranken. Als Adressaten der Wahrheit, als Bestandteile des ›Publike‹ sind alle Menschen gleich. Doch kommt auch Nedham nicht darum herum, das vor ihm versammelte Publikumsvolk zumindest im Geiste wieder ein wenig zu ordnen. Bezeichnenderweise benutzt er dazu das im Jahr 1644 zumindest im politischen Kontext noch weitgehend ungebräuchliche Wort ›Klasse‹: »[…] and now I must speake to all I writ to, in their severall classis, before I fold up my Paper«.98 Dieses unvermutete Auftauchen des Klassenbegriffs kann als ein ernstzunehmender Hinweis auf die Affinität von Massenmedien und Klassenformatierung gelesen werden: Nedhams ›kommendes Volk‹ lässt sich nicht mehr in Standesbegriffen fassen; zu seiner Sortierung muss eine neue Begrifflichkeit herangezogen werden, und dazu bietet sich bereits zu diesem frühen Zeitpunkt das Vokabular der Klasse an.

Im Reich der Neuigkeiten Der Historiker C. John Sommerville hat den Begriff der »News Revolution« vorgeschlagen, um die spezifische Medialität der periodisch veröffentlichten Nachrichten zu fassen.99 Die frühen Zeitungen nutzten die »gleiche Drucktechnologie wie Bücher«, sie stammten aber nicht von Büchern ab, sondern von »Newsletters oder von Briefen im allgemeinen, und viele frühe Verleger bewahrten wesentliche Merkmale dieses langlebigeren Mediums«.100 Was das Nachrichtengeschäft vom Buchdruck unterschied, war nicht nur, dass es einen höheren Aufwand erforderte und daher »fast augenblicklich kapitalistische Investitionen anregte«.101 Der wesentliche Unterschied muss vielmehr in der zeitlichen Dynamik der periodischen Nachrichten gesehen werden. Anders als im Fall von Büchern stand die Publikation von Zeitungen unter dem Diktat der Neuheit und Aktualität; im Unterschied zu Pamphleten folgten die Zeitungen nicht dem Gang der Ereignisse, sondern ihrem eigenen Rhythmus; sie schufen ein durch Serialität bestimmtes Zeitregime, das bald seine eigenen Ereignisse hervorbringen sollte. Die Entstehung des neuen Mediums entsprach dem gesteigerten Tempo des politischen Lebens in den 1640er Jahren, und es trug zu seiner weiteren Beschleunigung bei. Zeitungstitel wie »New News, Strange News, True News, and Upon the Matter, No News« 102 zeigten die Heraufkunft einer neuen Informationsökonomie an, in der 97  Ebd., S. 400. 98  Ebd. 99  Sommerville, The news revolution in England, S. 3. 100  Ebd., S. 6. 101  Ebd., S. 13. 102  Bucholz u. Ward, London, S. 168.

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der Wert einer Nachricht in erster Linie durch ihre Aktualität, durch die Schnelligkeit ihrer Aufnahme und Weiterverbreitung bestimmt wurde. Unabhängig von ihren Inhalten, unabhängig davon, welche Partei sie unterstützten, wirkten die Zeitungen auf diese Weise daran mit, einen neuen Zeittakt des politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Lebens durchzusetzen. Sommerville spricht in diesem Zusammenhang von einem »liberal bias«, der dem Zeitungssystem von Anfang an eingeschrieben sei:103 Per definitionem richten sich periodische Nachrichten auf den Wandel, auf die Zukunft, auf Möglichkeiten. […] Daraus folgt, dass der Begriff einer konservativen Zeitung ein Widerspruch in sich ist. Periodizität bedeutet Bewegung, während der Konservatismus auf Ordnung und Solidarität ausgerichtet ist. Diejenigen, die Tages- oder Wochenzeitungen veröffentlichen, gehen notwendig davon aus, dass Veränderung das wirklich wichtige Merkmal des Lebens ist […]. Sie mögen aktiv reaktionär sein, aber kaum ›konservativ‹.104

Die einzig konsequente konservative Politik würde demnach darin bestehen, die periodische Presse wieder abzuschaffen bzw. stark einzuschränken. Dies war die Idee, der zumindest einige monarchistische Politiker anhingen. Noch vor der Restauration wurde der zukünftige König, Charles II ., gewarnt, dass die politische Presse »doth over heate your people extreamly and doth your Majestie much hurte«; ihm wurde daher nahegelegt, sowohl auswärtige als auch inländische Nachrichten zu verbieten, so dass schließlich »all our discourse will bee of hunting and hawkeing, boling, cocking, and such things, and bee ever ready to serve your Majestie«.105 Tatsächlich wurde mit dem Licensing Act von 1662 die Presse einer scharfen Zensur unterworfen, die Zahl der lizensierten Drucker radikal beschränkt. Als einzige amtlich zugelassene Zeitung beanspruchte die 1665 gegründete, zweiwöchentlich erscheinende London Gazette das Monopol auf die Verbreitung von Nachrichten. Die diskursive Freisetzung der Revolutionszeit konnte dadurch allerdings nicht rückgängig gemacht werden. Die Annahme, dass es legitim sei, »Nachrichten zu lesen, zu hören und zu diskutieren«, hatte sich so weit durchgesetzt, dass die »Lizenzgesetzgebung in der Entwicklung der öffentlichen Meinung nach den 1640er Jahren nur noch eine vergleichsweise geringe Rolle« spielen konnte.106 Die Kontrolle des News-Systems, das nun in den Untergrund abgedrängt wurde und häufig zu handschriftlichen Verbrei103  Sommerville, The news revolution in England, S. 10. 104  Ebd. 105  The Earl of Newcastle’s Advice to Charles II (1659), zit. nach Brian Cowan, »The rise

of the coffeehouse reconsidered«, The Historical Journal, Jg. 47, N° 1, 2004, 21 – 46, S. 34 – 35.

106  Raymond, »The newspaper, public opinion, and the public sphere in the seventeenth

century«, S. 128.

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tungsformen zurückkehrte, erwies sich als unmöglich.107 Zugleich zeigte sich, dass im Zeitalter der Massenmedien auch ein absolutistisches Regime nicht auf die Pflege der öffentlichen Meinung verzichten konnte. Charles II . und James II . gaben sich nicht mit höfischer Politik zufrieden, sondern setzten auf »eine Kultur unablässiger öffentlicher Verherrlichung, gepaart mit einem ausgefeilten Regime der gedruckten Propaganda vergleichbar dem von Louis XIV «.108 Anstatt sich auf die Unterdrückung der gegnerischen Meinung zu beschränken, fanden die Royalisten selbst daran Gefallen, die Höllenmaschine der Presse zu bedienen. Sir Roger L’Estrange, der in der Restaurationszeit als Surveyor of the Imprimery und als Licenser of the Press für die Kontrolle der öffentlichen Meinung zuständig war, erklärte 1681, warum die Partei der Ordnung die Medien der Unordnung für sich in Anspruch nehmen musste: »Tis the Press that has made ’um Mad, and the Press must set ’um Right again. The Distemper is Epidemical; and there’s no way in the world, but by Printing, to convey the Remedy to the Disease.« 109 Ganz gegen ihre Absichten trugen auf diese Weise die Konservativen zum Überleben der public sphere und des hektischen Regimes der ›Neuigkeiten‹ bei: »Selbst an ihren Tiefpunkten kehrte die öffentliche Diskussion nie zu der relativen Stille der Mitte der 1630er Jahre zurück.« 110 Eine wesentliche Funktion der periodischen Nachrichtenpresse bestand darin, eine Art zweiter Wirklichkeit zu schaffen, einen News-Kontinent, der sich weitgehend auf sich selbst bezog, seinen eigenen Regeln gehorchte und eine besondere Art von Anziehungskraft entwickelte. Tatsächlich lässt sich die frühe Print-Öffentlichkeit, mehr noch als das heutige System der Massenmedien, als ein weitgehend autonomes, selbstbezügliches System verstehen, in dem von außen kommende Inputs (also wirkliche ›Nachrichten‹) eine ausgesprochen marginale Rolle spielten. Gedruckte Zeitungen, auch wenn sie ›News‹ oder ›Intelligence‹ im Titel führten, konnten nur in den seltensten Fällen mit verlässlichen Informationen aufwarten. Die von den Zeitgenossen als »Epidemical Plague« empfundene Verbreitung von »false News« 111 hatte zum einen natürlich mit dem polemischen Charakter der frühen Zeitungen zu tun, mit der Tatsache, dass sie Instrumente im Propagandakampf waren;112 sie war aber auch der periodischen Veröffentlichungsweise geschuldet, 107  Vgl. Bucholz u. Ward, London, S. 169. 108  Lake u. Pincus, »Rethinking the public sphere in early modern England«, S. 281. 109  Zit. nach Raymond, »The newspaper, public opinion, and the public sphere in the

seventeenth century«, S. 109.

110  Lake u. Pincus, »Rethinking the public sphere in early modern England«, S. 281. 111  Edmund Hickeringill, Scandalum magnatum. or, The great trial at Chelmnesford assizes

held March 6, for the county of Essex, London, 1682, S. 3.

112  Vgl. Peacey, »News, pamphlets, and public opinion«, S. 182: »Bei so vielen ›wahren‹

und ›perfekten‹ Berichten, die sofort bestritten und in Frage gestellt wurden, war es offensichtlich schwierig zu wissen, welcher Darstellung zu trauen sei, und manchmal konnte man nicht einmal sicher sein, ob in einem bestimmten Traktat oder in einer Zeitung überhaupt irgendetwas geglaubt werden könne.«

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die dazu zwang, die Spalten der Zeitung auch dann zu füllen, wenn nichts Berichtenswertes vorlag. Korrespondentenberichte oder Leserbriefe wurden häufig frei erfunden;113 Plagiate und Paraphrasen bildeten das gewöhnliche Geschäft der Zeitungsschreiber; gewöhnliche Vorkommnisse wurden zu sensationellen Ereignissen umgedeutet – »only to fill up a scandalous News-Paper«.114 Offenkundig fasziniert von den Äußerungsmöglichkeiten, die sich ihnen boten, zugleich ohne nennenswerte Zufuhr von Material aus der Außenwelt, machten die frühen Zeitungen vor allem sich selbst zum Thema; sie errichteten ein geschlossenes Anspielungssystem, in dem der Inhalt einer Publikation meist eine andere Publikation war. Die in ihre paper wars verstrickten Zeitungsautoren bezogen sich unentwegt auf andere Zeitungsautoren, so wie auch die Titel der Zeitungen häufig die Titel anderer, gegnerischer Zeitungen aufgriffen und parodierten.115 Ein großer Teil der sog. ›News‹ bestand darin, davon zu berichten, welche Nachrichten in welchen anderen Zeitungen erschienen waren, verbunden mit Mutmaßungen, welcher Zweck mit deren Veröffentlichung wohl verfolgt werde. In aller Ausführlichkeit wurden die Irrtümer, Übertreibungen und Fälschungen, die sich andere Blätter zuschulden kommen ließen, zitiert und kommentiert. Als Richard Steele im August 1709 Nachrichten, zu denen er als Herausgeber der London Gazette Zugang hatte, unkorrekterweise in seinen Tatler übernahm, verwendete Jonathan Swifts Examiner eine ganze Ausgabe darauf, durch spaltenförmige Gegenüberstellung einzelner Textblöcke die Plagiate nachzuweisen.116 Am augenfälligsten aber wird die Selbstbezüglichkeit des Zeitungssystems in der permanenten, in den Periodika selbst betriebenen News-Kritik: Es gehörte von Anfang an zum Habitus des Zeitungsschreibers, sich von dem niederen Nachrichtengeschäft seiner Kollegen abzusetzen und für das eigene Blatt eine höhere, meist als ›intelligence‹ bezeichnete Form der Information in Anspruch zu nehmen.117 Zahlreiche Zeitschriften des frühen 18. Jahrhunderts wie The Re113  Vgl. Joad Raymond, »›A mercury with a winged conscience‹. Marchamont Nedham,

monopoly and censorship«, Media History, Jg. 4, N° 1, 1998, 7 – 18, S. 10: »[B]estimmte Briefe im Mercurius Politicus aus England und Holland wirken so, als seien sie von Nedham erfunden oder zumindest stark verschönert worden […].« 114  Francis Bragge, A defense of the proceedings against Jane Wenham. Wherein the possibility and reality of witchcraft are demonstrated from scripture, London, 1712, S. 1. 115  Ein Beispiel ist die wunderbare Vermehrung der ›Mercurius‹-Blätter im Gefolge der Fehde zwischen Mercurius Aulicus und Mercurius Britannicus: Mercurius Curiosus, Mercurius Melancholicus, Mercurius Academicus, Mercurius Censorius, Mercurius Aquaticus, Mercurius Insanus Insanissimus, Mercurius Anti-Mercurius… Fast 50 verschiedene ›Mercurius‹-Titel sind aufgelistet in: Ann Geneva, Astrology and the seventeenth century mind. William Lilly and the language of the stars, Manchester, New York, 1995, S. 27 – 28. 116  Vgl. Nicola Parsons, Reading gossip in early eighteenth-century England, Houndmills, Balsingstoke, Hampshire, New York, 2009, S. 102 – 103. 117  Vgl. Raymond, »Introduction«, S. 5: »›News‹ appears with less than half the frequency in titles of the 1640s. Intelligence was privileged information; a periodical title using the term was laying claim to a special insight or status.«

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view (Defoe), The Examiner (Swift), The Tatler oder The Spectator (Steele und Addison) lebten geradezu von der kritischen Erhebung über das News-System; sie bildeten eine Presse zweiter Ordnung, die ihr Auskommen in der kritischen Kommentierung der von den »News-Paper Men« begangenen »Contradictions, Incongruities, Improbabilities, and abrupt odd Expressings« fand.118 Die periodische Presse stellte auf diese Weise mehr dar als nur eine Erweiterung des Bereichs der politischen Kommunikation. In ihrer Selbstbezüglichkeit und seriellen Anknüpfungsweise bildete sie vielmehr so etwas wie eine Welt für sich; sie präsentierte sich als ein neuer Kontinent, der von einer eigenen Ökonomie der Zeichen beherrscht wurde und von einer merkwürdigen, bis dahin nicht bekannten Spezies von fanatischen Nachrichtenproduzenten und -konsumenten bewohnt wurde. Es ist nicht verwunderlich, dass die neu aufgekommene InformationsÖkonomie von vielen Zeitgenossen als eine fremde und parasitäre Parallelstruktur betrachtet wurde, die die althergebrachten Unterscheidungen in einem Spiel ständig wechselnder Neubewertungen aufzulösen drohte. Insbesondere die explizite Prämierung des Neuen und der Neuigkeit musste als rabiater Angriff auf das von der Ständeordnung verkörperte System der Beharrung verstanden werden. Während es in der traditionellen Gesellschaft idealerweise nichts Neues unter der Sonne gab, brachte das News-System ständige neue Maßstäbe der Beurteilung hervor, die umgehend durch andere Perspektiven und Einschätzungen außer Kraft gesetzt werden konnten. In dieser Möglichkeit der permanenten Neugewichtung und Umverteilung liegt ein entscheidendes Moment der Affinität zwischen periodischer Presse und Klassenteilung: Wie die wöchentlich oder täglich erscheinende Zeitung, so kennt auch die Klassengesellschaft keine dauerhaft eingerichtete Ordnung. Sie bildet vielmehr den Rahmen, innerhalb dessen nach wechselnden Kriterien die ständige Umgruppierung der Elemente stattfinden kann. Das Zeichenregime der Zeitungen impliziert eine ständige markförmige Neubewertung aller Wahrheiten und Positionen; dies vereint es mit dem Unternehmen der Klassifizierung, das gleichsam die verwaltungstechnische Variante dieser Bewegung darstellt.

Medien-Subjekte Am offensichtlichsten wurde die subversive Wirkung der News-Ökonomie in der Schaffung eines neuen Typs von Subjekten, die nur noch in einem eingeschränkten Sinn als Untertanen seiner Majestät des Königs betrachtet werden konnten, die viel eher der neuen Herrschaft der öffentlichen Meinung unterworfen zu sein schienen. Die periodische Presse brachte nach Ansicht der Zeitgenossen eine gefährliche, passionierte Leseweise mit sich, die den Geist der Leser betörte und sie nach immer mehr Neuigkeiten verlangen ließ. Ausgerechnet Titus Oates, Urheber 118  Daniel Defoe, »Numb. 62. Thursday, August 16. 1711.«, in: ders., Defoe’s Review 1704 – 13,

hg. v. John McVeagh, Volume 8 (1711 – 12), London, 2008, 297 – 300, S. 297.

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der Verschwörungstheorie des ›Popish Plot‹ und Auslöser einer wahren Medienhysterie, erklärte 1679, dass in allen gedruckten Traktaten »Occult Attractives« wirksam seien, »which will captivate the Minds of those men who are prepared with a Correspondent Gust«; verantwortlich dafür seien gewisse Impulse, die aus »peculiar Springs in the inferiour partial Faculties of the Soul« aufstiegen.119 Das Phänomen der Nachrichtensucht wurde gegen Ende des 17. Jahrhunderts häufig beschrieben und mit einer Mischung aus Amüsement und Besorgnis kommentiert. Judith Drake berichtet 1696 von den Menschentrauben, die sich nach der Ankunft einer »Mail« aus Holland oder Flandern vor dem Postamt oder in den Kaffeehäusern bildeten: […] every one Crowding to catch the News first, which as soon as they had, they posted away like so many Expresses to disperse it among their Neighbours at more distance, that waited with Ears prickt up to receive ’em, or walk’d uneasily with a Foolish Impatience to and from the Door, or Window, as if their looking out so often wou’d fetch ’em the sooner.120

Ein Theaterstück von Thomas Shadwell präsentiert 1691 einen respektablen Sir Humprey, der von sich sagt: »[…] I love News extreamly, I have read Three News Letters to day, I go from Coffee-House to Coffee-House all day on purpose.« 121 Der Tatler wird später einen speziellen Ausdruck für die Junkies der Nachrichtenökonomie prägen: Als ›Quidnuncs‹ werden diejenigen bezeichnet, die ins Kaffeehaus stürzen und sich atemlos nach Neuigkeiten erkundigen: »›what now?‹ or ›what’s the news?‹«.122 Nach der Aufhebung des Licensing Act im Jahr 1695 konnte die suchtartige Nachfrage nach Neuigkeiten ungehemmt beantwortet werden. Während bis dahin die Zahl der Drucker in ganz England auf 24 beschränkt war, wurden im Jahr 1705 allein in London 70 ›printing houses‹ gezählt.123 Ab 1695 gab es in London mehrere Zeitungen, die dreimal wöchentlich herauskamen; ab 1702 erschien die erste Tageszeitung, der Daily Courant. Im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts wurden mehr als zwanzig verschiedene politische Zeitschriften herausgegeben, die teilweise zwei- oder dreimal wöchentlich erschienen und beträchtliche Auflagen erreichten. 119  Titus Oates: An exact discovery of the mystery of iniquity as it is now in practice amongst

the Jesuits […], London 1679, zit. nach Raymond, »Irrational, impractical and unprofitable«, S. 187 – 188. 120  Drake, anon., An Essay in Defence of the Female Sex, S. 90 – 91. 121  Thomas Shadwell, The Scowrers. A Comedy Acted by Their Majesties Servants, London, 1691, S. 7. 122  Vgl. Brian Cowan, »Mr. Spectator and the coffeehouse public sphere«, Eighteenth-Century Studies, Jg. 37, N° 3, 2004, 345 – 366, S. 353. 123  Vgl. Paula McDowell, »Of Grubs and other insects. Constructing the categories of ›ephemera‹ and ›literature‹ in eighteenth-century British writing«, Book History, Jg. 15, 2012, 48 – 70, S. 49.

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Mit diesem elaborierten und diversifizierten Angebot bekam die Neuigkeitssucht einen respektableren Anstrich. Die serielle Erscheinungsweise der Nachrichten dürfte vor allem den Effekt gehabt haben, die Leser stärker an einzelne Medien zu binden. Eine Zeitung, die dreimal in der Woche erschien, bot eine verlässliche Strukturierung des Alltags; durch »Ritornellisierung«,124 durch ständiges Zurückkommen auf frühere Veröffentlichungen, schuf sie einen Referenzraum, der, vergleichbar mit der Kneipe oder dem Kaffeehaus, als zweite Heimat bzw. als »existenzielles Territorium« funktionieren konnte.125 Zahlreiche Berichte bezeugen, dass diese Art einer zweiten, medialen Vergesellschaftung sich nicht auf die bürgerlichen Schichten beschränkte, dass also die Parallelwelt des News-Universums keineswegs nur eine ›bürgerliche‹ Öffentlichkeit war. Den Beobachtungen Daniel Defoes zufolge, you’ll find very few Coffee-Houses in this opulent City, without an illiterate Mechanick, Commenting upon the most material Occurrences, and Judging the Actions of the greatest Councils in Europe; and rarely a Victualing House, but you meet with a Tinker, a Cobler, or a Porter, Criticizing upon the Speeches of Majesty, or the Writings of the most celebrated Men of the Age.126

Sir Issac Bickerstaff, der fiktive Herausgeber des Tatler, erzählt mit warnendem Unterton von »my Friend the Upholsterer«, einem Handwerker, der durch das »Epidemick Ill« der Zeitungslektüre einen »Crack towards Politicks« bekommen habe – ein »Touch in the Brain of the British Subject«, der ebenso sicher auf das Lesen von »News-Papers« zurückzuführen sei wie der des Don Quichotte auf das Lesen von« Works of Chivalry«.127 Der Schweizer Reisende César de Saussure berichtet aus dem London der 1720er Jahre: Die meisten Handwerker beginnen den Tag damit, dass sie ins Café gehen, um die Nachrichten zu lesen. Ich habe oft gesehen, wie Schuhputzer und andere Leute dieses Schlags sich zusammentun, um jeden Tag ein Groschenblatt [gazette d’un liard] zu kaufen und es gemeinsam zu lesen.128

124  Im Hinblick auf das Fernsehen spricht Félix Guattari von der »Ritornellisierung, die

mich vor dem Bildschirm festhält«, vgl. Félix Guattari, Chaosmose, Wien, Berlin, 2014, S. 28.

125  Vgl. Guattaris Bemerkungen zur »Ritornellfunktion«, die zum »Herd eines existenziellen

Territoriums« werden kann, vgl. ebd., S 72.

126  Daniel Defoe, A Vindication of the Press. Or, An Essay on the Usefulness of Writing,

London, 1718, S. 17.

127  Richard Steele, »The Tatler, N° 178. Tuesday, May 30, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George

A. Aitken, Bd. 3, London, 1898 – 1899, 331 – 337, S. 335. 128  César de Saussure, Lettres et voyages de Monsr. César de Saussure en Allemagne, en Hollande et en Angleterre (1725 – 1729), hg. v. Berthold van Muyden, Lausanne [u. a.], 1903, S. 167.

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Es versteht sich von selbst, dass die wilde Ausbreitung der Zeitungslektüre von den traditionellen Eliten mit Misstrauen betrachtet wurde. Immer wieder wurde beklagt, dass die einfachen Leute durch die Zeitungen von ihnen nicht gemäßen Verhältnissen erfuhren, dass sie die Lebensweisen Höhergestellter imitierten und sich an den Widersetzlichkeiten anderer Untergebener ein Beispiel nahmen. Als besonders einschneidend muss der Einbruch der Zeitungswirklichkeit in der Provinz erlebt worden sein, wo Sonntagspredigten und herrschaftliche Proklamationen lange die einzigen Kanäle der politischen Kommunikation dargestellt hatten. Die Zeitungen schlossen die Menschen in den Dörfern und Kleinstädten an die politischen Diskussionen der Hauptstadt an, mit Folgen, die immer wieder entrüstet kommentiert wurden: Free[holder]. […] I can hardly get a Labourer or Plowman, but they will be running to the next Town to hear the News, and then they come home with some Dismal Story or other, which puts them so out of Humour, that they cannot Speak nor Whistle to the Oxen for two or three days […]. Shopkeeper. Really Sir, this honest Freeholder speaks a great deal of Truth, for I am sure I have lost more in my way of Trading by my Prentices running to the Coffee-Houses to read the News, than by all the Taxes of the Late Reign […].129

Streit um die Kaffeehäuser Die Entstehung der ersten coffee houses im England der 1650er Jahre lässt sich zumindest zu einem Teil durch den Kampf der puritanischen Regierung gegen den Alkohol erklären.130 Eine ähnliche drogenpolitische Orientierung hatte bereits die Ausbreitung der Kaffeehäuser in der islamischen Welt begünstigt.131 1652 eröffnete das erste englische Kaffeehaus im Londoner Geschäftsdistrikt Cornhill.132 1663 wurden in der Londoner City 82 Kaffeehäuser gezählt, die meisten in der unmittelbaren Umgebung der Royal Exchange.133 Zu dieser Zeit hatten die Londoner schon den Eindruck, dass »in jeder Straße« Kaffee verkauft würde.134 Zu Beginn 129  Davenant, Charles, anon., A Dialogue Between a Member of Parliament, a Divine, a

Lawyer, a Freeholder, a Shop-keeper, and a Country Farmer, s.l, 1703, S. 4 – 5.

130  Dieser Zusammenhang wird nahgelegt in Ellis, »General introduction«, S. xxvi. 131  Vgl. Ralph S. Hattox, Coffee and coffeehouses. The origins of a social beverage in the

medieval Near East, Seattle, 1985, S. 78 – 79.

132  Ellis, »General introduction«, S. xxvi. Ellis zufolge lassen sich für die häufig aufgestellte

Behauptung, dass ein erstes Kaffeehaus schon 1650 in Oxford existiert habe, keine Beweise finden, vgl. ebd., S. xxviii, Anm. 58. 133  Vgl. ebd., S. xxvii. 134  The Diurnal of Thomas Rugg, 1659 – 1661, zit. nach Steven Pincus, »›Coffee Politicians Does Create‹. Coffeehouses and Restoration political culture«, The Journal of Modern History, Jg. 67, N° 4, 1995, 807 – 834, S. 812.

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des 18. Jahrhunderts galten die Londoner Kaffeehäuser dann als »innumerable«; eine »modest Computation« ging davon aus, dass es in und um London »above Eight Thousand of them« gab.135 Nach heutigen Schätzungen handelte es sich Anfang des 18. Jahrhunderts um eine Zahl von vier- bis fünfhundert, »immer noch eine beträchtliche Zahl für eine Stadt von etwa einer halben Million Menschen«.136 Dass die Kaffeehäuser sich so schnell ausbreiteten, lässt sich kaum mit der Liebe zum Kaffee erklären; es hat vor allem mit der speziellen Geselligkeit der Kaffeehauskultur und ihrer Verschaltung mit den Netzwerken der Nachrichtenverbreitung zu tun: »Männer und Frauen aller ideologischen Schattierungen wussten sehr genau, dass Kaffeehäuser so beliebt geworden waren, weil sie sich auf die Zirkulation von Nachrichten spezialisiert hatten.« 137 Die in den 1640er Jahren durch gedruckte Pamphlete und Zeitungen eröffnete Sphäre der NewsKommunikation erhielt sich in der Restaurationszeit durch den Betrieb illegaler Druckereien, durch das Einschmuggeln ausländischer Zeitungen und den Vertrieb handschriftlich kopierter Newsletter.138 Mindestens ebenso wichtig aber war die Etablierung eines Netzes von Nachrichtenumschlagplätzen, von Orten, wo die Nachrichten gelesen, getauscht und diskutiert werden konnten. Die Kaffeehäuser dienten als die sichtbaren und legalen Ankerpunkte eines Kommunikationsnetzwerkes, das vielfach illegale Aktivitäten miteinschloss. In geschickter Weise verband die News-Öffentlichkeit der Restaurationszeit eine illegale oder am Rande der Legalität operierende Produktions- und Verteilungsstruktur mit einer legalen Konsum- bzw. Rezeptionsstruktur. Die politische Bedeutung der Kaffeehäuser ergab sich daraus, dass sie nicht nur als Relais einer Informationskette funktionierten, sondern zugleich Präsenzmedien darstellten, Orte, an denen die News diskutiert und in ökonomische und politische Handlungsketten eingefügt werden konnten. Information, Diskussion und eine neuartige Form der Geselligkeit: Für die konservativen Kommentatoren war dies eine beunruhigende Mischung, die den staatlichen Autoritäten zu denken geben sollte. Neben der Einschränkung der Pressefreiheit wurde daher auch immer wieder ein Verbot der Kaffeehäuser gefordert. In den 1670er Jahren »zielte eine Reihe von königlichen Proklamationen darauf ab, den Kaffeehaus-Diskurs zu reglementieren«;139 im Dezember 1675 ließ Charles II sogar verkünden, dass es vom 10. Januar 1676 an verboten sein solle, »any coffee, chocolet, sherbet, or tea« auszuschenken.140 Die Durchsetzung des 135  John Macky, A journey through England. In familiar letters from a gentleman here, to his

friend abroad (1714), London, 1722, S. 313.

136  Ellis, »General introduction«, S. xxix. 137  Pincus, »›Coffee Politicians Does Create‹«, S. 818. 138  Vgl. Steven Pincus, Protestantism and patriotism. Ideologies and the making of English

foreign policy, 1650 – 1668, Cambridge, 1996, S. 278.

139  Markman Ellis, »Introduction [to volume 1]«, in: ders. (Hg.), Eighteenth-century coffee-

house culture, vol. 1. Restoration satire, London, New York, 2016, xliii–xlix, S. xlix.

140  Zit. nach Cowan, »The rise of the coffeehouse reconsidered«, S. 38.

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Verbots scheiterte jedoch an der mangelnden »Kooperation der Pressezusteller, Gemeindebeamten, Bezirksstaatsanwälte, Bezirksrichter und Stadtbehörden«.141 Das Kaffeehausgeschäft lief unbeeindruckt weiter, und weitere gesetzliche Maßnahmen beschränkten sich darauf, gegen die »Verbreitung unerlaubter Nachrichten und politischer Propaganda« vorzugehen.142 Angesichts ihrer kaum zu leugnenden politischen Virulenz ist es kein Wunder, dass die Kaffeehäuser in sehr unterschiedlicher Weise beurteilt wurden. Ob sie als Orte sittsamer Geselligkeit und rationaler Debatte oder als Brutstätten des Lasters und des Aufruhrs beschrieben wurden, hing ganz von der politischen Position des Betrachters ab. Habermas’ Schilderung der Kaffeehäuser als Orte eines freien und gleichen, am Modell des Markts orientierten Austauschs von Meinungen gibt nur die eine Seite, gleichsam die ›Whig Interpretation of the Coffee-House‹,143 wieder. Tatsächlich gibt es jedoch, vor allem aus der Restaurationszeit, eine Vielzahl von satirischen Darstellungen, die eher der ›Tory view‹ der Geschichte entsprechen und die das Kaffeehaus in einem ganz anderen Licht erscheinen lassen.144 Hier sollen die beiden konkurrierenden Kaffeehaus-Narrative herangezogen werden, um drei Fragen näher zu beleuchten: erstens, inwiefern das Kaffeehaus einen Ort der politischen Dissidenz oder des ›disagreement‹ bildete; zweitens, was es mit der ›Rationalität‹ der Kaffeehausdiskurse auf sich hatte; drittens, inwiefern das Kaffeehaus an der Auflösung (aber auch an der Neukonstitution) sozialer Schranken beteiligt war.

Kritik und Koffein Wäre den High-Church-Tories des 17. Jahrhunderts der Begriff des Kapitalismus geläufig gewesen, so hätten sie vermutlich Max Webers These zugestimmt, dass der »Geist des Kapitalismus« der »protestantischen Ethik« entsprang. Ganz sicher aber waren sie sich, was den ›Geist des Kaffeehauses‹ anging. Das Kaffeehaus galt ihnen als Versammlungsort puritanischer Frömmler, als eine sektiererische Einrichtung, die die aufständischen Regungen der Revolutionszeit fortführte und Ressentiments gegen die wiedererrichtete Monarchie nährte.145 Der Kaffee, Statusgetränk der puritanischen Handelsbourgeoisie, war dem konservativen Geschmack grundsätzlich zuwider. John Evelyn betrachtete es 1659 als »most deplorable«, dass »the gentlemen sit, and spend much of their time […] drinking

141  Ebd., S. 44 – 45. 142  Ebd., S. 43. 143  Brian Cowan merkt kritisch an, dass durch die 1989 erfolgte englische Übersetzung

von Habermas’ Strukturwandel der Öffentlichkeit die lange aus der Mode geratene »whiggish view of Stuart political history« ein unerwartetes Revival erlebt habe, vgl. ebd., S. 23. 144  Vgl. Ellis, »Introduction [to volume 1]«, S. xlviii. 145  Vgl. ebd.

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of a muddy kind of Beverage«.146 Eine royalistische mock-petition, angeblich verfasst im Namen von »Several Thousands of Buxome Good Women; languishing in Extremity of Want« beklagte 1674 die effeminierende Wirkung des »drying, Enfeebling Liquor« und empfahl die Rückkehr zu »Lusty nappy Beer«.147 Eine ideologische Wasserscheide trennte die Kaffeehauskultur von der traditionellen, alkoholbetriebenen Geselligkeit, in der Volk und Adel sich einig wussten, auch wenn sie unterschiedliche Getränke zu sich nahmen. Bier war, wie die Vertreter der anglikanischen High Church wussten, »a good friend« von »church and religion«; von den Besuchern der Bierhäuser konnte man annehmen, dass sie »good men and quiet« waren, »no dangerous plotters in the Common-weal«.148 In den höheren Schichten galt wiederum das Trinken von französischem Rotwein (›claret‹) als Ausdruck einer monarchischen, traditionalistischen Gesinnung.149 Während der Restaurationszeit war es ein Zeichen der Loyalität, Toasts auf den König auszubringen. Wer sich nicht betrinken wollte, galt als puritanischer Eiferer und damit als schlechter Untertan: »For he that can’t be merry / he can’t at heart be sound«.150 Die Abstinenzkultur der Kaffeehäuser war damit grundsätzlich der Dissidenz verdächtig; sie ermöglichte ein nüchternes und insistentes Räsonieren über Staatsangelegenheiten, das in der traditionellen Alkoholkultur ein Ding der Unmöglichkeit gewesen wäre: »It was not thus when wee dranke nothing but sack and claret, or English beere and ale.« 151 Waren die Tavernen und Bierwirtschaften prinzipiell, trotz rüder Umgangsformen, auf soziale Harmonie und Übereinstimmung angelegt, wurden die Kaffeehäuser, aufgrund ihres ehrgeizigen Konversationsanspruchs, als Orte des diskursiven Wettbewerbs und der politischen Auseinandersetzung wahrgenommen. Die Kaffeehausgesellschaften schienen von der »Nichtübereinstimmung« zu leben – »bis zu dem Punkt, dass die Gesellschaft sich auflösen müsste, wenn sie jemals feststellte, dass sie einer Meinung war«.152 Konservativen Beobachtern, 146  Zit. nach Ellis, »General introduction«, S. xviii. 147  Anon. [»by a. Well-willer«], »The Women s Petition Against Coffee. Representing to

Publick Consideration the Grand Inconveniences accruing to their Sex from the Excessive Use of that Drying Enfeebling Liquor«, in: Markman Ellis (Hg.), Eighteenth-century coffeehouse culture, vol. 1. Restoration satire, London, New York, 2016, 109 – 118, S. 118. 148  Peter Mews, The Ex-Ale-Tation of Ale (London, 1671), zit. nach Pincus, »›Coffee Politicians Does Create‹«, S. 825. 149  Zur nostalgischen Hochschätzung des ›claret‹ und des »heroic drinking in the ›good old Tory‹ Manner« vgl. Fritz-Wilhelm Neumann, »Claret at a premium. Ned Ward, the true tory defender of fine wines?«, in: Susanne Schmid und Barbara Schmidt-Haberkamp (Hg.), Drink in the eighteenth and nineteenth centuries, London, 2014, 47 – 58. 150  The Courtier’s Health, Flugblatt aus dem Jahr 1660, zit. nach Pincus, »›Coffee Politicians Does Create‹«, S. 825. 151  Brief von Sir Thomas Player an Sir Joseph Williamson, Nov. 1673, zit. nach Ellis, »Introduction [to volume 1]«, S. xlv. 152  Sommerville, The news revolution in England, S. 79.

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die die soziale Versöhnungsfunktion der Bier- und Weinhäuser schätzten, missfiel die angespannte, von der Konfrontation der Meinungen geprägte Stimmung in den Kaffeehäusern: The Coffee House, the Rendezvouz of Wits, Is a Compound of Gentlemen and Cits; And not all Wise, or else their Wits they Smother, They sit as if Afraid of One Another […].153

Abbildung 17: »The Coffehous Mob«, Frontispiz aus Ned Ward, Vulgus Britannicus: or the British Hudibras, London, 1710. 153  Anon., A character of London-village, by a countrey-poet, London, 1684, o. P.

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Dass die Kaffeehaus-Diskurse nicht immer so gepflegt verliefen, wie es dem bürgerlichen Verhaltenskodex entsprach, geht schon daraus hervor, dass eigene Regeln zur Verhütung von Streitigkeiten aufgestellt werden mussten: »He that shall any Quarrel here begin / Shall give each Man a Dish t’ Atone the sin.« 154 Die konservative Polemik stürzte sich natürlich auf solche Momente der Zwietracht: Dem ›whiggistischen‹ Bild eines in Lektüre oder gepflegte Unterhaltung versunkenen Kaffeehauspublikums setzte sie das Gegenbild eines eitlen und unbeherrschten »coffee-house mob« entgegen, der sich in »scandalous and censorious discourses« 155 zerfleischte. Statt einer Arena des Vernunftgebrauchs bilde das Kaffeehaus vielmehr eine Schule der Geschwätzigkeit und der Streitlust, »a Nursery for training up the smaller Fry of Virtuosi in confident Tattling, or a Cabal of Kittling Criticks that have only learn’t to Spit and Mew […]«.156 Im Hintergrund dieser Kritik an den Diskursmechanismen des Kaffeehauses stand natürlich ihre potentiell kirchen- und staatsgefährdende Wirkung. Der wahre Stein des Anstoßes lag darin, dass sich hier »every little Fellow in a Chamlet-Cloak« anmaßen konnte, »to transpose Affairs both in Church and State, to shew reasons against Acts of Parliament, and condemn the Decrees of General Councels […]«.157 Die politische Bedeutung des Kaffeehauses lag in seinem Potential zur Förderung von »Unvernehmen«,158 in seiner Fähigkeit, die angestammte Platzverteilung und die Ordnung der Äußerungsweisen durcheinanderzubringen.

Kapriolen des Vernunftgebrauchs Eine Besonderheit, auf die die Kaffeehäuser sich selbst viel zugutehielten, war die dort herrschende Atmosphäre der Nüchternheit, der Gesprächigkeit und des Geschäftsgeistes, die in deutlichem Kontrast zur Stimmung in den Alehouses und Taverns stand. Galten die Kneipen als Orte der sinnlosen Berauschung, wo »vile obscene talk, noise, nonsense and ribaldry discourses« den Ton angaben,159 so war die Kaffeehausgeselligkeit darauf angelegt, ernsthafte, nützliche und profitable Gespräche zu fördern. Im Unterschied zu den Bier- und Weinlokalen 154  Anon., »A Brief Description of the Excellent Vertues of that Sober and Wholesome

Drink, called Coffee/ The Rules and Orders of the Coffee-house« (1674), in: Markman Ellis (Hg.), Eighteenth-century coffee-house culture, vol. 1. Restoration satire, London, New York, 2016, 129, S. 129. 155  Brief von Sir Thomas Player an Sir Joseph Williamson, Nov. 1673, zit. nach Ellis, »Introduction [to volume 1]«, S. xlv. 156  Anon., »The Character of a Coffee-House, with the Symptomes of a Town-Wit« (1673), in: Markman Ellis (Hg.), Eighteenth-century coffee-house culture, vol. 1. Restoration satire, London, New York, 2016, 81 – 90, S. 85. 157  Ebd., S. 85. 158  Vgl. Rancière, Das Unvernehmen. 159  Anon: A Dissertation upon Drunkenness (1727), zit. nach Stallybrass u. White, The politics and poetics of transgression, S. 94.

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erschien das Kaffeehaus nicht als Antithese zur Arbeitswelt, sondern als deren Verlängerung: Kaufleuten bot es nicht nur »all manner of news«, sondern auch einen bequemen Platz »for the transaction of Business«.160 Die ersten Londoner Kaffeehäuser entstanden neben der Börse, und der Übergang zwischen beiden Institutionen blieb fließend. Nachdem Ende des 17. Jahrhunderts das Gebäude der Royal Exchange zu eng geworden war, verlagerte sich ein Großteil der Geschäfte in die Kaffeehäuser der gegenüberliegenden Exchange Alley: »Während sich die für Aktien und Staatspapiere zuständigen Effektenmakler im Garaway’s und Jonathan’s treffen, frequentieren die Spezialisten für Seefrachtversicherungen das Café Edward Lloyd und die der Brandversicherungsbranche – Tom’s oder Carsey’s.« 161 So lässt sich das Kaffeehaus als ein Nebenprodukt des wachsenden Handels- und Finanzkapitalismus betrachten; zugleich kann man darin auch eine seiner Ermöglichungsbedingungen sehen, denn zweifellos machte es die von ihm geschaffene Öffentlichkeit einfacher, »großangelegte kapitalistische Unternehmen zu betreiben«.162 Das Kaffeehaus galt aber auch als Umschlagplatz für das neueste und brisanteste Wissen, aktueller als alles, was man an Schulen oder Universitäten erfahren konnte. Samuel Pepys berichtete in seinem Geheimen Tagebuch von öffentlichen Lokalen aller Art; die Berichte aus den Cafés heben sich dadurch ab, dass sie um »nüchterne und ernsthafte Themen« kreisen: »wissenschaftliche Neugier, kommerzielle Geschäfte, Nachrichten und Politik«.163 Der Gelehrte Anthony Wood schrieb über die Diskussionen des Rota Club in Miles’ Coffee-House: »The room was every evening full as it could be crammed … the arguments in the Parliament House were flat, to the discourses here«.164 Robert Hooke besuchte täglich bis zu drei Kaffeehäuser; seine Tagebücher aus den Jahren 1672 bis 1680 nennen die Namen von 64 verschiedenen Lokalen.165 Für ihn war das Kaffeehaus ein selbstverständlicher Ort, um die Treffen in der Royal Society informell fortzuführen oder mit seinen Freunden Christopher Wren und Edmond Halley die Planetenbewegungen zu diskutieren.166 All dies scheint die ›whiggistische‹ Auffassung zu bestätigen, nach der die Kaffeehäuser der »rationalen Kommunikation eines Publikums gebildeter Menschen« 160  So der französische Reisende Henri Misson, der 1698 die Londoner Kaffeehäuser als

»extremely convenient« beschrieb, zit. nach. Ellis, »General introduction«, S. xiii. Braudel, Sozialgeschichte des 15. – 18. Jahrhunderts, Bd. 2, S. 108. Pincus, »›Coffee Politicians Does Create‹«, S. 834. Ellis, »Introduction [to volume 1]«, S. xliv. Zit. nach Raymond, »The newspaper, public opinion, and the public sphere in the seventeenth century«, S. 115. 165  Vgl. Brian William Cowan, The social life of coffee. The emergence of the British coffeehouse, New Haven (Conn.), London, 2005, S. 105. 166  Vgl. Robert D. Purrington, The first professional scientist. Robert Hooke and the Royal Society of London, Basel [u. a.], 2009, S. 20. 161  162  163  164 

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dienten, die dort den »öffentlichen Gebrauch des Verstandes« einübten.167 Die royalistischen Autoren setzten dieser Erzählung von der kollektiven Vernunftwerdung jedoch ihr eigenes Bild des coffee-house-Universums entgegen. Ihnen galt das Kaffeehaus nicht als Gerichtshof der Vernunft, sondern als unkontrollierbarer Herd von ›False News‹ und Verschwörungstheorien, ein Ort, wo »a seditious Lie is swallow’d […] without examination«.168 Schon der beim Betreten eines Kaffeehauses ausgestoßene Ruf nach Neuigkeiten (»What News have you?« 169) musste denen, die sich noch nicht in das Zeitregime der Aktualität eingefunden hatten, als Zeichen einer bedauerlichen Verirrung erscheinen: Wer von ›News‹ redete, hatte wohl vergessen, dass »in reality there is no such thing«, bzw. dass die sogenannten Neuigkeiten nichts anderes darstellten als »newly augmented Lyes«.170 In zahlreichen Variationen wurde gezeigt, wie vergeblich die Jagd nach Nachrichten war, wie wenig sich die Hoffnung auf ein »Rendezvous« mit dem Neuen erfüllen würde.171 Judith Drake hatte in ihrer Streitschrift In Defence of the Female Sex (1696) keine Schwierigkeit zu beweisen, dass alle den Frauen zugeschriebenen Merkmale der Neugier, der Schwatzhaftigkeit und Leichtgläubigkeit in viel dramatischerer Weise beim männlichen Geschlecht ausgeprägt waren, insbesondere bei den notorischen ›News Mongers‹ und ›Coffee-House Politicians‹, die als »walking Gazetts« 172 die Stadt belästigten: »This sort of Impertinents the Coffee-houses are every day full of; nay, so far has this contagious Impertinence spread it self, that private Houses, and Shops, nay, the Very Streets and Bulks are infected and pester’d with Politicks and News.« 173

Egalität und Differenz Der ›liberalen‹, ›whiggistischen‹ Hypothese zufolge bestand die gesellschaftliche Wirksamkeit des Kaffeehauses vor allem darin, einen Kommunikationsraum bereitzustellen, in dem ohne Rücksicht auf Standesschranken über die öffentlichen Angelegenheiten debattiert werden konnte. Diese Diskussionen waren, wie auch von Außenstehenden bemerkt wurde, nicht auf geschlossene Freundeskreise beschränkt; sie fanden vielmehr auch unter Leuten statt »who knew not each Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 51. Thomas Shadwell, The virtuoso. A comedy, acted at the Duke’s Theatre, London, 1676, S. 58. Vgl. Sommerville, The news revolution in England, S. 77. John Dunton, The art of living incognito. Being a thousand letters on as many uncommon subjects, London, 1700, S. 45. 171  Vgl. Anon., The coffee house or News-mongers Hall. In which is shewn their several sorts of passions, containing news from all our neighbour nations. A poem, London, 1672, o. P.: »I’le send yee to a Rendezvous / Where it is smoaking new / Go hear it at a Coffe-house / It cannot but be true.« 172  Drake, anon., An Essay in Defence of the Female Sex, S. 95. 173  Ebd., S. 89. 167  168  169  170 

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other, and came together only for that Communication«.174 Zu den größten Auffälligkeiten des Kaffeehauses gehörte, dass sich dort Menschen unterschiedlicher Herkunft an den gleichen Tisch setzen konnten, »without knowing one another, and yet talk as familiarly together, as if they had been of many years Acquaintance«.175 Grundlage dieser Vertrautheit unter Fremden war die Außerkraftsetzung der sonst den Alltag beherrschenden Standesunterscheidungen. Der royalistische Autor Samuel Butler, bekannt durch das satirische Gedicht Hudibras (1674 – 78), beschrieb den »coffee market« als einen Platz, »where people of all qualities and conditions meet to trade in foreign drinks and newes, ale, smoak, and controversy«. Hier gebe es keine »distinction of persons, but gentleman, mechanic, lord, and scoundrel mix, and are all of a piece, as if they were resolved into their first principles«.176 Diese Suspension der überkommenen gesellschaftlichen Hierarchien bildete wohl meist ein ungeschriebenes Gesetz, über dessen Einhaltung der ›coffee-man‹ und seine Gäste gemeinsam wachten; sie konnte aber auch, in gedruckten »Rules and Orders«, ganz ausdrücklich formuliert werden: Enter, Sirs, freely, But first, if you please, Peruse our Civil-Orders, which are these. First, Gentry, Tradesmen, all are welcome hither, And may without Affront sit down Together: Pre-eminence of Place none here should Mind, But take the next fit Seat that he can find: Nor need any, if Finer Persons come, Rise up for to assign to them his Room […].177

Den Angehörigen der alten Elite musste diese willentliche Aussetzung der Standesschranken unerträglich vorkommen. Dass das Kaffeehaus – »like Noahs Ark« – »Animals of every sort« aufnahm,178 erschien ihnen als Profanation der gottgegebenen gesellschaftlichen Unterscheidungen und zudem als ein politisch verantwortungsloser Akt, der nur in revolutionäre Unruhe münden konnte. Der Dramatiker John Dryden stellte deutlich die drohenden Konsequenzen einer solchen Permissivität vor Augen: 174  So gibt der Earl of Clarendon die missbilligenden Worte Charles’ II wieder, zit. nach

Ellis, »Introduction [to volume 1]«, S. xlviii.

175  Thomas Brown, Amusements serious and comical, calculated for the meridian of London,

London, 1700, S. 116.

176  Samuel Butler, Unpublished Remains, zit. nach Edward Forbes Robinson, The early

history of coffee houses in England. With some account of the first use of coffee and a bibliography of the subject, Cambridge, 1893. 177  Anon., »A Brief Description of the Excellent Vertues of that Sober and Wholesome Drink, called Coffee/ The Rules and Orders of the Coffee-house«, S. 129. 178  Anon., »The Character of a Coffee-House, with the Symptomes of a Town-Wit«, S. 85.

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Doe what in Coffee-houses you began; Pull down the Master and set up the Man.179

Für die Frage, wie das Kaffeehaus an der Umarbeitung der gesellschaftlichen Hierarchien beteiligt war, erweist sich das satirische Pamphlet The Character of a Coffee-House (1673) als aufschlussreich: Im Kaffeehaus, so wird hier beklagt, each man seems a Leveller, and ranks and files himself as he lists, without regard to degrees or order; so that oft you may see a silly Fop, and a worshipful Justice, a griping Rook, and a grave Citizen, a worthy Lawyer, and an errant Pickpocket, a reverend Nonconformist, and a canting Mountebank; all blended together, to compose an Oglio of Impertinence […].180

Die Rede ist von einem ›Ranking‹ bzw. ›Filing‹, das sich ohne Rücksicht auf ›degrees‹ und ›orders‹ vollzieht, das also die Gegebenheiten der Ständeordnung ignoriert. Mit dem Ausdruck ›Leveller‹ wird angedeutet, dass dieses ›impertinente‹ Verhalten implizit der Forderung der Levellers nach Gleichheit vor dem Gesetz und nach Abschaffung der Privilegien entspricht. Die Anordnung der gemischten Gesellschaft wird auf die Selbsteinordnung der Beteiligten (»ranks and files himself«) zurückgeführt, sowie zugleich auf eine Ordnung nach dem Zeitpunkt des Eintreffens (»as he lists«). Auch wenn es wohl keine Kaffeehäuser gegeben hat, in denen tatsächlich eine Auflistung der Gäste vorgenommen wurde, verweist der Wortgebrauch doch auf die Technik der listenartigen oder tabellarischen Eintragung. Dies lässt sich als Hinweis auf eine grundsätzliche Änderung im Denken der gesellschaftlichen Ordnung nehmen: Der Ort im sozialen Gefüge (hier: der Platz im Kaffeehaus) ist nicht mehr durch eine vorausgesetzte Rangordnung definiert; er richtet sich vielmehr nach einem kontingenten, situativ bestimmten Sortierkriterium (hier: nach der Reihenfolge des Eintreffens), das im Zusammenspiel mit anderen willkürlich wählbaren Sortierkriterien über den Platz auf einer realen oder imaginären Liste entscheidet. Man hat es, mit anderen Worten, nicht mehr mit einer hierarchischen, sondern mit einer klassifikatorischen Ordnung zu tun, einer Ordnung, die nicht einem vermeintlich ewigen Gesetz zu entsprechen sucht, sondern sich auf eine einfache und jederzeit veränderbare Regel der Platzverteilung gründet. Es wäre jedoch falsch anzunehmen, dass mit dem Kaffeehaus-Universum ein ungebrochener sozialer Egalitarismus herrschend geworden sei. Ein wesent179  John Dryden: The Duke of Guise, Prologue, zit. nach Stallybrass u. White, The politics

and poetics of transgression, S. 99.

180  Anon., »The Character of a Coffee-House, with the Symptomes of a Town-Wit«, S. 87.

Zum Ausdruck »Oglio« vgl. William Sewel u. Egbert Buys, A Compleat Dictionary, English and Dutch, Amsterdam, 1766, S. 532: »OGLIO , a Spanish dish, made up of all manner of meat«.

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licher Effekt der Kaffeehausgeselligkeit bestand sicherlich darin, gewisse soziale Schranken vorübergehend außer Kraft zu setzen; sie trug aber ebenso dazu bei, neue Differenzierungen und neue gesellschaftliche Abgrenzungen zu schaffen. Schon die Entscheidung, sich in ein Kaffeehaus zu begeben oder ein traditionelles Trinklokal aufzusuchen, war nicht nur, wie oben gezeigt wurde, eine ideologische Frage; sie hing auch ganz schlicht von der sozialen Lage ab. Für seine History of London unternahm William Maitland 1739 eine topographische Bestandsaufnahme aller Straßen und Plätze von London. Er zählte dabei 551 Kaffeehäuser, die sich in den relativ wohlhabenden Stadtteilen konzentrierten, vor allem in der City und in St. James’s sowie […] in der Gegend von Covent Garden und Fleet Street. Im Vergleich dazu gab es in Bezirken wie Wapping, Southwark und der Umgebung außerhalb der Stadtmauern zwischen Moorgate und Whitechapel, wo eine große Anzahl ärmerer Menschen lebte, nur wenige Kaffeehäuser und eine enorme Anzahl von Gin-Shops und Tavernen.181

Die inkludierende Funktion der Kaffeehäuser hatte also ihre Grenzen. Dass den Mitgliedern der unteren Schichten so demonstrativ Zugang gewährt wurde, hatte auch damit zu tun, dass die Nachfrage nicht allzu groß war. Sicher gab es, wie die zeitgenössischen Berichte bezeugen, einzelne Menschen aus dem Volk, die die Kaffeehäuser nutzten, um für wenig Geld im Trockenen zu sitzen und die Zeitungen zu lesen, es ist aber unwahrscheinlich, dass es viele Handwerker vom Typ des im Tatler auftretenden »upholsterers« gab, die es sich leisten konnten, einen großen Teil ihrer Zeit im Kaffeehaus zu verbringen.182 Zudem hat das Kaffeehaus offenbar den populären Charakter, den es in seinen Anfängen hatte, im 18. Jahrhundert zunehmend verloren; jedenfalls erschien es 1732 dem Grub-Street Journal als eine Selbstverständlichkeit, dass »people of mean fortune […] do not frequent coffee-houses«.183 Die meisten einfachen Leute dürften die Kaffeehäuser instinktiv gemieden haben, als Orte, die offenkundig nicht für sie geschaffen waren. Wie der London-Tourist César de Saussure in den 1720er Jahren bemerkte, hatten auch »die kleinen Leute und der gemeine Pöbel [la vile populace]« ihre »cafés«, diese aber waren nichts anderes als »Schnapsläden [boutiques d’eau-de-vie]«, stets gefüllt mit Männern, Frauen und manchmal sogar mit Kindern, die sich so heftig betranken, »dass sie es manchmal schwer haben, wieder herauszukommen«.184

181  Ellis, »General introduction«, S. xxix–xxx. 182  Vgl. Raymond, »The newspaper, public opinion, and the public sphere in the seven-

teenth century«, S. 116.

183  Anon. [»D. D.«], »[Letter to Mr. Bavius]«, The Grub-Street Journal, N° Numb. 145, Thurs-

day, October 12, 1732, o. P.

184  Saussure, Lettres et voyages de Monsr. César de Saussure en Allemagne, en Hollande et en

Angleterre (1725 – 1729), S. 169 – 170.

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Im Hinblick auf die Vielfalt der Orte konnte von einer einheitlichen public sphere des Kaffeehauses keine Rede sein. Schon im 17. Jahrhundert bildete sich in der Wahrnehmung der Kaffeehäuser eine Art Zweiklassensystem aus, das die großen, mondänen, in der Nähe der Börse gelegenen Häuser von den kleinen, weniger eleganten und weniger zentral gelegenen Lokalen unterschied. Während die Etablissements der ersten Gruppe dazu geschaffen waren, »den geschäftlichen und sozialen Ansprüchen der Londoner Kaufmanns- und Regierungselite zu entsprechen«,185 dienten die der zweiten Kategorie den täglichen Bedürfnissen der Nachbarschaft: »Sie boten Erfrischungen, Zeitungen und verschiedene andere Dienstleistungen für die Anwohner an, aber es war unwahrscheinlich, dass sie Touristen […] anzogen.« 186 Die Schwelle zum Besuch eines ›lokalen‹ Kaffeehauses dürfte niedrig gelegen haben; dagegen dürften höhere Preise und ein gewisses Maß an sozialer Einschüchterung dafür gesorgt haben, dass das ›bessere‹ Publikum in den großen Kaffeehäusern der City weitgehend unter sich blieb. Zu dieser Unterscheidung zwischen einer ›Business‹- und einer ›EconomyClass‹ des Kaffeetrinkens gesellten sich zahlreiche andere Differenzierungen nach ästhetischen und politischen Gesichtspunkten. Die großen Kaffeehäuser der Innenstadt waren im Unterschied zu den lokalen, nachbarschaftlichen Orten nicht für ›alle‹ gedacht; sie schufen sich ihr spezifisches Publikum, indem sie ein besonderes Angebot an News zur Verfügung stellten oder einen bestimmten Debattierclub beherbergten. Die Diversifizierung des Angebots entsprach der Ausdifferenzierung der Interessen und Geschmacksorientierungen. Entsprechend etikettierte Richard Steele im Tatler die verschiedenen Rubriken seiner Zeitschrift mit den Namen der Kaffeehäuser, in denen die jeweiligen Diskurse geführt wurden: All accounts of gallantry, pleasure, and entertainment, shall be under the article of White’s Chocolate-house; poetry, under that of Will’s Coffee-house; learning, under the title of Grecian; foreign and domestic news, you will have from St. James’s Coffee-house […].187

Die schärfte Trennung aber war die entlang der politischen und ideologischen Fronten. Von der politischen Polarisierung zwischen Tories und Whigs blieb auch die Welt der Kaffeetrinker nicht verschont. Ihre Diskussionen bestätigten und verstärkten zugleich die Gegensätze. Unter dem Eindruck der Kaffeehausgerüchte vom ›Popish Plot‹ schrieb William Petty im April 1679 aus Dublin an

185  Cowan, The social life of coffee, S. 157. 186  Ebd. 187  Richard Steele, »The Tatler, N° 1. Tuesday, April 12, 1709«, in: The Tatler, hg. v. George

A. Aitken, Bd. 1, London, 1898 – 1899, 11 – 21, S. 12 – 13.

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seinen Cousin Southwell, »That the Ayre which I have breathd upon the Coffeehouses hath been very prolifique«; die hitzige Atmosphäre habe ihn dazu gebracht, selbst »a Couple of Sheets« zur Verteidigung Irlands »against the Pope and King of France« zu verfassen.188 Während die Kaffeehäuser zu dieser Zeit allgemein noch als Hochburgen der Whigs galten, gab es später auch solche, die fest in Tory-Hand waren. Die Wahl des Kaffeehauses stellte damit auch eine politische Entscheidung dar: I must not forget to tell you, that the Parties have their different Places, […] a Whig will no more go to the Cocoa-Tree or Osinda’s, than a Tory will be seen at the Coffee-House of St. James’s.189

Insgesamt lässt sich eine Entwicklung der zunehmenden Ausdifferenzierung und Segregation von Teilpublika beobachten, die der anfänglichen Tendenz zur Freisetzung und Vermischung entgegenarbeitete. Das Medium Kaffeehaus blieb nicht das gleiche; seine Wirksamkeit verschob sich von einer anfänglichen, spektakulären Bewegung der Decodierung und Deterritorialisierung zu einer zwar weniger sichtbaren, deswegen aber nicht weniger folgenreichen Bewegung der Recodierung und Reterritorialisierung. Nimmt man einen solchen historischen Verlauf an, so klärt sich auch die immer wieder aufgeworfene Frage nach dem Ort und der Rolle der Frauen in den Kaffeehäusern.190 Sowohl für die These, dass Frauen an den Kaffeehausdebatten teilnahmen, als auch für die, dass sie davon faktisch ausgeschlossen waren, lassen sich Argumente anführen.191 Die herangezogenen Belege beziehen sich jedoch häufig auf ganz unterschiedliche Zeiten. Anstatt nach dem Verhältnis ›des‹ Kaffeehauses zum weiblichen Geschlecht zu fragen, sollte man daher eher die historische Verlaufsform betrachten: Während es aus der Restaurationszeit eine ganze Reihe von Zeugnissen gibt, die auf die relative Normalität weiblicher Kaffeehausbesuche hindeuten,192 scheint sich zu

188  William Petty, »36. Petty to Southwell«, in: ders. u. Robert Southwell, The Petty-Sou-

thwell correspondence, 1676 – 1687, hg. v. H. W. E. Petty-FitzMaurice, Marquis of Lansdowne, London, 1928, 72 – 74, hier S. 73. 189  Macky, A journey through England, S. 168. 190  Die Frage zielt darauf, ob Frauen im Kaffeehaus als Gäste auftraten – denn als ›coffee-women‹, als Pamphletverkäuferinnen oder als Prostituierte waren sie jederzeit präsent. 191  Zur Illustration nur ein Aussagenpaar: Einerseits: »Es gibt viele Beweise dafür, dass Frauen an den Kaffeehaus-Debatten teilgenommen haben« (Raymond, »The newspaper, public opinion, and the public sphere in the seventeenth century«, S. 120). Andererseits: »Theoretisch gibt es keinen Grund, warum eine Frau, die ihren Weg ins Kaffeehaus gefunden hatte, nicht an den Gesprächen dort hätte teilnehmen sollen, aber in der Praxis gibt es keine Hinweise darauf, dass eine Frau tatsächlich an einer Kaffeehaus-Debatte teilnahm.« (Cowan, The social life of coffee, S. 246.). 192  Vgl. Pincus, »›Coffee Politicians Does Create‹«, S. 816.

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Beginn des 18. Jahrhunderts der Wind gedreht zu haben. Dass eine junge Dame sich, als Mann verkleidet, mit zwei Lehrjungen ins Café setzte, erschien zwar nicht als ein ernstes Verbrechen, aber doch als eine Ungehörigkeit, die sich nicht wiederholen sollte: The young Lady in the Parish of St Laurence near Guil shall, that lately went to the Coffee-house in Man’s Cloaths with the two ’Prentices, call’d for a Dish of Bohee [schwarzer Tee], Smoak’d her Pipe, and gave herself abundance of straddling Masculine Airs, is desired to do so no more.193

Wenn noch einmal zwanzig Jahre später schlicht behauptet wurde, dass »the fair sex« keine Kaffeehäuser besuche,194 so weist dies darauf hin, dass die anfängliche Nonchalance gegenüber Geschlechterfragen nun einer als selbstverständlich empfundenen Politik der Trennung gewichen war. Männlich kodierten Sphären der Öffentlichkeit wie dem Parlament oder dem Kaffeehaus standen jetzt weiblich kodierte Sphären wie der Salon und der Tea Room (›India House‹) gegenüber. Man kann darin einen Erfolg der whiggistischen Anstrengungen zur Policierung der public sphere sehen;195 zugleich zeigt sich darin auch, inwiefern die Befreiung von den alten, ständischen Einschränkungen durch die Installation neuer, auf äußeren Merkmalszuschreibungen beruhender Ordnungsmuster konterkariert wurde. Wenn die Kaffeehausöffentlichkeit zu einer Lockerung der traditionellen Bindungen und zu einer Aussetzung der Standeshierarchien führte, so war sie zugleich Schauplatz zahlreicher Experimente mit unkonventionellen Sortierverfahren und Bewertungskriterien, aus denen sich ein neues Netz semantischer und sozialer Beziehungen ergab. In der doppelten Bewegung von Decodierung und Recodierung, von Entortung und Neuplatzierung bildete das Kaffeehaus eine wirkmächtige Maschinerie zur Umarbeitung des Sozialen. Auf seine Weise, nämlich durch neue Formen der Selbstzuordnung und Selbstdefinition, trug es dazu bei, Standesverhältnisse durch Klassenverhältnisse zu ersetzen.

Distinktionsmaschine Club Die am Kaffeehaus zu bemerkende Funktion einer Neusortierung des Sozialen wird noch offensichtlicher in der englischen Club-Kultur des 17. und 18. Jahrhunderts. Clubähnliche Zusammenkünfte von Männern in Form von regelmäßigen Tisch-, Trink- und Debattiergesellschaften waren bereits unter Elizabeth I. und James I. üblich, sie wurden aber von den Behörden mit Misstrauen 193  The Female Tatler, N° 37. Monday September 30, 1709, London, o. P. [S. 2]. 194  Anon. [»D. D.«], »[Letter to Mr. Bavius]«, o. P. 195  Vgl. hierzu Kap. 16, Abschnitt »Medien der Politeness«.

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beobachtet.196 Die eigentliche Konjunktur der Clubs begann, parallel zu der der gedruckten Nachrichten, in den 1640er Jahren. Das Spektrum war weit, es reichte von gelehrten Zirkeln wie Robert Boyle’s Invisible College oder der Society of Astrologers über die politischen Stammtische der Levellers bis zu den diskreten Versammlungen der ersten spekulativen Freimaurer.197 Die Gesellschaften trafen sich in Privatwohnungen, in Bierhäusern und Weinschenken, seit den 1650er Jahren auch in den neu aufgekommenen Kaffeehäusern. Republikanische Ideen wurden beispielsweise im Commonwealth Club in der Taverne Nonsuch oder in dem von James Harrington begründeten Rota Club im Turk’s Head Coffee-house diskutiert.198 Wie die Kaffeehäuser wurden die Clubs in der Restaurationszeit verdächtigt, Herde des politischen und religiösen Sektierertums darzustellen. Das Scheitern des von 1675 von James II . betriebenen Kaffeehausverbots führte zu einem Aufblühen der Sozietätskultur; die neu entstehenden Clubs bildeten eine wesentliche organisatorische Basis für die sich formierende Whig-Partei.199 Bis dahin weitgehend auf London beschränkt, wurden die Clubs nach der ›Glorious Revolution‹ zu einer anerkannten sozialen Institution, die bald in jeder Kleinstadt zu finden war.200 In der Regierungszeit von Queen Anne (1702 – 1714) erfuhren die Clubs eine enorme Ausdifferenzierung; zugleich erhielt sich jedoch die politische Polarisierung. So gab es dezidierte Tory-Clubs wie den October Club, den March Club oder den literarischen Scriblerus Club um die Schriftsteller John Arbuthnot, John Gay, Alexander Pope und Jonathan Swift;201 auf der andern Seite standen der Kit-Cat Club und der Beefsteak Club der Whigs sowie ein ominöser, möglicherweise von der Tory-Propaganda erfundender Calves’ Head Club, der angeblich an jedem 30. Januar mit dem Verspeisen eines Kalbskopfs den Jahrestag der Hinrichtung von Charles I. feierte.202

196  Vgl. Peter Clark, British clubs and societies 1580 – 1800. The origins of an associational

world, Oxford, New York, 2000, S. 44 – 45.

197  Vgl. ebd., S. 49 – 50. Aus dem Jahr 1646 datiert eine Notiz von Elias Ashmole, dem

späteren Mitbegründer der Royal Society, über seine Aufnahme in eine Steinmetzloge in Warrington (Lancashire), vgl. Stephan Gregory, Mysterienfieber. Das Geheimnis im Zeitalter der Freimaurerei, Wien, Berlin, 2012, S. 186. 198  Vgl. Clark, British clubs and societies 1580 – 1800, S. 50 – 51. 199  Vgl. ebd., S. 54 – 55. 200  Vgl. ebd., S. 59. 201  Vgl. Bucholz u. Ward, London, S. 198. 202  Während frühere Kommentatoren an die Existenz des Calves’ Head Club glaubten, geht die neuere Forschung eher davon aus, dass es sich um einen »geschickt vermarkteten politischen Mythos« handelte. Vgl. Fritz-Wilhelm Neumann, Ned Wards London. Säkularisation, Kultur und Kapitalismus um 1700, Paderborn, 2012, S. 36.

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Abbildung 18: Frontispiz aus: Edward Ward, The secret history of the Calves-Head Club, London, 1707.

Was die Clubs von der Kaffeehausgeselligkeit unterschied, war ihr geschlossener und separatistischer Charakter. C. John Sommerville sieht im Aufschwung der Clubs ein Symptom der zunehmenden Einengung und Privatisierung der public sphere. Die Liebhaber von Neuigkeiten und Debatten mussten sich »nicht länger mit einer heterogenen Menge von Kaffeehausbesuchern auseinandersetzen, wenn sie in dem ›Club‹, dem sie angehörten, eine gleichgesinnte Gruppe finden konnten«.203 Tatsächlich kann man die soziale Funktion der Clubs in einer Art Vorsortierung sehen, die dafür sorgte, dass die Mitglieder es im Wesentlichen mit 203  Sommerville, The news revolution in England, S. 146.

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›ihresgleichen‹ zu tun hatten. Die Clubs hatten den Vorzug, eine ›neighborhood‹ zu bilden, die man sich aussuchen konnte, eine künstlich zusammengestellte ›Gesellschaft‹, die eine Versicherung gegen störende und unliebsame Sozialkontakte darstellte. Eine solche Funktion der Selektion und Abschottung hatte in anderer Weise natürlich auch das hierarchische System der ›orders‹ und ›degrees‹ erfüllt. Und zweifellos gab es Clubs, die auf solchen traditionellen Unterscheidungen beruhten, die also nur Angehörige eines bestimmten Standes oder Berufs aufnahmen. Doch wurde damit der Witz der Club-Vergesellschaftung verfehlt, der gerade darin bestand, neue Differenzierungen zu erproben, die quer zu den hergebrachten Standesunterscheidungen lagen. Das Clubwesen begnügte sich nicht damit, die alten Abgrenzungen zu reproduzieren; seine Attraktivität lag gerade darin, neue, bisher unbekannte Unterscheidungen und Wertschätzungen zu produzieren. Wenn Joseph Addison davon spricht, dass viele Clubs einen bestimmten, willkürlich gewählten Eigennamen zu ihrem »Badge of Distinction« machten,204 so erwähnt er damit beiläufig, worum es bei den Clubs ging: ›Distinktion‹, die Absetzung von anderen aufgrund eines noch so zufälligen Unterscheidungsmerkmals, ist der zentrale ökonomische Mechanismus, der die Ausdifferenzierung der Club-Landschaft bestimmte. Addison selbst weist auf die Eigentümlichkeit dieser Art von Gesellschaftsbildung hin, die sich an einer beliebigen Besonderheit, einem minimalen Punkt von imaginierter Gemeinsamkeit entzünden konnte: MAN is said to be a Sociable Animal, and, as an Instance of it, we may observe,

that we take all Occasions and Pretences of forming ourselves into those little Nocturnal Assemblies, which are commonly known by the name of Clubs. When a Sett of Men find themselves agree in any Particular, tho’ never so trivial, they establish themselves into a kind of Fraternity, and meet once or twice a Week, upon the Account of such a Fantastick Resemblance.205

Journalistisch erschlossen wurde die neue Quelle der Differenzproduktion durch den Journalisten Ned Ward,206 dessen 1709 erstmals erschienene Secret History of Clubs das Bild eines hoffnungslos zerklüfteten, in zahlreiche sonderliche Völker gespaltenen London entwirft. Er berichtet von einer Vielzahl von Clubs, von denen einige, wie der October Club der Tories und der Kit-Kat Club der Whigs, tatsächlich existierten, während andere, wie z. B. der Lying Club, der Beggars Club, der Thieves Club, der Man-Killing Club, der Club of Broken Shopkeepers, der Bawds Initiating Club oder der Beaus’ Club, wohl eher nur stellvertretend für bestimmte, von Ward missbilligte Verhaltensweisen standen. Neben aus204  Joseph Addison, »The Spectator, N° 9. Saturday, March 10, 1711«, in: The Spectator, hg. v. Henry Morley, Bd. 1, London, 1891, 37 – 41, S. 38. 205  Ebd., S. 37. 206  Zu Ward vgl. auch Kap. 16, Abschnitt »Ned Wards London Spy«.

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gesprochen gehässigen Darstellungen wie der der »Sodomitical Wretches«, die in einem angeblichen Mollies Club ihrem Laster nachgingen,207 stehen die eher zurückhaltenden und nur leise spöttischen Portraits der Sonderlinge, die sich im Bird-Fancier Club oder Florists Club versammelten. Auch wenn es also Nuancierungen in der Schärfe der Verurteilung gibt, so lässt Ward doch keinen Zweifel daran, dass er die Club-Vergesellschaftung grundsätzlich missbilligt, und zwar deshalb, weil sie als »Mixed Societies« die von der göttlichen Vorsehung festgelegten Standespositionen missachteten und dem »Promiscuous Encouragament of Vice, Faction, and Folly« dienten.208 »[S]uch sort of Meetings« 209 bedeuteten nicht nur eine »unnecessary Expence of […] Time and Money«;210 sie seien auch nicht vereinbar mit der einzig angemessenen Sicht der Gesellschaft als »formal Body of such reputable Members, who are bound by their Stations which Providence has plac’d them in«.211 Als ein wahrer Hexenkessel muss Ward daher das gemischte Publikum eines (wohl tatsächlich existierenden) Weekly Dancing Club erschienen sein (der offenbar jedoch keine geschlossene Veranstaltung darstellte, sondern eher einem Club im heutigem Sinn glich): Thus the mottl’d Diversity of Rakes, Beaus, grave Hypocrites, and Apprentices, Pimps, Bullies, Stallions, Vallets, Butlers, and disguis’d Livery-Men, Thieves, Gamesters, Sweetners, Town-Traps, and Highway-Men, Procurers, Punks, Cooks, Jades, and Chamber-Maids, damn’d filing Whores, still Sows, and Fireships, lewd Widows, wicked Wives, and whorish Daughters; these larded, by Chance, with here and there a Maid, but the fewest of that Sort of any.212

Aber auch die zweifellos ganz ohne Exzesse auskommenden Treffen der BirdFanciers sind Ward verdächtig, denn hier führt die gemeinsame Liebe zu den Vögeln offenbar dazu, dass die geziemenden Abstände zwischen den Menschen vernachlässigt werden: […] so it frequently; happens among these comical Admirers of the Harmonious Quire for a Well dress’d Gentleman, tho’with no more Brains in his Skull than there are in an Owl’s-Nest, shall sit wedg’d in between a couple of Lousy Bird-Catchers,

207  Edward Ward, The Secret History of Clubs. Particularly the Kit-Cat, Beef-Stake, Vertuosos, Quacks, Knights of the Golden-Fleece, Florists, Beaus, &c., London, 1709, S. 284. Zu Wards Schilderung der »Mollies« vgl. Peter M. Briggs, »Satiric strategy in Ned Ward’s London writings«, Eighteenth-Century Life, Jg. 35, N° 2, 2011, 76 – 101, S. 94 – 95. 208  Ward, The Secret History of Clubs, S. 1. 209  Ebd., S. 3. 210  Ebd., S. 2. 211  Ebd., S. 3. 212  Ebd., S. 170 – 171.

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whose Cloaths on their Backs are Scarce good enough to be remov’d from the Dunghill into a Rag-Merchant’s Ware-House.213

Wenn es also »whimsicall Societies« gibt,214 in denen den sozialen Abständen nicht genügend Respekt gezollt wird, so finden sich andererseits nicht weniger schrullige Vereinigungen, die den Unterschieden der Ehre etwas zu viel Aufmerksamkeit schenken. In ihrem Eifer »to Distinguish themselves« 215 ziehen sie das System der gesellschaftlichen Unterscheidungen ins Lächerliche, was in Wards Augen nicht weniger verwerflich ist als seine Missachtung. Unter den »humoursome societies«,216 die sich des mangelnden Ernstes in der Unterscheidung von Oben und Unten, Hoch und Niedrig schuldig machen, sticht insbesondere der »Mock Heroes Club« hervor, dessen Mitglieder sich mit »counterfeit Distinctions« schmücken:217 Nicht nur »during the Time of their Club«, sondern auch bei einem zufälligen Treffen auf der Straße begrüßen sie sich mit ihren »Heroick Titles«, den Vornamen antiker Helden:218 Caesar quod Damnum, a young Attorney. Julius Fondlepunk, a Student at Law. Antonius Coppywell, a Counsellor’s Clark. Maximinus Midnight, a young Cursitor. Hannibal Spattle, a pert Apothecary. Fabricius Block, a Periwig-maker. Scipio Fippery, a Millaner. Augustus Thimble, a Taylor. Alexander Bounce, a Fencing Master. Pompey Rhomboides, a young Mathematician. Darius Scribble-Tony, a writing Stationer. Calligula Chantwell, a Singing Spunger. Ninus Lackwit, a young extravagant Heir. Valerius Drinkwater, a Hackney Writer.219

In dieser Aufzählung offenbart sich das Dilemma der konservativen Kulturkritik. Wards selbstgesetzter erzieherischer Auftrag besteht zweifellos darin, »Folly and Vanity« 220 der Clubs offenzulegen, ihre künstlichen, anmaßenden Distinktions213  214  215  216  217  218  219  220 

Ebd., S. 177. Ebd., S. 176. Ebd., S. 9. Ebd. Ebd., S. 126. Ebd., S. 128. Ebd., S. 127 – 128. Ebd., S. 123.

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systeme der Lächerlichkeit preiszugeben. Doch der spürbare Genuss, mit dem der Journalist Ward die Differenzierungsspiele des Clubwesens weitertreibt, indem er ganze Clubs erfindet oder sich für die Mitglieder des Mock Heroes-Club eine Kette von Spitz- und Nachnamen ausdenkt, die nur als Serie, als Variation einen Effekt der Komik erzeugt, zeigt, wie stark sein eigenes Schreiben von der kritisierten Ökonomie der »counterfeit Distinctions« abhängt. Dass Klassifizierung populär werden konnte, hat, wie sich hier andeutet, auch damit zu tun, dass sie unter bestimmten Umständen als ›witzig‹ erscheinen konnte, als ein Verfahren, mit dessen Hilfe sich eine unendliche Vielfalt von skurrilen Kombinationen und kuriosen Besonderheiten erzeugen ließ.

Verbindliche Veröffentlichungen Mit Argumenten, die an Habermas und Sennett erinnern, hat C. John Sommerville einen Verfall der Sphäre der Öffentlichkeit konstatiert, der allerdings nicht erst, wie bei Habermas, zur Mitte, oder, wie bei Sennett, zum Ende des 19. Jahrhunderts eingetreten sein soll.221 Der erste Schritt von einem »kulturräsonierenden« zu einem lediglich »kulturkonsumierenden Publikum« 222 vollzog sich, Sommerville zufolge, schon wesentlich früher, mit der Aufhebung des Licensing Act von 1695 und der daraus folgenden Ausdifferenzierung des Zeitungsmarkts. Die Vervielfältigung des Presseangebots sorgte dafür, dass Nachrichten zunehmend »im Privaten« konsumiert wurden.223 Zeitungen wurden frei gehandelt und abonniert, wodurch das Kaffeehaus seine Bedeutung als wichtigster Umschlagplatz von Nachrichten verlor: Insgesamt sollten diese Änderungen dazu führen, dass die periodische Veröffentlichung von einem Medium auf einen Mechanismus reduziert wurde. Sie reduzierten den Aufwand für die Teilnahme an der öffentlichen Meinung, indem sie Nachrichten und Diskussionen als Produkt vermarkteten. Die Leser mussten nicht länger eine größere Welt erkunden, wenn sie sie vor der eigenen Türschwelle finden konnten.224

Mit der zunehmenden Privatisierung der Lektüre änderte sich, wie Sommerville plausibel macht, nicht nur das Ausgehverhalten der Leser, sondern auch der Charakter der News. Im Kaffeehaus war es letztlich weniger um Information als um 221  Vgl. Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit; Richard Sennett, Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität (1974), Frankfurt a. M., 2004. 222  So die Formulierung von Habermas in: Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 193. 223  Vgl. Sommerville, The news revolution in England, S. 83 – 84. 224  Ebd., S. 146.

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die Herstellung von ›public opinion‹ gegangen. Die eintreffenden Nachrichten wurden nicht um ihrer selbst willen geschätzt, sondern weil sie Stoff für Interpretationen boten. Ohne die diskursive Anreicherung durch die Kaffeehaus-Debatte erschienen sie als unfertig und unabgeschlossen. Sobald die Nachrichten jedoch »privat konsumiert« wurden, bekamen sie das Aussehen »einer abschließenden Aussage«; sie konnten »für eine, wenn auch kurze, so doch mehr oder weniger adäquate Darstellung von geschichtlichen Ereignissen, sozialen Problemen usw. gehalten werden«.225 Während die Nachrichten im Kaffeehaus prinzipiell unter Konstruktions- oder Fälschungsverdacht standen, drängten sie sich in der privaten Lektüre als ›Fakten‹ auf. Das Gedruckte gewann an Autorität, weil es nicht mehr in kollektiven Diskussionen zerpflückt wurde; zugleich wurde nun die Diskussions- und Interpretationsfunktion zunehmend von den Printmedien selbst übernommen. Der Kommentar, der zuvor durch die öffentliche Debatte erzeugt wurde, wurde mit der gedruckten Zeitung selbst ausgeliefert – ein Schritt, den Sommerville treffend als Übergang von der Stimulation zur Simulation von Kommunikation fasst: »Eine fortlaufende Beteiligung an so etwas wie Öffentlichkeit wurde durch die Zeitungen stellvertretend aufrechterhalten, jedoch nur als Simulation einer Diskussion.« 226 Symptomatisch ist in diesem Zusammenhang die Entstehung eines neuen Typs von periodischer Veröffentlichung, bei der genau diese Funktion einer Simulation von Diskussion und Geselligkeit im Vordergrund stand. In den im letzten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts auftauchenden galanten Zeitschriften und Gesellschaftsmagazinen spielte die Nachrichtenfunktion eine untergeordnete Bedeutung; das ganze journalistische Geschick floss in die Gestaltung der Beziehung zwischen Blatt und Leser, in die Herstellung und Formierung des Publikums. Ein Pionier dieses neuen, publikumsorientierten Journalismus war der Autor und Verleger John Dunton, der seit den 1690er Jahren eine ganze Reihe von Zeitungen und Zeitschriften gründete und insgesamt etwa 600 Bücher und Pamphlete herausbrachte.227 Der von ihm als »my first project« bezeichnete Athenian Mercury begann, wie er erzählt, mit »no more than a confused idea«, die er aber doch so gut fand, dass er sie nicht einmal »for fifty guineas« tauschen wollte.228 Der Gedanke war, eine Zeitschrift zu machen, die anonym eingesandte Leserfragen von einer Expertenrunde beantworten ließ. Vorgeblich war dies eine »Athenian Society« aus zahlreichen Fachgelehrten; in Wahrheit handelte es sich

225  Ebd., S. 75 – 76. 226  Ebd., S. 14. 227  Vgl. Philip Pinkus, Grub St. stripped bare. The scandalous lives & pornographic works of

the original Grub St. writers […], London, [Hamden, CT ], 1968, S. 81. 228  John Dunton, »The Life and Errors of John Dunton«, in: ders., The Life an Errors of John Dunton. […] to which are added […] selections from his other genuine works, 1818, i-xviii, 1 – 413, hier S. 188.

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um Dunton selbst und zwei enge Vertraute, die von 1691 – 1697 wöchentlich das »Question-Project« 229 des Athenian Mercury am Laufen hielten: The Project being surprising and unthought of, we were immediately overloaded with Letters, and sometimes I have found several hundreds for me at Mr. Smith’s coffee-house in Stocks Market, where we usually met to consult matters.230

Ein anderes Blatt, das die Konversation mit der Leserschaft in den Vordergrund stellte, war das im Januar 1692 von Peter Anthony Motteux begründete Gentleman’s Journal, das mit »News, History, Philosophy, Poetry, Musick, Translations, &c.« 231 sehr weitgestreute Interessen bediente. Charakteristisch ist hier eine Rhetorik der Einbeziehung, die ein persönliches Gespräch, eine vertrauliche Beziehung zwischen Autor und Leser suggeriert. Motteux bemühte sich darum, alle, auch die kompliziertesten Fragen »to the same chatty level« 232 zu reduzieren und seinen Lesern das Gefühl zu geben, dass ihr Urteil für die gemeinsame Wahrheitsfindung unverzichtbar sei: »pray tell me whether the following Description of it be true«; »you may judge of it by what relates to the Spots or Maculae in the Sun, and to Comets«.233 Bereits mit der zweiten Nummer wurden die Leser eingeladen, Kommentare und eigene Texte einzusenden.234 Für viele Leser dürfte die Attraktivität des Gentleman Journal nicht nur in dem vielfältigen Angebot und der gefälligen Präsentation gelegen haben, sondern auch in dieser Schaffung eines ›Rückkanals‹, der den Lesern die Möglichkeit eröffnete, selbst zu ›ihrem‹ Magazin beizutragen. Sowohl John Dunton’s Athenian Mercury als auch Motteux’ Gentleman’s Journal hatten, wie die Zuschriften verrieten, von Anfang an zahlreiche weibliche Leser. Beide Magazine trugen der Nachfrage Rechnung, indem sie eigene Spin-Offs produzierten, die nun dezidiert »to the Ladies« 235 bzw. »to the Fair Sex« 236 adressiert waren. Im Februar 1693 erschien Dunton’s The Ladies Mercury, im November des gleichen Jahres folgte Motteux mit der Publikation von The Lady’s Journal. Auch wenn diese weltweit ersten ›Frauenzeitschriften‹ kommerziell erfolglos blieben (The Ladies Mercury wurde nach vier Nummern eingestellt; The Lady’s Journal 229  Ebd., S. 196. 230  Ebd., S. 189. 231  So Motteux in der ersten Ausgabe seines Magazins, zit. nach John Feather, A history

of British publishing (1988), London, 1996, S. 104. 232  Sommerville, The news revolution in England, S. 111. 233  The Gentleman’s Journal, zit. nach ebd. 234  Vgl. ebd. 235  John Dunton, anon., »To the Ladies«, The Ladies Mercury, N° Vol. 1, Numb. 1, Sunday, February 28. 1693, 1, S. 1. 236  Peter Anthony Motteux: »An Epistle Dedicatory to the Fair Sex«, in The Lady’s Journal, Oktober 1693, zit. nach. Patricia Phillips, »The Lady’s Journal (1693). The first journal for and by women«, Studia Neophilologica, Jg. 53, N° 2, 2008, 283 – 292, S. 284.

