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German Pages 296 [295] Year 2015
Petra Löffler Affektbilder
Petra Löffler (Dr. phil.) ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Forschungskolleg »Medien und kulturelle Kommunikation« an der Universität zu Köln. Sie arbeitet zu Theorie und Geschichte der Medien, über Bildverfahren und Wissenskulturen.
Petra Löffler Affektbilder. Eine Mediengeschichte der Mimik
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I N H AL T
Vorwort: Sichtbarkeit und Medialität der mimischen Zeichen am Menschen 9 1. Diskurse und Medien des Ausdrucks 15 1.1 Lesbarkeit des Menschen 22 1.2 Ausdruckstheorie zwischen Schauspielkunst und Medizin 31 1.3 Ausdruckstheorie zwischen Anthropologie und Medientheorie 39 2. Der Schauspieler als Paradigma der Ausdruckstheorie 49 2.1 Das Schauspiel der Affekte 51 2.2 Psychologisierung des Ausdrucks 59 2.3 »Neuer Mimus durch die Kamera« 65 3. (Un-)Sichtbarkeit des Affekts 77 3.1 Bewegung sehen: Balzacs »Theorie de la demarche« 77 3.2 Entzug der Sichtbarkeit: Kierkegaards »Schattenrisse« 92
4. Fotografische Aufzeichnung von Mimik 117 4.1 Fotografie und Experiment 118 4.2 Der fruchtbare Moment der Fotografie 125 4.3 Archive des Affekts 139 4.4 Strategien der Visualisierung 145 4.5 Momentbilder des Ausdrucks 153 5. Psychologie der Ausdrucksbewegung 159 5.1 Ausdrucksbewegung als Mitteilungsform und psychischer Prozeß 162 5.2 »Reprocirte Bilder« 171 5.3 Ausdrucksbewegung und Universalsprache 175 5.4 Universalität und Sichtbarkeit 180 6. Ausdrucksbewegung und kinematographisches Bewegungsbild 189 6.1 »Urmitteilung durch Gebärde« 191 6.2 »Bewegung als Ausdruck« 199 6.3 Psychologischer Test und Testleistung des Schauspielers 209 6.4 Der Filmschauspieler 218 7. Mimische Expressivität im ›stummen‹ Film 227 7.1 Mimische Intensität 228
7.2 Mimische Mehrdeutigkeit 238 7.3 Mimische Standards 248 Nachwort: Mimik in der »facialen Gesellschaft« 267 Literatur- und Abbildungsverzeichnis 271 Quellen 271 Sekundärliteratur 280 Abbildungsverzeichnis 292
V O R WO R T : S I C HT B A R K EI T U N D M E D IA L I T Ä T M I MI S C H E N Z E I CH E N A M M E N S C HE N
DER
Der Inhalt einer Gemütsbewegung — darunter stellt man sich so etwas vor wie ein Bild [...]. Man könnte auch das menschliche Gesicht ein solches Bild nennen. (Ludwig Wittgenstein)
Vor Jahren sah ich einen Film des Komikergenies Karl Valentin. Es ist fast etwas übertrieben, die gut halbminütige Bildfolge Film zu nennen, aber immerhin schafft es Valentin in dieser Zeit, sein Gesicht mit Hilfe seiner Finger zu einer mittlerweile wohlbekannten Grimasse zu verziehen: der des Fratzenschneidens. Der ›Film‹ zeigt nichts anderes als die minutiöse Veränderung der Mimik. Er ist um 1929 entstanden, zu einem Zeitpunkt also, als der ›Tonfilm‹ in die deutschen Kinos kam. Valentins Grimasse bleibt dagegen stumm. Sie stellt deshalb für mich – in grotesker Verkehrung und vielleicht unzulässiger Verkürzung – ein Ideal mimischer Expressivität dar, das der ›stumme‹ Film vermittelt hat. Man muß Bilder sehen, gesehen haben, um Mimik als Forschungsgegenstand zu entdecken. Zumindest, wenn man sich für ihre Geschichte und kulturelle Rolle interessiert. Sich mit Mimik zu beschäftigen bedeutet also zunächst, Bilder zu sehen, zu vergleichen und im Gedächtnis zu behalten, ›bewegte‹ und ›unbewegte‹, Bilder die vorgeben, Affekte zu zeigen – oder im Falle Valentins: Grimassen.1 Diese Bilder konservieren das Wissen, das sich Menschen von sich selbst und ihren Affekten gemacht haben – ganz so wie sich Ludwig Wittgenstein den Inhalt einer Gemütsbewegung als Bild vorgestellt und dieses Bild wiederum mit dem menschlichen Gesicht identifiziert hat. Bilder sind also selbst Objekte einer Epistemologie, die gemeinsam mit den in Texten niedergelegten Aussagen den anthropologischen Diskurs am Laufen halten. Dies trifft
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Es existiert neben dem Film noch eine Fotografie dieser Grimasse aus dem Jahr 1935.
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auf Affektbilder in besonderer Weise zu, weil sie den flüchtigen Affekten zu pikturaler Dauer verhelfen. Im Zentrum dieser Arbeit stehen Visualisierungsverfahren mimischer Expressivität. Sie untersucht verschiedene Formen der Visualisierung vorrangig affektiver Körperbewegungen, die als deren ›Ausdruck‹ betrachtet wurden, im Zusammenhang mit ihren diskursiven und medialen Kontexten (vgl. Kap. 1). Es zeigt sich, daß sich mit dem Erscheinen technischer Medien nicht nur der Status von Bildern verändert, die von Affekten gemacht werden, sondern auch ihr Gegenstand selbst.2 Im Zuge dieser Entwicklung gewinnen die dynamischen mimischen Zeichen und ihre Visualisierungsmöglichkeiten an Bedeutung. Die besondere Rolle der Mimik und der Zusammenhang von Diskursen und Medien sollen deshalb am Beispiel eines diskursiven Feldes rekonstruiert werden, das sich um den Begriff ›Ausdrucksbewegung‹ bildet. In den ausdruckstheoretischen Systembildungen und Theorien seit der Antike steht immer wieder eine Figur im Vordergrund: der Schauspieler. Die Bewertung seiner körpersprachlichen Darstellung stellt den Prüfstein jeder Ausdruckstheorie dar. Deshalb wird diese Untersuchung zunächst am Paradigma des Schauspielers und entlang eines historischen Überblicks die jeweiligen ausdruckstheoretischen Vorannahmen überprüfen, die dabei implizit oder explizit zum Tragen kommen und die Aussagen und Bilder über Mienen und Mimen miteinander verschalten (vgl. Kap. 2). Zentral für die Betrachtung der Mimik ist, daß sich Körperbewegungen trotz ihrer Sichtbarkeit nur schwer kategorisieren lassen. Nicht umsonst steht die Beherrschung ihres Nuancenreichtums an oberster Stelle jedes systematischen Versuchs, Mimik zu kategorisieren. Dabei wird augenfällig, daß eine Grenze zwischen Anthropologie und Semiotik der Affekte nur schwer zu ziehen ist. Sie bleibt vielmehr fließend: Ob eine Miene als authentischer Ausdruck oder als erlernte Konvention bewertet wird, hängt dabei nicht zuletzt von den Kontexten und den Medien ab, in denen sie gebraucht bzw. durch die sie visualisiert wird. Auch dichotomische Ordnungsmuster wie Natur/Kultur, authentisch/verstellt, Präsenz/Repräsentation verfangen nicht. Schon die begriffliche Trennung etwa zwischen Geste, Gestus, Gebärde und Mimik bereitet Schwierigkeiten. Margreth Egidi spricht deshalb von einer »Nachbarschaft differenter Konzepte«.3 Mimik ist ein Phänomen der Übergängigkeit. Sie 2
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Vgl. Timothy Druckrey: »Fatale Aussicht«, in: Hubertus von Amelunxen/ Stefan Iglhaut/Florian Rötzer (Hg.): Fotografie nach der Fotografie, Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 81-87, bes. S. 81. Margreth Egidi u.a.: »Riskante Gesten. Einleitung«, in: Margreth Egidi u.a. (Hg.): Gestik: Figuren des Körpers in Text und Bild, Tübingen: Narr 2000, S. 11-41, hier S. 11.
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steht im Zusammenhang dieser Arbeit paradigmatisch für die Steigerbarkeit des modernen Individuums ein. Der Zeitraum der Untersuchung wird von zwei kontingenten Ereignissen gerahmt – dem Erscheinen von Balzacs Theorie de la demarche 1833 und der Veröffentlichung von Karl Bühlers Ausdruckstheorie ein Jahrhundert später: 1933 – dem Jahr, in dem in Deutschland die NaziDiktatur beginnt. Dazwischen liegen exakt einhundert Jahre, in denen ein epistemisches Objekt entsteht, das sich unter dem Terminus ›mimische Expressivität‹ fassen läßt. Darunter sollen solche Phänomene wie die unkontrollierbaren Bewegungen (vornehmlich, aber nicht ausschließlich) des Gesichts sowie die kodifizierten Bewegungsformen (Mimik, Gestik) gedacht werden. Ohne sein Interesse vornehmlich auf die Mimik zu richten, nimmt Balzac in seiner Theorie unbewußte Automatismen von Körperbewegungen in den Blick und thematisiert, wie diese beobachtet werden können. An dieser außerordentlichen Studie wird deutlich, daß gerade die Uneinsehbarkeit und Unverfügbarkeit dieser Bewegungen ihre Diskursivierung vorantreibt. Das Auftauchen eines Unsichtbaren und Unverfügbaren steht zugleich im Zusammenhang mit der Einführung technischer Medien, die zunächst allerdings im Diskurs unsichtbar bleiben. Dennoch oder gerade deshalb können Balzacs Theorie und im Anschluß daran Kierkegaards Schattenrisse als implizite Medientheorien gelesen werden: Denn die Unsichtbarkeit psychischer Systeme wird in literarischen Texten wie wissenschaftlichen Systembildungen gleichermaßen durch mediale Beschreibungsmodelle kompensiert, in denen implizit auch Wissen über diese Medien produziert wird (vgl. Kap. 3). Die Ebene der Positivität erreichen psychische Systeme in der Gestalt minimaler mimischer Bewegungen dann schließlich mit den elektrophysiologischen Experimenten und ihrer fotografischen Aufzeichnung durch Duchenne de Boulogne im Jahr 1862. Seine Schrift Mécanisme de la physiognomie humaine stellt das erste wissenschaftliche Werk über mimische Gesichtsbewegungen dar, das seine Argumentation auf der Evidenz fotografischer Darstellungen gründet. Duchenne unterstellt die Beobachtung psychischer Systeme einem Experimentalsystem, das durch den Verbund von Elektrizität und Fotografie die Objektivität der aufgezeichneten Affektbilder sichern soll (vgl. Kap. 4). Duchennes Analyse der akzidentiellen Bewegungsmomente des Affekts und ihre Visualisierung als fruchtbare Momente werden 1874 in der psychologischen Theorie der Ausdrucksbewegung von Wilhelm Wundt fortgeführt (vgl. Kap. 6). Wundt hat 1873 nicht nur das erste experimentalpsychologische Institut gegründet, sondern mit seinem Begriff ›Ausdrucksbewegung‹ einer Diskursbewegung begrifflichen Ausdruck verschafft, die zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum Knotenpunkt zahlreicher
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Diskurse von der wissenschaftlichen Ausdruckspsychologie, über die Charakterologie und Psychopathologie bis hin zu Ästhetik und Kulturtheorie avancieren sollte. Keine Theorie, die es in irgendeiner Weise mit der ›Natur‹ des Menschen zu tun hat, kommt in dieser Zeit zumindest implizit ohne diesen Begriff aus. So betrachtete es Aby Warburg 1924 in einem Brief an Ernst Cassirer als ihrer beider Aufgabe, eine »allgemeine Kulturwissenschaft als Lehre vom bewegten Menschen«4 zu schaffen. Die Nähe solcher wissenschaftlicher Projekte zur Konjunktur von Ausdruckstanz, rhythmischer Gymnastik und Körperkultur liegt auf der Hand. Sie feiern ein Bild des Menschen, das seinen Anfang in der apparativen Sichtbarmachung von Körperbewegungen genommen hat. Béla Balázs’ Filmtheorie Der sichtbare Mensch stellt in dieser Hinsicht nur den Kulminationspunkt einer Kette von Diskursereignissen dar. Nicht von ungefähr bezieht sie sich auf Wundts psychologische Theorie der Ausdrucksbewegung, um im Film eine neue Kultur des Sehens von Bewegung zu entdecken (vgl. Kap. 6). Zugleich markiert Balázs’ rasch zum kulturellen Schlagwort gewordene Formel einer sichtbaren Sprache des Films die erfolgreiche Annäherung von Wissenschaft und Ästhetik. Auf der Grundlage der Wundtschen Theorie der Ausdrucksbewegung entwerfen beide ein Konzept mimischer Expressivität im ›stummen‹ Film. Als besonders aufschlußreich haben sich einerseits die ausdruckspsychologischen Untersuchungen zur Affektmimik und andererseits die Diskussion um die Darstellung von Affekten in der zeitgenössischen Filmdebatte erwiesen. Mit der fachgerechten Unterrichtung und Disziplinierung angehender Filmschauspieler erreicht die Epistemologisierung mimischer Expressivität die Ebene ihrer Institutionalisierung (vgl. Kap. 7). Daß erst das bewegte Filmbild solche akzidentiellen Bewegungen sichtbar und mithin formalisierbar gemacht hat, ist eine Überzeugung, die Filmtheoretiker wie Wissenschaftler dieser Zeit teilen. Für sie steht der Anteil technischer Medien an der Produktion von Wissen außer Frage. Explizit weist Karl Bühler 1933 in seiner Ausdruckstheorie auf die investigative Rolle von Fotografie, Phonographie und Film bei der Generierung und Lesbarmachung der Zeichen am Menschen hin. Ernst Bloch hat wenige Jahre später den Zusammenhang von Sichtbarkeit und Medialität dieser Zeichen in seiner Schrift Das Prinzip Hoffnung auf die prägnante Formel »Neuer Mimus durch die Kamera« gebracht und damit
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Warburg an Cassirer, Kreuzlingen, 15.04.1924, zit. in: John Michael Krois: »Die Universalität der Pathosformeln«, in: Hans Belting/Dietmar Camper/ Martin Schulz (Hg.): Quel Corps? Eine Frage der Repräsentation, München: Fink 2002, S. 295-307, hier S. 296.
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mimische Expressivität als epistemisches Objekt im Spannungsfeld zwischen technischen Medien und Lektüreweisen verortet. Als Methode bietet sich in dieser Arbeit eine archäologische Herangehensweise schon deshalb an, weil sie den Zusammenhang von kontingenten diskursiven Ereignissen wie der Veröffentlichung von Balzacs Theorie bzw. Bühlers Ausdruckstheorie und der Ausbildung von Wissensformationen beschreibbar macht. Zugleich gebührt dem Stellenwert technischer Medien insbesondere bei der Auffindung mimischer Symptome und ihrer Lesbarmachung als distinkte Zeichen am Menschen besondere Aufmerksamkeit. Deshalb wird im Folgenden die diskursanalytische Rekonstruktion entscheidend um eine parallel geführte mediengeschichtliche Perspektive erweitert. Stefan Rieger hat zu ihren Gunsten argumentiert: Medien in der Konkretion der Apparate und in der Abstraktion kultureller Prozesse organisieren und konstituieren somit den Ort des Menschen. Als solche sind sie also nicht nur die Verwahranstalten kultureller Latenzen, sie sind die technische Bedingung der Möglichkeit und in genau diesem Sinne Apriori für die Sichtbarmachung von Phänomenen, die ein Wissen vom Menschen allererst ermöglichen.5
Der Weg vom Ereignis zur Wissensformation führt also über Medien, aber ausschließlich. Die Visualisierung der flüchtigen pathognomischen Zeichen war der Anthropologie lange vor der Einführung der Fotografie als Aufgabe gestellt. Wundt entwickelte sein Verständnis von psychischen Prozessen zeitgleich zur Bewegungsdarstellung durch die Chronofotografie. Seine Theorie der Ausdrucksbewegung wiederum diente später der Diskussion um den ›stummen‹ Film als entscheidende Argumentationshilfe. Mit anderen Worten: Das Verhältnis von Sichtbarem und Sagbarem, von Diskursen und Medien ist ein historisch variables.6 Nur unter dieser Prämisse erscheint es sinnvoll, dem ereignishaften Auftauchen neuer Techniken den Charakter von Zäsuren zu verleihen.7 Technische Medien wie der Film oder auch schon die Fotografie spielen in der Geschichte der Visualisierung von Körperbewegungen je5 6
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Stefan Rieger: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001, S. 117f. In vergleichbarer Weise sprach Walter Benjamin von der historisch variablen Differenz zwischen Technik und Magie (vgl. ders.: Kleine Geschichte der Photographie, in: ders.: Gesammelte Schriften, hg. von Rolf Tiedemann und Hermann Schweppenhäuser, Bd. II/1, Frankfurt a.M. 1991, S. 368-385, bes. S. 371f). Dies unterläuft z.B. M. Egidi u.a.: »Riskante Gesten«, S. 25.
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doch nicht nur die Rolle von Speichertechniken. Sie zeichnen darüber hinaus für die Zeichenproduktion selbst verantwortlich. Schon allein deshalb erscheint es unabdingbar, Sichtbares und Sagbares als Elemente einer Epistemologie zu betrachten, wie es Michel Foucault getan hat.8 Texte und Bilder stehen deshalb in dieser archäologischen Rekonstruktion einer Mediengeschichte der Mimik gleichberechtigt nebeneinander. Sie schließt mit einem Ausblick auf die Rolle, die dem Affektbild in der Filmtheorie und dem Gesicht in der aktuellen Debatte um die ›faciale Gesellschaft‹ zukommt. Die vorliegende Untersuchung wurde im Dezember 2003 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln als Dissertation angenommen und für den Druck leicht überarbeitet. Den Referenten Prof. Dr. Wilhelm Voßkamp und Prof. Dr. Irmela Schneider danke ich für ihr andauerndes Interesse an dieser Arbeit und für ihre Unterstützung. Mein Dank gebührt ebenfalls Dr. Albert Kümmel, Dr. Katrin Lange und Susanne Leeb sowie Dr. Stefan Andriopoulos und PD Dr. Bernhard Dotzler für ihre unermüdliche Hilfsbereitschaft und wertvolle Anregungen. Holger und Emma gehört mehr als mein Dank.
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Vgl. Gilles Deleuze: Foucault, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1987, S. 73.
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1. D I S KU R S E
UN D
M E D IE N
DES
A U S DR U C K S
Keine Leidenschaft ist als Leidenschaft der Seele, sondern nur insoferne sichtbar, als sie auf die sichtbaren Theile des Körpers wirkt. (Hemsterhuis)
Die Frage nach dem sichtbaren ›Ausdruck von Gemütsbewegungen‹, der körperlichen ›Sprache der Leidenschaften‹ verbindet unterschiedlichste Diskurse. Seit dem Ende des 16. Jahrhunderts hatten sich höfische Klugheitslehren wie moralphilosophische Abhandlungen immer wieder dieses Themas angenommen. Verstärkt formierte sich dann im 18. Jahrhundert ein Wissensbegehren nach der Kenntlichmachung des Menschen in der Sphäre der Sichtbarkeit jenseits von Kosmologie, Signaturenlehre oder Naturgeschichte. Aus den Fängen der klassischen Repräsentation und ihrer Tableaus befreit, wurde der Mensch dem Menschen vergleichbar: Das ist für Michel Foucault der diskursbegründende Ursprung der Anthropologie, den er in seiner Schrift Die Ordnung der Dinge beschreibt: »Die Anthropologie [...] war von dem Moment an notwendig geworden, in dem die Repräsentation die Kraft verloren hatte, für sich allein und in einer einzigen Bewegung das Spiel ihrer Synthesen und Analysen zu bestimmen.«1 Die anthropologische Ausforschung des Menschen konzentrierte sich dabei zunehmend auf die veränderlichen Körperbewegungen, auf die Mienen, Gesten und Handlungen, die für Immanuel Kant allein Gegenstand praktischer Erfahrung, jedoch nicht wissenschaftlicher Erkenntnis sein können, weil »die Eigentümlichkeit der menschlichen Gestalt [...] nicht durch Beschreibung nach Begriffen, sondern durch Abbildung und Darstellung (in der Anschauung) oder ihrer Nachahmung verstanden 1
Michel Foucault: Die Ordnung der Dinge: Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 9. Aufl. 1990, S. 410. Diese Diskursbewegung fällt mit dem Erscheinen des Menschen zusammen: »Erst als [...] jener klassische Diskurs erlischt, in dem das Sein und die Repräsentation ihren gemeinsamen Platz fanden, erscheint in der tiefen Bewegung einer solchen archäologischen Veränderung der Mensch in seiner nicht eindeutigen Position als Objekt für ein Wissen und als Subjekt, das erkennt [...]« (ebd., S. 377).
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werden kann«.2 In diesem Widerspruch zwischen Begriff und Anschauung, Wissen und Darstellung hat Kant das epistemologische Paradox der Anthropologie bestimmt – und zugleich die Erkenntniskraft der Bilder des menschlichen Körpers und seiner Bewegungen verkannt. Denn mit der insbesondere durch Georg Christoph Lichtenberg aufgeworfenen Frage nach einer Semiotik der Affekte verlagerte sich das anthropologische Forschungsinteresse zunehmend auf die Lesbarkeit der flüchtigen Bewegungen als den sichtbaren Effekten von Affekten. Bereits im 17. Jahrhundert wurde die »Frage nach dem logischen Zusammenhang von Bewegung und Zeichen«3 virulent, jedoch erst in der Debatte um die statischen bzw. dynamischen Ausdruckszeichen zwischen Lavater und Lichtenberg wurde sie zu einem diskursiven Ereignis, das eine eindeutige Positionsbestimmung der Anthropologie zugunsten der Pathognomik provozierte.4 Allein in den pathognomischen Zeichen des Affekts, der »unwillkürlichen Gebärden-Sprache«,5 sah Lichtenberg eine natürliche und universelle Zeichenrelation begründet. Deshalb trennte er sie von der Zeichenordnung der Physiognomik, die er als hochgradig spekulative und moralisch wertende Lehre ablehnte. In der Geschichte des Affektausdrucks trat damit eine bedeutende Wendung ein. Aus den Registern der Rhetorik, in denen das Auffinden und Anordnen der Argumente sowie der redebegleitenden Mienen und Gesten auf die angemessene Selbstaffizierung des Redners abzielte, wanderte die Problematik der Affekt-Ausdrucksbeziehung in die Ästhetik und beginnende wissenschaftliche Psychologie ab.6 Diese Disziplinen lösten die bisher vorherrschenden Körperzeichenlehren ab und formulierten eigene Ausdruckstheorien, in denen die unwillkürlichen und flüchtigen Anzeichen der Affekte als deren natürlicher Ausdruck refor2
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Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, in: ders., Werke in zwölf Bänden, hg. von Wilhelm Weischedel, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974-82, Bd. 12, S. 638. Rüdiger Campe: Affekt und Ausdruck. Zur Umwandlung der literarischen Rede im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 1990, S. 121. Campe belegt dies an den Schriften Francis Bacons. Auf die epistemologische Verschiebung von einer taxonomischen Ordnung des Affekts zu einer »syntaktisch deutbaren Ordnung der Bewegung« weist auch Elmar Locher hin; vgl. ders.: »Gestik und Physiognomik in der Schauspielkunst bis Lessing«, in: Italo Michele Battafarano (Hg.): Deutsche Aufklärung und Italien, Bern/Frankfurt a.M.: Peter Lang 1992, S. 131-164, hier S. 134. Vgl. Alexander Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst. Studien zur ›eloquentia corporis‹ im 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 1995, S. 14. Georg Christoph Lichtenberg: Über Physiognomik; wider die Physiognomen, in: ders., Schriften und Briefe, hg. von Franz H. Mautner, Bd. 2, Frankfurt a.M.: Insel 1983, S. 99. Vgl. Hans-Ulrich Gumbrecht: »Ausdruck«, in: Karlheinz Barck: Lexikon ästhetischer Grundbegriffe, Bd. 1, Stuttgart: Metzler 2000, S.416-431.
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muliert wurden.7 Als Ausdruck verstanden, wurden diese Anzeichen zugleich Subjekten als individuelle Leistung angerechnet. Auf diese Weise kam in die starren Zuordnungsregeln der Affekt-Ausdrucksbeziehung Bewegung. Die Darstellbarkeit des Menschen in seinem Körperbild wurde dabei selbst einer gründlichen Revision in verschiedenen Wissensbereichen unterzogen. Der alte, seit der Antike bestehende Zusammenhang von Rhetorik, Affektenlehre und Physiognomik wurde, wie Rüdiger Campe in seiner umfangreichen historischen Studie Affekt und Ausdruck nachgewiesen hat, im 18. Jahrhundert durch den des Literarischen und der Psychologie ersetzt.8 Die Auflösung dieses Verbundes markiert wiederum die historische Grenze seiner diskursanalytischen Rekonstruktion der Herausbildung des Literarischen. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts nämlich löst sich die Psychologie aus diesem Diskurszusammenhang, um sich unter die Naturwissenschaften einzureihen und eine Relation zu den entstehenden technischen Bilddiskursen zu stiften. Dieser Positionswechsel ist einerseits mit der Einführung exakter Untersuchungs- und Meßmethoden verbunden und etabliert sich andererseits mit Unterstützung einer technisch exakten Bildlichkeit, die den Zusammenhang zwischen Wissen und Sehen neu definiert.9 Die Neukonfiguration ist mit der diskursiven Plazierung eines technischen Mediums verbunden, das erstmals verspricht, ein analoges und damit objektives Bild der Realität ohne Zutun einer menschlichen Hand wiederzugeben. Fotografiehistorische Darstellungen haben daher immer wieder betont, daß die wissenschaftliche Erkundung der Physis und Psyche des Menschen durch die Erfindung der Fotografie vorangetrieben worden ist.10 Im Verlauf des 19. Jahrhunderts sind die Darstellungsleistungen der Fotografie immer wieder Gegenstand ästhetischer wie wissenschaftlicher Debatten gewesen, die einerseits die optischen Effekte 7
Andreas Käuser bewertet diese Gleichsetzung von unwillkürlichen Körperäußerungen und natürlichem Ausdruck als »zeichentheoretische Wende«; vgl. ders.: »Körperzeichentheorie und Körperausdruckstheorie«, in: Erika Fischer-Lichte (Hg.): Theater im Kulturwandel des 18. Jahrhunderts: Inszenierung und Wahrnehmung von Körper-Musik-Sprache, Göttingen: Wallstein-Verlag 1999, S. 39-51, bes. S. 44f. 8 Vgl. R. Campe: Affekt und Ausdruck, S. 113. 9 Vgl. Renata Taureck: Die Bedeutung der Photographie für die medizinische Abbildung im 19. Jahrhundert, Köln: Arbeiten der Forschungsstelle des Instituts für Geschichte der Medizin der Universität zu Köln, Bd. 15, 1980. 10 Vgl. Erich Stenger: Geschichte der Photographie, Berlin: VDI-Verlag 1929; Helmut Gernsheim: Geschichte der Photographie. Die ersten hundert Jahre, Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Propyläen-Verlag 1983; Michel Frizot/ Pierre Albert (Hg.): Neue Geschichte der Fotografie, Köln: Könemann 1998.
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des fotografischen Bildes wie Detailgenauigkeit und -fülle feierten bzw. angriff und andererseits seinen Status als Objekt der Erkenntnis wie der Ästhetik thematisierten.11 Diese Frage wird insbesondere an der fotografischen Erfassung von Bewegungsmomenten virulent, soll doch gerade die Momentfotografie Phänomene sichtbar machen, die kein Bildmedium zuvor mit gleicher Exaktheit wiedergeben konnte. Gerade die flüchtigen mimischen Bewegungen, mit denen es insbesondere die Pathognomik zu tun hat, sollen durch die Fotografie zu einer analogen visuellen Darstellung gelangen – macht sie doch mit den Mängeln statischer Abbildtechniken wie Le Bruns Modellzeichnungen oder Lavaters Silhouetten und Kupferstichen auch ihre epistemologischen Grenzen offensichtlich. Diese Entwicklung der Affekt-Ausdrucksbeziehung soll ausgehend von den prominenten Diskussionen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die zur Herausbildung der Anthropologie geführt haben, bis ins beginnende 20. Jahrhundert hinein entlang von Fallstudien untersucht werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Abhängigkeit der Affekt-Ausdrucksbeziehung von Visualisierungstechniken, die seit dem Siegeszug der Fotografie die Macht über die bildliche Repräsentation des menschlichen Körpers erlangt haben. Die Arbeit bewegt sich zwischen zwei historischen Schnitten, die mit dem Erscheinen von Balzacs Theorie de la demarche 1833 und Karl Bühlers Ausdruckstheorie 1933 markiert werden. Um diese Markierungen wird die Rekonstruktion eines diskursiven Feldes mimischer Expressivität immer wieder kreisen. Kursorische Rückbezüge auf entscheidende ausdruckstheoretische Debatten und Problemstellungen sollen den epistemologischen Bruch kenntlich machen, der mit der Herausbildung der wissenschaftlichen Psychologie und der Diskursivierung der Fotografie einsetzt. Dieses Diskursfeld wird von der kurzen Karriere der Ausdruckspsychologie begrenzt, die im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts ihren Höhepunkt erreicht: Die anthropologische Problematik des Affektausdrucks ist in dieser Zeit eine Domäne der wissenschaftlichen Ausdruckspsychologie.12 Zugleich läßt sich an diesem Diskursfeld zeigen, inwieweit die wissenschaftliche Erforschung der sichtbaren Zeichen am Körper nicht nur von den medialen Bedingungen ihrer Visualisierung, sondern gleichermaßen von ästhetischen Bildkonzepten und populärkulturellen Vorannahmen geprägt ist. Auf welche Art und Weise das, was man sieht, das bestimmt, was man zu wissen glaubt, und das Sagbare wie das Sichtbare gleichermaßen Elemente der Epistemologie sind, hat Michel Foucault in seinen wissens11 Vgl. Wolfgang Kemp: Theorie der Fotografie I. 1839-1912, München: Schirmer/Mosel 1980; Gerhard Plumpe: Der tote Blick: zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus, München: Fink 1990. 12 Vgl. Robert Kirchhoff: »Zur Geschichte des Ausdrucksbegriffs«, in: Robert Kirchhoff (Hg.): Ausdruckspsychologie, Göttingen: Hogrefe 1965, S. 9-38.
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archäologischen Arbeiten immer wieder dargelegt. Deshalb unterscheiden sich die klassifikatorischen Schemata der Physiologie sowie die anatomischen Schemata des 18. Jahrhunderts und deren Frage, was einzelne Gesichtszüge oder Gesten und Mienen bedeuten, deutlich vom Erkenntnisinteresse der Humanwissenschaften des 19. Jahrhunderts, die sich der psycho-physischen Einheit des lebenden Organismus zuwenden und diese in den sichtbaren willkürlichen und vor allem in den unwillkürlichen Ausdrucksbewegungen erfassen wollen. Kenntlich wurde der Mensch nun, indem kleinste emotionale Regungen und ihre körperlichen Effekte zum Gegenstand eindringlicher Observation und wissenschaftlicher Analysen wurden. Die Beobachtung und Ausnutzung solcher Details unwillkürlicher Körperbewegung ist ein Kennzeichen moderner Kontrollgesellschaften geworden: Eine minutiöse Beobachtung des Details und gleichzeitig eine politische Erfassung der kleinen Dinge durch die Kontrolle und die Ausnutzung der Menschen setzen sich im Laufe des klassischen Zeitalters zunehmend durch und bringen eine Reihe von Techniken, ein Korpus von Verfahren und Wissen, von Beschreibungen, Rezepten und Daten mit sich. Aus diesen Kleinigkeiten und Kleinlichkeiten ist der Mensch des modernen Humanismus geboren.13
Die ausdifferenzierte Überwachung des Körpers führt aber auch zu seiner Individualisierung; er wird lokalisiert und in ein »Netz von Relationen« aufgeteilt.14 Parallel zu klassifikatorischen Tendenzen, die vorrangig in Typologien von Verbrechern oder Geisteskranken münden, setzt deshalb eine Subjektivierung des Affektausdrucks ein, die sich im Zuge einer geforderten Steigerung der Individualität fortsetzt.15 Im beginnenden 20. Jahrhundert wird die individuelle Ausdrucksleistung Gegenstand der Persönlichkeitspsychologie. Das, was am Menschen tatsächlich beobachtet wird, wird von nun an als sein subjektiver Ausdruck gedeutet werden. Ausdrucksforschung hat es deshalb stets mit den äußeren körperlichen Zeichen angenommener emotionaler Vorgänge im Körperinneren zu tun, mit ihrer sichtbaren Manifestation in Mienen und Gesten; sie erfaßt in der Frage nach den verborgenen ›Gemütsbewegungen‹ den Körper als Schauplatz der Sichtbarmachung von Unsichtbarem (Affekte, Leidenschaften): Dabei unterstellt sie, daß es zwischen Affekt und Aus13 Michel Foucault: Überwachen und Strafen. Die Geburt des Gefängnisses, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994, S. 181. 14 Ebd., S. 187. 15 Der differentielle Ansatz wird vor allem durch William Stern populär; vgl. Stefan Rieger: Die Ästhetik des Menschen. Über das Technische in Leben und Kunst, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003, S. 127-136.
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druck eine Zeichenbeziehung gibt – eine Beziehung, die Zuordnungen am Körper des Menschen ermöglicht, die Regeln gehorcht und sinnvoll gedeutet werden kann. Die Zweifel, die immer wieder an der Möglichkeit gehegt wurden, von sichtbaren äußeren Symptomen auf unsichtbare Vorgänge im Körperinnern zu schließen, haben den verschiedenen theoretischen und praktischen Bemühungen einer Validisierung dieses ausdruckstheoretischen Axioms bis heute letztendlich keinen Abbruch getan.16 Die Beschreibung dieser diskursiven Beziehungsweisen und Zuordnungsregeln innerhalb der wissenschaftlichen Ausdrucksforschung ist ausgehend von ihren Anfängen im 18. Jahrhundert Gegenstand dieser Untersuchung. Wichtig ist dabei nicht, ob die postulierten Erkenntnisse einer kritischen Prüfung aus heutiger Sicht standhalten, ob – mit anderen Worten – das, was als ›Ausdruck‹ signifiziert wurde, Objektivität erlangen kann. Forschungsleitend sind vielmehr die Weisen, wie diese Erkenntnisse gewonnen wurden und Evidenz erlangen konnten. Denn so problematisch die Kategorie ›Ausdruck‹ für heutige Psychologen auch sein mag, gleichwohl umspannt sie immer noch einen Fragehorizont, den weder die zeitgenössische empirische Psychologie noch die Kulturwissenschaften verabschiedet haben.17 Das ausdruckstheoretische Wissen soll daher als historisches rekonstruiert werden mit dem Ziel, Verfahren und Praktiken der Evidenzerzeugung bei der Visualisierung von Affekten aufzuzeigen. Dabei geraten nicht einzelne Diskurse, sondern ihre jeweiligen Verknüpfungen sowie interdiskursive Visualisierungstechniken in den Blick – gerade auch, weil die Frage nach dem Verhältnis von Wissen und Darstellung diese Diskursformation begründet. Deshalb beginnt die Untersuchung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, als die Fotografie auf dem Terrain der Wissenschaft Fuß faßt 16 Vgl. Nico H. Fridja: »Mimik und Pantomimik«, in: Kirchhoff (Hg.): Ausdruckspsychologie, S. 351-421. In der experimentellen Psychologie ist man am Anfang des 20. Jhs. überzeugt, daß es »keine konstante Entsprechung von Emotionen und expressiven Erscheinungen gibt« (R. Kirchhoff: »Geschichte des Ausdrucksbegriffs«, S. 27); vgl. Siegfried Frey: Die Macht des Bildes. Der Einfluß der nonverbalen Kommunikation auf Kultur und Politik, Bern u.a.: Huber Verlag 1999, S. 33-51. 17 S. Frey (Macht des Bildes) stellt neuere wissenschaftliche Ansätze auf der Basis digitaler Datenerhebungen und interaktiver, medial vermittelter Kommunikation vor. Das anhaltende kulturwissenschaftliche Interesse bezeugen zahlreiche Veröffentlichungen: Ulrike Bergermann: Ein Bild von einer Sprache: Konzepte von Bild und Schrift und das Hamburger Notationssystem für Gebärdensprachen, München: Fink 2001; M. Egidi u.a. (Hg.): Gestik: Figuren des Körpers in Text und Bild; Erika FischerLichte(Hg.): Verkörperung, Tübingen/Basel: Francke 2001; Julika Funk/ Cornelia Brück (Hg.): Körper-Konzepte, Tübingen: Narr 1999; Matthias Bickenbach, Annina Klappert, Hedwig Pompe (Hg.): Manus loquens. Medien der Geste. Gesten der Medien, Köln: DuMont 2002.
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und den Bildern des Affekts eine breitgestreute Aufmerksamkeit verschafft. Eine exklusive Stellung beansprucht dabei wiederum das Gesicht als fotografischer Gegenstand, weil sich hier die Effekte der Leidenschaften am deutlichsten zeigen sollen. Fotografien transformieren diese latenten Effekte in manifeste Bildzeichen und verschaffen damit ihrer flüchtigen Sichtbarkeit ein dauerhaftes Substrat. Die Faszination etwa von Medizinern für die Fotografie läßt sich durch diese medial verdoppelte und damit gesteigerte Visualität körperlicher Anzeichen verstehen: Für sie macht »die Körperoberfläche in einem idealen Sinn etwas von den Seelenbewegungen sichtbar« – das erklärt auch, »warum die psychiatrische Photographie sich auf Anhieb in der Kunst des Porträts kundig gemacht hat.«18 Diese Faszination für das Gesichts zeigt in exemplarischer Weise, wie sich die Diskursformationen von Ästhetik, Medizin und Anthropologie und dann im 19. und 20. Jahrhundert von Psychologie, Biologie und Soziologie in der Analyse des Affektausdrucks überlagern. Aus diesem diskursiven Netzwerk soll das Bild des Menschen gewonnen werden, wie es Diskurse und (seit der Erfindung der Fotografie: technische) Medien generieren. Bereits in den fotografischen Bilderatlanten des 19. Jahrhunderts wurde ein schwelendes Problem der Visualisierung des Affektausdrucks virulent: seine Flüchtigkeit. Eine »Zeichenlehre der flüchtigen Bewegungen«19 mußte vor der Erfindung der Fotografie ein unerreichbares Ziel jeglicher Ausdruckstheorie bleiben. Mit dem Dispositiv des »fruchtbaren Moments« – jenes Moments, in dem die Aufnahme ausgelöst wird – macht die Fotografie erstmals die immanente Zeitlichkeit des Affektausdrucks operationalisierbar. Durch die Entwicklung der Moment- und Chronofotografie werden zeitliche Bewegungsabläufe, also mimische und gestische Körperbewegungen, bereits in Sequenzen von Einzelbildern erfaßbar, bevor der Film dann zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Bewegung als solche ausstellt und zeitlich wie räumlich analysierbar macht. Damit büßt der ›fruchtbare Moment‹ auch jene Distinktionskraft ein, die er in Gotthold Ephraim Lessings Laokoon eingenommen hatte, um Poesie von Malerei bzw. Skulptur darstellungslogisch zu trennen.20 Der Filmtheoretiker und Regisseur Sergej Eisenstein erkennt im Film dasje18 Georges Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie. Die photographische Klinik von Jean-Martin Charcot, München: Fink 1997, S. 67. 19 R. Campe: Affekt und Ausdruck, S. 471. 20 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing: Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie (1766), hg. und mit einem Nachwort versehen von Kurt Wölfel, Frankfurt a.M.: Insel 1988. Lessing hatte die Wahl des »fruchtbaren Moments« den Künstlern selbst überlassen. In der Fotografie erweist erst die fertige Aufnahme den Aufnahmemoment im Nachhinein als fruchtbar.
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nige Medium, das sowohl Handlungen im Raum (Malerei/Skulptur) als auch in der Zeit (Poesie) darstellen könne. Nicht umsonst wird der Film in den Debatten des frühen 20. Jahrhunderts immer wieder als Medium adressiert, das wie kein anderes Mimik und Gestik zur Entfaltung und Sichtbarkeit gebracht habe – Ernst Blochs Wort vom »neuen Mimus durch die Kamera« pointiert diesen epistemologischen Impuls des Films.21 Die verschiedenen Neuformulierungen, die Lessings Erkenntnisfigur im Gang durch die Diskurse erfahren hat, bilden deshalb einen roten Faden, an dem diese Arbeit die Problematik der Visualisierung des Affektausdrucks entfalten wird. Den diskursiven Boden, auf den die medientechnischen Innovationen fallen und in dem sie Wurzeln schlagen, bereiten in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ästhetische wie physiologische Untersuchungen über den menschlichen Gang und in der zweiten Hälfte eine experimentelle Psychologie vor, die in der Kategorie der ›Ausdrucksbewegung‹ die Zeitlichkeit des Affektausdrucks und dessen fruchtbare Momente zu denken beginnt. Die Parallelität dieser diskursiven Ereignisse ist nichts weniger als kontingent, sie ist vielmehr von einer Eigendynamik geprägt, durch die Diskurse entstehen und sich ausbreiten. In ihnen wird die hermeneutische Frage nach der Lesbarkeit des Menschen, die in der Anthropologie des 18. Jahrhunderts ihren Ausgang nahm, verhandelt und für neue Untersuchungsmethoden und Visualisierungsverfahren geöffnet.
1 . 1 L e s b a r k eit d es Men s c he n Das 18. Jahrhundert entdeckt den Menschen als Subjekt und Objekt des Wissens. Die Einsicht in die Subjektivität jeglicher menschlichen Erkenntnis treibt jedoch auch Wissenssysteme wie die Physiognomik hervor, die das am Menschen Beobachtete objektiv zu deuten vorgeben. Als »soziale Leseanleitung« hat ihr Erfahrungswissen deshalb Konjunktur. Es ist ein Topos der Physiognomikforschung, am allseits beliebten »Gesichterlesen« den Individualisierungsschub der bürgerlichen Gesellschaft in der Mitte des 18. Jahrhunderts anzusetzen: Je individualisierter sich der Einzelne empfinde, um so dringlicher werde das Problem der Verständigung und der Wunsch, die Absichten seiner Mitmenschen zu ›lesen‹. Voraussetzung dieser Hermeneutiken des Humanen ist, daß die Zeichen seiner moralischen Verfaßtheit (Christian Wolffs Semiotica moralis), seines Handelns (Thomasius’ Semiotica civilis), seiner Affekte
21 Vgl. Ernst Bloch: »Neuer Mimus durch die Kamera«, in: ders.: Das Prinzip Hoffnung (1938-47), Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1973, S. 471-478.
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(Lichtenberg), seiner Morphologie (Goethe) bzw. seiner Seele (Lavater) am Menschen selbst sichtbar werden.22 Neben Aussehen und Körperbau wird von nun an alles, was Menschen an mimischen und gestischen Äußerungen hervorbringen – seien diese Effekte seiner unbeherrschbaren ›Natur‹ oder Resultat erlernten Verhaltens innerhalb der Kultur, seien sie also unwillkürlich oder willkürlich produziert –, einer deutenden Lektüre unterzogen. Die planmäßige Verwechslung subjektiver Eindrücke, die auf unbewußten Schlüssen beruhen, mit objektiven Zeichen am Körper hat sich bis heute als ungemein erfolgreich besonders in der Alltagskommunikation erwiesen.23 Menschenkenntnis gibt sich als ›genuin‹ hermeneutisches Problem zu erkennen, weil es sich seither eingebürgert hat, »von Subjekten hervorgebrachte Deutungsleistungen den Objekten der Deutung als Ausdruck« zuzuschreiben.24 Erkenntnis des Menschen wird seit dem 18. Jahrhundert mit Vorliebe an dessen Bild betrieben, das ein unverzichtbares Äquivalent für die vergleichende Beobachtung und begriffliche Analyse darstellt. Giovanni Gurisatti betont, daß parallel »zu diesem Interesse für das ausdruckshafte Bild des Menschen [...] sich jenes für die ästhetische Darstellung dieses Bildes« entwickelt habe.25 Brisant ist nun, auf welche Weise sich die theoretischen Vorannahmen bezüglich der Affekt-Ausdrucksbeziehung mit ästhetischen Darstellungskonventionen verbinden, die diese Vorannahmen stützen sollen. Die diskursbegründende Unterscheidung von statischen und dynamischen Ausdruckszeichen bildet sich nämlich in der jeweiligen Vorliebe für die bildenden Künste einerseits und für die darstellenden Künste andererseits ab: »Der sich mit der dauerhaften menschlichen Form befassende Physiognom bevorzugt die raumhaften bildenden Künste, das Porträt, den Stich, die Plastik, die Silhouette«, der Pathognomiker dagegen »die zeitliche Kunstform schlechthin, die dramatische Kunst und deren pathognomische Übersetzung: die Schauspielkunst.«26 Die von Lessing vorgenommene Unterscheidung der Künste in raumbezogene (Malerei, Skulptur) und zeitbezogene (Poesie, Drama) läßt sich auf die der statischen und dynamischen Zeichen am Menschen übertragen. Physiognomik und Pathognomik stellen konträre Zeichen-
22 Vgl. das Nachwort von Karl Riha und Carsten Zelle in Johann Caspar Lavater: Von der Physiognomik, Frankfurt a.M.: Insel 1991, S. 116. 23 Vgl. S. Frey: Macht des Bildes, S. 43-45, der von Helmholtz’ Kritik an der Suggestivkraft visueller Eindrücke aufgreift. 24 H. U. Gumbrecht: »Ausdruck«, S. 417, Sp. 2. 25 Giovanni Gurisatti: »Die Beredsamkeit des Körpers. Lessing und Lichtenberg über die Physiognomik des Schauspielers«, in: DVjS 67 (1993), S. 393-416, hier S. 396. 26 Ebd.