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kam nicht über die erste Ausgabe hinaus), hatte die von ihnen geleistete Anrufung doch einen bleibenden Effekt: Sie schuf die Evidenz eines eigenen, weiblichen Publikums. Die entscheidende Neuerung bestand darin, Frauen nicht einfach als Teil des patriarchalisch geführten Haushalts, sondern ›als Frauen‹ anzusprechen. Dies hieß zugleich, eine neuartige soziale Unterscheidung zu treffen. In der ständischen Welt wurde zwar zweifellos in jedem sozialen Kontext zwischen Männern und Frauen unterschieden; es hätte aber nicht der Logik der ›orders‹ und ›degrees‹ entsprochen, eine eigene soziale Gruppe namens ›Frauen‹ anzunehmen. Die wesentliche kommunikationsgeschichtliche Errungenschaft der galanten Zeitschriften liegt in dem, was man medial hergestellte Unmittelbarkeit nennen könnte, d. h. in der Entwicklung von rhetorischen und medialen Verfahren, deren Zweck darin lag, die technische Vermitteltheit und Abstraktheit der gedruckten Kommunikation vergessen zu machen und den Eindruck einer lebendigen, quasimündlichen Konversation zu erwecken.237 Dazu gehörte eine bestimmte Form der vertraulichen Anrede, die den Autor als Freund und Ratgeber des Lesers oder der Leserin erscheinen ließ; dazu gehörte aber auch die Anonymität der Herausgeber und der Rollentausch der Autoren, die sich durch solche Versteckspiele eine Aura des Geheimnisses und des Mehrwissens bewahrten.238 Trat die »Athenian Society« im Athenian Mercury als Autorität in allen Fragen der Allgemeinbildung und des nützlichen Wissens auf, so nahm sie im »Ladies Mercury« die Rolle des erfahrenen und verständnisvollen Zuhörers ein, dem auch intime Geheimnisse anvertraut werden konnten – vermutlich der erste geschichtliche Auftritt der ›agony aunt‹, auch wenn es sich in diesem Fall um eine Runde von ›Briefkastenonkeln‹ handelte.239 Es ist paradoxerweise gerade die privatistische Tendenz der Neuen Medien von 1700, die ihre soziale Wirksamkeit begründet. Eine dem Kaffeehausdiskurs vergleichbare kontroverse Diskussion konnten und wollten die auf Leser-BlattBindung angelegten Zeitschriften nicht stiften. Gerade durch ihre Orientierung auf das ›Private‹, ihre Spezialisierung auf die Simulation einer vertrauten, intimen Kommunikation, trugen sie jedoch zu einer folgenreichen Umgestaltung der gesellschaftlichen Beziehungen bei. Obwohl gänzlich unpolitisch, traten sie in einem eminenten Sinn als Social Media in Aktion, als Medien, die die Struktur 237  Zur Faszinationswirkung von Verfahren einer »Selbstüberschreitung von Medialität« vgl. Martin Andree, Archäologie der Medienwirkung. Faszinationstypen von der Antike bis heute (Simulation, Spannung, Fiktionalität, Authentizität, Unmittelbarkeit, Geheimnis, Ursprung), München, 2006. 238  Sommerville erwähnt ein 1693 erschienenes Theaterstück mit dem Titel The New Athenian Comedy (1693), in dem es darum geht, das Geheimnis der Herausgeber des Athenian Mercury zu lüften, vgl. Sommerville, The news revolution in England, S. 104. 239  Die obszönen Potentiale einer solchen Beichtsituation hat der Satiriker Tom Brown, von dem noch die Rede sein wird, in seinem Lacedemonian Mercury (1692), einer anzüglichen Parodie des Athenian Mercury, ausgereizt. Vgl. Pinkus, Grub St. stripped bare, S. 88 ff.

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und den Sinn des Sozialen veränderten. Wie die Clubs dienten sie der Formierung neuer, ideeller Gemeinschaften, die sich nicht vorrangig auf Herkunft oder soziale Stellung, sondern auf ein gleichartiges Interesse oder eine geteilte Vorliebe gründeten. Auch wenn es sich sozusagen um Vereine ohne Vereinslokal und ohne Kenntnis der anderen Mitglieder handelte, konnte die Bindung an eine wöchentlich erscheinende Zeitschrift ähnlich affektiv aufgeladen sein wie die an eine wöchentlich zusammenkommende Club-Runde. Die Leser eines galanten Blattes waren Teil einer unsichtbaren Gemeinschaft, die sich durch ihre Anhänglichkeit an eben dieses Blatt, seinen besonderen Witz oder Stil definierte.240 C. John Sommerville hat bemerkt, dass damit auch die Möglichkeit »für neue soziale Spaltungen« angelegt war: Seit den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts war es Männern und Frauen möglich, sich in dauerhafterer Weise mit Zeitschriften oder Zeitungen zu identifizieren als mit ihren Familien oder Nachbarschaften, an die sie durch die Übereinkunft des Verhaltens gebunden waren. Die Medien konnten die Gesellschaft nicht nur vereinheitlichen, sondern auch teilen.241

Es versteht sich von selbst, dass die von den galanten Zeitschriften errichteten Distinktionssysteme den Abgrenzungen der Standesgesellschaft in vielfacher Hinsicht verhaftet blieben. Häufig traten sie geradezu als publizistische Wachhunde auf, die die Einhaltung der sozialen Abstände beobachteten und Übertretungen denunzierten. Dennoch implizierte der Modus ihrer Veröffentlichung eine neue Form der sozialen Zusammensetzung, die mit der ständischen Ordnung nicht leicht in Einklang zu bringen war: Eine Gemeinschaft, die sich nicht auf Nachbarschaft und Kenntnis des Anderen, sondern allein auf das Merkmal gründet, sich von einer bestimmten Publikation angesprochen zu fühlen, ist kein Stand, sondern eine Klasse. Die Logik der Zugehörigkeit, die auf dem Feld der Massenmedien eingeübt wird, ist eine Klassenlogik. Schon die Zeitgenossen haben die Macht der ›public opinion‹ vor allem in ihrer quasi-richterlichen Funktion gesehen, in einer Gewalt der Unterscheidung und des Urteils, die stets gegenwärtig war, wenn etwas vor die Augen der Öffentlichkeit gestellt wurde: »The Publick is the Nicest and most Severe Critick in the World«,242 erklärte im Jahr 1700 der Satiriker Tom Brown, und er hob die Wandelbarkeit und rastlose Produktivität dieser Urteilsinstanz hervor: »[I]t is fond of Novelties, 240  Nicht umsonst griffen einige Periodika des frühen 18. Jahrhunderts das von John Dun-

ton mit der »Athenian Society« eingeführte Club-Motiv auf und gaben ihren Lesern den Eindruck, an den wöchentlichen Versammlungen einer geschlossenen Gesellschaft teilzunehmen. Berühmte Beispiele sind der 1704 in Daniel Defoes Review eingeführte Scandalous Club und der Spectator’s Club aus Steeles und Addisons The Spectator. 241  Sommerville, The news revolution in England, S. 152. 242  Brown, Amusements serious and comical, calculated for the meridian of London, S. 157.

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it daily changes all its Fashions of acting, its Language and its Modes.« 243 Denen, die darin verstrickt waren, erschien ›the Publick‹ nicht als Raum der gepflegten Debatte und ruhigen Überlegung, sondern als eine unablässig ratternde Differenzmaschine, ein Apparat, der ein verwirrendes Dickicht neuer Abgrenzungen und Unterscheidungen hervorbrachte: Geschmacksurteile, die zugleich soziale Positionierungen waren; moralische Urteile, die zugleich politische Parteinahmen waren; Identitätsfeststellungen, die zugleich Ortszuweisungen waren. Wie in diesem Kapitel gezeigt werden sollte, bestand eine keineswegs nebensächliche Funktion des als ›bürgerliche Öffentlichkeit‹ bezeichneten Mediensystems darin, solche neuen, klassifikatorischen Formen der Beurteilung massenhaft zu verbreiten und gesellschaftlich akzeptabel zu machen. Im nächsten Kapitel soll deutlich werden, dass dies keine willkürliche Interpretation ist. Die Distinktionsfunktion der Medien wurde in der Zeit um 1700 von den Mediennutzern selbst entdeckt und in Form eines ironisch betriebenen Klassifikationssports sichtbar ausgestellt.

243  Ebd.

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LONDON CLASSING. DIE FREUDEN DER EINORDNUNG Die im Folgenden vorgestellten Szenen aus dem öffentlichen Leben des frühneuzeitlichen London beleuchten einen entscheidenden Moment im Prozess der Durchsetzung des Klassenprinzips: In den periodischen Zeitschriften des frühen 18. Jahrhunderts wird Klassifizierung nicht nur laufend betrieben, das Verfahren der klassifikatorischen Einordnung wird vielmehr selbst zur Medienattraktion, zu einem Gegenstand der Reflexion und zum Auslöser eines ironisch betriebenen Klassifikationssports. Klassifizierung, die im Kontext der Politischen Arithmetik als Herrschaftspraxis erkennbar war, präsentiert sich hier in der harmlosen Form eines Gesellschaftsspiels. Es ist, mit anderen Worten, eine Popkultur der Klassifikation, durch die das Prinzip der klassenförmigen Sortierung von Menschen gesellschaftsfähig wird.

Wiederholte Teilungen Wie eine vollendete Ordnung der Klassifizierung aussieht, lässt sich Benedict Andersons Schilderung des modernen Kolonialstaats entnehmen: Die Volkszählung, die Landkarte und das Museum beleuchten die Art, wie der spätkoloniale Staat über seinen Herrschaftsbereich denkt. Der ›Dreh‹ dieses Denkens war ein totalisierendes klassifikatorisches Raster, das mit endloser Flexibilität auf alles angewendet werden konnte, das unter der realen oder gedachten Kontrolle des Staates stand: Völker, Religionen, Sprachen, Produkte, Monumente usw. Der Effekt des Rasters lag darin, stets von allem sagen zu können, dass es dies und nicht das war; dass es hierhin und nicht dorthin gehörte. Alles war begrenzt, determiniert, und deshalb – im Prinzip – zählbar.1

Um 1700 kann von einer solchen totalen klassifikatorischen Erfassung des Sozialen noch keine Rede sein. Doch werden zu dieser Zeit die Grundlagen dafür gelegt, dass sie eines Tages möglich sein wird. Dies geschieht durch die allmähliche Ausbreitung von Praktiken und Denkweisen, die dem neuen Geist der Klassifizierung entsprechen. Was später Klassengesellschaft heißen wird, ergibt sich aus einer Akkumulation zahlloser kleiner Akte der Klassifizierung, aus dem 1  Benedict Anderson, Imagined communities. Reflections on the origin and spread of natio-

nalism, London, 2006, S. 184.

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Wirken vielfältiger, sich im gesellschaftlichen Feld verzweigender Operationsketten, in denen sich Teilung an Teilung reiht.2 Eine Teilung folgt der anderen, bestätigt das Funktionieren des Verfahrens und ermöglicht es einer neuen Teilung, daran anzuschließen. So gibt es zunächst eine lineare Ausbreitung des Teilungsprinzips entlang einzelner Operationsketten: eine Fortpflanzung durch Kontakt, die man als ›metonymische‹ Sprossung bezeichnen könnte. Dann gibt es aber auch die Möglichkeit, dass ein Verfahren der Teilung, das bisher nur in einem begrenzten Bereich (beispielsweise in dem der Naturgeschichte oder der Steuererhebung) aktiv war, per Analogie auf einen anderen Bereich übertragen wird und dort seine Wirkungen entfaltet: eine ›metaphorische‹ Übertragung, die einen außerordentlichen Sprung in der Evolution des Spaltungsprinzips bedeuten kann. Wesentlich an diesen Prozessen ist das Moment der Wiederholung. Ein neu auftauchendes Prinzip der gesellschaftlichen Differenzierung wird anfangs nur zaghaft und in verdeckter Form auftreten.3 Durch stete Wiederholung, durch immer neue Anschlussoperationen, bestätigt sich die Wirksamkeit des Verfahrens, und das Prinzip der Teilung setzt sich, zumindest in einigen Bereichen der Gesellschaft, gegen die älteren Teilungsmuster durch. Aus der unermüdlichen Wiederholung von Teilungsakten geht schließlich die soziale Tatsache ›Klassenteilung‹ hervor. Dass diese »Härtung« 4 sozialer Teilungen funktioniert, dass aus tentativen Akten der Unterscheidung schließlich ein neues Gesetz der sozialen Einteilung hervorgeht, hat einerseits damit zu tun, dass die Operationen der Teilung zunehmend technisch »haltbar gemacht« 5 werden (in einem Medium wie der Tabelle ist Klassenteilung sozusagen ›eingebaut‹; wer eine Tabelle benutzt, übernimmt die klassifikatorische Denkweise und knüpft an das Verfahren der Klassenteilung an); es hat aber auch mit der Macht der Nachahmung zu tun. Klassenteilung setzt sich durch, weil Teilungsvorgänge beständig imitiert und von 2  Zum Begriff der Operationskette vgl. André Leroi-Gourhan, Hand und Wort. Die Evolution von Technik, Sprache und Kunst (1964), Frankfurt a. M., 2009; Erhard Schüttpelz, »Der Punkt des Archimedes. Einige Schwierigkeiten des Denkens in Operationsketten«, in: Georg Kneer, Markus Schroer und Erhard Schüttpelz (Hg.), Bruno Latours Kollektive. Kontroversen zur Entgrenzung des Sozialen, Frankfurt a. M., 2008, 234 – 258; Bernhard Siegert, »Cultural Techniques. Or the End of the Intellectual Postwar Era in German Media Theory«, Theory, Culture & Society, Jg. 30, N° 6, 2013, 48 – 65; Till A. Heilmann, »Zur Vorgängigkeit der Operationskette in der Medienwissenschaft und bei Leroi-Gourhan«, Internationales Jahrbuch für Medienphilosophie, Jg. 2, N° 1, 2016, 7 – 29. 3  So wurde, wie im 9. Kapitel, Abschnitt »Formen der Wiederkehr«, zu sehen war, die Idee der sozialen Klassifizierung in der Frühen Neuzeit zunächst nur auf antike oder ›exotische‹ Gesellschaften bezogen. 4  Zur »Härtung« von Fakten durch die Mobilisierung von »Alliierten«, vgl. Bruno Latour, Science in action. How to follow scientists and engineers through society (1987), Cambridge, Mass., 2003, S. 208 – 210. 5  Zur »Haltbarmachung« sozialer Tatsachen durch technische Vorkehrungen vgl. Bruno Latour, »Technology is society made durable«, in: John Law (Hg.), A sociology of monsters. Essays on power, technology, and domination, London, New York, 1991, 103 – 131.

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einer Ebene der gesellschaftlichen Praxis auf eine andere übertragen werden – ein Befund, der weitgehend mit der von Gabriel Tarde konzipierten Soziologie der Nachahmung übereinstimmt: Der geschichtliche Prozess vollzieht sich weniger im Modus der Produktion als der Reproduktion; geschichtliche Veränderung geht nicht aus einer Kette großer Erfindungen, sondern aus einem Gewimmel kleiner und kleinster Akte der Nachahmung hervor.6 Zwei Faktoren sind offenbar unverzichtbar, damit diese Art der mimetischen Verbreitung stattfinden kann. Erstens muss es am Anfang der Entwicklung abgegrenzte Schutzräume geben, in denen das neue Einteilungsprinzip gefahrlos erprobt und eingeübt werden kann. Um 1700 ist die Klassifizierung von Menschen ein prekäres Geschäft. Sie verletzt das für die monarchische Ordnung wesentliche Prinzip der Standesunterscheidung, und es gibt religiöse Vorbehalte, die gegen sie sprechen. So wird sich das neue Prinzip der Klassenteilung nicht unvermittelt durchsetzen können. Es wird einer Reihe von Zwischenschritten bedürfen, um die ganze Gesellschaft zu erfassen, und es wird am Anfang auf einzelne diskursive Inseln, auf verstreute Herde einer symbolischen Klassifikationstätigkeit beschränkt sein. Die Bedeutung dieser ›Inseln‹ sollte jedoch nicht unterschätzt werden. Sie können als unwichtig oder irrelevant erscheinen, weil sie, nach den Maßstäben eines ökonomischen Determinismus, zum ideologischen Überbau und nicht zur ökonomischen Tiefenstruktur der Gesellschaft gehören. Gerade diese ›Unwichtigkeit‹ aber, die Tatsache, dass sie die Fundamente der Herrschaft nicht zu berühren scheinen, bietet die Bedingung dafür, dass diese Räume als Experimentierräume, als Laboratorien für gesellschaftliche Neuerungen funktionieren können. Im Bereich des Symbolischen ist (wie Freud in Bezug auf das Denken sagt) »ein Probehandeln mit Verschiebung kleinerer Besetzungsquantitäten« möglich; Manöver der ökonomischen Neuverteilung können hier gegen vergleichsweise kleine Widerstände und daher »unter geringer Verausgabung« von Energie ausgeführt werden.7 Zweitens wird die mimetische Verbreitung des Klassendenkens dadurch begünstigt, dass sie mit einer ›Belohnung‹ einhergeht. Von dem Literaturhistoriker Richard Terdiman stammt die Anregung, das Wort ›Klasse‹ als »ein Wort für die Verteilung von Macht« zu betrachten: »Selbst wenn die Differenz neutral sein könnte, so setzt doch der Akt des Klassifizierens selbst Macht voraus, in Form einer höheren Instanz, die dazu autorisiert ist, über die Zugehörigkeit zu den spezifizierten Kategorien zu unterscheiden.« 8 Sich selbst zum Klassifikator zu machen heißt eine Autorität für sich in Anspruch zu nehmen, wie sie einstmals nur Gott zukam, nämlich die Dinge zu unterscheiden, ihnen Namen zu geben 6  Zu Tarde, s. o., Kap. 6, Abschnitt »Erfindung und Nachahmung«. 7  Vgl. Sigmund Freud, »Formulierungen über die zwei Prinzipien des psychischen Ge-

schehens (1911)«, in: ders., Studienausgabe, hg. v. Alexander Mitscherlich, Angela Richards u. James Strachey, Frankfurt a. M.: Fischer, 1982, Bd. 3, 13 – 24, S. 20. 8  Terdiman, »Is there class in this class?«, S. 228.

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und sie in eine Ordnung zu bringen. Die Pioniere der Klassifikation verhehlen nicht den Genuss, den diese Selbstermächtigung abwirft. John Graunt hebt hervor, dass in seiner Tabellen-Arbeit »much pleasure« 9 liege, und Charles Davenant bezeichnet die Politischen Arithmetiker unverblümt als »such as love Computations« 10. Für die Durchsetzung des klassifikatorischen Prinzips dürfte diese bürokratische Mehr-Lust eine nicht unwesentliche Rolle gespielt haben: Ganz abgesehen von dem pragmatischen Nutzen, den die klassifikatorische Einteilung haben konnte, stiftete sie den Genuss, die unordentliche Erscheinungswelt einer eigenen, selbstgeschaffenen Ordnung zu unterwerfen – eine neue, umwegige Art des Genießens, die um 1700 in unterschiedlichen Bereichen Fuß zu fassen beginnt.

Klassifizierung als Gesellschaftsspiel Peter Stallybrass und Allon White haben gezeigt, wie die Londoner Theaterbesucher gegen Ende des 17. Jahrhunderts in doppelter Weise, äußerlich und innerlich, diszipliniert wurden: Zunächst ging es schlicht darum, das Publikum auf den Sitzen zu halten und damit die »zerstreute, heterodoxe und lärmende Partizipation am Ereignis des Theaters« 11 durch eine passive Rezeptionshaltung zu ersetzen. Darüber hinaus aber sollten die Zuschauer zu »›true judges‹, silent appreciators or critics« erzogen werden, die ihre »individual faculties of evaluation from the visceral pleasures of crowd behavior« zu trennen wussten.12 An die Stelle eines ständeübergreifenden Theatervergnügens, das sich auf die drastischen und körperlichen Aspekte der Darbietung konzentrierte, sollte eine besonnene, kunstrichterliche Haltung treten, die die Leistung von Autor und Schauspielern angemessen würdigen konnte. Wie Stallybrass und White betonen, geschah die »Formierung eines kultivierten, kosmopolitischen, innerlich disziplinierten Publikums« nicht über Nacht. Sie zog sich »über Jahrzehnte und sogar Jahrhunderte« hin und bildete damit eine »beinahe geologische Verschiebung in der kulturellen Schwelle der Scham und der Peinlichkeit, die das Auftreten des Körpers in der Öffentlichkeit regelt«.13 Dass aber diese großangelegte Transmutation der Theaterbesucher überhaupt stattfinden konnte, lag offenbar daran, dass es sich nicht nur um ein Manöver der Disziplinierung handelte: Es wurde vielmehr – nach Art einer Währungsreform – ein altes, außer Kurs geratenes Genießen gegen ein neues getauscht: Anstelle des groben und vergänglichen Spaßes, den die Vermischung der Körper und die temporäre Auflösung der Standesgrenzen bereiten konnten, traten die subtilen und dauerhaften Freuden der kritischen Einschätzung und kennerhaften Einordnung. 9  Graunt, Natural and Political Observations, S. 72. 10  Charles Davenant, An essay upon ways and means of supplying the war (1695), London,

1695, S. 79.

11  Stallybrass u. White, The politics and poetics of transgression, S. 87. 12  Ebd., S. 84. 13  Ebd., S. 85.

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Eine ähnliche Sublimationsbewegung findet sich bei den Kunst-, Antiquitäten- und Naturaliensammlern der Epoche. Zunehmend gehört es zum guten Ton, rare Dinge nicht einfach nur zu sammeln und zu besitzen, sondern sie zu ordnen und zu katalogisieren. An die Stelle einer undifferenzierten Begeisterung für Kuriositäten tritt »an almost obsessive concern with order and classification«.14 So kann es vorkommen, dass der Besucher einer Privatsammlung weniger die ausgestellten Stücke bemerkenswert findet als vielmehr »the care with which everything was classified and displayed«.15 Etwas von dieser neuen GentlemanLeidenschaft des Klassifizierens, Anordnens und Ausstellens scheint sich sehr bald auch auf die gewöhnlichen Leute übertragen zu haben. 1695 öffnete in London Don Saltero’s Coffee-house seine Pforten. Der Besitzer, James Salter, war Diener des Naturforschers Hans Sloane gewesen, der die größte Privatsammlung Londons unterhielt (aus ihr ging später das British Museum hervor). Sloane beschenkte seinen ehemaligen Untergebenen mit Duplikaten aus seiner Sammlung, und Salter würdigte die ›wissenschaftliche‹ Herkunft der Objekte, indem er sie nicht einfach zur Dekoration seiner Gasträume verwendete, sondern sie nach Museumsart präsentierte und in einem gedruckten Katalog erfasste.16 Ein wesentlicher Grund für den Erfolg der klassifikatorischen Ausstellungsdispositive – von den wissenschaftlichen Sammlungen bis zu den populären, jahrmarktsartigen Präsentationen von Kuriositäten aller Art – dürfte darin gelegen haben, dass sie das Niedrige und Verfemte in einer sozial akzeptierten Weise dem Genuss zugänglich machten: Dinge, die für sich genommen zu belanglos waren, um beachtet zu werden, konnten, eingereiht in eine Serie ähnlicher Dinge, an Interesse gewinnen; Wesen, die als einzelne, abnorme Hervorbringungen Ekel oder Furcht erweckten, wie Monstren oder Verrückte, konnten als Objekte der Zurschaustellung und vergleichenden Beobachtung eine neue Art des ästhetischen Vergnügens abwerfen. Ein solches Dispositiv zur Ausstellung abweichender Lebensformen stellte das Bethlem Royal Hospital dar, das 1676 nach Moorfields, außerhalb der Londoner Stadtgrenzen, umgezogen war. Robert Hooke hatte das Gebäude explizit mit Rücksicht auf einen regen Publikumsverkehr entworfen.17 Lange Galerien ermöglichten es den Londonern, an Feiertagen ausgedehnte Spaziergänge in ihrem ›Bedlam‹ zu unternehmen und durch die Zellenfenster Einblick in die verschiedenen Formen von Geisteskrankheit zu nehmen. Thomas Tryon, Autor des populären Ratgebers The Way to Health (1691), beklagt 1695, dass die »Gallant 14  Carol Gibson-Wood, »Classification and value in a seventeenth-century museum. Wil-

liam Courten’s collection«, Journal of the History of Collections, Jg. 9, N° 1, 1997, 61 – 7 7, S. 65.

15  So das Urteil von Sir John Evelyn nach dem Besuch der Sammlung des Naturforschers

William Courten, zit. nach ebd., S. 64.

16  Richard D. Altick, The shows of London, Cambridge, Mass., 1978, S. 17. 17  Vgl. Christine Stevenson, »Robert Hooke’s Bethlem«, Journal of the Society of Architectural

Historians, Jg. 55, N° 3, 1996, 254 – 275, S. 266.

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Structure of New Bethlem« 18 solche »Swarms of People« 19 anziehe, dass von einer Erholung der Patienten keine Rede mehr sein könne: »Tis a very Undecent, Inhumane thing to make, as it were, A Show of those Unhappy Objects of Charity.« 20

Abbildung 19: Kupferstich aus Jonathan Swift, A Tale of a Tub (zuerst 1704), London 1710. 18  Thomas Tryon, ›Philotheos Philologus‹, A Treatise of Dreams & Visions. Wherein the causes

natures and uses of nocturnal representations […] are theosophically unfolded, London, 1695, S. 289.

19  Ebd., S. 290. 20  Ebd., S. 290.

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Noch im alten Bedlam hatte es 1645 den Versuch gegeben, eine »therapeutischklassifikatorische Aufteilung« der Insassen vorzunehmen;21 zwischen 1657 und 1663 wurde zudem die bis dahin nicht konsequent gehandhabte Trennung männlicher und weiblicher Patienten durchgesetzt.22 Im neuen Gebäude von Moorfields gab es zumindest eine »grundlegende, informelle Einteilung«, nach der »die gewaltsameren Fälle auf die oberen Stockwerke« beschränkt sein sollten,23 eine Anordnung, von der der Bericht des Schweizer Reisenden César de Saussure (1725) einen Eindruck gibt: Eine lange und breite Galerie, die die gesamte Länge des Gebäudes einnimmt, gibt Zugang zu einer großen Zahl von kleinen Zellen, wo die Verrückten aller Arten eingesperrt sind, und die man durch kleine Luken [guichets] sehen kann. Diejenigen, die nicht gefährlich sind, gehen auf der Galerie spazieren. In der zweiten Etage gibt es einen Korridor und Zellen, ähnlich wie in der ersten. Dort sind die Wahnsinnigen eingesperrt, die meistens angekettet sind.24

Eine konsequente klassifikatorische Ordnung konnte offenbar vor allem deshalb nicht durchgeführt werden, weil die Erfordernisse des Publikumsverkehrs dem entgegenstanden. Umso wichtiger scheint es den Besuchern gewesen zu sein, im Wechsel von einer Zelle zur nächsten selbst eine Art Systematisierung der Krankheitsbilder vorzunehmen. Nach der Schilderung von Thomas Tryon fanden die Besucher, besonders wenn sie betrunken waren, ein Vergnügen darin, sich zu Experten in der Klassifizierung der Krankheiten aufzuwerfen, »going along from one Apartment to the other, and Crying out; This Woman is in for Love, That Man for Jealousie; He has Over-studied himself, and the like«.25 Von der gleichen Lust an der schnellen, typisierenden Einordnung spricht wenige Jahre später Ned Wards London Spy. Der Bericht von einem Besuch im »MadmansColledge« 26 von Bethlem gibt sehr gut den seriellen, von einem exemplarischen »Objekt« zum nächsten voranschreitenden Charakter der Besichtigung wieder: We then mov’d on till we found another remarkable Figure worth our observing;27 The next unhappy Object amongst this Shatter-Brain’d Fraternity, was a Scholar

21  Jonathan Andrews, Asa Briggs, Roy Porter, u. a., The history of Bethlem, London, 1997, S. 219. 22  Ebd., S. 229, Anm. 207. 23  Ebd., S. 219. 24  Saussure, Lettres et voyages de Monsr. César de Saussure en Allemagne, en Hollande et en Angleterre (1725 – 1729), S. 102. 25  Tryon, ›Philotheos Philologus‹, A Treatise of Dreams & Visions, S. 291. 26  Edward Ward, The London-Spy. Compleat, in eighteen-parts, London, 1703, S. 59. 27  Ebd., S. 61.

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of St. John’s Colledge in Cambridge, who was possess’d with Melancholy;28 We then took a walk into the Womens Apartment, to see what whimsical Figaries their wandering Fancies would have them to entertain us withal;29 The next poor Object that happen’d under our Observation, was a Meager old Gray Headed Wretch, who look’d as wild as an Angry Cat.30

Welten der Großstadt Es dauerte etwas, bis die populäre Klassifikationsleidenschaft, die sich zunächst auf kleine, überschaubare Arrangements konzentrierte, die größte Herausforderung annahm, die sich denken ließ: nämlich Ordnung in das zu bringen, was als eklatantester Fall von Unordnung gelten musste: »the great ocean of London«.31 Die Stadt, deren Bevölkerungszahl sich innerhalb eines Jahrhunderts fast verdreifacht hatte,32 wurde um 1700 als Ort einer fast unüberschaubaren sozialen, sprachlichen und kulturellen ›variety‹ und ›diversity‹ beschrieben. Das Großstadtleben erschien als Motor einer ständigen Ausdifferenzierung neuer Moden, Redeweisen und Konsumgewohnheiten, die jeweils ihre eigenen Lebenswelten erzeugten. Schon früh verband sich die Wahrnehmung des Wachstums der Stadt mit dem Eindruck ihrer zunehmenden Aufspaltung. Der später beliebte Topos von London als einer Vielzahl von Welten findet sich bereits in einer Stadtbeschreibung aus dem Jahr 1632: »SHE is growne so Great, I am almost affraide to meddle with Her; She’s certainely a great World, there are so many little worlds in Her«.33 Schon durch den grimmigen Titel – »London zerhackt und gevierteilt« 34 – ließ diese Schrift wissen, dass man sich von ihr kein harmonisches Gesamtbild Londons erhoffen durfte. »The great Bee-hiue of Christendome«, in Ebd., S. 62. Ebd., S. 63. Ebd., S. 64. James Boswell, The Life of Samuel Johnson, LL . D. In Two Volumes, London, 1791, S. 464. Vgl auch Daniel Defoe, The Great Law of Subordination consider’d. Or, the Insolence and Unsufferable Behaviour of Servants in England duly enquir’d into, London, 1724, S. 86: »London, like the Ocean, that receives the muddy and dirty Brooks, as well as the clear and rapid Rivers, swallows up all the scum and filth of the Country […].” Wahrscheinlich lassen sich aber auch frühere Belege für die Darstellung Londons als Ozean finden. 32  Von ca.  200.000 Einwohnern im Jahr 1600 stieg die Einwohnerzahl Londons auf ca. 575.000 im Jahr 1700, vgl. Leigh Shaw-Taylor u. E. A. Wrigley, »Occupational structure and population change«, in: Roderick Floud, Jane Humphries und Paul Johnson (Hg.), The Cambridge economic history of modern Britain. Volume 1:1700 – 1870, Cambridge, 2014, 53 – 88. 33  Donald Lupton, London and the countrey carbonadoed and quartred into seuerall characters, London, 1632, S. 1. 34  In seiner (heute nicht mehr gebräuchlichen) transitiven Form meint das Verb ›to carbonado‹ so etwas wie ›metzeln‹: »To cut or hack, as in combat« (carbonado – Wiktionary, 2018, online verfügbar unter: https://en.wiktionary.org/wiki/carbonado#English. Zuletzt geprüft am 14. Februar 2018) 28  29  30  31 

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dem sich »people of al Ages, Natures, Sexes, Callings« vermischten,35 war nur noch in fragmentierter Form zur Darstellung zu bringen.36 Wenn im 17. Jahrhundert die Vielfalt des Großstadtlebens als eigener Gegenstand der Faszination und der literarischen und künstlerischen Beschreibung hervortritt, so ist damit zunächst noch nicht der Anspruch einer vollständigen und systematischen Beschreibung verbunden, wie er gleichzeitig in der Naturgeschichte geltend gemacht wird. Die Erfahrung von Diversität und Varietät ist offenbar noch zu sehr an die Weisen der tatsächlichen Stadterfahrung gebunden, um umstandslos in eine klassifikatorische Ordnung überführt zu werden. So profitiert die Komödie der Restaurationszeit von der Entstehung neuer städtischer Milieus und Subkulturen; sie gewinnt daraus neue Schauplätze und neues Personal, sie bringt die Sprechweisen und Habitusformen frisch entstandener Sozialcharaktere auf die Bühne und registriert mit großer Genauigkeit die Ausdifferenzierungen des Londoner Slangs.37 Doch entwickelt das Theater des 17. Jahrhunderts nicht den Ehrgeiz, ›ganz London‹ auf die Bühne zu bringen oder für die neuen Gegenstände der Darstellung eine wie auch immer geartete klassifikatorische Ordnung zu finden. Ebenso verhält es sich mit der Reiseliteratur der Zeit: Das ästhetische Ideal der ›variety‹ verbindet sich hier nicht mit der Idee eines synchronen Überblicks über die ganze Vielfalt der Erscheinungen; es bleibt vielmehr gebunden an den Gang der Erfahrung, die es genießt, ›Abwechslung‹ zu haben, d. h. von einem Gegenstand zum anderen zu überzugehen und Sinneseindruck an Sinneseindruck zu reihen. Abschweifung, nicht Ordnung und Sammlung, ist das Erzählprinzip, das die populären ›travelogues‹ des späten 17. Jahrhunderts regiert. Wie John Dunton (der Herausgeber des Athenian Mercury) in seiner erfolgreichen Voyage around the world (1691) erklärt: »Digressions lead a Man into further Digressions«, aber dies müsse keineswegs ein Nachteil sein: eine gut gelenkte (»well manage’d«) Abschweifung bringe »a great Beauty to any discourse«.38 Dieses Prinzip blieb zumindest für die populäre Literatur verpflichtend: systematisierende Bestands-

35  Lupton, London and the countrey carbonadoed and quartred into seuerall characters, S. 1. 36  Entsprechend bietet das Buch auch nur eine etwas konzeptlose Stadtführung, die von

den bekannten (»The Tower«, »The Bridge«) zu den weniger bekannten (»Artillery Garden«, »Bedlam«) Sehenswürdigkeiten führt und nach dem Besuch typischer Vergnügungsorte (»Play-houses«, »Fencing-Schooles«) einen kurzen Blick auf die menschlichen »Creatures« des Großstadtlebens gestattet. Der Wechsel ins Register der Charakterbeschreibung ist jedoch nur von kurzer Dauer, und nach der Schilderung von »Fisher-woemen« und »Scauengers and Goldfinders« bricht die Darstellung unvermittelt ab. 37  So wird beispielsweise einem Theaterstück ein umfangreiches Glossar der »Cant«-Ausdrücke vorangestellt, vgl. »An Explanation of the Cant«, in Thomas Shadwell, The squire of Alsatia. A comedy, as it is acted by Their Majesty’s servants, London, 1688, o. P. 38  John Dunton, A voyage round the world, or, A pocket-library divided into several volumes, London, [1691], S. 142.

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aufnahme galt als pedantisch, assoziative Abschweifung dagegen als geistreich, als Äußerung von ›wit‹.39

Ned Wards London Spy So bildet die Unübersichtlichkeit der sozialen Beziehungen zwar ein beliebtes Motiv der Stadtbeschreibungen des 17. Jahrhunderts; es gibt jedoch zunächst nicht den Ehrgeiz, Formen der Darstellung zu schaffen, die das städtische Durcheinander einer neuen Ordnung zugeführt hätten. Allenfalls geht es darum, im irreduziblen Chaos der Metropole provisorische Möglichkeiten der Orientierung zu schaffen, und nur in diesem Zusammenhang werden gelegentlich klassifikatorische Zuordnungen vorgenommen. Für einen solchen ad hoc-Einsatz klassifikatorischer Verfahren steht die neuartige Form der Stadtbeschreibung, wie sie der Journalist Edward (Ned) Ward mit seinem London Spy (1698 – 1700) entwickelt hat. Ward, den man je nach Sympathie als den ersten Skandalreporter oder als den ersten Großstadtethnologen der Geschichte bezeichnen kann, war ein selbstbewusster Exponent der neuen Kultur des kommerziellen, tagesaktuellen Schreibens, die mit dem Namen Grub Street assoziiert wurde;40 ein Autor, der der High Church anhing und für die Tories Partei ergriff, dabei aber ostentativ auf seine einfache Herkunft und auf seine prekäre ökonomische Stellung verwies, humanistische Bildung ebenso ablehnte wie puritanischen Moralismus und an einfachen Genüssen und groben Ausdrucksweisen mehr Vergnügen fand als an höfischer Verfeinerung.41 Der außerordentliche Erfolg des London Spy hat wahrscheinlich damit zu tun, dass Ward in einer bis dahin nicht gekannten Weise das Lokale mit dem Reiz des Fremden auszustatten wusste. Tatsächlich waren Lokalnachrichten bis zur Jahrhundertwende kaum in der Presse vertreten; als berichtenswert erschienen allein »foreign news«,42 und auch Ward hatte zunächst vor allem auf die Marktgängigkeit des Exotischen gesetzt, so z. B. in seinen Reiseberichten aus Jamaika (1698) und Neuengland (1699), Ländern, die er wahrscheinlich nie besucht hat. The London Spy war dagegen das erste Produkt der neuen Massenpresse, das systematisch den Identifikationswert des Lokalen ausbeutete: eine Veröffentlichung, die den Lesern Gelegenheit gab, ihre Stadt und damit sich selbst im Spiegel zu sehen. Wards Serie von Reportagen nahm einen literarischen Kunstgriff auf, der durch Giovanni Paolo Maranas Fiktion eines türkischen Spions im Paris von Louis XIV 39  Die travelogues und das Ihnen zugrundeliegende Prinzip der ›digression‹ werden von Swift in dem 1693 – 97 verfassten A Tale of a Tub karikiert. 40  Sieh unten, Kap. 20, Abschnitt »Die Schreiber von Grub Street«. 41  Zu Wards Biographie vgl. Howard William Troyer, Ned Ward of Grub Street. A study of sub-literary London in the eighteenth century (1946), New York, 1968. 42  Vgl. Sommerville, The news revolution in England, S. 147.

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(1684) populär geworden war:43 Das Vertraute und Banale erhält den Glanz des Neuen und Ungewöhnlichen, wenn es aus der Sicht eines außenstehenden Beobachters dargestellt wird. Bei Ward ist dies ein weltfremder Gelehrter vom Lande, der der »itching inclination […] to visit London« nachgegeben hat und nun mit »Wonder and Amazement« durch »our Metropolis« taumelt.44 Ein Schulfreund, auf den er glücklicherweise gleich hinter dem Stadttor gestoßen ist, leistet ihm auf seinen Streifzügen Gesellschaft und steuert als Ortskundiger die nötigen Erklärungen bei. Die Erkundung der Stadt wird dadurch keineswegs systematischer. Jede monatliche Lieferung des London Spy berichtet von einem Spaziergang durch eine andere Gegend Londons, gelegentlich mit einem bestimmten Ziel, oft aber nur mit dem Vorsatz, die Straßen zu durchstreifen und zu sehen, was die Stadt zu bieten hat,45 eine Abschweifung und ein Sich-Verlieren, das keineswegs als Mangel oder Verlust erfahren wird, sondern vielmehr als einzig adäquate Form der Stadterfahrung erscheint:46 Being now quite out of our Knowledge we wandred about like a couple of Runaway Prentices, having confin’d our selves to no particular Port, Uncertainty being our Course, and meer Accident our Pilot.47

Für Ward handelt es sich offensichtlich nicht darum, London überschaubarer zu machen; die spaziergängerische Verfahrensweise dient vielmehr gerade dazu, die Unübersichtlichkeit zu betonen und die Stadt als ein ungeordnetes, chaotisches Gebilde vorzustellen. Dies entspricht ganz seiner politischen Haltung gegenüber der Stadt und der sie beherrschenden bürgerlich-puritanischen Kultur. Für Ned Ward, der zeitlebens gegen die Dissenters und ihren religiös verbrämten Geschäftsgeist polemisierte, ist die gute alte Ordnung des vorrevolutionären London 43  Vgl. Giovanni Paolo Marana, L’espion du Grand-Seigneur, et ses relations secrètes envoyées au divan de Constantinople, et découvertes à Paris, pendant le règne, de Louis le Grand, Amsterdam, 1684. 44  Ward, The London-Spy, S. 2. 45  Vgl. den Entschluss der beiden Spaziergänger, sich ins Nachtleben von London zu stürzen: »Having spent the time at the Tavern till about Ten a Clock with Mirth and Satisfaction. We were now desirous of prying into the dark Intrigues of the Town, to experiment what Pastime the Night-Accidents, the Whims and Frolicks of Staggering Bravados and Stroling Strumpets, might afford us.« Ebd., S. 23. 46  Eine verschlungene Linie des ›dérive‹ führt von den digressiven Formen der Stadterkundung im 18. Jahrhundert bis zu den psychogeographischen Experimenten der Situationisten. Vgl. Catharina Löffler, Walking in the city. Urban experience and literary psychogeography in eighteenth-century London, Wiesbaden, 2017. 47  Ward, The London-Spy, S. 322 Dieses Prinzip des offenen Ausgangs bestimmt auch die Anschlusslogik des Serienformats London Spy: Die Spaziergangsrouten stehen nicht von vorneherein fest, die Auswahl richtet sich nach aktuellen Ereignissen (Karneval, Lord Mayors Day, Weihnachten), und auch Leserreaktionen haben Einfluss auf »tone and substance« der einzelnen Episoden. Vgl. Briggs, »Satiric strategy in Ned Ward’s London writings«, S. 81.

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unwiederbringlich dahin; was die städtischen ›cits‹48 als Moral ausgeben, ist nur eine lächerliche Karikatur des früheren, anstrengungslos und selbstverständlich funktionierenden Gesetzes der Unterordnung.

Abbildung 20: William Hogarth, Industry & Idleness, 1747, Plate 12: The Industrious ’Prentice Lord-Mayor of London.

Am deutlichsten zeigt sich Wards Verachtung gegenüber allen Äußerungen bürgerlich-städtischen Selbstbewusstseins in seiner Schilderung eines Umzugs am Lord Mayor’s Day. Diese Veranstaltung, die dem Ruhm der Stadt dienen soll, erscheint in seinem Spottgedicht Hudibras redivivus als eine elende Schwundform früherer Herrschaftsrepräsentationen;49 sie ist weit entfernt von der »Solemn Grandure and Gravity«,50 mit der kirchliche und höfische Prozessionen das Bild einer harmonischen öffentlichen Ordnung beschworen.51 In this fine Order they proceeded, The Grave, the Wise, the Bullet-headed,

48  Zu der zeitgenössischen Unterscheidung von ehrwürdigem Geschäftsmann (»citizen«)

und vulgärem Emporkömmling (»cit«) vgl. Mackie, »Introduction«, S. 9.

49  Vgl. Neumann, Ned Wards London, S. 69 – 70. 50  Ward, The London-Spy, S. 292. 51  S. o., Kap. 13, Abschnitt »Die Ordnung der Prozession«.

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The Old, the Young, the Rich, the Needy, The pidling Puny, and the Greedy; The Tall, the Small, the Fat, the Meagre, The clumsy Lout, and Man of Figure; The Crasy, Gouty, and the Corny, The Cuckhold-maker, and the Horny; The Spendthrift, and the plodding Looby, The Nice, Sir Courtly, and the Booby; All mix’d, to let the Rabble see What wonderful Variety The City can at once afford.52

Es ist leicht zu erkennen, dass Ward die »wonderful variety« seiner Stadt nicht behagt. Den Gewinnern der neuen Ökonomie, den Geschäftsleuten, Advokaten und Schuldeneintreibern begegnet er mit Verachtung, und für die Verlierer, die Bettler, Lumpenhändler und Dirnen, hat er kein Mitleid übrig. Die modischen Kaffeehäuser schildert er als Orte des Lasters, der Heuchelei und des Fraktionsgeistes. Als letzte Häfen der guten alten Trinkkultur, als Zufluchtsorte des Frohsinns bieten sich allein die Tavernen an; dort findet sich noch ein wenig von der unkomplizierten Geselligkeit, die das alte London ausgezeichnet hatte. So wäre es für Ward ganz widersinnig, in diese Stadt eine Ordnung hineinzulesen, die sie nicht hat. Er weiß jedoch auch, dass die Bewohner von London Wege gefunden haben, um mit der Unordnung umzugehen; sie haben Formen der Zeichenlektüre und der kategorialen Einordnung entwickelt, durch die sie sich im Gewirr der städtischen Erscheinungen zurechtfinden. Wer es gelernt hat, die Stadt wie einen Text zu lesen, für den präsentiert sich eine öffentliche Promenade als eine »lebende Bibliothek«, in der die menschlichen Charaktere wie Buchstaben entziffert werden können: This, says my Friend, is called the Kings-Bench Walks, and here are a great many sorts of People, that are now walking to waste their time, who are well worth your Notice: We’ll therefore take two or three turns amongst ’em, and you will find ’em the best Living Library, to instruct Mankind, that ever you met with.53

Damit das Studium der Stadtbewohner instruktiv sein kann, muss die Aufmerksamkeit auf die feinen Unterschiede des Aussehens und die unscheinbaren Details des Verhaltens gelenkt werden. Dem geschulten Beobachter wird es gelingen,

52  Edward Ward, Hudibras redivivus. Or a burlesque poem on the times. In two volumes. The third edition, London, 1715, Vol. II , Part VI , Canto VI , S. 22. 53  Ward, The London-Spy, S. 155.

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den Verlierer eines Gerichtsprozesses am flüchtigen Wechsel der Gesichtsfarbe zu erkennen: You may know the Sufferers by their Pale Faces; the Passions of Hope, Fear, and Revenge, hath put them into such disorder, they are as easie to be distinguish’d in a Crowd by their Looks, as an Owl from a Hawk, or a Country Esquire from a Town Sharper.54

Die wichtigste Lektion in Wards Vademecum für Städtebewohner gilt dem Erwerb einer gleichsam intuitiven Klassifikationsfähigkeit. Von jedem auf der Straße begegnenden Individuum sogleich sagen zu können, zu welcher sozialen Gattung es gehört: Dieses Zuordnungsspiel wird im London Spy wie ein Sport betrieben, wobei die unausgesprochene Regel darin zu bestehen scheint, dass es sich bei den einzuordnenden Exemplaren um zufällig auftauchende »targets of opportunity« 55 handeln muss. Angesichts eines ungewöhnlichen Vorkommnisses erkundigt sich der Besucher, was es mit diesem »cluster«, »parcel«, »pack« oder jener »multitide« von Leuten auf sich habe, und der stadterfahrene Freund teilt umgehend mit, welcher »sort« oder »kind« die jeweiligen Individuen zuzuschlagen sind und auf welcher Stufe des Wohlstands oder des Elends sie verortet werden müssen. Natürlich kann Ward nicht einfach behaupten, dass er seine Streifzüge durch die Halb- und Unterwelten von London unternimmt, um die Neugier seiner Leser zu befriedigen; er muss dafür einen moralischen Vorwand finden: Wie das Vorwort verkündet, geht es darum, »vice and villany« 56 in all ihren Schattierungen auszuleuchten, damit kein gutgläubiger junger Mann auf der Suche nach Geselligkeit ihnen zum Opfer fällt. Während die Stadtlektüre mit feinen Differenzierungen arbeitet, sind die moralischen Urteile eher grobschlächtig. Wenn es um die Beschreibung der Armenquartiere und der gefährlichen Ecken Londons geht, häufen sich Einteilungsbegriffe, die eine abschätzige Beurteilung der Herkunft (»race«) enthalten, bzw. dem Strafsystem (»colony«) oder dem Militärwesen (»regiment«) entstammen. Das Klassifizierungsvokabular wird eingesetzt, um die Bewohner dieser Gegenden in einen Bereich jenseits des Menschlichen zu verweisen: They seem to me so unlike Gods Creatures, that I cannot but fancy them a Colony of Hell-Cats, Planted here by the Devil, as a Mischief to Mankind. Why, truly says my Friend, they are such an Abominable Race of Degenerate Reprobates, that they admit of no Comparison on this side Hells Dominions.57

54  55  56  57 

Ebd., S. 90. Briggs, »Satiric strategy in Ned Ward’s London writings«, S. 83. Ward, The London-Spy, o. P. [»To the Reader«]. Ebd., S. 149 – 150.

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You may here see the very Scum of the Kingdom in a Body, consisting of more Ragged Regiments, than ever, I believe, was Muster’d together gether at any other Rendezvous since the Worlds Creation.58

Wenn von Ward gesagt wird, dass er zum ersten Mal das Londoner »low life« einer realistischen Beschreibung zugeführt habe,59 so muss man einschränken, dass die hier geübte Mimesis des Gewöhnlichen noch sehr weitgehend der klassischen Stiltrennungsregel gehorcht: Niedrige Themen können nur unter der Bedingung zum Gegenstand der literarischen Darstellung werden, dass sie satirisch behandelt werden. Der bemüht witzige Tonfall Wards signalisiert an jeder Stelle, dass der Beobachter sich nicht mit dem Beobachteten gemein machen will; so etwas wie »sympathy and understanding for the lower orders« 60 oder »underclass solidarity« 61 leuchtet in Wards London Spy nur vorübergehend auf, so z. B. in der Episode, in der der Tourist und sein Freund sich wegen Missachtung der Sperrstunde im Gefängnis wiederfinden.62 Wenn es sich hier um Sozialreportage handelt, so hat sie den Charakter eines Zoobesuchs. Es entspricht dem jovialen Humor des London Spy, die Bewohner Londons als merkwürdige Tiere zu präsentieren, die allein aufgrund ihrer skurrilen Eigenschaften eine Beschreibung verdienen: »For the Readers further satisfaction, I will let him more plainly see what sort of Animal I mean, by Summing up his Outside and Inside in a brief Character.« 63 Ward selbst spielt auf die Beobachtungsweisen der Naturforscher an, wenn er vom Londoner Straßenleben als einem »Naturtheater« spricht: »I was mightily pleas’d at the various diverting Scenes, with which I was entertained in this Natural Theatre […].« 64 Die Schilderung eines Besuchs des Jahrmarkts Bartholomew Fair ist in dieser Hinsicht besonders aufschlussreich: Angesichts dieses »unusual piece of Disorder«, das wie »Hell in an Uproar« erscheint, ziehen der ›Spy‹ und sein Freund es vor, sich nicht in die Masse zu mischen, sondern das Spektakel von erhöhter Position aus zu betrachten: [W]e went into a convenient House to Smoke a Pipe, and over-look the Follies of the Innumerable Throng, whose Impatient Desires of seeing Merry Andrews Grimaces, had led them Ancle-deep into Filth and Nastiness, Crowded as close as a Barrel of Figs, or Candles in a Tallow-Chandlers Basket, Sweating, and Melting with the heat of their own Bodies.65 58  59  60  61  62  63  64  65 

Ebd., S. 333. Vgl. Sommerville, The news revolution in England, S. 146. Ebd., S. 146. Briggs, »Satiric strategy in Ned Ward’s London writings«, S. 86. Vgl. Ward, The London-Spy, S. 79 – 84. Ebd., S. 387. Ebd., S. 389. Ebd., S. 229 – 230.

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In der ersten Nummer des The London terræ-filius (1707), einer Serie von Charakterbeschreibungen, die an den Erfolg des London Spy anzuknüpfen versucht, wird diese Erhebung des satirischen-moralischen Beobachters über die närrische Masse schließlich programmatisch verkündet: »I stand upon a high Hill, and extend my Scourge to a great distance, for he […] need have a clear Prospect, and a long Whip, that takes the whole World for his House of Correction […].« 66 Was Ward von früheren Satirikern des Großstadtlebens wie Thomas Nashe oder Thomas Dekker abhebt, ist also nicht so sehr, dass er jede Moral abgestreift und sich dem zynischen Genuss der Unterschiede hingegeben hätte; zumindest versichert er mit einigem Pathos: »I love my Native Country […], but I abominate Divisions.« 67 Seine Sozialreportagen unterscheiden sich von den klassischen Charaktertypologien vor allem durch die Umkehrung des Zuordnungsverhältnisses von Exemplar und Gattung. Während die klassischen Formen des ›character writing‹ die Definition eines Typs oder einer Gattung voraussetzten und von dort aus ihre stereotypen, wiedererkennbaren Exemplare produzierten, besteht der Reiz des London Spy darin, von den auf der Straße begegnenden Erscheinungen auszugehen und zu fragen, welcher Gattung sie sich aufgrund der beobachteten Merkmale zuordnen lassen. Von den äußeren Anzeichen auf die zugrundeliegende ›Sorte‹ oder ›Art‹ zu schließen, dies ist das Verfahren der Spurenlese, das im London Spy unermüdlich geübt wird: I ask’d my Friend what he took them for? Who answer’d, They were a kind of first rate Punks by their Rigging, of about a Guinea purchase. I further queried, what reason he had to believe them to be Leachery-Layers? He reply’d, because they were sitting in a Head-Dressers-Shop; which, says he, is as seldom to be found without a Whore, as a Book-sellers Shop in Pauls Church Yard without a Parson.68

Diese Form einer zeichenhaften Interpretation des Sozialen ist dadurch charakterisiert, dass sie auch schiefgehen kann. So müssen der ›Spy‹ und sein Freund kapitulieren, als es darum geht, in einem Vergnügungslokal von Bartholomew Fair den sozialen Zusammenhang einer benachbarten Tischrunde zu ergründen: »Some Companies were so very odly mix’d, there was no manner of Coherence in the Figure of any one Person and another […].« 69 Zweifellos geht es bei Ward, wie schon in den burlesken Taxonomien der Renaissance, vor allem darum, die humoristischen Effekte der klassifikatorischen Zuordnung auszubeuten: Es ist lustig, es schafft intellektuelle Befriedigung, den 66  Edward Ward, The London terræ-filius: or, The satyrical reformer. Being drolling reflections on the vices and vanities of both sexes. Numb. 1, London, 1707, S. 2. 67  Ebd. 68  Ward, The London-Spy, S. 26. 69  Ebd., S. 258. Vgl. den Hinweis auf diese Szene bei Briggs, »Satiric strategy in Ned Ward’s London writings«, S. 82.

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Nebenmenschen auf einen allgemein bekannten Typus zu reduzieren. Darüber hinaus jedoch wird im London Spy das klassifikatorische Verfahren selbst zum Motor des Witzes. Wards Satire trifft nicht einzelne Stadtbewohner, und wenn sie eine bestimmte Gattung (wie z. B. die ›Beaus‹) ins Visier nimmt, handelt es sich niemals um den Versuch einer detaillierten Charakterbeschreibung. Gegenstand der belustigten Betrachtung ist vielmehr das Gewimmel der Unterschiede, der gesamte Mechanismus der subkulturellen Ausdifferenzierung, der die Londoner in eine unübersehbare Vielzahl einzelner, jeweils merkwürdiger Stämme spaltet. So lässt sich der London Spy als eine Komödie der Klassifikation betrachten – auch wenn das Wort ›Klasse‹ bei Ward noch nicht auftaucht.

Tom Browns Amusements Den Begriff der Klasse in das satirische Sortierspiel der Jahrhundertwende einzuführen, blieb einem anderen überlassen. Thomas (Tom) Brown, ein mit Ned Ward befreundeter Autor, der wie dieser allein vom Schreiben lebt, veröffentlicht 1700 seine Amusements serious and comical, calculated for the meridian of London, eine Publikation, die offenbar dazu gedacht ist, mit weiteren Großstadtenthüllungen an den Markterfolg von Wards London Spy anzuknüpfen. Ganz im Sinn von Wards empirischer Stadterkundung erklärt Brown: »I will neither Rob the Ancient, nor Modern Books, but Pillage all I give you from the Book of the World.« 70 Dieses Buch der Welt sei, so Brown, »a Book that ought to be read in the Original« – es könne nur durch eigene Erfahrung, durch »Traveling« erschlossen werden.71 Ironischerweise ist diese Authentizitätsgeste, die Zurückweisung der herrschenden Imitationspraxis, selbst nichts anderes als ein Imitat. Nicht nur das gesamte Vorwort, sondern auch Idee und Anlage seiner Amusements serious and comical hat Brown einem französischen Buch entnommen, das ein Jahr zuvor anonym unter dem Titel Amusemens Sérieux et Comiques erschienen war. Dieses hatte, dem Vorbild von Maranas L’espion du Grand-Seigneur (1684) folgend, die Stadt Paris aus der Sicht eines »voyageur siamois« geschildert, der, direkt aus den Wolken gefallen, im »chaos bruyant de la rue Saint-Honoré« 72 gelandet war. Browns Neuerung besteht darin, aus Paris London zu machen und den ›Siamesen‹ in einen »indian« zu verwandeln.73 Dieser stürzt »perpendicularly Brown, Amusements serious and comical, calculated for the meridian of London, S. 7. Ebd., S. 8. Charles Rivière Dufresny, Amusements sérieux et comiques (1699), Paris, 1921, S. 71. Wie beliebig diese Wahl ist, zeigt sich daran, dass durch den Text allein nicht so recht klar wird, aus welchem der »beiden Indien« – West oder Ost – Browns »indian« eigentlich stammt. Vgl. Hugh Ormsby-Lennon, »›Trips, Spies, Amusements‹ and the apogee of the public sphere«, in: Hermann Josef Real und Helgard Stöver-Leidig (Hg.), Reading Swift. Papers from the Third Münster Symposium on Jonathan Swift, München, 1998, 177 – 224, S. 195 Erst die Illustration in der späteren Werkausgabe vereindeutigt den »indian« zum nordamerikanischen Indianer. 70  71  72  73 

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from the Clouds« und findet sich unversehens in Temple-Bar wieder, »in the midst of this Prodigious and Noisy City«.74

Abbildung 21: Frontispiz zu Thomas Brown, The Third Volume of the Works of Mr. Thomas Brown. Containing Amusements Serious & Comical, London, 1708. 74  Brown, Amusements serious and comical, calculated for the meridian of London, S. 20.

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So durchsichtig Browns Plagiat war, den Zeitgenossen ist es nicht als solches aufgefallen, und so lasen sie als eine treffende Beschreibung Londons, was eigentlich auf Paris gemünzt war: LONDON is a World by it self. We daily discover in it more New Countries, and surprizing Singularities, than in all the Universe besides. There are among the Londoners so many Nations differing in Manners, Customs, and Religions, that the Inhabitants themselves don’t know a quarter of them.75

Weil dies nun mal die aus Frankreich übernommene Leitmetapher seines Buchs war, verwendet Brown als Begriff zur Sortierung seiner Londoner in erster Linie das Wort »Nation«, dies jedoch schon mit der Implikation von herablassender Beurteilung, von ›déclassement‹, die etwas später den Einsatz des Klassenbegriffs prägen sollte: Nay, how many different Nations are there of our English Ladies. In the first place there is the Politick Nation of your Ladies of the Town. Next the Savage Nation of Country Dames. Then the Free Nation of the Coquets. The Invisible Nation of the Faithful Wives, (the worst Peopled of all.) The Good-Natur’d Nation of Wives that Cuckold their Husbands, (they are almost forced to Walk upon one anothers Heads, their Numbers are so prodigious.) The Warlike Nation of Intriguing Ladies. The Fearful Nation of—, but there are scarce any of them left. The Barbarous Nation of Mothers-in-Law.76

Browns Hang zum Plagiat ist es zu verdanken, dass es nicht bei dem Sortierbegriff der »Nation« bleibt. Auch der Klassenbegriff findet nun Eingang in das Vokabular der englischen Gesellschaftsbeschreibungen. In der französischen Vorlage der Amusements war anlässlich der Beschreibung des Pariser Hofes von »courtisans de la première classe« 77 die Rede gewesen. Brown übernimmt diese Passage nicht, doch gerät der Begriff Klasse an einer anderen Stelle in den Text. Mit dem gleichen misogynen Unterton, mit dem er zuvor die »Ladies« in »Nations« eingeteilt hatte, spricht Brown nun von einer »Class of Irregular Women«.78 Auch wenn es sich zunächst um ein isoliertes Vorkommnis handelt, kann man doch sagen, dass mit Tom Browns Amusements der Klassenbegriff in die populäre Literatur einzieht. Wie in den folgenden Abschnitten näher belegt werden soll, wird er in den darauffolgenden Jahren zu einem intellektuellen Spielzeug, zugleich aber auch zu einem Instrument der Neubeschreibung des Sozialen. Mit seiner 75  76  77  78 

Ebd., S. 18. Ebd., S. 58. Dufresny, Amusements sérieux et comiques, S. 66. Brown, Amusements serious and comical, calculated for the meridian of London, S. 59.

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Hilfe versucht man, einen Zugriff auf die neuartigen gesellschaftlichen Zusammensetzungen zu gewinnen, die sich, wie Wards und Browns London-Reportagen zeigen, mit dem Raster der alten Standesbegriffe nicht mehr fassen lassen.

Medien der Politeness Die von Ned Ward und Tom Brown begonnene ironische Sortierung der Londoner in Habitus- und Lifestyleklassen wird bald darauf in wesentlich systematischerer Weise fortgeführt. Die von Richard Steele und Joseph Addison herausgegebenen Zeitschriften The Tatler (1709 – 1711) und The Spectator (1711 – 1712) heben sich schon durch ihre außerordentliche Verbreitung von den anderen Periodika der Zeit ab. Der Dramatiker John Gay glaubte, dass der Tatler den Betreibern der Kaffeehäuser mehr Kunden eingebracht habe »than all their other News Papers put together«.79 Der Spectator hatte eine Druckauflage von 3.000 und erreichte nach Addisons »modest Computation« etwa 20 mal so viele Leser, was angesichts der engen Verbindung mit dem Kaffeehausbetrieb eine wahrscheinlich nicht allzu große Übertreibung darstellt.80 Tatler und Spectator rekombinierten erfolgreich Elemente früherer Publikationen,81 und sie wurden ihrerseits häufig kopiert.82 Nach dem Ende des Tatler erschienen »Several Tatlers«, die alle von sich behaupteten, eine legitime Fortsetzung der Zeitschrift darzustellen.83 Zudem wurde der wesentliche stilistische Kniff des Tatler (wörtlich: ›der Plauderer‹), nämlich gedruckte Kommunikation als mündliche Konversation erscheinen zu lassen, von vielen Autoren schon im Titel ihrer Publikation imitiert: »One […] call’d himself The Growler […]. Another Gentleman […] call’d his Paper The Whisperer; and a Third […] Christen’d his, The Tell Tale.« 84 In politischer Hinsicht lassen sich Addison und Steele als Anhänger der WhigPartei und Exponenten der liberalen, handeskapitalistisch orientierten Strömung beschreiben.85 Doch der Erfolg des Tatler und seine ideologische Wirksamkeit ist darin zu sehen, dass er sich einer polemischen Parteinahme für die Partei der ›Modernisierungsgewinner‹ gerade enthält. Sein kommunikativer Einsatz 79  John Gay, anon., The Present State of Wit in a Letter to a Friend in the Country, London,

1711, S. 11. 80  Vgl. Joseph Addison, »The Spectator, N° 10. Monday, March 12, 1711«, in: The Spectator, hg. v. Henry Morley, Bd. 1, London, 1891, 41 – 44, S. 41. 81  Vgl. Erin Mackie, »Periodical papers and the market of public opinion«, in: dies. (Hg.), The commerce of everyday life. Selections from the Tatler and the Spectator, London, 1997, 41 – 46, S. 41. 82  Vgl. Parsons, Reading gossip in early eighteenth-century England, S. 107 – 108. 83  Gay, anon., The Present State of Wit in a Letter to a Friend in the Country, S. 17. 84  Ebd. 85  Vgl. Cowan, »Mr. Spectator and the coffeehouse public sphere«, S. 359: »Addison and Steele were indeed partisan capital ›W‹ Whigs who sought broadly to preserve the ›revolution principles‹ of 1688 – 89 […]«.

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besteht eher darin, eine Art historischen Kompromiss zwischen den verfeindeten Fraktionen der herrschenden Schicht auszuhandeln. Es geht um die Etablierung eines neuen, standesübergreifenden Konsenses, in dem sich moneyed wealth und landed wealth, aufstrebende Bourgeoisie und alter Landbesitz zusammenschließen und als neue gesellschaftliche Führungsschicht etablieren. Eine wesentliche Rolle spielt dabei das Paradigma der politeness, ein Diskurs der Sittenverfeinerung, der zunächst mit der »Tory-Kultur der Restauration« verbunden war, im ersten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts jedoch, insbesondere durch den dritten Earl of Shaftesbury, in ein »Whig-Idiom« verwandelt worden war.86 Die public sphere und ihre Kultur der politeness lässt sich auf diese Weise, wie Terry Eagleton gezeigt hat, als Instrument zur Formierung eines neuen »English ruling bloc« begreifen.87 Der durch Tatler und Spectator geprägte Diskurs der bürgerlichen Öffentlichkeit lebt »von der moralischen Zurechtweisung und satirischen Verspottung einer zügellosen, sozial regressiven Aristokratie; doch sein wichtigster Anstoß ist einer der Klassen-Konsolidierung, eine Kodifizierung der Normen und eine Regulierung der Praktiken, durch die die englische Bourgeoisie eine historische Allianz mit den sozial Höherstehenden aushandeln kann«.88 Zuspitzend könnte man sagen, dass die von Steele und Addison betriebene Sozialpädagogik darauf zielt, die mit der Glorious Revolution an die Macht gekommene Herrschaftskonstellation 89 auf Dauer zu stellen und ihr im Nachhinein nicht nur einen Code of Conduct, sondern auch so etwas wie eine ›Kultur‹ zu geben. Das von Steele und Addison vorangetriebene Reformprojekt konzentriert sich auf die Medien der neuen Öffentlichkeit: Kaffeehaus, Zeitung, Club usw. Die Herstellung oder Sicherstellung einer »rational public sphere« bildet dabei keineswegs das vorrangige Ziel.90 Wie Brian Cowan gezeigt hat, geht es Steele und Addison weniger um die Entfesselung des Diskurses als um die »Reformierung und Disziplinierung der öffentlichen Geselligkeit«:91 »Ein wesentlicher Aspekt dieses gesellschaftlichen Reformprojekts lag eher darin, Orte der öffentlichen Debatte, insbesondere der politischen, abzuschotten und zu beschränken als sie zu öffnen.« 92 Steele und Addison treten nicht als Verfechter einer allgemeinen Diskussionsfreiheit auf; sie werfen sich vielmehr in die Rolle von Ordnungswäch86  Katherine Clark, Daniel Defoe. The whole frame of nature, time and providence, Basingstoke England, New York, 2007, S. 21. Vgl. Lawrence Eliot Klein, Shaftesbury and the culture of politeness. Moral discourse and cultural politics in early eighteenth-century England, Cambridge, New York, NY , 1994. 87  Terry Eagleton, The function of criticism (1984), New York, 2005, S. 12. 88  Ebd., S. 10. 89  Vgl. Marx, »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band«, S. 751: »Die ›glorious Revolution‹ (glorreiche Revolution) brachte mit dem Oranier Wilhelm III . die grundherrlichen und kapitalistischen Plusmacher zur Herrschaft.« 90  Cowan, »Mr. Spectator and the coffeehouse public sphere«, S. 347. 91  Ebd., S. 346. 92  Ebd.

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tern, die die News- und Kaffeehausöffentlichkeit von ihren Kinderkrankheiten, von ihren Übertreibungen und lächerlichen Auswüchsen befreien wollen. Im Hintergrund ihres Versuchs, die Philosophie ins Kaffeehaus zu bringen 93 (und zugleich die Faulenzer, News-Addicts und Wichtigtuer hinauszuwerfen), steht der Kampf um die kulturelle Hegemonie: Letztlich geht es darum, den Medienverbund der ›liberalen‹, bürgerlichen Öffentlichkeit genauso reputierlich und staatstragend zu machen wie die Tory-Institution der Kirche.94 Vor diesem Hintergrund lässt sich die doppelte Erziehungsaufgabe verstehen, der sich die Autoren des Tatler und Spectator verschrieben haben: Wenn es einerseits darum geht, den bürgerlichen nouveaux riches die fehlenden Umgangsformen beizubringen und auf diese Weise die merkantile Mentalität in den Augen der Tories weniger verächtlich zu machen, so handelt es sich andererseits darum, die Anmaßungen des Adels zu bekämpfen und die törichten Extravaganzen des aristokratischen Lebensstils einzudämmen. Der im Spectator imaginierte »Spectator Club« führt vor, wie man sich das gesittete Miteinander des neuen und des alten Reichtums vorzustellen hat: In geselliger Runde trifft hier der whiggistische Kaufmann mit dem sprechenden Namen »Freeport« mit dem Tory-Grundbesitzer Sir Roger de Coverley zusammen, und die politische Gegensätze reduzieren sich auf kleine Unterschiede der ›Kultur‹, die zum Gegenstand belustigter Beobachtung werden können.95 Tatler und Spectator wollen also mehr sein als einfach nur ein Teil der public sphere; sie verstehen sich als Eingriffs- und Korrekturinstanzen, als Mittel zur Lenkung und Verbesserung der öffentlichen Kommunikation. Während der Tatler anfangs noch »foreign and domestic news« einstreut, werden diese bald nur noch satirisch behandelt und schließlich ganz aufgegeben. In der 18. Nummer erklärt Steele, er brauche keine »camps, fortifications, and fields of battle«; als »scenes of action« genügten ihm »coffee-houses, play-houses, and my own apartment«.96 Der Spectator wird später stolz darauf sein, »not […] a single Word of News« zu enthalten.97 Tatler und Spectator verbreiten gar nicht erst die Fiktion, dass sie 93  Vgl. Addison, »The Spectator, N° 10«, S. 42: »[…] and I shall be ambitious to have it said of me, that I have brought Philosophy out of Closets and Libraries, Schools and Colleges, to dwell in Clubs and Assemblies, at Tea-tables, and in Coffee-houses.« 94  Vgl. Cowan, »Mr. Spectator and the coffeehouse public sphere«, S. 349. 95  Vgl. Joseph Addison, »The Spectator, N° 126. Wednesday, July 25, 1711«, in: The Spectator, hg. v. Henry Morley, Bd. 1, London, 1891, 443 – 446, S. 445: »I do not know whether I have observed in any of my former Papers, that my Friends Sir ROGER DE COVERLEY and Sir ANDREW FREEPORT are of different Principles, the first of them inclined to the landed and the other to the moneyed Interest. This Humour is so moderate in each of them, that it proceeds no farther than to an agreeable Raillery, which very often diverts the rest of the Club.« 96  Richard Steele u. Joseph Addison, »The Tatler, N° 18. Saturday, May 21, 1709«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 1, London, 1898 – 1899, 151 – 159, S. 159. 97  Richard Steele, »The Spectator, N° 262. Monday, December 31, 1711«, in: The Spectator, hg. v. Henry Morley, Vol. 2, London, 1891, 193 – 196, S. 193.

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der Information dienten; sie verstehen sich als Social Media, als Medien, die vor allem dazu da sind, eine neue Art von Publikum zu adressieren und es damit zugleich zu konstruieren. Anstatt mit der Geschichte von Prinzen oder anderen »persons who act in high spheres« zu beeindrucken, will der Tatler lieber von gewöhnlichen Abenteuern berichten, »as befall persons not exalted above the common level« – ganz einfach deshalb, weil dies dem anvisierten Publikum die Identifikation erleichtern wird: This, me thought, would better prevail upon the ordinary race of men, who […] believe nothing can relate to them that does not happen to such as live and look like themselves.98

Mit solchen Worten (»the ordinary race of men«, »persons not exalted above the common level«) wird die Leserschaft des Tatler explizit als eine Gemeinschaft gefasst, deren Mitglieder sich und ihresgleichen an ihrem mittleren, vernünftigen, ›normalen‹ Lebensstil wiedererkennen: »such as live and look like themselves«. Die sozioplastische Funktion der Zeitschrift besteht darin, ein Medium der imaginären Identifikation zu schaffen, einen Spiegel, in dem die Anhänger der gemäßigten, mittleren Lebensweise sich als solche wiederfinden und damit als class of the polite bzw. als middle sort konstituieren können. In das Habermas’sche Entwicklungsschema, wonach die bürgerliche Öffentlichkeit sich zunächst als literarische Öffentlichkeit konstituiert habe, um sich dann, mutiger geworden, in eine politische Öffentlichkeit zu transformieren, lassen sich Blätter wie der Tatler und der Spectator kaum einfügen. Die ästhetische Kritik beschränkt sich hier keineswegs auf den Bereich der Literatur oder der Kunst, sie bezieht vielmehr alle sozialen Bereiche mit ein. Die hier hergestellte Öffentlichkeit ist eine, in der fast ausschließlich Privatsachen verhandelt werden, aber dieses Private ist von Anfang an politisch. So kann man, wenn man will, Addisons und Stelles periodische Zeitschriften als »precursors to today’s ubiquitous ›life-style‹ magazines« bezeichnen;99 man muss aber hinzufügen, dass es dabei nicht um individuelle Wellness ging, sondern darum, einer ganzen Gesellschaftsschicht den ›Stil‹ beizubringen, den sie brauchte, um sich als herrschende Schicht zu beweisen und durchzusetzen. Während die bürgerliche Öffentlichkeit daran arbeitete, die überkommenen ›divisions‹ zu lockern, während sie die sozialen Privilegien herunterspielte und die politischen Differenzen zur Nebensache erklärte, trat sie zugleich als eine Maschinerie zur Herstellung neuer Unterscheidungen in Aktion. Dabei handelt es sich um zwei ziemlich verschiedene Formen der Grenzziehung. Zum einen wurde 98  Richard Steele, »The Tatler, N° 72. Tuesday, May 16, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 3, London, 1898 – 1899, 303 – 308, S. 306. 99  Mackie, »Introduction«, S. 3.

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ein strenger Trennungsstrich zwischen innen und außen gezogen: Wie Terry Eagleton bemerkt hat, geht es bei Steeles und Addisons Versuch einer Neustrukturierung der public sphere um nicht weniger als »eine diskursive Reorganisation der gesellschaftlichen Macht, wobei die Grenzen zwischen den sozialen Klassen neu gezogen werden entlang einer Unterscheidung zwischen denen, die sich auf rationale Argumentation einlassen und denen, die das nicht tun«.100 Es wurde, mit anderen Worten, bestimmt, wer zur civil society gehören durfte, und wer nicht. Draußen bleiben mussten alle, die sich dem Verhaltenskodex der politeness nicht fügen wollten oder konnten, seien es Highway-men und Betrüger oder liederliche Aristokraten. Wie Addison erklärt, sollten die Engländer aufhören, ihre Mitbürger als Whigs oder Tories zu betrachten, sie sollten vielmehr unterscheiden, ob sie es mit einem »Mann von Verdienst« oder einem »Schurken« zu tun hätten. Ersterer sei natürlicherweise ein »Freund«, letzterer müsse als »Feind« betrachtet und zur Strecke gebracht werden: »We should then single every Criminal out of the Herd, and hunt him down, however formidable and overgrown he might appear […]«.101 Innerhalb der so eingefriedeten bürgerlichen Ordnung aber herrscht ein weniger grober Umgang. Hier hat man es mit den feineren Unterschieden zu tun: Der differenzierende Blick richtet sich auf die verzeihlichen Merkwürdigkeiten und Sonderbarkeiten des Charakters, auf den Reichtum der menschlichen Dummheiten und Eitelkeiten, auf die bunte Varietät der städtischen Rede- und Lebensweisen. Im Zentrum steht nun nicht mehr die Frage des Ein- oder Ausschlusses; es geht vielmehr um die Neuverteilung der Plätze nach den Kriterien der Tugend und des Verdienstes. Ständige wechselseitige Beobachtung und Verhaltenskorrektur – das ist das Spiel, das in der polite society gespielt wird; wer dazu gehören will, muss es mitspielen.

Der Tatler Der Tatler bringt dieses Spiel der moralisch-ästhetischen Dauerbeurteilung zur Darstellung – in ironischer Form, aber deswegen nicht weniger wirksam. Organisiert wird es durch den fiktiven Herausgeber namens Isaac Bickerstaff, Esq. Als unbestechlicher Moralist macht dieser sich daran, die unübersehbare Vielfalt von Skurrilitäten, aus denen sich der menschliche Kosmos zusammensetzt, in eine klassifikatorische Ordnung zu bringen. Der Redeweise der naturgeschichtlichen Taxonomien folgend werden die Vertreter sonderbarer Verhaltensweisen nach »species« geordnet:

100  Eagleton, The function of criticism, S. 12 – 13. 101  Joseph Addison, »The Spectator, N° 125. Tuesday, July 24, 1711«, in: The Spectator, hg. v.

Henry Morley, Bd. 1, London, 1891, 440 – 443, S. 443.

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The world is so overgrown with singularities in behaviour, and method of living, that I have no sooner laid before mankind the absurdity of one species of men, but there starts up to my view some new sect of impertinents that had before escaped notice.102

Abbildung 22: The Tatler, hg. von

Richard Steele und Joseph Addison, erste Ausgabe, 12. April 1709, recto.

Neue Typen des Londoner Gesellschaftslebens erscheinen als »new-born insects […] in their several species«;103 ein Individuum wird als »sample of a whole species« bezeichnet;104 angesichts mehrerer ähnlicher Exemplare fragt sich Bickerstaff, »whether we should make a distinct species of them«.105 Je nach betrachteter Situation richtet sich die Einordnungstätigkeit nach unterschiedlichen 102  Richard Steele, »The Tatler, N° 166. Tuesday, May 2, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 3, London, 1898 – 1899, 273 – 278, S. 273. 103  Steele, »The Tatler, N° 12«, S. 107. 104  Joseph Addison, »The Tatler, N° 157. Tuesday, April 11, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 3, London, 1898 – 1899, 227 – 233, S. 229. 105  Richard Steele, »The Tatler, N° 153. Saturday, April 1, 1710.«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 3, London, 1898 – 1899, 205 – 210, S. 209.

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Kriterien: Einmal werden die Müßigen und Faulen von den übermäßig Betriebsamen unterschieden, ein andermal die Faden und Geistlosen von den Quatschköpfen und Spaßvögeln: »[A]ll order and decency in this point is perverted by the insipid mirth of certain animals we usually call wags. These are a species of all men the most insupportable.« 106 Alternativ zu »species« verwendet Bickerstaff mindestens ebenso oft das Wort »class«, in Formulierungen wie diesen: [T]his Personage would make a great Figure in that Class of Men which I distinguish under the Title of Odd Fellows 107 this class of modern wits I shall reserve for a chapter by itself 108 A Defence of awkward Fellows against the Class of the Smarts 109 The fellows of this class are very frequent in the repetition of the words ›rough‹ and ›manly‹110 there is none but those of his own class who do not laugh at and avoid him 111 half the politicians about him […] are, by their place in nature, of the class of tooth-drawers 112

Der Begriff Klasse wird hier unverblümt als Instrument zur willkürlichen Einteilung von Menschen eingesetzt – und dies nicht, wie es zuvor der Fall war, innerhalb eines Spezialdiskurses der Altertumsgeschichte, der politischen Philosophie oder der Steuerpolitik, sondern in einer von Tausenden von Menschen gelesenen galanten Zeitschrift. Mit dem Tatler wird der Begriff der Klasse populär, er wird zu einem Medium der Polemik und zu einem Operator der symbolischen Distinktionskämpfe in der entstehenden polite society. Auch wird das Wort Klasse hier keineswegs aus Versehen oder wie nebenbei benutzt; der Begriff wird vielmehr ausdrücklich eingeführt und begründet. Im Tatler Nr. 162 berichtet Bickerstaff von einem neuen, höchst nützlichen Amt, das er eingerichtet und gleich selbst übernommen habe:

106  Richard Steele, »The Tatler, N° 184. Tuesday, June 13, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 3, London, 1898 – 1899, 362 – 366, S. 365. 107  Richard Steele, »The Tatler, N° 34. Tuesday, June 28, 1709«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 1, London, 1898 – 1899, 277 – 283, S. 281. 108  Richard Steele, »The Tatler, N° 77. Thursday, Oct. 6, 1709«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 2, London, 1898 – 1899, 200 – 205, S. 203. 109  Richard Steele, »The Tatler, N° 60. Saturday, August 27, 1709«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 2, London, 1898 – 1899, 74 – 80, S. 80. 110  Richard Steele, »The Taler, N° 244. Tuesday, Oct. 31, 1710.«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Vol. 4, London, 1898 – 1899, 242 – 247, S. 245. 111  Ebd., S. 246. 112  Steele, »The Tatler, N° 34«, S. 283.

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I at last resolved to erect a new office, and for my encouragement, to place myself in it. For this reason, I took upon me the title and dignity of Censor of Great Britain […].113

Abbildung 23: Die Figur des Isaac Bickerstaff, Esquire, Kupferstich, London, 1710.

113  Joseph Addison, »The Tatler, N° 162. Saturday, April 22, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 3, London, 1898 – 1899, 255 – 259, S. 255; Addison, »The Tatler, N° 162«, S. 256.

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Mit größter Selbstverständlichkeit beruft er sich dabei auf »the old Roman censors, whom I must always regard, not only as my predecessors, but as my patterns in this great employment« 114. Wie Bickerstaff mit Blick auf die römische Geschichte feststellt, kamen diesem Amt zwei wesentliche Funktionen zu: The first part of it consisted in making frequent reviews of the people, in casting up their numbers, ranging them under their several tribes, disposing them into proper classes, and subdividing them into their respective centuries.115

Diese erste Aufgabe habe er, Bickerstaff, in den bisherigen Ausgaben des Tatler schon ganz gut erfüllt: In compliance with this part of the office, I have taken many curious surveys of this great city. I have collected into particular bodies the Dappers and the Smarts, the Natural and Affected Rakes, the Pretty Fellows and the Very Pretty Fellows. I have likewise drawn out in several distinct parties your Pedants and Men of Fire, your Gamesters and Politicians. I have separated Cits from Citizens, Freethinkers from Philosophers, Wits from Snuffs-takers, and Duellists from Men of Honour.116

Das zweite Amt des Zensors bestehe in der moralischen Beurteilung der verschiedenen »sorts«, »classes«, »sets« of people und – gegebenenfalls – in strafenden Eingriffen: in der Degradierung, Deklassierung von Individuen, die sich nicht der Ordnung konform verhalten. »This duty«, so Bickerstaff, »likewise I have endeavoured to discharge«.117 Obwohl der Begriff des Zensors eine eher autokratische Verfahrensweise nahelegt, ist das Klassifikationsspiel, das sich auf dieser Grundlage entfaltet, durchaus vielstimmig, d. h. auf Publikumsbeteiligung angelegt. Die gewöhnliche Dramaturgie sieht ungefähr so aus: Isaac Bickerstaff wird von seinen Lesern über bestimmte merkwürdige Vorkommnisse des gesellschaftlichen Lebens unterrichtet, und seine Dienstleistung besteht darin, diese Erscheinungen in seiner Klassifikation des Sozialen unterzubringen. Bickerstaff berichtet aber auch von vorgeblichen Einordnungsproblemen und bittet die Leserschaft um Mithilfe bei der Klassifizierung ungewöhnlicher Charaktere:

114  115  116  117 

Addison, »The Tatler, N° 162«, S. 256. Ebd., S. 256. »Centuries« bezieht sich auf die ›Zenturien‹ der römischen Heeresordnung. Ebd., S. 256. Ebd., S. 257.

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It would be a very great obligation, and an assistance to my treatise upon Punning, if any one would please to inform in what class, among the learned who play with words, to place the author of the following letter.118

Angeblich bitten aber auch die Leser selbst um Einordnung: SIR , […] the favour I beg of you is, to know, […] in what part or class of men in

this town you will place me. Pray send me word what I am, and you shall find me, Sir, Your most humble Servant, JEFFRY NICKNACK .119

Und schließlich werden diejenigen, die sich mit der Bitte an Bickerstaff wenden, das Verhalten anderer zu rügen, umgehend selbst klassifiziert: The pretensions of this correspondent are worthy a particular distinction: he cannot indeed be admitted as a ›pretty,‹ but is, what we more justly call, a ›smart fellow.‹120

Anders als man denken könnte, verbirgt sich keinerlei dekonstruktive Absicht hinter Addisons und Steeles ironischem Classing. Es liegt nicht in ihrem Interesse, die Willkürlichkeit gesellschaftlicher Ordnungen offenzulegen, die Konstruiertheit sozialer Positionen vorzuführen oder die Wandelbarkeit der Identitäten hervorzuheben. Wenn ihnen an der Ständeordnung etwas missfällt, so jedenfalls nicht die Vorstellung, dass jeder und jede seinen und ihren angestammten Platz habe. Diese Idee ist ihnen vielmehr so wichtig, dass sie sie auf die Klassenordnung zu übertragen versuchen: As I was saying, there is a class which every man is in by his post in nature, from which it is impossible for him to withdraw to another, and become it. Therefore it is necessary that each should be contented with it, and not endeavour at any progress out of that tract.121

Die Idee, dass kein Wesen seine von der Natur vorgegebene ›Stelle‹ verlassen dürfe, erklärt die spezifischen Obsessionen und Besorgnisse, die Bickerstaffs Klassifikationsspiel heimsuchen. Wenn es darum geht, mit Hilfe des Klassenbegriffs eine stabile, quasi-natürliche Ordnung des Sozialen festzuhalten, so müssen all jene Elemente ein Ärgernis darstellen, die sich einer eindeutigen Merkmalsbestim118  Richard Steele, »The Tatler, N°35. Thursday, June 30, 1709«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 1, London, 1898 – 1899, 284 – 291, S. 289. 119  Steele, »The Tatler, N° 27«, S. 228. 120  Richard Steele, »The Tatler, N° 26. Thursday, June 9, 1709«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 1, London, 1898 – 1899, 214 – 222, S. 217. 121  Richard Steele, »The Tatler, N° 206. Thursday, Aug. 3, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 4, London, 1898 – 1899, 64 – 69, S. 67.