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praktiken dar, die sich jeweils mit ebenso konträren Darstellungsweisen verbünden. Dies läßt sich an Lavaters Bevorzugung der Zeichnung demonstrieren. Sie sei »die erste, die natürlichste, die sicherste Sprache der Physiognomik; das beste Hülfsmittel für die Imagination; das einzige Mittel unzählige Merkmale, Ausdrücke und Nüances zu sichern, zu bezeichnen, mitheilbar zu machen, die nicht mit Worten, die sonst auf keine Weise zu beschreiben sind.«27 Deshalb gehöre die Kenntnis der Zeichenkunst genauso zum Rüstzeug des Physiognomen wie Kenntnisse in Medizin, Anatomie und Physiologie des menschlichen Körpers. Zugleich benennt Lavater die Opposition von Sichtbarem und Sagbarem als Erkenntnisproblem und unterstellt der visuellen Darstellung eine ›genuine‹ Erkenntnisleistung. Obwohl Lavater »Verschiedenes« in seiner Abhandlung »mit Zeichnungen belegen«28 wollte und sich von Kindheit an im Zeichnen von Gesichtern geübt hatte, gibt er dem Schattenriß den Vorzug, der die unzähligen Merkmale und Nuancen der Zeichnung wieder tilgt (vgl. Abb. 1). Lavater spricht der Silhouette nicht nur als Gegenstand praktischer Übung eine zentrale Position innerhalb seiner Physiognomik zu: »Das Schattenbild eines Menschen« ist ihm, »wenn das Licht in gehöriger Entfernung gestanden; wenn das Gesicht auf eine reine Fläche gefallen – mit dieser Fläche parallel genug gewesen – das wahrste und getreueste Bild, das man von einem Menschen geben kann.«29 Die einzigen Einschränkungen, die Lavater hier vornimmt, sind projektionstechnischer Art. Der Schattenriß, der ja »nur was Negatifes, – nur die Gränzlinie des halben Gesichts« darstelle, ist für ihn als Bild des Menschen dennoch »das getreueste, weil es ein unmittelbarer Abdruck der Natur sei, weil keiner, auch der geschickteste Zeichner, einen nach der Natur von freyer Hand zu machen im Stande« sei.30 Projektionstechnik nobilitiert für Lavater die Silhouette gegenüber der Zeichnung – an sie reicht keine manuelle Geschicklichkeit heran. Die Silhouette gilt als wahr, weil sie als »unmittelbarer Abdruck der Natur« reine Mimesis am Objekt betreibt, das sie zugleich auf seine Umrißlinie reduziert und wie ein geometrisches Objekt homogenisiert. Dieser Homogenisierung fallen zuerst die pathognomischen Zeichen zum Opfer, die das »unmittelbare« und »getreue« Bild des
27 Johann Caspar Lavater: Physiognomische Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1775-1789). Eine Auswahl, hg. von Christoph Siegrist, Stuttgart: Reclam 1984, S. 113. 28 Ebd., S. 11. 29 Ebd., S. 152. 30 Ebd.
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Menschen stören.31 In der Silhouette sind die beweglichen Züge des Menschen stillgestellt.
Abbildung 1: Johann Caspar Lavater: Vier Silhouetten von trefflichen Männern (1772)
Gegenüber Zeichnung und Kupferstich, die für Lavater nur selten das Intendierte tatsächlich zu sehen geben,32 verbürgt allein die Silhouette, »Bild eines ganz lebendigen Menschen«33 zu sein. Der Schattenriß erleichtert nicht nur die Beobachtung und den Vergleich einzelner Physiognomien, ihm obliegt auch die ganze Beweislast der Theorie: »Die Physiognomik hat keinen zuverlässigern, unwiderlegbarern Beweis ihrer objektiven Wahrhaftigkeit, als die Schattenrisse.«34 Objektivität erlangt die Silhouette für Lavater durch den Automatismus der Bildgenerierung, 31 In der Pathognomik hat sich ein simples grafisches Darstellungsschema durchgesetzt, womit sich mimischen Varianten schnell und schlagend einfach erfassen lassen. Lichtenberg verwendete es, Carl Gustav Carus bezeichnete es als »mystische Trias« und auch in der experimentellen Psychologie wurde es eingesetzt (vgl. Claudia Schmölders: Das Vorurteil im Leibe. Eine Einführung in die Physiognomik, Berlin: Akademie-Verlag 2 1997, S. 126-131). 32 In seiner Vorrede zum ersten Versuch seiner Physiognomischen Fragmente beklagt Lavater, daß »sehr viele Zeichnungen und Kupferplatten fehlgeschlagen« seien, was sein Werk auch im pekuniären Sinne kostbar mache (J.C. Lavater: Physiognomische Fragmente, S. 8). 33 Ebd., S. 152. 34 Ebd., S. 154.
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der die subjektive Hand des Zeichners ersetzt und damit Verfälschungen ausschließen soll. Sie ist daher »weniger eine ästhetische als vielmehr eine hermeneutische Grundfigur« und für Lavaters Physiognomikprogramm, wie Claudia Schmölders erkennt, deshalb so attraktiv, weil sie das »völlige Absehen von Mimik« impliziert.35 Lavaters Nobilitierung der Silhouette ist auf den bewußten Ausschluß pathognomischer Zeichen gerichtet; sie soll die Objektivität seiner physiognomischen Beweisführungen garantieren: Feste Zeichen des Gesichts und statisches Bild gehen darin eine Allianz ein. Seinen Exerzitien36 in der Bildauslegung von Silhouetten hatte jedoch schon Lichtenberg mit seinem 1777 geschriebenen Fragment von Schwänzen eine Absage erteilt.37 Den Menschen an seinem Schattenriß zu deuten, ist für Lichtenberg genauso absurd, wie an der Nase oder Stirn seinen Charakter ablesen zu wollen. In Lavaters Physiognomischen Fragmenten treten Darstellbarkeit und Beschreibbarkeit der physiognomischen Zeichen auseinander. Dieses Mißverhältnis zwischen Wissen und Darstellung, Sprache und Bild ist vielen Kritikern nicht verborgen geblieben: »Die Stummheit der Silhouetten steht zu der verzweifelt beredten, manierierten, überladenen, aber letztlich sprachlosen Beschreibung in eklatantem Widerspruch.«38 Der Schattenriß erscheint in dieser Perspektive als »eine Buchstabierhilfe des Sichtbaren«.39 Allein, welchen epistemologischen Stellenwert die Silhouette in Lavaters Physiognomik einnimmt, verschweigt diese Kritik, denn Schattenrisse sind für ihn im Unterschied zu Zeichnungen oder Kupferstichen aufgrund ihrer apparativen Erzeugung als Projektion ›objektive‹, natürliche und wahre Darstellungen der menschlichen Physiognomie. Als Umrißlinie und Negativbild verweist die Silhouette einerseits auf den Ursprungsmythos der Malerei, den Plinius d.Ä. in seiner Naturalis historia mitteilt, andererseits gehört die Silhouette aufgrund ihres Abbildrealis-
35 Vgl. Claudia Schmölders: »Das Profil im Schatten. Zu einem physiognomischen ›Ganzen‹ im 18. Jahrhundert«, in: Hans-Jürgen Schings (Hg.): Der ganze Mensch. Anthropologie und Literatur im 18. Jahrhundert, Stuttgart/Weimar: Metzler 1994, S. 242-259, hier S. 250; 249. 36 Als »Training, das weniger ein ablösbares Wissen, als vielmehr sich selbst zum Ziel hatte«, bezeichnet auch Rüdiger Campe Lavaters PhysiognomikProgramm (vgl. ders.: »Bezeichnen, Lokalisieren, Berechnen«, in: H.-J. Schings (Hg.): Der ganze Mensch, S. 162-186, hier S. 169. 37 Vgl. Georg Christoph Lichtenberg: Fragment von Schwänzen. Ein Beitrag zu den Physiognomischen Fragmenten, in: ders.: Schriften und Briefe, Bd. 2, S. 117-122. 38 A. Ko_enina: Anthropologie und Schauspielkunst, S. 101. 39 Gert Mattenklott: Der übersinnliche Leib. Beiträge zur Metaphysik des Körpers, Reinbek: Rowohlt 1982, S. 17.
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mus zur Vorgeschichte der Fotografie.40 Beide Visualisierungstechniken teilen das Indexikalische der Zeichengebung. Sie verzeichnen Spuren, die auf eine Berührung mit einem real anwesenden Körper zurückgehen. Im Unterschied zu Artefakten wie Zeichnungen oder Kupferstichen unterliegen Silhouette und Fotografie daher nicht den Doktrien der Ähnlichkeit. Schreibbarkeit und Lesbarkeit des Menschen lassen sich als zwei komplementäre Operationen im Projekt der Anthropologisierung beschreiben. Sie provozieren Deutungsweisen zwischen Hermeneutik und Experiment, in denen das Sagbare mit dem Sichtbaren auf je unterschiedliche Weise korreliert.41 Die Anthropologie des 18. Jahrhunderts hatte das Problem einer adäquaten Versprachlichung des Körperausdrucks, das durch die Auflösung der alten Affektnamen virulent wurde, ästhetisch in den Schauspieltheorien und poetisch in den literarischen Sprechweisen zu lösen versucht. Im Physiognomikdiskurs wurde darüber hinaus dieses Darstellungsproblem anthropologischen Wissens als eines seiner Visualisierung faßbar. An Lavaters wortreichen Interpretationen von Silhouetten, Zeichnungen oder Kupferstichen trat der Widerspruch zwischen (visueller) Darstellung und (sprachlicher) Beschreibung, wie Lichtenbergs vernichtende Persiflage zeigt, offen zu Tage. Ausdruckstheorien implizieren mit der Darstellungsfrage ein medientheoretisches Problem, das sich einerseits in der ungenügenden sprachlichen Beschreibung und andererseits in den offenkundigen Mängeln manueller Reproduktionstechniken äußert: Die Silhouette gibt das Konterfei als negatives Profil wieder, Zeichnung bzw. Kupferstich treffen den von Lavater gesuchten Ausdruck selten exakt. Die alternativen Wege, die sie jeweils einschlagen, um die Diskrepanz zwischen Wissen und Darstellung zu überbrücken, kreuzen auf signifikante Weise mediengeschichtliche Ereignisse wie die ›Erfindung‹ der Silhouette oder der Fotografie und Ende des 19. Jahrhunderts des Films. ›Ausdruck‹ als die Interpretation eines subjektiven Eindrucks ist ein hermeneutisches Problem und in der Frage, was die jeweiligen Visualisierungstechniken zu sehen geben, ein medientheoretisches. Daß die Silhouette statt mimischer Nuancen ein Negativbild der Umrißlinie des Gesichts zeigt, die Fotografie aber im Gegenteil genau diese flüchtigen Nuancen und der Film die mimischen Übergänge sichtbar machen, gibt der Geschichte der Ausdruckstheorie ihr notwendiges mediengeschichtliches Fundament. 40 Giséle Freund beginnt ihre fotografiegeschichtliche Studie Photographie und Gesellschaft mit der Mode des Silhouettenschneidens und seiner technischen Aufrüstung durch die Physionotrace (vgl. dies.: Photographie und Gesellschaft, Reinbek: Rowohlt 1979, S. 13-23). 41 Dieses Verhältnis läßt sich am besten entlang historischer Schnitte beobachten (vgl. R. Campe: Affekt und Ausdruck, S. XI).
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Dieses epistemologische Problem läßt Ausdruckstheoretiker des ausgehenden 18. Jahrhunderts davon träumen, Wissen jenseits der Sprache zu gewinnen. Sie setzen ihre Hoffnung auf visuelle Darstellungstechniken. So glaubt Johann Jakob Engel, daß erst, wenn »zeichnende Künstler mehr werden vorgearbeitet, und das in der Natur nur so Flüchtige, so Vorübergehende der Mienen und Bewegungen, so viel sich das thun läßt, für die Betrachtung mehr werden fixirt haben«, »dem Mangel der Sprache, wenn auch nur einigermaßen«, Abhilfe geschaffen werden könne.42 Während Engel auf geniale Männer wartet, die solches bewerkstelligen können, bemüht Johann Gottfried Herder für diese Transformation des Sagbaren ins Sichtbare eine »Zauberruthe«, die »alle bisher gegebnen unbestimmten Wortbeschreibungen in Gemählde zu verwandeln« hätte.43 Lessings Arbeitsteilung zwischen Malerei und Poesie droht angesichts dieser Nobilitierung des Bildes zusammenzubrechen. Die vermeintliche Defizienz der Sprache, die Engel wie Herder unterstellen, läßt sich nur vor dem Hintergrund der virulenten Frage, was Bilder gegenüber der Sprache zu sehen geben, verstehen. Fotografen werden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Bildarchive der flüchtigen Körperbewegungen erstellen. Die fotografischen Kompendien pathologisierter bzw. expressiver Gesichter eines Diamond oder Duchenne, eines Brown oder Bourneville verlassen sich ganz auf die Evidenz des Sichtbaren. Diesen epistemologischen Anspruch der Fotografie bekräftigt Duchenne de Boulogne, wenn er behauptet, daß fotografische Bilder den Ausdruck von Gefühlen so wiedergeben, wie ihn die Natur auf die Gesichtszüge gebracht habe, und daß sie tausendmal mehr lehren würden als ausführliche Beschreibungen.44 Menschenkenntnis erwirbt der Ausdrucksforscher endgültig nicht mehr im physiognomischen Ausdeuten eines Gegenübers, sondern im vergleichenden Sehen von Bilderserien. Lesbarmachung des Menschen meint von nun an das Erklären von Funktionszusammenhängen an Bildern. Hermeneutik scheidet aus der experimentellen Physiologie und empirischen Psychologie als wissenschaftliche Methode aus. Die Differenzierung der Erkenntnisweisen in Natur- und Geisteswissenschaften bringt auch eine Trennung ihrer Methoden mit sich. Hermeneutik bricht statt dessen auf, um »den Herrschaftsbereich der Geisteswissenschaften 42 Johann Jakob Engel: Ideen zu einer Mimik (1785), Berlin: Myliussche Buchhandlung 1844 (=J.J. Engel’s Schriften, Bd. 7), Erster Theil, S. 40. 43 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit. Zweiter Theil (1784), in: Herders sämtliche Werke, hg. von Bernhard Suphan, Berlin: Weidmann 1877-1913, Bd. 13, S. 250. 44 Vgl. G.-B. Duchenne de Boulogne: The Mechanism of Human Facial Expression (1862), hg. und übers. von R. Anthrew Cuthbertson, Cambridge u.a.: Cambridge Univ. Press 1990, S. 37.
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zu errichten« und dadurch »eine Art Kulturkritik der Wissenschaftsgeschichte« auszulösen.45 Mit der Erfindung der Fotografie tritt das Verhältnis von Sagbarem und Sichtbarem in eine neue Stufe: Die durchschlagende Wirkung der elektrophysiologischen Experimente Duchenne de Boulognes auf die Ausdrucksforschung des 19. Jahrhunderts ist ohne ihre fotografische »Beweisführung« nicht zu denken.46 Die fotografische Darstellung der Semiotik der Affekte markiert diesen epistemologischen Einschnitt auf der Ebene der Visualität: Wie kein anderes Reproduktionsverfahren vorher verspricht und unterstellt die Fotografie die Gleichheit von Affekt und Ausdruck in der naturgetreuen Ablichtung realer Körper, die sich auf dem fotografischen Träger selbst einschreiben. In Fortschreibung der Spiegelmetaphorik der Erkenntnis fungiert die Fotografie als gleichsam mortifizierender Spiegel der ›Natur‹.47 Das Gesicht besetzt in allen Lektüreanleitungen des Körperausdrucks eine herausgehobene Stellung. Einerseits verbürgt es die Individualität seines Trägers, andererseits konzentrieren sich hier die menschlichen Sinnesorgane. Besonderes und Allgemeines des Menschen kreuzen sich im gedeuteten Gesicht, das sich als Ausdrucksfläche, als facies, weit mehr exponiert als andere Körperteile: Facies bedeutet zugleich die eigenartige Miene eines Gesichts, die Besonderheit seines Ausdrucks — und auch die Gattung, vielmehr die Art, unter welcher dieser Ausdruck subsumiert werden muß. Die Facies wäre demnach ein Gesicht, das der synthetischen Verbindung zwischen dem Allgemeinen und dem Besonderen zugewiesen wird; das zugeordnete Gesicht unter der Herrschaft des Ausdrucks [...].48
Für die Fotografie ist das Gesicht wegen dieser Exponiertheit seines Ausdrucks ein bevorzugter Gegenstand. In den fotografischen Kompendien der psychiatrischen Fotografie verliert das Gesicht jedoch seine Exklusivität als Ausweis von Individualität. Der psychiatrischen Fotografie geht es vor allem darum, Symptomkomplexe psychischer Krankheiten 45 R. Campe: Affekt und Ausdruck, S. XIII. Die Frage des Übergangs von Rhetorik zu Hermeneutik, die das Diskursfeld von Affektenlehre, rhetorischer actio-Lehre und Physiognomik bestimmt hatte, wird im 19. Jh. in der Kontroverse zwischen Natur- und Geisteswissenschaften erneut virulent. 46 Die einzigartige Stellung der Hysterie im Tableau der Krankheiten ist, wie Georges Didi-Huberman in Erfindung der Hysterie herausgearbeitet hat, ohne das fotografische Labor in der Pariser Salpêtrière nicht vorstellbar. 47 Vgl. Gerhard Plumpe: Der tote Blick: zum Diskurs der Photographie in der Zeit des Realismus, München: Fink 1990. 48 G. Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie, S. 60.
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aufzustellen, Anzeichen zu erkennen, die z.B. einen epileptischen Anfall oder eine hysterische Attacke ankündigen.49 Die Besonderheit eines Gesichts liegt für die fotografierenden Ärzte nur darin begründet, inwieweit es die als typisch erkannten Symptome einer Krankheit zeigt.50 Individualität kann es in diesem epistemologischen Zusammenhang hingegen nur zeigen, wo es den Rahmen und die Normen des Typischen sprengt – d.h., in der Grimasse. Die Grimasse zerreißt das Band, das Repräsentation und Signifikation im Bereich des Sichtbaren miteinander verbunden hatte: Sie kann fotografisch wiedergegeben, aber nicht bezeichnet werden. Sie sprengt das klassische Ordnungsschema der Identitäten und Unterschiede. Damit löst die Grimasse zugleich die identitätspolitische Einheit des Gesichts auf, weil sie »eine Aporie der Sichtbarkeit von Symptomen«51 offenbart. Zugleich imitiert die Grimasse die Ausdrucksfähigkeit des Gesichts, übertreibt und entstellt sie jedoch: Aus der ›stummen‹ Sprache der Mienen wird Gestikulation, aus der ›natürlichen‹ Physiognomie eine Fratze, die den Charakter entstellt.52 Mit der Einheit des Zeichens (und damit der des Gesichts) verliert das Individuum auch seine Unteilbarkeit.53 Als gesteigerte Individualität54 entfernt sie das Individuum in dem Augenblick, in dem sich seine Gesichtszüge verzerren, von sich – und d.h. hier in er49 Das gilt für alle Darstellungen der sogenannten »Krankenphysiognomik«, die »ein Krankheitsbild zeigen; einen Begriff, keine Person« (vgl. C. Schmölders: Vorurteil im Leibe, S. 120f). 50 Das trifft natürlich auch auf andere Bereiche der Medizin zu, die von der Fotografie Gebrauch machen; vgl.: Gunnar Schmidt: Anamorphotische Körper. Medizinische Bilder vom Menschen im 19. Jahrhundert, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 2001. 51 Georges Didi-Huberman: »Ästhetik und Experiment bei Charcot. Die Kunst, Tatsachen ins Werk zu setzen«, in: Jean Clair/Cathrin Pichler/ Wolfgang Pircher: Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele, Wien: Katalog der Wiener Festwochen 1989, 281-296, hier S. 288. 52 Vgl. Jacob und Wilhelm Grimm: Deutsches Wörterbuch, IV. Band, 1. Abt., 6. Teil, Leipzig 1935, Sp. 336-339. 53 Vgl. A. Käuser: »Körperzeichentheorien«, S. 48. Hans Pollnow verbindet diese Diagnose explizit mit der naturwissenschaftlichen Wende: »Die im 19. Jahrhundert zunehmende Orientierung des wissenschaftlichen Denkens an der Logik der Naturwissenschaft erlaubte nicht mehr, Kategorien der Ganzheit festzuhalten; vielmehr ging nun die Analyse alles Gegenständlichen, somit auch die des Ausdrucks, auf elementare Bestandteile und mechanische Abläufe.« (vgl. ders.: »Historisch-kritische Beiträge zur Physiognomik«, in: Jahrbuch der Charakterologie, 5. Jg. [1928], S. 157206, hier S. 182). 54 Vgl. Niklas Luhmann: »Individuum, Individualität und Individualismus«, in: ders.: Gesellschaftsstruktur und Semantik: Studien zur Wissenssoziologie der modernen Gesellschaft, Bd. 3, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 149-258. Zu einer Kritik Luhmanns vgl. Stefan Rieger: Die Individualität der Medien. Eine Geschichte der Wissenschaften vom Menschen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001 (z.B. S. 12).
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ster Linie: von seinem (gewohntem) Bild. Durch die Grimasse erfährt es eine Exklusion (von anderen Individuen), erfährt sich als fremd, »spontan, inkonstant, black box«,55 bevor es etwa als Patient mit einer »mimischen Störung«56 wieder inkludiert werden kann. In der Kunst des Grimassierens ist aber von alters her insbesondere der Schauspieler bewandert. Wegen der Beweglichkeit und Disponibilität seiner Gesichtszüge ist er bevorzugtes Objekt der Ausdrucksforschung. Vor Duchennes Fotokamera steht neben einem älteren Mann, dessen Gesichtsmuskeln unempfindlich gegen die elektrische Reizung waren, immer wieder ein junger, der wie nur wenige Schauspieler in der Lage gewesen sei, bestimmte Muskeln selbständig zu aktivieren.57 Auf ihn trifft im Besonderen zu, was Duchenne »gymnastics of the passions«58 nennt. Nicht von ungefähr haben besonders Mediziner und Dramatiker Ausdruckstheorien entwickelt. Diese aufschlußreiche Konstellation verdient es, genauer untersucht zu werden.