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mung entziehen oder durch ein willentliches Verwirrspiel falsche Zuordnungen erzeugen. Affektierte Reden und geziertes Gehabe erscheinen als mutwillige Versuche, die natürliche Ordnung der Unterscheidungen durch künstliche und gekünstelte Erkennungszeichen zu verdecken. Im Tatler tritt die Unsicherheit der Einteilung auf zwei Feldern als besonders störend hervor: dem der sozialen Ortsbestimmung und dem der geschlechtlichen Zuordnung. Dabei ist es mehr oder minder die gleiche Klientel, die in beiden Hinsichten für Ärger sorgt. Die »pretty fellows« scheinen Isaac Bickerstaff vor allem deshalb so zu beschäftigen, weil sich hier verschiedene Formen der Uneindeutigkeit überlagern. So lässt sich angesichts des Betragens der ›hübschen Burschen‹ nicht auf Anhieb sagen, ob die Überschreitung der geschlechtlichen oder die der sozialen Grenzen eine größere Rolle spielt, ob der größere Frevel in ihren effeminierten Verhaltensweisen liegt oder in ihrem albernen Gentleman-Mimicking. Die schillernde Erscheinung erzürnt den Zensor, fordert ihn aber auch zu besonderen Differenzierungsleistungen heraus. So unterscheidet Bickerstaff innerhalb der pretty fellows noch einmal nach der jeweiligen Art des künstlichen, imitativen Verhaltens. »Fop« und »Coxcomb« bilden zwei Sorten von Gecken, die auf unterschiedliche Art die Aufmerksamkeit der Frauen auf sich zu ziehen versuchen: der eine durch akkurate Kleidung, der andere durch Nachlässigkeit.122 Der »very pretty fellow« ist »a true woman’s man«, der die Gesellschaft der Frauen sucht und sich ihnen angleicht.123 Eine andere Fraktion bilden die »Inamoratos, or persons of the epicene gender, who gaze at one another in the presence of ladies«,124 von ihnen wird gesagt, dass sie sich im Kaffeehaus »with effeminate airs« einander nähern und sich »by the names of Betty, Nelly, and so forth« anreden.125 Die Gemeinsamkeit der pretty fellows besteht also in der Verweiblichung; dieser Verrat an der Männlichkeit kann jedoch verschiedene Formen annehmen. Was in Bickerstaffs Augen Homosexuelle, Transvestiten, ›Ladies’ Men‹ und stolze Schönlinge miteinander verbindet, ist vor allem die mimetische Neigung, die Preisgabe des »natural behaviour« und die Zuflucht zu allen nur denkbaren Formen der Künstlichkeit.126 Der Literaturwissenschaftler Michael McKeon hat bemerkt, dass der »protosoziologische Überblick«, den der Tatler über die Londoner Kaffeeausszene 122  Vgl. Richard Steele, »The Tatler, N° 14. Thursday, May 12, 1709«, in: The Tatler, hg. v.

George A. Aitken, Bd. 1, London, 1898 – 1899, 122 – 130, 128.

123  Joseph Addison, »The Tatler, N° 24. Saturday, June 4, 1709«, in: The Tatler, hg. v. George

A. Aitken, Bd. 1, London, 1898 – 1899, 198 – 206, S. 199. 124  Steele, »The Tatler, N° 27«, S. 225. 125  Steele, »The Tatler, N° 26«, S. 216. 126  Vgl. »In imitation of this agreeable being, is made that animal we call a Pretty Fellow; who being just able to find out, that what makes Sophronius acceptable, is a natural behaviour; in order to the same reputation, makes his own an artificial one.« Richard Steele, »The Tatler, N° 21. Saturday, May 28, 1709«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 1, London, 1898 – 1899, 175 – 184, S. 176.

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gebe, streng auf »gender characteristics« konzentriert sei, »to the exclusion, for example, of professional and status discriminants«.127 Diese Beobachtung ist vielleicht etwas zu überspitzt, denn der Tatler beschäftigt sich durchaus mit Statusfragen. Zudem erscheinen die geschlechtlichen Überschreitungen immer als sozial überkodiert, so dass z. B. die »effeminate airs« der Londoner beaux und mollies von den Zeitgenossen zugleich als Aspirationen auf eine höhere soziale Stellung wahrgenommen wurden. Doch insgesamt lässt sich sagen, dass dem Tatler die Geschlechtsverwirrung mehr Kummer bereitet als die Standesverwirrung. Dies zeigt sich, wenn man den Tatler mit einem anderen Blatt vergleicht, das standespolitisch konservativer auftritt, sich dafür aber geschlechtspolitisch größere Freiheiten erlaubt.

Der Female Tatler Der Female Tatler ist eines der vielen Erzeugnisse des Londoner Zeitungsmarkts, die den Publikationserfolg des Tatler zu kopieren versuchten. Das Blatt wurde erstmals im Juli 1709 veröffentlicht, wenige Monate, nachdem der Tatler auf den Markt gekommen war. Es hielt sich bis März 1710 und war damit die langlebigste unter den Tatler-Imitationen. Schon der Tatler hatte versprochen, etwas zum »entertainment to the fair sex« beizutragen,128 verriet aber durch seine herablassende Haltung gegenüber Frauen, dass ihm in erster Linie am männlichen Kaffeehaus-Publikum gelegen war. So kann die Veröffentlichung des Female Tatler als gewiefte Ausnutzung einer sich auftuenden Marktlücke gesehen werden; sie kann aber auch als politische Stellungnahme gegen die Genderpolitik des Tatler gelesen werden, insbesondere gegen Steeles und Addisons unterschwellige Bemühungen, die männlich dominierte public sphere von weiblicher Einmischung freizuhalten und den Wirkungskreis der Frauen auf den häuslichen Bereich zu beschränken.129 Der große Schrecken Isaac Bickerstaffs waren die Frauen, die das Gebot der stillen Zurückhaltung missachteten und »vehement in their eloquence« wurden: Eine Frau, die zuvor als »one of the Graces« erscheinen mochte, verwandelte sich dadurch unweigerlich »into one of the Furies«.130 Mehr noch als die verweiblichten Männer wurden im Tatler die vermännlichten Frauen gefürchtet. Frauen, die in traditionell als männlich betrachtete Sphären der Gesellschaft eindrangen, stellten die größere Gefahr für die gesellschaftliche Stabilität dar.131 127  Michael McKeon, »Historicizing patriarchy. The emergence of gender difference in

England, 1660 – 1760«, Eighteenth-Century Studies, Jg. 28, N° 3, 1995, 295 – 322, S. 313.

128  Steele, »The Tatler, N° 1«, S. 12. 129  Vgl. Mackie, »Introduction«, S. 20 – 21. 130  Richard Steele, »The Tatler, N° 217. Tuesday, Aug. 29, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George

A. Aitken, Bd. 4, London, 1898 – 1899, 114 – 118, S. 114. 131  Vgl. Anthony Pollock, Gender and the fictions of the public sphere, 1690 – 1755, New York, 2009, S. 99.

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Abbildung 24: The Female Tatler, N°. 21 (von Abigail Baldwin vertriebene Version), mit Crackenthorpe-Medaillon.

Als Autorin des Female Tatler präsentierte sich zunächst »Lady Crackenthorpe, a Lady that knows every thing«. Ob sich dahinter, wie Richard Steele unterstellte, die Tory-Journalistin und Verfasserin von Enthüllungsromanen, Mary Delarivier Manley verbarg, ist umstritten.132 Als gesichert gilt dagegen die Beteiligung von Bernard Mandeville, der offenbar wesentlichen Anteil an der »Society of Ladies« hatte, die im November 1709 die Redaktion des Female Tatler übernahm.133 Weil Mandevilles politische Position zu dieser Zeit »soundly and straightforwardly

132  Von einer Autorschaft Manleys gehen u. a. Paul Bunyan Anderson, Fidelis Morgan

und Anthony Pollock aus. Vgl. Paul Bunyan Anderson, »The history and authorship of Mrs. Crackenthorpe’s ›Female Tatler‹«, Modern Philology, Jg. 28, N° 3, 1931, 354 – 360; Fidelis Morgan, »Introduction«, in: dies. (Hg.), The Female Tatler, London, Rutland, Vt., 1992, vii–xi, S. vii-viii; Pollock, Gender and the fictions of the public sphere, 1690 – 1755, S. 75. Argumente gegen eine Autorschaft Manleys wurden u. a. von Walter Graham, Maurice Goldsmith, Rachel Carnell und Nicola Parsons vorgebracht. Vgl. Walter Graham, »Thomas Baker, Mrs. Manley, and the ›Female Tatler‹«, Modern Philology, Jg. 34, N° 3, 1937, 267 – 272, S. 267 – 270; Maurice M. Goldsmith, »Introduction«, in: Bernard Mandeville, By a Society of Ladies. Essays in the Female Tatler, hg. v. Maurice M. Goldsmith, Bristol, Sterling, VA , 1999, 11 – 74, S. 43 – 44; Rachel Carnell, A political biography of Delarivier Manley, London, Brookfield, Vt., 2008, S. 217; Parsons, Reading gossip in early eighteenth-century England, S. 108 – 110. Paula McDowell erwähnt in ihrem Kapitel über »Delarivier Manley’s Public Representations« an keiner Stelle eine mögliche Beteiligung Manleys am Female Tatler. Vgl. Paula McDowell, The women of Grub Street. Press, politics, and gender in the London literary marketplace, 1678 – 1730, Oxford, New York, 1998, S. 225 – 284. 133  Vgl. Maurice M. Goldsmith, »Public virtue and private vices. Bernard Mandeville and English political ideologies in the early eighteenth century«, Eighteenth-Century Studies, Jg. 9, N° 4, 1976, 477 – 510, S. 500; ders., »Introduction«, S. 44 – 45.

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Whig« war,134 glaubte Maurice Goldsmith eine Beteiligung von Manley ausschließen zu können: Es schien keinen Grund zu geben, warum eine Tory-Propagandistin an dem »Whiggish Female Tatler« hätte teilnehmen sollen.135 Doch muss man berücksichtigen, dass zwischen dem Female Tatler der ›Mrs. Crackenthorpe‹ und dem der ›Society of Ladies‹ ein deutlicher Bruch liegt. Die ersten 18 Nummern des Female Tatler wurden von dem Tory-Buchhändler Benjamin Bragge gedruckt und vertrieben, der nicht nur Manley’s The unknown Lady’s Pacquet of Letters (1707)136 sondern auch »eine Reihe von Defoe’s Tory-Propaganda-Arbeiten« verlegt hatte.137 Von Nr. 19 (17. – 19. August 1709) bis Nr. 44 (14. – 17. Oktober 1709) existierten zwei rivalisierende Versionen des Female Tatler, eine, die weiter von Bragge vertrieben wurde, und eine, die von der als Whig-Verlegerin bekannten Abigail Baldwin herausgegeben wurde.138 Beide Blätter nahmen für sich in Anspruch, von der originalen Mrs. Crackenthorpe verfasst zu sein.139 Seit Nr. 45 (17. – 19. Oktober 1709) erschien nur noch die von Baldwin verlegte Version, was möglicherweise damit zu tun hat, dass ihr Konkurrent Bragge in politische Schwierigkeiten geraten war: Er wurde am 14. November 1709 mit fünf anderen Tory-Druckern verhaftet.140 Von der Nr. 52 (2. – 4. November 1709) an verzichtete die Zeitschrift auf die Dienste von Lady Crackenthorpe und verkündete in der Unterzeile des Titels: »Written by a Society of Ladies«. Aufgrund dieser Indizien lässt sich vermuten, dass die Zeitschrift von ›toryistischen‹ Autoren (darunter möglicherweise Manley) begonnen wurde, dann 134  Ebd., S. 18. 135  Ebd., S. 43 – 44. 136  Vgl. Mary Delarivier Manley, anon., »The unknown lady’s pacquet of letters«, in: Ma-

rie-Catherine d’Aulnoy, Memoirs of the Court of England. In Two Parts. By the Countess of Dunois, London, 1707, 519 – 616. 137  Vgl. Jay Edward Oney, Women playwright during the struggle for control of the London theater, 1695 – 1710, doctoral dissertation, Ohio State University, 1996, online verfügbar unter: https://etd.ohiolink.edu/!etd.send_file?accession=osu1487940308431167&disposition=inline. Zuletzt geprüft am 20. Oktober 2018, S. 240. 138  McDowell spricht von »the Whig Abigail Baldwin«, vgl. McDowell, The women of Grub Street, S. 270. Baldwin war zugleich Schwiegermutter des Druckers James Roberts, bei dem die meisten der Werke Mandevilles erschienen, vgl. Goldsmith, »Introduction«, S. 46 – 47. 139  So behauptet die Mrs. Crackenthorpe der Baldwin-Version, sie sei durch »the first Printer of this Paper« betrogen worden und habe sich deshalb die Freiheit genommen, das Blatt woanders verlegen zu lassen. Der Drucker, also Bragge, habe dann die Frechheit besessen »to impose upon the Town a sham Paper, upon another Person’s Foundation«. The Female Tatler, N° 20. Monday August 22, 1709, London, o. P. [S. 2]. Doch sieht sich auch die andere Mrs. Crackenthorpe »affronted by [a] Spurious Paper published in her Name«. The Female Tatler, N° 22. Friday August 26, 1709, London, o. P. [S. 2]. Von der Nummer 23 an bittet sie die Leser, »to Continue their Correspondence, and direct for her as usual at Mr. Bragge’s in Pater-noster-row, where this Original and Genuine Paper is Published«. The Female Tatler, N° 23. Monday August 29, 1709, London, o. P. [S. 2]. 140  Vgl. John McTague, »The New Atalantis arrests. A reassessment«, The Library, Jg. 15, N° 4, 2015, 439 – 446, S. 442.

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aber – aus kommerziellen oder auch politischen Gründen – von einem eher ›whiggistisch‹ orientierten Team gekapert und mit einer neuen Blattlinie fortgeführt wurde. Mandeville dürfte wohl erst im November 1709, mit der Einführung der »Society of Ladies« dazugestoßen sein. Der Female Tatler lässt sich damit weder einfach als »whiggish« 141 bezeichnen noch umstandslos einem »libertine Tory feminism« 142 zurechnen. Die in den verschiedenen Versionen des Blatts auftretenden Stimmen sind kaum auf eine Linie zu bringen. So verraten viele Äußerungen der ›originalen‹ Mrs. Crackenthorpe ein robust konservatives Weltbild, während die ›zweite‹ Mrs. Crackenthorpe und später die Mitglieder der »Society of Ladies« eher libertäre Anschauungen vertreten. Allen Varianten des Female Tatler gemeinsam ist, dass sie unmittelbar auf den von Addison und Steele herausgegebenen Tatler reagieren und dessen Sortierspiel weitertreiben. Schon mit dem Namen Crackenthorpe deutet der Female Tatler an, dass auf seinen Seiten der Geist der Klassifikation regiert: Es handelt sich um eine Anspielung auf den scholastischen Logiker Richard Crakanthorpe, einen Schrecken des Schulunterrichts.143 Explizit an Bickerstaffs Zensorrolle anknüpfend macht sich Mrs. Crackenthorpe an die Klassifikation des Londoner Gesellschaftslebens, dies jedoch mit einer charakteristischen Neugewichtung der Beurteilungskriterien. Die für den Tatler so wichtige Einhaltung der Geschlechtergrenzen ist für den Female Tatler kein so dringendes Thema; hier scheint sich die Naturalisierung der Geschlechterkategorien und damit das, was man mit Thomas Laqueur als ›Erfindung‹ des biologischen Geschlechts bezeichnen kann,144 noch nicht durchgesetzt zu haben, oder genauer gesagt: Hier regt sich Widerstand gegen das – vom Tatler mitbetriebene – Normalisierungsunternehmen, für das nicht mehr so sehr der Stand, sondern in erster Linie das Geschlecht, einen festen »post in nature« darstellt, »from which it is impossible […] to withdraw to another, and become it«.145 Wie Anthony Pollock argumentiert hat, sollte man sich von den häufig konventionellen und konformistischen Urteilen des Female Tatler nicht täuschen lassen. Die hier eingesetzten Identitätskategorien stellten nicht »unvermeidlich bindende ontologische oder essentielle Charakteristika« dar; sie würden eher als arbiträre, wenngleich »gesellschaftlich notwendige Konstruktionen« betrachtet.146 141  Goldsmith, »Introduction«, S. 43 – 44. 142  Pollock, Gender and the fictions of the public sphere, 1690 – 1755, S. 76. 143  Crakanthorpe wird in der Philosophiegeschichte als »ill-tempered cleri[c]« geführt; vgl.

John A. Trentman, »Scholasticism in the seventeenth century«, in: Norman Kretzmann und Jan Pinborg (Hg.), The Cambridge history of later medieval philosophy. From the rediscovery of Aristotle to the disintegration of scholasticism, 1100 – 1600, Cambridge [Cambridgeshire], New York, 1982, 818 – 837, S. 837. 144  Vgl. Thomas Walter Laqueur, Making sex. Body and gender from the Greeks to Freud, Cambridge Mass., 1990, S. 149: »Sometime in the eighteenth century, sex as we know it was invented.« 145  Steele, »The Tatler, N° 206«, S. 67. 146  Pollock, Gender and the fictions of the public sphere, 1690 – 1755, S. 96.

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Anders als Pollock, der davon ausgeht, dass es eine »ideologisch vereinheitlichte Herausgebergruppe gab, die die Konstruktion und Selbstdarstellung der Zeitschrift lenkte«,147 muss man dabei jedoch der Differenz der Autorpositionen Rechnung tragen. Die Kritik an den Geschlechtszuschreibungen ist unbeständig und selektiv, und sie geht in den verschiedenen Versionen des Female Tatler unterschiedlich weit. So ist die ›originale‹ Lady Crackenthorpe, was die Verurteilung der verweiblichten Männer angeht, nicht weniger normativ als Isaac Bickerstaff: »effeminate fops, that drink milk and water« und »impudent beau-Jews, that talk obscenely in modest womens’ company« sollen zu ihrem Salon keinen Zutritt haben.148 Die ›zweite‹ (in der von Abigail Baldwin verlegten Zeitschrift schreibende) scheint sich dagegen der Festlegung auf die Rolle der ›bescheidenen Frauen‹ eher zu widersetzen; sie behauptet von sich, »the honour and interest of the ladies« mit der gleichen Inbrunst zu verteidigen »as the male Tatler does that of the gentlemen«.149 So streitet sie gegen den Ausschluss der Frauen aus der Öffentlichkeit und berichtet beispielsweise, dass sie sich in »men’s apparel« geworfen habe, um eine Anatomiestunde im »Physicians College« besuchen zu können.150

Abbildung 25: The Female Tatler, No. 52, erste Ausgabe mit neuer Autorinnen-Angabe: »Written by a Society of Ladies«. 147  Ebd., S. 76. Die Differenz der Positionen von Mandeville und Manley spielt Pollock

systematisch herunter, indem er von »Manley’s Mandevillian world« (Ebd., S. 82), von ihrer »Mandevillian anthropology« (Ebd., S. 95) oder von »Manley’s Mandevillian theory of human behavior« (Ebd., S. 96) spricht. Insgesamt erscheint der Female Tatler bei Pollock als ein »tory-feministisches« (Ebd., S. 113) Projekt, das unter den Namen »Manley« subsumiert wird (Vgl. ebd., S. 76). 148  The Female Tatler, N° 3. Wednesday July 13, 1709, London, o. P. [S. 1]. 149  The Female Tatler, N° 29. Monday September 12, 1709, London, o. P. [S. 1]. 150  Vgl. The Female Tatler, N° 33. Wednesday September 21, 1709, London, o. P. [S. 2].

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Explizit angegriffen wird die polite society und ihre Ideologie der Normalisierung und Naturalisierung schließlich von Lucinda und Artesia, zwei Autorinnen der »Society of Ladies«, hinter denen mit hoher Wahrscheinlichkeit Bernard Mandeville steckt. Im Female Tatler Nr. 88 geht Artesia auf die Verfahren der Unsichtbarmachung des weiblichen Geschlechts ein. Wenn es, wie von »Male Critics« immer wieder hervorgehoben werde, nur wenige »Famous Women in History« gebe, die »Eminent enough« seien, um es mit »Men of the first Rank« vom Typ Alexander oder Cäsar aufzunehmen, so liege dies nicht daran, dass es entsprechend tugendhafte Frauen nicht gegeben habe oder gebe. Es habe vielmehr damit zu tun, dass Eigenschaften wie Mut oder Tugend nur auf den obersten Stufen der Hierarchie bemerkt würden – Machtpositionen, von denen die Frauen systematisch ausgeschlossen worden seien: Since Men have enslav’d us, the greatest part of the World have always debar’d our Sex from Governing, which is the Reason that the Lives of Women have so seldom been describ’d in History […].151

Der ›Feminismus‹ des Female Tatler artikuliert sich also in ziemlich unterschiedlichen Formen, von der Herabsetzung ›weibischer‹ Männer bis zum Ansatz einer sozialkonstruktivistischen Theorie des Geschlechts. Was all diese Female-TatlerVarianten gemeinsam haben, wird sichtbar, wenn man sie mit Steeles und Addisons Tatler vergleicht. Die auf die Versöhnung von altem und neuem Reichtum, von landed wealth und moneyed wealth, angelegte Position des Tatler erlaubte eine Lockerung der Standesgrenzen, fixierte und naturalisierte aber gleichzeitig die Geschlechtergrenzen. Dagegen lässt sich der Female Tatler ein Spiel mit den Geschlechtsrollen gefallen, erweist sich aber als humorlos, wenn es um die gesellschaftliche Hierarchie geht. So geschieht es, dass ein Gentleman-Magazin vor allem um die Feinheiten der geschmacklichen und sexuellen Identitäten kreist, während eine Frauenzeitschrift die Frage des sozialen Unterschieds aufwirft. Weil die Hauptbesorgnis von Mrs. Crackenthorpe den Problemen der gesellschaftlichen Positionierung gilt, bekommt hier das Spiel mit der Klasse eine andere Färbung als bei Isaac Bickerstaff, der eher die verbotenen Reize der Geschlechterüberschreitung im Blick hat. Die Aufmerksamkeit des Female Tatler konzentriert sich vor allem auf die Nachahmungssucht der »inferior Classes«, die sich »in their Habits of Mind, as well as Body« die Distinktionszeichen der »Better Sort« aneignen.152 Diese »Deceitfulness of most Mens Appearance« untergräbt zunehmend die »Distinction of Rank«, von der doch alle wissen, dass sie »highly

151  Bernard Mandeville, anon., The Female Taler, N° 88. From Friday January 27, to Monday

January 30, 1710, London, o. P. [S. 1].

152  The Female Tatler, N° 1. Friday July 8, 1709, London, o. P. [S. 2].

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necessary for the Oeconomy of the World« ist.153 Offenbar hat das Bewusstsein dieser Gefahr die Autoren des Female Tatler dazu gebracht, die Formen mimetischer Klassenüberschreitung genau zu beobachten und festzuhalten. Ihrer alarmierten Wahrnehmung verdanken wir die folgende Szene eines Status-Voguing, die sich im Oktober 1709 in Jacob’s Coffee-house abgespielt haben soll: To Mrs. Crackenthope. MADAM , IN your Paper of October 5. You have, I think, very properly advis’d Mechanicks to observe a Decorum in their Dress, and ’tis indisputably equally as requisite, that they shou’d observe the same in their Airs. In this Latter, the Automatarius Faber, is as ridiculous and singular as in the former […]. He pretends a Politeness in his Discourse of News, and thinks himself among Mr. Bickerstaff’s Class of Smart Fellows. I was at Jacob’s the other Night, and standing at the Barr, with a nonpareil Air in the Step, in bolts our Champion, my Lord Duke, and the Alderman, they took a turn or two in the Coffee-Room, then assum’d to themselves a whole Seat. Come, says one of them, Voulez vous, My Lord Duke, one Pinch of Orangeree? My Lord commends it with ten thousand sort Bon’s, and calls for a Dish of Water […]. They call’d for the written and printed Papers with an audible Voice; damn’d Jacob’s tardy Waiters, curs’d the Candles, and saluted each other at every Word, with my Lord, Duke, Alderman, &c. After I had stay’d about an Hour, and was quite tir’d with their ridiculous Nonsensical Chat, and was just going: up starts the Major; Come, says he, to my Lord; Voulez vous aller elle est deux heure. My Lord reply’d aloud, De tout mon Cœur, and then the three royal Champions march’d towards the Barr, and fumbling a considerable time, at last depos’d two Copper Griggs, and sallied out.154

Und schließlich hat der Female Tatler auch sehr genau verfolgt, mit welcher Geschwindigkeit sich in der gesellschaftlichen Ökonomie der Nachahmungen die begehrenswerten Plätze und Positionen verschieben konnten. Besser informiert als ihre Leser, bittet Lady Crackenthorpe darum, sie nicht länger mit Berichten über »footmen« [Botenjungen] zu belästigen, die sich als »Lawyers Clerks« ausgeben. Dies sei Schnee von gestern, man finde diese Leute nun vielmehr »every Day mimicking Quality, at the Groom Porters, Mary-Bone, and New-Market«,155 d. h. in den Spielkasinos, Parks und auf den Rennplätzen der besseren Gesellschaft.156

The Female Tatler, N° 17. Monday August 15, 1709, London, o. P. [S. 1]. The Female Tatler, N° 42. Wednesday October 12, 1709, London, o. P. [S. 1]. The Female Tatler, N° 40. Friday October 7, 1709, London, o. P. [S. 2]. Zu den genannten Vergnügungsorten vgl. Anon., The Whole Art and Mystery of Modern Gaming Fully Expos’d and Detected, London, 1726, S. 24.

153  154  155  156 

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Der Spectator Von März 1711 bis Dezember 1712 gaben Steele und Addison die Zeitschrift The Spectator heraus, die sechsmal wöchentlich und damit doppelt so oft wie der Tatler erschien.157 Mit seiner täglichen Erscheinungsweise, einer Druckauflage von 3.000 Stück und einem professionellen Vertrieb glich der Spectator einer Tageszeitung,158 präsentierte sich jedoch als unpolitischer »Diurnal Essay«, der »not […] a single Word of News, a Reflection in Politics, nor a Stroak of Party« enthalte.159 Das Klassifizierungsprojekt des Tatler wurde im Spectator fortgesetzt, allerdings mit einer bezeichnenden Veränderung: An die Stelle des altmodischen Moralisten Sir Isaac Bickerstaff, dem der Tatler die Züge eines Gentleman-Originals verliehen hatte, trat nun »Mr. Spectator«, buchstäblich ein Mann ohne Eigenschaften, der in der ersten Nummer der neuen Zeitschrift über sich sagte: »I live in the World, rather as a Spectator of Mankind, than as one of the Species.« 160 Während Bickerstaff eine feste Adresse hatte (»my appartment«), die den Mittelpunkt seines Korrespondenznetzes bildete und von der aus er seine Zensor-Urteile fällte, legt Mr. Spectator den größten Wert darauf, inkognito zu bleiben. Um seine Anonymität und Ungreifbarkeit entfaltet sich in den ersten Nummern der Zeitschrift ein regelrechter Kult: »I am frequently seen in most publick Places, tho’ there are not above half a dozen of my select Friends that know me […]«.161 Mr. Spectator steht für eine durch und durch modern zu nennende Form des Rückzugs aus der Welt. Den größten Genuss der Einsamkeit findet er nicht im Studierzimmer, sondern als unerkannter Einzelner im Menschengewühl. Die Gratifikationen, die diese »publick sort of Obscurity« gewähre, seien so groß, dass es ihm regelrecht Freude mache, wenn er zufällig höre, dass andere ihn als »That strange Fellow« oder »Mr. what-d ye-call-him« bezeichneten.162 Nichts sei ihm dagegen unangenehmer, als wenn man versuche, ihn »out of that Obscurity« zu ziehen: »for the greatest [pain] I can suffer, [is] the being talked to, and being stared at. It is for this Reason likewise, that I keep my Complexion and Dress, as very great Secrets«.163 Dieser geheimdienstliche Habitus 164 paart sich mit dem stolzen Bewusstsein, einen Standpunkt außerhalb der betrachteten Welt und damit eine überlegene ErVgl. Mackie, »Introduction«, S. 2. Vgl. Warner, »Publics and counterpublics«, S. 69. Steele, »The Spectator, N° 262«, S. 193. Joseph Addison, »The Spectator, No. 1. Thursday, March 1, 1711«, in: The Spectator, hg. v. Henry Morley, Bd. 1, London, 1891, 4 – 10, S. 8 – 9. 161  Ebd., S. 6. 162  Richard Steele, »The Spectator, N° 4. Monday, March 5, 1711«, in: The Spectator, hg. v. Henry Morley, Vol. 1, London, 1891, 20 – 24, S. 21. 163  Addison, »The Spectator, No. 1«, S. 9 – 10. 164  Für die Zeitgenossen war erkennbar, dass der Spectator das Spy-Motiv (L’Espion Turc, London Spy) fortschrieb. Ein 1711 erschienenes Pamphlet, das dem Spectator die Ungreifbarkeit 157  158  159  160 

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kenntnisposition einzunehmen. Wie Mr. Spectator selbst verkündet, sei es gerade seine Enthaltung von »any Practical Part in Life«, die ihn befähige, die »Errors in the Oeconomy, Business, and Diversion of others« zu erkennen, »better than those who are engaged in them«.165 Die klandestine Beobachtung der »Follies of Mankind« 166 verbindet sich hier mit dem traditionellen Motiv der kontemplativen, interesselosen Weltbetrachtung, die lange als Privileg des ›leisured Gentleman‹ galt, die aber nun, wie Mr. Spectator nahelegt, einer umfassenderen »Class of Men« zugänglich geworden ist, die auch bürgerliche Berufe mit einschließt: In the next Place, I would recommend this Paper to the daily Perusal of those Gentlemen whom I cannot but consider as my good Brothers and Allies, I mean the Fraternity of Spectators who live in the World without having any thing to do in it; and either by the Affluence of their Fortunes, or Laziness of their Dispositions, have no other Business with the rest of Mankind but to look upon them. Under this Class of Men are comprehended all contemplative Tradesmen, titular Physicians, Fellows of the Royal Society, Templers that are not given to be contentious, and Statesmen that are out of business. In short, everyone that considers the World as a Theatre, and desires to form a right Judgment of those who are the Actors on it.167

Ein weiterer Unterschied zwischen Tatler und Spectator liegt im Wechsel des Referenzmediums: Während Isaac Bickerstaff sich als Zensor des Kaffeehausuniversums verstand, besteht Mr. Spectators Anschluss an die Welt im ›Spectator Club‹, einer Runde von ›typischen‹ Charakteren, die ein repräsentatives Bild der Gesellschaft geben sollen:168 THE Club of which I am a Member, is very luckily composed of such Persons as

are engaged in different Ways of Life, and deputed as it were out of the most conspicuous Classes of Mankind: By this Means I am furnished with the greatest Variety of Hints and Materials, and know every thing that passes in the different Quarters and Divisions, not only of this great City, but of the whole Kingdom.169

seiner Hauptfigur vorhielt, nannte sich ganz konsequent »The Spy upon the Spectator«, vgl. Scott Paul Gordon, The power of the passive self in English literature, 1640 – 1770, Cambridge, UK , New York, 2002, S. 99. 165  Addison, »The Spectator, No. 1«, S. 9. 166  Joseph Addison, »The Spectator, N° 7. Thursday, March 8, 1711«, in: The Spectator, hg. v. Henry Morley, Bd. 1, London, 1891, 31 – 34. 167  Addison, »The Spectator, N° 10«, S. 42. 168  Vgl. Scott Black, »Social and literary form in the Spectator«, Eighteenth-Century Studies, Jg. 33, N° 1, 1999, 21 – 42, S. 25. 169  Joseph Addison, »The Spectator, N° 34. Monday, April 9, 1711«, in: The Spectator, hg. v. Henry Morley, Bd. 1, London, 1891, 129 – 132, S. 129 – 130.

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Der Club erscheint damit nicht nur als ein Medium der vertrauten Kommunikation – der einzige Ort, an dem Mr. Spectator sein habituelles Schweigen bricht –,170 er wird auch als ein Erkenntnisinstrument begriffen, eine Art optisches Dispositiv, mit dem Mr. Spectator seine Sehkraft erweitert und »the whole Kingdom« in den Blick bekommt. Anthony Pollock hat die These vertreten, dass der Spectator, entgegen dem Anschein einer vielstimmigen Kommunikation, ganz dem Ideal der visuellen Repräsentation verpflichte sei. Addison und Steele hätten sich die public sphere nicht (à la Habermas) als »eine Form von dialogischer, konversationeller Geselligkeit« vorgestellt, sondern vielmehr im Sinne eines »Zuschauermodells von Öffentlichkeit«.171 Weit davon entfernt, eine Öffentlichkeit gutzuheißen, in der jeder sein Urteil über politische Angelegenheiten abgeben konnte (ein warnendes Beispiel gibt die Figur des »political Upholsterer« aus dem Tatler ab 172), hätten sie ihr Journal vielmehr als eine Schule des Sehens verstanden: Der Spectator, gestützt auf die Sehhilfe des ›Spectator Club‹, sorgte für die richtige Sicht der Dinge und gab sie an seine Leser weiter.173 Das offensichtliche Spiel mit der Metaphorik des Sehens und die ebenso deutlich hervortretende Absicht der Verhaltenskontrolle und moralischen Korrektur haben manche Kritiker dazu gebracht, nicht nur die Kunstfigur Mr. Spectator, sondern das ganze Zeitschriftenprojekt des Spectator als ein »Eye of Power« zu betrachten, ein perfides Instrument der Überwachung und Disziplinierung im Sinn des von Foucault beschriebenen Panopticons: »Der vorgebliche Verfasser des Spectator ist eine unsichtbare, aber allgegenwärtige Gottes-Figur, die alle Leser gleichzeitig beobachten kann.« 174 Scott Gordon, der diese Interpretation am weitesten getrieben hat, glaubt, dass der »controlling gaze« 175 des Mr. Spectator ihm eine veritable »coercive power« 176 verliehen habe: »Mr. Spectator’s powerfully voyeuristic gaze« 177 sei bewusst eingesetzt worden, um die Beobachteten in ständiger »anxiety« zu halten;178 die tägliche Bloßstellung der Laster im Spectator habe immer auch »the threat of public humiliation« mit sich geführt.179

170  Vgl. Addison, »The Spectator, No. 1«, S. 8: »[…] I never open my Lips but in my own

Club.«

171  Pollock, Gender and the fictions of the public sphere, 1690 – 1755, S. 55. 172  Der »Political Upholsterer« als Beispiel eines hoffnungslosen Nachrichtenabhängigen

wird eingeführt in Joseph Addison, »The Tatler, N° 155. Thursday, April 6, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 3, London, 1898 – 1899, 218 – 222. 173  Vgl. Pollock, Gender and the fictions of the public sphere, 1690 – 1755, S. 60. 174  Gordon, The power of the passive self in English literature, 1640 – 1770, S. 88 – 89. 175  Ebd., S. 89. 176  Ebd., S. 88. 177  Ebd., S. 107. 178  Ebd., 103. 179  Ebd., S. 97.

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Zunächst erscheint es nicht abwegig, »Mr. Spectator as a ›father‹ of surveillance technologies« zu betrachten.180 Der im Spectator durchgespielte Kniff der unsichtbaren Beobachtung hat jedoch mit der geschlossenen Anordnung des Panopticons wenig zu tun; es handelt sich eher um eine literarische Aneignung von Verfahren des Spionage- und Spitzelwesens, wie sie in England spätestens seit Francis Walsingham, dem Sicherheitsbeauftragten von Königin Elizabeth, bekannt waren. Die Erfindung des Spectator kann darin gesehen werden, dass er die Suggestion der unsichtbaren Dauerbeobachtung dem zivilen Auftrag der moralischen Verbesserung unterstellte – eine Art der Verhaltenssteuerung, die in der Freimaurerei und den Geheimbünden des 18. Jahrhunderts in Gestalt der ›unbekannten Oberen‹ sehr effektiv eingesetzt werden sollte.181 Allerdings muss man sich, gerade wenn es um eine so spielerisch und ironisch auftretende Publikation wie den Spectator geht, vor dem hüten, was William Walters treffend als »Panoptizitis« bezeichnet hat: ein »Tunnelblick«, der dazu führt, dass Forscher »an allen möglichen unerwarteten Orten« auf die von Foucault beschriebenen »Praktiken der Überwachung und (Selbst-)Disziplin« stoßen.182 So kann von einer effektiven Überwachungsfunktion des Spectator wie auch von einer Drohung der individuellen »humiliation« 183 keine Rede sein; die Zeitschrift legte vielmehr Wert auf die Feststellung, dass sie keine »popular Topics of Ridicule« sowie »no private Scandal, nor any Thing that may tend to the Defamation of particular Persons, Families, or Societies« enthielt.184 Erklärtermaßen ging es dem Spectator um »the Crime as it appears in a Species, not as it is circumstanced in an Individual«.185 Auch Gordon gesteht zu, dass es sich bei dem Überwachungsszenario des Spectator um eine »Phantasie« gehandelt habe; er nimmt jedoch an, dass die Zeitschrift selbst allen Ernstes diesem Phantasma verfallen sei, »indem sie den machtvollen voyeuristischen Blick von Mr. Spectator absichtlich konstruiert und ununterbrochen aufrechterhalten« habe.186 Es gibt jedoch im Spectator keinen naiven Allmachtstraum. Die Überwachungsphantasie des Mr. Spectator wird vielmehr ganz bewusst als solche ausgestellt und, wie alles andere, ironisch behandelt. Keiner der Club-Genossen käme auf die Idee, die Zurückhaltung und

180  Ebd., S. 89. 181  Vgl. Stephan Gregory, Wissen und Geheimnis. Das Experiment des Illuminatenordens,

Frankfurt a. M., 2009, S. 164 – 165. William Walters, Governmentality. Critical encounters, Hoboken, 2012, S. 52. Gordon, The power of the passive self in English literature, 1640 – 1770, S. 97. Steele, »The Spectator, N° 262«, S. 193. Richard Steele, »The Spectator, N° 17. Monday, March 19, 1711«, in: The Spectator, hg. v. Henry Morley, Vol. 1, London, 1891, 64 – 67, S. 66. 186  Gordon, The power of the passive self in English literature, 1640 – 1770, S. 90. 182  183  184  185 

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Zurückgezogenheit ihres »lieben Spec« 187 mit einem »omnipotent gaze« 188 in Verbindung zu bringen; seine Abneigung gegen »being talked to, and being stared at« 189 werten sie vielmehr als Ausdruck seiner »natural Shyness«.190 So ist Roger de Coverley, der diese Schüchternheit und die Abneigung seines Freundes gegen das impertinente Volk der »Starers« kennt,191 sehr darum bemüht, ihm das Ungemach des Erblicktwerdens zu ersparen: Sir ROGER , who is very well acquainted with my Humour, lets me rise and go to Bed when I please, dine at his own Table or in my Chamber as I think fit, sit still and say nothing without bidding me be merry. When the Gentlemen of the Country come to see him, he only shews me at a distance: As I have been walking in his Fields I have observed them stealing a Sight of me over an Hedge, and have heard the Knight desiring them not to let me see them, for that I hated to be stared at.192

Zudem gibt es im Spectator sehr wenige Hinweise, die es gestatten würden, Mr. Spectator als »omnipresent God-figure« 193 zu beschreiben. Jemand, der es als sein einziges Vergnügen betrachtet, »to know a little of the World, and be of no Character or Significancy in it«,194 lässt sich kaum als machtversessen bezeichnen. Eine der wenigen Szenen, die auf eine panoptische Stellung des Mr. Spectator hindeuten könnten, ist die panoramatische Schilderung Londons aus dem Spectator N°403, die das aus Tom Browns Amusements bekannte Bild einer in zahlreiche »Nations« gespaltenen Stadt aufnimmt: WHEN I consider this great City in its several Quarters and Divisions, I look upon it as an Aggregate of various Nations distinguished from each other by their respec187  Mr. Spectator’s Freund Will Honeycomb redet ihn leger als »Dear Spec« an, vgl. Joseph Addison, »The Spectator, N° 131. Tuesday, Juli 31, 1711«, in: The Spectator, hg. v. Henry Morley, Bd. 1, London, 1891, 458 – 460, S. 460. 188  Gordon, The power of the passive self in English literature, 1640 – 1770, S. 103. 189  Addison, »The Spectator, No. 1«, S. 9 – 10. 190  Richard Steele, »The Spectator, N° 132. Wednesday, August 1, 1711«, in: The Spectator, hg. v. Henry Morley, Bd. 1, London, 1891, 460 – 463, S. 461. 191  Die »Insolence of Starers« (Joseph Addison, »The Spectator, N° 250. Monday, December 17, 1711«, in: The Spectator, hg. v. Henry Morley, Bd. 2, London, 1891, 150 – 153, S. 153.) ist ein Dauerthema im Spectator. Vgl. z. B. Richard Steele, »The Spectator, N° 20. Friday, March 23, 1711«, in: The Spectator, hg. v. Henry Morley, Vol. 1, London, 1891, 78 – 80, S. 78: »Ever since the SPECTATOR appear’d, ›have I remarked a kind of Men, whom I choose to call, Starers, that without any Regard to Time, Place, or Modesty, disturb a large Company with their impertinent Eyes.« 192  Joseph Addison, »The Spectator, N° 106. Thursday, July 2, 1711«, in: The Spectator, hg. v. Henry Morley, Bd. 1, London, 1891, 380 – 383, S. 380. 193  Gordon, The power of the passive self in English literature, 1640 – 1770, S. 88. 194  Richard Steele, »The Spectator, N° 454. Monday, August 11, 1712«, in: The Spectator, hg. v. Henry Morley, Vol. 3, London, 1891, 114 – 118, S. 114.

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tive Customs, Manners and Interests. […] In short, the Inhabitants of St. James’s, notwithstanding they live under the same Laws, and speak the same Language, are a distinct People from those of Cheapside, who are likewise removed from those of the Temple on the one side, and those of Smithfield on the other, by several Climates and Degrees in their way of Thinking and Conversing together.195

Dies mag nach einer Art Sicht ›von oben‹ klingen, doch machen zahlreiche andere Schilderungen klar, dass Mr. Spectator sein Wissen von der Stadt nicht aus kartographischen oder statistischen Überblicken bezieht, sondern dass er es sich, als ein wahrer ›Mann der Menge‹, auf langen Streifzügen erarbeitet hat.196 So berichtet er, dass er eines frühen Morgens um vier Uhr »out of […] a certain busie Inclination one sometimes has«, beschlossen habe, »to rove by Boat and Coach for the next Four and twenty Hours, till the many different Objects I must needs meet with should tire my Imagination […]«.197 Nur in der Erfahrung des Umherschweifens, die gerade keine synchrone Übersicht hervorbringt, lässt sich z. B. erkennen, dass die Bewohner der Großstadt nicht nur durch räumliche, sondern auch durch zeitliche Grenzen voneinander getrennt sind: The Hours of the Day and Night are taken up in the Cities of London and Westminster by People as different from each other as those who are born in different Centuries. Men of Six a Clock give way to those of Nine, they of Nine to the Generation of Twelve, and they of Twelve disappear, and make Room for the fashionable World, who have made Two a Clock the Noon of the Day.198

Weit davon entfernt, dem Objektivitätsideal des ›Tableau‹ zu entsprechen, wird der Blick des Mr. Spectator selbst von Neugier und der Sucht nach Abwechslung getrieben. Es wäre daher falsch, das im Spectator betriebene Ordnungsspiel umstandslos mit dem Funktionieren der von Foucault beschriebenen panoptischen Dispositive zu identifizieren. Mr. Spectator ist kein zentrales Gottes-Auge, sondern ein sich bewegendes Spionage-Auge. Anstatt die Erscheinungen vor sich zu ordnen, nimmt Mr. Spectator ihre Verfolgung auf, ganz buchstäblich z. B. bei der stundenlangen Jagd (»chase«), die er unternimmt, um hinter das Geheimnis einer »Young Lady« zu kommen, die scheinbar ziellos mit der Kutsche unterwegs ist. In diesem Fall beginnt er seine Beobachtungen mit der festen Überzeugung, dass die junge Frau der »family of Vainloves« [die den Männern den Kopf verdrehen] zugehört, lässt sich aber später vom Kutscher belehren, dass es sich um 195  Joseph Addison, »The Spectator, N° 403. Thursday, June 12, 1712«, in: The Spectator, hg.

v. Henry Morley, Bd. 2, London, 1891, 691 – 693, S. 691.

196  Zur Alternative »Voyeure oder Fußgänger« vgl. Certeau, Kunst des Handelns, S. 179 – 182. 197  Steele, »The Spectator, N° 454«, S. 114. 198  Ebd.

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einen »Silk-worm« handele, eine jener Frauen »who ramble twice or thrice a Week from Shop to Shop, to turn over all the Goods in Town without buying any thing«.199 Wesentlich an dem von Mr. Spectator betriebenen klassifikatorischen Spiel ist der provisorische, gleichsam schwebende Charakter der Einordnung: Die in ihrer zeitlichen Folge mitgeteilten Beobachtungen werden laufend bewertet und untereinander abgeglichen, sie werden jedoch nicht einem einheitlichen, von vorneherein feststehenden Raster unterworfen. Wie Joseph Addison hervorgehoben hat, zielten seine für den Spectator geschriebenen »Occasional Papers« nicht auf »Subjects that […] are for ever fixt and immutable«, sondern auf höchst veränderliche Erscheinungen wie »the Folly, Extravagance, and Caprice of the present Age«.200 Ihre adäquate Darstellung finden solche »Contingent Subjects« 201 nicht in panoramatischen Tableaus, sondern in der ›irregulären‹ Form der essayistischen Erzählung: WHEN I make Choice of a Subject that has not been treated on by others, I throw

together my Reflections on it without any Order or Method, so that they may appear rather in the Looseness and Freedom of an Essay, than in the Regularity of a Set Discourse.202

Wenn der Spectator das im Tatler begonnene Unternehmen der klassifikatorischen Einordnung fortsetzt, so geschieht dies in einer Weise, die der Unmöglichkeit Rechnung trägt, eine sich laufend neu neuzusammensetzende Stadt in einem synchronen Bild, einem ›Tableau‹ einzufangen. Die klassifikatorischen Anstrengungen des Mr. Spectator laufen nicht auf »klare Räume« hinaus, »in denen die Dinge nebeneinandertreten«; sie münden nicht in »ein zeitloses Rechteck, in dem die Wesen […] sich nebeneinander mit ihren sichtbaren Oberflächen darstellen«.203 Anstelle eines starren tabellarischen Rasters findet man im Spectator eher das, was Staffan Müller-Wille die »unruhige Tiefe« des Tableaus genannt hat:204 das ganze Ensemble der Beobachtungs-, Sammlungs- und Sortiervorrichtungen, die die Arbeit der Klassifizierung leisten, die aber im fertigen Tableau, dem Schaubild der Ordnung, nicht mehr sichtbar sind. So hat die ›essayistische‹ Klassifizierung des Spectator kaum etwas mit der Darstellungsform des Tableaus 199  Ebd., S. 115 – 116. 200  Joseph Addison, »The Spectator, N° 435. Saturday, July 19, 1712«, in: The Spectator, hg.

v. Henry Morley, Bd. 3, London, 1891, 54 – 57, S. 54. 201  Ebd., S. 55. 202  Joseph Addison, »The Spectator, N° 249. Saturday, December 15, 1711«, in: The Spectator, hg. v. Henry Morley, Bd. 2, London, 1891, 147 – 150, S. 147. 203  Foucault, Die Ordnung der Dinge, S. 172. 204  Staffan Müller-Wille, »Carl von Linnés Herbarschrank. Zur epistemischen Funktion eines Sammlungsmöbels«, in: Anke te Heesen und Emma C. Spary (Hg.), Sammeln als Wissen. Das Sammeln und seine wissenschaftsgeschichtliche Bedeutung, Göttingen, 2001, 22 – 38, S. 33.

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gemeinsam, umso mehr dagegen mit den Beobachtungs- und Sortierpraktiken der Naturforscher, mit ihren ›Sammlungsmöbeln‹ und Registraturschränken: Dies ist der gewöhnlich verborgene Bereich ›unter‹ dem Tableau, in dem noch laufend herumgeschoben, umsortiert und korrigiert wird. So wie der Herbarschrank des Carl von Linné »nicht dazu da« war, »die gesammelten Herbarblätter in eine endgültige und fixe Anordnung zu bringen«,205 so sollten auch die von Mr. Spectator vorgenommen Beurteilungen nicht »for ever fixt and immutable« sein;206 beide Klassifikationsdispositive waren »vielmehr darauf angelegt, einen ständigen Strom von Sammlungsmaterial auffangen und in Bewegung halten zu können«.207 Die nervöse Zeitlichkeit des ›Diurnall Essay‹ schien noch am ehesten geeignet zu sein, um mit den sich ständig verändernden Einteilungsweisen der Londoner Gesellschaft Schritt zu halten. Sie ermöglichte eine flexible Klassifizierung, die jederzeit an neue Wahrnehmungen angepasst werden konnte.

Ironischer Normalismus Die beschriebenen Klassifikationsübungen sollten durchaus ernstgenommen werden, allerdings nicht in der falschen Weise. Zumindest muss man in Rechnung stellen, dass vieles von dem, was um 1700 in der und für die Öffentlichkeit produziert wird, geradezu zwanghaft ›ironisch‹ oder ›witzig‹ ist. Dass Habermas zu der Vorstellung eines vernünftig argumentierenden bürgerlichen Publikums gekommen ist, hat möglicherweise auch damit zu tun, dass er die Ironiesignale des Kaffeehauses und der angeschlossenen Printmedien übersehen hat.208 Wenn er Tatler und Spectator umstandslos als »moralische Wochenschriften« bezeichnet,209 so entgeht ihm, was diese Blätter von den schwerfälligen Publikationen unterschied, die im Deutschland des 18. Jahrhunderts unter diesem Titel erschienen. Addison und Steele kam es erklärtermaßen darauf an, »to enliven Morality Ebd., S. 26. Addison, »The Spectator, N° 435«, S. 54. Müller-Wille, »Carl von Linnés Herbarschrank«, S. 26. So führt Habermas das 1674 erschienene Pamphlet »The Womens Petition Against Coffee« als Beleg dafür an, dass die »allabendlich verlassenen Frauen der Londoner Gesellschaft […] einen handfesten, aber vergeblichen Kampf gegen die neue Institution« des Kaffeehauses führten (Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 49 und 300, Anm. 11). Zu einem solchen Urteil wäre wohl kein zeitgenössischer Leser dieses »libertinistischen Spottgedichts« gekommen (vgl. Ellis, »Introduction [to volume 1]«, S. xlvi). Die auf ein Zitat gestützte Behauptung, der Tatler habe sich »ausdrücklich an die ›worthy citizens who live more in a coffeehouse than in their shops‹« (Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 307 – 308, Anm. 36.) gewendet, verkennt den spöttischen Klang der Formulierung »worthy citizens« – im Original wird deutlich, dass Isaac Bickerstaff nicht viel von den notorischen Kaffeehausbesuchern hält, deren Gedanken so von Nachrichtengerede absorbiert sind, »that they forget their customers« (Addison, »The Tatler, N° 155«, S. 222). 209  Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 59. 205  206  207  208 

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with Wit«.210 Anstatt die Leser zu ermahnen und zu drängen, sollten sie durch eine Ästhetik der Abwechslung, des Witzes und der Überraschung für die Kultur der politeness gewonnen werden.211 Die moralische Belehrung war stets ironisch gebrochen, insbesondere dadurch, dass sie von exzentrischen, selbst keineswegs unanfechtbaren Charakteren vorgetragen wurde. Wie der Dramatiker John Gay bewundernd feststellte, hatte diese Kommunikationsstrategie einen außerordentlichen Erfolg: Bickerstaff ventured to tell the Town, that they were a parcel of Fops, Fools, and vain Cocquets; but in such a manner, as even pleased them, and made them more than half enclin’d to believe that he spoke Truth.212

Wenn Tatler und Spectator, wie man sehr wohl behaupten kann, der Verhaltenskontrolle und -lenkung dienten, so taten sie es nicht in der Weise der humorlosen Ermahnung, der disziplinarischen Aufsicht oder der Einschüchterung durch eine »anxiety of ceaseless observation« 213. Selbst wenn von Maßnahmen die Rede ist, die ein wenig nach ›Überwachen und Strafen‹ klingen, sollte man nicht vorschnell glauben, dass die Zeitschriften tatsächlich unmittelbare Disziplinar- und Kontrolleffekte hervorgebracht hätten. Vielmehr muss auch hier der Betriebsmodus der Ironie in Rechnung gestellt werden. So weist Issac Bickerstaff im Tatler immer wieder stolz darauf hin, welche Früchte seine Arbeit als Zensor von Großbritannien bereits getragen habe und wie weit seine Klassifikationsmacht in den Alltag seiner Leser hineinwirke. In einer Nummer fordert er beispielsweise die Stutzer und Gecken der Stadt auf, durch bestimmte Abzeichen (»marks upon themselves«) deutlich zu machen, »to what class they belong«:214 A cane upon the fifth button shall from henceforth be the type of a Dapper; redheeled shoes, and a hat hung upon one side of the head, shall signify a Smart; a good periwig made into a twist, with a brisk cock, shall speak a mettled fellow; and an upper lip covered with snuff, denotes a coffee-house statesman.215

Später bemerkt Bickerstaff, dass seinem Aufruf zur Kennzeichnung nicht entsprochen wurde; er wertet dies aber nicht als Versagen, sondern als Erfolg der 210  Addison, »The Spectator, N° 10«, S. 41. 211  Als eine Art Programmschrift dieser ästhetischen Überredungskunst kann Joseph

Addisons 1712 in den Nummern 411 – 421 des Spectator erschienener Essay The Pleasures of Imagination gelesen werden. 212  Gay, anon., The Present State of Wit in a Letter to a Friend in the Country, S. 13. 213  Gordon, The power of the passive self in English literature, 1640 – 1770, S. 99. 214  Joseph Addison, »The Tatler, N° 96. Saturday, Nov. 19, 1709«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 2, London, 1898 – 1899, 317 – 323, S. 320 – 321. 215  Ebd., S. 321.

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Maßnahme: Offenbar hatten sich die entsprechenden Übeltäter aufgrund seiner Ermahnungen gebessert und von ihren Eitelkeiten Abstand genommen. Im gleichen Sinn behauptet Bickerstaff, dass zwei Kaffeehaus-Kellner in seinem Dienst stünden, um den Zugang zu St. James’s und zu White’s Coffee-House nach seinen Kriterien zu erlauben oder zu verweigern.216 Wenn der Historiker Brian Cowan aufgrund dieser Äußerung erklärt, »der Tatler« habe Kaffeehausdiener beauftragt, um sicherzustellen, »dass den effeminierten pretty fellows der Zugang zu diesen Bastionen der kultivierten [polite] Geselligkeit untersagt wurde«,217 so vergisst er darauf hinzuweisen, dass dies lediglich eine Behauptung der Kunstfigur Isaac Bickerstaff ist, die von jedem zeitgenössischen Leser als eine nicht ernst gemeinte, spielerische Drohung erkannt werden musste. Das in Tatler und Spectator durchgespielte Programm der Zensur, der Überwachung und Verhaltensprüfung wird zu nachlässig und selbstironisch gehandhabt, als dass man die Zeitschriften wirklich als Disziplinarapparate bezeichnen könnte. Das soll nicht heißen, dass sie keine Machtwirkungen gehabt hätten. Es geht im Gegenteil darum, die Spezifik einer Machtausübung zu begreifen, die ohne erkennbaren Zwang und ohne Androhung von Sanktionen auskam, die vielmehr auf einer Art verführerischen Einbeziehung beruhte. Das von Tatler und Spectator errichtete System der Sortierung und Beurteilung von Menschen und Verhaltensweisen bezog seine Wirksamkeit aus dem Umstand, dass es von allen Beteiligten als ein großes Spiel verstanden wurde. Es handelte sich nicht um ein starres klassifikatorisches Dispositiv, in dem einer ordnete und alle anderen geordnet wurden; die ideologische Anrufung oder Einladung bestand viel eher darin, dass alle an dem gemeinsamen Unternehmen der Einordnung und Klassifizierung teilnehmen sollten. Der hier erdachte Panoptismus war nicht der eines Argos, eines einzigen hundertäugigen Ungeheuers, es war der eines verteilten Sehens, einer Kultur der wechselseitigen Beobachtung, in der jeder der Beurteilung unterlag, sich aber auch zum Richter aufschwingen konnte. Dahinter stand, wie Anthony Pollock bemerkt hat, die Vision einer »sozialen Ordnung […] die durch die wechselseitige Verbundenheit der Teilnehmer als zugleich Beobachtende und Beobachtete aufrechterhalten« wurde.218 In politischer Hinsicht lässt sich dieses Modell der internalisierten Kontrolle dem Whig-Projekt einer polite society zurechnen: »Der Hauptunterschied zwischen den Whig-Moralisten und dem Chef-Propagandisten der Restoration Tories [Roger L’Estrange] bestand darin, dass das Spectator-Projekt die Verantwortung für die Kontrolle der

216  Vgl. Steele, »The Tatler, N° 26«, S. 214 – 215. 217  Brian Cowan, »What was masculine about the public sphere? Gender and the coffeehouse

milieu in post-restoration England«, History Workshop Journal, N° 51, 2001, 127 – 157, S. 138. 218  Pollock, Gender and the fictions of the public sphere, 1690 – 1755, S. 61.

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Öffentlichkeit von der repressiven Wachsamkeit der Diener des Staates auf die Selbstaufmerksamkeit der Individuen verlagerte.« 219 Gegenüber ›Disziplinierung‹ ist ›Normalisierung‹ der bessere Ausdruck, um die Besonderheit der Kultur der politeness zu fassen. Mit der Konstruktion einer »sociable World« 220 verband sich die Forderung nach einer ständigen Unterscheidung zwischen den zu begrüßenden und den abzulehnenden, den zu tolerierenden und den zu verwerfenden Verhaltensweisen. Deklariertes Ziel der politeness war die Konstruktion einer Gesellschaft, die die Extreme vermied und sich auf ein gemeinsames, mittleres Maß verpflichtete. So geht es auch in den von Tatler und Spectator inszenierten Klassifizierungskämpfen darum, an immer neuen Gegenständen die statthaften von den unerlaubten Abweichungen zu scheiden und damit die Grenzen des Normalen zu definieren. Entscheidend ist, dass diese Orientierung auf die Mitte nicht von außen auferlegt wurde; sie sollte vielmehr aus der Praxis der wechselseitigen Beobachtung und Beurteilung hervorgehen. Damit entspricht das Projekt der politeness nicht der von Foucault für das 18. Jahrhundert veranschlagten disziplinarischen Normierung; es erscheint eher als ein Vorgriff auf das, was Jürgen Link als »flexiblen Normalismus« oder »Flexibilitäts-Normalismus« bezeichnet hat.221 Dessen eigentliche Herrschaft beginnt zwar nach Link erst im 20. Jahrhundert, mit der Kulturrevolution von 1968; die von Link getroffene Unterscheidung »zwischen protonormalistischen und flexibel-normalistischen Strategien« 222 ist aber offen genug, um auch auf das »Normalitäts-Feld« 223 des frühen 18. Jahrhunderts angewendet werden zu können. Zwar findet sich in Tatler und Spectator nicht der Begriff des ›Normalen‹, doch gibt es zahllose Begriffe, mit denen das ›Unnormale‹ gebrandmarkt wird, wie z. B. der des ›Absurden‹ (»There are other absurdities of this nature so very gross, that I dare not mention them« 224), des ›Extravaganten‹ (»a thousand extravagancies« 225), des Monströsen (»an account of everything that is monstrous in my own times« 226), des ›Irregulären‹ (»I […] who have taken upon me to censure

219  Cowan, »Mr. Spectator and the coffeehouse public sphere«, S. 351. 220  Richard Steele, »The Tatler, N° 85. Tuesday, Oct. 25, 1709«, in: The Tatler, hg. v. George

A. Aitken, Bd. 2, London, 1898 – 1899, 250 – 256, S. 254. 221  Jürgen Link, Versuch über den Normalismus. Wie Normalität produziert wird, Opladen, 1996, S. 30. 222  Ebd., S. 140. 223  Ebd. 224  Joseph Addison, »The Tatler, N° 224. Thursday, Sept. 14, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 4, London, 1898 – 1899, 147 – 154, S. 152. 225  Steele, »The Tatler, N° 77«, S. 204. 226  Joseph Addison, »The Tatler, N° 226. Tuesday, Sept. 19, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 4, London, 1898 – 1899, 159 – 163, S. 159.

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the irregularities of the age« 227), des ›Unnatürlichen‹ (»So unnatural a dress« 228) oder – dem Ausdruck ›Norm‹ am nächsten – des Maßlosen, des ›Enormen‹: After this declaration, if a fine Lady thinks fit to giggle at church, or a great beau come in drunk to a play, either shall be sure to hear of it in my ensuing paper: for merely as a well-bred man, I cannot bear these enormities.229

Als ›flexibel‹ lässt sich die in den galanten Zeitschriften betriebene Normalisierung nicht nur deshalb bezeichnen, weil sie partizipativ und interaktiv ist, sondern vor allem, weil sie ironisch ist: Da sie im Modus der Ironie und mit einiger Übertreibung vorgetragen werden, haben die von Issac Bickerstaff und Mr. Spectator täglich produzierten typologischen Einschätzungen und klassifikatorischen Urteile nicht den Charakter einer starren Festlegung und endgültigen Verdammung, sondern eher den einer kontinuierlichen Bearbeitung, einer Haltungskorrektur durch fortgesetzte Stichelei. Man könnte also, um das Besondere dieser Art von politischer Pädagogik zu bezeichnen, von ironischem Normalismus sprechen, einer Technik der Normalisierung, an der zwei Formen der Wirksamkeit hervortreten. Erstens hat die Ironie die schon erwähnte Funktion des Probehandelns: Im Modus der ironischen Äußerung können Urteils- und Einteilungsweisen ›getestet‹ werden, die auf Widerstand stoßen würden, wenn sie in vollem Ernst ausgesprochen würden.230 Ohne die mildernde Ironie müsste das, was Isaac Bickerstaff und Mr. Spectator betreiben, als totalitäres, puritanisches Überwachungsregime

227  Joseph Addison, »The Tatler, N° 122. Thursday, Jan. 19, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 3, London, 1898 – 1899, 44 – 48, S. 44. 228  Addison, »The Tatler, N° 96«, S. 321. 229  Joseph Addison, »The Tatler, N° 3. Saturday, April 16, 1709«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 1, London, 1898 – 1899, 29 – 36, S. 32. 230  Niklas Luhmann hat – mit Blick auf Shaftesburys Essay on the Freedom of Wit und Humour (1709) – die Wirkungen eines solchen ironischen Probehandelns bemerkt, aber zugleich auf dessen begrenzter Reichweite beharrt: Das »Verfahren des Lächerlichkeitstests« sei »auf den Interaktionsraum beschränkt« gewesen; die »Freiheit von Witz und Spott« habe in geschlossenen Räumen wie dem Club geherrscht, sie habe sich jedoch in einer größeren Öffentlichkeit keine Wirksamkeit entfaltet: »Niemand würde daran denken, einen verlorenen Krieg oder den Pomp kirchlicher Zeremonien oder die fehlgeschlagene Papiergeldmanipulation unter die Kategorie des Lächerlichen zu bringen. Es hat auch keinen Sinn, die Öffentlichkeit zu verspotten, selbst wenn sie irrige Meinungen pflegt.« (Luhmann, »Zum Begriff der sozialen Klasse«, S. 138) In der Öffentlichkeit des frühen 18. Jahrhunderts ist das vermeintlich Sinnlose dennoch geschehen: Es gab so gut wie nichts, was nicht verspottet wurde, und die Reichweite dieses Spotts ging weit über die kleinen Zirkel von »Gentlemen and Friends« (ebd.) hinaus. Der Spectator sah es geradezu als seine Aufgabe an, »die Öffentlichkeit zu verspotten«, und erreichte damit (nach eigener Auskunft) 60.000 Leser, etwa ein Zehntel der Bevölkerung von ganz London. (vgl. Addison, »The Spectator, N° 10«, S. 41).

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erscheinen; in der ironischen Einkleidung kann es dagegen als ein ›witziges‹ Gesellschaftsspiel genossen werden. Doch hat die Ironie nicht nur die Funktion, eine angenehme Verpackung für eine ansonsten schwer genießbare Botschaft bereitzustellen. Sie ist vielmehr, zweitens, selbst die Botschaft; sie steht für eine neue, spielerische Art der Kommunikation, eine leichte und leichtfertige Ökonomie der Zeichen, in der die Urteile schnell gefällt, aber auch schnell wieder durch andere ersetzt werden. Ironisch zu sein, sich auf fiktive Konstruktionen einzulassen, mit der Volatilität der Wertzuschreibungen zu rechnen, wird zum Ausweis einer modernen, urbanen Lebensweise, zum Zeichen der Zugehörigkeit zur polite society. In einer ähnlichen Zweiteilung lässt sich auch die Frage beantworten, was Ironie und Klasse miteinander zu tun haben, warum das Prinzip der Klassenteilung ausgerechnet in den ironischen Diskursen der galanten Zeitschriften um 1700 seinen gesellschaftlichen Durchbruch erlebte. Zunächst handelt es sich um die besagte Funktion des Probehandelns: Die noch ungewohnte Praxis der klassifikatorischen Einordnung gedieh im Schutz der Fiktion und des Ironievorbehalts. Das neue Teilungsprinzip erhielt seine Zulassung zum gesellschaftlichen Diskurs, indem es vordergründig auf Abstand gehalten, nur ›in Anführungszeichen‹ benutzt wurde. Dann aber scheint es auch eine besondere Affinität zwischen dem Äußerungsmodus der Ironie und den Verfahren der klassifizierenden Einordnung zu geben. Während eine ironische Behandlung der ständischen Unterschiede als Sakrileg erscheinen musste, zeigte sich die decodierende Tendenz des Klassenbegriffs darin, dass mit ihm zu spaßen war. Gegenüber den strengen Codierungen der ›orders‹ und ›degrees‹ bildete die Klassifizierung von Menschen nach äußeren, zufälligen Merkmalen eine ›leichtere‹, weniger belastete Form der Einteilung. Während es nicht möglich gewesen wäre, die soziale Position eines Gutsbesitzers in Frage zu stellen, konnte man sich ohne Schwierigkeit über sein Auftreten in städtischen Gesellschaften belustigen und ihn aufgrund einer persönlichen Eigenart oder eines spleenigen Verhaltens einer bestimmten ›Spezies‹, ›Sorte‹ oder ›Klasse‹ zuordnen. Den Distinktionskämpfen der entstehenden polite society kam daher sowohl der Modus der Ironie als auch das Klassenvokabular besonders entgegen: Es bot sich die Möglichkeit, die Gesellschaft mit einem Netz neuer Unterscheidungen zu überziehen, ohne dass diese neue Einteilung mit dem hergebrachten System der Standeshierarchie in offenen Konflikt treten musste. Das epidemische Auftreten von Ironie in der Publizistik des frühen 18. Jahrhunderts lässt sich auf diese Weise zumindest zum Teil mit ihrer Funktionalität für die entstehende Klassenordnung erklären. Offenbar bildete sie die Artikulationsform, die den neuen gesellschaftlichen Verhältnissen am besten entsprach. Als eine mit Platzwechseln, Verschiebungen und Verkehrungen operierende rhetorische Technik war die Ironie bestens gerüstet, mit einer Situation umzugehen, in der die Stellung der Menschen und Dinge nicht mehr durch Tradition, Recht und lokale Verortung festgeschrieben war, sondern aus einem komplizierten,

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sich täglich ändernden Spiel der flexiblen, marktförmigen Bewertung hervorging. Eine ironische Haltung schien damit eine gute Qualifikation für das Leben in der Klassengesellschaft abzugeben. Sie barg das Versprechen einer Bewertung, die sich selbst nicht bewerten lassen musste. Es ist nicht verwunderlich, dass sie in den Distinktionskämpfen um 1700 umgehend als Waffe eingesetzt wurde. Von der Verlockung aber auch von dem Scheitern einer solchen ironischen Vorteilsnahme spricht die Figur des Mr. Spectator: Er will alles sehen und selbst unsichtbar blieben, doch wie seine »[pain] [of] being stared at« zeigt,231 ist auch er im Netz der klassifizierenden Blicke gefangen.

231  Addison, »The Spectator, No. 1«, S. 10.

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17.

REICHE GEGEN ARME. MANDEVILLES GETEILTE GESELLSCHAFT Ungeduldige Leserinnen und Leser werden sich fragen, was die zuvor beschriebenen Klassifizierungsübungen – das Spektakel der Betrachtung von ›Objekten‹ des Elends in Bedlam, Ned Wards Inspektion des Londoner low life, Tom Browns Teilung der Londoner in »so many Nations«, die Exklusionsmechanismen der polite society, Isaac Bickerstaffs geschmäcklerische Selbstinszenierung als Zensor der Nation, die Mimesis-Panik des Female Tatler und die ambulante Einordnungstätigkeit des Mr. Spectator – mit der Entstehung des sozialen Klassenbegriffs und der Heraufkunft von Klassengesellschaft zu tun haben. Augenscheinlich handelt es um zwei ganz verschiedene Angelegenheiten: auf der einen Seite ein oberflächliches, modisches Distinktionsspiel, in dem es um die ›kleinen Unterschiede‹ der Lebensweise und der Selbstdarstellung geht, auf der anderen die grundlegende, als verbindlich empfundene Ordnung der Gesellschaft nach dem ›tieferen‹, ›in letzter Instanz‹ entscheidenden Kriterium der ökonomischen Stellung. Die folgenden Episoden aus den ersten Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts zeigen jedoch, dass zwischen dem Tanz der feinen Unterschiede und der Einrichtung des verbindlichen Wahrnehmungsrasters ›Klassengesellschaft‹ kein unüberwindlicher Abgrund lag. Der Klassenbegriff, der eben noch der wissenschaftlichen Einordnung, dem modischen Classing, der symbolischen Distinktion oder der ironischen Überhebung gedient hatte, konnte im nächsten Moment zu einem Vehikel der ökonomischen Reform, der sozialen Analyse, der politischen Abgrenzung oder sogar der kollektiven Bewusstwerdung werden. Den Autoren, die in den letzten Kapiteln dieses Buchs im Mittelpunkt stehen, ist gemeinsam, dass sie aktiv an der Übersetzung des Klassenbegriffs in Soziale mitwirkten. Unabhängig davon, ob sie als leidenschaftliche Verfechter des Klassenprinzip auftraten oder als dessen erbitterte Feinde: Sie trugen dazu bei, dass die Rede von den Klassen sich weiterverbreitete und allmählich die Evidenz einer in Klassen geteilten Gesellschaft hervorbrachte. Unter Begründern des gesellschaftlichen Klassendenkens ist zunächst Mandeville zu nennen: Als Autor des Female Tatler und zugleich als illusionsloser Kritiker des bürgerlichen Tugendideals bezeichnet er exemplarisch den Übergang vom ›weichen‹, ›kulturalistischen‹ Klassifizierungsdiskurs der galanten Zeitschriften zum ›harten‹, ›sozialen‹ Klassendiskurs der Politischen Ökonomie. In Ansätzen findet sich hier bereits die für den späteren sozialen Klassenbegriff charakteristische Konzentration auf das Kriterium der ökonomischen Stellung. Aus Mandevilles Konzeption der Gesellschaft als Kampfplatz selbstsüchtiger

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Interessen gehen wie von selbst die Ideen der Klassenteilung und des Klassenkampfs hervor.

Vom Nutzen der Laster Wie im vorigen Kapitel erwähnt wurde, war Bernard Mandeville einer der Autoren des Female Tatler. Von November 1709 bis März 1710 verfasste er 32 der wöchentlich erscheinenden Ausgaben, abwechselnd unter den Pseudonymen »Lucinda« und »Artesia«. Er hatte damit teil an dem neckischen Klassifizierungsspiel, das Addisons und Steeles Tatler begonnen hatte und das der Female Tatler, mit veränderten Schwerpunkten, weiterführte.1 Zugleich bezeichnet der Name Mandeville aber auch den Moment, in dem das lose betriebene Spiel der abschätzigen Einordnung und moralischen Missbilligung sich in etwas anderes transformiert. Trotz der Ironie, die die Schriften Mandevilles durchzieht: Mit ihnen beginnt der Ernst der Klassenteilung. Anstatt lediglich dem Spiel der feinen Unterschiede, der kulturellen Distinktionen zu dienen, wird der Klassenbegriff zu einem schonungslos eingesetzten Instrument der sozialen Unterscheidung. 1705, vier Jahre vor seiner Tätigkeit für den Female Tatler, hatte Mandeville ein in Gedichtform verfasstes Pamphlet veröffentlicht, das schon die These enthielt, für die er später berühmt und berüchtigt werden sollte. The Grumbling Hive erzählt die lehrreiche Geschichte eines Bienenvolkes, das, wie es zunächst den Anschein hat, im Idealzustand lebt: Es genießt »Luxury and Ease« und erfreut sich einer hervorragenden Regierung, die – als konstitutionelle Monarchie – die Extreme von »tyranny« und »wild Democracy« vermeidet.2 Diese Gesellschaft ist, wie schnell klar wird, das real existierende England unter Queen Anne. Mandeville lässt es nicht an Hinweisen fehlen, dass die Lage nicht für alle Mitglieder des englischen Bienenvolkes in gleicher Weise erfreulich ist. Millionen leben in »Lust and Vanity«, während »other Millions« die nötige Handarbeit aufbringen, um diesen Lebenswandel zu ermöglichen: Some with vast Stocks, and little Pains Jump’d into Business of great Gains; And Some were damn’d to Sythes and Spades, And all those hard laborious Trades; Where willing Wretches daily sweat, And wear out Strength and Limbs to eat […].3

1  S. o., Kap. 16, Abschnitt »Der Female Tatler«. 2  Bernard Mandeville, The Grumbling Hive. Or, Knaves Turn’d Honest, London, 1705, S. 1. 3  Ebd., S. 3.

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Doch herrscht im Bienenstock nicht nur offenbare Ungleichheit, es geht auch keineswegs anständig zu. So existiert nicht nur eine eigene Schicht von »Sharpers, Parasites, Pimps, Players, Pick-Pockets, Coiners, Quacks, Sooth-Sayers«, die sich »the Labour Of their good-natur’d headless Neighbour« aneignen.4 Der Gedanke der Übervorteilung hat vielmehr die gesamte Ökonomie ergriffen, so dass sämtliche Gewerbe, auch jene, die sich als »grave Industrious« bezeichnen, auf der Grundlage von »cheat« und deceit« funktionieren.5 Auf mehreren Seiten entfaltet Mandeville das Panorama einer durch und durch korrupten, dem Ehrgeiz und der Gier verfallenen Gesellschaft – ein Bild, das sehr genau der damaligen, konservativen Kulturkritik entsprach. Mandevilles Originalität besteht nun darin, die Whig-Position nicht etwa dadurch zu verteidigen, dass er die moralischen Vorwürfe als haltlos und unberechtigt zurückweisen würde. Er erklärt sie vielmehr schlicht für irrelevant. Unter dem höheren Gesichtspunkt einer Moral, die nicht nach den individuellen Gesinnungen und Absichten, sondern nach dem gesellschaftlichen Gesamteffekt fragt, erweist sich der bestehende unvollkommene Zustand als der beste, den man sich denken kann: Thus every Part was full of Vice, Yet the whole Mass a Paradice […].6

Aus dem Widerstreit der egoistischen Interessen ergibt sich gleichsam wie von selbst – »as in Musick Harmony« 7 – der Zusammenklang des Ganzen: So stellt die Liebe zum Luxus, individuell betrachtet, zweifellos ein »strange ridic’lous Vice« dar; aufs Ganze gesehen bildet sie jedoch »The very Wheel, that turn’d the Trade«.8 Ein gewisses Maß an Verworfenheit erweist sich damit als unabdingbare Voraussetzung eines prosperierenden Gemeinwesens: »Fraud, Luxury, and Pride must live / Whilst we the Benefits receive«.9 Zerstört wird diese harmonische Ordnung, weil einige Bienen unzufrieden werden und moralische Vorwürfe zu erheben beginnen: »Good Gods, had we but Honesty«.10 Jupiter, der die Klagen erhört, macht dem Zustand der Lasterhaftigkeit ein Ende, damit aber auch dem Wohlleben des Bienenstocks: As Pride and Luxury decrease. So by degrees they leave the Seas.

4  Ebd., S. 4. 5  Ebd., S. 4. 6  Ebd., S. 10. 7  Ebd., S. 11. 8  Ebd., S. 12. 9  Ebd., S. 26. 10  Ebd., S. 15.

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Not Merchants now; but Companies Remove whole Manufacturies.11

Ohne den Antrieb der Besitzgier und des Ehrgeizes bricht die Ökonomie zusammen, Kriege werden verloren, und am Ende bleibt den tugendhaft und genügsam gewordenen Bienen nichts als ein armseliges Leben im Naturzustand: Hard’ned with Toils, and Exercise They counted Ease it self a Vice; Which so improved their Temperance; That, to avoid Extravagance, They flew into a hollow Tree, Blest with Content and Honesty.12

Zur Zeit seiner ersten Veröffentlichung wurde The Grumbling Hive noch nicht, wie es später der Fall war, als ein Manifest der Marktökonomie oder des Liberalismus gelesen. Soweit das anonyme Pamphlet überhaupt zur Kenntnis genommen wurde,13 sah man darin eher eine tagespolitische Stellungnahme. Mit den unzufriedenen und hypermoralischen Bienen waren erkennbar die Tories gemeint, die den Einfluss der Whig-Partei auf Queen Anne beklagten und insbesondere die Fortführung des Krieges gegen Frankreich mit moralischen Argumenten bekämpften.14 Doch richtete sich Mandevilles Polemik keineswegs nur gegen den Konservatismus der High-Church-Tories. Zielscheibe seines Spotts war ebenso der angestrengte puritanische Tugenddiskurs, wie er insbesondere von der einflussreichen Society for the Reformation of Manners betrieben wurde. In seinem 1723 veröffentlichten Essay A Search into the Nature of Society stellt Mandeville die gewagte These auf, dass die protestantische Religion, entgegen dem Selbstverständnis ihrer Exponenten (aber auch entgegen der späteren These von Max Weber) so gut wie nichts zur Ausbreitung von Kommerz und Wohlstand beigetragen habe: I protest against Popery as much as ever Luther or Calvin did, or Queen Elizabeth herself, but I believe from my Heart, that the Reformation has scarce been more 11  Ebd., S. 24. 12  Ebd., S. 25. 13  Vgl. Harry Landreth, »The economic thought of Bernard Mandeville«, History of Political

Economy, Jg. 7, N° 2, 1975, 193 – 208, S. 193: »In 1705, when the anonymous six-penny quarto ›The Grumbling Hive: or, Knaves Turn’d Honest‹ appeared, it went virtually unnoticed.« 14  Von den Tories wurde Mandevilles Pamphlet auch entsprechend verstanden. Der im gleichen Jahr 1705 veröffentlichte Schlüsselroman Queen Zarah der Tory-Journalistin Delarivier Manley enthält mehrere Spitzen gegen The Grumbling Hive. Vgl. Goldsmith, »Introduction«, S. 24.

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Instrumental in rendring the Kingdoms and States that have embraced it, flourishing beyond other Nations than the silly and capricious Invention of Hoop’d and Quilted Petticoats.15

In den 1709 – 1710 verfassten Essays für den Female Tatler richtet sich die Polemik gegen eine weitere Facette des Tugend-Diskurses, nämlich gegen das von Whig-Autoren wie Shaftesbury, Addison und Steele betriebene Projekt der politeness.16 Für Isaac Bickerstaff, den fiktiven Herausgeber des Tatler, war es eine ausgemachte Sache, dass der gesellschaftliche Wert eines Menschen von seinen moralischen Bemühungen abhing. Wie er in Tatler Nr. 96 verkündete, könnten eigentlich nur diejenigen Menschen als lebendig bezeichnet werden, »that are some way or other laudably employed in the improvement of their own minds, or for the advantage of others«.17 Die anderen, die einfach nur so dahinlebten, seien dagegen als tot zu betrachten; entsprechend ermächtigte Bickerstaff in Tatler Nr. 99 seine »good friends« von der Innung der Bestattungsunternehmer »to bury all such dead as they meet with, who are within my former descriptions of deceased persons«.18 Auf diese ironische Drohung antwortet Mandeville kurz darauf im Female Tatler mit der vergleichsweise ernsthaften Darlegung seiner Theorie von der gesellschaftlicher Nützlichkeit des Luxus und des Müßiggangs: But as to Subjects; to be always Clean, and wear Cloaths that are Sumptuously Fashionable, to have Pompous Equipages, and be well attended, to live in Stately Dwellings, adorn’d with Rich and Modish Furniture, both for Use and Magnificence, to Eat and Drink Deliciously, Treat Profusely, and have a plentiful Variety of what either Art or Nature can contribute, not to the Ease and Comfort only, but likewise the Joy and Splendor of Life, is without doubt to be very Useful and Beneficial to the Publick; nay, I am so far from allowing these to be Dead, that I think they are the very Springs that turn all the Wheels of Trade […].19

Wenn der Female Tatler nicht einfach nur als eine Imitation des Tatler, sondern als ein »anti-Tatler« 20 verstanden werden kann, so liegt dies vor allem an Mandevilles offensiv betriebenem Versuch, die von Isaac Bickerstaff verkörperte Politik der ›moral correctness‹ der Inkonsequenz zu überführen. Gegen die 15  Bernard Mandeville, »A Search into the Nature of Society« (1723), in: ders., The Fable

of the Bees, hg. v. Phillip Harth, London, 1989, 327 – 371, S. 358.

16  S. o., Kap. 16, Abschnitt »Medien der Politeness«. 17  Addison, »The Tatler, N° 96«, S. 318 – 319. 18  Richard Steele, »The Tatler, N° 99. Saturday, Nov. 26, 1709«, in: The Tatler, hg. v. George

A. Aitken, Bd. 2, London, 1898 – 1899, 333 – 339, S. 337. 19  Bernard Mandeville, »Lucinda«, The Female Tatler, N° 64. From Wednesday November 30, to Friday December 2, 1709, London, o. P. [S. 1]. 20  Goldsmith, »Introduction«, S. 65.

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Vorstellung, dass sich ökonomisches Kalkül und gottgefälliges Leben vereinen ließen, setzt Mandeville die kühle Einsicht, dass »Religion is one thing and Trade is another«.21 Wenn Addisons und Steele das Bild einer polite society malten, die den Genuss von »Reichtum, Vergnügen, Macht, Komfort und Wohlstand« mit den Forderungen der »Tugend« versöhnte, so bemüht sich Mandeville unablässig zu zeigen, »dass diese Werte nicht miteinander zu vereinen waren«.22 Wie The Grumbling Hive hatte zeigen sollen, schlossen tugendhaftes Leben und allgemeiner Wohlstand sich wechselseitig aus; die von Steele und Addison zur Schau getragene moralische Haltung musste vor diesem Hintergrund schlicht als Heuchelei erscheinen; sie erschien als ein Luxus, der selbst auf dem ganz unmoralischen Funktionieren der Ökonomie beruhte. Die 1714 erschienene Fable of the Bees stellte eine Wiederveröffentlichung des Gedichts The Grumbling Hive dar, nun mit einem umfangreichen Apparat von Anmerkungen (»remarks«) versehen. Beigefügt war auch eine kurze Abhandlung mit dem Titel Enquiry into the Origin of Moral Virtue, die deutlich machte, dass die moralischen Urteile nicht etwa in der menschlichen Natur gründeten, sondern von geschickten Herrschern zu Zwecken der besseren Regierbarkeit erfunden worden waren. In dieser von Mandeville konstruierten Entstehungsgeschichte kommt nun, was zunächst etwas verblüffend wirkt, dem Klassenbegriff und der Operation der Klassenteilung eine besondere Bedeutung zu. Die Herstellung der Moral-Herrschaft geschieht durch einen Akt der Klassifizierung, durch die künstliche Teilung der Menschheit in eine höherstehende und eine verworfene Klasse: To introduce moreover an Emulation amongst Men, they divided the whole Species in two Classes, vastly differing from one another: The one consisted of abject, low minded People, that always hunting after immediate Enjoyment, were wholly incapable of Self-denial, and without regard to the good of others, had no higher Aim than their private Advantage […]. But the other Class was made up of lofty highspirited Creatures, that free from sordid Selfishness, esteem’d the Improvements of the Mind to be their fairest Possessions; and setting a true value upon themselves, […] aim’d at no less than the Publick Welfare and the Conquest of their own Passions.23

Mandevilles Geschichte handelt angeblich von der frühesten Zeit nach dem Ausgang aus dem »wild State of Nature«.24 Wie das Detail der Klassenteilung verrät, zielt sie jedoch auf den zeitgenössischen Diskurs der politeness, insbe21  Mandeville, »A Search into the Nature of Society«, S. 358. 22  Goldsmith, »Public virtue and private vices«, S. 510. 23  Bernard Mandeville, anon., The fable of the bees. Or, private vices, publick benefits, London,

1714, S. 26 – 27. 24  Ebd., S. 81.