1 . 2 A u s d r u c k s t heo r ie z wis c hen S c ha us p iel k u ns t und Med i z in Mit dem Wissen um den Menschen und den Strategien seiner Kenntlichmachung wandelt sich auch die Schauspielkunst. Diese epistemologische Zäsur begründet zugleich die Sonderstellung des Schauspielers in modernen Ausdruckstheorien: Während die älteren Lehrgebäude der Rhetorik und der politischen Verstellungskunst unter der Kritik der Aufklärung zunehmend verfallen, beginnt für die Schauspielkunst erst jetzt die entscheidende Phase ihrer theoretischen Grundlegung und Emanzipation. Es entsteht dabei die paradoxe Situation, daß die auf der Weltbühne öffentlich geschmähte Künstlichkeit auf dem Theater eingesetzt wird, um dort für das allgemein geforderte Ideal der Aufrichtigkeit und Natürlichkeit mit artifiziellen Mitteln zu werben.59
55 Ebd., S. 158. 56 Ernst Kris: »Das Lachen als mimischer Vorgang. Beiträge zur Psychoanalyse der Mimik«, in: Internationale Zeitschrift für Psychoanalyse und Imago, 24. Bd. (1939), Reprint 1969, S. 146-168, hier S. 164. 57 Vgl. G.-B. Duchenne: Mechanism, S. 43f. 58 Ebd., S. 36. 59 A. Košenina: Anthropologie und Schauspielkunst, S. 17.
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Auf dem Wege einer artifiziellen Erzeugung von Affekten glauben die Schauspieltheorien von Lessing bis Engel, der Wahrheit des Körpers näher zu kommen. Sie erheben den »Schauspieler zur Reflexionsfigur«60 und bieten eine ästhetische Lösung für die anthropologische Frage nach der ›Natur‹ des Menschen. Dabei waren es vor allem die rhetorischen actio-Lehren eines Aristoteles, Cicero oder Quintilian, in denen das Wissen um die eloquentia corporis bis ins 18. Jahrhundert hinein bewahrt blieb. Das änderte sich erst, als das rhetorische Wissen in andere Wissensgebiete eingegliedert und rekonfiguriert wurde.61 Fühlten sich für eine Theorie und Analyse der Affekte und ihrer mimischen und gestischen Effekte seit dem Ende des 17. Jahrhunderts vor allem Klugheitslehren und moralphilosophische wie medizinische Abhandlungen zuständig und wurde das affektgeleitete Verhalten zunehmend ein Gegenstand der Selbst- und Fremdbeobachtung in der Sphäre der öffentlichen Kommunikation, so traten im 18. Jahrhundert Anthropologie als neue Disziplin und Psychologie als neue Wissensordnung auf den Plan. Parallel zum wieder in Mode gekommenen Zeichensystem der Physiognomik ordneten sie das Wissen um die Ausdrucksweisen des Menschen, von kurzlebigen Affekten wie von dauerhaften Leidenschaften, neu. Im Zuge dieser Neuordnung wurden die rhetorischen und medizinischen Körperzeichentheorien reformuliert und in Körperausdruckstheorien überführt.62 Aus den Registern der Rhetorik, wo expressio die Darstellung objektiver Sachverhalte bezeichnete, wandert der Begriff im 18. Jahrhundert in die Ästhetik und meint dort die subjektive Äußerung innerer Zustände, die einem Prozeß der objektivierenden Darstellung unterliegen. Durch diese Verschiebung wird ›Ausdruck‹ »ein Zentralbegriff der philosophischen Ästhetik«63. Aus dieser Begriffsverschiebung resul-
60 Ursula Geitner: Die Sprache der Verstellung. Studien zum rhetorischen und anthropologischen Wissen im 17. und 18. Jahrhundert, Tübingen: Niemeyer 1992, S. 284. 61 Vgl. die Darstellung des historischen Wandels von rhetorischer Affektenlehre, Physiognomik und rhetorischer actio-Lehre im Zuge der Anthropologisierung des Menschen in R. Campe: Affekt und Ausdruck, S. 279-471. 62 In der medizinischen Semiotik zeichnet sich Ende des 18. Jhs. eine Trennung von Semiotik und Diagnostik ab, die zu einer »systematischen Ausforschung registrierbarer Körperäußerungen« und einer Subjektivierung des kranken Körpers führt. Die Vielfalt der äußeren Anzeichen bietet sich dem ärztlichen Blick nun als Gesamtbild der Krankheit dar. Zu Beginn des 19. Jhs. werden zudem erstmals Symptome psychischer Erkrankungen bestimmt; vgl. Wolfgang U. Eckart: »Zeichenkonzeptionen in der Medizin vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart«, in: Roland Posner/Klaus Robering/Thomas A. Sebeok (Hg): Semiotik. Ein Handbuch zu den zeichentheoretischen Grundlagen von Natur und Kultur, Bd. 2, Berlin/New York: Walter de Gruyter 1998, S. 1694-1712, hier S. 1702, Sp. 2. 63 H.U. Gumbrecht: »Ausdruck«, S. 417, Sp. 2.
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tiert wiederum das Interesse von Anthropologie und Psychologie an der Affekt-Ausdrucksbeziehung.64 Deshalb läßt auch der Psychologe und Sprachtheoretiker Karl Bühler die Ausdruckstheorie in seiner gleichnamigen, 1933 erschienen Abhandlung im Theater beginnen und stellt ihr mit der Medizin einen heimlichen Verbündeten zur Seite. Schauspieltheorie und medizinische Semiotik stellen für ihn die beiden Säulenheiligen der wissenschaftlichen Ausdruckstheorie dar, die jedoch nichts voneinander wissen. Auf diesem Befund gründet Bühler die historisch-systematische Darstellung seines Gegenstandes: »Das Stück Geschichte, was wir ausführlich erzählen, beginnt im Theater, beginnt mit sorgfältigen Beobachtungen und einer kritischen Analyse der ›körperlichen Beredsamkeit‹ des Schauspielers.«65 Zunächst erhebt Bühler den Schauspieler zum anthropologischen Paradigma, zur Meßlatte für menschliches Ausdrucksverhalten. Sein Rollenspiel erklärt Bühler zum Testfall der Ausdrucksforschung. Er ist überzeugt, auch Wissenschaftler könnten »aus gemachten, illusorischen Gebärden«, mit denen der Schauspieler sein Rollenspiel gestaltet, etwas lernen – es gelte nur, »die richtigen Fragen an das sichtbare Geschehen auf der Bühne zu stellen und das wissenschaftlich Relevante von dem Irrelevanten zu scheiden«.66 Bühlers Konnex zwischen Wissenschaft und Ästhetik, Psychologie und Dramatik markiert einen wichtigen Argumentationszusammenhang dieser Arbeit. Sie gründet auf der Annahme, daß das Wissen über das, was in verschiedenen Epochen als ›Ausdruck‹ bezeichnet wurde, nur durch sein Zirkulieren zwischen verschiedenen Diskursen beschrieben werden kann. Die Nähe der Medizin zur Schauspielkunst glaubt Bühler durch ein kulturgeschichtliches Argument begründen zu müssen: »Der Schauspieler und der Medizinmann kooperieren in primitiven Kulturen oft berufsmäßig und stecken mitunter in derselben Haut.«67 In der Personalunion von Schauspieler und Medizinmann verrät sich für ihn eine verwandte – im Fall »primitiv« genannter Kulturen: magische – Zeichenpraxis: Während jener die Zeichen der Affekte und Leidenschaften einübt und für andere sichtbar darstellt, vermerkt sie dieser, um sie als Anzeichen einer Erkrankung zu deuten. Beide verbindet das Wissen um die körperlichen Zeichen der Affekte und Leidenschaften, das Erkenntnisinteresse am spezifisch menschlichen Ausdruck innerer Zustände. 64 Vgl. Alexander Košenina: »Gebärde«, in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 3, Tübingen: Niemeyer 1996, Sp. 564-579, bes. Sp. 573. 65 Karl Bühler: Ausdruckstheorie. Das System an der Geschichte aufgezeigt, Jena: Gustav Fischer 1933, S. 4. 66 Ebd. 67 Ebd., S. 5.
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Von den magischen Zeichenpraktiken in ›primitiven‹ Kulturen macht Bühler einen gewagten Sprung zum Erkenntnisstand des ausgehenden 18. Jahrhunderts, um sein Argument auszuführen: »Um 1800 war es neben dem Theaterkenner ENGEL ein Medizinmann, welcher der Ausdrucksforschung einen weithin wirksamen Impuls verlieh; aber die beiden hatten persönlich und sachlich nichts miteinander zu tun. Und so ist es geblieben im ganzen 19. Jahrhundert.«68 Bei dem so eingeführten Wissenschaftler handelt es sich um den englischen Anatomen und Gehirnforscher Charles Bell, der 1806 The Anatomy and Philosophy of Philosophy of Expression as Connected with the Fine Arts veröffentlichte. Daß Bell den Dramatiker und Theaterdirektor Johann Jakob Engel und seine 1785 erschienenen Ideen zu einer Mimik nicht kannte, kann leicht zugegeben werden, daß aber ihre Schriften auch sachlich nichts gemein haben kaum. Den beiden Ausdrucksforschern lag jenseits ihrer Fachgebiete an einer systematischen Beschreibung von Ausdrucksprozessen und ihrer mimischen Effekte, von denen bei Engel Schauspieler und im Falle Bells bildende Künstler profitieren sollten. Im Zentrum des Interesses zweier so ungleicher Wissenschaftlertypen stand also die gemeinsame Frage nach den äußeren körperlichen Merkmalen innerer Seelenvorgänge – die seit der Aufklärung zentrale Frage um die Standortbestimmung des Menschen, in der sich so verschiedene Diskurse wie die Medizin und die Schauspieltheorie kreuzen. Im Schlagwort »Menschenkenntnis« haben sie ihren gemeinsamen diskursiven Horizont. Diesen Anspruch formuliert etwa Engel 1785 in seinen in Briefform verfaßten Ideen zu einer Mimik: Doch immerhin mag die Geberdenkunst dem Schauspieler selbst und allen zeichnenden Künstlern entbehrlich sein [...]: so wäre doch immer die Theorie einer solchen Kunst eine Art von Kenntniß, und von Kenntniß des Menschen, die als solche ihren innern absoluten Werth hätte; einen Werth, der sie, auch ohne jenen relativen, jedem denkenden Manne schätzbar machen müßte.69
Engel bewertet den Nutzen seines Theorieentwurfs, der ja in erster Linie Anleitungen zur körperlichen Darstellung von Affektbewegungen für den Schauspieler geben will, nach der Möglichkeit, Wissen über den Menschen überhaupt zu generieren, und spielt damit der zeitgleich hervortretenden Anthropologie in die Hände. Wiederum befindet sich der Schauspieler in der Position des exemplarischen Ausdruckssubjekts, vertritt den Menschen schlechthin. Auch für Bell vereinigen sich Arzt, Schauspieler, Maler und Bildhauer in der Beobachtung der »Natur« des ›Men68 Ebd. 69 J.J. Engel: Ideen zu einer Mimik, Erster Theil, S. 14.
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schen‹: »Wenn der Arzt am Krankenbette (Leidens-)Symptome studiert, wenn der Schauspieler auf den Brettern das Leiden mimt, der Maler es malt und der Bildhauer es in Marmor verkörpert, sind sie wohl alle Beobachter der Natur, aber jeder sieht sie auf seine Weise und erlebt sie beeinflußt von der Endabsicht seiner Beobachtung.«70 Wie nah Engel in seiner Darstellung der einzelnen Affekte und ihrer bühnentauglichen Darstellung der Medizin kommt, läßt sich etwa daran ermessen, daß sich seine Abhandlung, wo sie pathologische Grenzphänomene wie Schwermut und seelisches Leiden behandelt, »beinah schon wie medizinische Symptomatologie«71 liest: Engels Ideen führen das spezifisch theaterästhetische Wissen um die körperliche Beredsamkeit des Schauspielers mit dem zeitgenössischen medizinischen Wissen der körperlichen Symptome von Leiden und Leidenschaften zusammen. Umgekehrt offeriert Bell sein medizinisches Wissen um den Aufbau und das Zusammenwirken der Gesichtsmuskeln den bildenden Künsten. Ihr gemeinsames Betätigungsfeld ist der bewegte menschliche Körper als Gegenstand einer Ausdrucksanatomie wie einer Ausdrucksästhetik. Auch die bildenden Künste haben sich nicht erst seit den Tagen Descartes’ und Le Bruns an der Analyse der Empfindungen und ihrer Darstellung beteiligt. Karl Bühler, der selbst eine medizinische Ausbildung absolviert hat, bemerkt ausdrücklich die Vorliebe von Medizinern für Malerei und Plastik.72 Umgekehrt glichen auch die Zeichenakademien des 18. Jahrhunderts »beinahe schon Anatomiesälen«.73 Auch Charles Bell behandelt in seinen Essays Muskel- und Herzensbewegungen. Im medizinischen Diskurs überlagern sich medizinische Symptomatologie und visuellsprachliche Darstellungskunst, wenn er sich »als künstlerisch-metaphorischer und symptomatischer zugleich«74 legitimiert. Mit dieser Legitimationsstrategie wird jedoch die wissenschaftliche Wahrheitsfindung als Problem virulent. Insbesondere die Analogiebildung bei der Erklärung verwandter oder komplexer Empfindungen und die dort einsetzende Mechanisierung von Ursache und Wirkung erscheinen problematisch.75 In Engels Mimik sind vor allem die malenden Gebärden der Nachahmung und Analogie verpflichtet; von den eigentlichen 70 Charles Bell: The Anatomy and Philosophy of Philosophy of Expression as connected with the fine arts (1806), zit. in: K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 54. 71 Elisabeth Madlener: »Ein kabbalistischer Schauplatz. Die physiognomische Seelenerkundung«, in: Clair/Pichler/Pircher (Hg.): Wunderblock, S. 159179, hier S.170. 72 K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 5. 73 E. Madlener: »Ein kabbalistischer Schauplatz«, S. 170. 74 Ebd. 75 Zur Kritik des Analogie-Prinzips vgl. K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 152, der es auf die aristotelische Metaphysik zurückführt.
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Ausdrucksgebärden wie von den unwillkürlichen werden sie deshalb unterschieden.76 Engel weicht dadurch Schwierigkeiten in der begrifflichen und sachlichen Bestimmung einzelner Empfindungen und ihrer Beschreibung aus und versucht gleichzeitig, die Klassifizierungsprobleme einer metaphysischen bzw. physiologischen Betrachtungsweise der Mimik zu umgehen.77 Das repräsentationslogische Analogieverfahren dominiert auch den medizinischen Diskurs bei der visuellen Darstellung von Symptomen und den ihnen zugeordneten Ursachen.78 Engel bemerkt gleichfalls »das viele Figürliche, besonders Metaphorische, das sich in der Gebehrden-, wie in der Wörtersprache findet [...]. Die Nachahmung geschieht durch feine, transcendentelle Aehnlichkeiten, wodurch man auch in der Wörtersprache für nicht hörbare, völlig unsinnliche Gegenstände ihre Benennungen fand«.79 Das Wissen der alten Affektenlehre mit ihren Klassifikationstafeln der Affekte ist in Vergessenheit geraten. Deren sprachlichen Zuordnungsregeln für die Affekt-Ausdruck-Beziehung greifen nicht mehr – das Tableau der Affekte ist zerbrochen.80 Mit der Hervorhebung einzelner mimischer und gestischer Symptome und der körperlichen Bewegungen, die sie sichtbar begleiten, sind die alten Affektnamen selbst in Bewegung geraten. An deren Stelle tritt bei Engel eine Symbolik des Ausdrucksverhaltens, die analog zur sprachlichen Bezeichnung abstrakter Ideen gebildet wird. Diese historische Konstellation besitzt in Bühlers Ausdruckstheorie einen systematischen Stellenwert. Sie soll vor Augen führen, daß und inwieweit das Wissen um die körperliche Beredsamkeit den Ausdrucksforscher in seiner wissenschaftlichen Praxis anzuleiten vermag. An diesem Punkt führt die wissensgeschichtliche Darstellung zu einer wissenstheoretischen Prämisse: Aus der Geschichte der Ausdruckstheorie gewinnt Bühler die Erkenntnis, daß Art und Beschaffenheit eines wissen76 »Andere Gebehrden sind nachahmend; nicht das Object des Denkens, aber die Fassung, die Wirkungen, die Veränderungen der Seele malend, und diese mögen den Namen der analogen führen« (J.J. Engel: Mimik, Erster Theil, S. 57, Hervorhebung im Original gesperrt; s.a. S. 28; 35; 46). 77 Vgl. Engels Selbsteinschätzung: »Allein ich bin hier eben so wenig Metaphysiker, als ich Physiolog war; und so genügt es mir, die Dinge zu nehmen, wie sie scheinen, ohne daß ich grübelte wie sie sind« (ebd., S. 62). 78 Vgl. E. Madlener: »Ein kabbalistischer Schauplatz«, S. 173. 79 J.J. Engel: Mimik, Erster Theil, S. 51f. 80 Andreas Käuser sieht darin »eine wissenschaftstheoretische Problematik verborgen«. Die alten Affektnamen würden durch »die visuelle Perzeption des physiognomischen Ausdrucks« ausgehebelt; vgl. ders.: »Die anthropologische Theorie des Körperausdrucks im 18. Jahrhundert. Zum wissenschaftshistorischen Status der Physiognomik«, in: Rudolf Behrens/Roland Galle (Hg.): Leibzeichen. Körperbilder, Rhetorik und Anthropologie im 18. Jahrhundert, Würzburg: Rombach 1993, S. 41-60, hier S. 48.
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schaftlich zu behandelnden Gegenstandes der Ausdruckstheorie von den historisch differenten Formen ihrer Darstellung abhängen: Der wissenschaftliche Gegenstand der Ausdruckstheorie läßt sich demnach nur im Zusammenspiel mit den jeweiligen medialen Erscheinungsformen generieren, die als Ausdruck signifizierte Körperbewegungen beobachtbar machen. In genau diesem Sinne gehören Engels Ideen zu einer Mimik, die auf die Körperbewegungen abzielen, und Bells Essays on the Anatomy of Expression in Painting zusammen. In den Begriffen ›Mimik‹81 und ›Ausdrucksbewegung‹ wird im folgenden ein diskursiver Knotenpunkt und sein historischer Ort innerhalb der Geschichte der Ausdruckstheorie erfaßt, der an der Schwelle zum 19. Jahrhundert entsteht. Karl Bühler hat bereits diese enge Verbindung zwischen Medizin und Schauspieltheorie erkannt, auch wenn er die systematische Verbindung zwischen den Techniken der körperlichen Beredsamkeit des Schauspielers und der Symptomlektüre des Arztes unterschätzt hat. ›Mimik‹ als begriffliches Äquivalent zu einer Semiotik der Affekte und die psychologische Theorie der ›Ausdrucksbewegung‹ begründen einen Diskurszusammenhang, der die Disziplinierung der Psychologie zur Ausdruckspsychologie ermöglicht. In diesen Wissenshorizont schreibt Bühler sein eigenes Projekt eines historischen Abrisses der Ausdruckstheorie ein und kann daher die Bühne der Affekte und Leidenschaften als Ort beschreiben, wo menschliches Verhalten und Gebaren exemplarisch studiert werden kann. Was aber ist in Bühlers Sinne das »wissenschaftlich Relevante« am Schauspiel? Dazu gehören nicht etwa ästhetische Fragen des Rollenstudiums, der Identifikation mit bzw. der Distanz zur theatralen Figur oder zeichentheoretische bzw. moralphilosophische Prämissen bezüglich der Wahrhaftigkeit des Schau-Spiels, die das ausgehende 18. Jahrhundert beschäftigten. Als Psychologen des 20. Jahrhunderts interessiert Bühler der Schauspieler nur, insofern dieser Mienen und Gesten als Effekte von motivierten Körperbewegungen explizit macht. Nur im Ausstellen dieser eloquentia corporis unterscheidet er sich für Bühler von seinen Mitmenschen. In dieser Hinsicht ist und bleibt der Schauspieler wie bereits im 18. Jahrhundert der ideale Beobachtungsgegenstand anthropologischer Forschung. Physiologie und Psychologie der Körperbewegungen fallen für Bühler in der Person des Schauspielers zusammen. Die Theaterbühne ist für die ausdruckspsychologische Forschung wegen der Exponiertheit und 81 Der Begriff ›Mimik‹ bezieht sich bei Engel stets auf den ganzen Körper, meint also Pantomimik: »Der Sitz des Gebehrdenspiels ist nicht dieses und jenes Glied, dieser oder jener Theil des Körpers insonderheit.« Dennoch behält auch bei Engel das Gesicht seine alte Sonderstellung: »Vorzüglich dient das Gesicht zu den Gebehrden, und hier heißen die Gebehrden Mienen« (J.J. Engel: Mimik, Erster Teil, S. 36).
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Intensität körpersprachlicher Aktionen, durch die vorgestellte Bewegungen im Innern einer menschlichen Person ausgedrückt, d.h. in Sprache und sichtbare Körperbewegungen übertragen werden, ein geeignetes Beobachtungsfeld. Auf dieser Bühne kreuzen sich das Sichtbare und das Sagbare als gleichberechtigte Elemente einer Epistemologie, auf ihr lassen sich Visualität und Rhetorizität von Mienen und Gesten aufeinander beziehen und in ihren historisch variablen Konstellationen beschreiben. Bühlers Bevorzugung des Theaters und des Schauspielers darf deshalb nicht mit der metaphorischen Rede vom Welttheater verwechselt werden, auf dem jeder (s)eine Rolle spielt. Bühler sucht nicht die Welterklärungsformel des Barock zu erneuern, nicht das stete Maskenspiel aller erneut zu inszenieren, sondern für ihn ist der Schauspieler in einem ganz konkreten Sinne exemplarisch für die moderne Subjektivität.82 Deshalb bleibt das seit dem 18. Jahrhundert in Angriff genommene Projekt einer Anthropologisierung des Menschen, mit ihren Kreuzungspunkten in Schauspieltheorie und Medizin, der historische Fluchtpunkt seiner wissensgeschichtlichen Darstellung. Was den Schauspieler für die psychologische Beobachtung so ungemein attraktiv macht, ist neben der Exponiertheit und Intensität der gezeigten körperlichen Regungen das nonverbale kommunikative Verhalten, in dem Mimik und Gestik handlungsorientiert eingesetzt werden. Der Schauspieler als potenziertes Subjekt wird bei Bühler einmal mehr zum ausdruckspsychologischen Objekt schlechthin. Der experimentell operierende Psychologe ist an der schauspielerischen Leistung interessiert, an den Steigerungsmöglichkeiten des subjektiven Ausdrucks, den es in wissenschaftliche Objektivität zu überführen gilt, und gibt damit der anthropologischen Frage nach dem Menschen eine neue Richtung. An der Erforschung der Ausdrucksfähigkeit des Menschen haben sich neben der Rhetorik, der Medizin, der Ästhetik, der Ethik und Jurisprudenz auch Diskurse wie die Mantik oder die Physiognomik beteiligt, die nie wissenschaftliche Weihen erlangt haben. Deshalb stellt Karl Bühler einen historischen Überblick an den Anfang seiner wissensgeschichtlichen Darstellung, die nicht nur vom Umfang her seine Schrift dominiert: Die Erzählung über Beginn und Ort der Ausdrucksforschung behauptet einen systematischen Ort innerhalb der behandelten Wissensformation; sie geht deshalb der in Aussicht gestellten ausdruckstheoretischen Axiomatik voran. Dabei rückt Bühler die Theorieentwürfe seit der antiken Physiognomik in den engeren Fokus seines eigenen Erkenntnis-
82 Besonders die Soziologie wird im 20. Jh. in der Frage nach der Differenz von sozialer Person und Individualität diesen Diskurs beerben; vgl. Ralf Konersmann: Der Schleier des Timanthes. Perspektiven der historischen Semantik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1994.
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interesses. Er stellt an seinen Vorgängern vor allem Ansatzpunkte für eine Theorie kontext- und rollenabhängigen, affektgeleiteten Handelns heraus, die die Grundlage einer »wohlfundierten Synsemantik«83 des Ausdrucks zu liefern hätten. Deshalb lobt er Johann Jakob Engel, dessen Ideen zu einer Mimik in Bühlers wissensgeschichtlicher Darstellung einen Meilenstein der Ausdruckstheorie markieren, als »Aktionstheoretiker«84 des Ausdrucks und hebt seine Beobachtungen am konkreten Rollenspiel des Schauspielers hervor. Bühlers eigenes Erkenntnisinteresse zeigt sich in dieser Fokussierung auf die Kontextabhängigkeit jeglichen körpersprachlichen Handelns. Seine Systematik nimmt innerhalb der Rekonstruktion der Wissensformation des ›Ausdrucks‹ eine prominente Position ein, weil sie die Historizität dieses Wissens heraushebt. Bühlers historischer Abriß ausdruckstheoretischer Konzepte ist daher mehr als ein Versuch, historische Quellen zu sondieren und Entwicklungslinien aufzuweisen; er dient auch und vorrangig der Verortung der eigenen psychologischen Forschung.85
1 . 3 A u s d r u c k s t heo r ie z wis c hen A n t hr o p o l o g ie un d M ed i ent h eo r i e Mit dieser diskursgeschichtlichen Verortung ist die Sonderstellung ausdruckstheoretischer Überlegungen innerhalb der modernen Humanwissenschaften keineswegs vollständig beschrieben. Wenn mit Schauspieltheorie und Medizin auch zwei prägnante Diskurse benannt wurden, zwischen denen das Wissen um die Sichtbarkeit und Lesbarkeit der transitorischen Zeichen am Menschen zirkuliert, so wird dieses Wissen doch zunehmend durch technische Medien wie die Fotografie und den Film generiert. Karl Bühler beschreibt diesen Diskurszusammenhang indirekt, wenn er eine Verbindung herstellt zwischen antiker Schauspielpraxis und Physiognomik einerseits und zwischen der Körpersprache des Filmschauspielers und der ausdruckspsychologischen Forschung seiner Zeit andererseits: Wenn einer heute ins Kino geht und auf der Leinwand ein paar Dutzend flüchtiger Wendungen des Gangs oder Kopfes und der Hand, der Augen und um den Mund herum ständig wiederkehrend und von den Besten aufs subtilste herausgearbeitet findet und er studiert daneben eine moderne Abhandlung wie
83 K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 214. 84 Ebd., S. 50. 85 Die prekäre Lage der modernen Psychologie bezüglich ihrer Methoden hatte Bühler bereits 1927 in der Schrift Krise der Psychologie analysiert.
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die von LERSCH ›Gesicht und Seele‹, so gehört das zusammen und trifft sich, die Praxis dort und das wissenschaftliche Interesse hier. Es trifft sich ebenso wie die starren Masken vor dem Gesicht der antiken Schauspieler mit dem wissenschaftlichen Gegenstande, der in der pseudoaristotelischen Physiognomik abgehandelt wird.86
Starrheit der Masken und Physiognomik der starren Zeichen korrelieren für Bühler auf gleiche Weise wie filmische Erfassung flüchtiger mimischer und gestischer Bewegungen und moderne Ausdruckspsychologie. In beiden Fällen handelt es sich um spezifisch mediale Formationen der Sichtbarkeit von Affektbildern: Was die antike Theatermaske der Physiognomik zu sehen gab, ist grundverschieden von dem, was die Ausdruckspsychologie des 20. Jahrhunderts in den Mienen und Gesten des Filmschauspielers entdeckt: »flüchtige Wendungen« einzelner Körperteile und Gesichtspartien hier bzw. starre Gesichter und Körperstellungen dort.87 Die prominente Unterscheidung von Physiognomik und Pathognomik, die diese Einteilung der Affektzeichen prozessiert, kann deshalb auch als mediale verstanden werden.88 In der Erfassung der flüchtigen mimischen Zeichen wird eine medientheoretische Problemstellung erkennbar, bei deren Lösung sprachliche und visuelle Darstellungsweisen miteinander konkurrieren. Deren Verhältnis ändert sich für Rüdiger Campe erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts: »Die Beziehung des Literarischen auf die Erforschung des Verhältnisses von Affekt und Ausdruck, die Sprache der Leidenschaft als Konstrukt, das ohne Sprache und Text nicht aufgestellt werden kann: dafür gibt es medienhistorisch eine Grenze.«89 Diese Grenze wird von der Erfindung der Fotografie und dem Aufkommen der experimentellen Physiologie und empirischen Psychologie markiert. Mit diesem epistemologischen Einschnitt büßt mit der literarischen Rede auch die Sprache ihre Priorität bei der Darstellung von Affekten ein. Das heißt aber nicht, daß 86 K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 15. 87 Dieses Distinktionsmerkmal stellt bereits Hegel heraus. Bei den Griechen habe es kein Mienenspiel gegeben, »da ihre Schauspieler Masken trugen« (Georg Wilhelm Friedrich Hegel: Vorlesungen über die Ästhetik. Dritter Teil: Die Poesie, hg. von Rüdiger Bubner, Stuttgart: Reclam 1977, S. 299). 88 Erst eine medienhistorisch informierte Anthropologie wird die Effekte dieser Weichenstellung bemerken: »Wenn es richtig ist, daß das Schauspiel ursprünglich zum kultischen Handeln gehört, das Drama sich aus der heiligen Handlung entwickelt hat, so wird seine Emanzipation und endgültige Verweltlichung, die auf der modernen Schaubühne und im Film erreicht ist, an dem Schauspieler, als dem Träger der Handlung, nicht spurlos vorübergegangen sein« (Helmuth Plessner: »Zur Anthropologie des Schauspielers«, in: ders.: Mit anderen Augen. Aspekte einer philosophischen Anthropologie, Stuttgart: Reclam 1982, S. 146-163, hier S. 147). 89 R. Campe: Affekt und Ausdruck, S. XVIf.
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die Rede über ›den Menschen‹ verstummt – im Gegenteil: »Im Experiment benötigt man nicht mehr einen Rückgang auf Sprache, weil die Natur – und zum ersten Mal: die Natur ›des Menschen‹ – zum Sprechen gebracht wird.«90 Nicht mehr die Sprache spricht die ›Sprache der Leidenschaften‹, sondern die ›Natur‹ selbst, indem sie sich entweder im Experiment oder auf der lichtempfindlichen Platte – zumindest im Verständnis von Naturwissenschaftlern und Fotografen – selbst kundtut bzw. einschreibt. Nichts anderes besagt der Name Fotografie. Diese entscheidende Zäsur im Verhältnis von Wissen und Darstellung produziert zugleich neue Wissensformen wie den fotografischen Atlas (Duchenne de Boulogne) bzw. die fotografische Serie (Eadweard Muybridge) oder das fotografische Kompositbild (Jules Étienne Marey, Francis Galton). Sie entstehen in einem diskursiven Feld, in dem sich wissenschaftliche Fragestellungen und ästhetische Sehgewohnheiten überlagern. Mit der naturgetreuen Darstellung von Affekten wird die Ausdrucksleistung eines Individuums einem technischen Medium überantwortet, das im positivistischen Verständnis der Zeit – im Unterschied zum Menschen – nicht lügen kann. Um die Mitte des 19. Jahrhunderts bilden zugleich Physiologen wie Guillaume-Benjamin-Armand Duchenne de Boulogne oder Étienne-Jules Marey und dessen Schüler Georges Demenÿ Experimentalsysteme91 aus, um die flüchtigen Bewegungen des Gesichts im Affekt bzw. die Bewegungsweisen des menschlichen Organismus zu untersuchen und fotografisch bzw. chrono(foto)grafisch zu visualisieren. Auf diese Weise werden für Stefan Rieger »Mensch und Medium [...] in ein Figurationsverhältnis eingespannt, das die Rede über den Menschen als Spiegelseite einer Rede über die Medien und umgekehrt die Rede über die Medien als Rede über den Menschen aufscheinen läßt.«92 Damit wird aber zugleich die Grenze zwischen Menschen und Medien dort durchlässig, wo diese Spiegelungen sichtbar werden: an seinen medial erzeugten Bildern. Doch noch einmal zurück zu Karl Bühler und seiner Grundlegung einer Ausdruckstheorie: 1933 resümiert der renommierte Wiener Psychologe, der nur wenige Jahre später seine Professur verlieren wird,93 den status quo der ausdruckspsychologischen Forschung: 90 Ebd., S. XVI 91 Vgl. Hans-Jörg Rheinberger/Michael Hagner: »Experimentalsysteme«, in: dies. (Hg.): Die Experimentalisierung des Lebens. Experimentalsysteme in den biologischen Wissenschaften 1850/1950, Berlin: Akademie-Verlag 1993, S. 7-27. 92 S. Rieger: Die Individualität der Medien, S. 13f. 93 Bühler wurde 1938 direkt nach Hitlers Einmarsch in Österreich in Schutzhaft genommen und im selben Jahr in den Ruhestand versetzt. Über Norwegen gelangte er mit seiner Familie in die USA; vgl. Gustav Lebzeltern:
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Der Mensch von heute sieht sich umgeben von technischen Einrichtungen, die ihn wie der stumme Film vor die Aufgabe stellen, sichtbaren Ausdruck isoliert vom hörbaren oder wie das Radio und Telephon vor die andere Aufgabe, hörbaren Ausdruck isoliert vom sichtbaren aufzunehmen. Daraus entspringen der Forschung Impulse, die an sich nicht unerhört neu sind. Denn man kannte und pflegte z. B. das stumme Spiel da und dort in der abendländischen Theatergeschichte schon vor dem Film. [...] Allein es entspringen aus der modernen Technik auch Untersuchungsmöglichkeiten des Ausdrucks, die man früher, die man selbst in der Zeit von DARWIN und WUNDT noch nicht hatte. [...] Die technisch neuen Aufnahmeapparate (Film, Grammophon, Tonfilm) haben die neue Ausdrucksforschung in Stand gesetzt, andere Versuchsbedingungen zu wählen und die Fesseln abzunehmen von den Versuchspersonen ohne Verzicht auf exakte Fixierung des Ausdrucksgeschehens. Ganz zu schweigen von dem quantitativ ungeheueren Material, welches in dem konservierten Theater, das die Filmindustrie liefert, einer psychologischen Bearbeitung harrt.94
Bühler macht eine mediengeschichtliche Zäsur – das Aufkommen moderner Medien wie Grammophon und Film – für den Fortschritt in der Ausdrucksforschung verantwortlich. Die mediale Aufrüstung verschafft besonders ihrer experimentellen Ausrichtung neue Impulse. Die Ausdruckspsychologen des 20. Jahrhunderts messen nicht mehr die innere Erregung einer Testperson am Verlauf einer aufgezeichneten Pulskurve, wie in der Generation physiologisch ausgerichteter Forscher um Wilhelm Wundt, sondern vergleichen akustische und optische Daten, die von der Stimme bzw. den Körperbewegungen der Testpersonen gewonnen werden. In den gespeicherten Bildern und Tönen steht der Ausdrucksforschung ein ungeheures Datenarchiv zur Verfügung, die aber auch neue Differenzierungs- und Analyseparameter erforderlich machen. Mit dieser mediengeschichtlichen Zäsur geht eine epistemologische einher: Die bereits seit der Auseinandersetzung um Johann Caspar Lavaters Schriften zur Physiognomik prominent gewordene Unterscheidung des Schädelbaus und der festen Gesichtspartien von den beweglichen Mienen des Gesichts – der Physiognomik von der Pathognomik – prägt die Ausdrucksforschung seither, und zwar mit einer deutlichen Verschiebung zugunsten letzterer: In den Arbeiten zur Physiognomik bzw. Mimik etwa von Carl Gustav Carus, Theodor Piderit, Duchenne de Boulogne
»Karl Bühler — Leben und Werk«, in: Karl Bühler: Die Uhren der Lebewesen und Fragmente aus dem Nachlaß, hg. von Gustav Lebzeltern, Wien: Hermann Böhlaus Nachf. 1969 (=Sitzungsberichte der Österr. Akademie der Wissenschaften, Bd. 265), S. 7-70. 94 K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 1.
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und Charles Darwin95 »ist deutlich der Übergang von den Formen des Körpers (bzw. des Gesichts) zur Form der Bewegung erkennbar«.96 Die von Wilhelm Wundt entwickelte psychologische Theorie der Ausdrucksbewegung markiert diese diskursive Bewegung. Die Frage nach dem Ausdruck von Affekten und die Problematik der Flüchtigkeit der pathognomischen Zeichen und ihrer Darstellbarkeit werden hier erstmals begrifflich enggeführt. Im Zuge dieser Supplementierung der Physiognomik treten zunehmend Autoren auf, die in ihren Untersuchungen von dem vorübergehenden Mienenspiel ausgingen. Damit vollzog sich ein Umschwung in der ganzen physiognomischen Forschung und die auf dieser Basis ruhenden Untersuchungen boten viel mehr Aussicht auf Erfolg, als die von den festen Gesichtszügen ausgehenden. Denn die Physiognomie, soweit sich in ihr seelische Stimmungen wiederspiegeln [sic!], ist von der Mimik abhängig und ihr Studium beruht vielfach auf der Kenntnis des Mienenspiels.97
In den Ausdruckstheorien des beginnenden 20. Jahrhunderts entfaltet Wundts theoretischer Einsatz seine ganze Wirksamkeit. Ludwig Klages charakterologische Ausdruckstheorie, die Wundts Konzept der Ausdrucksbewegung aufnimmt und wörtlich zitiert,98 stellt nur einen ersten Schritt zu seiner Diskursivierung dar. Schon bald folgen die wissenschaftlichen Ausdruckspsychologien eines Karl Bühlers oder Philipp Lerschs nach. An die Stelle der Sprache treten zugleich Experimentalsysteme und technische Medien bei der Vermittlung der Affekt-Ausdrucksbeziehung und der in ihr gefaßten Semiotik des Humanen. Es entstehen zugleich Visualisierungsverfahren, die die wissenschaftlichen Er95 Carl Gustav Carus’ Symbolik der menschlichen Gestalt. Ein Handbuch zur Menschenkenntnis erschien 1853. Theodor Piderit trat 1858 mit seinen Grundzügen der Mimik und Physiognomik hervor, denen er 1867 eine ausführliche Darstellung der Mimik und Physiognomik folgen ließ. Duchenne de Boulognes Mécanisme de la Physiognomie humaine ou analyse électrophysiologique de l’ expression des passions verbindet 1862 zum ersten Mal experimentelle Physiologie und fotografische Aufzeichnung. Charles Darwin griff für sein Standardwerk The Expressions of Emotions in Man and Animals 1871 u.a. auf Duchennes Aufnahmen zurück. 96 Wilhelm Hehlmann: Geschichte der Psychologie, Stuttgart: Kröner 1963, S. 116. Ein halbes Jahrhundert nach Lavaters Fragmenten und Galls Schädellehre habe sich eine »Wendung« in der Ausdrucksforschung vollzogen (ebd., S. 134); vgl. A. Ko_enina: »Gebärde«, S. 577f. 97 Hermann Krukenberg: Der Gesichtsausdruck des Menschen, Stuttgart: Ferdinand Enke 21920, S. 30. 98 Ludwig Klages entwarf die Grundlinien seiner Ausdruckstheorie 1905 in seinem Aufsatz Das Grundgesetz des Bewegungsausdrucks. 1920 folgte sein Hauptwerk Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft.
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kenntnisse mehr als nur illustrieren.99 Die fotografische Aufzeichnung transferiert diese Natur ›des Menschen‹ in den Bereich des Sichtbaren, in dem – mediengeschichtlich gesehen – zum ersten Mal der momentane psychische Zustand eines Subjekts hervortritt.100 Der französische Experimentalphysiologe Duchenne de Boulogne stellt diese epistemologische Zäsur heraus, wenn er behauptet, die Ergebnisse seiner elektrophysiologischen Experimente könnten nur durch das Betrachten seiner »naturgetreuen« Fotografien beurteilt werden.101 Diese technisch generierten Zustandsbilder des Affektausdrucks lassen sich nicht mehr in der ästhetischen Kategorie des Porträts fassen; sie stellen vielmehr Singularitäten des Affekts dar. Die Serien fotografischer Aufnahmen, die Hugh Diamond oder Duchenne bereits in der Mitte des 19. Jahrhunderts angefertigt haben,102 sind keine visuellen Repräsentationen von Individualität mehr. Diamond, englischer Psychiater und Nervenheilanstaltsleiter, fotografierte seine Patienten in verschiedenen Stadien ihrer psychischen Erkrankung, und Duchenne, Lehrer Jean-Martin Charcots, nahm nach eigener Aussage »Porträts von Leidenschaften« und nicht von Individuen auf – Bilder überindividueller Affektzeichen also, die er zuvor durch die elektrophysiologische Reizung einzelner Gesichtsmuskeln auf den Gesichtern seiner Probanden provoziert hatte.103 Diese Zustandsbilder des Affektausdrucks und ihre Steigerungsstufen bis hin zur Grimasse sind seither Gegenstand anthropologischen Wissens. Das Aufkommen des Films verschärft noch einmal die Frage nach einer visuellen Repräsentation des Menschen und seiner Affekte. Die temporären mimischen und gestischen Effekte werden nun vor allem durch die filmische Großaufnahme sichtbar. Der Film bringt mit den Affektbildern die Repräsentation gleichsam selbst in Bewegung, macht sichtbar, was sich anders (unter Verzicht auf Signifikanz) nicht darstellen
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Wolfgang U. Eckart weist darauf hin, daß »die nun ganz vom Glauben an die naturwissenschaftliche Dekodierbarkeit des Organismus getragene diagnostische Zeichenlehre ihrerseits neue abstrakte Bilder von den Körperzuständen in Gesundheit und Krankheit entwirft und zeichnet. Sie greift dabei auf mathematisch-statistische, graphische und photographische Methoden zurück« (ders.: »Zeichenkonzeptionen«, S. 1704, Sp. 1). Vgl. Tom Gunning: »In Your Face: Physiognomy, Photography, and the Gnostic Mission of Early Film«, in: Modernism/Modernity 4/1 (1997), S. 129: »In this new method of investigation of the face, rooted in individual faces and their transient momentary expressions, photography served as the optimal tool of investigation« (S. 7). Vgl. G.-B. Duchenne: Mechanism, S. 36. Zu Diamond vgl. Adrienne Burrows/Iwan Schumacher: Doktor Diamonds Bildnisse von Geisteskranken, Frankfurt a.M.: Syndikat 1979. Vgl. G.-B. Duchenne: Mechanism, S. 1: »The spirit is thus the source of expression. It activates the muscles that portray our emotions on the face with characteristic patterns« (meine Hervorhebung, P.L.).
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läßt: mimische und gestische Bewegungen und deren zeitliche Entfaltung. Als Ausdrucksbewegung lassen sich diese nur durch ein Bewegungsbild charakterisieren und machen die Prozessualität von Bedeutungsgenerierung sichtbar.104 Daneben etabliert der Film mit Einstellung, Schnitt und Montage einen visuellen Kode, durch den der bewegte Körper lesbar bleibt. Mit dem Aufkommen technischer Medien im Verbund mit Experiment und statistischer Auswertung wird zugleich eine epistemologische Schwelle überschritten: Die Repräsentationstheorie als »Strukturvorform einer Theorie vom Menschen«105 wird von der Statistik abgelöst, die Komplexitäten und ihre mengenmäßige Verteilung behandelt. In diesem Zusammenhang erwächst den technischen Medien die Aufgabe, »Modelle bereitzustellen, mit denen historisch ausgefaltete Komplexitäten beschreibbar werden«, die darüber hinaus »mit der Komplexität psychischer und sozialer Systeme in direkter Rückkoppelung stehen«.106 Mit den Möglichkeiten der Speicherung und Vervielfältigung technisch generierter Bilder verfügen die Humanwissenschaften über ein riesiges Zeichenarchiv, das verschiedenen Bedeutungsoptionen offensteht. Die Zirkulation der medialen Bilder zwischen den Diskursen ist nur ein Effekt dieser Mediatisierug des Menschen und belegt die Diskursmacht optischer Medien und der von ihnen erzeugten Sichtbarkeiten. Die Wirkmächtigkeit der medialen Bilder des ›Menschen‹ erfordert zugleich seine Zurichtung zum Untersuchungsobjekt, an dem nun das neuerworbene Wissen erprobt wird. In diesem Sinne hat Lisa Cartwright den Film als »a cultural technology for the discipline and management of the human body«107 beschrieben und in die langen Wissenschaftstradition der Körperausforschung eingereiht. In der physiologischen Affekttheorie werden mimische Effekte seit Mitte des 19. Jahrhunderts vor allem in der Kombination einzelner Gesichtsmuskeln beschrieben. Komplexitätssteigerung wird aber auch durch das Einbeziehen des zeitlichen Verlaufs einer mimischen Bewegung erzielt. In dieser Hinsicht leistet das filmische Bewegungsbild eine ›genuine‹ Visualisierung, die noch der Chronofotografie nicht gelang.108 Diese 104 Zum Verhältnis von Bewegungsbild und Kino vgl. Gilles Deleuze: Kino 1. Das Bewegungs-Bild, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1997. 105 R. Campe: Affekt und Ausdruck, S. XX. 106 S. Rieger: Individualität der Medien, S. 13. 107 Lisa Cartwright: Screening the Body: Tracing Medicine’s Visual Culture, Minneapolis/London: Univ. of Minnesota Press 21997, S. 3. 108 Diese löst die aufgezeichnete Bewegung in eine Reihe stationärer Einzelbilder auf: »Statt einer linear empfundenen Progression bejubelt man in den eingefangenen Momenten der Chronophotographien nun den Stillstand, der gleichwohl zeichenhaft für Bewegung stehen soll« (Ulrike Hick: Geschichte der optischen Medien, München: Fink 1999, S. 317).