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sondere natürlich auf das von Sir Isaac Bickerstaff und Mr. Spectator betriebene Unternehmen der moralischen Klassifizierung. Die von Mandeville geschilderte »superior class« 25 entspricht sehr genau dem Bild der von Shaftesbury, Addison und Steele entworfenen polite society; die »inferior class« 26 dagegen umfasst all jene, die sich dem Verhaltensideal der permanenten Selbstverbesserung nicht fügen wollen. Mandevilles ›Genealogie der Moral‹ ist also nicht so sehr als eine historische Rekonstruktion, sondern eher als eine aktuelle ideologiekritische Intervention zu verstehen: Moralische Beurteilung, insbesondere in der Form der klassifikatorischen Festschreibung, wird kenntlich als Herrschaftstrick, ein Instrument der Verhaltenssteuerung, das nicht zuletzt deshalb so gut funktioniert, weil es für die Unterworfenen den Anreiz der ständigen Selbsteinschätzung und Selbstverbesserung bereithält. Gegen die überkommenen moralischen Urteile, die auf unhaltbaren Annahmen über die menschliche Natur beruhten, hat Mandeville eine eigene, nüchterne Ethik zu setzen versucht, deren Grundsatz im Untertitel der Bienenfabel formuliert ist: »Private vices, publick benefits«.27 Mandeville, der sich als Arzt auf die Behandlung von Hypochondriack and Hysterick Passions spezialisiert hatte,28 folgte der von den französischen Moralisten wie auch von Spinoza vertretenen Lehre von der indirekten Beherrschung der Leidenschaften.29 Die Macht der menschlichen Rationalität allein reichte nicht aus, um sich einer Passion zu erwehren; alles was der Verstand tun konnte, war, eine andere, stärkere Leidenschaft dagegen zu setzen. Ähnlich wie William Petty glaubte Mandeville seine ärztliche Kunst unmittelbar auf die Gesellschaft übertragen zu können: »Sound Politicks are to the Social Body what the Art of Medicine is to the Natural.« 30 So wie der Mensch nach Mandeville ein »Compound of Various Passions« bildet, von denen er – »whether he will or no« – regiert wird,31 so stellt auch die menschliche Gesellschaft keine festgefügte Ordnung dar; sie bildet vielmehr einen Kampfplatz, auf dem die unterschiedlichsten, egoistischen Kräfte miteinander im Streit liegen. Anstatt sich einzelnen, vermeintlich verwerflichen Regungen entgegenzustellen, wird der Arzt am Krankenbett des Sozialkörpers immer den Gesamthaushalt im Ebd., S. 31. Ebd., S. 29. Ebd., Titelseite. Vgl. die 1711 erschienene dialogische Abhandlung: Bernard Mandeville, A Treatise of Hypochondriack and Hysterick Passions, Vulgarly called Hypo in Men, and Vapours in Women, London, 1711. 29  Zu der offenkundigen (allerdings nicht direkt nachweisbaren) Beeinflussung Mandevilles durch Spinoza vgl. Douglas J. Den Uyl, »Passion, state, and progress. Spinoza and Mandeville on the nature of human association«, Journal of the History of Philosophy, Jg. 25, N° 3, 1987, 369 – 395. 30  Bernard Mandeville, »An Essay on Charity, and Charity-Schools« (1723), in: ders., The Fable of the Bees, hg. v. Phillip Harth, London, 1989, 261 – 325, S. 325. 31  Mandeville, anon., The fable of the bees, S. 21 – 22. 25  26  27  28 

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Auge behalten; was aus der Sicht einer individualistischen Moral als Laster oder gar als Verbrechen erscheint, kann im Hinblick auf das Leben des Ganzen durchaus als hinnehmbares Übel oder sogar als produktive Macht begriffen werden. Zu einer realpolitischen, moralfreien Betrachtung der Ökonomie war auch schon William Petty gelangt.32 Er hatte allerdings an philosophischen Fragen so wenig Interesse, dass er nicht einmal den Versuch einer ethischen Rechtfertigung unternahm. Deshalb hat man gegen Petty und seine in der Tat skandalösen bevölkerungspolitischen Vorschläge 33 viel weniger heftig reagiert als gegen Mandeville, dessen Hinweis auf die Herrschaft eines »violent Desire after Riches and Greatness« wohl auch deshalb so stark angefeindet wurde, weil sich darin unverhüllt »the Doctrine of the Times« aussprach.34 Seine Zeitgenossen sahen in ihm daher einen Teufel,35 für Marx war er aus demselben Grund »ein ehrlicher Mann und heller Kopf«.36

Liberalismus und Regulation In der Geschichte der Wirtschaftswissenschaften gilt Mandeville als eine Figur des Übergangs. Seine Theorie der private vices, public benefits steht paradigmatisch für die Entwicklung von einer merkantilistischen zu einer liberalen Doktrin.37 Strittig ist dabei, ob Mandeville eher der alten oder eher der neuen Form des ökonomischen Wissens zuzuordnen ist. Zunächst gibt es eine ganze Reihe von Äußerungen, die Mandeville als einen frühen Liberalen auszuweisen scheinen, wie etwa sein Plädoyer, die Entwicklung der Gewerbe und die Zahl der dort Beschäftigten nicht künstlich festzulegen, sondern der Nachfrage zu überlassen: »This Proportion as to Numbers in every Trade finds it self, and is never better kept than when no body meddles or interferes with it.« 38 Der wohl einflussreichste Vertreter der Österreichischen Schule des Neoliberalismus, Friedrich von Hayek, hat daher auch nicht gezögert, Mandeville als Ahnherren des Liberalismus zu reklamieren. In seiner 1966 an der British Academy gehaltenen Lecture on a Master Mind bezieht er sich insbesondere auf eine Stelle aus der 1729

32  S. o., Kap. 12, Abschnitt »Der menschliche Reichtum«. 33  S. o., Kap. 12, Abschnitt »Eingreifende Wissenschaften«. 34  Bernard Mandeville, A Treatise of the Hypochondriack and Hysterick Diseases (1730) (1730),

hg. v. Sylvie Kleiman-Lafon, Cham, 2017, S. 166. 35  Henry Fielding sprach spöttisch von »that very wise Writer Dr. Mandevil«, CoventGarden Journal, March 14, 1752, zit. nach LeRoy W. Smith, »Fielding and Mandeville. The ›war against virtue‹«, Criticism, Jg. 3, N° 1, 1961, 7 – 15, S. 8. 36  Marx, »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band«, S. 643. 37  Vgl. Rogério Arthmar, »Mandeville and the markets. An economic assessment«, in: Edmundo Balsemão Pires und Joaquim Braga (Hg.), Bernard de Mandeville’s Tropology of Paradoxes. Morals, Politics, Economics, and Therapy, Cham, 2015, 181 – 197, S. 183. 38  Mandeville, »An Essay on Charity, and Charity-Schools«, S. 305.

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veröffentlichten Fortsetzung der Fable of the Bees, in der sich Mandeville gegen jede Beschränkung der kapitalistischen Glücksströme ausspricht:39 Hence we may learn, how the short-lighted Wisdom, of perhaps well-meaning People, may rob us of a Felicity, that would flow spontaneously from the Nature of every large Society, if none were to divert or interrupt the Stream.40

Für Hayek stellte sich Mandeville damit nicht nur als ein früher »advocate of laissez-faire« dar, sondern auch als ein Vorläufer seiner eigenen Theorie der Spontaneous order.41 Mandeville habe ein deutliches »Bewusstsein von der spontanen, vom Markt produzierten Ordnung« gehabt;42 bei ihm finde sich eine Evolutionsoder Emergenztheorie der Ordnung, die schon »alle klassischen Paradigmen des spontanen Wachstums geordneter sozialer Strukturen« enthalte, wie z. B. »von Recht und Moral, Sprache, Markt und Geld, sowie auch von der Vermehrung des technologischen Wissens«.43 Andere Ökonomen haben dagegen die vermeintlich liberalistischen Äußerungen Mandevilles heruntergespielt und stattdessen jene Züge seines Denkens betont, die ihn in der merkantilistischen Tradition seiner Zeit verorten. Sie konnten sich darauf berufen, dass Mandeville seine ökonomische Theorie niemals an der Vorstellung individuellen Glücks oder persönlichen Gewinns ausgerichtet hat; Ziel jeder politischen und ökonomischen Regelung sollte vielmehr »Publick Welfare« bzw. »the Welfare of the Society« sein.44 So war Jacob Viner, prominenter Vertreter der Chicago School, der Ansicht, dass sich bei Mandeville nur sehr schwache Anzeichen für einen »laissez-faire-Individualismus« finden ließen.45 Seiner Ansicht nach war Mandeville »ein überzeugter Anhänger des herrschenden Merkantilismus seiner Zeit«.46 Auch andere Wirtschaftshistoriker traten der Vorstellung entgegen, dass es sich bei Mandeville um einen Liberalen avant la 39  Friedrich Hayek, »Dr. Bernard Mandeville. Lecture on a master mind, read 23 March 1966«, Proceedings of the British Academy, N° 52, 1967, S. 135. 40  Bernard Mandeville, The Fable of the Bees, Part II . By the Author of the First, London, 1729, S. 427. 41  Vgl. Guilherme Vasconcelos Vilaça, »From Hayek’s spontaneous orders to Luhmann’s autopoietic systems«, Studies in Emergent Order, N° 3, 2010, 50 – 81. Vgl. auch Daniel D’Amico, »Spontaneous order«, in: Peter J. Boettke und Christopher J. Coyne (Hg.), The Oxford handbook of Austrian economics, Oxford, 2015, 115 – 142. 42  Hayek, »Dr. Bernard Mandeville«, S. 134. 43  Ebd., S. 129. 44  Bernard Mandeville, anon.: A Modest Defence of Publick Stews. Or, an Essay Upon Whoring, As it is now practis’d in these Kingdoms, London, 1724. 45  Jacob Viner, »Introduction to Bernard Mandeville, A Letter to Dion (1732)« (1953), in: ders., Essays on the intellectual history of economics, hg. v. Douglas A. Irwin, Princeton, N.J, 1991, 176 – 188, S. 182 – 183. 46  Ebd., S. 183 – 184.

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lettre gehandelt habe. Sie verwiesen darauf, dass es Mandeville in letzter Instanz um »Staatsmacht und Staatswohlstand« ging,47 und dass er stets »emphatisch die Notwendigkeit der Regierung« betont habe, »um die Harmonie zwischen dem Selbst-Interesse und der öffentlichen Wohlfahrt« herzustellen.48 Wenn man auf diese Weise davon ausgeht, dass Mandeville noch der Regierungsmentalität des Merkantilismus verpflichtet war, so wird man allerdings auch fragen müssen, welchen spezifischen Beitrag zu ihrer Erweiterung er geleistet hat. Die »grundlegende Idee« des Merkantilismus hatte der Wirtschaftshistoriker Eli Heckscher 1931 so gefasst: »Die Menschen sollten so genommen werden, wie sie sind, und sollten durch kluge Maßnahmen in die Richtung gelenkt werden, die das Wohlbefinden des Staates verbessert.« 49 Nirgends, so Heckscher, sei dieser Gedanke deutlicher ausgedrückt worden als in Mandevilles Doktrin der privat vices, publick benefits: Dies bedeutete in erster Linie, dass die privaten wirtschaftlichen Interessen des Einzelnen für die Zwecke des Staates nutzbar gemacht werden sollten. Alles, wozu die Menschen aus natürlicher Notwendigkeit gezwungen waren, sollte nicht länger mit Strafe bedroht sein. Gleichzeitig sollten die Dinge so listig arrangiert werden, dass die Menschen nach dem strebten, was mit den Interessen des Staates in Einklang zu bringen war.50

Der Gesichtspunkt der List ist hier offenbar der entscheidende: Mandevilles Theorie der indirekten Lenkung der Leidenschaften lässt sich als Beitrag zu einer neuen, aufgeklärten Staatsklugheit verstehen, die ihre Ziele nicht mehr durch die massive Gewaltandrohung und Unterdrückung feindlicher Strebungen zu erreichen versucht, sondern durch die geschickte Kanalisierung und Abschöpfung der gesellschaftlichen Ströme. Mandeville geht es nicht um den Rückzug des Staates aus der Ökonomie, sondern um eine weniger auffällige, effektivere und geschicktere Form der Lenkung, die stets darauf angelegt sein muss, das gesellschaftliche Ganze in möglichst produktiver, den Wohlstand mehrender Weise funktionieren zu lassen. Eine eindrucksvolle Demonstration dieser gewitzten, umwegigen Regierung des Ökonomischen hat Mandeville mit dem 1724 unter Pseudonym »Phil-Porney« veröffentlichten Essay A Modest Defence of Publick Stews geliefert. Historiker, die sich mit dem ökonomischen Denken Mandevilles beschäftigten, haben diesen

47  Thomas A. Horne, The social thought of Bernard Mandeville. Virtue and commerce in early eighteenth-century England, London, 1977, S. 51. 48  Landreth, »The economic thought of Bernard Mandeville«, S. 207. 49  Eli F. Heckscher, Mercantilism, Volume II , London, 1935, S. 293. 50  Ebd.

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Text bis vor kurzem kaum zur Kenntnis genommen,51 was wohl nicht nur an dem anrüchigen Thema der Prostitution lag, sondern auch daran, dass sich der hier gemachte Vorschlag zur Einrichtung staatlich geführter Bordelle kaum mit dem Bild Mandevilles als eines marktradikalen Laissez-faire-Theoretikers in Einklang bringen ließ. A Modest Defence of Publick Stews ist sehr wahrscheinlich kein ernst gemeinter Reformvorschlag. Für Mandeville bot sich damit die Gelegenheit, die moralischen und religiösen Empfindlichkeiten seiner Zeit herauszufordern und in einer spielerischen Weise sein Programm einer radikal utilitaristischen, konsequentialistischen Ethik vorzuführen: Die Prostitution, die ohnehin nicht verhindert werden kann, wird durch ihre Legalisierung in eine unschädliche Verlaufsform gebracht; unter staatlicher Aufsicht betrieben, zeitigt sie nicht nur weniger schädliche Effekte, sie kann sogar zu einem ökonomischen Gewinn für die Allgemeinheit werden. Damit scheint Mandeville zunächst nur sein Generalthema vom höheren Nutzen der privaten Laster zu variieren. Von der Argumentation der Fabel of the Bees unterscheidet sich A Modest Defence jedoch dadurch, dass hier anstelle einer Laissez-Faire-Haltung ein ziemlich weitreichender und ins Detail gehender Staatsinterventionismus propagiert wird. Nicht der Markt soll das Verhältnis von Angebot und Nachfrage regeln; die Höhe des notwendigen »Supplies of young Women« soll sich vielmehr aus ›computations‹ im Stil der Politischen Arithmetik ergeben: Now, the Publick Stews will regulate this Affair so precisely, and with such critical Exactness, that, one Year with another, we shall not have one Woman employ’d in the Publick Service more than is absolutely necessary, nor one less than is fully sufficient.52

Mit der gleichen Unbekümmertheit, mit der William Petty eine ›Transplantation‹ tausender englischer und irischer Frauen vorgeschlagen hatte,53 fasst »Phil-Porney« eine »Importation of Foreign Women« ins Auge.54 Damit würde nicht nur »the Honour of our Females« gerettet; ein weiterer Nutzen bestünde auch darin, dass »our estated Youth« dann keine kostspieligen Auslandsreisen mehr unternehmen müsse, um ihre »Curiosity in foreign Amours« zu befriedigen.55 Die Zahl der in jedem Haus arbeitenden Frauen ist auf 20 festgelegt, und auch die Preisbildung in den Bordellen wird keineswegs der individuellen Aushandlung 51  Vgl. Bruce Elmslie, »Publick Stews and the genesis of public economics«, Oxford Economic Papers, Jg. 68, N° 1, 2015, 1 – 15, S. 2. 52  Mandeville, pseud.: »Phil-Porney«, A Modest Defence of Publick Stews, S. 63. 53  Vgl. Kapitel 12, Abschnitt »Eingreifende Wissenschaften«. 54  Ebd., S. 65. 55  Ebd., S. 65 – 66.

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überlassen. Die Frauen sollen vielmehr in vier Klassen unterteilt werden, »who for their Beauty, or other Qualifications, may justly challenge different Prices«: The first Class is to consist of eight, who may legally demand from each Visitant Half a Crown. The second Class to consist of six, whose fix’d Price may be a Crown. The third Class of four, at half a Guinea each. The remaining two make up the fourth Class, and are design’d for Persons of the first Rank, who can afford to Pay a Guinea for the Elegancy of their Taste.56

Viele Details, mit denen Mandeville seine Argumentation schmückt, sind überzogen;57 zudem lässt die kaufmannssprachliche Rede von Liebesdingen (»We are naturally furnish’d with an extraordinary Stock of Love« 58) Zweifel aufkommen, ob Mandeville sich tatsächlich den Argumentationsstil der Politischen Arithmetik zu eigen gemacht hat oder ob es sich bei dem Text um eine Parodie der Projektemacherei handelt.59 Es gibt jedoch mindestens eine Hinsicht, in der der Text ernst genommen werden will, und dies ist der Aufruf zu einer neuen, moralfreien Betrachtung der menschlichen Angelegenheiten, die die Handlungen der Subjekte nicht nach ihren Absichten, sondern allein nach ihren gesamtgesellschaftlichen Effekten bewertet.60 Die Prostitution wäre damit nur ein Testfall, an dem sich zeigen lässt, wie ein tabuisiertes, mit Leidenschaften und Vorurteilen besetztes Thema einer nüchternen Schaden-/Nutzenkalkulation unterworfen und einer rationalen Lösung zugeführt werden kann. 56  Ebd., S. 13 – 14. 57  Zu den komischen, satirischen Effekten des Essays vgl. Richard I. Cook, »›The great

leviathan of leachery‹. Mandeville’s ›Modest Defence of Publick Stews‹ (1724)«, in: Irwin Primer (Hg.), Mandeville studies. New explorations in the art and thought of Dr. Bernard Mandeville (1670 – 1733), New York, 2011, 22 – 33, S. 26. 58  Mandeville, pseud.: »Phil-Porney«, A Modest Defence of Publick Stews, S. 28. 59  Dass Mandevilles Text zu seiner Zeit nicht (oder jedenfalls nicht vorrangig) als Parodie wahrgenommen wurde, zeigt sich u. a. daran, dass er selbst parodiert wurde. Swifts Modest Proposal (1729) reagiert auf A Modest Defence und treibt dessen konsequentialistische Argumentation ins Absurde (vgl. Renee Prendergast, »Jonathan Swift’s critique of consequentialism?«, Cambridge Journal of Economics, Jg. 39, N° 1, 2014, 281 – 297). Wäre Mandevilles Text selbst als Satire erkennbar gewesen, hätte er sich kaum zur Parodie angeboten. Zu Swifts Modest Proposal, s. u. Kapitel 19, Abschnitt »Swifts anti-arithmetischer Kampf«. 60  Dass es Mandeville mit seinem Plädoyer für eine konsequentialistische, staatsutilitaristische Ethik Ernst ist, zeigt das keineswegs humorvoll zu nehmende Beispiel, das er für sie ins Feld führt: »As for Instance: A Ship performing Quarantine, and known to be infected, is sunk by a Storm; some of the Crew, half drown’d, recover the Shore; but the Moment they land, the Government orders them to be shot to Death. This Action, in itself, is no less than a downright unchristian and inhuman Murther; but since the Health and Safety of the Nation is secur’d by this severe Precaution, it is no Wonder, if we allow the Action to be not only justifiable, but in the strictest Sense of Morality Just.« Mandeville, pseud.: »Phil-Porney«, A Modest Defence of Publick Stews, S. 68 – 69.

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Dass Mandeville in der Frage der Prostitution für eine staatliche Regulierung eintritt, während er es in anderen Fragen für besser hält, auf die Gleichgewichtsprozesse des Marktes zu vertrauen, hätte er selbst vermutlich nicht als Widerspruch empfunden. Sein erklärtes Ziel war »the Grandeur and worldly Happiness of the whole«,61 und dies konnte in einem Fall durch Nicht-Einmischung, im anderen durch gezielte Interventionen erreicht werden. Wie Mandeville verschiedentlich betont, bedarf es eines »skilful Management of wary Politicians,62 um die lasterhaften Strebungen der Individuen in »Publick Welfare« zu überführen.63 Maurice Goldsmith hat die Ansicht vertreten, der von Mandeville beschriebene »skilful politician« 64 sei nicht als »menschliches Wesen« zu verstehen, sondern als »Symbol der Gesellschaft« oder als »System von Rollen, in das die Individuen eingepasst werden«.65 Doch dafür trägt das Bild, das Mandeville von dieser Figur entwirft, dann doch zu menschliche Züge. Letztendlich handelt es sich um eine Stellenbeschreibung, die ziemlich genau auf Mandeville selbst passt, auf den vorurteilslosen Seelenarzt und Kybernetiker der Leidenschaften: Whoever would civilize Men, and establish them into a Body Politick, must be thoroughly acquainted with all the Passions and Appetites, Strength and Weaknesses of their Frame, and understand how to turn their greatest Frailties to the advantage of the Publick.66

Gesellschaft als Klassengesellschaft Aus zwei Gründen lässt sich sagen, dass Mandeville eine besondere Bedeutung in der Formierung der modernen Klassengesellschaft zukommt. Der erste Grund ist der offensichtlichere und trivialere: Mandeville bedient sich nicht nur des Klassenvokabulars der Politischen Arithmetik; er tut dies auch, anders als Tatler und Spectator, in einer nicht nur ironischen und spielerischen Weise. Zwar gibt es auch bei Mandeville Zeugnisse der speziellen Sorte von Humor, die sich aus der Selbstüberhebung des Klassifikators ergibt, beispielsweise wenn er in seiner Modest Defence of Publick Stews die Angehörigen des weiblichen Geschlechts, je nach ihrer Anfälligkeit für unsittliche Verhaltensweisen, »in their several Classes« einteilt,67 oder wenn er vorschlägt, die Prostituierten der »Public

Mandeville, anon., The fable of the bees, o. P. [Preface]. Ebd., S. 34. Ebd., S. 101. Mandeville, »A Search into the Nature of Society«, S. 371. Goldsmith, »Public virtue and private vices«, S. 510. Bernard Mandeville, »The Fable of the Bees [Passage, die in der Auflage von 1723 hinzugefügt wurde]«, in: ders., The Fable of the Bees, hg. v. Phillip Harth, London, 1989, 51 – 259, S. 222. 67  Mandeville, pseud.: »Phil-Porney«, A Modest Defence of Publick Stews, S. 49. 61  62  63  64  65  66 

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Stews« im Hinblick auf »their Beauty, or other Qualifications« in unterschiedliche Verdienstklassen einzuordnen.68 Sonst aber scheint ihm der Klassenbegriff nicht in erster Linie zur Belustigung zu dienen. Die Klassenunterscheidung wird vielmehr einigermaßen ernsthaft als Instrument zur Verzeichnung realer, empirisch feststellbarer Unterschiede eingesetzt. Ganz unironisch ist jedenfalls der Vorschlag des Arztes Mandeville zur Klassifizierung der hypochondrischen Leiden. Wie er sagt, kann die medizinische Wissenschaft nur gewinnen, wenn sie eine in der Praxis leicht erkennbare, aber von den Ärzten gewöhnlich übersehene Unterscheidung auch in der Theorie aufnimmt und die »Hysterick Women« nach der Verlaufsform ihrer Anfälle »into two Classes« teilt.69 Eine entsprechende analytische Kraft schreibt Mandeville dem Klassenbegriff aber auch in sozialer Hinsicht zu: In dem gleichen medizinischen Traktat, in dem er die hysterischen Leidenschaften in eine Klassenordnung bringt, skizziert er das Bild einer Gesellschaft, die in vier verschiedene, deutlich voneinander getrennte Klassen der Armut und des Reichtums gespalten ist: Some People have a small Income, they can hardly subsist upon; others are well to pass, and can live handsomely; a third Class are very Rich; and above them there are Men of Princely Revenues […].70

Der zweite und wesentlichere Grund, warum sich von Mandeville als einem Pionier der Klassengesellschaft sprechen lässt, hat mit seiner Auffassung und seinem Begriff von ›Gesellschaft‹ zu tun. Tatsächlich ist es in der soziologischen Theorie strittig, von welchem geschichtlichen Zeitpunkt an sich überhaupt von ›Gesellschaft‹ im modernen Sinn sprechen lässt. Der seit dem späten 16. Jahrhundert gebräuchliche Begriff der Civil Society hatte mit dem späteren Begriff von Gesellschaft »als einer Totalität von sich selbst tragenden gesellschaftlichen Beziehungen« nicht viel zu tun; er bezeichnete nicht so sehr den Zusammenhang der Individuen, sondern eher das »politisch-rechtliche Rahmenwerk«, durch das sie regiert wurden.71 Gesellschaft im Sinn einer »außerpolitischen Totalität« sei, so José Harris, »vor dem 18. Jahrhundert kaum jemals irgendwo gedacht worden, und selbst dann nur in sehr tentativer und embryonischer Weise«.72 Doch lassen sich erste Konturen eines allgemeinen Begriffs von Gesellschaft, der nicht

68  Ebd., S. 13. 69  Mandeville, A Treatise of Hypochondriack and Hysterick Passions, Vulgarly called Hypo in

Men, and Vapours in Women, S. 175. 70  Ebd., S. 229. 71  José Harris, »From Richard Hooker to Harold Laski. Changing perceptions of civil society in British political thought, late sixteenth to early twentieth centuries«, in: ders. (Hg.), Civil society in British history. Ideas, identities, institutions, Oxford, 2005, 13 – 38, S. 15 – 16. 72  Ebd., S. 16.

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mit Civil Society identisch ist, schon bei John Locke erkennen.73 In Mandevilles Schriften schließlich ist der Abstraktionsschritt zu einem eigenen, ›protosoziologischen‹ Gesellschaftsbegriff sehr weitgehend vollzogen.74 Zwar gibt es auch bei Mandeville Momente, in denen er »the Society« ganz konventionell als einen »Body Politick« fasst, dessen Aufgabe darin bestehe, das Individuum zu einer »Disciplin’d Creature« zu machen.75 Zugleich entwickelt er jedoch eine »neue, funktionalistische und utilitaristische Theorie von Gesellschaft«,76 die die Kräfte der Selbstorganisation und der spontanen Hervorbringung betont und deshalb auch als eine »evolutionäre Sozialtheorie« verstanden werden kann.77 Überzeugt von der Macht der menschlichen »Appetites and Passions« geht Mandeville davon aus, dass die »Sociableness of Man« sich auf nicht mehr als »Two things« zurückführen lasse, nämlich »The multiplicity of his Desires, and the continual Opposition he mets with in his Endeavours to gratify them«.78 Der gesellschaftliche Zusammenschluss ergibt sich demnach nicht aus einer rationalen Übereinkunft nach Art des Hobbes’schen Unterwerfungsvertrags; er emergiert vielmehr aus der blinden Konkurrenz der individuellen Bedürfnisse und egoistischen Begierden. Mandevilles Rede vom Nutzen der Laster findet hier ihre anthropologische Fundierung: Die Sozialität des Menschen beruht nicht auf den »Good and Amiable«, sondern auf den »Bad and Hateful Qualities of Man«;79 es sind gerade die ›asozialen‹ Züge am Menschen, die ihn zu einem sozialen Wesen machen: After this I flatter my self to have demonstrated that, neither the Friendly Qualities and kind Affections that are natural to Man, nor the real Virtues, he is capable of acquiring by Reason and Self-Denial, are the foundation of Society; but that what we call Evil in this World, Moral as well as Natural, is the grand Principle that makes us Sociable Creatures, the solid Basis, the Life and Support of all Trades and Employments without exception: That there we must look for the true origin of all Arts and Sciences, and that the moment, Evil ceases, the Society must be spoil’d if not totally dissolv’d.80

Mit Mandeville taucht also eine neue Idee von Gesellschaft auf: eine Ordnung, die aus Unordnung hervorgeht und paradoxerweise auf die Erhaltung einer ge73  Vgl. ebd., S. 20 – 21. Vgl. a. Eric R. Wolf, »Inventing society«, American Ethnologist, Jg. 15,

N° 4, 1988, 752 – 761, S. 754.

74  Vgl. Pekka Sulkunen, »The proto-sociology of Mandeville and Hume«, Distinktion:

Journal of Social Theory, Jg. 15, N° 3, 2014, 361 – 365. Mandeville, »A Search into the Nature of Society«, S. 350. Goldsmith, »Public virtue and private vices«, S. 510. Vgl. Mikko Tolonen, Mandeville and Hume. Anatomists of civil society, Oxford, 2013, S. 11. Mandeville, »A Search into the Nature of Society«, S. 346 – 347. Ebd., S. 346. Ebd., S. 370.

75  76  77  78  79  80 

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wissen Unordnung angewiesen bleibt, um nicht »totally dissolv’d« zu werden. Mandevilles »Society« meint damit also mehr als nur den Ordnungsapparat der »Civil Society«; sie bezeichnet das ganze Reich der menschlichen »Appetites und Passions«, zu denen eben auch die falschen, bösen und selbstsüchtigen Antriebe des ›homo oeconomicus‹ gehören.81 Diese Erweiterung des Verständnisses von Gesellschaft drückt sich in einer Reihe von terminologischen Neuerungen aus: Mandeville spricht von »the whole Society« 82 und »the Band of Society« 83; er stellt dem Begriff des »Body Politick« den des »Social Body« 84 zu Seite; er bezeichnet eine »well order’d Society« als »so beautiful a Machine«;85 und er verwendet den Plural »Societies«, um menschliche Gesellschaften verschiedener Gegenden und Zeiten miteinander zu vergleichen.86 Wie hängt nun Mandevilles funktionale Auffassung von menschlicher Gesellschaft mit der Frage der Klassenteilung zusammen? Zunächst handelt es sich schlicht um einen Affront gegen die traditionellen, theologischen oder rationalistischen Begründungen der gesellschaftlichen Hierarchie: Die Idee, dass der gesellschaftliche Zusammenhang auf dem blinden Kampf selbstsüchtiger Interessen beruht, ist offensichtlich unvereinbar mit der Idee einer auf die menschliche Vernunft oder göttlichen Ratschluss gegründeten Ordnung. Tatsächlich hat bei Mandeville das alte System der gesellschaftlichen Rangunterscheide keinerlei begründende Kraft mehr. Wenn im Female Tatler (und zwar in der eher ›toryistischen‹, von Benjamin Bragge verlegten Variante, an der Mandeville keinen Anteil hatte 87) erklärt wird, die »Distinction of Rank« sei »highly necessary for the Oeconomy of the World«,88 so hätte Mandeville dem

81  In seinem Aufsatz über die Gabe erklärt Marcel Mauss, der »Triumph des Begriffs des individuellen Interesses« sei »ungefähr datierbar: nach Mandeville und seiner Bienenfabel«. Marcel Mauss, »Die Gabe. Form und Funktion des Austauschs in archaischen Gesellschaften«, in: ders., Soziologie und Anthropologie II , hg. v. Henning Ritter, Frankfurt a. M., Berlin, Wien, 1975, 9 – 144, S. 135. Der Mauss-Schüler Louis Dumont bezeichnet Mandeville als den ersten Autor, der »die Vorherrschaft der ökonomischen Sichtweise in unserem ideologischen Universum« offengelegt habe. Louis Dumont, From Mandeville to Marx. The genesis and triumph of economic ideology, Chicago, 1977, S. 81. 82  Mandeville, anon., The fable of the bees, S. 31. 83  Mandeville, The Fable of the Bees, Part II , S. 30. 84  Mandeville, »An Essay on Charity, and Charity-Schools«, S. 325. 85  Mandeville, anon., The fable of the bees, o. P. [Preface]. 86  Mandeville, The Fable of the Bees, Part II , passim. Im zweiten Teil der Bienenfabel (1729) findet sich sogar der aufsehenerregende Ausdruck »Social System«; gemeint ist aber kein soziales System, sondern Shaftesburys ›System‹ von der ursprünglichen Soziabilität des Menschen, dem Mandeville sein eigenes »selfish system« entgegengesetzt hat. Vgl. Irwin Primer, »Mandeville and Shaftesbury«, in: ders. (Hg.), Mandeville studies. New explorations in the art and thought of Dr. Bernard Mandeville (1670 – 1733), New York, 2011, 126 – 141, S. 126. 87  S. o., Kap. 16, Abschnitt »Der Female Tatler«. 88  The Female Tatler, N° 17, o. P.

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vermutlich zugestimmt, dies aber nur aus pragmatischen, opportunistischen Gründen, weil die Eitelkeit der Rangunterscheidung (wie andere Laster auch) wesentlich zum produktiven Funktionieren des Ganzen beitrug. Die Wertbildungen der symbolischen Ökonomie der Ehre waren zwar, wie Mandeville in der Bienenfabel zeigte, illusorisch; es wäre aber dennoch unklug gewesen, sie außer Kurs zu setzen, da Geltungsdrang und Ruhmsucht wesentliche Anreize für gemeinnütziges Handeln darstellten: If some great Men had not a superlative Pride and every body understood the Enjoyment of Life, who wou’d be a Lord Chancellor of England, a Prime Minister of State in France, or what gives more Fatigue, and not a sixth part of the Profit of either, a Grand Pensionary of Holland?89

Der von Mandeville beschriebenen Gesellschaft liegt nicht mehr die Vorstellung einer von Gott eingerichteten hierarchischen Ordnung zugrunde; die Stratifikation, die sie immer noch kennt, geht nun auf das vollkommen andersartige ökonomische Kriterium des Besitzes zurück. Dabei handelt es sich nicht nur darum, dass die Menschen nun vorrangig danach beurteilt werden, ob sie reich oder arm sind. Für Mandeville ist der Gegensatz von Arm und Reich nicht nur ein Instrument zur Beschreibung der gesellschaftlichen Unterschiede; der Gegensatz hat vielmehr systemische Bedeutung für das Funktionieren der Gesellschaft – weshalb er auch um jeden Preis aufrechterhalten werden muss. Nur so lassen sich Mandevilles kühle, schon von den Zeitgenossen als zynisch empfundene Stellungnahmen zum Problem der Armut verstehen. Wie Mandeville in der 1723 erschienenen, erweiterten Fassung seiner Fable of the Bees erklärt, gründet sich der ganze Reichtum eines Landes auf die Arbeit des »meanest indigent Part of the Nation«, einer »vast multitude« von Armen: For how excessive soever the Plenty and Luxury of a Nation may be, some Body must do the work. Houses and Ships must be built, Merchandizes must be remov’d, and the Ground till’d.90

Damit »the working slaving People« 91 diese notwendige Arbeit weiter verrichten, müssen sie einerseits am Leben, andererseits aber auch im Zustand der Armut gehalten werden:

89  Mandeville, »The Fable of the Bees [Passage, die in der Auflage von 1723 hinzugefügt wurde]«, S. 232. 90  Ebd., S. 145. 91  Ebd.

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[…] as they ought to be kept from starving, so they should receive nothing worth saving. […] it is the Intrest of all Rich Nations; that the greatest part of the Poor should almost never be Idle, and yet continually spend what they get.92

Wenn Armut die unmittelbare Voraussetzung der Reichtumsproduktion ist, so werden alle wohlmeinenden Versuche, die Armut zu lindern, nur auf eine Verminderung des gesamtgesellschaftlichen Wohlstands hinauslaufen. Mandeville widersetzt sich daher unter Aufbietung all seiner polemischen Mittel einer ausgleichenden Politik der Sozialreform und Volkserziehung. Am deutlichsten hat er seine Position in dem Pamphlet gegen die Armenschulen (»charity schools«) ausgedrückt: Wenn »the surest wealth consists in a multitude of Laborious Poor«, dann ist es ökonomisch äußerst unklug, die Armut zu verringern oder die Armen durch Schulbildung auf den Gedanken einer möglichen anderen Existenz zu bringen: To make the Society Happy and People Easy under the meanest Circumstances, it is requisite that great numbers of them should be Ignorant as well as Poor. Knowledge both enlarges and multiplies our Desires, and the fewer things a Man Wishes for, the more easily his Necessities may be supply’d.93

Auch wenn Mandeville kaum mit Zahlen operiert, steht seine Behandlung des Armenproblems erkennbar in der Tradition der Politischen Arithmetik. Individuelle Schicksale sind gleichgültig; was zählt, ist das Gesamtergebnis. So kann Mandeville großzügig zugestehen, dass hin und wieder »one of the lowest class« sich durch »uncommon industry, and pinching his Belly« aus dem Zustand der Armut herausarbeiten kann;94 wesentlich ist, dass dadurch das Gesamtverhältnis nicht beeinträchtigt wird, d. h. dass weiterhin ein großes Reservoir von Armen zur Verfügung steht, denen nichts anderes übrig bleibt, als jede sich bietende Arbeit anzunehmen. Von einer klassisch konservativen Argumentation, die ebenfalls Wert darauf legen würde, dass die Armen an ihrem Platz bleiben, unterscheidet sich Mandevilles Betrachtung durch die rein funktionalistische, systemtheoretische Argumentation: Es geht nicht – jedenfalls nicht ausdrücklich – darum, eine bestimmte gesellschaftliche Rangordnung zu erhalten oder bestimmte privilegierte Gruppen vor den Ansprüchen der nachdrängenden Schichten zu schützen; worauf es ankommt, ist vielmehr die Erhaltung des Ungleichgewichts, der Potentialdifferenz 92  Ebd., S. 209. 93  Mandeville, »An Essay on Charity, and Charity-Schools«, S. 294. 94  Mandeville, »The Fable of the Bees [Passage, die in der Auflage von 1723 hinzugefügt

wurde]«, S. 209. »To pinch one’s belly« entspricht etwa dem deutschen Ausdruck »Vom Munde absparen«.

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R eiche gegen A rme

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zwischen Arm und Reich, die sich für die Produktion des gesellschaftlichen Wohlstands als förderlich erwiesen hat. Mandevilles Darstellung der Gesellschaft als Kampfplatz der Leidenschaften schloss sehr wohl die Möglichkeit ein, dass Individuen oder auch ganze Berufsgruppen ihre soziale Position veränderten; entscheidend war, dass dabei das grundlegende Verhältnis sozialer Ungleichheit erhalten blieb, aus dem sich der Reichtum der Nation speiste. Man kann Mandeville daher mit Fug und Recht als einen Theoretiker des Klassengesellschaft begreifen: nicht nur weil er die ökonomische Stellung als entscheidendes Kriterium der sozialen Differenzierung betrachtet hat; nicht nur, weil er den Klassenbegriff verwendet hat, um die Menschen nach ihrer ökonomischen Stellung zu sortieren; sondern vor allem deshalb, weil er die Klassenteilung als ein generatives Moment der von ihm beschriebenen Ordnung begriffen hat. Diese generative Funktion, dieses Spaltprinzip ist der entscheidende Gesichtspunkt, unter dem die von ihm vorgeschlagenen Ordnung zu betrachten ist: In empirischer Hinsicht lassen sich zahlreiche Klassen des Reichtums und der Armut unterscheiden (Mandeville selbst hat, wie erwähnt, vier Klassen unterschieden), doch in systematischer Hinsicht geht es um den Gegensatz zweier Klassen: Auf der einen Seite »the working slaving people«, also diejenigen, die »do the work«;95 auf der anderen all die anderen, die in der einen oder anderen Weise von dieser Arbeit profitieren. Gesellschaft im modernen Sinn offenbart sich damit als geteilte, und zwar als eine zweigeteilte Gesellschaft. Wenn später im 18. Jahrhundert, bei Edmund Burke oder Turgot, von einer »division of society […] into Rich and Poor« 96 oder von einer »division de la societe en deux classes« 97 die Rede ist, so kann man den Ursprung dieses Topos von der gespaltenen Gesellschaft bei Mandeville finden. Zugleich hat Mandeville deutlich gesehen, dass in der Spaltung zwischen Arm und Reich der Keim einer beständigen Spannung und untergründigen Gewalt liegt: In the rude and unpolish’d Multitude this Passion is very bare-faced; especially when they envy others for the Goods of Fortune: They rail at their Betters, rip up their Faults, and take Pains to misconstrue their most commendable Actions […] The grosser Sort of them it often affects so violently, that if they were not withheld by the Fear of the Laws, they would go directly and beat those their Envy is levell’d at, from no other Provocation than what that Passion suggests to them.98 95  Ebd., S. 145. 96  Edmund Burke, anon., A vindication of natural society. Or, a view of the miseries and evils

arising to mankind from every species of artificial society, London, 1756, S. 89 – 90. Bei Burkes Text handelt es sich um eine Parodie; die Darstellung der zivilisatorischen Übel war aber so eindrücklich, dass der Text tatsächlich als ›Rechtfertigung‹ der Naturgesellschaft gelesen wurde. 97  Anne Robert Jacques Turgot, Réflexions sur la fortune et la distribution des richesses, s. l., 1766, S. 14. 98  Mandeville, »The Fable of the Bees [Passage, die in der Auflage von 1723 hinzugefügt wurde]«, S. 159 – 160.

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Das Phänomen, das Mandeville hier unter dem traditionellen Titel »Neid« abhandelt, könnte man ebenso gut ›Klassenkampf‹ nennen. Offenbar ist die affektive Energie, die sich aus der Ungerechtigkeit des Klassenunterschieds ergibt, schon so groß, dass es keines weiteren Auslösers (»no other Provocation«) mehr bedürfte, um die wütende multitude handgreiflich werden zu lassen. Einzig die Furcht vor der Vergeltung kann sie noch zurückhalten. Die von Mandeville beschriebene Situation kommt damit dem recht nahe, was Oliver Marchart, im Anschluss an Ernesto Laclau, als »eine weitgehende Homogenisierung des symbolischen Raums um einen einzigen Antagonismus« bezeichnet hat.99 In einer solchen Situation genügt dann unter Umständen »das Glitzern einer Manschette oder das Hochziehen einer Augenbraue«,100 um die Lage eskalieren zu lassen. Mandeville war sich dieser Gefahr offenbar bewusst; er hat den Angehörigen seiner Schicht einzubläuen versucht, dass sie sich der Ansprüche von unten durch einen selbstbewussten Klassenkampf von oben erwehren mussten. Jede Form des Nachgebens oder des Zugeständnisses, jede Äußerung von »Petty Reverence for the Poor«, gespeist aus einer Mischung von »Pity, Folly and Superstition«,101 würde nur als ein Zeichen der Schwäche gedeutet werden. Man sehe ja, was geschehe, wenn man den rebellierenden Webern entgegenkomme und »Fifty silly things« anstelle, um sie bei Laune zu halten: »in the midst of their Poverty they insult their Betters, and on all Ocasions appear to be more prone to make Holy Days and Riots than they are to Working or Sobriety«.102

99  Oliver Marchart, Techno-Theorie. Medien-Subversion, -Guerilla, -Sabotage, -Störung, -Dissidenz, -Piraterie, -Hijacking und andere Phantasien, s. d. [1995], online verfügbar unter: http:// www.tacticalmediafiles.net/n5m2/content/tyrell/guerill.htm. Zuletzt geprüft am 12. Dezember 2018. 100  Ebd. 101  Mandeville, »An Essay on Charity, and Charity-Schools«, S. 315. 102  Ebd., S. 316.

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18.

INTO CLASSES. DEFOES KLASSIFIKATORISCHER IMPERATIV Es gibt wahrscheinlich kein Leben zu Beginn des 18. Jahrhunderts, das so sehr die politische Unruhe seiner Zeit wiedergibt, wie das von Daniel Defoe, dem Autor des Robinson Crusoe (1719) und der Moll Flanders (1722). Im ständigen Streben nach Einfluss stand Defoe selbst unablässig unter dem Einfluss, den die politischen Ereignisse auf ihn ausübten.1 Mit seismosgraphischer Genauigkeit zeichnen seine journalistischen und literarischen Arbeiten die Verschiebungen und Erschütterungen des gesellschaftlichen Gefüges nach; dabei bildet der berechnende und sortierende Zugriff den Universalschlüssel, um der in Bewegung geratenen Gesellschaft ein neues Bild der Ordnung abzugewinnen. Symptomatisch ist Defoes Einsatz des Klassenbegriffs; er wird hier erstmals zu einem Instrument der empirischen Beschreibung des Sozialen.

Profit und Providenz Während man vom Leben Bernard Mandevilles so gut wie nichts weiß, konnten über seinen zehn Jahre älteren Zeitgenossen Daniel Defoe umfangreiche Biographien geschrieben werden.2 Zudem ist Defoes Werk wesentlich uneinheitlicher. Während Mandeville über Jahrzehnte konsequent einen einzigen Gedanken (den der ›Private vices, publick benefits‹) ausgearbeitet zu haben scheint, lassen sich Defoes meist tagesaktuelle Stellungnahmen zu allen nur denkbaren Aspekten des politischen, ökonomischen und sozialen Geschehens kaum zu einem einheitlichen Bild zusammenfügen: »Jede Kohärenz, die seiner Karriere zugeschrieben wird, beginnt zu bröckeln, wenn wir der Mischung noch Defoes Neigung zu Masken, Verkleidung und Verstellung hinzufügen, sowie sein Anliegen, ›all things to all men‹ zu sein.« 3 Doch gibt es einige bezeichnende Übereinstimmungen zwischen Mandeville und Defoe, nicht nur in Bezug auf den »persönlichen Hintergrund, die Interessen 1  Vgl. Philip Nicholas Furbank u. William R. Owens, A political biography of Daniel Defoe,

London, 2006, S. 1. 2  Vgl. Paula R. Backscheider, Daniel Defoe. His life, Baltimore MD , 1989; Maximillian E. Novak, Daniel Defoe. Master of fictions: His life and works, Oxford, 2001; John Richetti, The life of Daniel Defoe. A critical biography, Chichester, West Sussex, 2005; Furbank u. Owens, A political biography of Daniel Defoe. 3  Martyn P. Thompson, »Review of ›Clark, Katherine – Daniel Defoe. The whole frame of nature, time and providence‹«, History of Political Thought, Jg. 30, N° 4, 2009, 723 – 725, S. 725.

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und den Lebensstil«,4 sondern auch im Hinblick auf die ideologische Orientierung. Wie Mandeville ist Defoe ein lebhafter Verteidiger der neuen, merkantilen Ordnung, und er nimmt, ebenso wie dieser, eine größere soziale Ungleichheit in Kauf, wenn dadurch der Gesamtreichtum der Gesellschaft gesteigert wird. Mit Mandeville verbindet ihn auch der neue Blick auf das Soziale: Seine Projekt- und Reformvorschläge beschränken sich nie auf ihren unmittelbaren Gegenstand, sie sind stets mit einer »ausdrücklich totalisierenden Sicht auf die Gesellschaft« verbunden.5 Und schließlich stimmt Defoe mit Mandeville darin überein, Luxus und Laster als unvermeidliche Antriebsmomente von Handel und Industrie zu betrachten, auch wenn er die Botschaft vom Nutzen der Laster weniger sarkastisch und mit eher philanthropischen Argumenten präsentiert: This new method of Living, saving the Errors of it, as it may be recckon’d a Vice; Errors is however the great support of Trade in the World; again, that Trade encreases Wealth, raises Families, lifts the Poor up from the low and necessituous way of living, to subsisting comfortably and plentifully on their Labour […].6

Wie Mandeville lässt sich Defoe, trotz des durchgehenden Lobs für Handel und Kaufmannsethos, nicht als ›Liberaler‹ betrachten; seine ökonomiepolitischen Stellungnahmen bleiben vielmehr der merkantilistischen Doktrin der Mehrung des nationalen Reichtums und der staatlichen Wirtschaftslenkung verpflichtet.7 Expliziter als Mandeville, der für mathematische Berechnungen wenig Interesse zeigt, steht Defoe in der Tradition der Politischen Arithmetik von Graunt, Petty, King und Davenant; von ihm lässt sich sagen, dass er die kalkulatorische Betrachtung des Sozialen populär gemacht hat. Ein wesentlicher Unterschied zu Mandeville besteht darin, dass Defoe sich nicht mit der Rolle eines distanzierten Beobachters und ironischen Kommentators begnügt hat, sondern sich als »restless Daniel« 8 in das politische, öko4  John Robert Moore, »Mandeville and Defoe«, in: Irwin Primer (Hg.), Mandeville studies. New explorations in the art and thought of Dr. Bernard Mandeville (1670 – 1733), New York, 2011, 119 – 125, S. 119. 5  Richetti, The English novel in history, 1700 – 1780, S. 53. 6  Daniel Defoe, A General History of Trade [part 2]. This for the Month of July, London, 1713, S. 27. 7  Maximilian E. Novak zufolge war Defoe keineswegs ein »Prophet des Laissez-faire«, sondern »ein Merkantilist« der nur in »wenigen Theorien seiner Zeit voraus war« und in vielen Fällen Ideen anhing, »die eher typisch für das frühe 17. Jahrhundert waren als für das Zeitalter, in dem er schrieb«. Maximillian E. Novak, Economics and the fiction of Daniel Defoe, Berkeley, 1962. Zur Kritik dieser Darstellung Defoes als »konservativer Merkantilist« vgl. Bram Dijkstra, Defoe and economics. The fortunes of Roxana in the history of interpretation, New York, 1987, S. 162 – 163. 8  Alexander Pope, »The Dunciad in Four Books. Printed according to the complete Copy found in the Year 1742«, in: ders., The major works, hg. v. Pat Rogers, Oxford, New York, 2006, 411 – 572, S. 441.

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nomische und publizistische Geschehen seiner Zeit eingemischt hat. Anders als Mandeville, der aus einer angesehenen holländischen Arztfamilie kam, war Defoe ein ökonomischer Aufsteiger; gegenüber Autoren wie Swift oder Pope, die eine ›aristokratische‹ Haltung der Distanz kultivierten, konnte er durchaus als Mann des Volkes, als »Cicero of the mobile« erscheinen.9 Wie Mandeville verwirft Defoe Shaftesburys naive Annahme eines ursprünglichen Hangs zur Tugend und lehnt dessen politeness-Ideal als unrealistisch ab.10 Sein kühler Blick auf die egoistischen Antriebe der Menschen führt ihn allerdings nicht zu einer zynischen Rechtfertigung der Ungleichheit, sondern zu einer Politik der moralischen Ermahnung und Erziehung. So hat Defoe in den 1720er Jahren explizit sowohl gegen Mandevilles Verächtlichmachung der ›charity schools‹ wie auch gegen dessen Vorschlag zur Legalisierung der Prostitution Stellung bezogen.11 Der entscheidende Unterschied zwischen Mandeville und Defoe ist aber der der religiösen Einstellung. Während die Berufung auf Gott bei Mandeville schlicht keine Rolle spielt, ist sie bei Defoe allgegenwärtig. Der Glaube an den dreieinigen Gott und seine Macht über die Schicksale des Lebens und der Ökonomie bildet die ideologische Grundierung aller seiner Schriften. So kann es für Defoe auch keine nonchalante Rechtfertigung des Lasters geben. Während bei Mandeville Gut und Böse kaum voneinander zu trennen sind (und unter einem anderen Gesichtspunkt jeweils als das Gegenteil erschienen können), hält Defoe an der Notwendigkeit einer strengen Unterscheidung der beiden Pole fest; ja, man kann sagen, dass es ihm in jeder Lage vor allem darum geht, das Gute vom Bösen zu sondern. In diesem Imperativ der ständigen moralischen Unterscheidung liegt wohl der tiefere, theologische Grund, warum Klassifikationsverfahren in Defoes Werk eine solche Bedeutung haben. Die klassifikatorische, manchmal buchstäblich tabellarische Einteilung ist nicht nur ein Hilfsmittel der moralischen Gewissensprüfung und Entscheidungslehre; sie bekommt bei Defoe selbst einen moralischen Wert: Das verlässlich Bezeichnete, ordentlich Klassifizierte ist das Vertrauenswürdige, Gute; zugleich verliert das Böse schon einiges von seinem Schrecken, wenn es als solches erkennbar gemacht, richtig bezeichnet und deutlich vom Guten getrennt wird. Defoe war Mitglied der presbyterianischen Glaubensgemeinschaft, die an orthodoxen calvinistischen Ansichten festhielt, zugleich aber einen vollständigen Bruch mit der nationalen, anglikanischen Kirche vermeiden wollte. Als Vertreter des »old dissent« 12 strebten die Presbyterianer nach Anerkennung ihrer Glaubensausübung in der Kirche »und betrachteten den Ausschluss bei gleich-

9  John F. Ross, Swift and Defoe. A study in relationship, Berkeley, 1941, S. 11. 10  Vgl. Novak, Daniel Defoe, S. 658. 11  Vgl. ebd., S. 630. 12  Vgl. Clark, Daniel Defoe, S. 116.

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zeitiger Tolerierung nur als zweitbeste Lösung«.13 Gegenüber anderen Formen des Protestantismus stach der Presbyterianismus vor allem dadurch hervor, dass er »mit der neuen Wissenschaft und der Theorie des Naturrechts« vereinbar war.14 Als Student der von Charles Morton in Newington Green, nördlich von London, betriebenen »Dissenting Academy« wurde Defoe schon früh mit den Prinzipien der Baconschen empirischen Naturwissenschaft und der klassifikatorischen Ordnung der Kenntnisse bekannt gemacht.15 Diese hatten keineswegs nur Bedeutung für die weltliche Lebensführung; vielmehr kam dem Projekt der klassifikatorischen Ordnung selbst eine besondere Funktion im göttlichen Heilsplan zu: Ebenso wie das vorausschauende Handeln des Kaufmanns hing auch die Möglichkeit der göttlichen Vorsehung davon ab, dass die Welt ordentlich klassifiziert und in ihren zukünftigen möglichen Kombinationen kalkulierbar war. In all seinen Schriften hat Defoe an der optimistischen Idee festgehalten, dass die Welt von Gott nach vernünftigen Prinzipien geordnet und in ihrem Gang vorherbestimmt sei, und dass es den Menschen möglich sei, durch rationale Planung den Gesetzen der Vorsehung zu entsprechen und selbst vorausschauend zu handeln. Am deutlichsten tritt dieser Zusammenhang von göttlicher Vorsehung und menschlicher Planung in seiner im Sommer 1713 in vier Lieferungen erschienenen General History of Trade hervor. Es handelt sich dabei weniger um eine ›Geschichte‹ als vielmehr um eine theologische Rechtfertigung des Handels, die in profaner Hinsicht als Intervention in die handelspolitische Debatte im Gefolge des Friedens von Utrecht verstanden werden kann.16 Demnach lässt sich der Handel in all seinen wunderbaren, fruchtbringenden Formen nur verstehen, wenn man ihn auf »the Glorious Design of God« zurückführt.17 Wie Defoe sich zu zeigen bemüht, hat die »Wisdom of Providence« die Welt so aufgeteilt, derart in »particular Climates, Provinces and Parts« gegliedert, dass daraus notwendig der Welthandel (»Universal Commerce«) hervorgehen musste.18 Was zunächst als ein Zeichen der Unvollkommenheit und Unordnung erscheint – die Vielgestaltigkeit der Erde und die geographische Trennung der Menschen – erweist sich auf den zweiten Blick als ein Zeichen der höheren Umsicht Gottes: But Providence has cut out the World for other work, and the wise Creator has most evidently shewn to us, that he had design’d the World for Commerce, from the measures taken in forming the Globe, in appointing Seasons, varying the

Ebd., S. 2. Ebd., S. 17. Vgl. Ilse Vickers, Defoe and the New Sciences, Cambridge, UK , New York, 1996, S.2. Vgl. Clark, Daniel Defoe, S. 103. Daniel Defoe, A General History of Trade [part 1]. To be Continued Monthly, London, 1713, S. 24. 18  Ebd., S. 9. 13  14  15  16  17 

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Productions according to the difference of the Climate, the Soil, and the position of the parts.19

In der vermeintlichen »Confusion and appearing Dislocation« der Welt zeigt sich auf diese Weise »the greatest Beauty and Harmony«: Wären die Erdteile nicht getrennt, so wäre nie die Schifffahrt, dieses »great medium of Commerce« entstanden; hätte Gott die Küsten nur mit steilen Klippen oder flachen Sandstränden ausgestattet, wäre es »very difficult« gewesen, die Schiffe ins Meer zu bringen.20 Die Aufgabe des Menschen besteht nun darin, mit dem ihm gegebenen Verstand die göttliche Ordnung zu rekonstruieren, den darin angelegten Plan zu erkennen und ihn zu verwirklichen. Defoes unermüdliche Klassifizierungsanstrengungen erklären sich auf diese Weise als Versuche, dem weltweiten Warenverkehr den Charakter einer natürlichen, von Gott selbst angelegten Ordnung zu geben: Das Ziel von Defoes Klassifizierung der Welt des Handels besteht darin, die ›richtige Ordnung‹ wiederzugeben, in die die ›Natur‹ die natürlichen Ressourcen der Welt gebracht hat. Hinter Defoes ersichtlichem Engagement für eine Kartierung der Welt des Handels steht die Baconianische Überzeugung, dass es in der Schöpfung eine Ordnung gibt, die der Mensch in seinen Geschichten der Natur und der Menschheit erkennen und wiedergeben kann.21

In seiner Aufteilung der Warenwelt trifft Defoe zunächst eine Unterscheidung zwischen Rohstoffen und bearbeiteten Waren; sie reproduziert ziemlich genau Bacons Unterscheidung zwischen den Dingen der Natur (»nature in course«) und den Produkten menschlicher, technischer Fertigkeit (»Nature altered or wrought«).22 Aus dieser Entgegensetzung gehen die ramistischen Diagramme hervor, die Defoe in seine Abhandlung einfügt.

19  Ebd., S. 10. 20  Defoe, A General History of Trade [part 2], S. 32. Die Idee, dass die geschaffene Ordnung

entgegen dem ersten Anschein die bestmögliche Welt darstellt, konnte Defoe in der protestantischen Literatur der ›Natural Theology‹, z. B. in John Ray’s Wisdom of God Manifested in the Works of Creation (1691) oder in Nehemiah Grew’s Cosmologia Sacra (1701), vorgezeichnet finden. Vgl. John Wilson Foster, »Encountering traditions«, in: ders. und Helena C. G. Chesney (Hg.), Nature in Ireland. A scientific and cultural history, Montreal, 1998, 23 – 70, S. 55. Auffallend ist zudem die Nähe seiner Argumentation zu der im gleichen Jahr 1713 veröffentlichten Physico-Theology von William Derham, nach der alles was ist, auf die »Acts of excellent Design, Wisdom, and Providence, in the Great Creator« zurückgeht. William Derham, Physico-Theology. Or, a Demonstration of the being and attributes of God, from his works of creation., London, 1713, S. 395. 21  Vickers, Defoe and the New Sciences, S. 91 – 92. 22  Francis Bacon, »Of the Advancement of Learning«, in: ders., The philosophical works of Francis Bacon, hg. v. John M. Robertson, London, 1905, 42 – 176, S. 80.

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Abbildung 26: Daniel Defoe: A General History of Trade [part 3]. London, 1713.

Der Bezug auf Bacon kann aber möglicherweise auch noch eine weitere Eigentümlichkeit der Defoe’schen Ordnung der Ökonomie erklären. Bacon hatte nämlich nicht nur zwei, sondern drei Arten der ›Natur‹ unterschieden:23 erstens die natürliche Natur, zweitens die künstlich bearbeitete Natur, und drittens die »irrende Natur« (»nature erring oder varying«),24 worunter er die Missbildungen oder sog. ›Monster‹ verstand 25 – eine taxonomische Dreiteilung, die noch in Diderots und D’Alemberts »Prospectus« zur Encyclopédie zu finden sein wird.26 23  Deshalb ist es etwas verkürzend, wenn Clark von »Bacon’s binary system« spricht, vgl. Clark, Daniel Defoe, S. 18. 24  Bacon, »Of the Advancement of Learning«, S. 80. 25  Vgl. Lorraine Daston u. Katharine Park, Wonders and the order of nature, 1150 – 1750, New York, NY , 1998, S. 221 – 222; Michael Hagner, »Vom Naturalienkabinett zur Embryologie. Wandlungen des Monströsen und die Ordnung des Lebens«, in: ders. (Hg.), Der falsche Körper. Beiträge zu einer Geschichte der Monstrositäten, Göttingen, 1995, 73 – 107, S. 74 – 75. 26  Vgl. Denis Diderot, »Prospectus [zur Encyclopédie]«, in: ders., Oeuvres complètes de Diderot, tome treizième. Beaux-arts IV : Miscellanea / Encyclopédie A-B, Paris, 1876, 129 – 158, S. 146: »Ou la nature est uniforme et suit un cours réglé, […] ou elle semble forcée et dérangée de son cours ordinaire, comme dans les monstres; ou elle est contrainte et pliée à différents usages, comme dans les arts.«

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Auch in Defoes Darstellung der Welt des Handels taucht ein solches drittes Element auf, allerdings nicht als Teil der Taxonomie, sondern als deren verworfener Rest, als das, was diese Ordnung stört bzw. zerstört, und das daher ausgeschlossen bleiben sollte. ›Trade erring‹, das wäre für Defoe jene Ökonomie, die es nicht mehr mit realen, greifbaren Waren zu tun hat, sondern mit Versprechungen zukünftiger Gewinne.

Die wahren und die falschen Werte Die spekulative Ökonomie des entstehenden Finanzkapitalismus hat Defoe – zumindest in seinen öffentlichen Verlautbarungen – immer vehement abgelehnt.27 Schon in seinem Essay Upon Projects (1697) geht es ihm darum, eine scharfe Grenze zu ziehen, die den ehrbaren Kaufmann (»True-bred Merchant«) vom bloßen Projektemacher (»mere projector«) oder, noch schlimmer, vom Börsenspekulanten (»stock-jobber«) absetzt. Der wahre Kaufmann sei immer ein »Honest Projector«, ein Mannes, der eine nützliche Erfindung zu »suitable Perfection« bringt und »contents himself with the real Produce, as the profit of his Invention«.28 Doch die Ehre des Kaufmanns ist ständig gefährdet durch die Existenz zahlloser unehrlicher Konkurrenten, die die ganze Welt des Trade in Verruf bringen. Da ist zunächst, wie Defoe sagt, das »Contemptible thing« des »meer Projector«, den die finanzielle Not dazu treibt, ständig irgendeinen nutzlosen Tand als »new invention« ausrufen und Anteile an seiner Geschäftsidee zu verkaufen.29 Und da sind die noch wesentlich verwerflicheren Figuren der »Stock-Iobbers«, »Patentees« und »Exchange-Mountebanks we very properly call Brokers«.30 All diese »Money-jobbing Artists« 31 stehen für eine Ökonomie von »Intriegue, Artifice, and Trick« 32, die Defoe nicht nur deshalb zurückweist, weil sie dem Kaufmannsethos zuwiderläuft, sondern weil sie ein gefährliches Moment der Unberechenbarkeit, der Unvorhersehbarkeit in die Handelsabläufe bringt. Die Börse von London ist nicht mehr der Ort, wo ehrbare Kaufleute die Preise der Waren aushandeln; sie ist in die Hände von »Gamesters« geraten, die »rais’d and lower’d the Prices of Stocks as they pleas’d«.33 In all seinen wirtschaftspolitischen Interventionen wird Defoe von der hier getroffenen Unterscheidung zweier Ökonomien ausgehen: Auf der einen Seite ein ernsthafter, von verlässlichen Geschäftspartnern betriebener Handel, der es 27  Es spricht jedoch einiges für die Annahme, dass Defoe in jungen Jahren selbst »a reckless speculator in trade« war, vgl. Richetti, The life of Daniel Defoe, S. 11. 28  Defoe, An Essay Upon Projects, S. 35. 29  Ebd., S. 16. 30  Ebd., S. 13. 31  Ebd., S. 49. 32  Ebd., S. 29. 33  Ebd., S. 30.

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mir tatsächlich vorhandenen Waren (»real stock« 34) und klar definierten Werten zu tun hat; auf der anderen Seite eine auf zweifelhaften Gewinnerwartungen beruhende Finanzspekulation, deren Wertbildungen nicht durch wirklich vorhandene Dinge gedeckt sind. Jedoch verwirft Defoe nicht jede Geld- und Kredit-Ökonomie; schon 1706, in der Review, stimmt er das Loblied auf eine »Lady« namens »Credit« an, die in Abwesenheit ihrer älteren Schwester, des Geldes, »answers all the Ends of Trade perfectly, and to all intents and Purposes, as well as Money her self«.35 Das Funktionieren dieser Ökonomie des Kredits ist allerdings, wie Defoe hervorhebt, vom wechselseitigen Vertrauen der Geschäftspartner abhängig, weshalb »good Management, punctual Dealing, and exact Compliance« 36 zu ihren unabdingbaren Voraussetzungen gehören. Als Defoe 1710 von dem zum Schatzkanzler ernannten Robert Harley den Auftrag bekommt, sich publizistisch für das Ansehen des »Publick credit« einzusetzen,37 geht er in seiner Argumentation noch weiter. Als ein Instrument, das Vertrauen voraussetzt, stellt der Kredit selbst ein Medium zur Verbreitung von Vertrauen dar, er bildet eine »Quelle universeller Redlichkeit«: CREDIT is […] the quickning SOME -THING , Call it what you will, that gives Life

to Trade […]. It is produc’d, and grows insensibly, from fair and upright Dealing, punctual Compliance, honourable Performance of Contracts and Covenants, in short, ’tis the Off-spring of universal Probity.38

Diese schöne Ökonomie des Vertrauens soll, wenn es nach Defoe geht, auch die staatliche Verschuldung regieren. Doch gehen die von Robert Harley entworfenen Maßnahmen zur Privatisierung der Staatsschulden, allen voran das (zunächst auch von Defoe beworbene)39 South-Sea-Projekt, bald in eine andere Richtung. In den Schriften der späten 1710er Jahren verstärkt Defoe seine Angriffe auf das 34  Defoe, The complete English tradesman, S. 318. 35  Daniel Defoe, »A Review of the State of the English Nation, Numb. 5. Thursday, January

10, 1706«, in: ders., Defoe’s Review 1704 – 13, hg. v. John McVeagh, Volume 3: 1706, London, 2008, 29 – 34, S. 29. Zur Figur der »Lady Credit« bei Defoe vgl. Michael McKeon, The origins of the English novel, 1600 – 1740 (1987), Baltimore, Md., 1991, S. 205; Sandra Sherman, Finance and fictionality in the early eighteenth century. Accounting for Defoe, New York, 1996, S. 40 – 54, 158 – 159. 36  Defoe, »A Review of the State of the English Nation, Numb. 5«, S. 30. 37  Vgl. Clark, Daniel Defoe, S. 100. 38  Daniel Defoe, »An Essay upon Publick Credit. Being an enquiry how the publick credit comes to depend upon the change of the ministry […]« (1710), in: ders., Political and economic writings of Daniel Defoe. Vol. 6, Finance, hg. v. W. R. Owens u. P. N. Furbank, London, 2000, 49 – 61, S. 53. 39  Vgl. Daniel Defoe, An Essay on the South-Sea Trade. With an Enquiry into the Grounds and Reasons of the present Dislike and Complaint against the Settlement of a South-Sea Company, London, 1712 [i. e. 1711].

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System einer nur auf »imaginary Stock« 40 und »imaginary value« 41 beruhenden Finanzspekulation. 1719, ein Jahr bevor die Südseeblase platzt,42 rechnet er in dem Pamphlet The Anatomy of Exchange-Alley mit den verantwortungslosen Spekulanten ab, die jederzeit, »as Occasion offers, and Profit presents«, dazu bereit sind »to Stock-jobb the Nation, couzen [to cozen: betrügen] the Parliament, ruffle the Bank, run up and run down Stocks, and put the Dice upon the whole Town«.43 Die ›stock-jobbers‹ haben, so Defoe, den gesamten Handel in eine Lotterie verwandelt und die Börse zu ihrem Spieltisch gemacht. Die Werte, mit denen sie handeln, sind wie »the Imaginary Coins of Foreign Nations«, sie haben »no reality in themselves«.44 Es geht Defoe also nicht nur um eine missbräuchliche und betrügerische Verwendung der klassischen Instrumente des Handels; der Skandal des ›stock-jobbing‹ liegt vielmehr darin, dass es eine eigene, korrupte und korrumpierende Ökonomie der Zeichen hervorgebracht hat, in der nichts mehr »eine Realität in sich selbst« besitzt, sondern alles nur noch von den wechselnden, imaginären Wertzuschreibungen und Gewinnerwartungen der Spielteilnehmer abhängt. Defoes Feindseligkeit gegen die ›stock-jobbers‹ hat nicht zuletzt mit ihrer Ungreifbarkeit zu tun; sie erscheinen ihm als »born in Masquerade«.45 Die Wandlungskünste der Aktienhändler widersprachen dem von Defoe propagierten Ideal des »plain Dealer«;46 verwerflich waren sie aber auch noch in einem allgemeineren Sinn: Sie standen für jene »undisziplinierte Zirkulation der Zeichen«,47 der Defoe durch die Errichtung eines eindeutigen und transparenten Systems der Bedeutungszuschreibung entgegenwirken wollte. Der von Defoe geführte 40  Daniel Defoe, »The Chimera. Or, the French way of Paying National Debts, Laid open« (1719), in: ders., Political and economic writings of Daniel Defoe. Vol. 6, Finance, hg. v. W. R. Owens u. P. N. Furbank, London, 2000, 157 – 186, S. 176. 41  Daniel Defoe, »The Director, Numb. XVI . Friday, November 25, 1720«, in: ders., Political and economic writings of Daniel Defoe. Vol. 6, Finance, hg. v. W. R. Owens u. P. N. Furbank, London, 2000, 251 – 254, S. 252. 42  Zur South Sea Bubble vgl. u. a. P. G. M. Dickson, The financial revolution in England. A study of the development of public credit 1688 – 1756 (1967), Aldershot, 1993, S. 90 – 156; Silke Stratmann, Myths of speculation. The South Sea Bubble and 18th-Century English literature, München, 2000; Helen J. Paul, The South Sea Bubble. An economic history of its origins and consequences, London, New York, 2011. 43  Daniel Defoe, »by a Jobber«, The Anatomy of Exchange-Alley. Or, a System of Stock-Jobbing, London, 1719, S. 39. 44  Ebd., S. 52 – 53. 45  Daniel Defoe, »A Review of the State of the British Nation, Numb. 20. Thursday, May 10, 1711«, in: ders., Defoe’s Review 1704 – 13, hg. v. John McVeagh, Volume 8: 1711 – 1712, London, 2008, 115 – 119, S. 117. 46  Daniel Defoe, »A Review of the State of the British Nation, Numb. 4. Thursday, April 7, 1709 [Edinburgh; not reprinted in London]«, in: ders., Defoe’s Review 1704 – 13, hg. v. John McVeagh, Volume 6: 1709 – 10, London, 2008, 29 – 32, S. 29. 47  Sherman, »Servants and semiotics«, S. 559.

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Kampf für eine geregelte, an Sachwerte gebundene Ökonomie beschränkt sich nicht auf den Handel im engeren Sinn; seinen Schriften scheint vielmehr die Vorstellung einer Art allgemeinen Ökonomie zu Grunde zu liegen, einer ökonomischen Logik, die in analoger Weise Wirtschaft, Politik, Literatur und Lebensführung beherrscht.

Der Traum der Eindeutigkeit Bereits in Defoes Essay Upon Projects (1687) wird deutlich, dass mit der Politischen Ökonomie immer auch die Ökonomie des Symbolischen auf dem Spiel steht: Der Tausch der Zeichen entspricht dem Tausch der Waren, und wenn die Ordnung des Handels gestört ist, so muss man sich nicht wundern, wenn auch die Sprache in Verwirrung gerät. So liest Defoe den Sprachverfall seiner Zeit als Symptom einer Störung, die letztlich die gesamte Ökonomie seiner Zeit betrifft. Dem ›honest Merchant‹, der mit realen Waren handelt und dessen Schecks stets gedeckt sind, würde eine Sprache entsprechen, die exakt und zuverlässig die gemeinten Dinge bezeichnet, ohne jemals Zweifel über das Band zwischen Zeichen und Ding aufkommen zu lassen. Doch leider ist ein solcher korrekter Sprachgebrauch ebenso selten geworden wie der ehrbare Kaufmann. Viel zu häufig findet sich ein Sprachgebrauch, der eher dem entspricht, was die ›mere projectors‹ oder die ›stock-jobbers‹ in der Ökonomie betreiben: Zeichen in Umlauf zu bringen, die nicht durch Sachwerte gedeckt sind, die allein dazu gut sind, kurze Effekte der Überraschung und Überrumpelung hervorzurufen. Selbst Gentlemen, die von sich behaupten, ein »Polite English« zu sprechen, würzen ihre Rede mit »Bruitish, Sordid, Sensless Expressions«, mit zahllosen unbedeutenden »Asseverations, Damnings and Swearings«, die ihre Rede »into perfect Nonsense« verkehren.48 Wie Defoe betont, sei es »the proper Position of Words, adapted to their Significations, which makes them intelligible«.49 Alles was dieser Ordnung widerspreche, sei als »Unsinn« (»Nonsense«) zu bezeichnen; jede überflüssige Häufung unbedeutender Wörter habe als »Unverschämtheit« (»impertinence«) zu gelten; und wenn dies ins Extrem getrieben würde, sei es nur noch »lächerlich« (»ridiculous«).50 Defoes Klage über die Verderbtheit der Sprache ist nicht sonderlich originell; sie wiederholt letztlich nur die Ausführungen über den »Wortmissbrauch« aus Lockes Essay Concerning Humane Understanding (1690). Doch offenbart sich hier, deutlicher als bei Locke, der Zusammenhang des ökonomischen mit dem sprachlichen Tausch. Locke hatte davon gesprochen, dass Autoren, die ihren Gedanken den Anschein des Neuen und Singulären geben oder »einige 48  Defoe, An Essay Upon Projects, S. 241. 49  Ebd., S. 244. 50  Ebd., S. 245.

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seltsame Ansichten« (»some strange opinions«) unterstützen wollten, dazu neigten, »neue Wörter zu prägen« (»to coin new words«), die sich dann, bei näherer Untersuchung, als »unbedeutende Ausdrücke (»insignificant terms«) herausstellten.51 Für dieses Problem hat Defoe eine Lösung, die ganz dem merkantilistischen Denken seiner Zeit entspricht. Er fordert, eine Akademie einzurichten, die, analog zu einer staatlichen Münzanstalt, das Monopol für Wortprägungen haben sollte: The Reputation of this Society wou’d be enough to make them the allow’d Judges of Stile and Language; and no Author wou’d have the Impudence to Coin without their Authority. […] There shou’d be no more occasion to search for Derivations and Constructions, and ’twou’d be as Criminal then to Coin Words, as Money.52

Die politischen Implikationen der Defoe’schen Sprachkritik offenbaren sich in dem 1710 veröffentlichten Pamphlet A New Test of the Sence [sic] of the Nation. Die Kritik des Wortmissbrauchs richtet sich hier auf die politische Sprache, in der nach Defoes Beobachtung neuerdings bestimmte Wörter, die sich auf ganz unterschiedliche Dinge beziehen (wie z. B. »a Sacheverellite and a Jacobite, a Mad-Juror and a Non-Juror, a High-Flyer and a French-Papist« 53) als Synonyme behandelt würden, so als ob sie das gleiche Ding bedeuteten. Die Macht der Gewohnheit habe dazu geführt, dass die Menschen die unsinnigsten Wortverwendungen akzeptierten und der um sich greifenden »No-Meaning of Speech« nichts mehr entgegenzusetzen hätten.54 Defoes Klagen über die »NON -SIGNIFICATION «,55 seine Sorge, dass die Wörter zu »meer Vapour, without any Signification« 56 werden könnten, stehen, wie Katherine Clark bemerkt hat, offenbar in engem Zusammenhang mit der Kreditkrise des Jahres 1710.57 Wenn die politischen Parteien damals versuchten, die Staatschulden für ihre jeweiligen Zwecke zu manipulieren, so hatte dies für Defoe über die politische Taktik hinaus eine epistemologische Bedeutung. Er glaubte leidenschaftlich an die Idee des Austausches von Gütern, sowohl materieller, moralischer als auch geistiger Art als Weg zur Verbesserung. Die inhärente Gefahr bei

51  John Locke, An essay concerning human understanding (1689), hg. v. Roger S. Woolhouse, London, 1997, S. 437. 52  Defoe, An Essay Upon Projects, S. 236 – 237. 53  Daniel Defoe, A New Test of the Sence [sic] of the Nation. Being a Modest Comparison between the Addresses to the Late King James, and those to Her present Majesty, London, 1710, S. 4. 54  Ebd., S. 13. 55  Ebd., S. 7. 56  Ebd., S. 9. 57  Vgl. Clark, Daniel Defoe, S. 97.

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diesem System bestand darin, dass die Zeichen, die den Austausch ermöglichten, ihre Bedeutung verlieren könnten.58

Beunruhigend war die semiotische Unordnung für Defoe auch deshalb, weil sie jede eindeutige politische und religiöse Zuordnung unmöglich machte. Defoe schätzte, so sagte er es jedenfalls, klare Fronten und eindeutige ideologische Zugehörigkeiten. In der Debatte über die Duldung der Dissenters lehnte er vehement die Praxis der ›Occasional Conformity‹ ab, nach der die Presbyterianer und andere Dissidenten an ihren abweichenden Ritualen festhalten konnten, wenn sie nur in regelmäßigen Abständen pro forma den Regeln der Anglikanischen Kirche entsprachen. Diese Haltung hatte, wie Katherine Clark hervorhebt, nicht nur mit Defoes »puritanischer Verachtung« für die Trivialisierung religiöser Bekenntnisse zu tun, »sie verriet auch seine Abneigung gegen die Verwirrung der Kategorien. Das Phänomen des Dissenses, sei es gegenüber der Kirche oder dem Staat, war nur tolerierbar, wenn es offen und eindeutig war.« 59 Defoe hätte es wohl ideal gefunden, wenn überall – im Handel, der Politik und der Religion – übersichtliche Verhältnisse geherrscht hätten, wenn jede Ware, jeder Gedanke und jede Stellungnahme sogleich einer bestimmten Kategorie, Glaubensrichtung oder Partei zuzuordnen gewesen wäre. Jedenfalls wurde er nicht müde, seine Abneigung gegen alles nicht eindeutig Bestimmbare zu zeigen; er setzte häufig die Worte ›amphibious‹ oder ›ambo-dexter‹ ein, um damit die »Zweideutigkeit, Doppelzüngigkeit, oder Verderbtheit« einer Position zu geißeln.60 Doch hat Defoe selbst, wie man weiß, diesem Ideal einer eindeutigen klassifikatorischen Zuordnung am allerwenigsten entsprochen. Sein Pamphlet The Shortest Way With the Dissenters (1702) richtete sich gegen die uneindeutige Haltung der ›Occasional Conformity‹, trug aber mit seinem ironischen Plädoyer für eine Auslöschung aller Dissenters keineswegs zur Förderung der aufrichtigen politischen Rede bei. Für sein unruhestiftendes Pamphlet wurde Defoe mit fünf Monaten Gefängnis und drei Tagen Pranger bestraft; nach seiner Freilassung, die durch Robert Harley bewirkt wurde, trat Defoe in dessen Dienste und unterstützte – unter dem Anschein einer Parteinahme für die Whigs – Harleys moderate Tory-Position. Nach der Machtübernahme der Tories ab 1710 arbeitete er weiterhin im Verborgenen für den inzwischen zum Schatzkanzler ernannten Harley; nach dessen Entmachtung 1714 gab sich Defoe äußerlich als Tory, wurde aber von der neuen Whig-Regierung dafür bezahlt, als Maulwurf innerhalb der Tory-Presse für eine Abmilderung der regierungsfeindlichen Attacken zu sorgen.61

58  59  60  61 

Ebd. Ebd., S. 45. Vgl. ebd., S. 46. Vgl. Richetti, The life of Daniel Defoe, S. 339.

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Es lag nicht nur an den Wendungen der politischen Konjunktur, wenn Defoes Ideal der eindeutigen Zuordnung Schiffbruch erlitt. Die Forderung nach einer verlässlichen Beziehung zwischen Sache und Wort erwies sich als eine rückwärtsgewandte Phantasie, ein Traum, der sich in der neuen Ökonomie der Waren und Zeichen nicht mehr verwirklichen ließ. Auch die von Defoe so geschätzte Figur des ›honest merchant‹ konnte dem Postulat der Eindeutigkeit nicht mehr entsprechen. Wie aus Defoes Ratgeberbuch The complete English tradesman (1626) hervorgeht, beschränkte sich das trügerische Spiel mit den Zeichen nicht auf ›stock-jobbers‹ und andere Betrüger; die Verstellung war zur grundlegenden Verhaltensregel des erfolgreichen Händlers geworden: [A] shop-keeper […] must not shew […] the least signal of disgust: he must have no passions, no fire in his temper; he must be all soft and smooth; nay, if his real temper be naturally fiery and hot, he must shew none of it in his shop; he must be a perfect complete hypocrite, if he will be a complete tradesman.62

Roman und Register Offenbar ist Defoe nie auf die Idee gekommen, dass die von ihm bemerkten Probleme der Bezeichnung, in der Ökonomie wie in der Sprache, etwas mit der repräsentationalen Auffassung der Zeichen zu tun haben könnte, die den Universalsprachenprojekten und Klassifizierungsanstrengungen der klassischen Episteme zugrunde lag. Der Verdacht, dass eine eindeutige Zuordnung von Ding und Sache unmöglich sein und daher jede Klassifizierung immer nur eine provisorische und willkürliche Ordnung darstellen könne, hat Defoe nicht gestreift. Anders als die Konservativen seiner Zeit sah er im Jargon der Politischen Arithmetik kein Instrument der Verunsicherung und keinen Angriff auf die soziale Ordnung;63 er schien auch nicht zu bemerken, wie stark die von ihm verworfene Finanzspekulation und haltlose Projektemacherei auf den Instrumenten der klassifikatorischen Einteilung und Beurteilung beruhte. Auflistung und Tabellierung hat Defoe offensichtlich in erster Linie als stabilisierende Verfahren betrachtet, als Instrumente, mit denen der ehrbare Kaufmann seine Geschäfte in Ordnung hielt, und die sich entsprechend auch dazu eigneten, den Überblick über eine zunehmend unsicher gewordene Wirklichkeit zu behalten. Weit davon entfernt, »die reduktiven und inhumanen Implikationen des statistischen Denkens« zu beklagen oder Tabellen als »grob, kalt und

62  Defoe, The complete English tradesman, S. 114. 63  Zum Misstrauen der konservativen Eliten gegen die klassifikatorischen Gesellschafts-

beschreibungen, insbesondere der Politischen Arithmetik, s. u., Kap. 19, Abschnitt »Swifts anti-arithmetischer Kampf«.

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kalkulierend« zu betrachten,64 scheint Defoe in der klassifikatorischen Erfassung der Waren- und der Menschenwelt vielmehr eine Art Rettungsanker gesehen zu haben: Die Klassifikation verbürgte die Errichtung einer Ordnung, die auf andere Weise nicht mehr zu erreichen war. Und so kann man sagen, dass Defoe sich der Wirklichkeit, wo es nur ging, als Klassifikator genähert hat. Defoes Science-Fiction-Posse The Consolidator, Or, Memoirs Of Sundry Transactions From The World in the Moon (1705) präsentiert merkwürdige Funde wissenschaftlicher Erkenntnis, die der Erzähler in einer chinesischen Bibliothek gemacht haben will. Dazu gehört auch ein Buch, verfasst von einem »Famous Author […] that […] was Born in the Moon«,65 in dem die Funktionsweise des menschlichen Gedächtnisses erläutert wird. Auch wenn mit dem Verweis auf den Mond (›lunar‹ = ›lunatic‹) die Verrücktheit dieser Phantasie betont werden soll, so ist die Darstellung doch gar nicht so weit von dem entfernt, wie sich Defoes Zeitgenossen (und wahrscheinlich auch er selbst) die Arbeit des Erinnerns vorgestellt haben dürften, nämlich als Abrufung klassifikatorisch geordneter und katalogisierter Daten: There you have that part of the Head turned in-side outward, in which Nature has placed the Materials of reflecting; and, like a Glass Bee-hive, represents to you all the several cells in which are lodged things past, even back to Infancy and Conception. There you have the Repository, with all its Cells, Classically, Annually, Numerically, and Alphabetically disposed. There you may see how, when the perplexed Animal, on the loss of a Thought or Word, scratches his Pole: every attack of his invading Fingers knocks at Nature’s Door, alarms all the Register-keepers, and away they run, unlock all the Classes, search diligently for what he calls for, and immediately deliver it up to the Brain; if it cannot be found, they entreat a little Patience, till they step into the Revolvary, where they run over little Catalogues of the Minutest Passages of Life, and so, in time, never fail to hand on the thing; if not just when he calls for it, yet at some other time.66

Eine ausdrückliche Auseinandersetzung mit Fragen der Klassifikation findet sich in Defoes A Journal of the Plague Year (1722). Das Buch präsentiert sich als Augenzeugenbericht aus der Zeit der Großen Pest von London (1665/1666); tatsächlich handelt es sich jedoch um eine Rekonstruktion der Geschehnisse, die sich im Wesentlichen auf statistische Daten, d. h. auf Tabellen stützt. Dabei geht es Defoe natürlich zunächst ganz klassisch darum, die ›lebendige‹ Wirklichkeit 64  Nicholas Seager, »Lies, damned lies, and statistics. Epistemology and fiction in Defoe’s ›A Journal of the Plague Year‹«, The Modern Language Review, Jg. 103, N° 3, 2008, 639 – 653, S. 639. 65  Daniel Defoe, The Consolidator: Or, Memoirs Of Sundry Transactions From The World in the Moon, London, 1705, S. 17. 66  Ebd., S. 18.

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›hinter‹ oder ›unter‹ der Tabelle zum Vorschein zu bringen. Das Bemerkenswerte an seinem ›Journal‹ ist jedoch, dass dabei die tabellarische Datenbasis nicht zum Verschwinden gebracht, sondern vielmehr deutlich ausgestellt wird. Nicht nur werden die Daten der Bills of Mortality laufend in den Text eingestreut; die ganze Erzählung lässt sich, wie Rüdiger Campe bemerkt hat, als Versuch betrachten, die Zahlen in eine zeitliche Verlaufsform zu bringen. Das durch die Narration geschaffene »Zahlenbild« wäre damit ein funktionelles Äquivalent zu der späteren diagrammatischen Form der Verlaufskurve: Gewiß gibt es große erzählende und schildernde Partien: die Lebensumstände H. F.s, die Besichtigung eines Massengrabs bei Nacht, die Geschichte der Familien, die aus London flüchten. Aber die besonderen Geschichten und privaten Erlebnisse haben nur Episodenplätze im großen Verlauf von Zunahme, Höhenkamm und Abnahme der Zahlen. Seit dem späten 18. Jahrhundert, seit der Schule von Laplace und den ersten probabilistischen Statistikern des 19. Jahrhunderts wie Quetelet würde man hier eine graphische Kurve vor sich sehen. Bei Defoe sind Anstieg, Höhenkamm und Fall Zahlenbilder in der epischen Form von Anfang, Mitte und Ende.67

Auf diese Weise ist Defoes Journal über die Erzählung hinaus auch ein Stück medialer Historiographie: Es geht nicht nur um die Pest, sondern ebenso um die Überführung von Wirklichkeit in Tabellen. Wie es der Kaufmann John Graunt in seinen 1662 (noch vor der Großen Pest) veröffentlichten Observations upon the Bills of Mortality getan hatte,68 wirft Defoe einen neuen, erkenntniskritischen Blick auf die Zahlen der Pesttoten, diesmal nicht, um daraus allgemeine statistische Erkenntnisse zu gewinnen, sondern um daraus ein Bild der Vergangenheit zu destillieren. In der Forschung gehen die Ansichten auseinander, inwiefern Defoe sich dabei mit dem Projekt der Politischen Arithmetik identifiziert, und inwieweit er sich davon distanziert. Rüdiger Campe zufolge sollte man sich von den scheinbar zahlenkritischen Äußerungen des Erzählers nicht täuschen lassen. In seinem Misstrauen gegenüber den Bills of Mortality äußere sich kein »modernes Unbehagen an der Statistik«; vielmehr handele es sich – ähnlich wie bei Graunt – um »methodische Kritik, eine noch nicht existierende Fehlerkritik statistischer Zahlen, die den Blick von der Lektüre der Buchstaben und Zahlen im Tableau entkoppelt«.69 Demgegenüber hat Nicholas Seager die Ansicht vertreten, das Journal könne als »Behauptung über den fiktiven Charakter numerischer Daten verstanden werden, nicht so sehr als Unterstützung der Quantifizierungspro67  Campe, »Was heißt: eine Statistik lesen?«, S. 531. 68  Zu Graunt, s. o., Kap. 11, Abschnitt »Graunts Datenkritik«. 69  Campe, »Was heißt: eine Statistik lesen?«, S. 533.

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jekte des 17. und 18. Jahrhunderts, sondern eher als Reaktion darauf«.70 Defoe halte sich nicht an die Gewissheitsmaßstäbe der klassischen Politischen Arithmetik; er orientiere sich vielmehr an der »entstehenden mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie«, die es erlaubt habe, »in Fällen der Ungewissheit« dennoch »rationale Entscheidungen« zu treffen.71 Dass Defoe an Fragen der Wahrscheinlichkeit eine lebhaftes Interesse hatte, und zwar nicht nur als Kaufmann, sondern auch als vorsehungsgläubiger Christ, steht außer Frage; Spuren der Beschäftigung mit einer »mathematischen Wahrscheinlichkeitstheorie« dürften bei ihm jedoch kaum zu finden sein. So betont Campe in seinem Buch Spiel der Wahrscheinlichkeit, dass es bei Defoe »eine probabilistische Bearbeitung der rohen Zahlen […] gerade noch nicht« gibt. Die narrative Konstruktion des Journals wurzele vielmehr in der »vormathematischen und vorreferentiellen Evidenz der Tabelle«.72 Als wesentlich plausibler erscheint dagegen ein anderer Zusammenhang, den Seager beiläufig andeutet:73 Es lässt sich durchaus annehmen, dass Defoes Kritik der falschen Pest-Zahlen (und der darauf beruhenden unangemessenen Reaktionen – von der Sorglosigkeit bis zur Panik) etwas mit der Erfahrung der South-Sea-Bubble von 1720 zu tun hat, bei der es ebenfalls um fragwürdige Zahlen ging, vor allem aber um die unbesonnenen, übersteuerten Reaktionen auf diese Zahlen.74 Defoes Roman Robinson Crusoe, der zur Zeit seines ersten Erscheinens (1719) wohl in erster Linie als abenteuerliche Erzählung von einer ›wahren Begebenheit‹, sowie als Lehrstück in religiöser Reue, Bekehrung und Erlösung gelesen wurde,75 hat seit dem 19. Jahrhundert eine Reihe von sozioökonomischen Interpretationen erfahren, die jeweils unterschiedliche Schwerpunkte setzen. Marx spricht abfällig von den »Robinsonaden« der klassischen Politischen Ökonomie, die, ausgehend von einem isolierten Individuum, den Tauschzusammenhang der bürgerlichen Gesellschaft zu rekonstruieren versuchten.76 Dagegen müsse »natürlich« die 70  Seager, »Lies, damned lies, and statistics«, S. 640. 71  Ebd., S. 642 72  Rüdiger Campe, Spiel der Wahrscheinlichkeit. Literatur und Berechnung zwischen Pascal

und Kleist, Göttingen, 2002, S. 250.

73  Vgl. Seager, »Lies, damned lies, and statistics«, S. 646. 74  Die Vermutung, dass es sich bei Defoes Darstellung der Pestepidemie um eine »fictional

reflection« der South-Sea-Krise handeln könnte, findet sich auch bei Constantine George Caffentzis, Exciting the industry of mankind. George Berkeley’s philosophy of money, Dordrecht, 2000, S. 41. 75  Katherine Clark zeigt, wie die heilsgeschichtliche Botschaft des Robinson Crusoe innerhalb der zeitgenössischen polemischen Debatten um die Dreieinigkeit zu verorten ist, vgl. das Kapitel »Robinson Crusoe: Orthodox Penitent« in: Clark, Daniel Defoe, S. 113 – 137. 76  Gemeint ist insbesondere Ricardo, der »[d]en Urfischer und den Urjäger […] sofort als Warenbesitzer Fisch und Wild austauschen« lässt, vgl. Karl Marx, »Zur Kritik der Politischen Ökonomie« (1859), in: ders. u. Friedrich Engels, Werke (MEW ), Bd. 13, Berlin, 1956 ff., 3 – 160, S. 46.

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»gesellschaftlich bestimmte Produktion der Individuen« den Ausgangspunkt der Betrachtung bilden: »Der einzelne und vereinzelte Jäger und Fischer, womit Smith und Ricardo beginnen, gehört zu den phantasielosen Einbildungen des 18. Jahrhunderts.« 77 Marx zufolge handelt es sich bei der Vorstellung eines isoliert produzierenden Individuums keineswegs, »wie Kulturhistoriker sich einbilden«, um eine zivilisationskritische Rückwendung zur Natur, man finde darin vielmehr eine »Vorwegnahme der ›bürgerlichen Gesellschaft‹« und ihrer Ideologie der »freien Konkurrenz«.78 Aus Marx’ Ausführungen wird nicht deutlich, ob auch Defoes Robinson Crusoe schon zu den ›Robinsonaden‹ der Politischen Ökonomie gezählt werden muss; der Spott über den Schiffbrüchigen, der »als guter Engländer bald Buch über sich selbst zu führen« beginnt,79 deutet aber in diese Richtung. Demnach würde es sich auch bei Defoes Roman in erster Linie um eine »Einbildung« handeln, um einen ideologischen Entwurf, in dem – in verschobener Form – die ökonomische Ideologie seiner Zeit zum Ausdruck kommt. Die späteren ideologiekritischen Interpretationen des Robinson Crusoe sind der von Marx ausgelegten Fährte gefolgt und haben den Roman als eine Kapitalismus-Allegorie gelesen. Robinson erschien als paradigmatische Verkörperung des neuzeitlichen »homo oeconomicus«; er symbolisierte wie kein anderer »die neue individualistische Perspektive im Bereich des Wirtschaftslebens«.80 Was Crusoe als seine größte Sünde begreift, nämlich sein Zuhause verlassen zu haben, sei, so Ian Watt, »in Wahrheit die dynamische Tendenz des Kapitalismus selbst, der niemals nur darauf gerichtet ist, den status quo zu behaupten, sondern ihn ununterbrochen umzuwandeln«.81 Andere haben vor allem die bei Defoe hervortretende Arbeitsideologie hervorgehoben. Pierre Macherey erklärte: »Robinson Crusoe, das ist vor allem ein Roman über die Arbeit, sogar der erste Roman der Arbeit.« 82 Für Franco Moretti bezeichnet der Roman in seinem Schwanken zwischen ›Abenteuer‹ und ›Arbeit‹ sehr genau das Moment des Übergangs zwischen zwei Stadien des Kapitalismus, dem der Eroberung, der ›ursprünglichen Akkumulation‹, und dem der geregelten kapitalistischen Reproduktion. Wobei Robinson, dem es vor allem darauf ankommt »not idle« zu sein,83 bereits fast ausschließlich dem Pol der Arbeit angehöre: »Bei

77  Marx, »Einleitung zu den ›Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie‹ (August

1857)«, S. 19.

78  Ebd. 79  Marx, »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band«, S. 91. 80  Ian Watt, Der bürgerliche Roman. Aufstieg einer Gattung. Defoe, Richardson, Fielding (1957),

Frankfurt a. M., 1974, S. 70 – 7 1. 81  Ebd., S. 73. 82  Pierre Macherey, »Annexe. L’ancêtre thématique: Robinson Crusoé« (1963), in: ders., Pour une théorie de la production littéraire, Paris, 1970, 266 – 275, S. 271. 83  Defoe, Robinson Crusoe, S. 129.

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Sindbad sind das Meer und die terra firma gleichermaßen Schauplatz abenteuerlicher Geschehnisse. Im Robinson Crusoe nicht. Sobald der Verschollene an Land gegangen ist, dominiert hier etwas ganz anderes: Arbeit.« 84 Schließlich hat es auch den Versuch gegeben, die Schrift als zentrales Medium des Robinson’schen Inselkapitalismus zu begreifen. Für Michel de Certeau handelt es sich beim Robinson Crusoe um einen »Roman über die Schrift«.85 Ihm zufolge »vollzieht sich die Bekehrung Robinsons zur kapitalistischen Eroberungsarbeit […] durch die Entscheidung, ein Tagebuch zu schreiben, um dadurch einen Herrschaftsraum über Zeit und Dinge zu sichern und mit der leeren Seite eine erste Insel zu schaffen, auf der sein Wille sich vollziehen kann«.86 Zugleich müsse Robinsons Schriftgebrauch als eine Demonstration der kolonialen Überlegenheit gesehen werden, insbesondere in seinen Anstrengungen, dem Diener und Gefährten Freitag die Botschaft der Heiligen Schrift nahezubringen: »Auch hier noch klärt Robinson die Situation: das Subjekt der Schrift ist der Herr, und der Arbeiter, der ein anderes Werkzeug als die Sprache hat, ist Freitag.« 87 Man wird jedoch in Defoes Roman keine »Schreibstunden« 88 à la Lévi-Strauss finden.89 Robinson Crusoe verrät weniger über die Schrift im Allgemeinen als vielmehr über eine ganz bestimmte Form des Schriftgebrauchs. Diese weist allerdings tatsächlich eine enge Bindung an die »kapitalistische Tradition« auf.90 Gemeint ist die kaufmännische Buchführung, die Robinson auch unter Bedingungen fortsetzt, unter denen ein Handel mit anderen Menschen nicht zu erwarten ist.

Franco Moretti, Der Bourgeois. Eine Schlüsselfigur der Moderne (2013), Berlin, 2014, S. 49. Certeau, Kunst des Handelns, S. 249. Ebd., S. 249. Ebd., S. 252 – 253. Vgl. das berühmte, von Jacques Derrida und Paul de Man kommentierte Kapitel aus Claude Lévi-Strauss, Traurige Tropen (1955), Frankfurt a. M., 1988, S. 288 – 300. 89  Streng genommen dürften die Schrift und das Schreiben im Verhältnis zwischen Robinson und Freitag gar keine Rolle spielen, da nach Defoes Erzählung Robinson schon mehr als zwei Jahrzehnte vor seiner Begegnung mit Freitag ohne Tinte auskommen muss, vgl. Thomas Keymer u. James Kelly, »Appendix II . A chronology of Robinson Crusoe«, in: Daniel Defoe, Robinson Crusoe, hg. v. Thomas Keymer, Oxford, New York, 2007, 269 – 271, S. 270. Eine anonym erschienene Persiflage des Robinson Crusoe macht schon 1719 auf die Unstimmigkeiten in der narrativen Behandlung des Tintenproblems aufmerksam: »He had done well if he had inform’d us, how he could give them Instructions in Writing, when his Ink was gone so many Years before.« Charles Gildon, anon., The Life and Strange Surprizing Adventures of Mr. D---- de F--, of London, Hosier, Who Has Liv’d Above Fifty Years by Himself, in the Kingdoms of North and South Britain, London, 1719, S. 27. 90  Stephen Hymer, »Robinson Crusoe and the secret of primitive accumulation« (1971), in: Edward J. Nell (Hg.), Growth, profits, and property. Essays in the revival of political economy, Cambridge, 1980, 29 – 40, S. 32. 84  85  86  87  88 

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Abbildung 27: Doppelseite aus: Daniel Defoe, The Life and Strange Suprizing Adventures of Robinson Crusoe, London, 1719.

In der tabellarischen Schreibweise des Kaufmanns (»very impartially, like Debtor and Creditor«) vergleicht der Schiffbrüchige das Schlechte (»Evil«) mit dem Guten (»Good«) seiner Situation;91 er legt aber auch, so lange die Tinte reicht, exakte Verzeichnisse seiner Güter an,92 was insofern keine geringe Aufgabe ist, als es sich nach seiner eigenen Einschätzung um das größte Warenlager handelt, »that ever were laid up […] for one Man«.93 Etwas von dieser Art der Buchhaltung hat sich auch auf Defoes literarische Buchführung übertragen: Über viele Zeilen hinweg werden die aus dem Schiff geretteten Gegenstände aufgeführt, und dies ohne größere Anstrengungen zur narrativen Auflockerung.94 Man kann 91  Daniel Defoe, Robinson Crusoe (1719), hg. v. Thomas Keymer, Oxford, New York, 2007, S. 57. 92  Vgl. Defoe, Robinson Crusoe, S. 56: »As I observ’d before, I found Pen, Ink and Paper, and I husbanded them to the utmost, and I shall shew, that while my Ink lasted, I kept things very exact […].« 93  Ebd., S. 48. 94  Vgl. ebd., S. 47.

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darin, Wolfram Schmidgen folgend, ein »Markenzeichen von Defoes literarischer Praxis« erkennen: »Die detaillierte Liste materieller Objekte einschließlich ihrer spezifischen Bezeichnung, Quantifizierung und Klassifizierung« stellt offenbar diejenige Aufschreibepraxis dar, die es noch am ehesten mit der »Mobilität der Dinge« unter den Bedingungen von Welthandel und Schiffbruch aufnehmen kann: Die wichtigste stilistische Manifestation der Mobilität der Dinge ist ihre Beschreibung in langen und detaillierten Listen. In diesem sowie in anderen Romanen von Defoe wird die Liste am häufigsten verwendet, um die Übertragung von Dingen von einem Ort zum anderen zu erfassen.95

Welche ökonomische Phantasie verbirgt sich hinter Robinsons Leidenschaft der Katalogisierung, hinter der Freude, seinen ganzen Besitz »in such Order« 96 vor sich zu sehen? Mit einer Phantasie der Rückkehr zum Naturzustand, zu selbstgenügsamen ›Stone Age Economics‹, hat dies offenbar nichts zu tun. Defoes Robinson ist ein überzeugter Bürger, der zivilisierter Mensch bleiben will und deshalb z. B. auch nicht auf »table and chair« verzichten kann.97 Wenn Robinsons Inselbetrieb eine ökonomische Phantasie darstellt, dann zielt sie nicht auf vorkapitalistische Verhältnisse, sondern auf eine andere, bessere Weise des kapitalistischen Wirtschaftens. Die von Robinson verkörperte Ordnung der Vernunft, der Sparsamkeit, des Maßes, der Selbstdisziplin und Vorsorge bildet ein exaktes Gegenbild zu dem »Gamester«-Kapitalismus, wie ihn Defoe im gleichen Jahr 1719 in seiner Anatomy of Exchange-Alley dargestellt hat.98 Defoe geht nicht so weit, sich eine reine Gebrauchswert-Ökonomie zu wünschen; erkennbar aber strebt er nach einfachen, leicht zu erfassenden Besitz- und Tauschverhältnissen. Zweifellos handelt es sich um eine Phantasie der Rückkehr. Sie will aber nicht zurück zur Natur; sie möchte lediglich zurück in die gute alte Zeit, als der Handel noch berechenbar, die Warenbestände noch überschaubar, die Händler noch vertrauenswürdig, die Bediensteten ruhig, arbeitsam und gewissenhaft und die Menschen insgesamt »plain, fair-dealing, sober, openhearted, courteous« und »humble« waren.99 Robinsons rationale und vorsorgende Haushaltsführung bietet ein Idealbild der Umsicht, die dem Kaufmann alten Schlags noch zu eigen war; Freitags gutmütige Dienstbereitschaft weckt die Erinnerung an die patriarchalen

95  Wolfram Schmidgen, »Robinson Crusoe, enumeration, and the mercantile fetish«, Eighteenth-Century Studies, Jg. 35, N° 1, 2001, 19 – 39, S. 21. 96  Defoe, Robinson Crusoe, S. 60. 97  Vgl. ebd., S. 60. 98  Vgl. Defoe, »by a Jobber«, The Anatomy of Exchange-Alley, S. 19. 99  Defoe, The Great Law of Subordination consider’d, S. 52. Nach Defoes Schätzung konnten solche idyllischen Verhältnisse in England zum letzten Mal »about the Year 1634 to 38«, also vor dem Bürgerkrieg, beobachtet werden.

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Verhältnisse der traditionellen Familienherrschaft mit ihren klaren Herrschaftsstrukturen und eindeutigen Unterordnungsverhältnissen.100

»Mankind must be sorted« Historiker haben häufig Bedenken, die Terminologie der Klassenteilung auf die englische Gesellschaft des 18. Jahrhunderts anzuwenden.101 Wie Roy Porter erklärt, seien die Menschen dieser Zeit nicht, »Marx vorwegnehmend«, von einem »Kampf zwischen drei unterschiedenen Klassen«, nämlich »Landbesitzer, Bourgeoisie und Proletariat« ausgegangen;102 sie hätten dazu geneigt, »Gruppen eher im Hinblick auf Interessenslagen zusammenzufügen oder zu trennen, nach Wohlstand, Beruf, Region, Religion, Familie, politischer Loyalität und Beziehungen«.103 Auch diese Teilung nach unterschiedlichen (und wechselnden) Interessen oder Assoziationen ist aber schon etwas anderes als die traditionelle Beschreibung des Body Politick in Begriffen von rank und degree. Es handelt sich offensichtlich um eine Gesellschaft, in der nicht mehr nur eine Ordnung herrscht; in ihr werden vielmehr unterschiedliche und variable Ordnungsprinzipien in Anschlag gebracht. Ein weiteres Argument gegen die Verwendung des Klassenvokabulars lautet, dass die »grundlegende Struktur der Eigentumsverhältnisse« sich im Lauf des 18. Jahrhunderts »nicht dramatisch« gewandelt habe.104 Doch ergibt sich dieser Eindruck einer relativen gesellschaftlichen Stabilität nur in statistischer Hinsicht und zudem im Nachhinein. Auch wenn die Struktur weitgehend unverändert bleibt, können sich für einzelne Gruppen sehr weitgehende Veränderungen ihrer sozialen Lage ergeben, und diese können als durchaus dramatisch erlebt werden. Daniel Defoe gehörte jedenfalls zu denen, die die unterschwelligen Veränderungen der gesellschaftlichen Struktur im England des frühen 18. Jahrhunderts sehr deutlich wahrgenommen haben. Er hat nicht nur das Problem der aus ihren traditionellen Bindungen entlassenen, ›freigesetzten‹ Armen in seiner ganz Tragweite erfasst und literarisch verarbeitet. Er ist wohl auch der erste, der zur Beschreibung der neuen sozialen Wirklichkeit systematisch den Klassenbegriff eingesetzt hat. Wenn Defoe – wie sein Robinson Crusoe zeigt – der kongeniale Buchhalter einer »Welt der sich bewegenden Dinge« war,105 so kann man ihn ebenso als 100  Sandra Sherman zufolge äußert sich im Robinson Crusoe »Defoes Phantasie einer voll-

endeten Dienerschaft in einer ökonomischen Ordnung ohne Märkte, ohne Kredit und ohne soziale Mobilität«. Sherman, »Servants and semiotics«, S. 554. 101  Vgl. Gary Day, Class, London, 2001, S. 91. 102  Roy Porter, English society in the eighteenth century, London, 1990, S. 53. 103  Ebd., S. 53. 104  Vgl. Paul Langford, Eighteenth-century Britain. A very short introduction (1984), Oxford, 2000, S. 52. 105  Mit dem Ausdruck »world of moving objects« bezeichnet Pocock die neue Ordnung des »commerce«, vgl. »J. G. A. Pocock, Virtue, commerce, and history. Essays on political thought and history, chiefly in the eighteenth century, Cambridge, New York, 1985, S. 109; Schmidgen

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den ersten Chronisten einer Welt der beweglichen Menschen, bzw. einer in Bewegung geratenen Gesellschaft verstehen. Defoe hat deutlich gesehen, dass die Ordnungskonzepte der ständischen Hierarchie nicht mehr ausreichten, um zu erfassen, was sich in der zeitgenössischen Gesellschaft abspielte, insbesondere, wenn es um deren mittlere und untere Ebene ging. Um nicht die Möglichkeit des steuernden Zugriffs zu verlieren, musste hier mit neuen Differenzierungen gearbeitet werden. Dem klassifikatorischen Imperativ, der seine Behandlung der Warenwelt bestimmte, folgte Defoe auch in der Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse. In seinem Essay Upon Projects drückte er ihn ganz buchstäblich, in Befehlsform, aus: »[M]ankind must be sorted into classes«.106 Der Kontext dieser Äußerung ist ein Vorschlag für eine Lebensversicherung, ein Unternehmen, bei dem es sinnlos wäre, nach Stand oder Herkunft zu fragen. Der Terminus »Klasse« erlaubt es dagegen, die Menschen nach den in diesem Fall relevanten Kriterien, nach den Zufälligkeiten (»contingencies«) ihrer Umstände (»circumstances«) zu beurteilen: for the Circumstances of People, as to Life, differ extremely by the Age and Constitution of their Bodies, and difference of Employment; as he that lives on shore, against him that goes to Sea, or a Young Man against an Old Man; or a Shopkeeper against a Soldier, are unequal.107

Dieses Prinzip der Klasseneinteilung wird von Defoe auch auf die sozialen Verhältnisse übertragen. In der von ihm 1704 bis 1713 herausgegebenen und geschriebenen Review wird wiederholt der Klassenbegriff eingesetzt, und dies durchaus schon im Sinn einer »sozialen Klassifikation«.108 Defoe hat auch eine Erklärung, warum die englische Gesellschaft sich besonders dazu anbietet, in Klassen geteilt zu werden. In England, so behauptet er, gebe es im Unterschied zu anderen Ländern eine eigene »Class of Topping Workmen«, die zwar nur »Journey-men under Manufacturers«, also Manufaktur-Arbeiter seien, die aber dennoch »very substantial Fellows« darstellten, ihre Familien gut unterhalten könnten und sich mit »good Things« umgäben, – »a Plenty unknown in Foreign Countries«.109 Dieser relative Wohlstand der arbeitenden Bevölkerung führe, so Defoe zu einer

bezieht Pococks Analyse der »mobility of property« auf Defoe: Schmidgen, »Robinson Crusoe, enumeration, and the mercantile fetish«, S. 19. 106  Defoe, An Essay Upon Projects, S. 118 – 119. 107  Ebd. Zu England als »homeland of insurance« vgl. Hacking, The taming of chance, S. 16. 108  Briggs, »The language of ›class‹ in early nineteenth-century England«, S. 43. 109  Daniel Defoe, »A Review of the Affairs of France, Numb. 18. Saturday, April 14. 1705«, in: ders., Defoe’s Review 1704 – 13, hg. v. John McVeagh, Volume 2: 1705, London, 2008, 103 – 107, S. 103.

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stärkeren Ausdifferenzierung in Klassen: »[…] ’tis plain the Dearness of Wages forms our People into more Classes than other Nations can shew«.110 Ausgehend von der Annahme, dass die Menschen in der Gesellschaft in erster Linie nach dem Grad des Reichtums zu unterscheiden sind, kommt Defoe zu einer eigenen, siebenfältigen Klassenteilung: The People are divided into; 1. The Great, who live profusely. 2. The Rich, who live very plentifully. 3. The middle Sort, who live well. 4. The working Trades, who labour hard, but feel no Want. 5. The Country People, Farmers, &c. who fare indifferently. 6. The Poor, that fare hard. 7. The Miserable, that really pinch and suffer Want.111

Zum Leben der Großen hat Defoe sich kaum geäußert; zu den Reichen zu gehören, war für ihn ein unerreichtes Ziel. Die meisten seiner klassensoziologischen Beobachtungen betreffen die unteren Gruppen dieser Aufstellung. Seine Aufmerksamkeit gilt der »middle Sort«, der er sich selbst zurechnete und den »working Trades«, deren schwindenden Arbeitseifer und deren zunehmende »Unverschämtheit« er mit Sorge betrachtete.112 Vor allem aber richtet sie sich auf die Armen, die bei ihm zunächst als Objekte von Reformvorschlägen, in den 1720er Jahren aber auch als Subjekte des Handelns, als Romanhelden vorkommen. Diese unterste Region der Gesellschaft ist es auch, auf die Defoe den Klassenbegriff zuerst und vorrangig anwendet. Wenn es um 1700 eine Gruppe gab, die aus der Standesgesellschaft vollständig herausgefallen war und nur noch mit dem Wort ›Klasse‹ beschrieben werden konnte, so waren es die »Poor« und »Miserable«.

110  Ebd. 111  Daniel Defoe, »A Review of the State of the British Nation, Numb. 36. Saturday, June

25. 1709«, in: ders., Defoe’s Review 1704 – 13, hg. v. John McVeagh, Volume 6: 1709 – 10, London, 2008, 193 – 197, S. 193. Auffällig ist hier, dass die Klassifizierung nach der ökonomischen Lage an einer Stelle durch eine weitere Differenzierung ergänzt wird: Den Bauern (»Country People«) geht es in ökonomischer Hinsicht nicht anders als den Handwerkern (»working Trades«), dennoch ist der soziale Unterschied zwischen Stadt und Land so groß, dass für sie zwei verschiedene Klassen angelegt werden müssen. 112  Vgl. hierzu insbesondere: Defoe, Daniel, pseud.: »Andrew Morton, Esq.«, Every-Body’s Business, is No-Body’s Business. Or, Private Abuses, Publick Grievances: Exemplified in the Pride, Insolence, and Exorbitant Wages of our Women-Servants, Footmen, &c., London, 1725; Defoe, The Great Law of Subordination consider’d. Diese Schrift bezeichnet Defoe selbst als »a black History of the Degeneracy of English Servants«, vgl. S. 15 – 16.

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Labouring Poor, Idle Poor Defoe teilte die klassische merkantilistische Sichtweise, nach der der Reichtum eines Landes von der Größe seiner Bevölkerung abhing, und er wiederholte das bevölkerungspolitische Mantra der Politischen Arithmetik: »the more People, the more Trade; the more Trade, the more Money; the more Money, the more Strength; and the more Strength, the greater a Nation«.113 Wie die Politischen Arithmetiker zog auch Defoe eine scharfe Grenze zwischen einer ökonomisch nützlichen und einer ökonomisch unnützen oder schädlichen Bevölkerung. Als »People« wollte Defoe nur diejenigen gelten lassen, die als Arbeiter, Unternehmer oder Soldaten den gesellschaftlichen Reichtum vermehrten: When therefore I am describing the Thing I call PEOPLE , as the great Subject of Trade, I mean, such as ought to be number’d among the People, not the Passive Good-for-nothings, who walk starving through the Thorough-Fair of Life, and have no Share in the Active Part of Life, and leave no Notice to Posterity that ever they have been here; but the People, who labour, or employ those that labour, trade, or assist those that trade, enjoy, or protect those that enjoy this Life […].114

So ist nach Defoe »every Class of Mankind« irgendwie nützlich für das Ganze der Nation; ausgenommen davon sind jedoch die »Incorrigible above-nam’d«,115 also die »Passive Good-for-nothings«, die nichts zum gesellschaftlichen Reichtum beitragen. Defoes Umgang mit dem Problem der Armut wird durch diese Unterscheidung zwischen nützlichen und unnützen Menschen bestimmt. Der unverschuldeten Armut der »Labouring Poor« steht die schuldhafte und liederliche Armut der »Idle Poor« gegenüber.116 Die »Labouring Poor« sind für Defoe gleichbedeutend mit »working Men or Labourers«; zu ihnen zählen »meer Husbandmen, Miners, 113  Daniel Defoe, »A Review of the State of the British Nation, Numb. 34. Tuesday, June 21,

1709«, in: ders., Defoe’s Review 1704 – 13, hg. v. John McVeagh, Volume 6: 1709 – 10, London, 2008, 184 – 188, S. 186 – 187. 114  Ebd., S. 186. 115  Ebd., s. 186. 116  Es wird gesagt, der Begriff »labouring poor« sei »apparently coined by Daniel Defoe in 1701«, vgl. Philip D. Morgan, »The Poor. Slaves in early America«, in: David Eltis, Frank D. Lewis und Kenneth L. Sokoloff (Hg.), Slavery in the Development of the Americas, Cambridge, New York, 2004, 288 – 323, S. 288. Tatsächlich verwendet Defoe schon in seinem Essay Upon Projects (1697) Ausdrücke wie »the meaner Labouring sort«, »Labouring Poor Persons« oder »Labouring People«, vgl. Defoe, An Essay Upon Projects, S. 57, S. 83, S. 146. Im politisch-religiösen Diskurs der puritanischen Dissenters waren ähnliche Formulierungen schon zur Mitte des 17. Jahrhunderts geläufig, wie z. B.: »the poor mean trade of the laboring man« oder »poor laboring men«, vgl. Jeremiah Burroughs, Moses his Choice with his Eye Fixed upon Heaven, Discovering the Happy Condition of a Self-Denying Heart, London, 1650, S. 658 und S. 697.

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Diggers, Fishers, and in short, all the Drudges and Labourers in the several Productions of Nature or of Art«.117 Immer wieder betont Defoe, wie gut es diesen arbeitenden Armen in England im Vergleich zu denen anderer Länder gehe. Die »labouring, manufacturing People« seien hier »infinitely richer than the same Class of People in any other Nation in the World«;118 die »English Poor« verdienten mehr als »the same Class of Men or Women […] in any other Nation«;119 sie lebten »better than the Poor of the same Class in other Countries«,120 etc. Zugleich findet sich bei Defoe eine deutliche Anerkennung der ökonomischen Bedeutung der Armen: Die »inferior Class of People« sei, so Defoe, »most necessary in a Body Politick«. Zumindest wenn sie »Industrious« sei, erweise sie sich als »most useful«; anderfalls (»when lazy«) könne sie aber »pernicious« sein.121 Anders als Mandeville, der auch gegenüber den gutwilligen Armen, den »willing Wretches« aus den »hard laborious Trades« keine Sympathie zeigt,122 gibt es bei Defoe so etwas wie ein paternalistisches Wohlwollen, eine Bereitschaft, die Armen, »if they are honest and diligent«, mit »handsome Wages« zu belohnen und zu ermutigen.123 Diese gönnerhafte Haltung gegenüber den ›guten‹ Armen paart sich bei Defoe mit einer demonstrativen Abscheu gegenüber den ›schlechten‹ Armen, d. h. denen, die alles tun, um der Arbeit, zu der sie sehr wohl fähig wären, aus dem Weg zu gehen. Wie Defoe glaubt, geht die große Zahl der Armen nicht auf »the men that can get no work« zurück; sie hat vielmehr mit »the Men that wont work« zu tun.124 Selbst unter den arbeitenden Armen herrsche »a general Taint of Slothfulness«, der sie in einem Dauerzustand von Müßiggang, Trunkenheit und Verschuldung festhalte: [T]here’s nothing more frequent, than for an English-man to Work till he has got his Pocket full of Money, and then go and be idle, or perhaps drunk, till, tis all gone, and perhaps himself in Debt; and ask him in his Cups what he intends, he’ll tell you honestly, he’ll drink as long as it lasts, and then go to work for more.125

Die heftigste moralische Verurteilung aber gilt denen, die sich der nützlichen Arbeit grundsätzlich entziehen und nur vom Betteln und Stehlen leben. Wie Defoe in seiner Schrift Giving Alms no Charity (1704) glaubhaft machen will, sei Defoe, A Plan of the English Commerce, S. 4. Ebd., S. 99. Ebd., S. 37. Ebd., S. 35. Daniel Defoe, Augusta triumphans. Or, the Way to Make London the Most Flourishing City in the Universe, London, 1728, S. 45. 122  Mandeville, The Grumbling Hive, S. 3. 123  Defoe, Augusta triumphans, S. 24. 124  Daniel Defoe, anon., Giving Alms no Charity, and Employing the Poor a Grievance to the Nation, London, 1704, S. 27. 125  Ebd. 117  118  119  120  121 

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es die unselige Neigung seiner Landsleute zum Mitleid, die diese verwerfliche Lebensweise überhaupt erst ermögliche: How can it be possible that any Man or Woman, who being sound in Body and Mind, may as ’tis apparent they may, have Wages for their Work, should be so base, so meanly spirited, as’ to beg an Alms for God-sake – Truly the scandal lies on our Charity; and People have such a Notion in England of being pittiful and charitable, that they encourage Vagrants, and by a mistaken Zeal do more harm than good.126

Zu dem ökonomisch unsinnigen System der Charity gehören nach Defoe auch die sich seit dem Ende des 17. Jahrhunderts über ganz England verbreitenden ›workhouses‹.127 Diese führten letztlich nur »to the Destruction of our Trade, and to Encrease the Number and Misery of the Poor«.128 Wie schnell deutlich wird, lehnt Defoe eine Internierung der Armen nicht grundsätzlich ab; es geht ihm an dieser Stelle um die ökonomische Schädlichkeit der Arbeitshäuser, die stark subventioniert werden müssen und dabei zugleich den regulären Manufakturbetrieben Konkurrenz machen. Wie Defoe nüchtern erklärt: »’tis a Regulation of the Poor that is wanted in England, not a setting them to Work«.129 Jeder Beschäftigungspolitik müsse, so Defoe, eine Politik der Disziplinierung vorhergehen, die die nötige Arbeitsbereitschaft der Armen herstellt. Anstatt die Errichtung weiterer Arbeitshäuser zu beschließen, solle das Parlament lieber Gesetze schaffen, »as may effectually cure the Sloth and Luxury of our Poor, that shall make Drunkards take care of Wife and Children; spendthrifts, lay up for a wet Day; Idle, Lazy Fellows Diligent; and Thoughtless Sottish Men, Careful and Provident«.130 Wie eine solche ›Regulierung‹ der Armen geschehen soll, erklärt Defoe an dieser Stelle nicht; es sollte jedoch bald deutlich werden, dass darunter eine Kombination von Maßnahmen der Verfolgung und Internierung zu verstehen war. Wie Defoe 1706 in der Review schreibt, habe er prinzipiell nichts dagegen, die Armen in »Charity-Hospitals, and Work-Houses« unterzubringen; er sehe aber, dass allen Anstrengungen, »to Maintain them IN THEM «, wesentlich mächtigere Kräfte entgegenstehen, die dafür sorgten »to keep our Poor OUT OF THEM «.131 126  Ebd., S. 12. 127  Zur Geschichte der Arbeitshäuser und Defoes wechselnder Haltung dazu, vgl. Beverlee

Fissinger Smith, Give me not poverty, lest I steal! Social criticism in selected non-fiction of Daniel Defoe, projecting to his three criminal novels, Dissertation (PhD), Chicago, Loyola University, 1971, online verfügbar unter: https://core.ac.uk/download/pdf/48610313.pdf S. 106 – 156. 128  Defoe, anon., Giving Alms no Charity, and Employing the Poor a Grievance to the Nation, Titelseite. 129  Ebd., S. 9. 130  Ebd., S. 27 – 28. 131  Daniel Defoe, »A Review of the State of the English Nation, Numb. 1. Tuesday, January 1. 1706«, in: ders., Defoe’s Review 1704 – 13, hg. v. John McVeagh, Volume 3: 1706, London, 2008, 7 – 11, S. 9.

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Mit anderen Worten: Wenn Arbeitshäuser funktionieren sollen, muss vor allem dafür gesorgt werden, dass die Armen keine alternative Existenzmöglichkeit finden; das Leben auf der Straße muss ihnen, durch Entzug der Almosen und durch aktive Vertreibungsmaßnahmen, unmöglich gemacht werden. In Defoes 1713 veröffentlichten Proposals for Imploying the Poor kehren die ehemals verworfenen Arbeitshäuser unter dem Namen »Colleges« wieder; der Unterschied besteht darin, dass sie sich selbst tragen und dem regulären Gewerbe keine Konkurrenz machen sollen. Wie Defoe erklärt, sei das Problem der »Multitude of Poor«, die die Straßen von London bevölkerten und eine »Publick Grievance to all the Inhabitants of the City and of the Suburbs« darstellten,132 durch seinen Projektvorschlag schnell und effektiv zu lösen, zudem »without any Charge to he Publick«: »All the Poor of this City are […] to be occupy’d in Manufactures relating to the Fishery, which is much neglected in the County of Middlesex […].« 133 Am Ufer der Themse sei ein großer Fischfangbetrieb, ein »College of Industry« zu errichten, groß genug, um 2000 Menschen aufzunehmen, aufgeteilt in 10 Höfe, die jeweils 20 oder mehr Häuser sowie Werkstätten umfassen sollten.134 Zur Vorbereitung des Betriebs sollten zunächst »the Churchwardens and Overseers of the Poor, in and about the City of London« die Namen »of all their begging and chargeable Poor« registrieren, einschließlich genauer Angaben über »their Trades, Abilities and former Employments«.135 Schließlich müssten dann Razzien und drastische Strafen dafür sorgen, dass die Armen die Straßen verlassen und ihre Arbeitsplätze einnehmen: When a College is thus erected, let Officers be order’d to take up all Beggars in the Streets, and carry them to the College; and if they are found begging again, let them be publickly punish’d by Whipping, or other prudent Severities. This Method would undoubtedly make them apply themselves to Labour, and forsake their Vagabond Course of Life.136

Innerhalb der so geschaffenen Arbeitsanstalt soll schließlich eine ständige Beobachtung und Beurteilung dafür sorgen, dass jede vorhandene Arbeitskapazität vollständig ausgeschöpft wird. Mit Hilfe der klassifikatorischen Einteilung wird sich die Institution des ›workhouses‹, die sonst lediglich der Beruhigung des Gewissens gedient hätte, in ein effizientes ökonomisches System verwandeln:

132  Daniel Defoe, Proposals for Imploying the Poor in and about the City of London, Without

any Charge to the Publick, London, 1713, S. 3. Ebd., S. 7. Vgl. ebd., S. 9. Ebd., S. 15. Ebd., S. 16.

133  134  135  136 

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Let the Governor and Principal Officers imploy the Poor according to their Abilities, in their several Wards, with Constables chosen from among them yearly to inspect them, and oblige every one to do his Duty. Such as have only Hands may be dispos’d of accordingly, and the Young and Lusty may be set to Fishing.137

Menschen in Bewegung Defoes Traum, die Londoner Armen am Themseufer festzusetzen, um ordentliche Arbeiter aus ihnen zu machen, hat sich nicht erfüllt. Die multitude von London blieb eine ungeformte, bewegliche Masse. César de Saussure berichtet 1725 aus London über den »gemeinen Pöbel«, »den man hier Mob nennt«:138 Ich habe Sie bereits auf seine Arroganz und sein Verhalten aufmerksam gemacht. Er hat wenig oder keine Erziehung, geschweige denn Gottesfurcht. […] Er ist generell süchtig nach allen Arten von Ausschweifungen, ich spreche von dem Londons, mit dem auf dem Land ist es anders. Das Volk hat keine Achtung und keine Ehrfurcht vor den Großen; wenn es von ihnen etwas Gutes erhält, rühmt es sich dessen und wird dabei sogar frech.139

Im Wort ›Mob‹ steckt schon ein Teil der Erklärung, warum die städtische Masse so gefürchtet wird. »Mob or the Mobile« bedeutet, wie der vierte Lord Forbes of Pitsligo 1734 sachkundig bemerkt, »Inconstancy and Giddiness«; ein Zustand, der sich einstelle, wenn das Volk in der »Menge« (»crowd«) zusammenkommt, »sometimes for bare Curiosity, sometimes to make Disturbance«.140 Lord Bolingbroke tadelt 1721 in einem Brief an Swift dessen Bemühungen um das »Gesindel« (»rabble«) von Dublin und erklärt, dass dieses »monstrous beast« allenfalls »passions to be moved« aufweise, jedoch keine »reason to be appealed to«.141 Und Anthony Ashley-Cooper, der dritte Earl of Shaftesbury, gibt 1708 die wohl erste präzise Beschreibung der spezifischen, in der Menge wirksamen, »panischen« Leidenschaft, die er als ›Infektion‹ durch »Kontakt« und »Sympathie« beschreibt:142 137  Ebd., S. 12. 138  Saussure, Lettres et voyages de Monsr. César de Saussure en Allemagne, en Hollande et en

Angleterre (1725 – 1729), S. 69. 139  Ebd., S. 226. 140  Alexander Forbes, 4th Lord Forbes of Pitsligo, »A Short Account of the World«, in: ders., Essays Moral and Philosophical, on Several Subjects, London, 1734, 106 – 201, S. 168. 141  St. John, 1st Viscount Bolingbroke, Henry, »Lord Bolingbroke to Dr. Swift, July 28, 1721«, in: Jonathan Swift, Letters Written By The Late Jonathan Swift […] And Several of His Friends. From the Year 1703 to 1740, In Thre Volumes, London, 1766, 221 – 231, S. 221. Vgl. Timothy Mc Inerney, »The better sort. Nobility and human variety in eighteenth-century Great Britain«, Journal for Eighteenth-Century Studies, Jg. 38, N° 1, 2015, 47 – 63, S. 54. 142  Shaftesburys Wortgebrauch nimmt den der späteren religionswissenschaftlichen Magietheorie vorweg. Frazer wird von »sympathetischer Magie« sprechen und dabei zwischen

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One may with good reason call every passion ›panic‹ which is raised in a multitude and conveyed by aspect or, as it were, by contact or sympathy. Thus, popular fury may be called ›panic‹ when the rage of the people, as we have sometimes known, has put them beyond themselves, especially where religion has had to do. And in this state their very looks are infectious. The fury flies from face to face, and the disease is no sooner seen than caught. […] Such force has society in ill as well as in good passions, and so much stronger any affection is for being social and communicative.143

Ein guter Teil des Schreckens und auch der Faszination, die von Mob und Multitude ausgehen, ergibt sich aus ihrer Ungreifbarkeit und Formlosigkeit. Eine in Bewegung befindliche Menge lässt sich, jedenfalls mit den Instrumenten des 18. Jahrhundert, nicht klassifikatorisch erfassen. Das betrifft auch das Phänomen der »unsettled subjects«,144 d. h. der umherziehenden, häufig die Stelle wechselnden Wanderarbeiter und ›vagrant servants‹. Defoe schildert es anhand der »Servant Maids«, die ein »Amphibious Life« zwischen Haushalt und Bordell führen: Thus many of ’em rove from Place to Place, from Bawdy-House to Service, and from Service to Bawdy-House again, ever unsettled, and never easy, nothing being more common than to find these Creatures one Week in a good Family, and the next in a Brothel […].145

Die Furcht vor dem Vagabundentum war in der Frühen Neuzeit zweifellos größer als ihr tatsächliches Ausmaß. Schon Ende des 16. Jahrhunderts erhob sich die Klage über »infinite numbers of the wicked wandering idle people of the land«,146 die sich angeblich täglich vermehrten; ähnliche Stimmen wurden immer wieder, das ganze 17. und 18. Jahrhundert hindurch, laut. Die Zahl tatsächlicher ›Vagabunden‹, also umherziehender Bettler, lag nach modernen Schätzungen bei etwa 16.000 bis 20.000 in ganz England.147 Dagegen war die Arbeitsmigration ein Phäeinem »Gesetz der Ähnlichkeit« und einem »Gesetz der Berührung« unterscheiden. Vgl. Frazer, Der goldene Zweig, S. 18. 143  Anthony Ashley-Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury, »A Letter Concerning Enthusiasm to My Lord *****« (1708), in: Anthony Ashley-Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury, Characteristics of men, manners, opinions, times, hg. v. Lawrence Eliot Klein, Cambridge, UK , New York, 1999, 4 – 28, S. 10. Vgl. hierzu Michael Gamper, Masse lesen, Masse schreiben. Eine Diskurs- und Imaginationsgeschichte der Menschenmenge 1765 – 1930, München, 2007, S. 52 – 53. 144  Vgl. Patricia Fumerton, Unsettled. The culture of mobility and the working poor in early modern England, Chicago, Ill., 2006, S. xv und passim. 145  Defoe, Daniel, pseud.: »Andrew Morton, Esq.«, Every-Body’s Business, is No-Body’s Business, S. 7. 146  So schreibt 1596 Edward Hext, Richter aus Somerset, an Lord Burghley, zit. nach Fumerton, Unsettled, S. 44. 147  Vgl. A. L. Beier, Masterless men. The vagrancy problem in England, 1560 – 1640, London, 1985, S. 15.

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nomen ganz anderer Größenordnung. Das Wachstum Londons im 17. Jahrhundert beruhte auf Migration, zunächst auf dem Zuzug von Lehrlingen (»apprentices«), später vor allem von männlichen und weiblichen Bediensteten (»servants«). Wie A. L. Beier und Roger Finley deutlich gemacht haben, war »in der City von London fast jeder ein Migrant. Die Funktionsweise des Arbeitsmarkts, zusammen mit der Versorgung der Kinder durch Ammen, bewirkte, dass viele Leute keine Familienbindungen oder irgendein Gefühl der Zugehörigkeit hatten.« 148 Die »kulturellen Implikationen« des Phänomens gingen jedoch noch »über seine demographische Basis« hinaus.149 Offenbar wurden ›vagrancy‹ und ›mobility‹ auch deshalb so alarmiert beobachtet, weil sie auf einen tieferliegenden Wandel der gesellschaftlichen Ordnungsmuster hindeuteten. Wie Richard Halpern nahelegt, gab die Mobilität der Menschen einen Vorgeschmack der neuen sozialen Verhältnisse, die von der Flüchtigkeit des Kapitals bestimmt sein würde: Den enteigneten Klassen kam daher eine stark antizipatorische Kraft zu. Indem sie die Decodierungseffekte des Kapitals in einer Weise ›widerspiegelten‹, die die strukturellen Beschränkungen der späten feudalen Produktion überschritten, gaben sie ein vorzeitiges und alptraumhaft übertriebenes Bild der Moderne ab. Sie waren eine Art flüchtiger Flüssigkeit, die unregelmäßig durch den sozialen Körper floss und darin überall sichtbar war, wodurch sie die Möglichkeit eines totalen und anarchischen Zusammenbruchs der bestehenden sozialen Mechanismen der Ordnung und Kontrolle darstellten.150

Mark Netzloff hat Halperns Anregung aufgenommen, sie aber in spezifischerer Weise auf den Wandel der Arbeitsverhältnisse bezogen: »Die Gefahr des Vagabundierens bestand darin, dass es einen allgemeinen Zusammenbruch einer sozialen Ordnung widerspiegelte, die auf einer hierarchischen Klassifizierung der Arbeit basierte.« 151 Defoe teilte zweifellos die gewöhnliche Abneigung seiner Landsleute gegen die Trunkenheit, Ausschweifung und Gewalt, gegen die ungeregelten, unehelichen Liebesverhältnisse, die Sorg- und Ehrlosigkeit der Vagabunden, Taschendiebe, Straßenräuber, der Betrügerinnen und Prostituierten. Wenn er sich dennoch in zahlreichen Pamphleten, Reformvorschlägen und Romanen mit der Unterwelt der ›vagrant‹ und ›idle poor‹ beschäftigt hat, so kann das mit einer geheimen 148  A L Beier und Roger Finlay: »Introduction«, in: dies. (Hg.): London 1500 – 1700. The

making of the metropolis, London: Longman, 1986, zit. nach: Fumerton, Unsettled, S. 12.

149  Mark Netzloff, »Work«, in: Andrew Hadfield, Matthew Dimmock und Abigail Shinn

(Hg.), The Ashgate research companion to popular culture in early modern England, Farnham, 2014, 163 – 176, S. 170. 150  Richard Halpern, The poetics of primitive accumulation. English Renaissance culture and the genealogy of capital, Ithaca, N. Y., 1991, S. 74. 151  Netzloff, »Work«, S. 170.

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Faszination zu tun haben,152 es kündet aber wohl vor allem von der sportlichen Anstrengung, den Gedanken der Ordnung und höheren Vorsehung an einem besonders schwierigen, besonders unordentlichen Gegenstand zu bewähren. Für den Ordnungsgeist der Frühen Neuzeit stellte der Mob in seiner Beweglichkeit, in seiner Formlosigkeit und Flüchtigkeit die wohl größte denkbare Provokation dar. Bereits die Autoren der sog. Rogue Stories, der satirischen Schurkenbiographien des 17. Jahrhunderts, schienen etwas von dieser Herausforderung verspürt zu haben, denn sie legten Wert darauf, nicht einfach nur haarsträubende Geschichten zu erzählen, sondern ihren Lesern eine Idee von der inneren Ordnung des Verbrechens zu geben. So werden bei Richard Head, einem frühen Vertreter des Genres, die »several qualities and offices« einer »Brother-hood« von Dieben beschrieben, und es wird gezeigt, »how they were distinguished from each other according to their degrees of superiority and inferiority«.153 Durch in den Text eingerückte Listen werden »twenty several sorts« von männlichen Schurken aufgeführt; für die Frauen genügen dagegen weniger Einträge: Of the Women kinde were only these six. 1 Kitchen Morts. 2 Dells. 3 Doxies. 4 Walking Morts. 5 Autem Morts. 6 Bawdy Baskets.154

Während es sich hier um eine offensichtlich parodistische Einteilung handelt, erhebt Defoes Darstellung der Welt des Verbrechens, insbesondere in der Erzählung Jonathan Wild (1725), demonstrativ dokumentarischen Anspruch: Im Unterschied zu den zahlreichen »several absur’d and ridiculous Accounts«,155 die bereits über Jonathan Wild, den berühmten ›Thief-Catcher‹ geschrieben worden

152  Peter Stallybrass und Allon White lesen die Faszination der Londoner für das ›Low Life‹

ihrer Stadt als eine Wiederkehr des Verdrängten: »But disgust always bears the imprint of desire. These low domains, apparently expelled as ›Other‹, return as the object of nostalgia, longing and fascination. The forest, the fair, the theatre, the slum, the circus, the seaside-resort, the ›savage‹: all these, placed at the outer limit of civil life, become symbolic contents of bourgeois desire.« Stallybrass u. White, The politics and poetics of transgression, S. 191. 153  Richard Head, The English rogue continued in the life of Meriton Latroon. The Seond Part, London, 1668, S. 134. 154  Ebd., S. 134 – 135. 155  Daniel Defoe, The True and Genuine Account of the Life and Actions of the Late Jonathan Wild. Not made up of Fiction and Fabel, but taken from his Own Mouth, and collected from Papers of his Own Writing, London, 1725, o. P. [Preface].

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seien,156 verspricht Defoe »to give a true but also a full and complete Account of him«,157 ohne dabei in den genreüblichen »stile of Mockery and Redicule« zu fallen.158 Die Machtstellung Jonathan Wilds und die Tatsache, dass er sich so lange als König der Londoner Unterwelt halten konnte, gehen offenbar auf die ambivalente Einstellung zurück, die das Publikum gegenüber dem selbsternannten »ThiefTaker General of Great Britain & Ireland« einnahm. Deutlich wird dies in einer von Mandeville stammenden Bemerkung zum Fall Wild aus dem gleichen Jahr 1725: Zwar betrachteten die Bürger es als »unpardonable, that a Man should knowingly act against the Law, and by so doing powerfully contribute to the Increase, as well as Safety and Maintenance, of Pilferers and Robbers«; andererseits aber nahmen sie gerne Wilds Dienste in Anspruch, wenn es darum ging, gestohlene Gegenstände wiederzuerlangen: Yet nothing is more common among us. As soon as any Thing is missing, suspected to be stolen, the first Course we steer is directly to the Office of Mr. Jonathan Wild.159

Abbildung 28: Daniel Defoe, The true and genuine account of the life and actions of the late Jonathan Wild, London, 1725, Frontispiz und Titel. 156  Tatsächlich waren 1725, im Jahr seiner Hinrichtung, schon mehrere erzählerische Be-

richte zu Jonathan Wilds Leben erschienen. Wild bildete auch die Vorlage für die Figur des Peachum in John Gays Beggar’s Opera (1728), vgl. Novak, Daniel Defoe, S. 641. 157  Defoe, The True and Genuine Account of the Life and Actions of the Late Jonathan Wild, S. v. 158  Ebd., S. iv. 159  Bernard Mandeville, An Enquiry Into The Causes Of The Frequent Executions At Tyburn. And A Proposal for some Regulations concerning Felons in Prison […], London, 1725, S. 3.

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Dass Defoe sich für die Figur des Jonathan Wild besonders interessierte, lag wohl nicht nur an ihrer moralischen Ambiguität, daran, dass man ihr in gewisser Hinsicht einen »good Character« zuschreiben musste;160 es hatte wohl auch damit zu tun, dass Jonathan Wild ein »Büro« unterhielt und dass sich sein Auftreten von dem eines Kaufmanns kaum unterschied. Mehr als nur ein Anflug von Sympathie ist spürbar, wenn Defoe von Mr. Wilds ordentlicher Buchführung berichtet: He openly kept his Compting House, or Office, like a Man of Business, and had his Books to enter every thing in with the utmost Exactness and Regularity.161

Wenn Wild, wie Defoe bemerkt, sich »a strange, and indeed unusual, Reputation for a mighty honest Man« erwerben konnte,162 so lag dies nicht zuletzt daran, dass der Betriebsablauf seines Gewerbes kaum von dem eines Handelskontors zu unterscheiden war: [H]is Success hardened him to put on a Face of public Service in it, and for that Purpose to profess an open and bare Correspondence among the Gangs of Thieves; by which his House became an Office of Intelligence for Enquiries of that kind, as if all Stolen Goods had been deposited with him in order to be restored.163

In diesem Zusammenhang ist es nicht erstaunlich, dass in der Welt des Jonathan Wild dem kaufmännischen Verfahren der Klassifizierung eine besondere Bedeutung zukommt. Wie ein Kaufmann seine Kunden taxiert, so differenziert Wild zwischen »several Classes of Thieves«.164 Entsprechend werden etwa die »young Beginners« als eine eigene »Class« betrachtet, »who are not so easily to be governed as the others are«.165 Ebenso selbstverständlich ist es für den Herrn der Unterwelt, mögliche Feinde im Blick zu behalten und »to divide them into Classes«: For example, (1.) such as having committed the Secret of a Fact to him, yet would not submit their Purchase to his Disposal; or (2.) would not accept reasonable Terms of Composition for restoring the Goods; or (3.) used any threatening Speeches against their Comrades.166

160  161  162  163  164  165  166 

Defoe, The True and Genuine Account of the Life and Actions of the Late Jonathan Wild, S. 13. Ebd., S. 21. Ebd., S. 13. Ebd. Ebd., S. 16. Ebd., S. 24. Ebd., S. 13 – 14.

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Wie im Universum des Handels ist in der Welt der Gangs von London die Gültigkeit der Ständeordnung außer Kraft gesetzt; sie findet sich nur noch in parodistischer Form, etwa, wenn sich Wild als »Jonathan Wild, Esq.« anreden lässt oder wenn er sich den offiziösen Titel eines »Chief-Taker General« anmaßt. In der Geschäftspraxis gilt dagegen das flexible Prinzip der Klassifizierung nach wechselnden, vom jeweiligen Interesse bestimmten Kriterien. Wie die Kaufmannschaft, so erweist sich damit auch das das von Wild betriebene organisierte Verbrechen als Avantgarde, wenn es darum geht, das neue Informations-, Verwaltungs- und Regierungswerkzeug der Klassenteilung zu erproben.

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KLASSENFEINDE. SWIFT UND ANDERE ›ROMANTICKS‹ So scharf wie kaum ein anderer hat der anglikanische Priester und Schriftsteller Jonathan Swift die sich im Stillen vollziehende Revolution seiner Zeit erfasst: den Übergang von einer aristokratischen Ökonomie des Landes zu einer handelskapitalistischen Ökonomie des Geldes. Wenn man ihn als ›Klassenfeind‹ bezeichnen kann, dann in dem Sinn, dass er wohl einer der ersten und erbittertsten Feinde des Klassenprinzips war, einer jener Konservativen, die genau wussten, worauf die sich überall ausbreitenden Praktiken der quantitativen Bewertung und klassifikatorischen Einteilung hinausliefen, und die sich daher – wenn auch vergeblich – an das alte Ideal einer ständischen, territorialen Herrschaft klammerten.

Land und Geld In der Öffentlichkeit des frühen 18. Jahrhunderts zu sein, hieß für viele, in einem permanenten Kampf zu stehen. Wie Joseph Addison im Spectator beklagte, wurden alle Diskussionen, auch die nicht eigentlich politischen, von einem »furious Party Spirit« beherrscht; dieser »dreadful Spirit of Division« 1 mache die Engländer »greater strangers and more averse to one another than if they were actually two different nations«.2 Jonathan Swifts Zeitung The Examiner sprach nicht weniger dramatisch von einer »Schlacht« der Worte, die die Nation stärker entzweie als ein realer Krieg: The War at home is a mere Logomachy, a Battle of Names and Phrases. We have, literally speaking breath’d nothing but Contention; have made our Vocabularies the Seat of War, and try’d what we could to draw even the Air in to be of a Party. Words of a very bad Meaning, or of no Meaning at all, have more effectually split and chin’d us, than the broadest Sword or most pondrous Battle-Ax.3

Die hier beklagte »Rage of Party« 4 war wesentlich ein Medieneffekt. Das anhand der Pamphletistik des Bürgerkriegs beschriebene Ping-Pong der wechselseitigen

1  2  3  4 

Addison, »The Spectator, N° 125«, S. 441. Ebd. The Examiner, Vol. IV , Num. 19. From Friday July 17, to Monday July 20, 1713, o. P. [S. 1]. Bucholz u. Ward, London, S. 173.

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Beschimpfungen 5 hatte sich durch die Herrschaft der Tagespresse noch erheblich verstärkt. Es gehörte zur Routine der Auseinandersetzungen, dass sich Whigs und Tories jeweils der extremsten Absichten verdächtigten: So glaubten die Whigs, dass es den Tories nur darum gehe, »to bring in Popery, Arbitrary Power, and the Pretender«, während umgekehrt die Tories den Whigs unterstellten, »a Commonwealth and the Alteration of the Church« anzustreben.6 Eine Enthaltung in diesen paper wars war so gut wie unmöglich; es war geradezu eine Bedingung für die Teilnahme am öffentlichen Diskurs, sich einem der beiden politischen Lager anzuschließen. Der Zwang zur Parteinahme erhöhte sich noch einmal in den 1710er Jahren, als das Zeitungsgeschäft weniger profitabel wurde und immer mehr unter den Einfluss von politischer Patronage geriet.7 Für viele Beobachter ergab sich der Verdacht, dass die polemische Entgegensetzung gezielt geschürt wurde. So glaubte Addison in den Kleinanzeigen der Zeitungen ein veritables »management of controversy« zu entdecken: Mehr als die Hälfte aller Anzeigen, auf die man st0ße, seien schlichte Fälschungen und »purely polemical.« 8 Henry St. John, 1st Viscount Bolingbroke, der führende Kopf der Tories, legte 1711 in hellsichtiger Weise den Mechanismus der ideologischen Polarisierung offen: Die polemische Aufteilung des politischen Feldes wirke ähnlich wie Solons Gesetz der Parteinahme im Bürgerkrieg;9 sie führe zu einer klassifikatorischen Unterteilung des Feldes und damit zu einem Zwang der Zuordnung, der jede dritte oder ›indifferente‹ Position verunmögliche: There’s a Set of People, one may call them […] the Kidnappers, of the Press, that make a Livelihood of Watching the Motions and Postures of the Publick, and catch them as fast as they come, to Clap them aboard. […] Now these Pen-Militia, as they draw out into Parties, explain the State and Habit of a Body Politick […]: They divide into So many Criteria, and almost every new Pamphlet raises two new Denominations, between those that like it, and those that don’t; and as fast as these Distinctions incorporate into Classes, they draw off their respective Numbers, till at last the whole Community comes to look as if ’twere Canton’d out; and if any 5  S. o., Kap. 15, Abschnitt »Krieg der Pamphlete«. 6  »The Examiner, Num. XXV . Thursday, January 25, 1710 – 11«, in: Jonathan Swift, The

Works of the Rev. Jonathan Swift, hg. v. Thomas Sheridan u. John Nichols, Bd. 3, London, 1801, 100 – 109, S. 100 – 101. 7  Vgl. Raymond, »The newspaper, public opinion, and the public sphere in the seventeenth century«, S. 129. 8  Addison, »The Tatler, N° 224«, S. 149. 9  Zu Solons merkwürdigem Gebot der Parteinahme im Bürgerkrieg, vgl.: Nicole Loraux, »Das Band der Teilung«, in: Joseph Vogl (Hg.), Gemeinschaften. Positionen zu einer Philosophie des Politischen, Frankfurt a. M., 1994, 31 – 64, S. 39: »Es gibt ein Gesetz, das Solon für eine unsichere Zukunft schuf, für kommende, nur allzu wahrscheinliche Konflikte. Und das Gesetz besagt: ›Wer während einer stasis in der Stadt nicht für eine der beiden Parteien zu den Waffen greift, soll seine bürgerlichen Rechte verlieren und aus der Gemeinde ausscheiden.‹«

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indifferent Men stay behind, and are left, in the Centre, they are, or are thought to be, as much a Party as any of them, under that very Notion, and in spight of their Teeth. As Solons Law set a Brand of Infamy on those that did not declare for one Side or t’other, in all Tumults and Civil Commotions whatsoever.10

Konnte auf diese Weise der parteipolitische Gegensatz als Produkt einer willkürlichen Eskalation erscheinen, von der niemand so genau wusste, wie sie eigentlich entstanden war, so gab es umgekehrt auch Versuche, die politische Entgegensetzung ernst zu nehmen und auf ihre tieferen Ursachen zurückzuführen. Daniel Defoe wusste sich zweifellos mit einem großen Teil seiner Landsleute einig, als er 1702 den Ursprung aller ideologischen Spaltungen auf den Gegensatz zwischen Amtskirche und Dissentern zurückführte: Now, as this too much divided Nation has always been compos’d of two contending Parties, those Parties have been distinguish’d, as in like Cases, by Names of Contempt; and tho’ they have often chang’d them on either side, as Cavalier and Roundhead, Royalists and Rebels, Malignants and Phanaticks, Tories and Whigs, yet the Division has always been barely the Church and the Dissenter, and there it continues to this Day.11

Dieser recht traditionellen Anschauung zufolge lag der alle anderen Entgegensetzungen bestimmende Gegensatz in der Differenz der religiösen Anschauungen. Zunehmend setzte sich jedoch eine andere Erklärung durch, die den ›Hauptwiderspruch‹ der Epoche in den ökonomischen Verhältnissen verortete. Dabei ging es, wie man sich denken kann, nicht um den von Mandeville und Defoe beschriebenen Klassengegensatz zwischen Armen und Reichen. Im öffentlichen Diskurs wurde zwar über die Armen geredet, sie waren aber nicht als Stimme oder Partei präsent. Der in Frage stehende ökonomische Gegensatz war kein Gegensatz zwischen zwei Klassen, sondern zwischen zwei Fraktionen der herrschenden Elite. Er verlief nicht zwischen Arm und Reich, sondern zwischen zwei Formen des Reichtums, zwischen landed interest und moneyed interest. Diese Aufteilung ähnelte der älteren Unterscheidung zwischen ›land‹ und ›trade‹, also zwischen landbesitzender Gentry und handeltreibendem Stadtbürgertum, sie war damit aber, wie Michael McKeon erläutert, nicht deckungsgleich. Während jene zwischen zwei Statusgruppen innerhalb der traditionellen Hierarchie der ranks und degrees unterschied, bezeichnete der Gegensatz zwischen landed und moneyed interest nicht nur den Unterschied zweier verschiedener Formen des 10  St. John, 1st Viscount Bolingbroke, anon., The Way to Bring the World to Rights: Or, Honesty

the Best Policy at All Times, and in All Places, S. 3 – 5.

11  Daniel Defoe, A new Test of the Church of England’s Loyalty. Or, Whiggish Loyalty and

Church Loyalty Compar’d, s.l, 1702, S. 2 – 3.

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kapitalistischen Gewinns (Grundrente und Profit), er zog auch eine Scheidelinie zwischen einer Status- und einer Klassenideologie: Man ging davon aus, dass die Vertreter des landed interest von denen des moneyed interest nicht nach den Statuskriterien des Grundeigentums oder der Verfügung über einen Landsitz zu unterscheiden waren, sondern durch die ganz spezielle Anforderung, dass sie vollständig von Grundrenten lebten. Sie selbst definierten sich gegen all jene – darunter auch städtische Kaufleute und rationalisierungsfreudige Agrarunternehmer –, die zu Wohlstand kamen, indem sie durch den Kreditmechanismus der finanziellen Investition Geld machten. Die neue Terminologie drückt mit anderen Worten aus, wie weit sich die traditionelle, innerhalb eines Standessystems und nach den Statuskriterien von Gentilität und Landbesitz erfolgende Trennung von Land und Handel in den Augen der Zeitgenossen in einen Konflikt zwischen Status und Klassenorientierung verwandelt hat, der quer zu den älteren Kategorien von Land und Handel steht.12

Die reinste Verkörperung eines landed interest wäre demnach im (adeligen) Grundeigentümer zu finden, der ausschließlich von der Verpachtung seiner Landgüter lebt; die reinste Verkörperung von moneyed interest würde dagegen der städtische Kaufmann bilden, der durch Handels- und Finanzgeschäfte reich geworden ist und einen Landsitz nur zu Erholungs- und Repräsentationszwecken unterhält – eine idealtypische Entgegensetzung, die in den von Addison und Steele erfundenen Figuren des Country-Tory Sir Roger de Coverley und seines »old Antagonist Sir ANDREW FREEPORT « ihre literarische Darstellung gefunden hat.13 Wenn auf diese Weise der Gegensatz zwischen land und money thematisiert wurde, dann war damit immer auch die Wahrnehmung verbunden, dass sich das Machtverhältnis zwischen den beiden Polen durch die Financial Revolution des späten 17. Jahrhunderts massiv verschoben hatte. 1709 beschwerte sich Bolingbroke über die Verkehrung der traditionellen Unterordnungsverhältnisse zwischen landed und moneyed men: We have now been twenty years engaged in the two most expensive wars that Europe ever saw. The whole burthen of this charge has lain upon the landed interest during the whole time. […] A new interest has been created out of their fortunes, & a sort of property w[hi]ch was not known twenty years ago is now encreased to almost equal to the terra firma of our island. The consequence of all this is that

12  McKeon, The origins of the English novel, 1600 – 1740, S. 166 – 167. 13  Joseph Addison, »The Spectator, N° 269. Tuesday, January 8, 1712«, in: The Spectator, hg.

v. Henry Morley, Bd. 2, London, 1891, 222 – 225, S. 224.

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the landed men are become poor & dispirited. […] In the mean while those men are become their masters, who formerly would with joy have been their servants.14

Daniel Defoe betrachtete die Entwicklung von der anderen Seite, und das heißt, mit Genugtuung. Ihm zufolge war erwiesen, dass sich »the rising greatness of the British nation« nicht den klassischen Adelskompetenzen des Krieges und der territorialen Expansion verdankte, sondern dem Handel.15 Deshalb war es ihm zufolge nur konsequent, wenn die früher dem landed interest vorbehaltenen Statuspositionen nun von den Vertretern des moneyed interest besetzt würden: »Trade is so far here from being inconsistent with a Gentleman, that, in short, trade in England makes Gentlemen, and has peopled this nation with Gentlemen […]«.16 Defoes von 1724 bis 1727 in drei Bänden erschienene Tour Thro’ the Whole Island of Great Britain gab ein breites Panorama der Umschichtungen des Wohlstands, die sich insbesondere im Gefolge des South Sea-Crashs von 1720 ergeben hatten. Der »melancholy part« dieser Reise lag in der Beobachtung, dass »many, if not most of the Great and Flourishing Families in England« von »so mean a Disaster as that of Stock-Jobbing« heimgesucht worden waren.17 Einige davon seien durch »that South-Sea Deluge« so stark getroffen worden, dass sie ihre »fine Parks and new-built Palaces« verpfänden oder veräußern mussten.18 Ein Trost lag darin, dass zugleich Zeichen eines neuen, von der Handelsmetropole London ausgehenden Wohlstands zu erkennen waren, der den der landed gentry zu übertreffen begann: I mention this, to observe how the present encrease of Wealth in the City of London, Spreads it self into the Country, and plants Families and Fortunes, who in another Age will equal the Families of the antient Gentry, who perhaps were brought out.19

Trotz dieses offensichtlichen Triumphs des moneyed interest konnte, wie Defoe sehr wohl gesehen hat, die Klassenlogik der sozialen Beurteilung nicht umgehend die alten Statushierarchien ersetzen: Der Adel hielt, auch wenn er verarmt war, an der dünkelhaften Vorstellung seiner sozialen Überlegenheit fest. Selbst die erfolgreichsten Aufsteiger hatten es schwer, sich in der Nachbarschaft der alteingesessenen Grundeigentümer durchzusetzen – ein »Mangel an sozialer

14  Bodleian Library, Oxford, MS . Eng. misc. e. 180, ff., zit. nach Geoffrey S. Holmes, British

politics in the age of Anne (1967), London, 1987, S. 177.

15  Defoe, The complete English tradesman, S. 382 – 383. 16  Ebd., S. 376. 17  Daniel Defoe, A Tour Thro’ the whole Island of Great Britain, Divided into Circuits or

Journies. Vol. I, London, 1724, S. 138.

18  Ebd., S. 139. 19  Ebd., S. 17.

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Anerkennung«,20 der den vom moralischen Wert des Kaufmannslebens überzeugten Defoe schwer kränkte. Er tröstete sich damit, dass die Zeit den Unterschied zwischen dem geborenen (»born«) und dem gemachten (»bred«) Gentleman auslöschen würde.21 Den Begründer des Hauses, »the first money getting wretch«, hafte noch allzu sehr der Dialekt von Exchange Alley und »the usuall aire of a sharper« an.22 Dies gelte jedoch schon nicht mehr für den »politer son«, dem als »bred Gentleman« die Aufnahme in die höhere Gesellschaft nicht mehr versagt werden könne: Call him what you please on account of his blood, and be the race modern and mean as you will, yet if he was sent early to school, has good parts, and has improv’d them by learning, travel, conversation, and reading, and abov[e] all with a modest courteous gentlemen-like behaviour: despise him as you will, he will be a gentleman in spite of all the distinctions we can make […].23

Swifts anti-arithmetischer Kampf Die Unterscheidung von landed interest und moneyed interest war im England des frühen 18. Jahrhunderts auch deshalb so heiß umkämpft, weil es sich nicht einfach um eine Frage der Besitzverteilung, sondern um eine der politischen Repräsentation handelte. Letztlich ging es um die schon in der Antike diskutierte Frage, ob die Zumessung der politischen Macht nach ›geometrischen‹ oder nach ›arithmetischen‹ Prinzipien erfolgen sollte. Wenn beispielsweise Solon von einer ›Gleichheit‹ der Bürger sprach, so handelte es sich, in der Formulierung von Jean Pierre Vernant, »um eine hierarchische Gleichheit«, »um eine geometrische, nicht aber eine arithmetische Gleichheit«.24 Diese »geometrische Gleichheit«, die sich auf die Idee der »Proportion« gründete,25 bestimmte auch Platons Auffassung von Politik. Sie sorgte dafür, dass »die Welt als ein Ganzes und Geordnetes, nicht als Verwirrung und Zügellosigkeit« erschien. Nur, wer »die Meßkunst« vernachlässigte (und arithmetische Kriterien anlegte), konnte auf den Gedanken kommen, dass es »auf das Mehrhaben« ankomme.26 Das ›mathematische‹ 20  Ross, Swift and Defoe, S. 34. 21  »The Apparent Difference between a Well Born and a Well Bred Gentleman« (S. 1), sowie

die Möglichkeit der Überwindung dieses Unterschieds sind Thema in: Daniel Defoe, The Compleat English Gentleman. Edited for the First Time from the Author’s Autograph MS . in the British Museum, hg. v. Karl D. Bülbring, London, 1890. 22  Clark, Daniel Defoe, S. 180. 23  Ebd. 24  Vernant, Die Entstehung des griechischen Denkens, S. 92. 25  Vgl. ebd. 26  Platon, »Gorgias«, in: ders., Apologie, Kriton, Protagoras, Hippias II , Charmides, Laches, Ion, Euthyphron, Gorgias, Briefe. In der Übersetzung von Friedrich Schleiermacher, hg. v. Walter F. Otto, Ernesto Grassi u. Gert Plamböck, Reinbek bei Hamburg, 1991, 197 – 283, 264 (507 e–508 a).

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Argument hinter diesem Einsatz für eine »proportionale« Machtverteilung hat Michael Mann knapp zusammengefasst: Antidemokraten haben die Auffassung vertreten, daß die Arithmetik niedereren Ranges sei, weil in ihr alle Zahlen gleich zählten. Die geometrische Proportion dagegen sehe und erkenne qualitative Differenzen zwischen den Zahlen. Da das Verhältnis zwischen Zahlen in einer geometrischen Reihe (zum Beispiel 2, 4, 8, 16) dasselbe bleibe, werde Qualität gerecht belohnt.27

Die Landbesitzer des 17. Jahrhunderts haben sich diese Ideologie der geometrischen Proportion ganz selbstverständlich zu eigen gemacht. Als Henry Parker 1642 für die Erweiterung der Rolle des Parlaments eintrat, betonte er, dass dessen Zusammensetzung »geometrically proportionable« sein müsse und dass die »multitude« darin »onely a representative influence« haben dürfe.28 Aus der herrschaftssichernden Funktion der ›geometrischen‹ Auffassung ergab sich auch der geradezu instinktive Widerstand der landed gentry gegen die neu aufkommende Politische Arithmetik, die schon im Namen die Drohung einer Aufteilung nach quantitativen, rechnerischen Kriterien enthielt. Verächtlich wandten sich die Landbesitzer gegen die Idee der Volkszählung oder gegen die Zumutung, ihren Besitz in Geldwert auszudrücken – Vorhaben, hinter denen man grundsätzlich ein ›court-project‹, d. h. einen weiteren Besteuerungsversuch, witterte.29 Der Unterschied zwischen einer »progressiven« (whiggistischen, handelsorientierten) und einer »konservativen« (toryistischen, territorialistischen) Ideologie 30 artikulierte sich auf diese Weise auch als Unterschied zwischen zwei Formen der politischen Mathematik: Einer geometrischen Auffassung der Macht, die von der eher ungenauen Idee der Angemessenheit oder der richtigen Proportion beherrscht war, stand eine arithmetische Auffassung entgegen, für die »derjenige, der das meiste Geld hatte, der beste Mann« war.31 Die heraufziehende Ordnung der Berechnung und der Herrschaft des Geldes wurde von zahlreichen Konservativen wortreich beklagt. Wie Bolingbroke erklärte, hätten die Untertanen unter der Herrschaft von »powerful landlords« 27  Mann, Geschichte der Macht. Bd. 1, S. 358. 28  Henry Parker, Observations upon some of His Majesties late answers and expresses, [Lon-

don], 1642, S. 23. In Bezug auf Parker lässt sich von einem »essentially aristocratic program« sprechen; »obwohl er die Macht aufs Volk zurückführte, stand Demokratie nicht auf seiner Agenda«. Michael Mendle, Henry Parker and the English Civil War. The Political Thought of the Public’s Privado, Cambridge, 1995, S. 102. 29  Vgl. Slack, »Government and information in seventeenth-century England«, S. 50. 30  Die Begriffe »progressiv« und »konservativ« sind natürlich anachronistisch (ebenso wie der der »Ideologie«); sie eignen sich aber, wie McKeon gezeigt hat, sehr gut dazu, die »destabilization of social categories« im frühen 18. Jahrhundert zu verstehen. Vgl. McKeon, The origins of the English novel, 1600 – 1740, S. 131 – 175. 31  Ebd., S. 207.

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häufig gelitten, sie hätten aber auch »considerable advantages« davon gehabt. Der Zustand der feudalen »subjection« sei jedenfalls um einiges erträglicher gewesen als das neue Regime der Geldleute: […] how preferable, indeed, will this subjection appear to them, when they shall see the whole nation oppressed by a few upstarts in power; often by the meanest, always by the worst of their fellow-subjects; by men, who owe their elevation and riches neither to merit nor birth, but to the favour of weak princes, and to the spoils of their country, beggared by their rapine.32

Als wütender Kämpfer gegen die neureichen »upstarts in power« trat seit den 1710er Jahren vor allem Jonathan Swift in Erscheinung. Swift, der als Mann der High Church gleichermaßen gegen ›jacobites‹ (Anhänger des abgedankten Katholiken James  II .) wie ›enthusiasts‹ (protestantische Sektierer) eingestellt war, hatte sich in politischer Hinsicht bis Anfang 1709 als »moderate Whig« bezeichnet,33 wechselte aber im Laufe des Jahres auf die Gegenseite und gab ab 1710 im Auftrag von Robert Harley für die nun regierenden Tories die Zeitschrift The Examiner heraus. Obwohl er selbst »vielleicht in technischer Hinsicht kein Aristokrat war«, fühlte er sich ganz der »älteren Welt der aristokratischen landed gentry« zugehörig;34 die ›moderne Welt‹ lehnte er, wie schon seine Parteinahme im Quarrel of the Ancients and the Moderns zeigt, vehement ab.35 In der ideologischen Auseinandersetzung der Zeit stand Swift ganz auf der Seite der alten, territorial begründeten Ordnung; den Aufstieg der kommerziellen Gesellschaft und die undurchsichtigen Mechanismen der Finanzspekulation betrachtete er mit äußerstem Widerwillen. Im Examiner beklagte er 1710, dass »the wealth of a nation, that used to be reckoned by the value of land, is now computed by the rise and fall of stocks«.36 Entsprechend hätten sich auch die Machtverhältnisse verschoben: Let any one observe the equipages in this town, he shall find the greater number of those who make a figure, to be a species of men quite different from any that were ever known before the Revolution; consisting either of generals and colonels,

32  Henry St. John, 1st Viscount Bolingbroke, »A Dissertation Upon Parties«, in: ders., Political writings, hg. v. David Armitage, Cambridge, New York, 1997, 1 – 191, S. 167. 33  Vgl. Leo Damrosch, Jonathan Swift. His life and his world, New Haven, 2013, S. 191. 34  Ross, Swift and Defoe, S. 10. 35  Zur englischen Variante der Querelle des Anciens et des Modernes, und zu Swifts Einsatz darin, vgl. Joseph M. Levine, The battle of the books. History and literature in the Augustan age, Ithaca, N. Y., 1991. 36  »The Examiner, Number XIII . Thursday, November 2, 1710«, in: Jonathan Swift, The Works of the Rev. Jonathan Swift, hg. v. Thomas Sheridan u. John Nichols, Bd. 3, London, 1801, 3 – 10, S. 8.

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or of those, whose whole fortunes lie in funds and stocks; so that power, which according to the old maxim was used to follow land, is now gone over to money […].37

In dem 1711 verfassten Pamphlet The Conduct of the Allies attackierte Swift die Vertreter des moneyed interest, die von dem Whig-System der Kriegsfinanzierung profitierten und deshalb kein Interesse an einem Friedensschluss hätten: With these Measures fell in all that Sett of People, who are called the Monied Men; such as had raised vast Sums by Trading with Stocks and Funds, and Lending upon great Interest and Præmiums; whose perpetual Harvest is War, and whose beneficial way of Traffick must very much decline by a Peace.38

Gegen die drohende Vorherrschaft der Geldleute versuchte Swift die politische Position des landed interest zu stärken. Wie er 1721 in einem Brief an Pope schreibt, habe er als politischer Autor immer zu zeigen versucht, »that the possessors of the soil are the best judges of what is for the advantage of the kingdom. If others had thought the same way, funds of credit and South sea projects would neither have been felt nor heard of.« 39 In seinen Drapier’s Letters (1724 – 25) fasst Swift sogar eine Rückkehr zum einfachen Warentausch ins Auge, um das von der korrupten Walpole-Regierung in Auftrag gegebene neue Kupfergeld zu boykottieren: »[…] instead of taking Mr. Wood’s bad copper, I intend to truck with my neighbours the butchers and bakers and brewers, and the rest, goods for goods«.40 Swift sah sich offenbar in einer Fundamentalopposition gegen die moderne, kommerzielle Gesellschaft. In einem Brief an Pope schreibt er 1725, dass er sich nicht mit einer Haltung der Weltverachtung (»de contemptu mundi«) begnügen wolle, er wolle vielmehr den Betrieb der auf Geld und Gewinn ausgelegten Ordnung aktiv stören – zumindest, wenn das gefahrlos ginge: »Drown the world! I am not content with despising it, but I would anger it, if I could with safety.« 41 Die Welt zu ärgern: Entsprechende Störmanöver hat Swift mit allen literarischen Mitteln betrieben. Dabei lassen sich zwei verschiedene Strategien unterscheiden. Die eine besteht in der massiven Beschimpfung des politischen Gegners. Wie 37  Ebd., S. 6. 38  Jonathan Swift, »The Conduct of the Allies«, in: Jonathan Swift, English political writings

1711 – 1714. The conduct of the allies and other works, hg. v. Bertrand A. Goldgar u. Claude Rawson, Cambridge, 2008, 45 – 106, S. 83. 39  Jonathan Swift, »Dr. Swift to Mr. Pope. Dublin, Jan. 10, 1721«, in: Jonathan Swift, The Works of the Rev. Jonathan Swift, hg. v. Thomas Sheridan u. John Nichols, London, 1801, 13 – 24, S. 22. 40  Jonathan Swift, pseud: »M. B. Drapier«, »A letter to the shop-keepers, tradesmen, farmers, and common-people of Ireland. Concerning the brass half-pence coined by Mr. Woods […] By M. B. Drapier« (1724), in: Jonathan Swift, The Works of the Rev. Jonathan Swift, hg. v. Thomas Sheridan u. John Nichols, London, 1801, 13 – 28, S. 21. 41  Jonathan Swift, »Dr. Swift to Mr. Pope. Nov. 26, 1725«, in: Jonathan Swift, The Works of the Rev. Jonathan Swift, hg. v. Thomas Sheridan u. John Nichols, Bd. 14, London, 1801, 44 – 47, S. 45.

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Terry Eagleton bemerkt hat, sticht die literarische Polemik von Swift und Pope durch eine »›extremist‹ violence« hervor; sie schien aus der Sicht späterer Kritiker geradezu von einem »pathological spleen« besessen zu sein.42 Daniel Defoe, der für Swift natürlich das schlimmste Beispiel eines ökonomischen und literarischen ›upstarts‹ bot, wird von ihm nicht nur als »insipid« und als »stupid, illiterate scribbler« geschmäht, sondern auch als »dogmatical rogue«, als »fanatic«, und als »the fellow that was pilloried I have forgot his name«.43 Eine zweite Strategie der konservativen Kulturkritik ist die verfremdende und überzeichnende Darstellung der modernen Wirklichkeit. An die Stelle der unmöglich gewordenen allegorischen Darstellung (die eine Welt voraussetzte, in der alles an seinem Platz war), trat die Parodie, die die Welt in ihrer Verkehrung darstellte – ein Weg, der so oft eingeschlagen wurde, dass die Satire als »das große Tory-Genre des 18. Jahrhunderts« bezeichnet werden kann.44 Dass Swift »die ironische Verkörperung der Rede in propria persona vorzog«,45 hing zweifellos mit den Gefahren zusammen, denen die direkte, unverstellte Äußerung ausgesetzt war; es hatte aber wohl auch damit zu tun, dass die Satire, als eine lose und chamäleonartige Form der Rede, dem beschriebenen Gegenstand entgegenkam: Die Welt, die Swift schilderte, war selbst ›ironisch‹, sie stimmte nicht mit sich selbst überein, sie veränderte in jedem Moment ihr Aussehen und konnte daher auch nicht in aufrichtiger Weise beschrieben werden. Ein bevorzugtes Ziel von Swifts satirischen Attacken war die Logik der Berechnung, die dem Denken der Kaufleute, der Projektemacher und der Politischen Arithmetiker zugrunde lag. Gulliver’s Travels (1726), die als eine »reverse anthropology« des Walpole-England gelesen werden können,46 demonstrieren sehr deutlich Swifts Abneigung gegen die Mathematik und die empirischen Wissenschaften. Die Bewohner von Laputa werden als ein Volk von weltentrückten Mathematikern geschildert: Sie sind zwar »dexterous enough upon a Piece of Paper in the Management of the Rule, the Pencil, and the Divider«. »Imagination, Fancy, and Invention« sind ihnen jedoch vollkommen fremd, und im gewöhnlichen Umgang erweisen sie sich als »clumsy, awkward, and unhandy People«.47 In der offensichtlich der Royal Society nachempfundenen »Grand Academy of Lagado« werden »innumerable […] happy Proposals« zur Verbesserung des menschlichen Lebens ausgeheckt, doch: »The only Inconvenience is, that none Vgl. Eagleton, The function of criticism, S. 25. Vgl. Ross, Swift and Defoe, S. 29. Rosen u. Santesso, The watchman in pieces, S. 48. Warren Montag, The unthinkable Swift. The spontaneous philosophy of a Church of England man, London u. a., 1994, S. 3. 46  Vgl. Renee Prendergast, »The political economy of Swift’s satires and other prose works«, Œconomia. History, Methodology, Philosophy (Online), N° 4 – 4, 2014, Absatz 21. Zuletzt geprüft am 29. März 2018. 47  Jonathan Swift, Gulliver’s Travels (1726), Oxford, 2005, S. 150. 42  43  44  45 

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of these Projects are yet brought to Perfection; and in the mean time, the whole Country lies miserably waste, the Houses in Ruins, and the People without Food or Cloaths.« 48 In mehreren Schriften hat Swift die ›Modest Proposals‹ der Projektemacher parodiert.49 1720, im Jahr der South Sea-Krise, macht er den Vorschlag für eine »Swearer’s Bank«, deren Kapital darauf beruhen sollte, dass jeder irische Gentleman, der sich eines Fluchs oder eines Schwurs schuldig macht, einen Schilling einzahlen muss: It is computed by geographers, that there are two millions in this kingdom (of Ireland) of which number there may be said to be a million of swearing souls. It is thought there may be five thousand gentlemen; every gentleman, taking one with another, may afford to swear an oath every day, which will yearly produce one million eight hundred twenty-five thousand oaths; which number of shillings makes the yearly sum of ninety-one thousand two hundred and fifty pounds.50

Das 1733 von »A Celebrated author in Irland« vorgelegte »Serious and Useful Scheme, to Make an Hospital for Incurables« zeigt mit seinen Tabellen, geschweiften Klammern und detaillierten Kostenberechnungen wohl die perfekteste Mimikry an die Antragsprosa der Projektemacher; hier wird zugleich der Klassifizierungsjargon der Politischen Arithmetik imitiert: The incurable Scriblers, are undoubtedly a very considerable Society, and of that Denomination, I would admit at least 40 thousand; because it is to be supposed, that such Incurables will be found in greatest Distress for a daily Maintenance. And, if we had not great Encouragement to hope, that many of that Class would properly be admitted among the Incurable Fools, I should strenuously intercede to 10 or 20 thousand more added.51

Die radikalste dieser klassifikationskritischen Satiren ist zweifellos das 1729 veröffentlichte Pamphlet »A Modest Proposal«, in dem sarkastisch empfohlen wird, 48  Ebd., S. 165. 49  »Modest Proposal« ist eine geläufige Wendung in der Antragsrhetorik der Projekte-

macher, z. B. in Anon., An Essay or Modest Proposal of a Way to Increase the Number of People and Consequently the Strength of this Kingdom, s. l., 1693; Anon., A Modest Proposal for the More Certain and Yet More Easie Provision For the Poor. And Likewise for the Better Suppression of Thieves, London, 1695. 50  Jonathan Swift, »The Swearer’s Bank. Or Parliamentary Security for Establishing a New Bank in Ireland«, in: Jonathan Swift, The Works of the Rev. Jonathan Swift, hg. v. Thomas Sheridan u. John Nichols, Bd. 9, London, 1801, 383 – 389, S. 385 – 386. 51  Jonathan Swift, anon., A Serious and Useful Scheme, to Make an Hospital for Incurables, of Universal Benefit to all His Majesty’s Subjects, London, 1733, S. 17 – 18.