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epistemologische Leistung des Films wurde bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts gewürdigt: »Aber der Film brachte uns auch in seinen Nahaufnahmen das Ausdrucksvermögen und den Ausdruckswert der Gesichtszüge, der Physiognomie nahe und lehrte uns sie zunächst im bewegten und motivierten Bild erkennen. Die bewegte Mimik entzieht sich der Photographie, erschließt sich der Filmdarstellung, die Abläufe bringen kann.«109 Dadurch gerät das Medium Film in den Blick wissenschaftlicher Ausdrucksforschung. Diese bemächtigt sich des populären Kinofilms, entwickelt an ihm ein Problembewußtsein für psychologische Fragestellungen, ja sie entdeckt bestimmte Fragestellungen wie etwa die Bewegungsdynamik erst am bewegten Kinobild. Deshalb finden die Beschreibung schauspielerischer Leistungen wie die fotografierten Konterfeis berühmter Schauspieler Eingang in wissenschaftliche Abhandlungen wie Philipp Lerschs 1932 erschienener Schrift Gesicht und Seele. Neue Medien bringen neues Wissen hervor und lassen zugleich ältere Medien in neuem Licht erscheinen. Zugleich provozieren sie, wie Karl Bühler weiß, die Theoriearbeit, die den wissenschaftlichen Einsatz dieser Medien zu überwachen hat: »Damit das neue Experimentieren und Auswerten nicht ein blindes Drauflosgehen und eine Fahrt ohne Kompaß ins Uferlose werde, muß mit adäquater Energie an einer Axiomatik der Ausdruckslehre gearbeitet werden.«110 Nur durch das Aufstellen von Axiomen könne die Ausdrucksforschung die Weihen der Wissenschaft erlangen. Und nur durch den Blick auf ihre Geschichte sind diese Axiome für Bühler zu gewinnen. Deshalb betreibt er vor allem Wissenschaftsgeschichte,111 und deshalb erscheint es ihm angebracht, »die Prinzipienforschung mit einem erneuten Rückblick auf die Geschichte der Ausdruckslehre zu verbinden«.112 Der Blick in die Geschichte der Ausdruckstheorie lehrt aber vor allem zweierlei: einerseits die Hartnäckigkeit, mit der sich die abendländische Auffassung von der Objektivierbarkeit und Lesbarkeit des menschlichen Ausdrucks in den verschiedenen Wissensformationen hält, und zum anderen, daß diese Lesbarkeit das Produkt soziokultureller Verabredungen ist.113 Damit sind die Leitlinien der Untersuchung umrissen: Zuerst sollen die diskursiven Verschiebungen zwischen Rhetorik, Ästhetik und Psychologie in den Blick genommen werden, die sich um den Ausdrucksbe109 W. May: »Das Photobildnis«, in: Das Atelier des Photographen und Deutsche Photographische Kunst, 38. Jg. (1931), S. 116-119, hier S. 118. 110 K. Bühler: Ausdruckstheorie, S 1f. 111 Vgl. A. Käuser: Die anthropologische Theorie, S. 44f. 112 K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 2. 113 Roland Barthes hat die Verpflichtung auf Ausdruck als Option der westlichen Kultur gekennzeichnet; vgl. ders.: Das Reich der Zeichen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981.
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griff konzentrieren. Ziel dieser archäologischen Perspektive ist es, den Übergang von statischen Formen des Charakterausdrucks (in der Physiognomiktradition bis ins 18. Jahrhundert) zu den dynamischen Formen des Affektausdrucks (in der Psychologie des Ausdrucks seit dem 19. Jahrhundert) nachzuzeichnen. Mit Balzacs Theorie de la demarche von 1833 und Kierkegaards zehn Jahre später erschienenen Schattenrissen werden zunächst zwei literarische Texte gegenübergestellt, die auf sehr unterschiedliche theoretische Weise das Ausdrucksproblem verhandeln. Sie sollen das diskursive Feld zwischen der Positivität einer sich selbst schreibenden Theorie des Sehens von Bewegung und deren Negation im Entzug der Sichtbarkeit von Affekten abstecken, auf dem die fotografische Aufzeichnung des Affektbildes aufbaut. Mit der Rekonstruktion der zentralen Position, die der Begriff ›Ausdrucksbewegung‹ in den Ausdruckstheorien seit Wilhelm Wundt einnimmt, wird die Umstellung der anthropologischen Forschung auf Bewegungsformen greifbar, die sich mit Fotografie und Film technischer Medien bedienen, um diese Formen zu visualisieren. Die gegenseitige Bedingtheit von Diskursen und Medien bildet dabei den medientheoretischen Horizont der diskursanalytischen Vorgehensweise. Welche Rolle spielen die von technischen Medien generierten Sichtbarkeiten für die Ausbildung von Wissensformationen und die Semiotik des Humanen? Wie erzeugen Diskurse erst jene Aufmerksamkeit für bestimmte Gegenstände, die dann von Wissenschaft und Ästhetik aufgegriffen werden? Diese Fragen finden in den diskursiven Verflechtungen von wissenschaftlicher Ausdrucksforschung und ästhetischer Filmdebatte in den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts Gehör. Wissen und Sehen verschränken sich in der Psychologie der Ausdrucksbewegung und der filmischen Aufzeichnung der prozessualen Mimik in der Großaufnahme. Deshalb sollen hier die Figuren und Topoi, die zwischen beiden Diskursen ausgetauscht werden, sowie die Bilder, die zwischen ihnen zirkulieren, untersucht werden. In verschiedener Hinsicht gelangt die Ausdruckstheorie 1933 an eine Grenze: Viele deutschsprachige Forscher verlassen Europa, um der politischen Katastrophe des Nationalsozialismus zu entkommen, und schließen sich später vor allem in den Vereinigten Staaten der Verhaltensforschung oder der Soziologie an, die dort die Ausdruckspsychologie beerben. In Charakterologie, Rassenkunde und Eugenik, die zu diesem Zeitpunkt besonders in Deutschland ihr trauriges Handwerk betreiben, tritt der Ausdrucksforschung gewissermaßen ihr verzerrtes Spiegelbild entgegen.114 114 Vgl. dazu Claudia Schmölders/Sander L. Gilman (Hg.): Gesichter der Weimarer Republik, Köln: DuMont 2000.
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Am Anfang steht jedoch die Frage nach dem ›Begriff Ausdruck‹ selbst. Seine Problematik macht eine historisch-systematische Darstellung unumgänglich, die im Zugriff auf seinen wichtigsten Agenten – den Schauspieler – geleistet werden soll.
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2. D E R S C H AU S P I E LE R A L S P A R AD I G M A A U S D R UC K S T H EO R I E
DER
Die Geschichte der Affekt-Ausdrucksbeziehung ist eine Geschichte der Medien und der Exponenten, an denen exemplarisch Aussagen zu dieser Beziehung gemacht und Funktionalisierungen des darüber formulierten Wissens vorgenommen wurden. In der Figur des Schauspielers überkreuzen sich seit jeher die Frage nach dem Verhältnis von (innerem) Affekt und (äußerem) Ausdruck und die nach dem medialen Ort, an dem diese Ausdruckslogik sichtbar gemacht wird. An diesen Orten – angefangen von den öffentlichen Plätzen, an denen der antike Mimus sein obszönes Spiel treibt, über die populären Bühnen des Volkstheaters bis zum mimischen und gestischen Spiel vor einer Kamera – entfaltet der Ausdrucksdiskurs immer wieder seine Wirkung. Medien des Ausdrucks sind daher auch immer Medien der Visualisierung. Deshalb nimmt die Frage nach der Rolle des Schauspielers in den Theorien des Ausdrucks seit der antiken Rhetorik eine zentrale Position ein. Dort fungiert der Schauspieler als Gegenfigur zum Redner. Rüdiger Campe hat den Zerfall des diskursiven Ortes der körperlichen Beredsamkeit in der Rhetorik seit dem 17. Jahrhundert beschrieben, wo statt ihrer Literatur, Medizin, Jurisprudenz und Physiognomik zum Schauplatz ausdruckstheoretischer Überlegungen werden. Die rhetorischen Konzepte einer eloquentia corporis treffen seither zudem auf eine rationale Psychologie, die den Zusammenhang von physischen und psychischen Elementen beim Affektausdruck untersucht. Im Zuge dieser Ausrichtung diskutieren Schauspieltheorien des 18. Jahrhunderts erneut das Problem der Natürlichkeit bzw. Künstlichkeit des Affektausdrucks, im Zeichen eines bürgerlichen Imperativs der Authentizität.1 1
»Verstellung ist recht genau jener Begriff, der das moderne anthropologische Paradox des Schauspielers als Inkarnation ›natürlicher Künstlichkeit‹ (Plessner) beinhaltet, also jenen Zustand von Entzweiung und Entfremdung, der innerhalb der Moderne-Diskussion des späten 18. Jahrhunderts aufgedeckt wird [...]« (Andreas Käuser: »Archaik und Moderne«, in: Gerhart von Graevenitz [Hg.]: Konzepte der Moderne, Stuttgart/Weimar: Metzler 1999, S. 521-543, hier S. 527).
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Die Problematisierung der Darstellbarkeit der individuellen wie der allgemeinen menschlichen Natur resultiert dabei aus dem paradoxen Verhältnis von Natur und Kultur in der modernen Episteme. Körpersprachliche Zeichensysteme wie Mimik und Gestik verharren – wie Jacques Derrida am Beispiel von Rousseaus Sprachursprungsschrift gezeigt hat – an der Grenze zwischen Natur und Kultur.2 Ihre vermeintliche Natürlichkeit wird insbesondere gegen die ›künstlichen‹, auf Konvention beruhenden Zeichen der Sprache ins Spiel gebracht. Dabei wird jedoch verkannt, daß die scheinbar ›natürlichen‹ mimischen und gestischen Zeichen selbst einen Prozeß der Semiotisierung durchlaufen. Die anhaltende Konjunktur von Schauspielerästhetiken und Ausdruckstheorien seit dem 18. Jahrhundert läßt sich als ein Diskurseffekt der Anthropologisierung des Wissens beschreiben: »Anthropologie heißt auch Semiotisierung, insofern die Natur des Menschen nicht irgendeine metaphysische Qualität ist, sondern sich zeigen muß, Ausdruck finden muß, sei dies nun an den Zeichen des Körpers wie der Geste, der Gebärde oder solchen der Stimme, der Musik.«3 Der semiotische Imperativ, daß die ›Natur‹ des Menschen sich zeigen müsse, erfaßt das ganze Reservoir körpersprachlicher Ausdrucksmöglichkeiten, die damit der Logik der Repräsentation unterworfen werden. Daraus läßt sich die Frage nach der Möglichkeit von Affektkontrolle ableiten, die in der wissenschaftlichen Psychologie des 19. Jahrhunderts unter anderen Vorzeichen diskutiert wird. Während im 18. Jahrhundert ›natürliche‹ und ›künstliche‹ Zeichen unterschieden wurden, beobachtet man nun willkürliche bzw. unwillkürliche Affektbewegungen. Zugleich wird der Schauspieler zum Modell einer Vorstellung von Subjektivität, für die das Rollenspiel, die Wandelbarkeit des Selbst, ausschlaggebend ist. Im folgenden sollen deshalb die epistemologischen Verschiebungen im Wissen über die Darstellungsweisen von Affekten rekonstruiert werden, die in vielerlei Hinsicht in der Debatte um den ›stummen‹ Film kulminiert. Diese Debatte greift einerseits auf den antiken Mimus zurück, um eine Auffassung mimischer Expressivität zu lancieren, die am Postulat unbedingter Sichtbarkeit von Affektbewegungen orientiert ist. Andererseits reflektiert sie in der Unterscheidung von Pantomime und Film den medialen Kontext mimischer Darstellung. Ernst Blochs Schlagwort vom »neuen Mimus« des ›stummen‹ Films verbindet diese beiden Aspekte. In der Frage nach dem Schauspieler ist die nach der Medialität seiner Ausdrucksbewegungen gestellt.
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Vgl. Jacques Derrida: Grammatologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1983, bes. S. 403. Ebd., S. 532.
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2 . 1 Da s S c ha u s p iel d er A ff ek t e Wie sich die Körpersprache mit der gesprochenen verbinden läßt, diskutieren und kontrollieren seit jeher Anweisungen für den Redner. Auch in den antiken Rhetoriklehren nimmt der Schauspieler eine prominente Position ein. Das ist nicht verwunderlich, setzen doch Redner wie Schauspieler mit Gesten (gestus) und Mienen (vultus) gezielt körpersprachliche Mittel ein. Mit vultus wurden nicht nur im engeren Sinne die Miene bezeichnet, sondern darüber hinaus der Blick, die Gesichtszüge und der Gesichtsausdruck als solcher. Diese Ausweitung des Begriffsfeldes deutet an, welche Rolle den beweglichen Teilen des Gesichts für die kommunikative Orientierung neben der eigentlichen Rede zugestanden wurde. Die Etymologie verbindet darüber hinaus vultus mit velle (wollen bzw. wünschen) und benennt den intentionalen Charakter der schauspielerischen wie rednerischen Mimik, die in Bühne bzw. Forum einen vergleichbaren Raum für ihren Vortrag vor Publikum gefunden haben.4 Cicero stellt in seiner Rhetorikschrift De oratore Redner und Schauspieler einander gegenüber, um den unterschiedlichen Gebrauch der körpersprachlichen Mittel zu erläutern. Grundlage dieses Vergleichs bildet die diskursbegründende Annahme, daß die Sprache des Körpers natürlichen Ursprungs und daher allgemein verständlich sei, auch wenn sie gleichwohl erlernt werde und in der Verwendung Konventionen unterliege.5 Der Schauspieler übertreffe den Redner im Einsatz der Gebärdensprache, ahme jedoch Affekte nur nach und demonstriere sie pantomimisch, wo der Redner Mimik und Gestik seinem Thema anpassen müsse.6 Oft genug fungiert deshalb wie in Quintilians Institutia oratoria der Schauspieler als negatives Beispiel für den Einsatz körpersprachlicher Mittel. Wo dieser zur Übertreibung neige, sei der Redner gezwungen, seine Mienen und Gesten ganz in den Dienst seines Gegenstandes zu stellen und in der Sache zu überzeugen. Redner und Schauspieler unterscheidet daher ganz erheblich der Zweck der eingesetzten körpersprachlichen Mittel: Der Schauspieler setzt sie zur Steigerung seines ›künstlichen‹ Affektausdrucks ein, beim Redner hingegen ist eine ›natürliche‹ Vortragsweise auf der Basis verbindlicher Ausdrucksnormen intendiert.
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Vgl. Hartwig Kalverkämper: »Mimik«, in: Gert Ueding (Hg.): Historisches Wörterbuch der Rhetorik, Bd. 5, Tübingen: Niemeyer 1996, S. 1327-1360, hier S. 1329. Vgl. Cicero: De oratore/Über den Redner, Stuttgart: Reclam 2001, III, 216: »Omnis enim motus animi suum quendam a natura habet vultum et sonum et gestum.« Dieser Grundsatz wird bis ins 18. Jh. immer wieder zitiert (vgl. A. Košenina: »Gebärde«, Sp. 566). Vgl. ebd., III, 220; A. Košenina: »Gebärde«, Sp. 565f.
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Gerade die antiken Rhetorikanleitungen versuchen daher insbesondere im Abschnitt über die Vortragsweise der Rede die Körperbewegungen in geordnete Bahnen zu lenken und Regeln ihrer Verwendung festzulegen. So stellt Quintilian ein Inventar erlaubter mimischer Bewegungen zusammen, eine nach Gesichtsteilen geordnete Mimik-Taxonomie.7 Diese legitimierten Verwendungsweisen verpflichten den Redner zur Selbstkontrolle seiner Affekte mit dem Imperativ, die Grenzen des Angemessenen (aptum) und Schicklichen (decorum), die die Redesituation vorgibt, nicht zu überschreiten. Der Vergleich zwischen Redner und Schauspieler dient also zunächst dazu, eine Differenz zwischen Ausdruck und Darstellung, zwischen ›natürlicher‹ und ›künstlicher‹ Körpersprache zu etablieren. Seit Quintilians Institutia wird aber, wie Alexander Ko_enina gezeigt hat, der psychologische Zusammenhang zwischen innerem Affekt und äußerem Ausdruck zur allgemeinen Voraussetzung aller Theorien der Körpersprache gemacht.8 Mit dieser Prämisse wird zugleich die Unterscheidung von unwillkürlicher Affektäußerung, deren Verständnis eine verbindliche menschliche ›Natur‹ gewährleistet, und willkürlichem Gebrauch der äußeren Anzeichen des Affekts im Schauspiel, also die Differenz zwischen ›natürlicher‹ Rede und ›künstlichem‹ Schauspiel, wieder eingezogen. Mit dieser Psychologisierung fällt nicht nur im Namen eines allgemeinen Humanums die Schranke zwischen Redner und Schauspieler, die Unterscheidung zwischen dem Natürlichen und dem Künstlichen wird selbst unsicher. Mit der Anthropologisierung des Wissens wird diese Unterscheidung wieder virulent. Einen Höhepunkt der schwelenden Auseinandersetzung um die Wahrheit des Körpers stellen die Schauspieltheorien von Rémond de Sainte-Albine, Riccoboni, Diderot, Lessing, Lichtenberg oder Engel in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts dar. Seit Rousseau in kulturkritischer Absicht einen ›natürlichen‹ Menschen propagiert hat, wird die Frage nach der Authentizität des Schauspielers forciert gestellt.9 Die Schauspieltheorien behandeln daher in unterschiedlicher Weise ein Paradox, das durch das Authentizitätspostulat der bürgerlichen Gesellschaft aufgeworfen wurde – das Paradox, daß eine künstlich hervorgebrachte Miene oder Geste gleichwohl natürlich wirken könne. Während Rémond de Sainte Albine in seiner 1747 erschienenen Abhandlung Le comédien die Identität von Schauspieler und Rolle fordert und einen guten Schau7 8 9
Ebd., XI, 3, 75-81. A. Košenina: »Gebärde«, Sp. 566. Die Renaturalisierung wird unter dem Banner der Naivität betrieben. Sie teilt auch die Zunft der Schauspieler wieder in zwei Lager: Nur die naiven spielen, was sie fühlen, die reflektierten hingegen spielen, ohne zu fühlen — sie täuschen Gefühle vor, die sie nicht haben; vgl. U. Geitner: Die Sprache der Verstellung, S. 284-343.
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spieler daran erkennt, daß er die Empfindungen, die er spielt, auch tatsächlich entwickelt, steht im Zentrum der schauspieltheoretischen Überlegungen Riccobonis, Lessings und Diderots die willkürliche Selbstaffizierung durch die bloße Vorstellung des Affekts, das Studium und der bewußte Einsatz der äußeren Anzeichen von Affekten – von Ausdrucksformen also, die sich durch wiederholten Gebrauch konventionalisieren lassen. Während sich für Sainte-Albine innere Empfindungen und äußere Körperbewegungen auf natürliche Weise entsprechen, befähigt für Riccoboni, Lessing und Diderot erst das genaue Studium, wie sich diese Empfindungen körperlich ausdrücken, den Schauspieler zur Affektdarstellung. Hat für diese Theoretiker ein Schauspieler die emotionalen Register einer Szene nur oft genug erprobt und ihre Wirkung getestet, kann er deren sichtbaren Merkmale jederzeit reproduzieren. Die Wiederholung macht diese sichtbaren Anzeichen auch für das Publikum konventionell. Auf diese Weise werden Affektausdruck des Schauspielers und Affekteindruck des Publikums aufeinander abbildbar und damit generalisierbar – Ausdruck und Eindruck sind durch die Konventionalisierung egalisiert. Seine Wiederholbarkeit enthebt den Affektausdruck zugleich dem individuellen Zufall und inthronisiert eine Ordnung des Ausdrucks – eine Ordnung der sichtbaren Anzeichen des Affekts, an der Schauspieler und Publikum gleichermaßen partizipieren und zwar auch dann noch, wenn diese Ordnung willentlich gebrochen wird.10 Für Richard Sennett stellt Diderots Paradoxe sur le comédien deshalb eine Körperzeichentheorie dar, die auf dieser Wiederholbarkeit des körperlichen Affektausdrucks beruht: »Eine Empfindung kann mehr als einmal vermittelt werden, wenn der Schauspieler aufgehört hat, sie zu ›erleiden‹, wenn er dahin gelangt ist, sie aus der Distanz zu studieren und das Wesentliche ihrer Form zu bestimmen. Dieses Wesentliche ergibt sich, wenn man alles Zufällige abstreift [...]. Wiederholbarkeit macht geradezu das Wesen eines Zeichens aus.«11 Gerade als ›natürliche‹ und wesentliche Zeichen werden die Affekte durch ihre sichtbare Wiederholung (auf der Bühne) wiedererkennbar und in ihren Auswirkungen berechenbar. Körperzeichentheorien wie die Diderots oder Engels machen die allgemeine Verständlichkeit auf der Basis einer gemeinsamen ›Natur‹ aller Menschen zum Ausgangspunkt ihrer wirkungsästhetischen Überlegungen. Daß erst die Kunst die unendliche Mannigfaltigkeit des ›natürlichen‹ Affektausdrucks zu reinen Formen
10 Vgl. Erika Fischer-Lichte: Semiotik des Theaters: eine Einführung, Tübingen: Gunter Narr Verlag 1983, S. 58f. 11 Richard Sennett: Verfall und Ende des öffentlichen Lebens. Die Tyrannei der Intimität, Frankfurt a.M.: Fischer 1983, S. 134.