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die zahlreichen Kinder der irischen Armen, die sonst nur ihren Eltern und dem Staat zur Last fallen würden, als Delikatesse zu verkaufen und auf diese Weise die einheimische Wirtschaft zu fördern: Thirdly, Whereas the Maintenance of an hundred thousand Children, from two Years old, and upwards, cannot be computed at less than Ten Shillings a piece per Annum, the Nation’s Stock will be thereby increased fifty thousand Pounds per Annum, besides the Profit of a new Dish, introduced to the Tables of all Gentlemen of Fortune in the Kingdom, who have any Refinement in Taste, and the Money will circulate among our Selves, the Goods being entirely of our own Growth and Manufacture.52

Swift ging es hier offenkundig nicht nur um die Quantifizierungsleidenschaft der Politischen Arithmetik, ihre Beschränkung auf »Terms of Number, Weight, or Measure«.53 Sein Angriff zielte im Besonderen auch auf die Arroganz, mit der Petty gerade Irland zum Versuchstier (»cheap and common Anima[l]« 54) seiner ökonomischen und bevölkerungspolitischen Projekte erklärt hatte.55 Eine weitere, für die Zeitgenossen wahrscheinlich noch näherliegende, Referenz war das 1724 anonym veröffentlichte Pamphlet A Modest Defence of Public Stews.56 Nach dem Kalkül des Autors, Bernard Mandeville, sollte der zunächst unmoralisch wirkende Vorschlag zur Errichtung staatlich geführter Bordelle sich in anderer Hinsicht, unter dem Blickwinkel einer nüchternen, konsequentialistischen Ethik, als einzig vernünftige Form des Umgangs mit dem Problem der Prostitution erweisen. Swifts Modest Proposal kann als radikale Ausreizung dieser konsequentialistischen Argumentation verstanden werden.57 Denkt man den Gedanken der ökonomischen Nützlichkeit zu Ende, so stellt es geradezu ein Gebot der Vernunft dar, die Kinder zu verspeisen, anstatt sie auf Staatskosten am Leben zu erhalten.

Probleme des romantischen Antikapitalismus Swift lässt sich einer lebhaften Strömung der konservativen Kulturkritik zurechnen, die der »heraufkommenden Marktgesellschaft und den ihr zugrundeliegenden sozialen Beziehungen« mit unverhohlener Feindseligkeit gegenüberstand.58 52  Jonathan Swift, A Modest Proposal for Preventing the Children of Poor People from Being a Burden to Their Parents Or the Country, and for Making Them Beneficial to the Country, Dublin, 1729, S. 14. 53  Petty, »Political Arithmetick«, S. 244. 54  Petty, »The political anatomy of Ireland«, S. 129. 55  Vgl. Kap. 12, Abschnitt »Zählen und Zerlegen«. 56  Zu Mandevilles Modest Defence, s. o., Kap. 17, Abschnitt »Liberalismus und Regulation«. 57  Vgl. Prendergast, »Jonathan Swift’s critique of consequentialism?«, S. 283. 58  Prendergast, »The political economy of Swift’s satires and other prose works«, Absatz 5.

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Die Ausweitung von ›commerce‹ und ›industry‹, die Defoe als Fortschritt feierte, musste Swift als »monströs« erscheinen, »als Abweichung von einer natürlichen Ordnung, von der seine Theologie ihm sagte, dass sie immerwährend und unveränderlich sei«.59 Wenn Mandeville in seinem Grumbling Hive die neue Gesellschaft als einen Zusammenhang beschrieb, in dem »die Menschen zur Erfüllung ihrer Grundbedürfnisse auf andere angewiesen waren, und in der diese Abhängigkeit durch den Verkauf und Kauf von Waren vermittelt wurde«,60 so sahen die Konservativen, die am Ideal einer autarken, aristokratischen Landherrschaft festhielten, in der zunehmenden Marktvermittlung aller Beziehungen eine unerträgliche Einschränkung ihrer Autonomie. Der bürgerliche Geschäftssinn, auf den Defoe so viel hielt, dass er den Kaufmann als »the most Intelligent Man in the World« bezeichnete,61 stellte für Traditionalisten wie Bolingbroke keine Verbesserung, sondern einen Verfall des menschlichen Geistes dar: But to let Affluence or Greatness swim upon the Top of our Concerns; to make the Methods of Rising, the Revenues of Places, and the Valuation of Livings, too much the Subject of Thought and Discourse; to be Craving after Increase, and always Trailing the Game, argues Littleness of Mind, and Want of Religion, and frequently betrays a Man into base and sinful Compliances.62

Es lässt sich also hier, zu Beginn des 18. Jahrhunderts, eine verbreitete Haltung des Widerstands gegen die Herrschaft des trade und der moneyed men konstatieren, die dezidiert anti-modern und ›reaktionär‹ auftrat. Der kapitalistischen Tendenz zur Verflüssigung und Auflösung der alten Herrschaftsstrukturen begegnete sie mit einem trotzigen Beharren auf den überkommenen Statusprinzipien und Privilegien, auf der territorialen Grundlage der Herrschaft und auf dem »›realen‹ oder ›intrinsischen‹ Wert des Landes«.63 Wehmütig erinnerte sich die Gentry an das alte System der Standeshierarchie, in dem »ORDER « noch als »Heaven’s first law« galt.64 In dieser besseren Vergangenheit war allgemein akzeptiert, dass »Some are, and must be, greater than the rest«;65 die »Distinction of Rank« wurde noch ganz selbstverständlich befolgt;66 und klare Regeln sorgten dafür, »to confine every Man to his Center, and circumscribe him within his own Limits«.67 Die Montag, The unthinkable Swift, S. 2 – 3. Prendergast, »The political economy of Swift’s satires and other prose works«, Absatz 27. Defoe, An Essay Upon Projects, S. 8. St. John, 1st Viscount Bolingbroke, anon., The Way to Bring the World to Rights: Or, Honesty the Best Policy at All Times, and in All Places, S. 19. 63  Julian Hoppit, A land of liberty? England 1689 – 1727 (2000), Oxford, New York, 2004, S. 337. 64  Alexander Pope, »An Essay on Man«, in: ders., The major works, hg. v. Pat Rogers, Oxford, New York, 2006, 270 – 308, S. 300. 65  Ebd. 66  Shelton, anon., An Historical and Critical Essay on the True Rise of Nobility, S. v. 67  Ebd., S. iv. 59  60  61  62 

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Landedelleute waren noch unter ihresgleichen, mussten nicht die Gesellschaft reicher Emporkömmlinge ertragen und konnten sich den Vergnügungen der Jagd und des Spiels hingeben. Maßgebliches Leitbild eines Großteils der konservativen Opposition war auf diese Weise der unverwüstliche Mythos des »merry old England« mit seiner Vorstellung von »einem ländlichen Leben, in dem Pfarrreligion, der Kreislauf der Natur, soziale Hierarchie, übliche Moral, gemeinschaftliche Phantasie und redliches Vergnügen« von der »Einfachheit und Dauerhaftigkeit des menschlichen Glücks« kündeten.68 Insofern die melancholische Kritik der Herrschaft des trade mit einer nostalgischen, sentimentalen Verklärung der früheren, verflossenen Standesherrschaft einherging, lässt sich hier durchaus von ›romantischem Antikapitalismus‹ sprechen. Die Bezeichnung ist nicht so anachronistisch, wie sie klingt. Das Wort ›romantick‹ wird zu Beginn des 18. Jahrhunderts schon in genau dem Sinn verwendet, um den es hier geht, nämlich dem einer Rückkehr zu alten, ›romanhaften‹ Zeiten – ein Unternehmen, das allgemein mit der lächerlichen und zugleich liebenswerten Weltfremdheit des Don Quichotte verbunden wird.69 Zudem gibt es eine Ähnlichkeit der Konstellationen; die nostalgische Kritik der Geldherrschaft um 1700 weist ähnlich ambivalente Züge auf wie die spätere, von Georg Lukács beschriebene Kapitalismuskritik der Romantiker des 19. Jahrhunderts.70 Bolingbroke, der Anführer der ›Country‹-Partei, war sich des romantischen und nostalgischen Charakters seiner Politik sehr wohl bewusst.71 Die Walpole-Ära war, wie er deutlich sah, »managed by the Force of Money«;72 dennoch wollte er 68  Reid Barbour, John Selden. Measures of the Holy Commonwealth in seventeenth-century England, Toronto, 2003, S. 114. 69  In der Publizistik um 1700 steht das Wort »romantick« für ein vergangenheitsorientiertes Festhalten an Idealen ritterlicher Tugend, das stets mit dem »interest«, mit der Verfolgung des eigenen Vorteils, in Konflikt steht. Der Unterschied zwischen modernistischen und konservativen Positionen kann darin gesehen werden, welcher Seite der Vorzug gegeben wird. So sympathisiert die Tory-Autorin Delarivier Manley in ihrem Roman Rivella mit der »Romantick Bravery of Mind« der Heldin, obwohl diese »Rivella’s Interest« zuwiderläuft. Mary Delarivier Manley, The adventures of Rivella. Or, the History Of the Author of the Atalantis, London, 1714, S. 46. Bei Mandeville steht das Wort »romantick« dagegen für eine unvernünftige, zu vermeidende Selbsttäuschung: So spricht er beispielsweise in seinem Traktat über die hypochondrischen Leidenschaften abträglich von der »Romantick pretence, that neglecting their Private Interest, Men ought only to labour for the Good of Others«. Mandeville, A Treatise of Hypochondriack and Hysterick Passions, Vulgarly called Hypo in Men, and Vapours in Women, S. xii. 70  Zu Lukacs’ Begriffsprägung und zur Möglichkeit einer Rehabilitation des »Romantischen Antikapitalismus« vgl. Patrick Eiden-Offe, Die Poesie der Klasse. Romantischer Antikapitalismus und die Erfindung des Proletariats, Berlin, 2017, S. 27 – 31. 71  Zu Bolingbrokes »romantic politics« vgl. Isaac Kramnick, Bolingbroke and his circle. The politics of nostalgia in the age of Walpole (1968), Ithaca, 1992. 72  Henry St. John, 1st Viscount Bolingbroke, pseud.: »Caleb d’Anvers«, »The Craftsman, N° 9. Monday, January 2 [1727]«, in: The Craftsman. By Caleb D’Anvers, of Gray’s-Inn, Esq., London, 1731, 48 – 55, S. 49.

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nicht aufhören, die Ideale zu beschwören, wie sie »in the good old days of Queen Elizabeth« geherrscht hätten – »as romantick as they may seem«.73 In einem Brief an Swift erklärt er, dass er den Vorwurf des Romantischen sehr gern auf sich nehme; es zeuge von der Verkommenheit des gegenwärtigen Zeitalters, »that to think as you think, will make a man pass for romantick«.74 In Zeiten der Krise konnte die romantische Opposition gegen die neue, merkantile Gesellschaft durchaus politische Kraft gewinnen. In ihrem Kampf gegen die Herrschaft des moneyed interest setzte die Tory-Ideologie auf eine »›natürliche‹ oder wenigstens taktische Allianz zwischen den aristokratischen und den populären Interessen«.75 Besser als die Whigs, die mit einem engstirnigen Profitinteresse identifiziert wurden, konnten die Tories von sich glauben machen, »die Interessen von ›all the people‹« zu vertreten.76 Wie wirksam der »popular Toryism« 77 (ein Phänomen, das man heute als Rechtspopulismus bezeichnen würde) an die »reaktionären und xenophoben Stimmungen des Londoner Mobs« appellierte,78 zeigten die Sacheverell Riots von 1710, als im ganzen Land Dissenters und Presbyterianer, Hugenotten, Juden und Holländer angegriffen wurden, und auch die Bank of England, als hervorstechendes Symbol des moneyed interest, ins Visier geriet.79 Bolingbroke und seine Tories konnten sich im Zuge dieser Auseinandersetzungen »als Verteidiger des Volkes gegen die Unterdrückung durch die korrupte Whig-Regierung« inszenieren,80 was wesentlich dazu beitrug, dass im August 1710 fast alle Whig-Minister durch Tories ersetzt wurden und die Tories in den General Elections vom Oktober 1710 einen Erdrutschsieg erzielen konnten. Berücksichtigt man diese politische Dynamik, dann besteht das Problem des romantischen Antikapitalismus dieser Zeit nicht einfach darin, dass er eine »schwärmerische Opposition« gegen den Kapitalismus oder eine »unkritische Verherrlichung« früherer »Gesellschaftszustände« betrieb,81 was ja noch eine relativ harmlose Sache wäre. Was ihn, aus damaliger wie aus heutiger Sicht, als gefährlich erscheinen lässt, ist vielmehr das fahrlässige Spiel mit den populären Ressentiments. Der hier geübte Antikapitalismus ist offenbar von Anfang an ein 73  Ebd., S. 51 – 52. 74  Henry St. John, 1st Viscount Bolingbroke, »Letter from Bolingbroke. March 17, 1719«, in:

Jonathan Swift, The Works of the Rev. Jonathan Swift, hg. v. Thomas Sheridan u. John Nichols, London, 1801, 12 – 17, S. 12. 75  Lee Horsley, »›Vox populi‹ in the political literature of 1710«, Huntington Library Quarterly, Jg. 38, N° 4, 1975, 335 – 353, S. 336. 76  Ebd., S. 353. 77  Ebd., S. 335. 78  Ebd., S. 336. 79  Vgl. Geoffrey Holmes, »The Sacheverell Riots. The crowd and the church in early eighteenth-century London«, Past & Present, N° 72, 1976, 55 – 85, S. 61. 80  Horsley, »›Vox populi‹ in the political literature of 1710«, S. 339. 81  Georg Lukács: »Eichendorff« [1940], zit. nach Peter Bürger, Vermittlung, Rezeption, Funktion. Ästhetische Theorie und Methodologie der Literaturwissenschaft, Frankfurt a. M., 1979, S. 153.

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Antikapitalismus ›des dummen Kerls‹,82 einer, der sich nicht gegen das Kapitalverhältnis richtet, sondern gegen die sichtbarsten Exponenten einer bestimmten Kapitalfraktion, des Handels- und Finanzkapitals. Zudem hatte der »Tory Radicalism«,83 der in einer temporären Allianz die Modernisierungsverlierer der Epoche, die landed gentry und die urban poor, zusammenführte, schon zu seiner Zeit ein Glaubwürdigkeitsproblem. Die Verteidigung »des Volkes« war »weitgehend taktischer Art«,84 und die Tories fanden schnell wieder zur Verachtung des ›Mobs‹ zurück. Noch entscheidender ist, dass sich in England immer weniger Vertreter der Gentry als reine Vertreter eines landed interest ausgeben konnten. Die Grenzen zwischen der Ökonomie der Landbesitzer und der Ökonomie der Handels- und Finanzleute waren um 1700 längst verwischt; der Versuch, »eine unberührte Enklave nichtkapitalistischer Nutzung des Bodens – das landed interest – von der alles verschlingenden Marktökonomie zu unterscheiden«, war daher vergeblich.85 Grundbesitz und Finanzierungsgeschäfte schlossen sich nicht aus. Landbesitzer zeigten zwar eine gewisse Scheu, in riskante Unternehmungen zu investieren, aber sie hatten keine Bedenken, »ihr Geld in so etwas Substantielles wie die East India Company zu stecken«. 86 Während sie es unfein fanden, sich im »gewöhnlichen städtischen Handel zu engagieren, waren sie aktive und erfinderische Teilnehmer an internationalen Unternehmungen, insbesondere in der kolonialen Erkundung, im Sklavenhandel und in der Schifffahrt«.87 Defoe bemerkte 1724 mit Genugtuung, dass viele Familien der Gentry sich auf kaufmännische Investitionen verlegt und »City Fortunes« aufgebaut hätten.88 Zunehmend gab es auch eine personelle Vermischung zwischen Adel und Finanzaristokratie, so dass landed und moneyed men in der Praxis nicht immer zu unterscheiden waren. Die Versöhnung der Kapitalsorten war offensichtlich, sobald »landed and monied families« durch Heirat miteinander verschmolzen.89 In realpolitischen Debatten der Zeit gab es entsprechend auch keine Entgegensetzung von »agrarischen und unternehme-

82  Die häufig August Bebel zugeschrieben Formulierung vom Antisemitismus als dem »Sozialismus des dummen Kerls« stammt offenbar von dem österreichischen Sozialdemokraten Ferdinand Kronawetter, der 1889 in der Generalversammlung des Margaretner Wählervereins sagte: »Der Antisemitismus ist nichts als der Socialismus des dummen Kerls von Wien.« Anon., »[Margarethener Wählerverein]«, Neue Freie Presse, Abendblatt, N° 8859, 24. April 1889, online verfügbar unter: http://anno.onb.ac.at/cgi-content/anno?aid=nfp&datum=18890424​ &seite=18. 83  Kramnick, Bolingbroke and his circle, S. 171. 84  Horsley, »›Vox populi‹ in the political literature of 1710«, S. 353. 85  McKeon, The origins of the English novel, 1600 – 1740, S. 209. 86  Bucholz u. Ward, London, S. 85. 87  Zukin, »Mimesis in the origins of bourgeois culture«, S. 344. 88  Defoe, A Plan of the English Commerce, S. 13. 89  Bucholz u. Ward, London, S. 98.

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rischen Interessen, von Herrenhaus [»manor«] und Markt«.90 Anders als es die ideologischen Gefechte vermuten lassen, fanden Geldkapital und Landbesitz in England schon früh zusammen; die Interessen von Landeigentümern und Geldleuten waren eng verknüpft. Der italienische Soziologe und Theoretiker der politischen Ökonomie Giovanni Arrighi hat eine Formel gefunden, an der sich diese Verschränkung von Land und Geld gut demonstrieren lässt. Arrighi unterscheidet zwei »Logiken der Macht«, eine, die er als Kapitalismus bezeichnet, und eine andere, der er den Namen »Territorialismus« gibt: Territorialistische Herrscher identifizieren Macht mit dem Ausmaß und der Bevölkerungsdichte ihrer Gebiete und verstehen Reichtum/Kapital als Mittel oder Nebenprodukt des Strebens nach territorialer Expansion. Im Gegensatz dazu identifizieren die kapitalistischen Machthaber die Macht mit dem Umfang ihrer Verfügung über knappe Ressourcen und betrachten territoriale Erwerbungen als Mittel und Nebenprodukt der Kapitalakkumulation.91

In Abwandlung der Marx’schen Formel der Kapitalakkumulation (»G – W – G’« 92), notiert Arrighi den Unterschied zwischen den beiden Logiken mithilfe der Formeln »G – T – G’« und »T – G – T’«. Im einen Fall ist das Territorium (»T«) ein Mittel, um aus Geld (»G«) noch mehr Geld (»G’«) zu machen; im anderen Fall dient das Geld (»G«) dazu, um von einem bestehenden Territorium (»T«) zu mehr Territorium (»T’«) zu gelangen. Wie Arrighi betont, handelt es sich um zwei grundsätzlich verschiedene »Strategien der Staatsbildung«: In der territorialistischen Strategie ist die Kontrolle über Territorium und Bevölkerung das Ziel, und die Kontrolle über das bewegliche Kapital ist das Mittel zur Staats- und Kriegsführung. In der kapitalistischen Strategie wird die Beziehung zwischen Zweck und Mittel auf den Kopf gestellt: Die Kontrolle über das bewegliche Kapital ist das Ziel, und die Kontrolle des Territoriums und der Bevölkerung ist das Mittel.93

Dass die beiden Strategien sich nicht ausschließen müssen, zeigt das englische Beispiel: Die Tory-Politik kann mit der territorialistischen, die Whig-Politik mit der kapitalistischen Strategie identifiziert werden; sie stehen aber nicht in Gegensatz zueinander, sondern durchdringen und ergänzen sich. 90  Pocock, The Machiavellian moment, S. 448. 91  Giovanni Arrighi, The long Twentieth Century. Money, power and the origins of our times,

London, 2010, S. 34. 92  Marx, »Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band«, S. 165. 93  Arrighi, The long Twentieth Century, S. 35.

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Unter diesen Umständen stellt es ein durchsichtiges Profilierungsmanöver dar, wenn die radikalen Tories sich als unversöhnliche Feinde der merkantilen Ordnung präsentierten: »Auch wenn sie auf das neue England schimpften, waren die meisten Tories doch mit ihm verbunden«.94 Swifts oder Bolingbrokes ›romantische‹ Wendung gegen die profane Ökonomie des Markts und der Quantifizierung war kaum ›antikapitalistisch‹ zu nennen; sie entsprach eher dem Versuch, einen Kapitalismus ohne Deterritorialisierung festzuhalten. Grundsätzlich, so McKeon, trat die »konservative Ideologie des frühen 18. Jahrhunderts nicht als Negation der kapitalistischen Ideologie auf, sondern als Ausdruck des Wunsches, den unerbittlichen Moloch der kapitalistischen Reform in einem Stadium zu stoppen, das […] das Beste aus beiden Welten behielt.« 95 Entsprechend kann auch Swift nicht als ein Antikapitalist bezeichnet werden, »selbst wenn er gewisse Auswirkungen des Kapitalismus ablehnte«.96 Den entscheidenden Sündenfall, durch den die Tories den Ruf der Unschuld vom Lande verloren, bildete das 1711 begonnene South Sea-Projekt. Es stellte den Versuch der 1710 an die Macht gelangten Tories dar, sich durch eine großangelegte Umschuldungsaktion der von den Whigs aufgehäuften Staatsschulden zu entledigen: Durch Beschluss des Parlaments wurden die nationalen Schulden in Höhe von 31 Mio. Pfund effektiv ›privatisiert‹. Der Staat musste weiterhin Zinsen für diese Schulden zahlen, aber da dies zu niedrigeren Zinssätzen erfolgte, war der Deal sehr sinnvoll. Die Gesellschaft konnte ihren Verpflichtungen jedoch nur durch die Beschaffung von weiterem Grundkapital nachkommen, was bei einem steigenden Aktienkurs sehr viel einfacher war. Da die zugrunde liegende Profitabilität des Geschäfts des Unternehmens prekär war, konnte dies nur durch Bluff, Übertreibung, Lügen und Bestechungsgelder erreicht werden.97

Die South Sea Company lockte mit enormen Renditeversprechungen, Gewinnen, die sich insbesondere aus dem von der Regierung gewährten Monopol des Sklavenhandels zwischen Afrika und Spanisch-Amerika ergeben sollten.98 Schatzkanzler Harley, der das Projekt maßgeblich vorantrieb, hoffte offenbar, »dass die Sicherheit der jährlichen staatlichen Zahlung in Verbindung mit der Aussicht auf unerschöpfliche Gewinne aus dem Südseehandel die investierenden Bürger zur Teilnahme an der Umwandlung anregen würde«.99 Zu den Autoren, Montag, The unthinkable Swift, S. 39. McKeon, The origins of the English novel, 1600 – 1740, S. 209. Montag, The unthinkable Swift, S. 2. Hoppit, A land of liberty?, S. 335. Vgl. Vogl, Der Souveränitätseffekt, S. 133. Carl Wennerlind, Casualties of credit. The English financial revolution, 1620 – 1720, Cambridge, Mass., 2011, S. 197. 94  95  96  97  98  99 

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die das Projekt propagandistisch unterstützten, gehörte nicht nur, wie bereits erwähnt, Defoe, sondern auch Swift, der im Examiner Harleys »transcendant genius for publick affairs« lobte und den South Sea-Fonds als »the greatest restoration and establishment of the kingdom’s credit« bezeichnete.100 Als Instrument zur Wiederherstellung des öffentlichen Kredits funktionierte das Südsee-Schema tatsächlich »bemerkenswert gut«.101 Während die Whigs von Anfang die Gewinnchancen bezweifelten, fanden sich zahlreiche Tory-Landbesitzer, die dem Projekt vertrauten, nicht nur, weil es von ehrbaren Männern wie Harley vorangetrieben wurde, sondern wahrscheinlich auch, weil es (da mit dem Gedanken der kolonialen Expansion verknüpft) eine ›territorialistische‹ Note hatte. Auf diese Weise bildete die South Sea Company nicht nur eine Umtauschaktion für Staatsschulden, sie wurde auch zu einem großen Umtauschprogramm zwischen landed und moneyed interest: Zahlreiche Landbesitzer, die der Welt des Geldes misstrauisch gegenübergestanden hatten, wurden durch das Tory-Projekt der South Sea Company in Finanzgeschäfte hineingezogen. Sie begannen als Käufer von Staatsanleihen, verwandelten sich in Aktienbesitzer, wurden mit Beginn der Blase zu Spekulanten und nach dem Crash zu Bankrotteuren. Mehr als irgendetwas anderes hat wahrscheinlich das ›konservative‹ Anlageprojekt der SüdseeCompagnie dafür gesorgt, den Mythos von der Reinheit und Unbescholtenheit des landed interest zu zerstören.

100  »The Examiner, Number XLIV . Thursday, June 2, 1711«, in: Jonathan Swift, The Works

of the Rev. Jonathan Swift, hg. v. Thomas Sheridan u. John Nichols, Bd. 3, London, 1801, 243 – 249, S. 246 – 247. 101  Wennerlind, Casualties of credit, S. 199.

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20.

POETISCHE SCHLACHTEN. EIN KLASSENKAMPF DER AUTOREN Das konservative Rückzugsgefecht des landed interest gegen die heraufziehende Herrschaft der moneyed men lässt sich kaum als Klassenkampf bezeichnen. Es handelt sich eher um einen Verteilungskampf innerhalb der herrschenden Elite, einen Kampf zwischen zwei Sorten des Reichtums. Zudem sind, wie gezeigt wurde, die Grenzen zwischen Land- und Geld-Reichtum fließend; von einer Konfrontation im Stil des späteren Klassenkampfs (»zwei große feindliche Lager«; »zwei große, einander direkt gegenüberstehende Klassen« 1) kann im Hinblick auf diese Auseinandersetzung keine Rede sein. Entscheidend für die Formierung des späteren, sozialen Klassenbegriffs wird sein, dass eine binäre Unterscheidung getroffen wird, die nicht nur eine kleine Oberschicht, sondern das ganze gesellschaftliche Feld betrifft. Natürlich gab es in den gesellschaftlichen Konflikten der Frühen Neuzeit jederzeit eine polarisierende Unterscheidung zwischen Unten und Oben, zwischen Arm und Reich. Doch blieb diese Entgegensetzung meist auf die Reichweite und die Dauer der Auseinandersetzung beschränkt; sie wurde nicht zu einem festen und allgemein akzeptierten Einteilungskriterium für die Gesellschaft im Ganzen. Was England betrifft, so scheint sich dies in der Zeit um 1700 zu ändern. In den literarischen Debatten dieser Zeit wurde der Gegensatz von Arm und Reich zu einem geläufigen, ›normalen‹ Kriterium zur Beurteilung der gesellschaftlichen Stellung. Gleichzeitig verband sich diese Unterscheidung mit dem Begriff der Klasse, der für eine Beurteilung nach quantitativen, ökonomischen Maßstäben besonders geeignet war. Wie dieses abschließende Kapitel zeigen soll, hatte damit schließlich auch die Idee des ›Klassenkampfs‹ ihren ersten Auftritt. Er fand in der Arena des Literarischen statt, im Medium der Schrift. Dabei ging es zunächst, ähnlich wie in den Polemiken Mandevilles, Defoes und Swifts, um das Prinzip der Einteilung, um die Frage, wie die Gesellschaft zu verstehen sein sollte: als ständische Ordnung oder als Klassenordnung. Zugleich ergriff dieser Kampf aber auch seine Akteure, fasste sie zu sich feindlich gegenüberstehenden Lagern zusammen. Die Unterscheidung zwischen Arm und Reich spielte dabei eine entscheidende Rolle. Seine erste Probeaufführung erlebte der moderne Klassenkampf im Duell zweier Typen von Schriftstellern, von standesstolzen Gentleman-Autoren und prekär 1  Marx u. Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, S. 463.

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lebenden Auftragsschreibern. Bei diesen finden sich bereits erste Zeichen von ›Klassenbewusstsein‹.

Die Schreiber von Grub Street Mit den Tageszeitungen entstand zu Beginn des 18. Jahrhunderts eine Kultur des schnellen, journalistischen, marktorientierten Schreibens, für die sich die Bezeichnung ›Grub Street‹ einbürgerte. Ein wesentlicher Teil des Kulturkampfes, den die Vertreter der alten Gesellschaft gegen die heraufziehende Herrschaft des Geldes, der Quantifizierung und Klassifizierung führten, war ein Kampf gegen Grub Street, eine ›Schlacht der Worte‹, die zugleich eine Schlacht um die Worte, um die Bedeutungskraft von Worten war. Grub Street war der Name einer bescheidenen Straße im Stadtteil Cripplegate, in der sich die Buchdruckereien und Zeitungsverlage konzentrierten. Bereits 1622 spricht der als Begründer der englischen non-sense poetry geltende John Taylor 2 in ominöser Weise von einer »Ouintesence of Grub streete«, die sich als »a contagioas Map« in Cripplegate ausbreite.3 1672, in Andrew Marvells Satire The Rehersal Transpros’d, ist von »the Puritans in Grubstreet« die Rede;4 es wird suggeriert, dass es sich um einen Ort der theologischen Polemik (»Polemmical divinity«) handele.5 Während der Buch- und Pamphletdruck noch eine Sache kleinerer, selbstständiger Handwerker war, geriet das Gewerbe mit der Entstehung der periodischen Presse gegen Ende 17. Jahrhunderts zunehmend in den Griff einiger größerer Druck- und Verlags-Unternehmer: »Die Eigenarten des News-Geschäfts erforderten fast augenblicklich kapitalistische Investitionen.« 6 Um 1720 war es schon zu einem »geläufigen Muster« geworden, dass Journalisten »ihre Zeitung Teilhabern zum Kauf anboten, deren Aufmerksamkeit dem Profit galt«.7 Wenn es also zweifellos »a real place called Grub Street« gab,8 so war Grub Street zugleich eine Chiffre für die dort eingeübten Formen der tagesaktuellen Nachrichtenproduktion und der kommerziellen, auf Gewinn angelegten Veröffentlichung. Über das örtlich eingrenzbare Milieu hinaus bezeichnete Grub Street eine neue Ökonomie des Schreibens, bei der es nicht mehr um Schrift-

2  Vgl. Edmund Miller, »John Taylor«, in: Steven H. Gale (Hg.), Encyclopedia of British humorists. Geoffrey Chaucer to John Cleese, Volume 2, L-W, New York, London, 1996, 1106 – 1113. 3  John Taylor, Sir Gregory Nonsence. His Newes from No Place, London, 1622, o. P. 4  Andrew Marvell, The Rehersal Transpros’d. Or, Animadversions upon a Late Book, Entituled, A Preface, London, 1672, S. 145. 5  Ebd., S. 15. 6  Sommerville, The news revolution in England, S. 13. 7  Ebd., S. 13 – 14. 8  Pat Rogers, Grub Street. Studies in a subculture, London, 1972, S. 2.

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stellertugenden wie kritische Abwägung, klassische Bildung und reifen Stil ging, sondern um die Schnelligkeit und Quantität der Zeichenproduktion. Die neue Klasse von professionellen Autoren, die aus dem Betrieb von Grub Street hervorging, wurde von den Zeitgenossen als ›Hackney-Writers‹, ›HackWriters‹ oder kurz ›Hacks‹ bezeichnet. Der Name, von dem sich auch das heutige Wort ›Hacker‹ ableitet,9 stammt von den Mietpferden und -Kutschen Londons, die ursprünglich vor allem im Vorort Hackney stationiert waren und deshalb ›Hackney-horses‹ und ›Hackney-carriages‹ genannt wurden. Ein Hackney-Writer war also ein Schreiber, den man mieten konnte wie eine Kutsche.10 Es lag nahe, diese Art der Selbstvermarktung mit der der Prostitution in Verbindung zu bringen. Darauf verfielen nicht nur die Feinde von Grub Street. Ned Ward, einer der erfolgreichsten Hackney-Writer, schreibt in den ersten Zeilen seines Trip to Jamaica: THE Condition of an Author is much like that of a Strumpet, both exposing our

Reputations to supply our Necessities […]; and if the reason be require’d, Why we betake our selves to so Scandalous a Profession as Whoring or Pamphleteering, the same excvsive Answer will serve us both, viz. That the unhappy circumstances of a Narrow Fortune, hath forc’d us to do that for our Subsistance, which we are much asham’d of.11

Die prekäre ökonomische Lage der Lohnschreiber, die vom Hochzeitsgedicht über Kanzleiarbeiten bis zu Pamphleten und politischen Artikeln jede nur denkbare Schreibarbeit übernahmen, ist häufig, und meist eher spöttisch als mitleidig, beschrieben worden. Ironisch behandelt wurde vor allem die überzogene Statuseinschätzung der literarischen Bohemiens, die in keinem Verhältnis zur Dürftigkeit ihrer ökonomischen Verhältnisse stand: I thought myself fit for an Author; […] therefore, I furnish’d myself with as sword, a Tye-wig, a Cane, a Sniffbox, five Reams of Paper, a Standish and a Common-place Book. I then took an handsome Lodging (not very Spacious indeed) up three Pair of Stairs at a little Ale-house in the celebrated Regions of Grub-street, a Place

9  Online Etymology Dictionary, online verfügbar unter: http://www.etymonline.com/index. php?term=hacker. Zuletzt geprüft am 8. Januar 2015. 10  Tom Brown, selbst aus dem Gewerbe, empfiehlt daher ironisch eine Regulierung und Kennzeichnungspflicht für Autoren: »Which Poets are to renew their Licences every HalfYear; to obey all the Orders and Instructions, are never to exceed Five Hundred, and to be marked on the back as Hackney Coaches are.« Thomas Brown, »Dialogue I. St. James’s Park«, in: Thomas Brown, The fourth volume of the works of Mr. Thomas Brown, serious, moral, comical, and satyrical, London, 1709, 15 – 70, S. 56. 11  Edward Ward, A trip to Jamaica. With a True Character of the People and Island, London, 1698, o. P. [»To the Reader«].

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long since renown’d for polite Wit and Learning, where I have spent my time ever since […] in writing abundance of elaborate Treatises upon all manner of Subjects, for the good of my Country and my own Belly – Two Considerations which are seldom missing in most of our modern Writers.12

Abbildung 29: »Satire on a writer whose literary ambitions are not matched by wordly

success«, Kupferstich, ca. 1720.

12  Anon. [»Humphry Scribblewit«], A Letter from a Student in Grub-street, To a Reverend

High-Priest and Head of a College in Oxford, London, 1720, S. 6.

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Sarkastisch werden 1730 die Zeitungsmeldungen über den Tod eines »Dr. Viner«, kommentiert, der sich »at the White Peruke in Bell-yard, near Lincoln’s-Inn« an seinem »Hosenband« [»garter«] erhängt habe. Von ihm wird gesagt, dass er schon »some years disorder’d in his senses« gewesen sei und nur im dreckigem Nachtrock und mit langem Bart auf der Straße erschienen sei: »Tho’ hackneywriter be a dubious term, and signifie commonly one who practises only the mechanical part of writing, yet by the discription […]; I am afraid, that this Dr. was a Grubean hackney-writer.« 13 Mit Grub Street entsteht auf diese Weise das Stereotyp des ökonomisch bedrängten Autors,14 das durch Hogarths Kupferstich »The distressed Poet« ikonisch werden sollte. Seine wohl früheste literarische Formulierung findet sich in einem 1699 entstandenen Gedicht Tom Browns, das schonungslos »The Poet’s Condition« 15 offenlegt: Without formal Petition Thus stands my Condition: I am closely block’d up in a Garret, Where I scribble and smoak, And sadly invoke The powerful assistance of CLARRET . Four children and a Wife, ’Tis hard, on my Life, Beside my self and a Muse, To be all cloth’d and fed, Now the Times are so dead, By my scribbling of Dogg’rel and News.16

13  »The Grub-Street Journal, N° 43. Thursday, October 29 [1730]«, in: Memoirs of the Society

of Grub-Street, Vol. 1 of 2, hg. v. Anon. [»Mr. Bavius«], London, 1737, 210 – 216, S. 214.

14  Vgl. Uwe Böker, »›The distressed writer‹. Sozialhistorische Bedingungen eines berufsspe-

zifischen Stereotyps in der Literatur und Kritik des frühen 18. Jahrhunderts«, in: G. Blaicher (Hg.), Erstarrtes Denken. Studien zu Klischee, Stereotyp und Vorurteil in englischsprachiger Literatur, 1987, 140 – 153. 15  Unter diesem Titel wurde das Gedicht in spätere Werkausgaben übernommen. 16  Thomas Brown, »A Preface sent by Mr. Brown to the Author of the English Marshal, &c. Printed 1699«, in: Thomas Brown, The Fourth Volume of The Works of Mr. Thomas Brown. Which compleats the Whole Sett, London, 1711, 250 – 251, S. 250.

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Abbildung 30: »The Poets condition«,

aus: The Works of Mr. Thomas Brown, Fourth and last Volume, London, 1730.

Abbildung 31: William Hogarth, »The Distressed Poet«, Kupferstich, 1737, Ausschnitt.

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Deklassierte und Klassizisten Die Hack-Writer wurden in den öffentlichen Debatten des frühen 18. Jahrhunderts der schlimmsten Unredlichkeiten bezichtigt, vor allem des Plagiats und der Erfindung von Nachrichten (›False News‹). Offenbar ließ die dürftige Bezahlung vielen Autoren keine andere Wahl, als fremde Schriften auszuschlachten (wie es Tom Brown mit seinen Amusements serious and comical tat 17) oder ihre ›Real Facts‹ und ›True Characters‹ schlicht zu erfinden (so wie Ned Ward, der von Reisen erzählte, die er nie unternommen hatte 18). In der öffentlichen Wahrnehmung erschien Grub Street als eine parasitäre Ökonomie, in der die Buchhändler die Autoren aussaugten, und diese sich schadlos hielten, indem sie minderwertige und gefälschte Ware lieferten. John Dunton, einer der mächtigsten Männer des Gewerbes, gab in der Beschreibung eines seiner Autoren dem Ärger über das unzuverlässige Personal der Hack-Writer Ausdruck: [T]he rhymer, I cannot say Poet, is such a contemptible wretch, he is not worth my notice; […] He is a poetical insect; a mere Grub-street Poet; the worst ’sort of Hackney; a murderer of paper; nothing he writes sells; the common scribbler of the town, that writes and drinks, as he can steal or borrow, coin or wit.19

Addison machte den Vorwurf des Parasitismus explizit, indem er die »small wits and scribblers«, die sich an die erfolgreiche Publikation des Tatler anhängten, als »fleas« und »vermin[s]« bezeichnete, die »every day turn a penny by nibbling at my Lucubrations«.20 Ein weiterer Topos der Grub Street-Kritik war die Unterstellung der literarischen und politischen Standpunktlosigkeit. Das Gewissen eines »Hackney scribblers«, so wurde höhnisch bemerkt, sei vor allem durch »the vacuity of the stomach« bestimmt.21 Tatsächlich ergab sich ein gewisser Opportunismus geradezu zwangsläufig aus dem Status des ›freien‹ Autors, dem nichts anderes

17  Ausgerechnet in den Amusements, die selbst nicht anderes als ein Plagiat darstellen,

spricht Brown von »errantest Plagiaries«, die »like our Common News-Writers Steal from one another«. Brown, Amusements serious and comical, calculated for the meridian of London, S. 52. 18  So z. B. Wards nach dem Erfolgsmodell des Trip to Jamaica modellierter ›Reisebericht‹: Edward Ward, A trip to New-England. With a Character of the Country and People, both English and Indians, London, 1699. 19  John Dunton, »The living elegy. Or, Dunton’s letter, Being a word of comfort, to his few creditors«, in: ders., The Life an Errors of John Dunton. […] to which are added […] selections from his other genuine works, 1818, 442 – 481, S. 468. 20  Joseph Addison, »The Tatler, N° 229. Tuesday, Sept. 26, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 4, London, 1898 – 1899, 171 – 175, S. 172. 21  »The Grub-Street Journal, N° 55. Thursday, January 21 [1731]«, in: Memoirs of the Society of Grub-Street, Vol. 1 of 2, hg. v. Anon. [»Mr. Bavius«], London, 1737, 268 – 276, S. 274.

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übrigblieb, als jeden sich bietenden Auftrag anzunehmen. In einer 1720 erschienenen Hack-Writer-Satire befestigt der Held am Eingang zu seiner schäbigen Wohnung ein Reklameschild: Here liveth Humphry Scribblewit, (for that is the Name I took upon me […]) Who writeth alt sorts of Pamphlets, Letters of Controversy, Answers and Replies, Poems, Satires, Libels, Lampoons, Songs, Ballads, Essays, Travels, Voyages, Novels and Romances, at reasonable Rates: Enquire within.22

In Fieldings The Author’s Farce wird den Anfängern im Gewerbe des bezahlten Schreibens der kühle Rat gegeben: »If you must write, write Nonsense, write Opera’s, write Entertainments, write Hurlo-thrumbo’s […] be Pimp to some worthless Man of quality, write Panegyricks on him, flatter him with as many Virtues as he has Vices […].« 23 Zahlreiche Autoren stellten sich als »Scribler in a Pamphlet War« 24 zur Verfügung und lebten davon, in schnellem Wechsel gegensätzliche politische Positionen zu verteidigen. Fielding karikiert das Verfahren der künstlichen Anheizung von Debatten in der Figur des Verlegers »Mr. Bookweight«, der von sich sagt: »I love to keep a Controversy up warm – I have had Authors who have writ a Pamphlet in the Morning, answer’d it in the Afternoon, and compromised the matter at Night.« 25 Auf diese Weise wurde der Journalismus von Grub Street (nicht zuletzt von den Hackney-Autoren selbst) unablässig der Fälschung, des Plagiats, der Intrige, der polemischen Aufstachelung des Volks, kurz der Lüge bezichtigt. John Arbuthnot machte 1711 den ironischen Vorschlag für eine Schulung in »Pseudologia Politikē«, um die »Noble and Useful Art of Political Lying«, die bisher lediglich in »in Rubbish and Confusion« existiere, in den verdienten Rang einer Wissenschaft zu erheben.26 Andere Autoren behaupteten schlicht, dass »the whole Clan of News-Writers« eine einzige »Confederacy of Lyars« darstelle,27 bzw. dass sich »the whole wit of Grub Street« in den zwei kurzen Worten »you lie« zusammenfassen lasse.28

22  Anon. [»Humphry Scribblewit«], A Letter from a Student in Grub-street, To a Reverend High-Priest and Head of a College in Oxford, S. 7. 23  Henry Fielding, pseud.: »Scriblerus Secundus«, The Author’s Farce; and The Pleasures of the Town. As acted at the Theatre in the Hay-Market, London, 1730, S. 8 – 9. 24  Ebd., S. 48. 25  Ebd., S. 20. 26  John Arbuthnot, Proposals for Printing a Very Curious Discourse. […] intitled, Pseudologia Politikē; or, a Treatise of the Art of Political Lying, London, 1712, S. 6. 27  Lewis Theobald, anon., The Censor, Volume 1, Issue 2, Wednesday, April 13. 1715, S. 11. 28  Henry Fielding, The Grub-Street Opera (1731), hg. v. Edgar V. Roberts, Lincoln, 1968, S. 4.

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Während das Grub-Street-Mocking ein verbreiteter Sport war, der nicht zuletzt von den ›Grubeans‹ selbst betrieben wurde, nahm der Kampf gegen die neue literarische Kultur bei einigen Tory-Autoren wie Arbuthnot, Swift, Pope, Gay und Fielding ernstere Formen an. Der Macht der Massenpresse setzten sie das Bild einer Geistesaristokratie entgegen, in der wahrer Dichterruhm mit Lorbeerkränzen und einer quasi-monarchischen Herrschaft über das literarische England belohnt wurde.29 Insbesondere Alexander Pope führte einen lebenslangen Kreuzzeug gegen die »Dunces«, d. h. die ›Esel‹ oder ›Dummköpfe‹, die dem neuen System des journalistischen, tagesaktuellen Schreibens entsprungen waren. In seiner Dunciad (1728 – 1743), einer Satire auf die Helden des Zeitungsgeschäfts, geißelte er den fortlaufenden Ausstoß billiger, ephemerer Schriften, die alle Standards der klassischen literarischen Kultur unterliefen: Hence miscellanies spring, the weekly boast Of Curll’s chaste press, and Lintot’s rubric post: Hence hymning Tyburn’s elegiac lines, Hence Journals, Medleys, Men’ries, Magazines: Sepulchral lies, our holy walls to grace, And New Year odes, and all the Grub Street race.30

Ab 1730 erschien The Grub-Street Journal, eine Zeitschrift, die an Popes Polemik anschloss und sich ganz dem Kulturkampf gegen den käuflichen Journalismus verschrieb. Bei aller Ironie, die auch hier im Spiel war, stach der Versuch hervor, eine klare Trennung des literarischen Feldes vorzunehmen, eine Trennung, die letztlich die Frontstellung des Quarrel of the Ancients and the Moderns reproduzierte: Before I enter on the subject of this Essay, I shall beg leave to observe, that poets may be divided into two classes; the Parnassians, and the Grubeans. The former were most of the Ancients; and of the latter are most of the Moderns.31

29  Schon der literarische Herrscher der Restaurations-Zeit, John Dryden, »nutzte häufig das Idiom der Thronfolge, um seine eigene Position im Verhältnis zu anderen Autoren zu beschreiben«, eine Praxis, die er mit anderen Tory-Schriftstellern teilte und die später »von Pope in Peri Bathous und The Dunciad weiterentwickelt werden sollte«, vgl. Abigail Williams, Poetry and the creation of a whig literary culture. 1681 – 1714, Oxford, New York, 2005, S. 29. 30  Pope, »The Dunciad in Four Books«, S. 437. 31  »The Grub-Street Journal, N° 5. Thursday, Feb. 5 [1730]«, in: Memoirs of the Society of Grub-Street, Vol. 1 of 2, hg. v. Anon. [»Mr. Bavius«], London, 1737, 19 – 24, S. 19 – 20.

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Abbildung 32: The Grub-street Journal, N° 147, 1731, Titelseite.

Es erscheint zunächst als verstörend, dass dieser Versuch einer Aufteilung des Feldes auf das Klassenvokabular zurückgreift. Denn grundsätzlich wollten die Konservativen die neumodische Logik der Klassifizierung eher vermeiden; sie gehörte in ihren Augen allzu offensichtlich der Whig-Kultur des Geldes und des Gewinnstrebens an. Auch Swift übernahm die Rhetorik der Politischen Arithmetik nur, um sich über sie lustig zu machen. Der Ausdruck »classes« zur Unterscheidung der Autoren wird hier jedoch unbesorgt verwendet, weil er sich offensichtlich nicht auf die profanen zeitgenössischen Klassifizierungspraktiken bezieht, sondern auf die ehrbare antike Gewohnheit, Autoren in ›Klassen‹ verschiedener Güte aufzuteilen – und damit die ›Klassiker‹ von denen zu unterscheiden, die sich als plebejische Autoren gleichsam ›infra classem‹ befanden.32 32  Zum Zusammenhang des Begriffs der ›Klassik‹ mit dem römischen System der gesellschaftlichen Klassenteilung vgl. Curtius, Europäische Literatur und lateinisches Mittelalter, S. 256: »Imposante Systeme, die Jahrhunderte in Atem hielten, wären nie entstanden, wenn nicht die servianischen Steuerklassen gewesen wären. Über Klassik hatte man kaum dis-

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Die Einteilung der Autoren in zwei verschiedene Klassen hat damit etwas Autoritatives, das an das Urteil des antiken ›censor‹ erinnert. Mit der Beurteilung der literarischen Klasse wird zugleich ein gesellschaftliches Klassenurteil gefällt, dessen Botschaft sich sehr einfach zusammenfassen lässt: Den konservativen, ›ancientistischen‹ Autoren gehört der literarische Parnass; die marktabhängigen, ›modernistischen‹ Zeitungsschreiber mögen sich wieder in die schäbige Vorstadtstraße zurückziehen, aus der sie hergekommen sind. Es gibt zwei Gründe, diesen ›Klassenkampf der Autoren‹, der zunächst nur ein Kampf um die ›Klassizität‹, um die Einordnung auf der Stufenleiter des literarischen Ruhms zu sein scheint, auch als einen sozialen Klassenkampf, einen Kampf um die soziale Stellung (und um die Stellung des Sozialen) zu begreifen. Diese Gründe ergeben sich aus zwei Motiven, denen die toryistischen, ancientistischen Autoren in ihrem Kampf gegen »all the Grub Street race« 33 besondere Aufmerksamkeit schenken. Es handelt sich dabei erstens um den geradezu obsessiven Hinweis auf die niedrige soziale Stellung der Hack-Writer, um die in jeder Kritik mitschwingende Unterstellung, dass ein armer Autor nichts Großes vollbringen könne, weder in der politischen Essayistik noch in der Literatur. So musste eine politische Äußerung von vornherein als diskreditiert gelten, wenn sich heraustellte, dass sie von »a Poor Mercenary Hack« stammte;34 ebenso mussten Verse, die »some starved hackney sonneteer« ausgebrütet hatte, natürlicherweise den »happy lines« unterlegen sein, die »a lord«, d. h. ein Gentleman-Amateur, in den Stunden seiner Muße verfasste.35 Wie könne man, so fragte Addison in seinem Freeholder, einem Autor Glauben schenken, »who draws his pen in the defence of property without having any«?36 Die Provokation lag offenbar darin, dass die Hack-Writer zwar einerseits in ärmlichsten Verhältnissen lebten, andererseits aber durch ihr Schreiben einen beträchtlichen Einfluss auf die öffentliche Meinung und die politische Szene ausübten. Wie eine 1736 erschienene Grub-Street-Satire vermerkte, änderte die Verachtung des billigen Journalismus nichts an seiner breiten gesellschaftlichen Wirksamkeit:

kutieren können, hätte man das Wort classicus verstanden. Aber weil unverstanden, war es von einem geheimnisvollen Nimbus umhüllt, der an den polierten Marmor des Apoll von Belvedere erinnert.« 33  Pope, »The Dunciad in Four Books«, S. 437. 34  The Examiner, No. 4. From Wednesday November 10, to Saturday November 13, 1714, London, o. P. [S. 1]. 35  Alexander Pope, »An Essay on Criticism. Written in the Year MDCCIX «, in: ders., The major works, hg. v. Pat Rogers, Oxford, New York, 2006, 17 – 39, S. 30. 36  Joseph Addison, The Freeholder, Vol. I, N° 1, Friday, December 23, 1715, S. 1.

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The politicks that Grubstreet breeds The Statesman at St. James’s reads. Our Works are risen from Cobblers Stalls To Drawing-Rooms and Palace Halls.37

Mit den Hackney-Autoren war eine neue Klasse entstanden, die zwar in kaum einer Hinsicht über Kapital verfügte (sie hatte weder Geld noch Ansehen noch Beziehungen, und nach Meinung ihrer Kritiker war es auch mit dem symbolischen Kapital der klassischen Bildung nicht weit her), die aber dennoch, durch ihre Schriften, in der Öffentlichkeit überaus präsent war – ein Missverhältnis von Status und Sichtbarkeit, das allen Anhängern des klassischen, hierarchischen Systems der gesellschaftlichen Repräsentation ein Dorn im Auge sein musste. Ähnlich wie die ungeliebte Gruppe der ›stock jobbers‹ und ›exchange brokers‹ waren die ›hack writers‹ ein reines Produkt der neuen merkantilen Ordnung. Im Unterschied zu jenen standen sie aber nicht auf der Seite des Kapitals; sie können eher als frühe Vertreter eines intellektuellen Prekariats betrachtet werden, das aus der kapitalistischen Ingebrauchnahme des Zeitungsgeschäfts hervorgegangen war. Als proletarisierte Intellektuelle und intellektualisierte Proletarier befanden sie sich in einem unsicheren Zwischenreich zwischen der besseren Gesellschaft, der sie angehören wollten, und dem ›Mob‹, dem sie gewöhnlich zugeordnet wurden. Da sie sich in keiner Weise in die überkommene Ständeordnung einfügen ließen, war es naheliegend, dass man nach anderen Einordnungsbegriffen suchte und dabei auf den Klassenbegriff verfiel: Zu den ironischen Sortierspielen, die in Tatler und Spectator betrieben wurden, gehörte es auch, »the Writers of all Pamphlets« zusammen mit »the Authors of single Sheets« und denen, »who publish their Labours on certain Days« (also den Zeitungsschreibern) in eine eigene, niedrige »Class of Writers« einzuordnen.38 Für Swift und Seinesgleichen lag der Skandal der Hack-Writer-Existenz wohl auch darin, dass sie die Möglichkeit einer literarischen Produktivität vorführte, die nicht auf einer gesicherten Stellung, einem festen sozialen Ort beruhte. Für die etablierten Autoren diente das Schreiben ganz selbstverständlich dazu, den eigenen Platz zu behaupten und ein Bild der eigenen Vortrefflichkeit zu geben; für die Hackney-Autoren stellte es dagegen ein Medium dar, um den durch Geburt zugewiesenen sozialen Ort zu verlassen und eine andere Lebensform zu verwirklichen. Als eine Artikulation, die sich nicht auf einen Platz festlegen ließ, stellte das Hack-Writing grundsätzlich, d. h. unabhängig von seinen Inhalten, einen Akt der Standesüberschreitung dar. In diesem Gestus der Hinwegsetzung über die 37  William Dunkin, A Curry-Comb of Truth for a certain Dean. Or, the Grub-street Tribunal, Dublin, 1736, S. 2. 38  Joseph Addison, »The Spectator, N° 529. Thursday, November 6, 1712«, in: The Spectator, hg. v. Henry Morley, Bd. 3, London, 1891, 355 – 357, S. 355.

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vorgegebenen sozialen Schranken gleichen die prekär lebenden Lohnschreiber des frühen 18. Jahrhunderts den von Rancière beschriebenen Arbeiter-Bohemiens des 19. Jahrhunderts, die sich »Tätigkeiten, Sichtbarkeiten und Sagbarkeiten« aneigneten, »die ›natürlicherweise‹ dem nicht arbeitenden Teil der Gesellschaft vorbehalten« waren.39 Wenn Swift, Pope oder Arbuthnot die literarische Produktion von Grub Street als Provokation empfanden, so auch deshalb, weil sie von Leuten betrieben wurde, die nach der klassischen Rollenverteilung gar keinen Zugang zur Schrift haben durften. Die Tatsache, dass die Hack-Writer dennoch schrieben, war ein Zeichen dafür, dass die alte Welt aus den Fugen geraten war. Das Schreiben von Grub Street musste daher auch als Drohung einer »Neuaufteilbarkeit der herrschenden Aufteilungen der Gesellschaft« empfunden werden.40 Doch, wenn sich die obsessive Auseinandersetzung zwischen den ›Parnassians‹ und den ›Grubeans‹ unter dem Aspekt eines sozialen Klassenkampfs betrachten lässt, so liegt dies nicht allein an der Figur des Grub Street-Autors und der in ihr verkörperten sozialen Anmaßung. Ein zweiter Grund liegt in der, mit der Ökonomie von Grub Street verbundenen, neuen Schreibweise, einer Art des Schreibens, die vielfach als Bedrohung jeder Ordnung, insbesondere aber der ständischen Hierarchie, empfunden wurde. Hier geht es also nicht um die Frage, wie sich bestimmte Autoren mittels der Schrift von den ihnen zugewiesenen Plätzen entfernten; es geht vielmehr um die Frage, wie sich auf dem Schauplatz der Schrift selbst eine Art Klassenkampf, ein Kampf um das Prinzip der gesellschaftlichen Einteilung entspann. In den Auseinandersetzungen um die neue, unverantwortliche, lose Schreibweise der Grub Street-Autoren stand nicht weniger auf dem Spiel als die Funktion des Symbolischen: Wirkt sie als Garant der überkommenen Ordnung oder dient sie ihrer Subversion und Perversion? Die Auseinandersetzung um die Schreibweise von Grub Street bezeichnet damit einen jener geschichtlichen Momente, in denen »[d]as Zeichen […] zur Arena des Klassenkampfes« wird.41 Grub Street brachte, wie mit Erschrecken, aber auch mit Faszination bemerkt wurde, eine neue Form des schnellen, durch keine Reflexion gebremsten Schreibens hervor, das durchaus eigene ästhetische Effekte zeitigte. Das vielleicht erste Beispiel einer solchen rapiden Schreibweise liefert die 1672 uraufgeführte Restoration-Comedy The Rehearsal. Der Eindruck einer koffein-trunkenen, hypermimetischen Verschriftung dessen, was im Kaffeehaus gesagt wird, wird hier witzigerweise durch die Interjektion »pop« unterstrichen: 39  Maria Muhle, »Jacques Rancière. Für eine Politik des Erscheinens«, in: Stephan Moebius und Dirk Quadflieg (Hg.), Kultur. Theorien der Gegenwart, Wiesbaden, 2011, 311 – 320, S. 313. 40  Ebd. 41  Valentin N. Vološinov, Marxismus und Sprachphilosophie. Grundlegende Probleme der soziologischen Methode in der Sprachwissenschaft (1929), hg. v. Samuel M. Weber, Frankfurt a. M., 1975, S. 71.

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Bayes. As thus. I come into a Coffee-house, or some other place where witty men resort, I make as if I minded nothing; (do you mark?) but as soon as any one speaks, pop I slap it down, and make that, too, my own.42

Für klassische Kunstrichter stellte die Idee einer ungefilterten, den irren Lauf der Rede oder der Gedanken reproduzierenden Schreibweise einen vehementen Affront gegen alle Regeln der rhetorischen und gedanklichen Selektion und Anordnung dar. Typische Grub Street-Produkte bildeten daher in ihren Augen nichts anderes als ein Konglomerat von »false English, false Reasoning, Absurdity, Non-sense, Self-Contradiction, Ill-Manners, Impertinence, Stupidity, Ignorance, Falshood, Clamour, Scandal, De-traction, Sedition, and Treason«.43 Mit Grub Street war ein »Exzess der Wörter«,44 ein »Exzess der Sprache und des Denkens« verbunden, der von den Konservativen nur als ein »Zeichen der Krankheit« ihres Zeitalters und ihrer Gesellschaft begriffen werden konnte.45 Ähnlich wie die aufständische Rede des Volks, auf die Rancière sich bezieht, musste die Zeichenproduktion von Grub Street als ein »Wort« erscheinen, »das exzessiv ist, weil es zu viel, am falschen Ort und zur falschen Zeit spricht«.46 Für die konservativen Autoren war es ein Leichtes, Grub Street als Ursprungsherd der Unruhe zu identifizieren, die die Ordnung der Zeichen und damit auch die der gesellschaftlichen Abstände heimgesucht hatte. Zahllos sind daher die Klagen über die ›Corruption of Language‹, die der neue, journalistische Stil mit sich gebracht hatte.47 Insbesondere der Tatler verzeichnet akribisch die Verheerungen, die er in der Alltagssprache anrichtet. Isaak Bickerstaff zitiert Leserbriefe mit langen, unzusammenhängenden und jargongespickten Schilderungen von Banalitäten des Gesellschaftslebens und führt diesen »present polite way of writing« auf all jene »books, pamphlets, and single papers« zurück, »offered us every day in the coffee-houses«.48 Wer ein »Grub Street book« öffne, werde Schwierigkeiten haben, »to find ten lines together of common grammar or common sense«.49 Die

42  George Villiers, Duke of Buckingham, The rehearsal (1672), hg. v. Montague Summers,

Stratford-upon-Avon, 1914, S. 5.

43  The Examiner, Vol. V., Numb. 32. From Monday March 8, to Friday March 12, 1713, o. P. [S. 1.]. 44  Vgl. das Kapitel »Der Exzess der Wörter« in: Rancière, Die Namen der Geschichte, S. 41 – 66. 45  Jacques Rancière, »Politik der Literatur«, in: ders., Politik der Literatur, hg. v. Peter

Engelmann, Wien, 2008, 13 – 46, S. 37. 46  Muhle, »Jacques Rancière«, S. 314. 47  Vgl. z. B. Bolingbrokes Ärger über »this Abuse and, if I may call it so, Transmigration of Terms«. St. John, 1st Viscount Bolingbroke, anon., The Way to Bring the World to Rights: Or, Honesty the Best Policy at All Times, and in All Places, S. 25. 48  Richard Steele, »The Tatler, N° 230. Thursday, Sept. 28, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Vol. 4, London, 1898 – 1899, 175 – 181, S. 177. 49  Ebd., S. 176.

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Aneinanderreihung widersprüchlicher Aussagen, Vermutungen und Zweifel sei geeignet, den Kopf jedes gewöhnlichen Lesers »into a Vertigo« zu versetzen.50 Dass das sprachliche Delirium als Angriff nicht nur auf die gedankliche, sondern auch auf gesellschaftliche Ordnung verstanden wurde, zeigt sich in einem 1730 erschienenen Pamphlet mit dem Titel The Helter Skelter Way of Writing.51 Vorgeführt wird hier eine »Philosophical Battle«,52 die sich um etymologische Fragen dreht, die aber auch grundsätzlich die Frage des Zusammenhangs von Worten und Dingen ins Auge fasst. Dabei gelangt sie zunächst zu der gewöhnlichen Klage über den Wortmissbrauch: »’Tis too plain our Words are abus’d by the busy and guilty Men of the Age who in Coffee-Houses turn, winde, and misconstrue them from our innocent Meaning, according to their several Occasions«.53 Es deutet sich aber auch eine soziale Überdeterminierung der Ökonomie der Zeichen an: Die Entkopplung der Worte und Dinge nimmt offenbar vor allem in den reicheren Schichten der Gesellschaft zu; unter einfacheren Leuten, wie z. B. »poor Mechanicks, Merchants, Tradesmen, Gentlemen, and such like«, habe dagegen so etwas wie »a Promise« noch Gültigkeit.54 Anscheinend, so wird gefolgert, handelt es sich um eine »course Earthen-Ware sort of Men who […] love Meaning, because their Fortunes are mean«.55 In surreal anmutenden Szenen werden schließlich die schlimmsten sprachlichen Entgleisungen der Zeit vorgeführt. Dabei geht es insbesondere um eine Technik der Beschimpfung, die sich buchstäblich als eine Praxis des ›naming‹, also des Namengebens, verwirklicht. Die Mitglieder eines Clubs, der sich der etymologischen Forschung verschrieben hat, begegnen einer feindlich gesinnten, offenbar ebenso betrunkenen Herrenrunde. Dabei werden sie einem peinlichen Ritual der Neubenennung unterworfen:

50  Steele, »The Tatler, N° 178«, S. 334. 51  Die Veröffentlichung The Helter Skelter Way of Writing (1730) ist, abgesehen von Titel-

blatt und Vorspann, identisch mit einer anderen, die ohne Datum unter dem Titel »Royal Remarks; Or, the Indian King’s Observations on the Most Fashionable Follies Now Reigning in the Kingdom of Great-Britain« erschienen ist. Da auf deren Titelblatt ein Zitat aus der 50. Nummer des Spectator (1711) zu finden ist, wurde angenommen, dass das Pamphlet zu dieser Zeit verfasst und später, in The Helter Skelter Way wieder aufgelegt wurde. Die beiden Fassungen stammen jedoch, dem Druckbild nach zu urteilen, aus der gleichen Druckerei; sie sind, abgesehen vom Vorwort, text- und seitenidentisch. Dass der Text um 1730 entstanden ist, ergibt sich aus dem Inhalt (eine Stelle auf Seite 19 bezieht sich offenkundig auf Alexander Popes 1725 erschienenes Preface to Shakespear) und aus der Tatsache, dass der anonyme Autor sich in einer Veröffentlichung aus dem Jahr 1736 über einen »second Part of my Royal Remarks« Gedanken macht, was er wohl nicht getan hätte, wenn seit der ersten Veröffentlichung 25 Jahre vergangen wären. (vgl. Anon., The Quack’s Miscellany, London, 1736, S. 47). 52  Anon. [»Tom Thumb«], The Helter Skelter Way of Writing. Or, a New Method of Criticism, London, 1730, S. 13. 53  Ebd., S. 8. 54  Ebd., S. 9 – 10. 55  Ebd., S. 10.

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It happened one Afternoon, said the Squire, we three taking a serious Walk together, […] unfortunately dropp’d into a damn’d Coffee-House near Drury-­Lane the Reputation of which we were innocent; where, to our great Surprize, we found our selves surrounded with a Sett of our profess’d Enemies, the Gad-dem-ye-Sirs whose Brains rattled in their Sculls like their Dice in the Boxes they we at play with […] we too soon found we had nick’d it, for in an instant they arose, Gad dem ye Sirs said one, Gad dem ye Sirs said another, and so on thro’ the whole Company; that in a Minute we were under too strong a Guard for any possibility of making a Retreat: We were immediately Christen’d according to their Religious Opinions, which don’t a little vary from Christianity. ’Squire Thunderbluss they said was a Caccafogo,56 Doctor Puzzlepate they oblig’d with the Name of an old Put, and my self they much honoured with the Stile and Title of an Old Prigg.57

Wird hier die Neubenennung als ein willkürlicher Akt beschrieben, in dem Bezeichnung und Beleidigung zusammenkommen, so wird damit angedeutet, dass Manipulationen der Sprache (beispielsweise, indem bestimmte Dinge in eine Klasse gesetzt, mit anderen identifiziert werden) immer auch als Manipulationen der sozialen Ordnung zu verstehen sind. Unter diesem Aspekt sind jedenfalls die virtuosen Wortverdrehungen zu verstehen, als deren Meister hier eine gewisser Timothy Wronghead, Esq. auftritt: Im Sog seines nominalistischen NonsenseDiskurses verlieren auch die am intensivsten mit Bedeutung getränkten Worte, und dazu gehören vor allem die traditionellen Standesbezeichnungen, jeden Schein eines substantiellen, intrinsischen Werts: He [Timothy Wronghead, Esq.] will wrest ye many Meanings from an absolute Nothing, and argue upon the Words Meaning and No-Meaning so long, ’till he brings them back again to the Centre of his Understanding, which is Nothing: And just so he has done by the Words Nobleman, and Person of Quality, as I made him confess after his Harangue was ended; for he very frankly told me, that he neither knew nor meant any thing by either of the Words, and only bang’d them and other Words to and fro for his Pleasure, as School-Boys do their Shuttlecocks.58

Dialektik der Stilkritik Die konservative Kulturkritik des frühen 18. Jahrhunderts hatte demnach nicht ganz unrecht, wenn sie die durch Grub Street eingeführte lockere Schreibweise, insbesondere die Neigung zu nominalistischen Wortspielen, zur Ausbeutung 56  Cacafuego: Spitzname der spanischen Galleone »Nuestra Señora de la Concepción«, die 1579 von Sir Francis Drake gekapert wurde. 57  Ebd., S. 20. 58  Ebd., S. 11 – 12.

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von Homonymien, zu metonymischen Assoziationen und metaphorischen Vertauschungen, mit Misstrauen beobachtete. Das Problem dieser Kritik war, dass sie, bei aller Ablehnung, zugleich eng an ihren Gegenstand gebunden war. Wenn Grub Street eine parasitäre Ökonomie bildete, so war das verbreitete Grub StreetMocking nicht weniger parasitär; es setzte einen Wirt namens Grub Street voraus, auf dessen Kosten es seine Distinktionsgewinne realisieren konnte. Man kann sogar sagen, dass Swift, Pope, Gay und Fielding ihre Position als Klassiker nicht zuletzt der von ihnen gepflegten »mythology of Grub Street« verdankten;59 sie war die Frucht ihrer Bemühungen, sich vom großen Haufen der Lohnschreiber abzusetzen. Popes und Swifts Kampagne zur sozialen und literarischen Abwertung von Grub Street war insofern erfolgreich, als von den beiden heute immer noch zu hören ist, während sich bisher niemand zu einer Verteidigung des Hack-Writers als Held der modernen Literatur aufgeschwungen hat. In einer anderen Hinsicht hat jedoch Grub Street den Sieg davongetragen. Auch wenn die seriösen Literaten sich entrüstet von der ›nominalistischen‹ Schreibweise der Grubeans abwandten, so konnten sie sich doch dem Charme des Nonsense und der Beschimpfung nicht entziehen. Die Autoren des Grub Street Journal hatten, trotz der demonstrativen Missbilligung, ein sichtbares Vergnügen an den Ausdrucksweisen von Grub Street und liebten es, ihre holprigen Knittelverse zu imitieren: And here it need not be repeated How those two Rogues have been Grub-streeted.60 And if I bring not Proof of this I’ll never more in Grub-street piss.61

Auch der Kult der ordinären Beschimpfung scheint eine große Anziehungskraft ausgeübt zu haben; jedenfalls präsentierte das Grub Street Journal mit großem Genuss die schönsten Beleidigungen: A little Writer – a Candidate for our Society – This extraordinary Gentleman not worth my Notice – Monsters – wretched Scriblers – Our Monster – small Understanding – This Creature – Profligate Witling – who has a mighty Mind to do Mischief […] A Monster […] An empty impudent Novelist – deserves the worst Appellations Language can furnish – What Names can be too bad for him? Traytors to God – Little Insects – Despicable odious Vermin […] very wicked, ignorant, and

59  Kathy MacDermott, »Literature and the Grub Street myth«, Literature and History, N° 8,2, 1982, 159 – 169, S. 159. 60  Elias Bockett, The annotations of the Grub-Street society on Mr. Bowman’s sermon, in a letter from Parson Orthodox to Mother Bavius, London, 1731, S. 16. 61  Ebd., S. 15 – 16.

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impudent – Wretch! – Idiot – Worthless Tool – Rogue – Fool – ***Stuff – wicked and pernicious, stupid and illiterate – Trash and Trumpery – bitterest Gall and Venom […].62

Die klassizistische Position definierte sich auf diese Weise weniger durch ihren positiven Bezug auf die ›Klassik‹ als durch eine ständige Abarbeitung an den modernistischen Norm-Abweichungen. Wie nicht zuletzt die gewählten Pseudonyme, die Namen ihrer Vereinigungen und die Titel ihrer Arbeiten zeigen, haben Autoren wie Pope, Swift, Arbuthnoth, Gay und Fielding ihr Profil durch die satirische Distanzierung von Grub Street gewonnen. Die Abgrenzung hat jedoch nicht verhindert, dass sie selbst von dem ›niedrigen‹ Stil‹ und der ›gemeinen‹ Ausdrucksweise der Hack-Writer fasziniert waren; dass sie selbst, wie es das Grub Street Journal so schön sagt, »Grub-streeted« wurden.63

»One of the suburbian Class« In dem Kampf der klassizistischen Snobs gegen die Emporkömmlinge von Grub Street spielte der Klassenbegriff eine untergeordnete Rolle; wenn er eingesetzt wurde, dann im Sinn eines verächtlichen ›Classings‹, durch das den Hack-Writern bedeutet wurde, dass sie sich in jeder Hinsicht – ökonomisch, literarisch, moralisch – in der untersten Klasse befanden. Das Wort ›Klasse‹ war hier, wie auch in den ironischen Klassifizierungsspielen des Tatler und Spectator, definitiv kein Instrument der positiven Selbstbeschreibung; jemanden in eine Klasse zu setzen, hieß ganz schlicht, ihn herabzusetzen und zu beleidigen – ganz im Sinn des griechischen kategoresthai als einer öffentlichen, demütigenden Anklage.64 Doch neigt der Trotz der Beleidigten dazu, die Fremdkategorisierung in eine Selbstzuschreibung zu verwandeln, sie zu einem Wappen des eigenen Kampfes zu machen. Allgemein geht man davon aus, dass der Klassenbegriff erst gegen Ende

62  Ebd., S. VII . 63  Dies lässt sich insbesondre an Pope demonstrieren, aus dessen Anti-Grub-Street-Satire

The Dunciad eine deutliche »quality of complicity« hervorleuchtet: Die »absorption of ›base‹ matter« wird hier mit deutlichem Vergnügen und »undiluted frivolity« betrieben. Emrys Jones, »Pope and dulness. Read 13 November 1968«, Proceedings of the British Academy, N° Volume 54, 1970, 231 – 263, S. 255 – 257. 64  Vgl. Bourdieu, »Sozialer Raum und ›Klassen‹«, S. 19: »Nicht zufällig bedeutet kategoresthai – von dem sich unsere Begriffe »Kategorie« und »Kategorem« herleiten –: öffentlich anklagen.« Vgl. a. ders., Die feinen Unterschiede, S. 741: Noch sichtbarer wird dies an den ›Zuschreibungen‹ – faktische Anklagen, Kategorien im ursprünglichen Sinn –, die analog dem Schimpfwort (›Du bist bloß ein …‹) nur eine konstitutive Eigenschaft der sozialen Identität einer Person oder Gruppe kennen wollen – im konvertierten Juden oder verheirateten Homosexuellen lediglich den versteckten oder verschämten, gleichsam also verdoppelten Juden oder Homosexuellen.«

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18. Jahrhunderts, in der »Atmosphäre der Revolution«,65 im Sinne einer positiven Identifizierung, eines ›Klassenbewusstseins‹ verwendet worden sei. Erste Zeichen einer Umwendung des Klassenbegriffs, seiner Transformation von einem Werkzeug der klassifizierenden Einordnung und herablassenden Beurteilung in eine stolze Selbstzuschreibung, lassen sich jedoch schon früher finden, nämlich bei dem schon erwähnten Satiriker Tom Brown,66 der unzweifelhaft dem Universum von Grub Street zuzurechnen war. Der Verleger John Dunton charakterisiert ihn als »a good Scholar«, der mit »a noble genius« begabt sei und dessen Gedichte »very beautiful and fine« geschrieben seien. Leider erlaube ihm »the urgency of his circumstances« nicht, sein Talent zu entfalten; zudem müsse bemerkt werden, »that his Morals are wretchedly out of order«. So verschwende er seine Zeit damit, »a few romantic Letters« zu schreiben, die nur darauf angelegt seien, »to debauch the Age, and overthrow the foundations of Religion and Virtue«.67 Tom Brown, der den Klassenbegriff in seinen Amusements serious and comical (1700) ironisch zur Unterscheidung verschiedener ›Typen‹ von »Ladies« eingesetzt hatte, bewies an sich selbst, dass sich die Verwendung des Begriffs nicht auf die herablassende Sortierung anderer beschränken musste. In der zweiten Auflage seiner Amusements (1702) schiebt er im Vorwort eine Erklärung ein, warum das Buch keine Widmung enthalte. Dies habe nichts mit einem Mangel an »Panegyrick« zu tun oder dass er den »Knack of dignifying and distinguishing Such as do not deserve it« nicht mehr beherrsche.68 Vielmehr seien aus verschiedenen Gründen alle früheren Patronage-Beziehungen in die Brücke gegangen, sodass er künftig darauf verzichten werde, Komplimente über das Leben derer zu machen, die ihn und andere »Men of my profession« nicht für »worth living« befänden.69 In diesem Zusammenhang rechnet sich Brown selbst ausdrücklich einer »Klasse« zu, nämlich jener der Vorstadtliteraten, die, ohne das Wohlwollen eines adligen Gönners zu genießen, auf die Marktverwertung ihrer Fähigkeiten angewiesen sind: However I am one of the first of the suburbian Class, that has ventur’d out with an Amusement of this Bulk, without making application to a Noblemans Porter […].70

Browns Äußerung kann wohl als die erste im Druck erschienene Bekundung von ›Klassenbewusstsein‹ gelten. Auch wenn sie beiläufig und ironisch geschieht, drückt sich darin etwas Neues aus: ein Zugehörigkeitsgefühl, das sich nicht mehr

Herrnstadt, Die Entdeckung der Klassen, S. 126. S. o., Kap. 16, Abschnitt »Tom Browns Amusements«. Dunton, »The Life and Errors of John Dunton«, S. 179 Thomas Brown, Amusements serious and comical, calculated for the meridian of London. The 2d. edition, with large improvements, London, 1702, S. 8. 69  Ebd., S. 8. 70  Ebd., S. 9. 65  66  67  68 

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auf die Sicherheit einer Standesposition, sondern auf die Gemeinsamkeit einer prekären ökonomischen Lage gründet. Als literarischer Selbstunternehmer hatte Brown ein gutes Gespür für das Funktionieren der neuen, kapitalistischen Ökonomie, die in seinen Schriften unter dem Namen »Trade« firmiert. In seinen Amusements spottet er über die neue merkantile Klasse und ihr »mystery of Trade«: »A Term unintelligible to Foreigners, and that none truly understand the Meaning of, but those that practice it.« 71 Zugleich lässt er seinen indianischen Weggefährten (der offenbar als Fachmann für Idolatrie betrachtet wird) eine Art Fetischkritik der Wertvergesellschaftung formulieren: What cannot you be content, says our Indian, cannot you be content to Idolize Riches that are useful to you? Must you likewise Idolize the Rich, who will never do you a Farthings-worth of Kindness?72

Sehr genau zeichnet Brown nach, wie sich in der gesellschaftlichen Wahrnehmung der Reichtum als allein ausschlaggebendes Differenzkriterium durchsetzt; alle anderen Unterschiede werden von der Beurteilung nach dem Geldwert überlagert oder außer Kraft gesetzt. So berichtet er von einer gesellschaftlichen Veranstaltung, einem »City circle«, in dem »all sorts of persons« verkehren und in dem »great Liberty« herrscht. In dieser gemischten Runde spielen die Unterschiede des Standes keine Rolle mehr; doch ist zu sehen, wie sich hier ein neuer Mechanismus der Unterscheidung durchsetzt, der nicht weniger machtvolle Formen der Anziehung und der Abstandnahme nach sich zieht als das alte System der hierarchischen Unterordnung. Verwundert bemerkt Browns »indian«, wie sich allmählich immer mehr Gäste um einen reichen Stutzer versammeln, während umgekehrt ein vernünftiger Redner geschnitten wird, sobald er als arm erkannt wird: I observe, the Company Files off from him by degrees, to another part of the Room, and now he is lest alone by himself. Wherefore say I to my self, Do they shun him thus? Is his Breath Contagious, or has he a Plague-Sore running upon him?73

An anderer Stelle präpariert Brown noch deutlicher heraus, wo im London von 1700 die neue gesellschaftliche Scheidelinie verläuft. In einem von ihm inszenierten Rededuell trifft ein arroganter Reicher, der »Conde de la Titulado«, auf

71  Brown, Amusements serious and comical, calculated for the meridian of London, S. 24. 72  Ebd., S. 146. 73  Ebd.

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einen empörten Armen, der als »a Poor Poet, without a Name« vorgestellt wird.74 Erneut kommt hier der Klassenbegriff ins Spiel. An Fortuna, die Göttin des Schicksals, gerichtet, erklärt der Reiche: »Glory, Wealth and Power, have always been by you as the inferiour Classes of Men made for our life and Pleasure«.75 In einer Weise, die an Mandevilles These vom Nutzen des Luxus und der Laster erinnert, erklärt der Reiche, dass Fortuna auf keinen Fall die Bevorzugung der Reichen beenden und den Armen Gerechtigkeit widerfahren lassen dürfe. Damit würde sie nur sich selber schaden, »for in that Sentence you pronounce your own Doom, and are your Self involved in our Ruin«.76 Auf diese zynische Rechtfertigung der Ungleichheit antwortet der arme Poet mit einer vehementen Verurteilung der lasterhaften Reichen (»The whole Oeconomy of their Brain is corrupted« 77) und einem leidenschaftlichen Plädoyer für die Machtübernahme der tugendhaften Armen: »From all these Examples it is plain, that those, who are Bred in Poverty, and have a thorough Acquaintance with it, are the fittest to come into Power […].« 78 Natürlich ließe sich einwenden, dass es sich hier, bei dieser rhetorischen battle zwischen Arm und Reich, nur um ein Spiel handele. Es handelt sich aber um ein neues Spiel, das sich von den geschmäcklerischen Sortierübungen der polite society und den Rangstreitigkeiten der Literaten ein gutes Stück entfernt hat. Während es dort nur darum ging, innerhalb einer vorgegebenen Ordnung die Plätze zu verteilen oder zu verteidigen, wird hier die Möglichkeit sichtbar, dass ein Teilungsbegriff eingesetzt wird, um die Weise der Einteilung selbst anzugreifen. Zumindest für einen Moment wird damit ein Klassenkampf denkbar, bei dem es nicht einfach um die Eroberung einer vorteilhafteren Position geht, sondern um die Infragestellung des gesamten Systems der ungleichen Verteilung.

74  Thomas Brown, »A Declamation against Wealth and Quality, in Praise of Poverty. By

a Poor Poet, without a Name«, in: Thomas Brown, The works of Mr. Thomas Brown. Serious, moral, comical, and satyrical, in four volumes, vol. 1, London, 1712, 112 – 135, S.112. 75  Thomas Brown, »A Declamation in Praise of Hereditary Quality and Wealth. Spoken by the Conde de la Titulado«, in: Thomas Brown, The works of Mr. Thomas Brown. Serious, moral, comical, and satyrical, in four volumes, vol. 1, London, 1712, 106 – 111, S. 110 – 111. 76  Ebd., S. 111. 77  Brown, »A Declamation against Wealth and Quality, in Praise of Poverty«, S. 123. 78  Ebd., S. 135.

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DRITTER TEIL

SCHLUSS

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21.

ANKUNFT IN DER KLASSENGESELLSCHAFT In den vorangegangenen Kapiteln ging es um die Entstehung der modernen Klassengesellschaft; ihre allmähliche Zusammensetzung wurde in einzelnen Szenen oder Episoden nachvollzogen. Es wurde gezeigt, wie das antike Prinzip der gesellschaftlichen Klassenteilung im sozialreformerischen Diskurs der Englischen Revolution eine historische Wiedererweckung erfuhr,1 wie der naturwissenschaftliche Imperativ der Zählung und Klassifizierung im Rahmen der Politischen Arithmetik auf die Tatsachen des Sozialen übertragen wurde,2 wie sich unter dem Druck der quantitativen Bewertung die gesellschaftliche Wahrnehmung von Ähnlichkeit und Unterschied verschob,3 und wie schließlich durch die ›Massenmedien‹ des 17. und frühen 18. Jahrhunderts – Pamphlete, Kaffeehäuser, Clubs, Zeitungen und Zeitschriften – die Klassifizierung von Menschen zu einem lustvoll betriebenen Gesellschaftsspiel wurde.4 Die Kapitel zu Mandeville, Defoe und Swift sollten vorführen, wie aus den modischen Diskursen der Klassifikation die durchaus ernste Idee einer ökonomisch determinierten gesellschaftlichen Klassenteilung hervorging.5 Der zuletzt gegebenen Schilderung der ›poetischen Schlachten‹ des frühen 18. Jahrhunderts ließ sich entnehmen, dass es auch an der polemischen Besetzung der neuen Klassendifferenzen nicht fehlte; die literarischen Auseinandersetzungen zwischen klassizistischen Gentlemen-Autoren und deklassierten Hack-Schreibern können so als eine Art Fingerübung für spätere Klassenkämpfe betrachtet werden. Dieser Serie von Entstehungsmomenten der Klassengesellschaft ließen sich zweifellos noch andere Bausteine, aus früheren oder späteren Zeiten, hinzufügen. An dieser Stelle soll jedoch versuchsweise ein Schnitt gemacht und der Prozess der historischen Zusammensetzung für beendet erklärt werden. Spätestens zur Mitte des 18. Jahrhunderts, so wird hier angenommen, haben sich die Prozesse der Klassifizierung und Klassenteilung gegenüber den ständischen und grundherrschaftlichen Prinzipien so weit durchgesetzt, dass eine Rückkehr zur alten Ordnung nicht mehr möglich ist. England kann seitdem als Klassengesellschaft bezeichnet werden. Im Folgenden wird diese These zu erhärten sein; darüber hin­ aus soll geklärt werden, was ein solcher Sieg der Klassengesellschaft zu bedeuten hat. Ist das Ständesystem damit verschwunden; ist, wie es bei Marx und Engels heißt, »[a]lles Ständische und Stehende verdampft«?6 Und wenn, wie anzunehmen 1  2  3  4  5  6 

S. o., Kap. 9. S. o., Kap. 10 bis 12. S. o., Kap. 13 und 14. S. o., Kap. 15 und 16. S. o., Kap. 17 bis 19. Marx u. Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, S. 465.

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ist, der Systemwandel weniger dramatisch in Erscheinung trat, woran konnte man ihn erkennen? Was unterschied die Klassenteilung von der ständischen Hierarchie? Welche Art der Wahrnehmung und welche Auffassung der sozialen Stellung ergaben sich aus der neuen Art der Teilung?