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läutern könne, macht Johann Jakob Engel in seinen Ideen zu einer Mimik von 1785 glaubhaft.12 Für ihn habe die (Schauspiel-)Kunst die Natur zu überbieten. Er verpflichtet den Schauspieler auf eine Wahrheit des Ausdrucks, die Gebärden als allgemeine Zeichen für Gemütszustände gewährleisten sollen. Diese ästhetische Prämisse, die durch die Verbindung von Anthropologie und Schauspieltheorie in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Gültigkeit behauptet, wird nun auch für die Interpretation moderner Subjektivität herangezogen. Als deren Modell fungiert wiederum der Schauspieler. Identität erlangt der Schauspieler für Diderot ausschließlich durch sein Rollenspiel. Dem Publikum gegenüber muß er deshalb als ein Subjekt erscheinen, das sich durch die Alterität verschiedener Rollen definiert. Dadurch wird er zum Vorbild der modernen flexiblen Subjektivität: »Diderots ›Rolle‹ ist die Metapher für jene gelebte Konstanz, die es erlaubt, das Handeln in der Zeit auf ein Identisches zurückzuführen. Dieses Identische ist flexibel, und der sich darauf stützen kann, gewinnt eben dadurch Souveränität.«13 Das Modell des kontrollierten Rollenspiels gilt Konersmann zufolge für die Konzeption von Subjektivität als paradigmatisch, weil Diderot damit »die historische Emanzipation des Menschen aus natürlichen Bindungen und Beschränktheiten, wie sie der selbstbewußt agierende Schauspieler exemplarisch demonstriert«, billigt und »die Rolle als Instrument der Ich-Stärkung« funktionalisiert.14 Immanuel Kant erläutert diesen Zusammenhang von moderner Subjektauffassung und Schauspieltheorie, wenn er 1798 in seiner Anthropologie schreibt: »Die Menschen sind insgesamt, je zivilisierter, desto mehr Schauspieler.«15 Kant stellt einen Konnex her zwischen Zivilisation und Rollenspiel, dem von Rousseau und der Bewegung der Empfindsamkeit das Verdikt der Verstellungskunst angeheftet wurde. Verstellung heißt eine doppelte Strategie und Gefahr sozialen Verhaltens: einerseits das Verbergen vorhandener Affekte (dissimulatio), andererseits das Vortäuschen nichtempfundener Affekte (simulatio). Als Domäne einer kalkulierten und kulturell sanktionierten Verstellung wird seit jeher das Schauspiel betrachtet. Am Beispiel des Schauspielers wird daher mit Vorliebe die Gefährdung der bürgerlichen Ordnung durch Verstellung sowie ihre moralische Verwerflichkeit verhandelt. Was Rousseau allerdings als Verfall eines vermeintlich Natürlichen beschreibt, gehört für Kant zum un-
12 Für ihn erreiche die Natur nicht immer jene »Vollkommenheit«, die der Kunst das Maß gebe. Deshalb sei es ihre Pflicht, »die Fehler der Natur zu verbessern« (J.J. Engel: Mimik, Erster Theil, S. 11). 13 R. Konersmann: Der Schleier des Timanthes, S. 134. 14 Ebd., S. 135; 136. 15 I. Kant: Anthropologie, S. 442 .
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umkehrbaren Prozeß der Zivilisation: Der Schauspieler ist für ihn das Paradigma des modernen Menschen. Als ein Virtuose der Verstellung wird immer wieder der englische Schauspieler Garrick genannt. Bemerkenswert erscheint den Zeitgenossen insbesondere die Schnelligkeit, mit der er seine Mienen wechselt – für Diderot ein deutliches Indiz für seine These, nur der empfindungslose Schauspieler könne Affekte perfekt darstellen. In seiner Schrift Le paradoxe sur le comédien von 1773 läßt er einen Dialogpartner seine Beobachtungen zusammenfassen: Garrick steckt seinen Kopf durch eine Türspalte, und im Laufe von vier bis fünf Sekunden verändert sich sein Gesichtsausdruck von wilder Freude über gemäßigter Freude zur Ruhe, von der Ruhe zur Überraschung, von der Überraschung zum Erstaunen, vom Erstaunen zur Trauer, von der Trauer zur Niedergeschlagenheit, von der Niedergeschlagenheit zur Furcht, von der Furcht zum Entsetzen, vom Entsetzen zur Verzweiflung. Von dieser letzten Stufe steigt er wieder bis an den Ausgangspunkt. Kann seine Seele all diese Gefühle empfinden und diese ganze Skala in Übereinstimmung mit dem Gesicht? Ich glaube es nicht.16
Garrick beherrscht demnach nicht nur das Alphabet der Mienen, um den Eindruck bestimmter Affekte und Leidenschaften bei seinem Publikum zu provozieren, sondern auch die Zeit des Affekts wie eine diskrete Tonleiter. Weil Garrick den Affekt allein als Signifikant unter anderen Signifikanten fingiert, gelingt es ihm, die Unterschiede der Affektzeichen darstellerisch zu markieren. Voraussetzung dieser diskreten Affektordnung ist ein Wissen um die körpersprachlichen Zeichen der dargestellten Affekte. Dieses Wissen stellte Descartes’ Affektphysiologie ebenso bereit wie – auf der Ebene der Sichtbarkeit – deren zeichnerische Idealisierung durch Charles Le Brun (vgl. Abb. 2). Daher liest sich Garricks Tonleiter des Affekts auch wie ein direktes Zitat der Hauptaffekte bei Descartes. Diderots Schrift ist darüber hinaus ein Plädoyer für die Artifizialität des Ausdrucks, für die zentrale Bedeutung der Imagination. Von einer großen Schauspielerin seiner Zeit sagt ihr Autor, sie »vermochte eine große Vorstellung genial nachzuahmen«.17
16 Denis Diderot: Das Paradox über den Schauspieler, in: ders.: Erzählungen und Gespräche, Frankfurt a.M.: Insel 1981, S. 289-362, hier S. 314. 17 Ebd., S. 327.
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Abbildung 2: Charles Le Brun: Angst/Schrecken (1702)
Der geniale Schauspieler muß für Diderot über Einbildungskraft verfügen, um die äußeren Anzeichen des Affekts jeder affektiven Situation anzupassen und in eine szenische Umgebung zu implementieren. Der Affekt selbst wird so zum Supplement der Imagination; es reicht dem geübten Schauspieler, ihn in seiner Vorstellung zu erwecken. Das äußerliche, sichtbare Affektbild wird dabei zum entscheidenden Vermittler der szenisch aufbereiteten emotionalen Konflikte. Die Notwendigkeit der künstlichen und künstlerischen Aufbereitung des Affekts betont auch Lessing in seinen Ausführungen über den Schauspieler. Im dritten Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie schreibt er 1767: »Denn die Empfindung ist etwas Inneres, von dem wir nur nach seinen äußeren Merkmalen urteilen können. Nun ist es möglich, daß gewisse Dinge in dem Baue des menschlichen Körpers diese Merkmale entweder gar nicht verstatten, oder doch schwächen und zweideutig machen.«18 Lessing geht hier einen entscheidenden Schritt über die Grundannahme jeglicher Ausdruckstheorie hinaus: Der menschliche Körper als solcher zeigt die Affekte nicht unmittelbar – Physis und Psyche korrespondieren nicht miteinander. Lessing verabschiedet das cartesianische Modell einer Körpermaschine, das Körper und Seele in einem mechanischen Wechselverhältnis gesehen hatte.19 Zugleich verrät sein grundsätz18 Gotthold Ephraim Lessing: Hamburgische Dramaturgie, in: ders.: Werke und Briefe, hg. von Wilfried Barner, Bd. 6, Frankfurt a.M.: Deutscher Klassiker Verlag 1985, S. 197. 19 Vgl. Descartes’ Definition der Körpermaschine in Les passions de l’âme (1649): »Demnach unterscheidet sich der Körper eines lebendigen Men-
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licher Einwand Zweifel an der vermeintlichen Natürlichkeit des Affektausdrucks.20 Allenfalls unterscheidet Lessing Grade der körperlichen Beherrschbarkeit und beschränkt damit die Möglichkeiten von Affektkontrolle. Das Gesicht verzeichne noch am deutlichsten »die Spuren des Affekts«, weil wir »Miene und Auge nicht so urplötzlich in unserer Gewalt [haben], als Fuß oder Hand.«21 Lessing weist dem Gesicht erneut eine privilegierte Position zu, setzt aber der Affektkontrolle durch die fehlende Beherrschbarkeit der Mimik und des Blicks deutliche Grenzen. Zugleich sieht er den psychologischen Zusammenhalt der Affekt-Ausdrucksbeziehung durch ein Übermaß an Kontrolle bedroht. Die Gefahr, die Lessing ausmacht, heißt Affektation: »Reiz am unrechten Orte, ist Affektation und Grimasse; und eben derselbe Reiz zu oft hinter einander wiederholt, wird kalt und endlich ekel.«22 Die Grimasse stellt das Zerrbild des Affekts dar, so wie sich Diderot und Lessing die mimetische schauspielerische Darstellung seiner äußeren Anzeichen denken. Während die Wiederholung dieser sichtbaren Merkmale den Schauspieler im Idealfall dazu befähigen soll, Affekte dem Theaterpublikum glaubhaft zu vermitteln, untergräbt die falsch plazierte Mimik, der »Reiz am unrechten Orte«, seine Glaubwürdigkeit, weil sie den Konventionen des mimetischen Affektausdrucks widerspricht. Der Selbstkontrolle durch den Schauspieler stellt Lessing die Fremdkontrolle durch den Zuschauer gegenüber, der ebenfalls die verbindlichen Ausdruckszeichen und ihre Darstellungskonventionen kennt. Mit diesem Schauspielertypus etabliert sich zugleich ein neues Paradigma der Selbst- und Fremdbeobachtung: »Der Schauspieler als Beobachter zerlegt Charaktere, moralische Eigenarten, Verhaltensgewohnheiten und selbst große Gefühle in kleine und kleinste Gesten, welche dem normalen Auge kaum erkennbar sind.«23 Im 19. Jahrhundert wird sich eine bürgerliche Kultur diese Beobachtung gestischer Nuancen aneignen, um ihre Mitglieder zu überwachen bzw. der Selbstkontrolle zu unterwerfen.
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schen von dem eines toten ebenso wie eine Uhr oder ein anderer Automat, d.h. eine selbstbewegliche Maschine, die aufgezogen ist und damit in sich das körperliche Prinzip der Bewegungen, für die sie bestimmt ist und alles zu ihrer Tätigkeit Nötige hat, von einer Uhr oder Maschine, die zerbrochen ist und in der das Prinzip ihrer Bewegung nicht mehr wirkt« (René Descartes: Über die Leidenschaften der Seele, in: ders.: Ausgewählte Schriften, hg. von Gerd Irrlitz, Leipzig: Reclam 1980, S. 233). Die Transponierbarkeit willkürlicher Zeichen in natürliche und umgekehrt sieht Elmar Locher als die eigentliche Pointe von Lessings Schauspieltheorie (vgl. ders.: »Gestik und Physiognomik«, bes. S. 162). G. E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie, S. 201. Ebd., S. 203. U. Geitner: Sprache der Verstellung, S. 313.
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Diderots Schrift und seine Rezeption durch Lessing deuten eine epistemologische Wende im Wissen um die Affekt-Ausdrucksbeziehung an, die die experimentelle Physiologie und die empirische Psychologie ins Werk setzen werden:24 Beide durchbrechen die Logik dieser Beziehung, indem sie den Affekt durch eine Darstellungstheorie obsolet werden lassen, die allein auf dessen äußere Anzeichen vertraut. Gewährsmann dieser Theorie ist ein Schauspieler, der die äußeren Affektzeichen beherrscht und zur Steigerung des Ausdrucks bewußt einsetzt. Auf dieser Privilegierung der sichtbaren Affektzeichen baut um 1850 Duchenne de Boulogne sein elektrophysiologisches Experimentalsystem auf. Die Vorstellungsbilder des Affekts, erkennt der Psychologe Wilhelm Wundt dann in seiner Physiologischen Psychologie zwei Jahrzehnte später, sind durch ein Netz von Assoziationen derart miteinander verknüpft, daß sie auch auf andere Affekte übertragen werden können. Was nichts anderes für das psychologische Denken in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts heißt, als daß die Seelentätigkeit als sich in Bildern vollziehend betrachtet wird und daß innere Bilder mit äußeren in Deckung gebracht werden können. Die Visualisierung des motus animae ist mit dem fotografischen Entwicklungsprozeß selbst verglichen worden: Inneres Vorstellungsbild und äußeres Bild sollen sich zueinander verhalten wie latentes und fixiertes fotografisches Bild. Es waren schließlich Sigmund Freud und Walter Benjamin, die diese Bildlogik in die epistemologische Figur eines »Photoapparates der Erkenntnis« gefaßt haben.25 Freud hat sich das »Instrument der Seelenleistung« als »photographischen Apparat« vorgestellt und ebenfalls das »Verhältnis der bewußten Tätigkeit zur unbewußten« in Analogie zur fotografischen Bildgenerierung bestimmt,26 Benjamin hingegen die dialektische Erkenntnis der Geschichte mit der Generierung des fotografischen Bildes verglichen.27
24 Joseph R. Roach stellt Diderots Interesse an Anatomie und Physiologie explizit heraus; vgl. ders.: The Player’s Passion. Studies in the Science of Acting, Newark: Univ. of Delaware Press 1985, S. 116-159. 25 Vgl. Norbert Bolz: Theorie der neuen Medien, München 1990, S. 71-82, bes. S. 74. 26 Sigmund Freud: Studienausgabe, hg. von Alexander Mitscherlich, Frankfurt a.M.: Fischer (8. bzw. 6. Aufl.) 1989, Bd. 2: Die Traumdeutung, S. 512; Bd. 3: Psychologie des Unbewußten, S. 34. 27 In einem Methodenfragment, das seinem Baudelaire-Buch als Einleitung vorangestellt werden sollte, hat W. Benjamin diesen Vergleich expliziert; vgl. ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I/3, S. 1161-1167; 1220.
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2 . 2 P s y c ho l o g i s ier ung d es A us d r uc k s Im Verlauf des 19. Jahrhunderts geraten durch die Psychologisierung des Affektausdrucks die am artifiziellen Schauspiel orientierten Körperzeichentheorien des ausgehenden 18. Jahrhunderts zunächst in Vergessenheit. An deren Stelle treten Körperausdruckstheorien, die den Affektausdruck innerhalb des komplexen Verhältnisses von Natur und Kultur renaturalisieren, und eine detektivische Beobachtungskultur, die sich auf die unbewußten Affektregungen spezialisiert hat. Die sich etablierende wissenschaftliche Psychologie verpflichtet den Affektausdruck auf allgemeine Gesetze, die auch für das artifizielle Schauspiel Geltung beanspruchen. Sie glaubt (wieder) an die Natur des Affekts und seiner Ausdrucksformen. ›Natürlich‹ soll der Affektausdruck sein, weil er ›natürlichen‹ Körperbewegungen entspreche. Diese stellen den Affekt nicht dar, sondern verkörpern ihn. Die Psychologie legt ihren wissenschaftlichen Erkundungen eine strenge Kopplung von innerem Empfinden und äußerem Ausdruck zugrunde. Großen Wert mißt sie dabei der Unterscheidung von willkürlichem und unwillkürlichem Affektausdruck bei. Gegenüber den Schauspieltheorien aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts, die ebenfalls zwischen intentionalen und nichtintentionalen Aspekten des Schauspiels unterschieden hatten, geht es den Psychologen jedoch nicht um eine Wahrheit des Körpers in der Kunst, sondern um die Gesetzmäßigkeiten in der Natur des Affektausdrucks selbst. Das heißt auch, daß die Vorstellung einer allgemeinen menschlichen ›Natur‹ zugunsten wissenschaftlich begründbarer Ausdrucksgesetze aufgegeben wird.28 Große Aufmerksamkeit wird nun auf die Erforschung von Details des äußeres Erscheinungsbildes und der Körperbewegungen gelegt, in denen ein Individuum unwissentlich sein Inneres preisgebe. Mit der Jagd auf scheinbar nebensächliche Indizien etabliert sich zugleich ein Voyeurismus, der die Gegenbewegung zum »große[n] Thema des 19. Jahrhunderts« bildet: der »Angst vor der unwillkürlichen Charakteroffenbarung.«29 Diese Angst resultiert für Richard Sennett aus einer veränderten Auffassung von Subjektivität, die ganz auf die Naturalisierung des Affektausdrucks ausgerichtet sei. Diese Auffassung zieht den Unterschied zwischen Rolle und Subjekt, die das 18. Jahrhundert in der Debatte um 28 Richard Sennett sieht mit dieser Entwicklung auch die »Idee des natürlichen Charakters, wie sie im Zeitalter der Aufklärung geläufig war,« aufgegeben: »In dem Maße, wie der Glaube der Aufklärung an ein allen Menschen Gemeinsames untergeht, wird ein Zusammenhang zwischen dem Wechsel der äußeren Erscheinung und der Instabilität der Persönlichkeit selbst hergestellt« (ders.: Verfall und Ende, S. 178) 29 Ebd.
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die Verstellung namhaft gemacht hatte, zugunsten einer unmittelbaren Kohärenz von Affekt und Ausdruck wieder ein:30 Eine Grenze zwischen dem inneren Charakter und der augenblicklichen äußeren Erscheinung ist nicht erkennbar; wenn sich also die äußere Erscheinung verändert, so offenbaren sich jedem genauen Beobachter auch die inneren Wandlungen. Maskierung gibt es nicht; jede Maske ist ein Gesicht. Immanenz der Persönlichkeit, Unbeständigkeit der Persönlichkeit, unwillkürliche Offenbarung der Persönlichkeit.31
Auf diese Formel bringt Sennett seine Beobachtungen zur Entwicklung der Subjektivitätsauffassung im 19. Jahrhundert. Sie macht (›natürlichen‹) Ausdruck und (›künstliche‹) Darstellung von Affekten ununterscheidbar. Wo es um die Verkörperung von Affekten und nicht mehr um ihre Darstellung geht, kann folgerichtig auch der Schauspieler nicht mehr als souveräner Rollenspieler angesehen werden. Vielmehr sollen subtile Details der Kleidung, des Habitus und Verhaltens, kleinste mimische und gestische Regungen den ›wahren‹ Gemütszustand eines jeden Menschen offenlegen. In den Fokus der Aufmerksamkeit geraten daher zwangsläufig die transitorischen Zeichen des Affekts, die über einen längeren Zeitraum hinweg beobachtet werden müssen. Und es stellt sich die Frage, wie diese flüchtigen Offenbarungen des Inneren erkannt, objektiviert und gedeutet werden können. Über diese Frage findet der Schauspieler zurück in die Theorie des Körperausdrucks. An ihm läßt sich studieren, was die Menschen sonst so sorgfältig verbergen: die ungewollt verräterischen Zeichen des Affekts. Der Nuancenreichtum und die Detailfülle seines Spiels werden nun zu Richtlinien der Erkennbarkeit selbst verborgen gehaltener Affekte, und noch das Schweigen oder das Ausbleiben von Mimik wird zum beredten Ausdruck hochgerechnet. Dieser Beobachtungsimperativ, der das souveräne Rollenspiel mehr und mehr in den Hintergrund treten läßt, ist jedoch nur vor der Folie einer neu erwachten wissenschaftlich fundierten Objektivität verständlich, die in der Mitte des 19. Jahrhunderts auch zur ästhetischen Meßlatte erhoben wurde. Ihr ist der Glaube eigen, daß sich subjektives Verhalten objektivieren lasse. Mit dem Objektivitätspostulat ist zugleich ein Per30 Dieser Auffassung einer Ausdruckstransparenz scheint noch Erika FischerLichte das Wort zu reden. Für sie dominiert »die Ausdrucksfunktion der mimischen Zeichen [...] immer da [...], wo das zeichenproduzierende Subjekt sich unbeobachtet glaubt«. Durch den Ausfall von Selbstkontrolle komme die ›Wahrheit‹ des Affekts zu Tage, würden die Körperzeichen zum Körperausdruck geläutert (dies.: Semiotik des Theaters, S. 53). 31 R. Sennet: Verfall und Ende, S. 186.
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spektivenwechsel verbunden, der sich am vergleichenden Sehen marginaler Details schult bzw. auf deren Sichtbarmachung dringt.32 Die Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren wird dabei neu gezogen. Für die Sichtbarkeit affektiver Regungen auf dem Gesicht, also dem Axiom, daß sich ein Affekt in dessen Zügen offenbaren müsse, heißt das: Selbst nichtexpressive Gesichter drücken etwas aus; sie verbergen Affekte, die eigentlich nicht – das will zumindest die zeitgenössische empirische Psychologie glaubhaft machen – verborgen werden können. Damit etabliert sich eine Sichtbarkeit von Zeichen, die bisher unsichtbar waren, weil sie flüchtig, marginal und damit unbeobachtbar erschienen. Die strikte Visualisierung des Affekts wird zum Kennzeichen naturalistischer Theaterästhetiken. Im Zuge der psychologischen Ausrichtung des Schauspiels tritt das mimische und gestische Spiel stärker in den Vordergrund. Diese Tendenz des modernen Dramas hatte Hegel in seinen Vorlesungen über die Ästhetik auf den Wegfall der starren Maske zurückgeführt, an deren Stelle » das Mienenspiel, die Mannigfaltigkeit der Gebärde und die reichhaltig nuancierte Deklamation« trete.33 Dem Schauspieler falle zugleich die Aufgabe zu, »mit dem Charakter, den er darstellt, ganz und gar zusammenzugehen«34 und die Rolle gemäß der Intentionen des Autors zu gestalten.35 Im Theater des Naturalismus muß der Schauspieler seine Individualität ganz in den Dienst der Rolle stellen und seine Spielweise einer Psychologie unterwerfen, in der »das vielseitig nuancierte Gebärdenspiel von ganz anderer Bedeutung« sei.36 Hegel stellt in dieser Passage eine Relation her zwischen der Individualität des Schauspielers, seiner »Eigentümlichkeit«, und dem Nuancenreichtum von Mimik und Gestik. Deren Distinktheit bildet sein principium individuationis. Die Psychologisierung des Rollenspiels verlangt nach einem Naturalismus der Darstellung. Durch sie wird zugleich die Distanz von Rollenspiel und Empfindung des Schauspielers kassiert, für die sich Diderot und Lessing stark gemacht hatten. Die ästhetische Doktrin des Naturalismus entspricht auf epistemologischer Ebene dem Objektivitätsanspruch der wissenschaftlichen Psychologie. So verwundert es nicht, daß die wissenschaftliche Untersu32 Diese Schulung des Blicks beschreibt Carlo Ginzburg als Wissensformation, die medizinische Semiotik, Kunstwissenschaft, Kriminalistik und Psychoanalyse umfaßt (vgl. ders.: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst, Berlin: Wagenbach 1995). 33 G.F.W. Hegel: Vorlesungen, S. 299. 34 Ebd., S. 298. 35 Diese »emphatische Identifikation« interpretiert Andreas Käuser als »spezifisch moderne Übersetzungsleistung«, wodurch »die semiotische Trennung von individuellem Körper des Schauspielers und sprachlichen Text des Dichters« überwunden werde (ders.: »Archaik und Moderne«, S. 533). 36 G.F.W. Hegel: Vorlesungen, S. 298.