Dominanz der Klassenform Natürlich geschah der Übergang von der Standes- zur Klassengesellschaft nicht über Nacht, und es handelte sich auch nicht um einen vollständigen Umbruch. Wie Max Weber betont hat, bilden Stand und Klasse zwei Achsen der gesellschaftlichen Differenzierung, die quer zueinander liegen und daher auch nicht unmittelbar gegeneinander ausgetauscht werden können. Die »Klassenlage« ist nach Weber durch »ökonomische Interessen« definiert und »an die Existenz des ›Markts‹« gebunden;7 sie ist wesentlich »Marktlage«.8 Die »ständische Lage« ist dagegen durch das Kriterium der »Ehre« bestimmt; sie findet ihren Ausdruck nicht im Maß des Besitzes, sondern in der spezifischen »Einschätzung der ›Ehre‹«, die sich ein »Kreis« von Personen im Unterschied zu andern zumisst.9 Kriterien der Marktbewertung und damit Klassenlagen gab es schon in frühneuzeitlichen Gesellschaften; umgekehrt überleben in der Moderne zahlreiche Momente der ständischen Differenzierung. Max Weber weist darauf hin, dass die (durch das Vermögen bestimmte) »Klassenlage eines Offiziers, Beamten, Studenten […] ungemein verschieden sein« kann; dies ändert jedoch nichts an der ständischen Lage, »da die Art der durch Erziehung geschaffenen Lebensführung in den ständisch entscheidenden Punkten die gleiche ist«.10 Heute sind die ständischen Privilegien weniger zentral als zu Max Webers Zeiten; dennoch gibt es immer noch zahlreiche berufliche, religiöse oder kulturelle Zusammenhänge, in denen nicht ökonomisches, sondern symbolisches Kapital (›Prestige‹) die Verhältnisse der Über- und Unterordnung bestimmt, in denen der gesellschaftliche Verkehr auf einen engen Kreis eingeengt ist, und in denen die »Zumutung einer spezifisch gearteten Lebensführung« herrscht.11 Auch wenn auf diese Weise die ökonomischen Bestimmungen stets mit anderen, ständischen Festlegungen interferieren, so lassen sich Gesellschaften, Max Weber zufolge, doch danach unterscheiden, welche der beiden Differenzierungsweisen in ihnen dominiert: »›Ständisch‹ soll eine Gesellschaft heißen, wenn die soziale Gliederung vorzugsweise nach Ständen, ›klassenmäßig‹, wenn sie vorzugsweise nach Klassen geschieht.« 12 Es geht also nicht um die Alleinherrschaft 7  Weber, Wirtschaft und Gesellschaft, S. 680. 8  Ebd. 9  Ebd., S. 683. 10  Ebd., S. 226. 11  Ebd., S. 684. 12  Ebd., S. 227.

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eines Prinzips, sondern um seinen relativen Vorrang gegenüber dem anderen. Was lässt sich in dieser Hinsicht über die englische Situation sagen, zur Mitte des 18. Jahrhunderts? Das Bild ist zunächst alles andere als eindeutig. Eher hat man es mit einer Kippfigur zu tun: Je nachdem, wie man die englische Gesellschaft dieser Zeit betrachtet, erscheint sie entweder als eine durch und durch traditionelle Gesellschaft, in der Phänomene der Ökonomisierung und Klassenspaltung erst vereinzelt aufzutreten beginnen, oder aber als eine weitgehend verwirklichte Klassengesellschaft, die lediglich aus Gründen der sozialen Befriedung den Anschein einer ständischen Ordnung aufrechterhält. Die meisten Zeitgenossen hätten sich wohl der ersten Sicht angeschlossen und ihre Mitmenschen, wie gewohnt, nach Ständen, Rängen oder Würden unterschieden, wenn sie nicht bei anderen, noch älteren Vorstellungen Zuflucht gesucht hätten, wonach die Welt in Stämme, Clans oder Familien geteilt war. Als soziologisch hellsichtiger erscheint jedoch die zweite Perspektive. Auch wenn sie die Situation ganz unterschiedlich bewerteten, stimmten bereits Mandeville, Defoe und Swift in ihrer Analyse überein: Entgegen dem feudalen Anschein herrschte im England des frühen 18. Jahrhunderts längst das Geld; über die soziale Stellung entschied der Reichtum und nicht das Ansehen; das wesentliche Kriterium der sozialen Einteilung war die Klasse und nicht der Stand. Spätere marxistische Historiker hatten mit einer Beschreibung des ›WalpoleEngland‹ als Klassengesellschaft naturgemäß kein Problem; sie hätten sie wohl auch schon für die Cromwell’sche Zeit gelten lassen. Größerer Widerstand war eher von jenen Historikern der Frühen Neuzeit zu erwarten, die vehement darauf beharrten, dass Ständeordnung und Klassenordnung nichts miteinander gemein hätten und dass daher zwischen dem ›alten Europa‹ und der kapitalistischen Moderne ein metaphysischer Abgrund klaffe. Doch auch Roland Mousnier, der wichtigste Verfechter der These von der gänzlichen Andersartigkeit der ›sociétés d’ordres‹,13 stimmte der Idee zu, dass der Systemwechsel relativ früh zu datieren sei. Anders als allgemein angenommen werde, stelle die Französische Revolution nicht das entscheidende Ereignis dar; der Übergang von der Standeshierarchie zur Klassenteilung sei vielmehr zur Mitte des 18. Jahrhunderts bereits vollzogen gewesen: Von 1750 an war Frankreich meiner Ansicht nach nicht mehr eine Ständegesellschaft, sondern bereits eine Klassengesellschaft. Und wie Sie soeben ganz richtig sagten, hat die Französische Revolution die gesetzlichen Masken, die juridischen Strukturen weggeblasen, aber die Revolution war schon vor der sozialen Revolution vollzogen, die Tat war schon vollbracht.14 13  Zu Mousnier und den Theorien der hierarchischen Gesellschaft, s. o., Kap. 7, Abschnitt

»Fremdheit und Vertrautheit«.

14  Mousnier, Soboul u. Labrousse, »Description and measurement in social history«, S. 152.

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Wenn das absolutistisch regierte Frankreich des Jahres 1750 auf diese Weise als Klassengesellschaft bezeichnet werden kann, so lässt sich dies mit noch größerer Plausibilität für das politisch und ökonomisch liberalere England behaupten. Die englische Gesellschaft dieser Zeit beginnt, nach den Regeln der Klassenteilung zu funktionieren – auch wenn sie davon noch nichts weiß, und auch wenn die ›Mittelklasse‹, die damit an Macht gewinnt, noch kein umfassendes ›Klassenbewusstsein‹ entwickelt hat. Es ist nicht allein die zunehmend selbstverständliche Verwendung des Begriffs ›Klasse‹, an der sich die untergründige Machtergreifung des Klassenprinzips ablesen lässt. Wie der Literaturwissenschaftler Michael McKeon in seinem Buch über die Ursprünge des englischen Romans bemerkt hat, reicht die »einfache Abstraktion« der Klasse nicht aus, um eine Klassengesellschaft zu begründen; damit die Klasse konkrete geschichtliche Wirksamkeit gewinnen kann, muss noch eine »entsprechende Emergenz auf der Ebene der materiellen Aktivität« hinzukommen.15 Durch die Vervielfältigung materieller Einteilungs-Praktiken, wie sie in diesem Buch geschildert wurden, hört die Klassenteilung auf, lediglich eine Denkmöglichkeit darzustellen; sie wird zu einer täglich wiederholten Übung, zu einer im Alltag intuitiv gewählten Unterscheidung, die gegenüber den allmählich verblassenden Standesunterscheidungen immer mehr an Bedeutung gewinnt. Wie McKeon ergänzt, heißt dies nicht, »dass das Ansehen des Status ausgelöscht wird, sondern dass es unter die dominantere und nachdrücklichere Schätzung des finanziellen Einkommens und der beruflichen Identität subsumiert und dieser angepasst wird«.16 Wenn man also für die Mitte des 18. Jahrhunderts von einem ersten Sieg der Klassengesellschaft sprechen will, so muss man hinzufügen, dass es sich um keine vollständige Überwindung der alten Gesellschaft handelt. Ältere Differenzierungen wie die Einteilung in Familien oder die Ordnung nach Ständen werden dem neuen, abstrakten Raster der ökonomischen Klassifizierung untergeordnet, sie verschwinden deswegen aber nicht und können sich in lokalen Kontexten mit großer Zähigkeit erhalten. Insgesamt handelt es sich jedoch um eine unumkehrbare Veränderung. Wie dieses Buch gezeigt hat, bedarf es einiger Anstrengungen, um in einer ständischen Ordnung das abstrakte Prinzip der Klassifizierung durchzusetzen; umgekehrt scheint es kaum möglich zu sein, eine Gesellschaft, die einmal die Früchte der quantitativen, klassifizierenden Beurteilung gekostet hat, wieder in eine ›hierarchische‹ Ordnung der Abstände zurückverwandeln.17 15  Zu McKeons Verwendung des Marx’schen Begriffs der »einfachen Abstraktion«, vgl.

McKeon, The origins of the English novel, 1600 – 1740, S. 17 – 19.

16  Ebd., S. 163. 17  Das zeigt sich nicht zuletzt an den hilflosen Versuchen des völkischen oder religiösen

Faschismus, dem abstrakten Modus der Marktvergesellschaftung zu entkommen und zu ›organischen‹, lokalen, ›charismatischen‹ Bindungsformen zurückzukehren. In der Praxis läuft dies auf eine umso rigidere Ordnung der bürokratischen Klassifizierung und Menschensortierung hinaus, die sich lediglich den Anschein eines gemeinschaftlichen, ›klassenlosen‹ Zusammensein gibt.

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Woran erkennt man eine Klassenordnung? Die Klassengesellschaft, die sich im 18. Jahrhundert zu formieren beginnt, ist offenbar noch nicht die Klassengesellschaft, von der der Marxismus sprechen wird. Wie im Einleitungsteil erwähnt wurde,18 hat Marx selbst scharf zwischen der ›unreifen‹ Klassenbildung der Manufakturperiode und der ›entwickelten‹ Klassenbildung der Fabrikgesellschaft unterschieden. Während die spätere, industrielle Klassengesellschaft durch eine scharfe Polarisierung zwischen Proletariat und Kapitalistenklasse gekennzeichnet ist, kennt die frühneuzeitliche Klassengesellschaft eher eine »trichotomische oder pluralistische Gliederung«,19 die zudem noch weitgehend im Fluss ist und nach wechselnden Kriterien umgeordnet werden kann. Für die spätere Klassengesellschaft ist entscheidend, dass sich zwei Parteien dichotomisch gegenüberstehen; für die frühe Klassengesellschaft ist ausschlaggebend, dass überhaupt in Klassen geteilt wird, dass die gesellschaftliche Ordnung nicht als etwas unverrückbar Gegebenes, sondern als Resultat einer klassifikatorischen Einteilung – und damit als veränderlich – betrachtet wird. Wenn man von einer Klassengesellschaft des 18. Jahrhunderts sprechen kann, so nicht deshalb, weil sie so sehr dem Bild der späteren, industriellen Klassengesellschaft ähneln würde, sondern weil sich ihre Ordnung effektiv von der vorausgehenden Ordnung der Stände unterscheidet, weil sich mit ihr ein neues Prinzip der gesellschaftlichen Gliederung durchzusetzen beginnt. Die Klassengesellschaft macht nicht nur andere Unterschiede als die Ständegesellschaft, sie macht diese Unterschiede auch anders. Dies wurde in diesem Buch schon mehrfach angedeutet;20 abschließend soll der Unterschied der Unterscheidungsweisen jedoch noch einmal genauer konturiert werden. Die Hierarchie der Stände beruht nicht auf einem übergeordneten Einteilungsprinzip, das unterschiedslos auf alle Mitglieder einer Gesellschaft angewendet werden könnte. Die Verteilung der Subjekte folgt nicht einem abstrakten, quantitativen Kriterium; sie vollzieht sich nach Maßgabe eines lokalen Orientierungssinns, eines gleichsam intuitiven Gespürs für den ›angemessenen Platz‹ und den ›richtigen Abstand‹. Bestimmend für die Aufrechterhaltung der ständischen Ordnung ist nicht die objektive Wertzumessung, sondern das subjektive Gespür für die Einfügung in eine soziale Umgebung, die Einordung in einen Raum längst festgelegter intersubjektiver Beziehungen. Wie die Historikerin Fanny Cosandey hervorhebt, ist »die hierarchische Logik im Wesentlichen lokal«;21 sie konkretisiert sich auf individueller Ebene durch »die Eigenschaft der Nachbarschaft, d. h.

18  19  20  21 

S. o., Kap. 1, Abschnitt« Klassenteilung und Klassengesellschaft«. Mauke, Die Klassentheorie von Marx und Engels, S. 26. Vgl. z. B. Kap. 13, Abschnitt »Von der Ähnlichkeit zum Unterschied«. Cosandey, »À propos des catégories sociales de l’Ancien Régime«, S. 31.

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durch unmittelbare Nähe«.22 Sie lässt sich daher auch nicht durch allgemeine, ortsübergreifende Vergleiche erschließen, sondern nur ›vor Ort‹ beobachten, anhand einzelner »ordnungserzeugender Situationen«.23 In einem Aufsatz, der dem »classificatory knowledge« der Wissenschaften ein in lokalen Praktiken erworbenes »storied knowledge« entgegensetzt, hat der Sozialanthropologe Tim Ingold eine interessante begriffliche Unterscheidung ins Spiel gebracht. Ingold, der sich dabei auf die Terminologie des Quantenphysikers David Bohm bezieht, schlägt vor, das in Klassifikationen festgehaltene Wissen als »explicate order« zu begreifen, das in Erzählungen kondensierte Wissen dagegen als »implicate order«: Die Welt der Klassifikation ist das, was Bohm eine explizite Ordnung nennen würde, in der jedes Ding das ist, was es aufgrund seiner eigenen gegebenen Natur ist, und nur durch einen äußeren Kontakt, der diese Natur unberührt lässt, mit anderen Dingen verbunden ist. […] Die Welt der Geschichten [storied world] dagegen ist eine implizite Ordnung im Sinne Bohms. Es ist eine Welt der Bewegung und des Werdens, in der jedes Ding – wenn es an einem bestimmten Ort und zu einem bestimmten Zeitpunkt beobachtet wird – in seiner Konstitution die ganze Geschichte der Beziehungen entfaltet, die es dorthin gebracht haben. In einer solchen Welt können wir das Wesen der Dinge nur verstehen, wenn wir uns um ihre Beziehungen kümmern, oder mit anderen Worten, wenn wir ihre Geschichten erzählen.24

So wie die Begriffe der expliziten und der impliziten Ordnung bei Ingold den Unterschied zwischen lokalem, erzählerischem und universalem, klassifikatorischem Wissen markieren, so können sie auch dazu beitragen, den Unterschied zwischen den Ordnungen der Standes- und der Klassengesellschaft zu beleuchten. Stand erschiene dann geradezu als Musterbeispiel einer »implicate order«: als eine ›eingefaltete‹,25 wesentlich durch lokale Beziehungen und Auseinandersetzungen bestimmte, in Nachbarschaftskämpfen bestätigte und durch Geschichten überlieferte Ordnung. In dieser Konfiguration ist die gesellschaftliche Hierarchie nicht von den Elementen und ihren Beziehungen ablösbar; sie geht ihnen nicht voraus, sondern bildet gleichsam das Sediment ihrer langen und verwickelten Geschichte. Klasse stünde dagegen für den Versuch, eine »explicate order« durchzusetzen, 22  Cosandey, Le rang, S. 461. 23  Cosandey, »À propos des catégories sociales de l’Ancien Régime«, S. 31. Für eine solche

situierte Analyse, s. o., Kap. 13, Abschnitt »Die Ordnung der Prozession«. 24  Tim Ingold, »Stories against classification. Transport, wayfaring and the integration of knowledge«, in: ders., Being alive. Essays on movement, knowledge and description, London, New York, 2011, 156 – 164, S. 160 25  Bohm selbst bezeichnet die »implicate order« auch als »enfolded order«, die »explicate order« als »unfolded order«, vgl. David Bohm, Wholeness and the implicate order (1980), London, 2002, S. xviii.

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eine Ordnung, die nicht auf ›impliziten‹ Einschätzungen von Macht und Ehre beruht, sondern das Soziale nach den ›expliziten‹ Kriterien der quantitativen Analyse neu zu erfassen versucht. In einer ständischen Ordnung ist die Festlegung der sozialen Position etwas, das buchstäblich an Ort und Stelle, in einer bestimmten, räumlich definierten Situation geschieht; mit der Klassifikation nach abzählbaren Merkmalen und messbaren Größen bietet sich dagegen die Möglichkeit, soziale Lagen ohne Rücksicht auf historisch gewordene Loyalitäten und unabhängig von den lokalen Verhältnissen zu definieren und zu vergleichen. Der wohl wichtigste Aspekt des Übergangs von einer impliziten zu einer expliziten Ordnung betrifft die sich daraus ergebende neue Auffassung des sozialen Orts und der sozialen Abstände. In der Ständegesellschaft gab es eine rigide Festlegung der Positionen, die jedoch nicht auf eindeutigen Definitionen, sondern eher auf unausgesprochenen Verpflichtungen beruhte. Dagegen stellt die Klassifikation ein abstraktes, objektives Raster dar, das sich durch unmissverständliche, durch Zählung und Messung bestimmte Zuordnungen auszeichnete. Im Unterschied zur ständischen Gliederung war mit der klassifikatorischen Einteilung jedoch nicht die Idee einer dauerhaften Verortung oder einer gleichbleibenden Ordnung verbunden. Wenn Defoe forderte: »[M]ankind must be sorted into classes«,26 dann war damit nicht gemeint, dass die einzelnen Individuen ein für alle Mal in eine bestimmte Klasse gesteckt werden sollten; der Reiz der Klassifizierung bestand gerade darin, dass im Hinblick auf wechselnde Ziele jeweils ganz unterschiedliche Kriterien angelegt und ganz unterschiedliche Klassen gebildet werden konnten. Die Flexibilität des Verfahrens machte es möglich, die Menschen für Steuerschätzungen nach Besitz und Einkommen, für militärische Aushebungen nach Größe und Familienstand oder für Lebensversicherungen nach »Age and Constitution of their Bodies« zu sortieren.27 Im Vergleich zur Ständegesellschaft, in der die Ordnungsweise unlösbar mit den Beziehungen der einzelnen Elemente verbunden war, konnte die klassifikatorische Einteilung als ›gerechter‹ erscheinen: Sie präsentierte sich als ein gleichsam von außen kommendes Bewertungsverfahren, das nicht in Komplizenschaft mit dem ständischen Abhängigkeitssystem stand und allein dem Geist wissenschaftlicher Neutralität und Objektivität verpflichtet zu sein schien. Doch sollte man nicht glauben, dass die Klassenordnung deshalb weniger anfechtbar war. Das Gegenteil war der Fall. Gerade weil die Kriterien der Beurteilung transparent waren, fiel die Willkürlichkeit der Einteilung umso deutlicher ins Auge. Wie John Locke gegen Ende des 17. Jahrhunderts zugestand, hatten die menschlichen Tätigkeiten des »Sorting and Classing« ihren Grund in der Natur, d. h. in wirklich vorzufindenden Ähnlichkeiten. Er fügte jedoch hinzu: »But the sorts or Species themselves are 26  Defoe, An Essay Upon Projects, S. 118. 27  Ebd., S. 118. Zu England als »homeland of insurance« vgl. Hacking, The taming of chance,

S. 16.

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the workmanship of Human Understanding«,28 d. h., auch wenn die Einteilung nicht grundlos geschah, so war die klassifizierende Unterscheidung zwischen den Dingen doch arbiträr, sie konnte auch anders geschehen. Wenn Locke schon in Bezug auf naturwissenschaftliche Einteilungen zu der Auffassung kam, dass »unsere klassifizierenden Allgemeinbegriffe eher ein Produkt von Konventionen und menschlichem Interesse als von Einsicht in die wahre Natur der Dinge sind«,29 dann musste dies umso mehr auf die Klassifizierung des Sozialen zutreffen. Im Unterschied zum Stand war die Klasse von vornherein als nominalistische Konstruktion durchschaubar; entsprechend wurde die Einteilung von Menschen in Klassen, gerade in ihrer Anfangszeit, häufig als ein willkürlicher Akt empfunden, als eine Zuordnung, die auf dem Ermessen und den Maßstäben des Einteilers beruhte. Selbst von einer vollkommen konventionellen, auf Gewohnheit (»Custom«) beruhenden Standeseinteilung konnte nun gesagt werden: »This way of classing Men, we see, is pretty arbitrary«.30 Dass die Klassenteilung als eine willkürliche, von außen auferlegte Unterscheidung begriffen wurde, zeigt sich nicht nur in einem grundsätzlichen Misstrauen gegen die Datenerhebungen der Politischen Arithmetik; es zeigt sich auch in der verbreiteten Praxis, den Mechanismus der Einordnung durch die Manipulation der Daten zu unterlaufen. Aus Frankreich, wo 1695 eine Kopfsteuer zur Finanzierung des Pfälzischen Erbfolgekrieges erlassen worden war, wird berichtet, dass alle Städte und Provinzen versuchten, so wenig wie möglich zu bezahlen und daher andauernd darum kämpften, »to be put into the poorest Classis«. Der gleiche Unterbietungswettbewerb fand unter den einzelnen Steuerzahlern statt: »And ’tis observable, That in Paris the number of Advocates encreases every day, because they are very, moderately Tax’d; and that on the contrary, the number of Marquises diminshes, because they are Tax’d highest, in proportion to others.« 31 Natürlich hatte es auch in der ständischen Ordnung taktische Vortäuschungen eines anderen sozialen Standorts gegeben. Der Unterschied war allerdings, dass sie prinzipiell nicht auf die Untertreibung, sondern auf die Übertreibung des eigenen Status hinausliefen. Zudem waren sie mit mehr Mühe und Gefahren verbunden. Es stellte offenkundig eine größere Herausforderung dar, im lokalen Machtkampf den Platz eines Höhergestellten zu beanspruchen, als die Zuordnung zu einer Steuerklasse zu manipulieren. Mit dem Aufkommen und der Verbreitung klassifikatorischer Techniken ergab sich eine bis dahin unbekannte Leichtigkeit im Umgang mit sozialen Einteilungen und Abgrenzungen. Nicht zuletzt eröffnete sich damit die Möglichkeit, die ge28  John Locke u. John Wynne, An Abridgment of Mr. Locke’s Essay Concerning Humane Understanding, London, 1696, S. 131 29  Roger S. Woolhouse, »Introduction«, in: John Locke, An essay concerning human understanding, hg. v. Roger S. Woolhouse, London, 1997, ix–xxiv, S. xxii. 30  Forbes, 4th Lord Forbes of Pitsligo, »A Short Account of the World«, S. 165 – 166. 31  Anon., »Advice from France«, in: N. N. (Hg.), The Present state of Europe, Vol. VI , London, 1695, 66 – 68, S. 67.

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sellschaftliche Hierarchie, die zuvor als unbezweifelbare Gegebenheit genommen wurde, als etwas Künstliches und Hergestelltes zu begreifen. Im Wechsel der klassifikatorischen Prinzipien wurde Ordnung durchschaubar, sie erwies sich als veränderbar und kritisierbar. So liegt der tiefgreifendste Effekt der Classing-Praktiken von 1700 wohl in der Erfahrung der Kontingenz und Willkürlichkeit der sozialen Einteilungsprinzipien, zugleich aber auch in der Einsicht in ihre Veränderbarkeit.

»Esse est percipi« Anders als die Ständeordnung, die schon im Namen ein Versprechen der Dauerhaftigkeit zu geben schien, verband sich das Paradigma der Klassenteilung von Anfang mit der Idee gesellschaftlicher Mobilität. Von den Ancients, den Konservativen von 1700, wurde es abgelehnt, weil es die angeborenen Unterschiede und Privilegien ignorierte; von den Moderns, den Vertretern des ›Fortschritts‹, wurde es gefeiert, weil es die gesellschaftliche Stellung auf objektive Leistung, auf messbaren Erfolg zu gründen schien. Entsprechend änderten sich auch die ›Displays‹, auf denen die herrschende Ordnung ihre Selbstdarstellung fand. Die ständische Gesellschaft hatte eine Reihe eindrucksvoller Anzeigeinstrumente hervorgebracht, anhand derer sich jeder Untertan von Zeit zu Zeit seiner sozialen Stellung vergewissern konnte: von der Sitzordnung in der Kirche über feierliche Prozessionen und öffentliche Feste bis zum Hofzeremoniell. In allen Fällen handelte es sich um realräumliche Dispositive, die ein unverrückbares Bild der Verhältnisse der Über- und Unterordnung geben sollten, die unmittelbar vor Augen führen sollten, wie die sozialen Abstände und Nachbarschaften organisiert waren. Die weit beweglichere Klassenordnung ließ sich in solchen statischen Anordnungen nicht mehr einfangen. Um in einer sich ständig umstrukturierenden Gesellschaft den Überblick zu behalten, bedurfte es anderer, flexiblerer Instanzen der Sichtbarmachung, an denen tagesaktuell die relativen Werte des Erfolgs oder Misserfolgs, der Zuwachs oder die Abnahme von Macht, Geld und Bedeutung abgelesen werden konnten. Als Modell eines solchen hochempfindlichen und reaktionsschnellen Anzeigeinstruments lässt sich die Börse verstehen. Zwar wurde in der Londoner Exchange Alley nicht unmittelbar die soziale Ordnung Englands ausgehandelt, aber die dort geübte Art der Wertzumessung erwies sich als verallgemeinerungsfähig. Zunehmend wurde auch die gesellschaftliche Stellung so taxiert wie der Wert eines Unternehmens an der Börse. Dies betrifft zunächst die Reduktion auf einen rein quantitativen Wertmaßstab und die Möglichkeit, Geltung in Zahlen auszudrücken: Was an der Börse als ›Wert‹ festgestellt wurde, war nichts anderes als ein rechnerischer Wert, der sich aus zahllosen Prozessen des Kaufens und Verkaufens ergab. Die soziale Stellung konnte nach eben diesem Muster begriffen werden: nicht als ein fester, zugewiesener Ort, sondern als eine veränderliche, quantitative Größe, die ganz von den Marktverhältnissen abhing. Der auffälligste Unterschied zum ständischen

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System der Wertfeststellung lag aber wohl in der Volatilität der Einschätzungen. Anders als in der Welt des ländlichen Grundbesitzes konnten sich an der Börse die Verhältnisse der Über- und Unterlegenheit von einem Tag auf den anderen ändern. Ebenso war die Einordnung in eine soziale Klasse nur eine temporäre Angelegenheit, sie konnte durch die Launen des Marktes jederzeit zunichte gemacht werden.

Abbildung 33: The Bubblers bubbl’d or the Devil take the Hindmost, Kupferstich, London, 1720 (Ausschnitt).

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Wahrscheinlich gibt es keine andere gedankliche Konstruktion aus dieser Zeit, in der sich der neue Geist der flexiblen Wertzumessung deutlicher ausdrücken würde als in dem von George Berkeley entworfenen System des »Immaterialismus«. 1710, im Jahr seiner Priesterweihe, veröffentlichte der damals 25-Jährige seinen Treatise Concerning the Principles of Human Knowledge, in dem er zu zeigen versuchte, dass es keine von der Wahrnehmung unabhängige materielle Realität gibt. Das Sein der Dinge liegt nach Berkeley allein in ihrem WahrgenommenWerden: »Their esse is percipi, nor is it possible they should have any existence, out of the minds or thinking things which perceive them.« 32 Selbstverständlich geht es Berkeley, wenn er auf diese Weise die materielle Gegebenheit der Dinge als eine täuschende Erscheinung entlarvt und auf der Wahrnehmungsabhängigkeit jeder Wirklichkeit beharrt, vor allem um die Bekämpfung des philosophischen Materialismus, der seinerseits Geist, Seele und Gott auf materielle Gegebenheiten zurückführen will. Aber auch wenn Berkeley in erster Linie ein theologisches Argument entfaltet, so gibt er damit doch zugleich das Zeugnis einer bestimmten Veränderung der Wahrnehmung von Wirklichkeit, die sich mit einem heutigen Ausdruck als ›Virtualisierung‹ bezeichnen lässt. Von Kritikern wie Jean-Joseph Goux und George Caffentzis ist diese Tendenz zur Virtualisierung vor allem mit der zu Berkeleys Zeit stattfindenden Revolution der Finanzökonomie in Verbindung gebracht worden, insbesondere mit den veränderten Auffassungen von Geld und Kredit. Goux geht davon aus, dass sich Berkeleys Immaterialismus und Idealismus in strenger Analogie zu seiner Philosophie der Geldzirkulation begreifen lassen: Geld hat selbst keinen substanziellen Wert, sein Charakter ist der eines arbiträren Zeichens.33 Was als Wert des Geldes wahrgenommen wird, ist nichts als ein Effekt seiner Zeichenfunktion. Ökonomisch anregend wirkt Geld nicht aufgrund seiner Substanz, sondern durch seine abstrakte Funktion in einem systematischen Zusammenhang; Kredit und bargeldlose Zahlung sind zu begrüßen, weil sie der finanziellen Transaktion die körperliche Trägheit nehmen.34 Mehr als Goux, der Berkeleys Fetischkritik des Geldes vor allem im Lichte späterer, strukturalistischer Zeichentheorien interpretiert,35 interessiert sich Caffentzis für ihre historischen Entstehungsbedingungen. 32  George Berkeley, »Principles of human knowledge« (1710), in: ders., Principles of human knowledge. And, Three dialogues, hg. v. Howard Robinson, Oxford, New York, 1999, 1 – 95, S. 25. 33  Vgl. Jean-Joseph Goux, Freud, Marx. Ökonomie und Symbolik (1973), Berlin, 1975, S. 203 – 204: »Ganz ohne Zweifel stützt sich […] der philosophische Immaterialismus grundsätzlich und ausdrücklich auf das Schema der Beliebigkeit des Zeichens (im Gegensatz zum Naturzeichen).« 34  Vgl. ebd., S. 203: »Man sieht, Berkeley treibt eine Vorstellung von der Beliebigkeit des Geldinstruments bis zur äußersten Grenze. Schließlich kann das Notengeld selbst verschwinden, vergehen. Das Kontokorrent oder das Bankkonto ist noch abstrakter und ökonomischer.« 35  Vgl. ebd., S. 121: »Eine algebraische und immaterialistische Konzeption, eine diakritische Konzeption des Warenwerts, die, wie wir behaupten, ihr linguistisches Gegenstück findet in der Saussureschen Sprachkonzeption.«

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Der Berkeleysche Immaterialismus, der häufig als weltfremder Idealismus verlacht wurde, erweise sich als vollkommen wirklichkeitsgerecht, wenn man ihn auf die zu seiner Zeit aufblühende Welt der Finanzspekulation beziehe. In keinem anderen Bereich zeige sich so offensichtlich, dass die »Temperatur des Sozialen« von der »Macht bloßer Ideen« abhängig sei; man könne daher Berkeley mit Fug und Recht als »Philosopher of the Bubbles«, als Philosophen der Spekulationsblasen und Finanzkrisen von 1719 und 1720 bezeichnen:36 Denn wenn es je Beispiele für die Macht des Immateriellen, der bloßen Erwartung, des Lesens von Zeichen als Vorzeichen, der unbegründeten Wahrnehmung gab, dann waren sie im Verhalten der nüchternen Kapitalisten, der peniblen Bürokraten und hochmütigen Aristokraten Englands und Frankreichs in den Jahren 1719 und 1720 zu finden. […] Die Idee des grenzenlosen Reichtums, das Verhältnis von Aktienkursen zu ›Insider‹-Wissen und die Macht der Kommunikation war in den Köpfen von Tausenden fixiert, die durch Exchange Alley und die Rue Quincampoix, die Londoner und Pariser Epizentren der Bubbles, strömten.37

Wie Caffentzis überzeugend demonstriert, bildet die Finanzspekulation ein Reich, in dem die Berkeleysche Formel Esse est percipi exemplarische Gültigkeit hat. Die Wahrnehmung ist hier buchstäblich von der Materie, d. h. von der Sachoder Realökonomie abgekoppelt. Wie Berkeleys Immaterialismus, gegründet auf reine Empfindungen, so kündet auch das Spiel der Finanzwelt, gegründet auf »imaginary Stock« 38 und »imaginary value« 39, von der Durchsetzung eines neuen Wirklichkeitsverhältnisses, in dem der referentielle Bezug auf ein Außen nur noch den Charakter einer Illusion hat. Doch beschränkt sich der zu Beginn des 18. Jahrhunderts zu beobachtende Zug zur ›Virtualisierung‹ des Wirklichen nicht auf den Umkreis der Börsen, Banken und Handelshäuser. Die dort herrschenden Mechanismen der Wertbildung waren aufs engste verwoben mit denen der ›public opinion‹, ein Zusammenwirken, das schon in der räumlichen Nachbarschaft von Börse und Kaffeehaus augenfällig wurde. Die wechselseitige Verstrickung zeigte sich einerseits darin, dass die »Geschicke von Kredit, Kapitalverkehr und Finanz« zunehmend von »jenen 36  Caffentzis, Exciting the industry of mankind, S. 22. 37  Ebd.. Den »Idealismus der Geldform« freigelegt zu haben, dies ist Caffentzis zufolge

Berkeleys große Entdeckung, die auch für die Analyse der heutigen globalen Finanzströme interessant bleibt: »Berkeley’ s philosophy of money (which radically eschewed the pathos of equal exchange and durable value) can be heard more clearly in a period when ›xenomoney‹ and ›virtual money‹ exchanges begin to dwarf, quantitatively, commodity transactions in the world market, and the Future becomes the dominant temporal dimension of economic activity (in the market for ›futures contracts‹ and ›derivatives‹).« Ebd., S. 417. 38  Defoe, »The Chimera«, S. 176. 39  Defoe, »The Director, Numb. XVI «, S. 252.

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zirkulierenden ›Meinungen‹« abhängig wurden, »die sich mit der Einschätzung ungewisser Zukünfte verknüpften«.40 Die findigen Vorreiter des neuen Finanzkapitalismus, die von Defoe geschmähten »stock-jobbers«, erkannten sehr schnell die Bedeutung der »free press« und nutzten die Möglichkeit, die Märkte durch die Manipulation von Zeitungsmeldungen in die gewünschte Richtung zu treiben.41 Auf der anderen Seite lässt sich von einer Marktabhängigkeit des Systems der öffentlichen Meinung sprechen – nicht nur im Hinblick auf das Zeitungsgeschäft, das schon früh kapitalistischen Zwängen gehorchte, sondern, grundsätzlicher, im Sinne einer strukturellen Übereinstimmung der Wertbildungsmechanismen. Nicht einmal idealerweise waren im System der »bürgerlichen Öffentlichkeit« die »Gesetze des Marktes […] suspendiert«.42 Vielmehr muss man davon ausgehen, dass die Öffentlichkeit der polite society insgesamt nichts anderes darstellte als einen ›Markt‹, eine Aufmerksamkeitsökonomie, deren Funktionsweisen sich von denen der Finanzspekulation nicht wesentlich unterschieden. Wertzumessungen, insbesondere auch Einschätzungen der sozialen Stellung, richteten sich zunehmend nach der Konjunktur der öffentlich verbreiteten Nachrichten, Stimmungen und Meinungen; und so wurde im System der public opinion neben anderen Einsätzen immer auch die soziale Stellung der Marktteilnehmer mitverhandelt. Der Medienverbund aus Tageszeitung, Zeitschrift, Kaffeehaus und Club bildete auf diese Weise eine Art informeller Börse, an der täglich der soziale Marktwert von Institutionen und Individuen bestimmt wurde; und immer weniger Teilnehmer des Gesellschaftslebens konnten es sich – aufgrund alten Reichtums – leisten, diese ›new economy‹ einfach zu ignorieren.43 Im Licht dieser »wechselseitig[en] Abhängigkeit von Markt und Meinung« 44 lässt sich Berkeleys Formel Esse est percipi noch einmal neu aufnehmen. Es ist vollkommen einleuchtend, das darin ausgedrückte Seinsverständnis mit der neuartigen Erfahrungswelt der Finanzspekulation in Verbindung zu bringen. Die Gültigkeit der Berkeleyschen Formel lässt sich jedoch erweitern: Dass das Sein mit Wahrgenommenwerden zusammenfällt, gilt nicht nur für das Leben im Finanzdistrikt; in einem allgemeineren Sinn lässt sich dies von jeder Form der Welterfahrung sagen, die wesentlich durch ›Medien‹ vermittelt ist. 40  Vogl, Der Souveränitätseffekt, S. 130 – 131. 41  Vgl. Kittler, »The enlightenment and the bourgeois public sphere (Through the eyes of

a London merchant-writer)«, S. 11.

42  Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit, S. 52. 43  Es lag in der Logik der Sache, dass die Vertreter des landed wealth darauf aus waren,

die politische Ökonomie der Öffentlichkeit, wenn sie schon mit ihr leben mussten, einer strengen Regulierung zu unterwerfen; sie setzten daher, insbesondere in ihren wirtschaftspolitischen Plänen, auf die traditionellen Instrumente der Informationsbeschränkung und Geheimhaltung. Dagegen begünstigte die Freihandelsideologie der Whigs auch eine entsprechend entfesselte Ökonomie des öffentlichen Tauschs von Informationen. Vgl. hierzu Lake u. Pincus, »Rethinking the public sphere in early modern England«, S. 283. 44  Vogl, Der Souveränitätseffekt, S. 131.

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In Rahmen der Diskussion über die Simulationsmedien des späten 20. Jahrhunderts hat die Philosophie des Bischof Berkeley neue Aufmerksamkeit erfahren. Seine Doktrin des Immaterialismus erschien wie eine Vorwegnahme des Konzepts der ›virtuellen Realität‹; sein Esse est percipi konnte als perfekter Vorgriff auf die von Baudrillard beschworene »Ordnung der Simulation« genommen werden: ein Bild, das »auf keine Realität« mehr verweist, das »sein eigenes Simulakrum« geworden ist.45 Insbesondere Berkeleys Idee einer dem Subjekt künstlich zugeführten Sinnesempfindung erwies sich als überaus anschlussfähig; sie schien direkt zu den Phantasien des ›Cyberspace‹ zu führen. Eine Rückkehr zu Berkeleys »Projektionskonzept« von Wirklichkeit konnte daher, wie Franco Berardi 1994 bemerkte, durchaus zum Verständnis späterer Konzepte von virtueller Realität beitragen. Wenn es bei Berkeley der allwissende Gott war, der die einzelnen Bewusstseine mit den zur Wahrnehmung notwendigen Sinnesdaten versorgte,46 so hatten in der technischen Moderne die Medien die Stelle Gottes eingenommen: Gott ist das Universum der Sender, die niemals, nicht für einen einzigen Augenblick, aufhören, Signale zu senden, die die Infosphäre ausfüllen und sich im Cyberspace, in den unser Geist eingetaucht ist, […] ineinander verflechten, überlagern und vermischen.47

Von einer pausenlosen medialen Imprägnierung kann im Hinblick auf das England des frühen 18. Jahrhunderts natürlich nicht die Rede sein. Doch lassen sich wesentliche Aspekte von Berkeleys Immaterialismus auch in der medialen Wirklichkeitsproduktion seiner eigenen Zeit wiederfinden. Das herrschende Konglomerat aus Präsenz- und Druckmedien reichte zwar nicht aus, um die Welt zum geschlossenen Trugbild, zum Simulakrum werden zu lassen; dennoch hielt es die Erfahrung eines zunehmend medial vermittelten Weltbezugs bereit. Sich eine Wahrnehmung ohne ›Außen‹ und eine Welt ohne materielle ›Substanz‹ 45  Jean Baudrillard, »Die Präzession der Simulakra« (1978), in: ders., Agonie des Realen, Berlin, 1978, 7 – 69, S. 15. 46  Vgl. Ferdinand Alquié, »Berkeley«, in: François Châtelet (Hg.), Geschichte der Philosophie. Band VI : Die Aufklärung, Frankfurt a. M., Berlin, Wien, 1975, 43 – 60, S. 58: »Bei Berkeley erscheint Gott als die unmittelbare und notwendige Ursache meiner Empfindungen selbst. Es gibt keine Materie mehr, alles ist Geist, es gibt nur Gott und endliche Geister, und die Welt ist die Sprache, in der Gott zu diesen Geistern spricht.« 47  Franco Berardi, ›Bifo‹, Mutazione e cyberpunk. Immaginario e tecnologia negli scenari di fine millennio, Genova, 1994, S. 122. In ähnlichem Sinn plädierte Hartmut Böhme 1996 dafür, »Berkeleys Wahrnehmungskonzept« als »eine äußerste Medientheorie« zu lesen. Berkeleys Immaterialismus bezeichne den »modernen Initiationspunkt« einer Entwicklung, an deren Ende das menschliche Subjekt »nur noch passives Wahrnehmungsorgan technischer Projektionen« sei. Vgl. Hartmut Böhme, »Das Licht als Medium der Kunst. Über Erfahrungsarmut und ästhetisches Gegenlicht in der technischen Zivilisation«, in: Michael Schwarz (Hg.), Licht, Farbe, Raum. Künstlerisch-wissenschaftliches Symposium, Braunschweig, ca. 1996, 111 – 138, S. 122.

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vorzustellen,48 dürfte denen, die sich im System der Öffentlichkeit bewegten, nicht schwergefallen sein. Die ›öffentliche Meinung‹ hatte sich schon früh zu einem geschlossenen Anspielungssystem entwickelt, das sich weitgehend auf sich selbst bezog und seine Neuigkeiten aus sich selbst heraus produzierte.49 Diejenigen, die sich mit diesem Universum auskannten, dürften wohl, ähnlich wie Berkeley, keine Mühe darauf verschwendet haben, dem substantiellen Kern der Erscheinungen nachzuspüren; sie dürften sich vor allem für Fragen der medialen Hervorbringung interessiert haben: Woher kam eine Nachricht, wer mochte ihr Urheber sein, welchem Zweck sollte die Veröffentlichung dienen, wer profitierte davon? Berkeleys Ontologie des Scheins, die sich manchen als eine verstiegene, solipsistische Phantasie darstellte, gab letztlich nur ein Wirklichkeitsverständnis wieder, das im Umgang mit täglichen Zeitungen und Zeitschriften, Kaffeehausgerüchten und Börsennachrichten schon zur Gewohnheit geworden war. Selbstverständlich gab es zu Anfang des 18. Jahrhunderts weiterhin eine nahezu unbewegliche Welt der ländlichen Grundherrschaft, deren festgefügte Hierarchien durch mediale Erregungen so schnell nicht zu erschüttern waren. Doch für alle, die enger in das Mediengefüge der Kaffeehäuser, Zeitungen und Zeitschriften eingebunden waren, von hohen Politikern bis zu den Schreibern von Grub Street, bildete die ›öffentliche Meinung‹ eine suggestive und zunehmend beherrschende Wirklichkeit. Ihr Wert und Stellung hingen ganz wesentlich davon ab, dass und wie sie im System der öffentlichen Meinung erschienen, wie sie dadurch bewertet und klassifiziert wurden. So wie die Prozession oder die Aufteilung der Kirchenplätze zugleich als Abbild und als Vorschrift der ständischen Ordnung funktionierte, so bildete das Medienkonglomerat der ›bürgerlichen Öffentlichkeit‹ das zentrale Anzeige- und Einordnungsinstrument der Klassengesellschaft. Während der Stand vom flüchtigen Wechsel der Erscheinungen kaum berührt wurde, folgte die Einordnung in eine Klasse den laufenden Neuaufteilungen und Umbewertungen, die innerhalb des Systems der ›public opinion‹ vorgenommen wurden. Ganz wie Berkeleys ›Sein‹ von seinem ›Wahrgenommen-Werden‹, hing das soziale Sein nun von seinem permanenten Klassifiziert-Werden ab.

48  Vgl. Berkeley, »Principles of human knowledge«, S. 26: »From what has been said, it

follows, there is not any other substance than spirit, or that which perceives.«

49  S. o., Kap. 15, Abschnitt »Im Reich der Neuigkeiten«.

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22.

AUFSTIEG UND FALL DER KLASSE Wie schon in der Einleitung beteuert wurde, ging es in diesem Buch nicht darum, die Geschichte des marxistischen Klassenbegriffs zu erzählen. Dennoch: So wie es im Theorie-Teil dieser Arbeit unumgänglich war, zunächst auf Marx einzugehen, so wäre es merkwürdig, den geschichtlichen Teil enden zu lassen, ohne noch einmal auf ihn zurückzukommen. Schließlich gibt es ein legitimes Interesse, zu erfahren, was die hier geschilderten Frühformen der Klassenteilung mit der ›reifen‹ Klassengesellschaft verbindet, auf die der Marxismus sich bezog. In diesem Kapitel soll daher, wenn auch nur kurz, das weitere Schicksal des Klassenbegriffs beleuchtet werden. Es wird nachzuverfolgen sein, wie die Klasse zur ›sozialen Klasse‹ wurde, wie daraus durch diverse marxistische Zutaten ein mächtiges politisches Kampfinstrument entstand, und wie der Begriff gegen Ende des 20. Jahrhunderts an das – zumindest vorläufige – Ende seiner Karriere gelangte.

Die Zusammensetzung des sozialen Klassenbegriffs Damit aus dem flexibel gebrauchten Klassenbegriffs des 18. Jahrhunderts der kämpferische Klassenbegriff des 19. Jahrhunderts werden konnte, mussten noch einige Übersetzungsschritte stattfinden. In diesem Transformationsgeschehen lassen sich drei verschiedene Stränge unterscheiden, die hier als semantische Einschränkung, Vergessen der Herkunft und polemische Wendung bezeichnet werden sollen. Erstens: semantische Einschränkung auf das Ökonomische. In der ›klassischen‹ Episteme der Frühen Neuzeit ist ›Klasse‹ ein Allround-Begriff, ein unspezifisches Analyse-Instrument. Mit seiner Hilfe lassen sich Tiere, Pflanzen und Gesteine ordnen, aber auch Waren, Regierungsformen oder literarische Erzeugnisse. Wird der Begriff auf Menschen angewandt, so kann eine Sortierung nach Größe, Alter, Geschlecht und Gesundheitszustand vorgenommen werden, aber auch nach Einkommen oder Arbeitsleistung. Zwar bringen die Anstrengungen zur Klassifizierung des Sozialen schon früh Begriffe wie »the rich«, »the middle sort« oder »the labouring poor« hervor.1 Doch ist das Prinzip der Klassenteilung auf solche ökonomischen Kriterien nicht festgelegt. Wie die polemischen Classing-Spiele des Tatler und Spectator zeigen, findet sich immer noch die Möglichkeit, die Menschen nach beliebigen anderen Kriterien in Klassen zu ordnen. Erst allmählich, im Lauf des 18. Jahrhunderts, vollzieht sich die semantische Einengung des 1  S. o., Kap. 18, Abschnitt »Labouring Poor, Idle Poor«.

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Begriffs; das Wort ›Klasse‹ bezieht sich, wenn es auf Menschen angewandt wird, zunehmend auf deren ökonomische Lage. Verantwortlich dafür ist vor allem die systematische Verwendung des Begriffs im Diskurs der politischen Ökonomie von Quesnay über Turgot bis Adam Smith. In François Quesnays berühmtem Tableau Économique (1766) wird zum ersten Mal die Stellung im System der Reichtumserzeugung zum Kriterium der sozialen Einteilung gemacht. Es hat wohl mit der europaweiten Konjunktur der physiokratischen Theorie zu tun, dass der zuvor multifunktionale Klassenbegriff zunehmend vereindeutigt und als ein sozio-ökonomischer Einteilungsbegriff verstanden wird. Als solcher kommt er in den 1760er Jahren auch in Deutschland an. Die »Mode, von ›Classen‹ zu sprechen« 2 verbreitet sich zunächst in der Kameralliteratur. Georg Christoph Lichtenberg bezieht sich ironisch auf die neuartigen Verfahren der ökonomischen Klassifizierung, als er um 1770 eine Sortierung seiner Leser nach Einkommensklassen vornimmt: EINTHEILUNG . Ich theile mir das Publicum so ein, Leute die gar keine Besoldung

und auch keine fixe Einnahmen haben, arme Teufel, Leute die unter 5 hundert Thaler Besoldung oder bestimmte Einnahmen haben, Leute die über 5 hundert Thaler haben, Leute die in die tausende kommen, oder von Consequence sind. Dieses sind die 4 Classen in der natürlichen Ordnung, wo die 4 die gröste [=höchste] ist. Ich declarire also feyerlichst im Angesicht dieser Messe, daß ich nie etwas in meinen Schrifften gegen die 4te Classe, ja nicht einmal gegen die 3te geredet oder gedacht habe […]. Die 2 te Classe versichere ich meiner Freundschafft als Mitgenossen, allein die erste Classe! Sehet da das Feld für einen deutschen Satyrenschreiber, unübersehbar; arme Teufel giebt es überall, und wird vermuthlich welche geben so lange die Welt stehen wird.3

Klasse wird auf diese Weise schon vor der Französischen Revolution als ein sozialer Einteilungsbegriff gebraucht, der in erster Linie ökonomische Unterschiede markiert. Allerdings ist der Sprachgebrauch noch nicht eindeutig: Gerade in den deutschen Ländern, wo das traditionelle Herrschaftsgefüge länger Bestand hatte, konnte der Ausdruck Klasse sich auch auf die Standeslage beziehen.4

2  Vgl. Luhmann, »Zum Begriff der sozialen Klasse«, S. 120. 3  Lichtenberg, Die Aphorismen-Bücher, 76 [B 133]. Das zitierte Heft B enthält Eintragungen

aus den Jahren 1768 – 1771 enthält.

4  In seinem Buch Über den Umgang mit Menschen (1788) verwendet Knigge den Begriff

Klasse schlicht als Synonym für Stand. Er spricht »von dem sehr merklichen Abstande der Klassen in Deutschland voneinander, zwischen denen verjährtes Vorurteil, Erziehung und zum Teil auch Staatsverfassung eine viel bestimmtere Grenzlinie gezogen haben als in andern Ländern«. Adolph Freiherr von Knigge, Über den Umgang mit Menschen (1788), Frankfurt a. M., 1977, S. 25.

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Zweitens: Vergessen der Herkunft. An den frühen Klassenbildungen sticht deutlich die Künstlichkeit und Konstruiertheit des Klassifikationsverfahrens hervor. Wenn z. B. Defoe von einer »inferior class of people« spricht, so hat dieser Ausdruck noch nicht die Substantialität oder die ontologische Sättigung, wie sie im 19. oder 20. Jahrhundert der Begriff der ›Arbeiterklasse‹ haben wird. Auch Lichtenbergs satirische »Eintheilung« zeigt, dass der Klassenbegriff vor der Französischen Revolution im Allgemeinen noch mit einer gewissen ironischen Reserve verwendet wird. Die Zeitgenossen brachten ihn mit dem Klassifikationsfuror der frühneuzeitlichen Naturgeschichte in Verbindung, der aufgrund der Willkür und Inkonsistenz seiner Ordnungsschemata häufig verspottet wurde, nicht zuletzt von Lichtenberg: Dieser Mann arbeitete an einem System der Naturgeschichte, worin er die Tiere nach der Form der Exkremente geordnet hatte. Er hatte drei Klassen gemacht: die zylindrischen, sphärischen und kuchenförmigen.5

Diejenigen, die sich des Klassenvokabulars zum Zweck der Gesellschaftsbeschreibung bemächtigten, wussten noch ganz gut, woher es kam. Sie sahen darin nichts anderes als eine Art ›verallgemeinerten Linnäismus‹, eine Übertragung der Begriffe und Sortierverfahren der Naturgeschichte auf die Angelegenheiten der Gesellschaft. Karl Philipp Moritz erklärte 1786: »Aber so fängt man erst spät an, nachdem man schon sehr lange Conchylien, Schmetterlinge und allerlei Gewürme klassifiziert, hat, auch das menschliche Elend in Klassen zu ordnen […]« 6. Aus dem gleichen Jahr stammt die lakonische Bemerkung Mendelssohns: »Die Deutschen haben sich durch die Naturgeschichte gewöhnt, alles zu klassifizieren.« 7 Es ist nicht ganz leicht zu verstehen, wie aus einem Begriff, der eben noch als pedantisches Sortierinstrument verspottet wurde, in relativ kurzer Zeit (innerhalb eines halben Jahrhunderts) ein mächtiger politischer Kampfbegriff, ein Instrument zur Vereinheitlichung großer Menschenmassen werden konnte. Damit dies geschehen konnte, musste offenbar ein gründliches Vergessen einsetzen. Ende des 18. Jahrhunderts waren sich die meisten, die den Begriff der Klasse verwendeten, noch darüber im Klaren, dass es sich um einen Import aus Botanik und Zoologie 5  Georg Christoph Lichtenberg, »Einfälle und Bemerkungen«, in: ders., Werke in einem Band, Berlin, Weimar, 1978, S. 192. 6  Moritz, »Das menschliche Elend«, S. 243. 7  Moses Mendelssohn, »An die Freunde Lessings. Ein Anhang zu Herrn Jacobis Briefwechsel über die Lehre des Spinoza« (1786), in: Fritz Mauthner (Hg.), Jacobis Spinoza-Büchlein nebst Replik und Duplik, München, 1912, 200 – 246, S. 205. Später, bei Jean Paul, ist die Bemerkung bereits zum Kalauer geworden: »Niemand klassifizieret so gern als der Mensch, besonders der deutsche.« Jean Paul, »Vorschule der Ästhetik« (1804), in: ders., Werke, 1. Abteilung, Band 1 – 6, hg. v. Norbert Miller u. Gustav Lohmann, Bd. 5, München, 1959 – 1963, S. 67

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handelte. Den Lesern des Kommunistischen Manifests (1848) dürfte dieser Zusammenhang dagegen kaum noch gegenwärtig gewesen sein. Auch der spätere Marxismus wollte aus naheliegenden Gründen von einer Geburt der Klasse aus dem Geist der naturgeschichtlichen Klassifikation nichts wissen. Dabei spielten offenbar zwei Dinge eine Rolle: Zum einen handelte sich bei dem Klassenbegriff, wie kaum zu bestreiten war, um eine ›bürgerliche‹ Erfindung. Die Überzeugungskraft des marxistischen Klassenbegriffs hing daher auch davon ab, dass diese Herkunft aus dem Geist bourgeoiser Weltaneignung nicht allzu deutlich ausgestellt wurde. Wer, wie Adorno, daran erinnerte, »daß Klasse selbst […] strukturell ein Bürgerliches sei«,8 musste das Gefühl haben, ein schmutziges Familiengeheimnis an die Öffentlichkeit zu zerren. Zum anderen, und dies ist entscheidender, verwies die Herkunft aus Naturgeschichte und Politischer Arithmetik nur allzu deutlich auf den Konstruktionscharakter des Klassenbegriffs: Wer den Begriff im Sinn der klassifikatorischen Wissenschaften des 18. Jahrhunderts benutzte, ging davon aus, dass es sich bei einer Klasse um eine künstlich konstruierte Einheit handelte, ein Gebilde, das auf eine willkürliche Setzung, eine bestimmte Perspektive der Betrachtung zurückging. Für die Geschichte späterer Klassenkämpfe war dagegen die Überzeugung unverzichtbar, dass es Klassen nicht nur ›auf dem Papier‹ gibt, sondern dass sie ›in der Wirklichkeit‹ (›an sich‹) existieren. Den Verdacht, dass Klassen nur ein theoretisches Konstrukt darstellten, ähnlich wie die Klassen der Naturgeschichte, konnte sich die Arbeiterbewegung nicht leisten: Wenn man die Menschen dazu bringen will, sich als Teil ›ihrer‹ Klasse wiederzuerkennen, kann man ihnen nicht gleichzeitig erzählen, dass diese Klasse nur als hypothetische Setzung existiert. Alle, die den Klassenbegriff politisch operabel machen wollten, von den Aktivisten der Französischen Revolution über die Frühsozialisten bis zu Marx und Engels, mussten ihn daher mit Substanz aufladen, mussten ihn als etwas erscheinen lassen, das eine unmittelbare, wirkliche und lebendige Entsprechung in der Wirklichkeit hat. Umgekehrt mussten sie jede Erinnerung daran verdrängen, dass es sich bei der ›Klasse‹ um eine künstlich geschaffene Figur handelte, ein epistemisches Objekt, dessen Existenz sich den bürokratischen Sortierverfahren der klassischen Episteme und der absolutistischen Staatsverwaltung verdankte. Drittens: polemische Wendung. Die sichtbarste Veränderung erfuhr der Klassenbegriff durch seine diskursive Erhitzung in der revolutionären Publizistik um und nach 1789. Dadurch erklärt sich die häufig anzutreffende Behauptung, der soziale Klassenbegriff sei im Umkreis der Französischen Revolution entstanden oder habe zu dieser Zeit seine ›eigentliche‹ Bedeutung erlangt. Die von den Physiokraten vorgenommene Unterscheidung zwischen einer ›produktiven‹ und einer ›sterilen‹ Klasse wurde nun in ein gesellschaftliches Werturteil transformiert, aus 8  Adorno, Ästhetische Theorie, S. 378.

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dem eine ganze Reihe neuer Gegensatzpaare hervorging:9 »la classe privilégiée« vs. »notre malheureuse Nation«,10 »propriétaires« vs. »hommes de travail«,11 »les classes oisives« vs. »ceux qui travaillent«.12 Darin liegt offenbar die entscheidende Wendung, durch die ›Klasse‹ zum Medium der politischen Mobilisierung wurde: Während der Klassenbegriff zunächst dazu da war, im Sozialen nach wechselnden Kriterien beliebige Einteilungen vorzunehmen, lief sein Gebrauch nun darauf hinaus, Dichotomien zu schaffen, die eine Polarisierung des gesellschaftlichen Feldes anzeigten: Arme gegen Reiche, produktive gegen unproduktive Teile der Gesellschaft. Durch die kämpferische Wendung wurde der zuvor meist im herabsetzenden Sinn gebrauchte Begriff der Klasse zu einem Instrument der Affirmation und der Herstellung von Gemeinsamkeit. Begriffe wie »classe productive« oder »classe ouvrière« 13 avancierten zu Figuren der politischen Identifikation. Von Klassen zu sprechen wurde zu einem Ausweis der revolutionären Parteinahme. Ein deutscher Beobachter der Pariser Geschehnisse erklärte seinen Lesern, es handele sich bei dem Wort ›Klasse‹ um einen »demokratischen Kunstausdruck«, der an die Stelle des verfemten Wortes ›Stand‹ getreten sei.14

Die marxistische Anreicherung Es hat also mit einer Reihe von semantischen Einengungen und diskursiven Ausweitungen zu tun, dass ›Klasse‹ zur Mitte des 19. Jahrhunderts einen neuen epistemologischen Status bekommt. Befreit von der Assoziation der ›Klassifizierung‹, der willkürlichen Aufteilung nach äußerlichen Merkmalen, scheint das Wort nun auf eine substanzielle Realität, auf die Existenz wirklicher, in der Gesell9  Die physiokratische Unterscheidung zwischen ›produktiv‹ und ›unproduktiv‹ ist allerdings keineswegs deckungsgleich mit der späteren von Arbeit und Kapital. Grundlage des gesellschaftlichen Reichtums bildet nach Vorstellung der Physiokraten allein die Landwirtschaft. Deshalb werden bei Quesnay die Bauern als »Productives« gefasst; zur Klasse der »Stériles« gehören dagegen alle, die nicht direkt zur Agrarproduktion beitragen, wie z. B. Handwerker oder Händler. Eine dritte Klasse bilden die »Propriétaires«, zu der jedoch nur Landbesitzer und Pächter zugelassen sind. Der Besitzer einer Fabrik würde ebenso wie seine Lohnabhängigen der »sterilen« Klasse zugeordnet. Vgl. Piguet, »Réduire en classes/ être divisés en ordres«, S. 61. 10  Emmanuel Joseph Sieyès, Oeuvres de Sieyès, tome 1. Essai sur les privilèges, s.l, 1789, S. 48. 11  Diese Unterscheidung findet sich bei Jacques Necker, vgl. Walther, »Stand, Klasse [Abschnitte VIII -XVI ]«, S. 226. 12  Volney, Les ruines ou méditation sur les révolutions des empires, S. 347 f. 13  Der Begriff »classe ouvrière« wird schon in den 1760er Jahren verwendet, und zwar mit dem ausdrücklichen Hinweis, dass es sich dabei um »la partie la plus nombreuse de l’humanité« handele. Vgl. Anon., »Lettre sur la stabilité de l’ordre legal«, in: Ephémérides du citoyen: ou Bibliothèque raisonnée des sciences morales et politiques, 1769, 3 – 67, S. 30 14  Vgl. Christoph Girtanner, Historische Nachrichten und politische Betrachtungen über die Französische Revolution. Zweiter Band, Berlin, 1792, S. 110.

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schaft vorhandener Klassen zu verweisen. Ausgehend von dieser neugewonnenen Evidenz konnte der Marxismus den Begriff aufnehmen und ihn in eines der geschichtlich wirksamsten Instrumente zur Zusammenfassung und Mobilisierung von Menschen verwandeln. ›Klasse‹ bedeutete nun für die meisten Menschen ganz selbstverständlich ›soziale Klasse‹ oder, noch spezifischer, ›Arbeiterklasse‹. Doch war mit dieser Einengung zugleich auch eine neue, wilde Sprossung der Klassensemantik verbunden. Wodurch eine Klasse eigentlich bestimmt war und wer aus welchen Gründen dazugehörte, war im Marxismus nicht immer klar und niemals unumstritten. Ein konsistentes Konzept lässt sich aus den Schriften von Marx und Engels nicht destillieren.15 Marx’ Kapital bricht, wie vielfach bemerkt wurde, genau dort ab, wo die Klassentheorie hätte folgen sollen: »Man kennt den Schluß des 3. Buches vom ›Kapital‹: Eine Überschrift: ›Die Klassen‹, dann einige Zeilen Text, dann Schweigen.« 16 Wenn es darum geht, die marxistische Transformation des Klassenbegriffs zu umreißen, so lassen sich daher eher Felder der Auseinandersetzung als gerade Entwicklungslinien benennen. Erstens: Substanz oder Relation. Die elementarste Frage ist zugleich die, an der sich der Streit am lebhaftesten entzündet hat: Was macht eine Klasse aus; aufgrund welcher Kriterien lässt sich von einer Klasse sprechen? Wie Marx selbst zugestand, hatte er weder »die Existenz der Klassen in der modernen Gesellschaft noch ihren Kampf unter sich entdeckt«.17 Auch die »ökonomische Anatomie« der Klassen hätten »bürgerliche Ökonomen« schon vor ihm dargestellt.18 Ein wesentlicher Unterschied zur ›bürgerlichen‹ Klassentheorie des 18. Jahrhunderts lag jedoch darin, dass die Unterscheidung der Klassen bei Marx nicht dem rein quantitativen Kriterium eines mehr oder minder großen Reichtums folgte und sich auch nicht auf die Zugehörigkeit zu einem Produktionszweig bezog (wie dies bei den Physiokraten der Fall war). Eine solche »grobianische« Auffassung der Klassenteilung hat Marx schon früh zurückgewiesen: Der Klassenunterschied gründe sich nicht auf den »Längenunterschied des Geldbeutels«, und der »Klassengegensatz« lasse sich nicht einfach auf »Handwerkshader« zurückführen: »Das Maß des Geldbeutels ist ein rein quantitativer Unterschied, wodurch je zwei Individuen derselben Klasse beliebig aufeinander gehetzt werden können.« 19 Die Spezifität der marxistischen Klassentheorie liegt dagegen in der relationalen 15  Vgl. Walther, »Stand, Klasse [Abschnitte VIII -XVI ]«, S. 266: »Zu bedenken bleibt fer-

ner, daß die schärfsten Kritiker der Klassengesellschaft keine einheitliche Klassentheorie hinterlassen haben.« 16  Louis Althusser, »Der Gegenstand des ›Kapital‹ [Fortsetzung]«, in: ders. u. Étienne Balibar, Das Kapital lesen, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg, 1972, 221 – 267, S. 261. 17  Marx, »Marx an Joseph Weydemeyer in New York, 5. März 1852«, S. 507. 18  Ebd., S. 508. 19  Karl Marx, »Die moralisierende Kritik und die kritisierende Moral. Beitrag zur Deutschen Kulturgeschichte« (1847), in: ders. u. Friedrich Engels, Werke (MEW ), Bd. 4, Berlin, 1956 ff., 331 – 359, S. 349. Hinweis auf diese Stelle bei Fetscher, »Klasse und Klassenbewußtsein«, S. 57.

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Auffassung des Klassenunterschieds: Was eine Klasse ist, definiert sich durch ihr Verhältnis zu einer anderen Klasse. Ausschlaggebend ist, dass die Klassen durch ihre unterschiedliche Stellung im Produktionsprozess nicht nur getrennt, sondern zugleich aufeinander bezogen sind; sie befinden sich in einer wechselseitigen Abhängigkeit, aus der sich ein unversöhnlicher Gegensatz der Interessen ergibt – so wie dies exemplarisch zwischen kapitalistischen Unternehmern und Lohnabhängigen der Fall ist. Aus dieser relationalen oder strukturellen Bestimmung des Klassengegensatzes ergibt sich die Abneigung des Marxismus gegen alle Versuche, Klassen ›empirisch‹, mit den Mitteln der soziologischen Analyse zu bestimmen, d. h. die Klassenteilung aus den unterschiedlichen Gegebenheiten des Einkommens, der beruflichen Stellung, des Lebensstils etc. abzuleiten. Im Unterschied zu den Klassen der Naturgeschichte bilden die Marx’schen Klassen nicht das Ergebnis einer Sortierung nach äußerlichen Merkmalen, sie gehen vielmehr auf bewusst gesetzte Abstraktionen, auf ein theoretisch begründetes Strukturmodell der gesellschaftlichen Produktionsverhältnisse zurück.20 Klassen sind demnach keine empirisch vorfindlichen Mengen, sie bezeichnen nicht so sehr das Ergebnis einer Teilung, als vielmehr die Operation der Teilung selbst. In den Worten des strukturalen Marxisten Jacques Bidet: »Dennoch ist die Teilung unerlässlich. Aber sie ist in einem aktiven Sinne zu verstehen: nicht als Teilung, sondern als Teiler. […] Sie trennt die Klassen durch die Dynamik, die sie erzeugt.« 21 Zweitens: Zwischen Kampf und Klassifikation. Ein zweites Feld der Auseinandersetzung ergibt sich aus der Frage nach der Rolle des Klassenkampfs in der Konstitution der Klassen. Nach der gerade beschriebenen, relationalen Auffassung des Klassenbegriffs war eine Klasse dadurch als solche zu erkennen, dass sie in einem Verhältnis zu einer anderen Klasse stand. Und dieses Verhältnis wurde wesentlich als antagonistisch, als eine kämpferische Entgegensetzung beschrieben, besonders einprägsam in der Formel von der Geschichte als »Geschichte von Klassenkämpfen«.22 Für die Konfiguration des Klassenbegriffs ist es entscheidend, dass der Klassenkampf sich keineswegs auf die Kämpfe zwischen fertig ausgebildeten Klassen beschränkt. Unter Klassenkampf ist vielmehr zunächst jener Kampf verstehen, durch den sich die Klassen überhaupt erst formieren und durch den sie als solche sichtbar werden. Gelegentliche Formulierungen von Marx und Engels scheinen darauf zu verweisen, dass sie selbst von einer solchen Vorgängigkeit des Kampfs vor der Klasse ausgingen: »Die einzelnen Individuen bilden nur insofern eine Klasse, als sie einen gemeinsamen Kampf gegen eine andre Klasse zu führen 20  Vgl. Étienne Balibar, »Über die Grundbegriffe des historischen Materialismus«, in: Louis Althusser u. ders., Das Kapital lesen, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg, 1972, 268 – 414, S. 360: »Klassen sind Funktionen des gesamten Produktionsprozesses. Sie sind nicht dessen Subjekt, sondern sind im Gegenteil durch dessen Form determiniert.« 21  Bidet, Foucault with Marx, S. 136. 22  Marx u. Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, S. 462.

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haben […].« 23 Auf der anderen Seite aber finden sich genügend Äußerungen, die eher von einem unbekümmerten Klassensubstanzialismus zeugen. Wenn Marx in einem Brief von 1852 auf gewisse »unwissende Lümmel« zu sprechen kommt, »die nicht nur den Kampf, sondern sogar die Existenz der Klassen leugnen«,24 dann hat es zumindest den Anschein, als bilde die Klasse die grundlegende Gegebenheit, der Klassenkampf dagegen das abgeleitete Phänomen. Schon bei Marx und Engels ist also nicht eindeutig zu erkennen, ob nun der Kampf das Sein oder das Sein den Kampf begründen soll. Auch in seiner weiteren Karriere wird der marxistische Klassenbegriff von dieser Ambivalenz gezeichnet bleiben: Auf der einen Seite findet sich der aktivistische Impuls, es mit der Definition der Klasse nicht zu genau zu nehmen, weil sich im Kampf schon zeigen werde, wer zur welcher Klasse gehört; auf der anderen Seite wird immer wieder der Einwand vorgetragen, dass für einen erfolgversprechenden Kampf alles darauf ankomme, zunächst einmal zu bestimmen, was eine Klasse sei, und wer ihr angehöre. Einerseits findet man die großzügige Geste der Inklusion (Proletarier aller Länder!), den Ruf zur Klasse als Fanal zur Aufhebung aller Klassen;25 zu beobachten ist aber auch das Einsetzen kleinlicher Sortierverfahren, die Reinigung der Arbeiterklasse von allem, was nach ›Lumpen‹ und ›Kleinbürgern‹ aussieht, die Zementierung von Klassenidentität im bürokratischen Sozialismus. Die Geschichte des Klassenbegriffs lässt sich auf diese Weise als Wechselspiel zwei gegenläufiger Tendenzen beschreiben: Auf der einen Seite die Klassifikation, das Prinzip der nüchternen Verzeichnung von Differenzen zu wissenschaftlichen oder administrativen Zwecken, auf der anderen Seite der Klassenkampf, die polemische Zuspitzung und Instrumentalisierung eines Gegensatzes zu politischen Zwecken. Wie schon in der ›bürgerlichen‹ Frühzeit des Klassenbegriffs, so findet sich auch in seiner marxistischen Karriere eine permanente Oszillation zwischen einer technischen, bürokratischen oder klassifikatorischen Verwendung und einem hitzigen, polemischen und antagonistischen Gebrauch. Welches Prinzip gerade die Oberhand hat, ob die Klassifikation oder der Klassenkampf den beherrschenden Pol bildet, ist dabei, wie der französische Theoretiker und Protagonist des Mai ’68, Daniel Bensaïd, bemerkt hat, selbst ein Ausdruck des Stands der Klassenkämpfe. Die heute zu beobachtende Vorherrschaft der Klassifikation zeigt daher nach Bensaïd nichts anderes an als die relative Schwäche der linken Bewegungen: Die Bewertung der historischen Rolle des Klassenkampfes schwankt mit dem Kampf selbst. Nach der Pariser Kommune setzte die im Entstehen begriffene 23  Marx u. Engels, »Die deutsche Ideologie«, S. 54. 24  Marx, »Marx an Joseph Weydemeyer in New York, 5. März 1852«, S. 508. 25  Die Möglichkeit einer inkludierenden, weitherzigen Klassenkonzeption hat Patrick Eiden-

Offe am Beispiel des Vormärz-Proletariats demonstriert: Eiden-Offe, Die Poesie der Klasse.

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Soziologie dem Begriff der sozialen Klasse ein Vokabular entgegen, das soziale Gruppen in den Vordergrund stellte: Eliten, ›Zwischenklassen‹, ›herrschende‹ oder ›Mittelklassen‹. Der Mai 1968, der italienische ›Heiße Herbst‹ und die portugiesische Revolution räumten erneut dem Klassenkampf den Vorrang ein. Der vorherrschende Diskurs der 1980er Jahre bestand dagegen wieder auf Kategorien und Klassifikationen. Der Klassenbegriff wurde weithin neu definiert als ein ›überwiegend klassifikatorisches Konzept‹ oder als ›Informationsfilter‹, der es ermöglichte, Ordnung in die soziale Heterogenität zu bringen und ›formal adäquate Klassifikationen‹ zu etablieren.26

Drittens: Sein und Sollen. Ein drittes Feld der Auseinandersetzung ergibt sich aus der Doppelnatur von Klasse als deskriptives und normatives Konzept: Einerseits bezeichnet ›Klasse‹ eine existierende Wirklichkeit, ein Sein, das sich aus der Gegebenheit der Klassenverhältnisse ergibt; andererseits aber bezeichnet sie ein Sollen, eine Existenz, die nur vorgezeichnet und daher aufgefordert ist, sich zu vollenden. Der marxistische Klassenbegriff gehorcht gleichsam einem doppelten Auftrag: Er soll die Klasse nicht nur beschreiben, sondern sie durch diese Beschreibung zugleich in eine Klasse verwandeln, die sich auch als solche erkennt und als solche handelt. Marx selbst hat diese beiden Aspekte ganz hegelianisch in dem Begriffspaar von Klasse ›an sich‹ und Klasse ›für sich‹ gefasst. Die Klasse ›an sich‹ meint die wirklich bestehende, auf objektiven gesellschaftlichen Gegensätzen, nämlich der unterschiedlichen Stellung zu den Produktionsmitteln, beruhende Klasse. Allerdings ›weiß‹ diese Klasse noch nichts von ihrer Gegebenheit. Um ihren geschichtlichen Auftrag erfüllen zu können, müssen die einzelnen Menschen, die sich ›objektiv‹ (›an sich‹) in der gleichen Klassenlage befinden, dies erkennen und sich zu einer Klasse zusammenschließen, die dann auch ›für sich‹, also für das Bewusstsein existiert: Die ökonomischen Verhältnisse haben zuerst die Masse der Bevölkerung in Arbeiter verwandelt. Die Herrschaft des Kapitals hat für diese Masse eine gemeinsame Situation, gemeinsame Interessen geschaffen. So ist diese Masse bereits eine Klasse gegenüber dem Kapital, aber noch nicht für sich selbst. In dem Kampf, den wir nur in einigen Phasen gekennzeichnet haben, findet sich diese Masse zusammen, konstituiert sie sich als Klasse für sich selbst. Die Interessen, welche sie verteidigt, werden Klasseninteressen.27

Man hat in dieser deskriptiv-normativen Doppelfunktion des Klassenbegriffs, in der »Zwiespältigkeit der marxistischen ›Klasse‹, die Sein und Sein-Sollen 26  Daniel Bensaïd, Marx for our times. Adventures and misadventures of a critique, Milton Keynes, 2010, S. 163. 27  Marx, »Das Elend der Philosophie«, S. 180 – 181.

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zugleich ist«,28 eine theoretische Schwäche, ein Hindernis der gesellschaftlichen Analyse gesehen. Zugleich kann man jedoch sagen, dass es gerade das unklare Changieren zwischen Deskription und Präskription, zwischen Realität und Utopie war, durch das der marxistische Klassenbegriff seine beispiellose geschichtliche Handlungsmacht gewonnen hat. Die Präskription enthob die Klasse ihrer banalen Tatsächlichkeit; zugleich sorgten die deskriptiven Anteile dafür, dass sie nicht als eine leere Utopie erschien. Und nicht zuletzt bot die Unterscheidung von ›Klasse an sich‹ und ›Klasse für sich‹ ein außerordentlich wirksames Instrument, um die Theorie der Klassenkämpfe vor ihrer möglichen Falsifizierung in Schutz zu nehmen: Wenn eine Klasse nicht wollte, wie sie sollte, so musste man den Fehler nicht in der Theorie suchen; man konnte das noch unentwickelte Klassenbewusstsein der Subjekte oder die Dominanz der bürgerlichen Ideologie dafür verantwortlich machen. Viertens: Die Aufhebung der Klassen. Für Marx ist die Formierung der Arbeiterklasse kein Selbstzweck; die vielbeschworene »Diktatur des Proletariats« soll »selbst nur den Übergang zur Aufhebung aller Klassen und zu einer klassenlosen Gesellschaft« bilden.29 Auf die Frage, ob »es nach dem Sturz der alten Gesellschaft eine neue Klassenherrschaft geben wird, die in einer neuen politischen Gewalt gipfelt«, antwortet Marx: »Nein. Die Bedingung der Befreiung der arbeitenden Klasse ist die Abschaffung jeder Klasse, wie die Bedingung der Befreiung des dritten Standes, der bürgerlichen Ordnung, die Abschaffung aller Stände war.« 30 Was das Proletariat zu diesem Akt der Selbstaufhebung befähigt, ist seine Stellung in der bürgerlichen Gesellschaft, die Marx als ein Zugleich von Sein und Nichtsein, Partikularität und Universalität beschreibt: Nach der berühmten Formulierung in der Einleitung zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie bildet das Proletariat eine »Klasse der bürgerlichen Gesellschaft, welche keine Klasse der bürgerlichen Gesellschaft« ist, eine Klasse, die »kein besondres Recht in Anspruch nimmt, weil kein besondres Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin an ihr verübt wird«.31 Als Klasse, die zugleich Nicht-Klasse ist, birgt das Proletariat das Versprechen, sich nach getaner Arbeit, also nach dem Sieg über die Bourgeoisie, selbst zum Verschwinden zu bringen, um einer geeinten, klassenlosen Gesellschaft Platz zu machen. Die Formierung der Arbeiterklasse ist auf diese Weise nur ein Mittel zur Überwindung der Klassenteilung, ein letzter entscheidender Schritt auf dem Weg zur endgültigen Abschaffung aller Klassen. Doch je mehr die Arbeiterklasse Gestalt annahm, sich festigte und in Parteiapparaten politische Macht gewann, desto mehr geriet der Gedanke der Selbstabschaffung in Vergessenheit. So kam es, dass die Marxisten schließlich aufhörten, auf die Abschaffung der Klassen zu 28  29  30  31 

Bourdieu, »Sozialer Raum und ›Klassen‹«, S. 29. Marx, »Marx an Joseph Weydemeyer in New York, 5. März 1852«, S. 508. Marx, »Das Elend der Philosophie«, S. 181. Marx, »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung«, S. 390.

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hoffen und ersatzweise begannen, die Klasse zu lieben. Nicht nur in den staatssozialistischen Ländern ergab sich eine solche fetischistische Verschiebung vom Ziel des Wunsches auf das Mittel seiner Verwirklichung. Die Verheißung der klassenlosen Gesellschaft wich dort dem Kult der Arbeiterklasse; im Westen, wo das Industrieproletariat sich einer solchen Idealisierung nicht anbot, blieb die Anrufung der Klasse auf kleine militante Zirkel beschränkt, die in der Kollektivität des klandestinen Lebens einen Vorschein der kommenden Klassenlosigkeit sahen: »was wir mit proletarisierung meinen, ist auf kollektivität aus, die klasse, die kämpft und die im kampf um ihre befreiung auch die beziehungen zueinander befreit«.32

Abschied von der Klasse Die marxistische Klassentheorie ist, wie gezeigt wurde, keine soziologische Theorie. Sie ging nicht von der empirischen Beobachtung aus, um von dort zu einer ›richtigen Einteilung‹, einer angemessenen Klassifikation des vorgefundenen Materials zu kommen. Der Klassengegensatz der bürgerlichen Gesellschaft sollte sich nicht aus dem Vergleich äußerer Merkmale ergeben, sondern aus einem theoretisch gesetzten Unterschied, dem zwischen Verfügung und Nichtverfügung über die Produktionsmittel. Doch konnte auch eine solche theoretisch begründete Klassentheorie nicht vermeiden, an der empirischen Realität gemessen zu werden. Die Kluft zwischen der theoretischen Konstruktion der Klasse und der empirischen Wirklichkeit der Klassenverhältnisse bildete ein Dauerproblem des Marxismus. Dies begann mit den Schwierigkeiten des frühen Marxismus, überhaupt so etwas wie ein reines Industrieproletariat aufzufinden, setzte sich fort mit der notorischen Verärgerung über archaische Restklassen, verräterische Zwischenklassen, nicht integrierbare Unterklassen und neu auftauchende Hybridklassen und mündete nach dem Zweiten Weltkrieg in einen langen, bis heute andauernden Abschied von der Klasse. Wie Adorno 1968 bemerkte, war der Begriff Klasse aus der akademischen Diskussion der Nachkriegszeit fast vollständig verschwunden; symptomatisch dafür war, dass der »1958 von René König herausgegebene Band ›Soziologie‹« 33 zwar »die benachbarten Stichwörter Herrschaft, Mobilität, Schichtung, soziale Kontrolle« aufführte, aber keinen Eintrag zu ›Klasse‹ enthielt.34 Statt von Klassen sprach man von Schichten; an die Stelle des Klassenkampfs trat, wie bei Ralf Dahrendorf, der »soziale Konflikt«, und der Glaube an die Mission der Arbeiterklasse schwand 32  Gudrun Ensslin [»g«]: »hh-paket, sept./oktober 76«, in: Pieter H. Bakker Schut (Hg.), Das info. Briefe der Gefangenen aus der RAF , 1973 – 1977, Hamburg, 1987, 288 – 300, S. 291. 33  Gemeint ist der Soziologie-Band des populären »Fischer-Lexikons«. 34  Theodor W. Adorno, »Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute« (1968), in: ders., Soziologische Schriften 1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M., 1995, 177 – 195, S. 177 – 178.

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angesichts der zunehmenden Ausweitung einer neuen Mittelschicht von »white collar employees«, technischen Spezialisten und »verschiedenen Typen von Managern«,35 die, obwohl sie nicht Eigentümer der Produktionsmittel waren, doch die Kommandogewalt über die Produktion besaßen und sich mit den Interessen der Kapitalbesitzer identifizierten. Adorno erinnerte aber auch daran, dass, selbst wenn »subjektiv der Klassenkampf vergessen« sei, »der objektive Antagonismus« fortbestehe, dass »die ökonomischen Grundprozesse der Gesellschaft, die Klassen hervorbringen […] sich nicht geändert« hätten.36 Eine erstaunliche Wiederbelebung erfuhr der Klassendiskurs im Zuge der Studentenbewegung. An der vermeintlich integrierten Gesellschaft kam zumindest vorübergehend wieder die ›Klassenwirklichkeit‹ zum Vorschein; Schule und Universität erwiesen sich ebenso als Instrumente der bürgerlichen ›Klassenherrschaft‹ wie Fabrik, Polizei und Parlament. Von der Soziologie bis zu Literaturwissenschaft gehörten ›Klassenanalysen‹ zum guten Ton; Künstler und Intellektuelle entdeckten ihre Komplizenschaft mit der bürgerlichen Kultur und sagten sich durch entschlossenen ›Klassenverrat‹ davon los.37 Gegen Ende der 1970er Jahre war die Welle der Klassenbegeisterung jedoch spürbar wieder abgeebbt; in den 1980er Jahren wollte kaum noch jemand etwas davon hören. Ihren ökonomischen Grund hatte diese Entwicklung im Schwinden der Schwerindustrie, in der technischen Rationalisierung der Fabrikarbeit und im Aufstieg des Dienstleistungssektors, wodurch das Industrieproletariat zumindest in Europa an Bedeutung verlor. Eine Rhetorik des Klassenkampfs, die sich weiterhin an das klassische Bild der Fabrikarbeit hielt, musste zunehmend als hohl erscheinen. In seinem Buch Abschied vom Proletariat wies André Gorz 1980 darauf hin, dass die gesamte Doktrin des »wissenschaftlichen Sozialismus« an der Idee hänge, dass mit der Arbeiterklasse eine Klasse existiere, »die kein anderes Klasseninteresse kannte, als ihr ›Klassensein‹ abzuschaffen«.38 Ein solches Proletariat, das »in seinem Wesen die Negation seines Wesens« sei, existiere jedoch nicht mehr, insbesondere deshalb, weil im Zeitalter der technischen Rationalisierung die »Arbeitertätigkeit […] keine Macht mehr« einschließe.39 Während die »traditionelle Arbeiterklasse« nur noch »eine privilegierte Minderheit« darstelle, gehöre die Mehrheit der Bevölkerung »heute dem nachindustriellen Neoproletariat der 35  Erik Olin Wright, »Varieties of marxist conceptions of class structure«, Politics and Society, N° Vol. 9, 1980, 323 – 370, S. 327. 36  Adorno, »Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute«, S. 184. 37  Vgl. Hans-Jürgen Krahl, »Angaben zur Person« (1969), in: ders., Konstitution und Klassenkampf. Schriften und Reden 1966 – 1970, Frankfurt Main, 1985, 19 – 30, S. 22: »Nachdem mich die herrschende Klasse rausgeworfen hatte, entschloß ich mich dann auch, sie gründlich zu verraten, und wurde Mitglied im SDS .« 38  André Gorz, Abschied vom Proletariat. Jenseits des Sozialismus (1980), Frankfurt a. M., 1988, S. 61. 39  Ebd., S. 62.

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Status- und Klassenlosen an, die zeitweilig, als Ersatz- und Gelegenheitsarbeiter oder Teilzeit-Angestellte, Hilfs- oder Aushilfsdienste verrichten – Tätigkeiten, die in nicht allzu ferner Zukunft zumeist von der Automation ausgelöscht werden und deren Qualifikationsanforderung, von rasch entwickelten Technologien dauernd verändert, in keinem Zusammenhang steht mit den in Schulen und Fakultäten gelehrten Kenntnissen und Berufen«.40 In den frühen 1980er Jahren erreichte der Zweifel am Klassenparadigma einen ersten Höhepunkt. In der Soziologie wurde von »Verhältnissen jenseits der Klassengesellschaft« 41 oder vom »Ende der Klassengesellschaft« 42 gesprochen. Gemeint war damit in erster Linie eine perspektivische Verschiebung: Auch wenn »Ungleichheitsfragen« nach wie vor nicht aus der Welt geschafft waren, so wurden sie jedenfalls »nicht mehr als Klassenfragen wahrgenommen«.43 An die Stelle der vorher obligatorischen Klassenanalyse traten die neu aufgekommenen »Lebensstiltheorien«; zunehmend stand in Frage, welche Rolle der »Analyse ökonomischer Reproduktionsbedingungen« überhaupt noch zukommen konnte.44 Die in den Sozialwissenschaften vorangetriebene Demontage des Klassenbegriffs lief darauf hinaus, alles von ihm abzustreifen, womit er in zwei Jahrhunderten sozialer Erregung angereichert worden war. Die Karriere der Klasse endete also ungefähr da, wo sie einmal begonnen hatte, nämlich beim nackten Imperativ der Einteilung des Sozialen zu wissenschaftlichen und verwaltungstechnischen Ordnungszwecken. Eine solche Entkleidung hatte Niklas Luhmann im Auge, als er Mitte der 1980er Jahre für eine Entideologisierung des Klassenbegriffs plädierte: Man müsse vom Klassenbegriff nur alles abziehen, was die marxistische Tradition ihm illegitimer Weise zugefügt hatte – die Einengung auf das Ökonomische, den universalen Erklärungsanspruch, die moralische Besetzung der Ungleichheit, das Thema des Klassenkampfs – um wieder zu der Klasse zu gelangen, von der die Enzyklopädisten des 18. Jahrhunderts so begeistert gewesen waren: ›Klasse‹ als ein neutrales, technisches Unterscheidungsinstrument, das »zahllose verschiedene Klassenbildungen« ermöglicht: »nach Rasse, nach Regionen, nach Berufen, nach Schulabschlüssen, nach Haushaltsgröße etc. etc.«.45

40  Ebd., S. 64. 41  Ulrich Beck, »Jenseits von Stand und Klasse?« (1983), in: ders. und Elisabeth Beck-

Gernsheim (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M., 1994, 43 – 60, S. 44. 42  Zur Übersicht: Rainer Geißler, »Das mehrfache Ende der Klassengesellschaft. Diagnosen sozialstrukturellen Wandels«, in: M. Rainer Lepsius, Jürgen Friedrichs und Karl Ulrich Mayer (Hg.), Die Diagnosefähigkeit der Soziologie. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie, Opladen, 1998, 207 – 233. 43  Beck, »Jenseits von Stand und Klasse?«, S. 43. 44  Kreckel, »Klassentheorie am Ende der Klassengesellschaft«, S. 38. 45  Luhmann, »Zum Begriff der sozialen Klasse«, S. 150. Zu Luhmanns Revision des Klassenbegriffs, s. o., Kap. 4, Abschnitt »Die Reinigung des Klassenbegriffs«.

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Wesentlich begünstigt wurde die Erosion des Klassenparadigmas durch das veränderte ideologische Klima der 1980er Jahre. Die politische Gegenoffensive des Neoliberalismus führte nicht nur in zahlreichen Ländern zu einer Verschiebung der Gewichte im Verhältnis von Wirtschaft und Staat; sie wurde langfristig auch kulturrevolutionär wirksam, als eine tiefgreifende Umarbeitung der Beziehungen der Subjekte untereinander und zu sich selbst. Freiheit und Unternehmergeist in eins setzend, bildete der Neoliberalismus eine spontane Ideologie der Selbstverwirklichung, die sich allerdings nicht gleichermaßen gegen alle Formen der Bindung und Zugehörigkeit richtete (Familie, Kirche und Nation blieben ungeschoren), sondern speziell gegen jene, in denen sich ein marxistischer ›Kollektivismus‹ zu verraten schien. Für die Propagandisten des Individualismus wurde ›Klasse‹ zum exemplarischen Reizwort, das unmittelbar der Idee des selbst erkämpften Aufstiegs, der persönlichen Verantwortung, des wohlverdienten Erfolgs entgegenzustehen schien. Ein 1976 von der englischen Conservative Party unter ihrer neuen Vorsitzenden Margaret Thatcher veröffentlichtes Strategiepapier nahm sich vor, den »class myth« zu zerstören: »Die Idee des ›Klassenkampfes‹ wie auch das Ideal der ›Klassenlosigkeit‹ sind heute gleichermaßen bedeutungslos.« Dabei wurde nicht abgestritten, dass es Klassen gebe; dies sei vielmehr ganz unvermeidlich, »solange Erfolg und Fähigkeit belohnt werden«. Die »Einheit der Nation« sei nicht durch die »Existenz von Klassen« bedroht, sondern durch die Existenz von »class feeling«, einer Empfindung von »Neid und Hass«, die durch Marxisten und Sozialdemokraten künstlich am Leben gehalten werde: »They need the ›class struggle‹ to justify both the instigation of industrial unrest and the expropriation by the State of the assets of ›capitalists‹«.46 Als sie 1979 Premierministerin des Vereinigten Königreichs wurde, gab sich Thatcher weiter dem Projekt einer Demontage des marxistischen Klassendenkens hin. Kollektivbegriffe wie ›Klasse‹ oder ›Gesellschaft‹ betrachtete sie als Hirngespinste der Linken, die lediglich dazu gut waren, von der Eigenverantwortung der Individuen abzulenken. In einem Interview mit der Zeitschrift Women’s Own verkündete Thatcher 1987 das Credo des sozialen Atomismus: »[W]ho is society? There is no such thing! There are individual men and women and there are families and no government can do anything except through people and people look to themselves first.« 47 Endgültig besiegelt schien das Schicksal des Klassendenkens, als ab 1989 die Regime des Realsozialismus kollabierten und das kapitalistische Modell seine weltweite Alleinherrschaft feierte. Ausdrücke wie Klasseninteresse und Klassenkampf verschwanden aus dem politischen wie akademischem Diskurs. Der 46  Conservative Party, The Right Approach (Conservative policy statement), Conservative Cen-

tral Office, 1976, online verfügbar unter: https://www.margaretthatcher.org/document/109439. Zuletzt geprüft am 3. Dezember 2019. 47  Margaret Thatcher, Interview for Woman’s Own (›no such thing as society‹). 1987, Sep 23, Source: Thatcher Archive (THCR 5/2/262), Margareth Thatcher Foundation, online verfügbar unter: https://www.margaretthatcher.org/document/106689. Zuletzt geprüft am 22. April 2020.

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siegreichen unternehmerischen Ideologie zufolge war dieser Niedergang des Klassenparadigmas ganz leicht zu erklären: Er bestätigte nur, dass die Politik des individuellen Aufstiegs erfolgreich war und dass das allgemeine Streben nach Wohlstand und Überfluss die sozialen Gegensätze eingeebnet hatte. Klassenbewusstsein und Klassenkampf, so wurde gesagt, könnten sich nur dort halten, wo es eklatante soziale Gegensätze gebe; das Schwinden des Klassendiskurses sei durch die Abnahme der gesellschaftlichen Ungleichheit zu erklären. Doch kann – gerade in den letzten Jahren – von einer Tendenz zum sozialen Ausgleich keine Rede sein. Zudem weist einiges darauf hin, dass es ein einfaches proportionales Verhältnis von Ungleichheit und Klassenzorn nicht gibt. Vielmehr lässt sich das Umgekehrte beobachten: Eine vergleichende Studie kam 2016 zu dem Ergebnis, dass ein »hohes Maß an Ungleichheit« keineswegs »automatisch zu stärkeren egalitären Forderungen« führt. Paradoxerweise werden »Einkommensunterschiede eher akzeptiert, wenn sie auch als größer empfunden werden«.48 Gerade in den Ländern, die von ausgeprägter sozialer Ungleichheit bestimmt sind, wie z. B. die USA oder Großbritannien, werden die Unterschiede eher als ›natürlich‹ hingenommen. Ein »effect of class«, d. h. ein solidarischer Zusammenschluss der Armen, ist in diesen Gesellschaften am wenigsten wahrscheinlich. Dies hat offenbar damit zu tun, dass in neoliberal durchtrainierten Gesellschaften auch die am wenigsten Bevorzugten dazu gekommen sind, die meritokratische Ideologie der Oberschicht zu übernehmen; sie lehnen den Egalitarismus ab, weil sie darin eine »Einstellung der Verlierer« sehen.49 Möglicherweise lässt sich diese Beobachtung verallgemeinern. Das Verschwinden des sozialen Klassenbegriffs gegen Ende des 20. Jahrhunderts wäre dann in ähnlicher Weise zu erklären wie sein Auftauchen gegen Ende des 17. Jahrhunderts. Damals entsprach das Klassenvokabular einer Bewegung des sozialen Aufstiegs; es handelte sich um die Sprache der Modernisierungsgewinner von 1700. Für Aufstieg, Fortschritt und kommendes Glück stand ›Klasse‹ auch in der Arbeiterbewegung, zumindest in ihren besseren Momenten. Wer dagegen nach 1989 noch von ›Klasse‹ sprach, verortete sich auf der Seite der Besiegten, der Verlierer der Geschichte. In einer Gesellschaft, in der alles darauf ankam, die eigene Marktüberlegenheit unter Beweis zu stellen, erschien es als peinlich, sich einer Klasse zuzuordnen, noch dazu, wenn sie nach eigenem Eingeständnis von einer anderen systematisch übervorteilt wurde. Die wenn auch illusionäre Vorstellung, 48  Renzo Carriero, More inequality, fewer class differences. The paradox of attitudes to redistribution across European countries, 2016, online verfügbar unter: https://iris.unito.it/retrieve/ handle/2318/1564280/141843/More%20inequality%20fewer%20class%20differences%20x%20 Iris.pdf. Zuletzt geprüft am 12. April 2020, S. 20. 49  Gerald Wagner, »Von wegen Klassenbewusstsein. Wo es große Einkommensunterschiede gibt, sind auch die Armen eher gegen Umverteilung«, Frankfurter Allgemeine Zeitung / FAZ Net, 02. 10. 2016, online verfügbar unter: http://www.faz.net/aktuell/wissen/geist-soziales/sozialesysteme-von-wegen-klassenbewusstsein-14440373.html. Zuletzt geprüft am 12. Dezember 2018.

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auf die Seite der Gewinner überzuwechseln, war attraktiver geworden als die Idee eines solidarischen Zusammenschlusses der Ausgebeuteten. Der Triumph der neoliberalen Affektordnung zeigt sich nicht zuletzt darin, dass heute nichts so weit entfernt scheint wie das einst so mächtige Gefühl der ›Liebe zur Klasse‹.

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23.

DIE KLASSIFIZIERENDE GESELLSCHAFT Die starke polemische und sogar libidinöse Besetzung, die der Begriff der Klasse in der Zeit nach 1968 erfahren hatte, verlor sich in den 1980er Jahren. Heute ist von sozialer Klasse kaum noch die Rede, und die wenigen Versuche, den Begriff wieder in die öffentliche Diskussion einzuspeisen, haben eher den Charakter einer nostalgischen Erinnerung als den einer effektiven Wiedererweckung. Das allmähliche Absterben des kämpferischen, marxistisch konnotierten Klassendiskurses bedeutet jedoch keineswegs, dass damit auch das Paradigma der Klasse an sein Ende gelangt sei. Eher lässt sich sagen, dass das Denken der Klasse seine Richtung gewechselt hat: Es ist vom Pol der polemischen Entgegensetzung (also vom Paradigma des Klassenkampfes) wieder zu dem der bürokratischen Einteilung und Registrierung (also zum Paradigma der Klassifizierung) umgeschwenkt. Was als Ende der Klassengesellschaft beschrieben wurde, bezeichnet nicht das Ende der klassenförmigen Einteilung der Gesellschaft, sondern nur den Übergang zu einem anderen Modus der Klassifizierung. Die seit den 1980er Jahren zu beobachtenden »Individualisierungsprozesse« schienen der Einordnung in Klassen zuwiderzulaufen;1 in Wahrheit zeugten sie jedoch nicht von einer Schwächung des Prinzips der klassifikatorischen Teilung, sondern eher von seiner Verfeinerung und kapillaren Ausbreitung. An die Stelle der grobschlächtigen Einordung nach der Stellung im Produktionssystem trat ein komplexes System der Mikroklassifizierung, in dem neben den alten, ständischen oder klassengesellschaftlichen Kriterien zahlreiche neue Parameter – von Konsumentscheidungen über Mobilität und Ausbildungszertifikate bis zur sexuellen Präferenz – eine zunehmend wichtige Rolle spielten. Die Gesellschaft, die sich gestern noch als Klassengesellschaft beschreiben ließ, präsentiert sich heute in der Form einer »classification society«,2 einer Gesellschaft, deren Ordnung durch permanente klassifikatorische Einschätzung, Bewertung und Neugruppierung bestimmt ist. Mit dem Wechsel von der grobschlächtigen Entgegensetzung der Klassenblöcke zur sorgsamen Registrierung der kleinen Unterschiede scheint die soziale Klassifizierung nur dem allgemeinen Zug der Zeit zu folgen: Von den ›großen Erzählungen‹ zur mikropolitischen Analyse, von den binären Oppositionen zum Spiel der Differenzen. Doch bezeichnet der Abschied vom dichotomischen Klas1  Vgl. Ulrich Beck u. Elisabeth Beck-Gernsheim (Hg.), Riskante Freiheiten. Individualisierung

in modernen Gesellschaften, Frankfurt a. M., 1994. 2  Der Ausdruck »classification society« geht auf die österreichische Physikerin, Informatikerin und Wissenschaftsforscherin Ina Wagner zurück. Bowker und Star verwenden den Begriff beiläufig und geben als Quelle eine »personal communication« mit Wagner an. Vgl. Bowker u. Star, Sorting things out, Anm. 59, S. 333.

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senantagonismus keineswegs eine Überwindung des Klassenprinzips. Auch nach dem vielfach verkündeten Ende der Klassengesellschaft behält das Verfahren der klassifikatorischen Teilung des Sozialen seine Wirksamkeit, und merkwürdigerweise kommt das Denken der Klasse dabei auf Muster und Mechanismen zurück, die zur Frühzeit der sozialen Klassenteilung gehören – ähnlich wie die Menschen, die im höchsten Alter wieder zu Kindern werden. Was als ›postmoderne‹ Auflösung des Klassendenkens erscheint, stellt sich aus historischer Perspektive eher als eine Reise in die Vergangenheit, als eine Rückkehr zu den frühmodernen Ursprüngen dar. Die in diesem Buch beleuchteten Schicksale des frühen Klassenbegriffs gewinnen auf diese Weise eine unverhoffte Aktualität. In mehr als einer Hinsicht erscheint die ›klassifizierende Gesellschaft‹3 von heute als ein historisches Reenactment der ›klassischen‹ Zeit der Klassifizierung.

Von der Klasse zum Cluster Am deutlichsten zeigt sich dieses geschichtliche Wiedergängertum im Triumph der bürokratischen Filiation des Klassendenkens. Das heutige Regime der Mikroklassifizierung steht in direkter Kontinuität zu den Aufzeichnungs- und Einordnungsverfahren des bürokratischen Absolutismus. Der Kern seines Betriebssystems stammt noch aus den Tagen der frühneuzeitlichen Staatsmaschine. Die numerische Erfassung und laufende Hochrechnung des Sozialen, eingeübt in der Politischen Arithmetik des 17. Jahrhunderts, wird in den heutigen Marketing- und Regierungstechnologien fortgeschrieben, natürlich mit ungeheuer gesteigerten Datenmengen und Rechenkapazitäten. Ein Unterschied liegt allerdings in der Art, wie die Daten in Klassen geordnet werden: Während im 17. und 18. Jahrhundert empirische Daten nur erhoben wurden, um sie sogleich einer tabellarischen Einordnung zu unterwerfen, sie also von Anfang an durch die Klassifizierung bestimmt waren, in die sie sich einzufügen hatten, erlauben es die heutigen Speichermöglichkeiten, Daten auch ohne sofortige Verarbeitung, d. h. ›auf Vorrat‹ zu erheben, um sie bei Bedarf nach beliebigen Kriterien und mit den jeweils aktuellsten Werkzeugen durchsuchen zu können. Die Klassifikationsmacht der Gegenwart beschränkt sich nicht darauf, einem Gegenstand oder einer Person einen bestimmten Platz in einem tabellarischen Raster zuzuweisen; sie besteht darin, über ein Meer von Daten zu verfügen, dessen Elemente jederzeit aufgegriffen und neu angeordnet werden 3  Der Ausdruck ›klassifizierende Gesellschaft‹ vermeidet die Mehrdeutigkeit von ›classification society‹ oder ›Klassifikationsgesellschaft‹. ›Classification society‹ bezeichnet üblicherweise eine Vereinigung zur Definition und Durchsetzung von Klassifikationen und technischen Standards. Das deutsche Wort ›Klassifikationsgesellschaft‹ meint, noch spezieller, ein Unternehmen zur technischen Zertifizierung von Schiffen (vgl. Wikipedia – Die freie Enzyklopädie, Klassifikationsgesellschaft, online verfügbar unter: https://de.wikipedia.org/ wiki/Klassifikationsgesellschaft. Zuletzt geprüft am 11. Mai 2020).

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können. »Search don’t Sort«:4 Die permanente Abschöpfung und Auswertung von Datenströmen ist an die Stelle der einmaligen Eintragung in eine Liste oder eine Tabelle getreten. Die neue Ordnung des Wissens verlässt sich nicht mehr auf fixe tabellarische Einteilung und hierarchische Datenbankorganisation; sie artikuliert sich in einem System von Mikroklassifikationen, durch das laufend sämtliche Aspekte des privaten und öffentlichen Lebens metrisch erfasst und nach wechselnden Kriterien gefiltert, skaliert und ›gerankt‹ werden. Diese neue Auffassung von Klassifizierung hat Folgen auch für den gesellschaftlichen Klassenbegriff. Während die alten, bürokratischen Karteisysteme noch die Evidenz relativ stabiler, dauerhafter sozialer Klassen hervorbringen konnten, erzeugen die ewig summenden Kalkulationssysteme unserer Tage eher den Eindruck der Beliebigkeit der Einteilungskriterien und der Flüssigkeit der Zuordnungen. Innerhalb einer allseits klassifizierten und sich unablässig klassifizierenden Gesellschaft stellen Klassen nichts anderes dar als vorübergehende Stichproben, Momentaufnahmen in einem unendlichen Prozess des ›Data Mining‹. Aus dem Dauerbetrieb der Klassifikationsmaschinen treten keine Klassen im gewohnten Sinn mehr hervor; allenfalls lässt sich von ›Clustern‹ sprechen, flüchtigen Zusammenballungen von Ereignissen, Häufungen von Merkmalen zu einer bestimmten Zeit und an einem bestimmten Ort, Mengen, die sich bilden und auflösen wie Wolken. Gilles Deleuze hat 1991 den Ausdruck Kontrollgesellschaft verwendet, um die damals sichtbar werdende Form einer Herrschaft zu bezeichnen, die nicht mehr auf hierarchischer Festlegung und disziplinarischer Verortung, sondern auf einer flexiblen, modulatorischen Steuerung beruht. Der Übergang von der Disziplin zur Kontrolle erschöpft sich nicht in einem schlichten Ersatz von Straftechniken durch Überwachungstechniken; er bezeichnet vielmehr eine grundlegende epistemologische Veränderung, eine gänzlich neue Art, die Erscheinungen der Welt zu erfassen, einzuteilen und handhabbar zu machen. Die Mechanismen der Kontrolle sind keine bloßen Erweiterungen oder Ergänzungen der alten Techniken der Disziplinierung, sie beruhen vielmehr auf einer anderen »Geometrie«, einem neuen Raster, dessen Einteilungen nicht mehr starr festgelegt, sondern jederzeit veränderbar sind: Die Einschließungen sind unterschiedliche Formen, Gußformen, die Kontrollen jedoch sind eine Modulation, sie gleichen einer sich selbst verformenden Gußform, die sich von einem Moment zum anderen verändert, oder einem Sieb, dessen Maschen von einem Punkt zum anderen variieren.5

4  Zu diesem 2004 von Google lancierten Slogan vgl. Mario Carpo, The second digital turn. Design beyond intelligence, Cambridge, Mass, 2017, S. 23. 5  Deleuze, »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, S. 256

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Diese Veränderung der Geometrie oder des Einteilungsmodus impliziert, wie Deleuze bemerkt hat, zugleich einen Wandel der Subjektivierungsweise: Während das alte, disziplinarische System darauf baute, ›Individuen‹ herzustellen, ihre Einheit zu sichern und sie an ihrem Ort festzuhalten, können es sich die neuen, kybernetischen Kontrollregime leisten, von der Einheit der Individuen abzusehen und ihre ganze Aufmerksamkeit auf die Erstellung von Bewegungsmustern und Merkmalsprofilen zu richten. Der Unterschied von Disziplinargesellschaft und Kontrollgesellschaft ist damit nicht zuletzt ein Unterschied der Klassifizierungsweise: Wenn die Herrschaft der Disziplin davon abhing, jederzeit Identität und Ort des Subjekts durch »Signatur« und »Registriernummer« bezeichnen zu können, wird in der Kontrollgesellschaft alles durch die flexible Zuteilung von »Chiffren« geregelt: Die numerische Sprache der Kontrolle besteht aus Chiffren, die den Zugang zur Information kennzeichnen bzw. die Abweisung. Die Individuen sind ›dividuell‹ geworden, und die Massen Stichproben, Daten, Märkte oder ›Banken‹.6

Während die Disziplin mit dem Individuum zugleich die Masse hervorbrachte (als kollektiven Arbeitskörper, aber auch als »Widerstandsmasse«), arbeitet die Kontrolle an der Auflösung beider: So wie die neue Form der Mikroklassifizierung jedes einzelne Individuum »durchläuft und in sich selbst spaltet«,7 es auf den Status eines »›dividuellen‹ Kontroll-Materials« reduziert,8 so zerstört sie auch die Grundlage für die Bildung einer dauerhaften Masse, oder, wenn man so will, einer ›Klasse‹, die aufgrund der Gemeinsamkeit ihrer Interessen zusammenkommen könnte. Deleuze selbst deutet an, dass damit auch gewerkschaftliche Organisationsformen, die »an den Kampf in den Einschließungsmilieus oder gegen die Disziplinierungen« gebunden waren, überholt seien; er spricht von »neuen Widerstandsformen«, die nötig seien, um es mit der Herrschaft der Kontrolle aufzunehmen.9

Die freiwillige Verstrickung Wie dieses Buch zu zeigen versucht hat, fällt die klassifikatorische Weltordnung nicht vom Himmel, sie ist kein ›Geschick‹, das überraschend über die Menschen gekommen wäre. Es war vielmehr die allmähliche und geduldige Ausbreitung klassifikatorischer Verfahren und Praktiken, aus der schließlich die Evidenz einer in Klassen geteilten Gesellschaft hervorging. Medien spielten in diesem Prozess 6  7  8  9 

Ebd., S. 258. Ebd., S. 257. Ebd., S. 262. Ebd., S. 262.

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der Hervorbringung eine besondere Rolle, nicht nur als Massenmedien, d. h. als zentrale Agenturen der Verbreitung von klassifikatorischen Ordnungsprinzipien, sondern ebenso als Konversationsmedien der polite society, in denen das wechselseitige ›Classing‹ zu einem lustvoll betriebenen Sport wurde. Begeistert von der Entdeckung eines neuen intellektuellen Spielzeugs betrieben die Nutzer des frühen 18. Jahrhunderts die Klassifizierung ihrer Mitmenschen und ihrer selbst, und sie zeigten deutlich, welche Machtgefühle sie mit der Möglichkeit der arbiträren Einteilung verbanden.10 In ähnlicher Weise ist auch die aktuelle Durchdringung der Gesellschaft durch unzählige Mechanismen der infinitesimalen Kontrolle und Verhaltenssteuerung kein von außen zugefügtes Schicksal; sie beruht auf der freiwilligen und leidenschaftlich vorangetriebenen Selbstbeobachtung und Selbstklassifizierung der Subjekte. Diese Bewegung der Internalisierung von Kontrolle, der allgemeine Hang zur ständigen Überwachung und Bewertung des eigenen Verhaltens wird heute aus naheliegenden Gründen mit dem Einfluss der Social Media in Verbindung gebracht. Der Wandel von einer äußerlich zugreifenden Disziplin zu einer internalisierten, ›reflexiven‹ Selbstkontrolle zeichnet sich jedoch schon einige Zeit vor dem Siegeszug der großen interaktiven Internet-Plattformen ab. Als wesentliches Entstehungsmoment der heutigen Kultur der Selbstbeobachtung und Selbstpräsentation lässt sich die subjektive Wende der 1970er Jahre (›Neue Innerlichkeit‹, ›Selbsterfahrung‹, ›Neuer Sozialisationstyp‹ etc.) betrachten. Colin Gordon hat darauf hingewiesen, wie leicht der damals eingeübte Imperativ der ›Selbstverwirklichung‹ mit den Erfordernissen der neoliberalen Regierungsmentalität zusammenfand: Es fällt auf, dass dort, wo, wie im zögerlich neoliberalen Frankreich der 1970er Jahre, das ›Recht auf permanente Umschulung‹ in eine Art institutionelle Realität übersetzt wurde, sein technischer Inhalt stark auf den Beiträgen der ›neuen psychologischen Kultur‹ beruhte, jenem Füllhorn von Techniken des Selbst, die Eignung mit Selbsterkenntnis und Leistung mit Selbstverwirklichung (ganz zu schweigen von der Selbstdarstellung) symbiotisieren. Was von einigen Kulturkritikern als Triumph eines selbstverzehrenden Narzissmus diagnostiziert wird, kann vielleicht angemessener als Teil der mit der Kapitalisierung des Lebenssinns einhergehenden Managerialisierung der persönlichen Identität und der persönlichen Beziehungen verstanden werden.11

10  S. o., Kap. 16, Abschnitt »Klassifizierung als Gesellschaftsspiel«. 11  Colin Gordon, »Governmental rationality. An introduction«, in: Graham Burchell, Peter

Miller und Colin Gordon (Hg.), The Foucault effect. Studies in governmentality. With two lectures by and an interview with Michel Foucault, Chicago, Ill., 1991, 1 – 51, S. 44.

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In einem ähnlichen Sinn hat der Soziologe Alain Ehrenberg die Ursprünge der neoliberalen Kultur der Selbstoptimierung in der Emanzipationsbewegung von 1968 verortet. Die damals postulierte ›Befreiung‹ von den Zwängen der Gesellschaft hatte den paradoxen Effekt, den Anpassungsdruck von außen nach innen zu verlagern und dem Individuum die Bürde der permanenten »Selbstverwirklichung« aufzuerlegen: »In den 1970er Jahren beginnt sich die Vorstellung durchzusetzen, dass jedem sein Leben selbst gehöre. Der Massenmensch beginnt, sein eigener Herr zu werden. Sein Horizont ist die Selbstverwaltung des eigenen Lebens.« 12 Was als Kampf um die Befreiung der Subjektivität beginnt, mündet bald in die zwiespältigen Freuden der permanenten Identitätspflege: »In den 1980er Jahren ist die Selbstdarstellung so selbstverständlich geworden, dass eine Hausfrau von unter 50 Jahren kaum zögert, selbst die kleinsten Details ihres Privatlebens im Fernsehen zu schildern.« 13 Solche Beobachtungen sollten nicht dazu dienen, die Alternativkultur der 1970er insgesamt unter den Verdacht einer ideologischen Erneuerung des Kapitalismus zu stellen. Entscheidend ist jedoch der Hinweis auf den Anteil von Lust und Eigeninitiative in der Durchsetzung der Kultur des verallgemeinerten Wettbewerbs. Wie Deleuze deutlich gemacht hat, beschränkt sich die Wirksamkeit des kontrollgesellschaftlichen Regimes nicht einfach auf die Perfektionierung einer Reihe ›von oben‹ auferlegter Überwachungsverfahren; die Perfidie dieser Herrschaftsweise liegt vielmehr darin, den Imperativ der permanenten Selbstüberprüfung und Selbstoptimierung in eine Sache des Begehrens zu verwandeln. Kontrollgesellschaft heißt nicht einfach eine Überwachung der Vielen durch einige Wenige; es heißt, dass potentiell alle sich in die Kontrolle einreihen, ihre Erfüllung und ihren Spaß daran finden, sich und andere permanent im Hinblick auf die erbrachte ›performance‹ zu beobachten und zu bewerten. Deleuze betrachtete es als symptomatisch für die neue Form der freiwilligen Knechtschaft, dass die jungen Leute »seltsamerweise« danach verlangten, »motiviert« zu werden, dass sie sich in ihrem Streben nach »neuen Ausbildungs-Workshops und nach permanenter Weiterbildung« freiwillig dem Diktat der wettbewerblichen Positionierung unterwarfen.14 Noch beunruhigender wären Deleuze vermutlich die Subjektivierungswirkungen vorgekommen, die sich kurz darauf aus der Medienrevolution des World Wide Web ergaben. Das Internet, das sich in seinen Anfangsjahren als heterotopischer Entwurf einer neuen, nichthierarchischen Gemeinsamkeit darstellen konnte,15 erschien wenig später, zu Beginn der 2000er Jahre, als ein von wenigen 12  Alain Ehrenberg, Das erschöpfte Selbst. Depression und Gesellschaft in der Gegenwart,

Frankfurt a. M., 2004, S. 135.

13  Ebd., S. 197. 14  Deleuze, »Postskriptum über die Kontrollgesellschaften«, S. 262. 15  Stellvertretend für eine ganze Generation beschreibt der Whistleblower Edward Snowden

die Offenbarung der grenzenlosen »connectivity«: »Internet access, and the emergence of

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großen Konzernen beherrschtes und von staatlichen Geheimdiensten kontrolliertes Gelände, das – gegen seine technischen Möglichkeiten – eine immer stärker gleichgerichtete und warenförmig verwertbare Kommunikation hervorbrachte. Mit ihren konfektionierten Formaten kamen die sogenannten Social Media dem massenhaften Bedürfnis nach werbeförmiger Präsentation der eigenen Persönlichkeit entgegen; der bereist eingeübte Drang zur Selbstvermarktung fand hier eine einfache technische Umsetzung. Die Social Media, mit denen sich anfangs vielfach die Hoffnung auf eine vielstimmigere Kommunikation und eine weniger hierarchische Form der gesellschaftlichen Verbindung verband, erwiesen sich bald als Vertriebsagenturen des Normalzustands, als Subjektivierungsmaschinen, die die im Berufs- und Geschäftsleben wirksame Anspannung der Dauerevaluierung auch noch auf die informellen Beziehungen ausweiteten. In seinem Buch Komplizen des Erkennungsdienstes hat Andreas Bernard auf die Merkwürdigkeit aufmerksam gemacht, dass eben jene medialen Verfahren und Formate, die heute als Mittel zur Bereicherung und selbstbestimmten Inszenierung der eigenen Person gefeiert werden – vom ›Profil‹ über die ›Ortung‹ bis zum ›Quantified Self‹ – auf eine fragwürdige Tradition der polizeilichen und psychiatrischen Dingfestmachung und Menschenvermessung zurückgehen: »Techniken der Datenerfassung, die lange Zeit für polizeiliche oder wissenschaftliche Autoritäten reserviert waren, um den Zugriff auf einen auffälligen Personenkreis zu sichern, betreffen heute jeden Nutzer eines Smartphones oder Sozialen Netzwerks.« 16 Hervorzuheben ist auch hier wieder der Anteil der Freiwilligkeit. Wenn die erkennungsdienstlichen Verfahren von einst »heute zur Identifikation von Konsumenten genutzt« werden, so handelt es dabei nicht um einseitig auferlegte Ausforschungsmaßnahmen. Die Marktforschungsstrategien der Konzerne können vielmehr auf »eine ausgeprägte Bereitschaft zum Eigenmarketing« setzen:17 »Erzwungene Verfahren der Erfassung haben sich in freiwillige Selbststilisierungen verwandelt, die Knebelungen der Polizei und Strafjustiz kehren wieder im losen, heiteren Gewand des Marketings.« 18 In der Debatte über Internetkonsum und Social-Media-Interaktion wird häufig darauf hingewiesen, dass das, was die Subjekte für persönliche Kommunikation und individuellen Ausdruck halten, sich aus einer anderen Perspektive, der der Internetkonzerne, Marketingagenturen oder Geheimdienste, lediglich als the Web, was my generation’s big bang or Precambrian explosion. It irrevocably altered the course of my life, as it did the lives of everyone. […] The Internet was my sanctuary; the Web became my jungle gym, my treehouse, my fortress, my classroom without walls.« Edward Snowden, Permanent record, New York, 2019, S. 42. 16  Andreas Bernard, Komplizen des Erkennungsdienstes. Das Selbst in der digitalen Kultur, Frankfurt a. M., 2017, S. 9 – 10. 17  Ebd., S. 198. 18  Ebd., S. 191.

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kostenlose Datenlieferung darstellt. Weniger diskutiert ist die Tatsache, dass diese Abschöpfung genau deshalb so gut funktioniert, weil die in den Social Media vorherrschende Kommunikation selbst schon datenförmig, bereits auf ihre klassifikatorische Erfassung angelegt ist. Wenn die Antwort in der Frage schon vorgegeben ist, wird Kommunikation auf bloßes ›Feedback‹ verkürzt – ein Mechanismus der semiotischen Reduktion, den Jean Baudrillard schon Mitte der 1970er Jahre beschrieben hat: Durch die bloße Tatsache, daß sich heute alles als Skala oder Stufenleiter darstellt, wird man schon getestet, weil man gezwungen wird, zu selektieren. […] Wie man für einen Verbrauchertest eine Warenprobe aussucht, so verfahren die Medien mit den Rezipienten: mit ihren gebündelten Botschaften, die in Wirklichkeit Bündel von selektierten Fragen sind, markieren und entnehmen sie Empfänger-Proben.19

In ähnlicher Weise funktionieren die Social Media als feingliedrige Messfühler zur Abfrage von Meinungen, Absichten und Stimmungen; dabei gilt immer noch die Bedingung, dass sich die ›response‹ der Subjekte in klassifikationsfreundlicher Form, als ja-nein-Alternative oder als numerischer Wert darstellen lassen muss. Dass diese permanente Datenentnahme funktioniert, hat vor allem mit dem Umstand zu tun, dass die Kunden der Kommunikationsunternehmen die Reduktion ihrer Lebenswirklichkeit auf einfache binäre Oppositionen oder messbare Größen keineswegs als beleidigend empfinden, sondern eine besondere Lust daraus ziehen, sich in einem standardisierten Verfahren dem messenden Vergleich mit ihresgleichen auszusetzen. Die Reichweite der klassifikatorischen Tätigkeit beschränkt sich damit nicht mehr auf staatliche und kirchliche Bürokratien oder auf die Marktforschungsabteilungen der Industrie. Die Menschen, die heute ihre persönlichen Erlebnisse, ihre privaten Vorlieben oder die Leistungsmerkmale ihres Körpers im Internet ausstellen, sind selbst willfährige Agenten der tabellarischen Einspeisung, äußerste Vorposten der klassifikatorischen Megamaschine, die unablässig die Rohdaten des gewöhnlichen Lebens in durchsuchbare BigData-Bestände transformiert. Klassifikation ist damit zu einer »shared practice« geworden.20 Die Kehrseite dieser scheinbar demokratischen Ausweitung ist, dass die klassifikatorische Einordnung, die zuvor noch ein begrenztes Verfahren darstellte und vielfach als herrschaftstechnische Zumutung erkannt wurde, zu einer alles durchdringenden und unsichtbaren Alltagsideologie geworden ist. Klassifizierung erscheint nicht mehr als ein von außen auferlegter Zwang, eine bürokratische Unannehmlichkeit, der man sich notgedrungen von Zeit zu Zeit unterziehen muss. Sie wird vielmehr zu dem Normalmodus, in dem Subjektivität 19  Baudrillard, Der symbolische Tausch und der Tod, S. 100. 20  Andrea Mubi Brighenti, Visibility in social theory and social research, Houndmills [u. a.],

2010, S. 92.

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sich darstellt und bewährt; sie bildet das Format, in dem sich ›Individualität‹ in zeitgemäßer Weise zu erkennen gibt.

Lockruf des Volkes In einer weiteren Hinsicht erweist sich die Frühzeit der Klassenteilung als aufschlussreich für heutige Entwicklungen. Die in diesem Buch porträtierte Epoche ›um 1700‹ war eine Zeit des Umbruchs. Die Streitigkeiten zwischen Royalisten und Commonwealth-Anhängern, Tories und Whigs, Ancients und Moderns lassen sich als Positionierungskämpfe innerhalb einer bestehenden Hierarchie auffassen, doch wurde darin zugleich noch mehr verhandelt. In den Gegensätzen, die sich innerhalb des etablierten Systems der gesellschaftlichen Teilung artikulierten, stand zugleich die Differenzierungsweise, das Prinzip der Teilung selbst auf dem Spiel. Die Interventionen der Modernisten zielten nicht nur auf einzelne Lockerungen des ständischen Gefüges, sie drangen auf eine andere Partitionierung des Sozialen; sie verfolgten das Programm einer neuen, ›rational‹ eingeteilten, klassifikatorisch erfassten Gesellschaft. Umgekehrt erkannten die Traditionalisten ziemlich genau, worauf all die kleinen Vorstöße zur arithmetischen Neubeschreibung der Gesellschaft hinausliefen. Nicht ohne Grund sahen sie in den Praktiken der Zählung und Berechnung eine Bedrohung der ständischen und grundherrschaftlichen Ordnung; sie wehrten sich, indem sie sentimentale Bilder einer althergebrachten Standesharmonie heraufbeschworen und die populären Affekte gegen Geschäftemacher und Spekulanten für ihre Zwecke instrumentalisierten. Der von den Konservativen des frühen 18. Jahrhunderts vertretene ›romantische Antikapitalismus‹ bezog seine Kraft unter anderem daraus, dass er sich als Revolte gegen das ›anonyme‹ System der Klassifizierung, gegen die ›kalte‹ Sozialtechnologie der Politischen Arithmetik inszenieren konnte.21 Einige Züge, die die in den 1710er Jahren inszenierte Schlacht zwischen ›Land‹ und ›Geld‹, die ideologische Offensive der Grundbesitzerpartei gegen die heraufziehende Herrschaft der Händler und Bankleute bestimmt hatten, tauchen heute in kaum veränderter Form wieder auf. Wie der Tory-Radikalismus der 1710er Jahre ist der heutige Rechtspopulismus nicht als Bewegung der ›kleinen Leute‹ zu erklären; damals wie heute handelt es sich um eine sozial äußerst heterogene Koalition, die von Ultrareichen bis zu Notleidenden reicht. Ausgangspunkt des Zusammenschlusses ist nicht die Ähnlichkeit der ökonomischen Lage, sondern das gemeinsame Gefühl einer Bedrohung des Status, des bereits eingetretenen oder sich ankündigenden gesellschaftlichen Abstiegs. Wie in der Tory-Reaktion des frühen 18. Jahrhunderts ist in der heutigen rechtspopulistischen Bewegung ein antimodernistischer Impuls wirksam, der sich allerdings nicht gegen die kapitalistische Moderne im Allgemeinen, sondern selektiv gegen deren deterri21  S. o., Kap. 19, Abschnitt »Swifts anti-arithmetischer Kampf«.

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torialisierende Tendenz richtet. Ihre Feinde findet die Bewegung in den Figuren, die in besondere Weise für die »ewige Unsicherheit und Bewegung« der globalisierten Ökonomie stehen.22 Im London des frühen 18. Jahrhunderts waren dies die Händler, Bankiers und Börsenmakler, und unter diesen insbesondere die protestantischen Dissenters, die Holländer und die Juden. Unter den Bedingungen einer weiter fortgeschrittenen Globalisierung hat sich dieses Spektrum verschoben und erweitert (auf den Islam, auf Flüchtlinge und Migranten, sowie allgemein auf ›Fremde‹).23 Der Erfolg der populistischen Strategie gründet sich auf das paternalistische Versprechen, der bedrohlichen Tendenz der ›Entortung‹ entgegenzutreten und die Angehörigen der heimischen Herde, des ›eigenen‹ Volks, vor Eindringlingen und dem Einfluss fremder Mächte zu schützen. Im Tory-Populismus des frühen 18. Jahrhunderts ist schließlich auch schon die polemische Unterscheidung vorgezeichnet, aus der der heutige Rechtspopulismus seine politische Schlagkraft bezieht: Der Herrschaftstrick des landbesitzenden Establishments bestand darin, den eigentlichen gesellschaftlichen Gegensatz nicht im Unterschied von Arm und Reich zu verorten, sondern im Unterschied von persönlicher Autorität der alteingesessenen Landbesitzer und künstlicher, ortloser Macht der neureichen Geldleute. Ähnlich will auch der heutige Rechtspopulismus von Klassengegensätzen nichts wissen. Maßgeblich ist für ihn vielmehr der Gegensatz von ›Volk‹ und ›Eliten‹: Auf der einen Seite steht das reine, unverdorbene ›Volk‹, das wesentlich durch seine territoriale Verwurzelung gegeben ist; auf der anderen Seite stehen die korrupten ›Eliten‹, die über die Bedürfnisse und Nöte des Volks erhaben sind und es den Gewalten der globalen Konkurrenz ausliefern. Gegenüber dem Prinzip der Klassenteilung, das gerade den Benachteiligten als »zu weit weg und zu abstrakt« erscheinen kann,24 hat die Entgegensetzung von verwurzeltem Volk und ortloser Elite den propagandistischen Vorteil der unmittelbaren Anschaulichkeit und plakativen Deutlichkeit. Heutige politische Debatten, gleichgültig zu welchem Thema, kommen daher mit instinktiver Sicherheit immer wieder auf diese Unterscheidung zurück. Als wichtigste gesellschaftliche Spaltungslinie, als ›Great Divide‹ gilt nicht mehr der Unterschied der Klassenposition, sondern der Abgrund, der die Kultur der lokal gebundenen »Somewheres« von der der globalisierten »Anywheres« trennt.25

22  Marx u. Engels, »Manifest der Kommunistischen Partei«, S. 465. 23  Was sich jedoch mit großer Beharrlichkeit erhält, ist die antisemitische Komponente, die

in allen rechtspopulistischen Bewegungen lebendig ist, auch wenn sich einzelne Anführer, wie Trump oder Bolsonaro, betont philosemitisch geben. 24  Eribon, Gesellschaft als Urteil, S. 45. 25  Die Unterscheidung geht auf den Journalisten David Goodhart zurück, vgl. David Goodhart, The road to somewhere. The populist revolt and the future of politics, London, 2017, S. 3.

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Zurück zur Klasse? Angesichts der beunruhigenden Zunahme nationaler, völkischer und fanatischreligiöser Identifizierungen ist es kein Wunder, dass die Linke sich in den letzten Jahren wieder an das Klassenprinzip erinnerte und seine Identifizierungsmacht zu reaktivieren versuchte. Dass die Menschen sich auf archaische und phantasmatische Teilungsprinzipen wie Volk, Nation, Kultur oder religiösen Glauben beriefen, schien vor allem damit zu tun zu haben, dass sie den eigentlich entscheidenden Klassengegensatz aus den Augen verloren hatten. So wurde immer wieder der Ruf nach einer Rückkehr zur Klasse laut; wie ein Echo folgte er auf jeden rechtspopulistischen Wahlerfolg. Dass Donald Trump im November 2016 die amerikanischen Präsidentschaftswahlen gewann, wurde umgehend darauf zurückgeführt, dass die Demokraten ihre angestammte Klientel, die weiße, von internationaler Konkurrenz bedrohte, Arbeiterklasse vergessen und sich in ›Minderheitenpolitik‹ verlaufen hätten. Die als natürlich erscheinende Forderung bestand darin, sich auf die Klasse und den Klassenkampf zu besinnen, um den populistischen Täuschungsmanövern entgegenzutreten und die Wut der Ausgebeuteten und Entrechteten wieder in die richtigen Bahnen zu lenken. Didier Eribons Rückkehr nach Reims war in der deutschen Übersetzung (2017) wohl auch deshalb so erfolgreich, weil das Buch nun, anders als die französische Erstveröffentlichung (2009), als Programmschrift für eine ›Rückkehr zur Klasse‹ gelesen wurde.26 Allerdings handelte sich um eine durchaus selektive Rehabilitation: Eribon plädierte für eine Wiederaufnahme der Klassenanalyse, verweigerte sich aber der »mystischen Beschwörungsformel vom ›Klassenkampf‹«.27 Einen genau entgegengesetzten, nämlich explizit auf die mythischen Potenziale des Klassenkampfs 28 zielenden Versuch zur Rettung des Klassenbegriffs unternahm Patrick Eiden-Offe mit seinem Buch Die Poesie der Klasse (2017). Die Suche nach einer »andere[n] Bildsprache von Klasse« 29 nahm hier den Weg der historischen 26  Vgl. Rudolf Walther, »Vom Feuilleton verwurstet. Der französische Soziologe Didier Eribon wird als Welterklärer missverstanden – und seine Autobiografie für Wahlanalysen missbraucht«, taz, 21. 02. 2017, online verfügbar unter: https://taz.de/Debatte-Rueckkehrnach-Reims/!5382418/. Zuletzt geprüft am 12. Juli 2020. 27  Vgl. Didier Eribon, Rückkehr nach Reims (2009), Berlin, 2017, S. 144: »Wie kann man andererseits die praktische Existenz sozialer Klassen und gesellschaftlicher Konflikte (oder gar jenes objektiven ›Krieges‹, von dem ich weiter oben gesprochen habe) berücksichtigen, ohne erneut bei der mystischen Beschwörungsformel vom ›Klassenkampf‹ zu landen, den jene Autoren, die heute eine ›Rückkehr zum Marxismus‹ fordern, auch weiterhin verherrlichen?« 28  Vgl. Patrick Eiden-Offe, »›Klassenkampf braucht Mythos‹. Der Kulturwissenschaftler Patrick Eiden-Offe hat die Bedeutung von Kunst und Poesie für die Arbeiterbewegung erforscht«, der freitag, N° 31, 03. 08. 2017, S. 7. 29  Patrick Eiden-Offe, »Der Prolet ist ein anderer. Klasse und Imaginäres heute«, Merkur, N° 2, 2018, 15 – 30, S. 19.

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Rekonstruktion. Im »überaus heterogene[n] Konglomerat« des Vormärz-Proletariats,30 fand Eiden-Offe das Beispiel einer »Klasse«, die noch nicht durch die Vereinheitlichungsmaschine von Fabrik- und Parteidisziplin gegangen war.31 Das Bild dieses »›anderen‹, multiversal-heterogenen Proletariats« 32 ließ sich nicht nur gegen die uniformierte und normierte ›Arbeiterklasse‹ der marxistischen Tradition in Stellung bringen; ihm konnte auch, nach dem offenbaren Ende des klassischen Industriekapitalismus, eine neue Aktualität zugeschrieben werden: Was nach dem Ende dieser formierten Arbeiterklasse kommt, ist das Proletariat in einer wieder rohen, ausgewilderten, heterogen-buntscheckigen Form. Die stetige Erosion des ›Normalarbeitsverhältnisses‹ treibt Klassenfigurationen hervor, die denen des Vormärz immer mehr ähneln. Es sind unreglementierte, ›ungarantierte‹, immer nur vorläufige Arbeitsverhältnisse; Arbeitsverhältnisse, die eine strukturelle Überqualifikation der Arbeitskraft – wie im Vormärz bei den Handwebern und Tuchscherern – mit systematischer Überausbeutung verbinden.33

So wünschenswert es ist, neue Formen der Assoziation zu finden, die sich den neuen Formen der Ausbeutung entgegenstellen können, so fragt sich doch, warum dafür am Begriff der Klasse festgehalten werden sollte. Eiden-Offe selbst verweist auf die Herkunft des Begriffs aus den Verfahren der Klassifizierung;34 zugleich übernimmt er aber die politisch-eschatologische Formel, nach der das »Überschreiten der Klassengesellschaft […] dem Begriff der Klasse von Anfang an eingeschrieben« sei.35 Die vorliegende Arbeit ist, was die historischen Ursprünge der Klasse angeht, zu einem weniger erfreulichen Ergebnis gekommen: Was dem modernen Klassenbegriff ›von Anfang an eingeschrieben‹ ist, ist das Prinzip der Klassifizierung nach äußerlich feststellbaren und quantitativ erfassbaren Merkmalen.36 Wenn in heutigen Diskussionen die Bemühung hervortritt, das gute alte Klassenprinzip zu reanimieren, sei es, um Handlungsmacht zurückzugewinnen, sei es, um andere, üblere Einteilungsweisen zurückzudrängen, so sollte die historische Hypothek des Begriffs zumindest bedacht werden. Für eine emanzipatorische Politik kann es nicht gleichgültig sein, wie und wodurch die Handelnden zusammenfinden. Der Begriff der Klasse, der von den Praktiken der wissenschaftlichen Klassifizierung herkommt und im Lauf seiner Geschichte immer wieder eine enge Komplizenschaft mit den Praktiken der bürokratischen Menschensortierung Eiden-Offe, Die Poesie der Klasse, S. 21. Ebd., S. 319. Ebd., S. 333. Ebd., S. 37. Eiden-Offe, Die Poesie der Klasse, S. 17 – 23. Ebd., S. 27. Die Idee einer Selbstüberwindung der Klasse ist dagegen eine Zutat des 19. Jahrhunderts, die eng an die hegelianische Idee einer dialektisch voranschreitenden Geschichte geknüpft ist. 30  31  32  33  34  35  36 

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demonstriert hat, bildet wahrscheinlich nicht die beste Grundlage, um einen solidarischen Zusammenschluss zu begründen, bei dem es wesentlich darum ginge, sich vom Gesetz der quantitativen Einschätzung, vom Zwang der vergleichenden Bewertung und von der Dynamik der wechselseitigen Überbietung freizumachen. Wenn, wie manche neomarxistische Kritiker hervorgehoben haben, der Kampf der Ausgebeuteten letztlich dahin geht, sich der kapitalistischen Klassifizierung zu entziehen,37 wenn seine Aufgabe darin besteht, das kollektive »Declassing« 38 und die »Desidentifizierung« 39 der sozialen Identitäten voranzutreiben, warum sollte dieser Kampf noch einmal in Klassenformation und im Zeichen der Klassenidentität geführt werden? Als Alternative zu ›Klasse‹ wurde vor einiger Zeit der Name multitude ins Spiel gebracht. Was immer man von der feierlichen Aufladung des Begriffs bei Antonio Negri und Michael Hardt halten mag,40 im Hinblick auf seine Geschichte erscheint es durchaus als triftig, ihn der Klasse entgegenzusetzen. Wie das Konzept der Klasse bildete sich auch der Begriff der multitude »im Verlauf der politischen Kämpfe heraus, die England im 17. Jahrhundert erlebte«.41 Anders als der Begriff der Klasse, der auf Trennung und Vereinheitlichung zielte, stand ›multitude‹ jedoch für eine Form des Zusammenfindens, die durch Heterogenität und Vermischung bestimmt war. Für heutige politische Assoziationen dürfte es interessanter sein, die Verknüpfungspotentiale der multitude zu erkunden, als noch einmal auf die Sortierlogik der Klasse zurückzukommen: Es ist leicht nachvollziehbar, dass die so verstandene Multitude letztlich auch die niedersten Schichten der Gesellschaft und die Besitzlosen mit umfasst, sind diese doch am deutlichsten sichtbar Ausgeschlossene, was die herrschenden politischen Körperschaften anbelangt; doch tatsächlich ist die Menge offen und einbeziehend, ein gesellschaftlicher Körper, der schrankenlos ist und in dem sich immer schon verschiedene gesellschaftliche Schichten und Gruppen mischen.42 37  Vgl. John Holloway, »Class and classification. Against, in and beyond Labour«, in: Ana C. Dinerstein und Mike Neary (Hg.), The labour debate. An investigation into the theory and reality of capitalist work, Aldershot, Burlington, VT , 2002, 27 – 40, S. 36: »Wir kämpfen nicht als Arbeiterklasse, wir kämpfen dagegen, Arbeiterklasse zu sein, dagegen, klassifiziert zu werden. Es ist die Einheit des Klassifizierungsprozesses (die Einheit der Kapitalakkumulation), die unserem Kampf Einheit verleiht, nicht unsere Einheit als Mitglieder einer gemeinsamen Klasse. Was den zapatistischen Kampf für den Klassenkampf bedeutsam macht, ist seine Wendung gegen die kapitalistische Klassifizierung, nicht die Frage, ob die indigenen Bewohner des Lakandonischen Urwalds Mitglieder der Arbeiterklasse sind oder nicht.« 38  Rancière, »Democracy, dissensus, and the aesthetics of class struggle«, S. 287. 39  Ebd., S. 291. 40  Vgl. Michael Hardt u. Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung (2000), Frankfurt a. M., New York, 2002, besonders das letzte Kapitel, »Die Menge gegen das Empire«. 41  Hardt u. Negri, Common Wealth, S. 54 – 55. 42  Ebd., S. 55.

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NACHWORT: UNTER DEM RASTER LIEGT DER STRAND Ein bisher verschwiegener Ausgangspunkt dieses Buchs besteht in einer schon früh empfundenen und immer wieder auftauchenden Verwunderung. Sie hat vielleicht nicht die Tiefe der Frage ›Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?‹, sie lässt sich aber, da sie ein Seinsproblem betrifft, durchaus als ›ontologisch‹ bezeichnen: Wie kommt es, dass wir kaum jemals das Gefühl haben, ›einfach nur da zu sein‹? Wie kommt es, dass wir unsere Existenz immer nur im Vergleich und in Absetzung zu anderen Seinsmöglichkeiten definieren? Wie kommt es, dass wir die differentielle Beziehung, die negative Abgrenzung (»Omnis determinatio negatio est«, so die Formel Spinozas, die Hegel als »Satz […] von unendlicher Wichtigkeit« bezeichnete 1) zur Grundbestimmung unseres Seins gemacht haben: Etwas ist ›etwas‹ nur in Absetzung zu dem, was es nicht ist? Im Hinblick auf die sozialen Beziehungen lässt sich die Frage noch konkreter stellen: Warum ist es für uns so selbstverständlich, unsere Identität, unsere soziale Stellung und unser Verhältnis zu anderen im Modus des messenden Vergleichs zu bestimmen? Warum werden alle, selbst die scheinbar einfachsten Verhältnisse des Daseins, fortlaufend durch wertende Einschätzungen überformt? Warum können wir nicht an einem Ort sein, ohne die ständige Überlegung, ob es nicht woanders »besser« wäre;2 warum spielt in so gut wie allen Beziehungen die konkurrierende Gegenüberstellung, der taxierende Blick, die schnelle Beurteilung nach äußerlichen Merkmalen eine so beherrschende Rolle? Warum gelingt es uns so selten, die Leute um uns herum in ihrem rätselhaften Sosein wahrzunehmen, ohne sie automatisch als Exemplare eines bestimmten Typs oder einer schon bekannten Kategorie zu behandeln? Dieses Buch ist unter anderem aus dem Verdacht hervorgegangen, dass dieser Zwang zur klassifikatorischen Identitätszuweisung und differentiellen Bewertung keine ewige Bestimmung des Menschen darstellt, sondern auf ein geschichtlich gewordenes System der Wahrnehmung und Weltkonstruktion zurückgeht. Die Suche nach den Ursprüngen der modernen Klassengesellschaft war daher auch eine Suche nach dem Ursprung der Weltbetrachtung sub specie classificationis, nach dem Ursprung unserer aktuellen Formation von Subjektivität: Es ging nicht zuletzt darum, herauszufinden, wie wir dazu gekommen sind, uns selbst und die anderen als Sortiergut zu behandeln, als etwas, dessen Eigenheit oder Be-

1  Vgl. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Wissenschaft der Logik I. Werke Bd. 5, Frankfurt

a. M., 1986, S. 121. 2  Vgl. Michael Klier, Überall ist es besser, wo wir nicht sind. Spielfilm, BRD , 1989.

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sonderheit sich aus der Bestimmung und numerischen Erfassung eines Sets von distinktiven Merkmalen ergibt. Die klassifizierende Denkweise erscheint heute als ›alternativlos‹. Dies hat wesentlich damit zu tun, dass die Sammlung und klassifikatorische Auswertung von Daten zum Inbegriff vernünftigen Verwaltungs- und Regierungshandelns geworden ist. Grundsätzlich wird angenommen, dass die Bewältigung einer beliebigen politischen, wirtschaftlichen, ökologischen oder epidemiologischen Krise vor allem von der Beherrschung der Daten, von der mathematischen Modellierung des Problems abhängt. Der kollektive Druck, an Maßnahmen der Klassifizierung mitzuwirken, ist damit erheblich gestiegen: Während die in der BRD 1987 durchgeführte Volkszählung noch auf einen breiten gesellschaftlichen Widerstand stieß, ist heute eher die Vorstellung verbreitet, dass man sich einer ›intelligenten‹, ›digitalen‹ Lösung der ›uns alle angehenden dringenden Probleme‹ nicht verweigern dürfe. Trotz der Fehlschläge und des Aufwands, die damit verbunden sind, schreitet das Projekt der progressiven Universalklassifizierung munter voran, was nicht zuletzt mit den Gratifikationen, den kleinen Belohnungen, zu tun hat, die wir für unsere Mitwirkung empfangen. Ein wie auch immer illusorisches Gefühl der Partizipation sorgt dafür, dass wir uns bereitwillig auf das Spiel der Klassifikation einlassen: Wir glauben zu zählen, wenn wir uns zählen lassen. Man könnte behaupten, dass es sich bei dem hier artikulierten Unbehagen in der Klassifikationskultur um einen ›Nebenwiderspruch‹ handele, jedenfalls einen, der hinter dem Problem der ökonomischen Verfügungsgewalt zurückzustehen habe. Demnach wäre die eigentliche Klassenfrage durch den Skandal der Ausbeutung definiert; die Schmach des Klassifiziertwerdens hätte damit nicht viel zu tun. Es käme darauf an, die ökonomische Ungleichheit zu bekämpfen; ob wir in einem klassifikatorischen Weltbild gefangen sind und ob unsere gesellschaftlichen Beziehungen sich auf den Modus des wertenden Vergleichs reduzieren, wäre demgegenüber ein Luxusproblem. Merkwürdigerweise drehen sich jedoch die erbittertsten Auseinandersetzungen unserer Tage ausgerechnet um solche Fragen, die aus klassischer marxistischer Perspektive als ›nebensächlich‹ erscheinen. Was die Wütenden aller Länder heute antreibt, ist nicht einfach der Hass auf den ökonomischen Vorteil der Anderen oder der Versuch, die eigenen Privilegien zu retten. Die Entrüstung entzündet sich an Fragen der Lebensweise, am Unterschied der Gewohnheiten, des Glaubens und der Formen des Zusammenseins; sie artikuliert sich in trotzigen Akten der Grenzziehung, Abstoßung und Abschottung gegenüber anderen Existenzweisen. Die populären (und populistisch missbrauchten) Kämpfe unserer Zeit sind immer auch Kämpfe um die Erhaltung oder Durchsetzung der eigenen Art des In-der-Welt-Seins. Gerade die finstersten fundamentalistischen und faschistischen Mobilisierungen unserer Zeit beziehen ihre Attraktionskraft daraus, dass sie ontologisch ›tiefergelegt‹ sind als die klassischen Kämpfe um ökonomische Interessen. In ihnen geht es nicht nur darum, innerhalb eines vorgegebenen

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Schemas eine andere Verteilung durchzusetzen. Das weitergehende Versprechen besteht vielmehr darin, eine andere Form der Teilung und damit eine andere Welt zu schaffen. In der Imagination der Rechten handelt es sich dabei um eine Rückkehr in die ›gute alte Zeit‹, in eine Welt der einfachen, überschaubaren, verlässlichen Beziehungen: Gottesstaat, Ständegesellschaft, Volksgemeinschaft, patriarchalisches Unternehmertum… Angesichts der reaktionären Besetzung des Themas ist es kein Wunder, dass die Linke der Vermengung von Politik und Ontologie meist misstrauisch gegenüberstand und darin bestenfalls politische Romantik, schlimmstenfalls faschistischen Existenz-Kitsch erkennen wollte. Erst in den letzten Jahren und im Windschatten der postkolonialen Kritik konnten sich Ausdrücke wie ›Politik des Ontologischen‹ oder ›ontologische Kämpfe‹ im globalisierungs- und entwicklungskritischen Diskurs durchsetzen. Als der brasilianische Ethnologe Eduardo Viveiros des Castro 2003 in Manchester erklärte, Anthropologie sei nichts anderes (oder solle nichts anderes sein) als »die Wissenschaft von der ontologischen Selbstbestimmung der Völker der Welt«,3 lag darin eine provokante Anspielung auf eine wohlbekannte und politisch zwiespältige ›antimperialistische‹ Rhetorik. Als Begründer und wichtigste Vertreter des ›Ontological Turn‹ in der Anthropologie sahen sich Viveiros de Castro und Martin Holbraad ein paar Jahre später veranlasst, die Formel von der ›ontologischen Selbstbestimmung‹ von einem möglichen rechten, ›völkischen‹ oder ›identitären‹ Verständnis abzusetzen: Die Idee einer ontologischen Selbstbestimmung der Völker sollte nicht mit der Unterstützung ethnischer Essentialisierung, mit Blut und Boden*-Primordialismus und anderen Formen des soziokulturellen Realismus verwechselt werden. Es bedeutet, das Ontologische ›dem Volk‹ zurückzugeben, nicht das Volk ›dem Ontologischen‹. Die Politik der Ontologie als Selbstbestimmung des Anderen ist die Ontologie der Politik als Entkolonialisierung allen Denkens im Angesicht des anderen Denkens – das Denken selbst als ›je schon‹ bezogen auf das Denken der Anderen zu denken.4

Bei einer Politik des Ontologischen geht es demnach nicht um die Beschwörung der Essenz oder der Identität eines Volks oder einer Lebensweise; es geht vielmehr um eine Praxis der Öffnung gegenüber dem Anderen. Diese schließt die 3  Eduardo Viveiros de Castro, »And. [After-dinner speech given at the department of social anthropology, University of Manchester, 14 July 2003]«, in: ders., The Relative Native. Essays on Indigenous Conceptual Worlds, Chicago, 2016, 39 – 54, S. 54. 4  Martin Holbraad, Morton Axel Pedersen u. Eduardo Viveiros de Castro, »The politics of ontology. Anthropological positions«, Theorizing the Contemporary / Fieldsights, N° January 13, 2014, online verfügbar unter: https://culanth.org/fieldsights/the-politics-of-ontologyanthropological-positions. Zuletzt geprüft am 25. Juni 2020, o. P. (* »Blut und Boden« im Original deutsch).

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Verteidigung des Andersseins, der »Nicht-Integration« von fremden Denk- und Lebensweisen ein, beschränkt sich aber nicht darauf. Die theoretische Sprengkraft (Bruno Latour sprach von einer »Bombe«5) des ontologischen Ansatzes von Viveiros de Castro besteht darin, dass hier nicht einfach ein strukturaler Vergleich von »Dispositionen des Seins« unternommen wird, bei dem implizit immer noch vorausgesetzt wäre, dass es sich in Wahrheit um verschiedene Formen der ›Repräsentation‹ von Welt handelt.6 Anstatt anzunehmen, dass es eine Welt gibt, die von verschiedenen ›Kulturen‹ nur unterschiedlich interpretiert wird, geht die Politik der Ontologie davon aus, dass es sich bei den Welten der Anderen tatsächlich um irreduzibel andere Welten handelt. Das Andere ist damit nicht mehr nur eine Spielart des Eigenen; es erhält »volles ontologisches Gewicht« und wird damit »als eine wirkliche Alternative« fassbar,7 als ernstzunehmende Gegenwirklichkeit, die auch die eigene Welt affizieren und zusammenstürzen lassen kann. Dieser Effekt der Rückwirkung wird von Holbraad und Viveiros de Castro als entscheidend betrachtet: »Die Selbstbestimmung des Anderen ist die Andersbestimmung [other-determination] des Selbst«.8 Von anderen Ontologien zu sprechen, ist nicht zuletzt ein Mittel, die Selbstgewissheit der eigenen Ontologie zu erschüttern, die Wissenschaft der Anthropologie zu revolutionieren. In scherzhafter Anlehnung an Althussers Formel von der Philosophie als »Klassenkampf in der Theorie« 9 spricht Viveiros de Castro von der Anthropologie als einem »Völkerkampf [luta de povos] in der Theorie«.10 Doch soll es sich bei der Rede von den ›Völkern‹ und ihren ›Ontologien‹ auch nicht um ein rein theorieinternes Geplänkel handeln. Viveiros de Castro zufolge erleben wir heute »einen Kampf der Völker und nicht der Klassen«.11 Die gegenwärtigen Ausbeutungsverhältnisse seien nicht mehr durch den eingehegten Gegensatz von Lohnarbeit und Kapital zu beschreiben; weltweit sei vielmehr eine neue Welle der »ursprünglichen Akkumulation« zu beobachten, die mit offenen und verdeckten Formen der kolonialen Landnahme, des Raubbaus an natürlichen Ressourcen, der rassistischen Segregation und der Unterwerfung unter sklavereiähnliche Arbeitsverhältnisse verbunden ist. Die daraus entstehenden Auseinandersetzun5  Vgl. Bruno Latour, »Perspektivismus: ›Typus‹ oder ›Bombe‹?«, in: Irene Albers und Anselm Franke (Hg.), Animismus. Revisionen der Moderne, Zürich, 2012, 67 – 70. 6  Zu dem (von Viveiros de Castro kritisierten) Programm einer vergleichenden Untersuchung von Ontologien, vgl. Philippe Descola, Jenseits von Natur und Kultur (2005), Berlin, 2011. 7  Holbraad, Pedersen u. Viveiros de Castro, »The politics of ontology«, o. P. 8  Ebd. 9  Louis Althusser, »Interview mit L. Althusser« (1968), in: ders., Für Marx, Frankfurt a. M., 1984, 203 – 215, S. 210. 10  Eduardo Viveiros de Castro, O que estamos vendo no planeta hoje é um combate de povos e não de classes. Conversa com Rita Natálio e Perdo Neves Marques, 2017, online verfügbar unter: http://www.buala.org/pt/cara-a-cara/o-que-estamos-vendo-no-planeta-hoje-e-um-combatede-povos-e-nao-de-classes-ou-as-classes. Zuletzt geprüft am 21. Juni 2018. 11  Ebd.

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gen sind, wie Viveiros de Castro mit deutlichem Anklang an Foucaults historische These vom »Rassenkrieg« sagt,12 nicht durch den Gegensatz von Unternehmer und Arbeiter definiert, sondern durch den Gegensatz zwischen Eroberern und Eroberten, zwischen Indigenen und »Aliens« [alienígena].13 Die Rede von der »ontologischen Selbstbestimmung« bekommt damit, über die ›heterologische‹ Transformation der Ethnologie hinaus, eine aktivistische oder aufständische Konnotation. Besonders jene Kämpfe, »die eine explizit ethnoterritoriale Dimension beinhalten«,14 die sich gegen Prozesse der kapitalistischen Landnahme wenden, werden heute vielfach als »ontologische Kämpfe« beschrieben. Bei der »Verteidigung des Territoriums« geht es immer auch darum, eine bestimmte, lokal gegründete Wirklichkeit gegen »den unersättlichen Appetit der Eine-Welt-Welt, die ontologische Vereinnahmung und die Verwandlung durch Kapital und Staat« zu verteidigen.15 Wenn der global expandierende Kapitalismus zu bekämpfen ist, so nicht nur, weil er ökonomische Ausbeutung und politische Unterdrückung mit sich bringt, sondern weil er Seinsformen vernichtet, weil er anderen, lokal bestimmten Welten »die Möglichkeit« nimmt, »als solche zu existieren«.16 Der Skandal der heutigen globalen Ordnung liegt nicht zuletzt in ihrer ontologischen Anmaßung; in der Durchsetzung einer »Eine-Welt-Welt der Individuen und Märkte, die versucht, alle anderen Welten zu einer einzigen zu formen«.17 Angesichts dieser Tendenz zur Homogenisierung wird Anderssein zum Widerstand; »sich zu unterscheiden ist selbst ein politischer Akt«.18 Wesentlich für das Verständnis des Begriffs ›Ontologie‹, so wie er zur Zeit in der Anthropologie und in der Akteur-Netzwerk-Theorie verhandelt wird, ist die Idee, dass das ›Sein‹, um das es jeweils geht, nicht einfach vorhanden ist, dass es nicht – als Essenz oder Substanz – den Dingen zugrunde liegt, sondern dass es durch ontopoietische oder ontographische Praktiken und Techniken hervorgebracht und laufend erneuert wird. Die von Anthropologen betriebene ›Ontologie‹ unternimmt daher nicht den Versuch der Wesensbestimmung; Viveiros de Castro charakterisiert sie vielmehr als eine »outdoor science«, die durch »ethnographische (ontographische) Feldforschung« herauszufinden versucht, wie Welten gemacht werden.19 In ähnlicher Weise fragt auch die Kulturtechnikforschung nicht nach dem Sein der Dinge, sondern nach den »operativen 12  S. o., Kap. 3, Abschnitt »Did you say Rassenkampf?«. 13  Viveiros de Castro, O que estamos vendo …, o. P. 14  Arturo Escobar, »Commons im Pluriversum«, in: Silke Helfrich und David Bollier

(Hg.), Die Welt der Commons. Muster gemeinsamen Handelns, Bielefeld, 2015, 334 – 345, S. 338. Ebd., S. 337. Ebd. Ebd., S. 338. Holbraad, Pedersen u. Viveiros de Castro, »The politics of ontology«, o. P. Martin Holbraad u. Eduardo Viveiros de Castro, Ideas of savage reason. Glass Bead in conversation with Martin Holbraad and Eduardo Viveiros de Castro, 2016, online verfügbar unter: https://www.glass-bead.org/article/ideas-of-savage-reason-glass-bead-in-conversa-

15  16  17  18  19 

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Ontologien«, »nach den konkreten ontischen Operationen […], die allererst ontologische Unterscheidungen hervorbringen – unter anderem die zwischen Form und Materie oder die zwischen Bild und Gegenstand, Ding und Prozess, Figur und Grund, aktiv und passiv, Botschaft und Medium, Subjekt und Objekt, Mensch und Tier usw.« 20 Ontologische Verfassungen, ›Seinsgeschicke‹ können auf diese Weise als etwas weniger schicksalhaft betrachtet werden: Sie gehen aus kontingenten, lokal bestimmten Verkettungen von seinsbildenden Praktiken hervor. Das gilt nicht nur für die Ontologien der ›Anderen‹, d. h. vormoderner, vorkapitalistischer Gesellschaften, es gilt auch für ›unsere‹, d. h. die ›westliche‹ bzw. ›nördliche‹ Welt. Das überwältigende ontologische Gewicht dieser Zivilisation, ihre enorme und aggressive Ausweitung, lässt sich nicht zuletzt dadurch erklären, dass sie eine Reihe von ›allesfressenden‹ Kulturtechniken entwickelt hat, von Praktiken und Verfahren, deren entscheidender Effekt darin bestand, jedes beliebige auftauchende Andere mit dem Eigenen kommensurabel zu machen und es der eigenen Welt einzuverleiben. Zu den wichtigsten dieser Techniken zählt die Klassifikation, d. h. die tabellarische Verzeichnung des Seienden nach abzählbaren äußeren Merkmalen. Sie bildete ein wirkungsvolles Verfahren zur wissenschaftlichen Erschließung der Natur und zur Administration eroberter Erdteile. Vielleicht noch stärker wiegt jedoch die Macht der ontographischen Unterwerfung: Wie kein anderes Verfahren ist die Klassifikation auf Standardisierung angelegt; sie präsentiert sich als universales Erkenntnismodell, das auf die unterschiedlichsten Gegenstände angewandt werden kann und sich dabei selbst nicht im geringsten ändern muss. Wenn Heidegger in seinem Weltbild-Aufsatz beklagt, dass im neuzeitlichen Erkennen das »Sein des Seienden« darauf beschränkt sei, »als das Gegenständliche vor den Menschen gebracht« zu werden,21 so hat er offenbar das technische Modell der Zentralperspektive vor Augen. Von einer ähnlichen Reduktion des Seins könnte man aber auch im Hinblick auf das Verfahren der Klassifikation sprechen: ›Nur was klassifizierbar ist, ist überhaupt‹,22 oder, noch näher am Alltag der Bürokratie, ›Was nicht in eine Tabelle passt, ist nicht in der Welt.‹ Als starres Schema, das von seinen Gegenständen ganz unbeeindruckt bleibt, bildet die Klassifikation eine Art technischer Garantie für den zuverlässigen Export des ›europäischen‹ Wahrnehmungsschemas. Sie legt ihr Raster über alles, was tion-with-martin-holbraad-and-eduardo-viveiros-de-castro/?lang=enview. Zuletzt geprüft am 24. April 2020. 20  Bernhard Siegert, »Öffnen, Schließen, Zerstreuen, Verdichten. Die operativen Ontologien der Kulturtechnik«, Zeitschrift für Medien- und Kulturforschung (ZMK ), N° 8 – 2, 2017, 75 – 114, S. 99. 21  Heidegger, »Die Zeit des Weltbildes«, S. 88. 22  Zu Friedrich Kittlers Sentenz »Nur was schaltbar ist, ist überhaupt« vgl.: Siegert, »Öffnen, Schließen, Zerstreuen, Verdichten«, S. 98.

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sie vorfindet, ungeachtet der praktischen, lokalen, nachbarschaftlichen Zusammenhänge, die zwischen den verzeichneten Phänomenen herrschen mögen. Die Armut der Beschreibung kompensiert sie durch das Versprechen eines gezielten und effektiven Zugriffs auf die von ihr verzeichneten Dinge und Individuen. Im Modus der tabellarischen Erfassung hat die Ontologie der frühneuzeitlichen Wissenschaft nahezu die ganze Erde erfasst; die verbliebenen Zonen, in denen sich noch andere Ontologien halten konnten, geraten heute zunehmend unter den Bann von Mobiltelefon, Satellitenfernsehen und Internet, die als verspätete Missionare der westlichen Metaphysik die Auflösung der lokalen Welten ins globale klassifikatorische Raster vorantreiben. Wenn heute von ›ontologischen Kämpfen‹ die Rede ist, so sind damit meist solche gemeint, in denen es zwei sehr leicht zu unterscheidende Gegner gibt: Auf der einen Seite die selbstherrliche Ideologie des ›Universums‹, die andere Seinsformen ihrer Existenzmöglichkeit beraubt; auf der anderen Seite die Vorstellung eines ›Pluriversums‹ von relationalen Welten, die sich durch selbstbewusste Andersheit der Macht der ontologischen Homogenisierung widersetzen. Allerdings sind auch solche Gegenüberstellungen nicht frei von dem darin beklagten Geist der Vereinheitlichung. Im Großen und Ganzen lässt sich zweifellos sagen, dass die ›westliche‹ Zivilisation gegenüber anderen Kulturen als eine imperialistische Macht auftritt, als eine ontologische Dampfwalze, die den Effekt hat, weltweit die Unterschiede einzuebnen und alles auf die herrschenden Protokolle des Geld- und Datenverkehrs zu reduzieren. Das heißt jedoch nicht, dass diese Kultur in sich homogen wäre, dass sie von nur einer Ontologie bestimmt wäre. Gerade wenn man davon ausgeht, dass Ontologien ›operativ‹ sind, d. h. dass sie durch alltägliche Praktiken, durch Techniken und Medien hergestellt werden, lässt sich erkennen, dass es eine einheitliche Ontologie des Westens nicht gibt, dass innerhalb des vermeintlich geschlossenen Seins-Blocks eine Vielzahl regionaler und situativer Ontologien am Werk ist. Das gilt keineswegs nur für die ›archaischen Reste‹, für populäre Kulturen, in denen noch andere, ›indigene‹ Seinsformen überleben; es gilt, wie der Wissenschaftsforscher und Soziologe John Law gezeigt hat, sogar für den Bereich, der als das Stammland der neuzeitlichen, verdinglichenden und vereinheitlichenden Metaphysik betrachtet wird: Durch verschiedene Praktiken werden unterschiedliche Realitäten in Kraft gesetzt [enacted] – und da es viele Praktiken gibt, ist dies ein chronischer Zustand. Und wir müssen nicht zu den postkolonialen Begegnungen in den Northern Territories von Australien oder zu den James Bay Cree gehen, um dies zu sehen. Dass verschiedene Praktiken verschiedene Realitäten nebeneinander hervorbringen, können wir auch im Herzen der westlichen Technowissenschaft sehen.23 23  John Law, »What’s wrong with a one-world world?«, Distinktion: Journal of Social Theory, Jg. 16, N° 1, 2015, 126 – 139, S. 130.

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Wenn es darum geht, der weltweiten Tendenz zur ontologischen Vereinheitlichung zu widerstehen, sollte man daher vielleicht nicht so sehr zwischen Kulturen, Völkern oder Ontologien unterscheiden, sondern zwischen einzelnen Techniken, Medien und Praktiken: solchen, die ihrer Anlage nach und in ihren Effekten auf eine immer stärkere Homogenisierung der Seinsweisen hinauslaufen, und solchen, die sich der universalen Gleichschaltung entziehen oder widersetzen. Die Technik der Klassifizierung gehört in dieser Hinsicht zweifellos zu den größten ontologischen Übeltätern, und man kann nur mit Unbehagen beobachten, wie sie sich, unter dem modischen Titel der ›Digitalisierung‹, immer weiter durchsetzt. Es gibt allerdings auch hier einen Trost: Die Raster der Klassifizierung können noch so feinmaschig sein; wenn es darum geht, ein einigermaßen komplexes, physikalisches oder gesellschaftliches Geschehen einzufangen, wirken sie immer noch wie Siebe, mit denen man Wasser schöpft. Von vielen klassifikatorischen Projekten, die heute als ›smarte Lösung‹ verkauft werden – vom intelligenten Kühlschrank über Sprachassistenten, personalisierte Werbung, Healthcare-Apps, autonomes Fahren, Predictive Policing, Kryptowährungen, digitale Lehre und emotionale Pflegerobotik bis zur e-democracy –, lässt sich gewiss nicht sagen, dass sie dazu beitragen, uns ein glücklicheres Leben zu bescheren (geschweige denn, unsere »Sitten zu läutern« 24). Häufig genug erweisen sie sich als Flop und verschwinden wieder von der Bildfläche, gelegentlich treffen sie auch auf den Widerstand menschlichen Eigensinns, was sich als Hinweis darauf auffassen lässt, dass die Universalmedizin der klassifikatorischen Erfassung nicht unfehlbar und die Macht der ontologischen Vereinheitlichung nicht grenzenlos ist.

24  »Si le rétablissement des Sciences et des Arts a contribué à épurer les moeurs«, so lautete die 1749 von der Akademie in Dijon ausgeschriebene und von Rousseau negativ beantwortete Preisfrage, vgl. Jean Jacques Rousseau, Discours sur les sciences et les arts. Abhandlung über die Wissenschaften und die Künste (1750), hg. v. Béatrice Durand, Stuttgart, 2012, o. P. [S. 8.].

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—   , »The Tatler, N° 24. Saturday, June 4, 1709«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 1, London: Duckworth, 1898 – 1899, 198 – 206. —   , »The Tatler, N° 96. Saturday, Nov. 19, 1709«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 2, London: Duckworth, 1898 – 1899, 317 – 323.—, »The Tatler, N° 122. Thursday, Jan. 19, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 3, London: Duckworth, 1898 – 1899, 44 – 48. —   , »The Tatler, N° 155. Thursday, April 6, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 3, London: Duckworth, 1898 – 1899, 218 – 222. —   , »The Tatler, N° 157. Tuesday, April 11, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 3, London: Duckworth, 1898 – 1899, 227 – 233. —   , »The Tatler, N° 162. Saturday, April 22, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 3, London: Duckworth, 1898 – 1899, 255 – 259. —   , »The Tatler, N° 224. Thursday, Sept. 14, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 4, London: Duckworth, 1898 – 1899, 147 – 154. —   , »The Tatler, N° 226. Tuesday, Sept. 19, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 4, London: Duckworth, 1898 – 1899, 159 – 163. —   , »The Tatler, N° 229. Tuesday, Sept. 26, 1710«, in: The Tatler, hg. v. George A. Aitken, Bd. 4, London: Duckworth, 1898 – 1899, 171 – 175. Adorno, Theodor W., Ästhetische Theorie (1970), hg. v. Gretel Adorno u. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1973.  —, Negative Dialektik (1966), Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1982. —   , »Anmerkungen zum sozialen Konflikt heute« (1968), in: ders., Soziologische Schriften 1, hg. v. Rolf Tiedemann, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1995, 177 – 195. Albritton, Robert, »Did agrarian capitalism exist?«, The Journal of Peasant Studies, Jg. 20, N° 3, 1993, 419 – 441. Allen, John William, English political thought, 1603 – 1660. Vol. I: 1603 – 1644, London: Methuen & Co., 1938. Alquié, Ferdinand, »Berkeley«, in: François Châtelet (Hg.), Geschichte der Philosophie. Band VI : Die Aufklärung, Frankfurt a. M., Berlin, Wien: Ullstein, 1975, 43 – 60. Althusser, Louis, »Der Gegenstand des ›Kapital‹ [Erster Teil]«, in: ders. u. Étienne Balibar, Das Kapital lesen, Bd. 1, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1972, 94 – 219. —   , »Der Gegenstand des ›Kapital‹ [Fortsetzung]«, in: ders. u. Étienne Balibar, Das Kapital lesen, Bd. 2, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt, 1972, 221 – 267.  —, Ideologie und ideologische Staatsapparate. Aufsätze zur marxistischen Theorie, Hamburg: VSA , 1977. —   , »Interview mit L. Althusser« (1968), in: ders., Für Marx, Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1984, 203 – 215. Altick, Richard D., The shows of London, Cambridge, Mass.: Belknap Press of Harvard Univ. Press, 1978. Amati, Frank u. Aspromourgos, Tony, »Petty contra Hobbes. A previously untranslated manuscript«, Journal of the History of Ideas, Jg. 46, N° 1, 1985, 127 – 132. Anderson, Benedict, Imagined communities. Reflections on the origin and spread of nationalism, London: Verso, 2006. Anderson, Paul Bunyan, »The history and authorship of Mrs. Crackenthorpe’s ›Female Tatler‹«, Modern Philology, Jg. 28, N° 3, 1931, 354 – 360.

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ABBILDUNGSVERZEICHNIS Abbildung 1: Detail aus Down Survey-Karte, 1656, County of Limmerick,

Barony of Kenry (mit Bleistift-Korrekturen)  300 Abbildung 2: Down Survey-Karte, 1656, County of Antrim, Barony of Cary, Parish of Kilfaghtrim, mit eingezeichnetem Sumpfgebiet (»BOGGE «)  302 Abbildung 3: Down Survey, 1656, County of Donegal, barony of Enishowen, Parishes of Colduffe Clancae and Donogh, Kartenblatt (»Map«)  304 Abbildung 4: Down Survey, 1656, County of Donegal, Barony of Enishowen, Parishes of Colduffe Clancae and Donogh, tabellarisches Beiblatt (»Terrier«)  305 Abbildung 5: Londoner Bill of Mortality vom September 1665, aus der Zeit der ›Great Plague‹  308 Abbildung 6: A Generall or Great Bill for this Yeere, London 1625  313 Abbildung 7: Die Ordnung der Zeichen als Ordnung der Dinge. Tabelle aus

John Wilkins, An essay towards a real character and a philosophical language, London: Gellibrand, 1668  326 Abbildung 8: »under-peopled«: The County of Donagall, Down-Survey-Karte, 1656  346 Abbildung 9: Seite aus: William Petty, The Political Anatomy of Ireland, London, 1691  348 Abbildung 10: Die kirchliche Hierarchie: Illustration zu einer Schrift Gilberts von Limerick, 13. Jahrhundert, Cambridge University Library, MS Ff.1.27, p. 238  385 Abbildung 11: Kupferstich aus: Francis Sandford, The History of the Coronation of the most high, most mighty, and most excellent Monarch, James II , London 1687, pl. 20  389 Abbildung 12: Michael Maier u. Matthaeus Merian, Atalanta Fugiens, hoc est, Emblemata Nova De Secretis Naturae Chymica. Oppenheim: de Bry; Gallerus, 1618, Titelblatt (Detail)  403 Abbildung 13: Frontispiz aus: Judith Drake (anon.), An Essay in Defence of the Female Sex, London, 1696  422 Abbildung 14: Seite aus John Bulwer, Anthropometamorphosis: man transform’d. Or, The artificiall changling historically presented, London, 1653  424 Abbildung 15: Richard Overton, A sacred Decretall, Europe [=London], 1645, Titelblatt  441 Abbildung 16: Henry Peacham und Wenceslaus Hollar, The World is Ruled & Governed by Opinion, London, s. d. [1641]  443 Abbildung 17: »The Coffehous Mob«, Frontispiz aus Ned Ward, Vulgus Britannicus: or the British Hudibras, London, 1710  463 Abbildung 18: Frontispiz aus: Edward Ward, The secret history of the Calves-Head Club, London, 1707  474 Abbildung 19: Kupferstich aus Jonathan Swift, A Tale of a Tub (zuerst 1704), London 1710  490 Abbildung 20: William Hogarth, Industry & Idleness, 1747, Plate 12: The Industrious ’Prentice Lord-Mayor of London  496

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A bbildungsverzeichnis

Abbildung 21: Frontispiz zu Thomas Brown, The Third Volume of the Works of

Mr. Thomas Brown. Containing Amusements Serious & Comical, London, 1708  502

Abbildung 22: The Tatler, hg. von Richard Steele und Joseph Addison, erste

Ausgabe, 12. April 1709, recto  509 Abbildung 23: Die Figur des Isaac Bickerstaff, Esquire, Kupferstich, London, 1710  511 Abbildung 24: The Female Tatler, N°. 21 (von Abigail Baldwin vertriebene Version), mit Crackenthorpe-Medaillon  516 Abbildung 25: The Female Tatler, No. 52, erste Ausgabe mit neuer Autorinnen-­ Angabe: »Written by a Society of Ladies«  519 Abbildung 26: Daniel Defoe: A General History of Trade [part 3]. London, 1713  562 Abbildung 27: Doppelseite aus: Daniel Defoe, The Life and Strange Suprizing Adventures of Robinson Crusoe, London, 1719  575 Abbildung 28: Daniel Defoe, The true and genuine account of the life and actions of the late Jonathan Wild, London, 1725, Frontispiz und Titel  588 Abbildung 29: »Satire on a writer whose literary ambitions are not matched by wordly success«, Kupferstich, ca. 1720  614 Abbildung 30: »The Poets condition«, aus: The Works of Mr. Thomas Brown, Fourth and last Volume, London, 1730  616 Abbildung 31: William Hogarth, »The Distressed Poet«, Kupferstich, 1737, ­Ausschnitt  616 Abbildung 32: The Grub-street Journal, N° 147, 1731, Titelseite  620 Abbildung 33: The Bubblers bubbl’d or the Devil take the Hindmost, Kupferstich, London, 1720 (Ausschnitt)  644

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