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chung der Affekte ihrerseits auf die Schauspieltheorie zurückwirkt. So veröffentlicht Karl Straup 1892 einen Katechismus der Mimik und Gebärdensprache, der die »Lehren über die menschliche Mimik und Gebärdensprache in wissenschaftlicher und doch allgemeinverständiger Form zusammenzufassen« suchte.37 Sein Unterrichtsbuch widmet Straup dezidiert dem Schauspieler der naturalistischen Bühne, die nach »Wahrheit« und »Natur« verlange: »Die Mimik des Menschen mit ihren tausendfältigen Nuancen kennen zu lernen, die Gesetze zu wissen, nach welchen er sein mimisches Ausdrucksvermögen in künstlerischer und doch naturwahrer Form lenken muß, ist die dringendste Pflicht des darstellenden Künstlers.«38 Den Naturalismus und seinen primitiven Psychologismus will der Theatertheoretiker und -kritiker Hermann Bahr durch eine »neue Psychologie« überwinden, die sich nicht nur wieder den états d’âme zuwenden müsse, sondern sich auch durch eine neue Methode auszeichne, um »die Vorbereitungen der Gefühle, bevor sie sich noch ins Bewußtsein hinein entschieden haben«, also »die Gefühle in dem sensualen Zustande vor jener Prägung« aufzusuchen.39 Dagegen habe die »alte Psychologie nur die Resultate der Gefühle, wie sie sich am Ende im Bewußtsein ausdrücken, aus dem Gedächtnis gezeichnet«.40 Die neue wissenschaftliche Psychologie, von der Bahr spricht, widmet sich nicht nur vornehmlich den unbewußten Abläufen beim Affektausdruck, sie analysiert auch auf experimentellem Wege die körperlichen Effekte von Affekten als psychophysische Prozesse – kurz: als Ausdrucksbewegungen. Dieser epistemologische Wechsel der modernen Psychologie schlägt sich in der zeitgenössischen Dramatik und Dramentheorie nieder. In seinem 1891 geschriebenen Essay über Die neue Psychologie verfolgt Bahr nicht nur einen strikten Sensualismus, er begibt sich auf die Suche nach einer adäquaten Darstellungstheorie, um gerade die unbewußten inneren Seelenzustände zu objektivieren: »Es handelt sich um eine Methode, die Ereignisse in den Seelen zu zeigen, nicht von ihnen zu berichten.«41 Erzählungen in der Ich-Form wie Beichte oder Rapport, die der Selbsterkenntnis dienen und dem Bewußtsein unterstellt sind, müssen hier – wo es um »die Erscheinungen auf den Nerven und Sinnen«42 geht – versagen. An anderer Stelle hat Bahr eine Lösung dieses Darstellungs37 Karl Straup: Katechismus der Mimik und Gebärdensprache, Leipzig: J.J. Weber 1892, S. V. 38 Ebd., S. 10 (meine Hervorhebung, P.L.). 39 Hermann Bahr: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887-1904, ausgewählt, eingeleitet und erläutert von Gotthart Wunberg, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1968, S. 58. 40 Ebd. 41 Ebd., S. 60 (meine Hervorhebung, P.L.). 42 Ebd.
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problems gegeben: »Will man das Seelische ausloten und diejenigen Regungen beschreiben, welche ursprünglich oder elementar gelten können«, so resümiert er den Paradigmenwechsel, dann muß man das Seelische bildhaft zur Anschauung bringen. Das Interesse der literarischen Psychologie der Jahrhundertwende richtet sich auf die seelischen Regungen, welche jenseits der Domäne des Verstandes in Bewegung sind. Man will dem Seelenleben in die Werkstatt schauen. Mit den durch das Bewußtsein gemodelten Endzuständen, Fakten und Theorien gibt man sich nicht mehr zufrieden.43
Bahrs Votum für die unbewußten Körperbewegungen, auf die sich das Interesse nicht nur der Psychologie, sondern auch der Dramatik und Literatur seiner Zeit gerichtet habe, erhebt nicht nur das bedeutende körpersprachliche Detail zum Drehpunkt seiner psychologischen Seelenkunde, sondern insistiert auf der Notwendigkeit einer Visualisierung psychischer Prozesse. Nicht zuletzt gründete Sigmund Freuds Theorie des Unbewußten und seine therapeutische Praxis der Psychoanalyse wiederum auf einer Zeichentheorie, die in den körperlichen Symptomen Kryptogramme psychischer Konfliktlagen sah und deren verdeckte Spuren zu entschlüsseln suchte. Wie Morellis Methode der Zuschreibung von Gemälden und Sherlock Holmes kriminalistische Finesse gehört sie einer Diskursformation an, die in winzigen Details nach dem Ursprung – sei es eines Affekts, eines Bildes oder Verbrechens – sucht. Jacques Derrida hat diese Diskurskonstellation als »einzigartige Konkurrenz im technischen Dispositiv« beschrieben, wodurch Psychoanalyse und Fotografie »beinahe zum gleichen Zeitpunkt« in der »Lektüre des bedeutsamen ›Details‹ in einem blow up, im Verlauf eines Vergrößerungs-, Schneide- oder Montagevorgangs« miteinander verbunden seien.44 Derrida hebt die mediale Verfaßtheit dieser Spurensuche hervor, die am fotografischen Detailreichtum und einer apparativ erzeugten Objektivität ausgerichtet ist. Als Vorbild einer solchen optischen Evidenz unbewußter gestischer und mimischer Regungen hat Hermann Bahr immer wieder die Schauspielerin Eleonora Duse betrachtet, in deren noch so nebensächlich erscheinenden, gleichwohl kalkulierten Körperbewegungen das zeitgenössische Publikum das Unbewußte triebhafter Regungen zu erkennen
43 Ebd. (meine Hervorhebung, P.L.). 44 Jacques Derrida: Recht auf Einsicht, Graz u.a.: Böhlau 1985, S. XXI.
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glaubte. Bahr erlag als Kritiker wie viele andere Bewunderer45 oft genug ihrem faszinierenden, nuancierten Rollenspiel, das »einen Furor des Ausdruckes und eine Macht über unsere Sinne, unsere Nerven erreichen [konnte], die das Theater vor ihr niemals gekannt hat«.46 Faszinierend war in dieser Perspektive vor allem die hemmungslose Selbstentblößung, zu der die Schauspielerin ihre Figuren trieb. Von dieser Exponierung körperlicher Affekte ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur Ikonographie der Hysterie, den Fotografien von Hysterikerinnen, die JeanMartin Charcot an der Pariser Salpêtrière anfertigen ließ.47 Die Zuordnung von nuancenreichem Spiel und Individualität wird im Sinne einer Komplexitätssteigerung im modernen Diskurs der Individualität wirksam und zirkuliert als Epistem zwischen wissenschaftlichen und ästhetischen Ausdruckstheorien. So erforscht zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Ausdruckspsychologie experimentell individuelle Ausdrucksleistungen und ihre Rezeption als subjektiver Eindruck. Gleichzeitig stellt der populäre Film eine Bühne und Testmöglichkeiten für ein differenziertes schauspielerisches Mienenspiel bereit. Als Paradigma dieser gesteigerten Individualität betritt der Schauspieler – oder genauer: die Schauspielerin – wiederum die Bühne der Ausdrucksforschung. So entwirft Georg Simmel zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Bild einer »weiblichen Kultur« eine ausdruckstheoretische Utopie, in der die »Formel des weiblichen Wesens« dem »Wesen der Schauspielkunst« entspreche, weil »die weibliche Psyche den inneren Vorgang – soweit er nicht durch Sitte oder Interesse Verhüllung erfordert – unmittelbarer in seine Äußerung umsetzt, bis zu der eigentümlichen Verbundenheit, die bei den Frauen seelische Alterationen so viel leichter als bei Männern in körperliche übergehen läßt.«48 Simmel revitalisiert in seinem kulturtheo45 Rilke und Hofmannsthal haben wiederholt über Eleonora Duse geschrieben. Tschechow beeindruckte sie ebenso wie Stanislawski, »aus dessen Schauspieltheorie ihr Einfluß nicht wegzudenken« sei (Matthias Müller: »Sarah Bernhardt — Eleonora Duse. Die Virtuosinnen der Jahrhundertwende«, in: Renate Möhrmann [Hg.]: Die Schauspielerin — Eine Kulturgeschichte, Frankfurt a.M.: Insel 2000, S. 255-291, hier S. 285). 46 Hermann Bahr: »Die Duse« in: Bianca Segantini, Francesco von Mendelsohn (Hg.): Eleonora Duse. Bildnisse und Worte, Berlin: Rudolf Kaemmerer Verlag 1926, S. 17. 47 Vgl. Elaine Showalter: Hystorien. Hysterische Epidemien im Zeitalter der Medien, Berlin: Aufbau 1999; Petra Löffler: »Fragile Gesten — exzentrische Mienen. Eleonora Duse und das Schauspiel der Hysterie«, in: Isolde Schiffermüller (Hg.): Geste und Gebärde. Beiträge zu Text und Kultur der Klassischen Moderne, Innsbruck/Wien/München: Studienverlag, Bozen: Edition Sturzflüge 2001, S. 40-65. 48 Georg Simmel: »Weibliche Kultur«, in: ders.: Hauptprobleme der Philosophie, Philosophische Kultur, hg. von Rüdiger Kramme und Ottheim Rammstedt (= Gesamtausgabe, Bd. 14), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 417459, hier S. 442f. Wie sehr Simmel diese Utopie beschäftigte, belegt die
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retischen Entwurf entscheidende ausdruckstheoretische Annahmen: Er erinnert daran, daß der Schauspieler bereits in der Antike Paradigma ausdruckstheoretischer Überlegungen war und schreibt die vor allem vom Geschlechterdiskurs der Aufklärung immer wieder vorgebrachte Überzeugung fort, daß Frauen wesenhaft prädestiniert zum »unmittelbaren« Affektausdruck seien. Was dort unter dem Stichwort der Verstellung als künstlicher Ausdruck abgewiesen wurde, heißt bei Simmel lediglich »Sitte oder Interesse« – wodurch er den moralphilosophischen Reglementierungen des Affektausdrucks die Speerspitze nimmt. In Simmels »weiblicher Kultur« ist der Affektausdruck zu sich gekommen; er versöhnt seine paradoxe Stellung zwischen Natürlichkeit und Künstlichkeit, indem er die Schauspielkunst zum Wesen der Kultur naturalisiert.
2 . 3 » N eu e r M i m u s d ur c h d i e K a m er a « Simmels Utopie einer »weiblichen Kultur« erweist sich in archäologischer Perspektive als Kulminationspunkt einer breiten Diskursbewegung. Diese entdeckt mit dem Mimus zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht nur den antiken Vorläufer des modernen Schauspielers wieder, sondern propagiert darüber hinaus mit seiner Wiedereinsetzung eine Auffassung mimischer Expressivität, die den Affekt an seinen ausdruckstheoretischen ›Ursprung‹ zurückführen soll. Bereits die gemeinsame Etymologie von Mimus, Mimik und Mimesis etabliert einen direkten Zusammenhang zwischen Affekt und Ausdruck, zwischen psychischer und physischer Bewegung, die vom Tier kommt und im Tanz sublimiert wird. Gerade im beginnenden 20. Jahrhundert werden kulturanthropologische Studien wie Max von Boehms populäres Buch Der Tanz nicht müde, diesen Ursprungsmythos in Erinnerung zu rufen: Jeder Affekt mache sich in Bewegung Luft, je stärker die Empfindung, je lebhafter ihr Ausdruck »beim Menschen wie beim Tier, bei beiden um so heftiger, je jünger das Individuum ist. Die Intensität der Triebe setzt sich physiologisch in eine gesteigerte Erregbarkeit um, das Gehen wird zum Hüpfen, das Laufen zum Springen, Bewegungen, die bei längerer Wiederholung, durch die taktmäßige Form, die sie annehmen, von selbst zum Tanz werden.«49 Am Anfang jeder mimetischen Darstellung, also auch der Mimik, steht die Editionsgeschichte des Essays. Er erschien zuerst 1902 ohne die zitierte Passage in der Neuen deutschen Rundschau und wurde 1911 in überarbeiteter Form in den Band Philosophische Kultur aufgenommen. 49 Max von Boehm: Der Tanz, Berlin: Volksverband der Bücherfreunde, Wegweiser-Verlag 1925, S. 7.
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Wiederholung einer psychischen Intensität durch eine physische. Über deren Verhältnis geben die historischen Auffassungen des Menschen Auskunft, die den Zusammenhang von Physis und Psyche definieren.50 In seiner 1903 erschienen Darstellung über den Mimus des antiken Theaters setzt Hermann Reich seinen Ursprung sogar mit dem des Dramas gleich: ›Mimus‹ sei der Name eines »Urdramas«, das sich, wie Joseph Gregor in seiner Weltgeschichte des Theaters 1933 ausführt, aus dem primitiven Maskentanz entwickelt habe und mit der antiken Komödie konkurriere: Am Ursprunge steht zweifellos ein tierischer Tanz, der sich der Maske des Tieres, auch seines Felles bedient. Die Tracht des Mimus ist ein anliegendes Schauspielertrikot, ein Schauspielerkittel, vom künstlichen Bauche mächtig aufgetrieben, eine tierische, breitmaulige Maske und das bekannte unverkennbare Zeichen seiner niedrigen, tierischen Abstammung und des alten Fruchtbarkeitsgottes, der Phallus.51
Durch die Rückführung auf den Tanz ist das »Urdrama« des Mimus zugleich als mimetisches und kinetisches gekennzeichnet, denn »mímesis« bedeutete in der griechischen Kultur »Darstellung durch Tanz«.52 Seiner animalischen Herkunft wegen wurde der Mimus zugleich auf die Präsentation einer vorkulturellen Körperlichkeit abonniert, die ihm das unkontrollierte Vorzeigen von Affekten gestattete. Diesem Umstand trägt die bei Diomedes überlieferte Definition Rechnung: »Der Mimus ist die Mimesis (Nachahmung) des Lebens, das moralisch Zulässige wie das
50 Es ist hier nicht der Ort, die Geschichte der Leib-Seele-Problematik aufzurollen. Erinnert sei an dieser Stelle nur an die wissensgeschichtlichen Arbeiten Michel Foucaults, der anhand von Phänomenen wie Sexualität, Krankheit oder Wahnsinn den Körper als Schauplatz diskursiver Wissensproduktion und Machtausübung behandelt. Verwiesen sei außerdem exemplarisch auf Georg Braungart: Leibhafter Sinn. Der andere Diskurs der Moderne, Tübingen: Niemeyer 1995; G. Mattenklott: Der übersinnliche Leib; Philipp Sarasin: Reizbare Maschinen. Eine Geschichte des Körpers 1765-1914, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2001 sowie auf die Katalogbücher: Wunderblock. Eine Geschichte der modernen Seele (Wien 1989) und L’âme du corps. Arts et sciences, 1793-1993 (Paris 1993/94). 51 Joseph Gregor: Weltgeschichte des Theaters, Zürich: Phaidon-Verlag 1933, S. 122; 127. 52 Vgl. Friedrich Kittler: »Von der Poesie zur Prosa. Bewegungswissenschaften im 19. Jahrhundert«, in: Gabriele Brandstetter/Hortensia Völckers (Hg.): ReMembering the Body. Körper-Bilder in Bewegung, OstfildernRuit: Hatje Cantz 2000, S. 260-270, hier S. 260. Kittler bezieht sich wiederum auf eine Studie von Hans Koller.
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Anstößige umfassend.«53 Dieses Ausspielen animalischer Triebe fand daher außerhalb der antiken Theaterbühne statt. Der Mimus konnte so »neben dem großen Drama der Griechen jederzeit eine selbständige Existenz« behaupten.54 Joseph Gregor beschreibt die Bühne des Mimus als primitiv und dekonstruktiv, die »inneren Prinzipien des griechischen Theaters« verhöhnend: »Es gibt selbstverständlich keinen Chor, [...] die Einheit von Zeit und Ort ist [...] ein lächerlicher Wahn und vor allem: es gibt Frauen, Miminnen, die an Frechheit ihres Auftretens mit den männlichen Kollegen wetteifern.«55 Die Schranken, die das antike Theater der Darstellung der Affekte und ihren Darstellern auferlegt hatte, reißt der Mimus bedenkenlos ein: Nicht nur verzichtet das mimische »Urdrama« auf die Maskierung seiner Darsteller, die also auch keine festgelegten Rollen – personae – spielen, und gibt damit der Mimik eindeutig den Vorzug vor allen anderen Darstellungsmitteln. Nicht umsonst lassen sich Mimik und Mime vom selben Wortstamm ableiten, fungieren die Mienen als pars pro toto seines Tuns. In der antiken Poetik bezeichnete der Begriff ›Mimus‹ den Darsteller einer Rolle wie seine Darstellung als solche.56 Zudem läßt der Mimus auch Frauen zu und propagiert eine affektive Verausgabung, die sowohl der antiken Tragödie als auch Komödie fremd bleiben mußte. Sein Darsteller ist für Gregor nicht von ungefähr ein »Stegreifspieler«, der die »Vielfalt des niedrigen Lebens« nachbildet.57 Der Mimus ist einerseits als Possenreißer und Stegreifspieler noch stärker als der Schauspieler des antiken Theaters ein Außenseiter der Gesellschaft. Er unterliegt daher nicht den (auch auf der Bühne) geltenden
53 Zit. nach Helmut Wiemken: Der griechische Mimus. Dokumente zur Geschichte des antiken Volkstheaters, Bremen: Schünemann 1972, S. 14, der dieser Definition folgt: Die »derbe, realistische Schauspielkunst des Mimus [scheute] keinen Effekt, mochte er noch so drastisch sein« (ebd., S. 19f). Wiemken setzt sich u.a. kritisch mit Reichs Mimus-Schrift auseinander und hebt den profanen Charakter des mimischen Spiels als volkstümliche Unterhaltungskunst hervor (ebd., S. 33). 54 Julius Bab: Das Theater im Lichte der Soziologie, unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1931 mit einem Geleitwort von Alphons Silbermann, Stuttgart: Ferdinand Encke Verlag 1974, S. 27. 55 J. Gregor: Weltgeschichte, S. 127. 56 Laut Hartwig Kalverkämper ist der Begriff »mímos« in der Bedeutung »Nachahmer, Nachahmung, Schauspieler« seit dem 6. Jh. v. Chr. nachweisbar und bezeichnet zuerst in der Poetik des Aristoteles die literarische Gattung der Pantomime, die besonders in der römischen Kaiserzeit beliebt war (ders.: »Mimik«, Sp. 1334). 57 J. Gregor: Weltgeschichte, S. 128. H. Kalverkämper benennt eine weitere literarische Gattung des Mimus, »die volkstümliche, oft derbe Stoffe aus dem Alltag monologisch und dialogisch verarbeitet« habe. Texte dieser Gattung sind nicht überliefert worden, weil die schauspielerische Improvisation im Vordergrund stand (ders.: »Mimik«, Sp. 1337).
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Normen der Affektkontrolle. Das gilt verstärkt für weibliche Darsteller, die ihre männlichen Kollegen in der Drastik der körpersprachlichen Darstellung von Affekten noch übertreffen sollen. Außenseitertum und eine nahezu moralisch verwerfliche Intensität des Affektausdrucks bestimmen die wechselvolle Gattungsgeschichte des Mimus: Nach seiner Blüte in der römischen Kaiserzeit wurde der Mimus im 6. Jh. n. Chr. von Justitianus verboten und bis ins Mittelalter bekämpft, bevor er seit dem 16. Jahrhundert durch das volkstümliche Theater insbesondere der Comedia dell’arte wiederbelebt wurde. Daß der Mimus auch ausdruckstheoretisch nicht ganz in Vergessenheit geriet, belegt z.B. Diderots Schauspieltheorie, die den Schauspieler als Stegreifspieler anlegte. Die Pantomime entwickelte sich seit dem 17. Jahrhundert zu einer eigenen Gattung. Insbesondere aus den populären Theaterformen des 19. Jahrhunderts, aus Vaudeville und Volkstheater, ist die Darstellungskunst des Pantomimen nicht wegzudenken.58 Am 1816 in Paris eröffneten Théâtre des Funambules wurden Pantomimen wie Jean-Baptiste-Gaspard Deburau und sein Sohn Charles zu Stars gekürt.59 Sie verkörperten wie die ebenfalls sehr populäre Karikatur wiedererkennbare Typen und Affekte. Die Sichtbarkeit und Verständlichkeit typisierter Physiognomien und kodifizierter Emotionen macht sie aneinander anschlußfähig – nicht umsonst ist der Pantomime Deburau in dieser Zeit ein beliebtes Motiv der Karikaturisten. Aus dieser diskursiven Konstellation heraus verwundert es nicht, daß der Mimus schließlich u.a. von Wilhelm Reich zu Beginn des 20. Jahrhunderts wiederentdeckt und darüber hinaus vor allem im Zusammenhang mit einem technischen Medium in Umlauf gebracht wird: dem ›stummen‹ Film.60 Dessen mimische und gestische Darstellungsweisen sind nun wieder gefragt; der Film wird zur Bühne eines ›neuen‹ Mimus. Die stumme, ausschließlich körpersprachliche Darstellung ihrer Akteure macht Film und Pantomime vergleichbar. Diese Analogie stellt ein wichtiges Strukturmerkmal in der Debatte um den stummen‹ Film dar.61 Bereits 1908 erinnert Hermann Häfker, eine bestimmende Figur der frühen Kinodebatte, an »›die Schönheit der Bewegung an sich‹«, die sich in
58 Ich folge hier der Darstellung von H. Kalverkämper: »Mimik«, Sp. 1334f. 59 Zur Popularität der Pantomime vgl. Judith Wechsler: A Human Comedy. Physiognomy and Caricature in 19th Century Paris, London: Thames & Hudson 1982. 60 J. Wechsler stellt klar, daß das Théâtre des Funambules, das seinem Namen den dort auftretenden Seiltänzern verdankt, ein ›stummes‹ Theater gewesen sei, indem u.a. wie im ›stummen‹ Film erklärende Schrifttafeln (»explanatory placards«) verwendet wurden (ebd., S. 44). 61 Vgl. Helmut Diederichs: Anfänge deutscher Filmkritik, Stuttgart: Verlag Robert Fischer u. Uwe Wiedleroither 1986, bes. S. 132-143.
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der Pantomime und im Tanz zeige.62 Er wagt außerdem die Prognose, daß »durch die Kinematographie die feine Kunst der Pantomime, d. h. des Gebärdenschauspiels, zu neuem Leben erweckt werden müsste«.63 Wie in der Pantomime, die einen eigenen Bewegungsstil ausgebildet habe, sei die Körperbewegung im Film Ausdruck: »Bewegung als Ausdruck« – so lautet Häfkers diskursbegründendes Schlüsselwort, denn der Film »trifft hier zeitlich mit neuen erfreulichen Ansätzen auf den Gebieten des Kunsttanzes, des Tanzes als Körperübung (›Callisthenies‹), der Schönheitsgebärde als Ausfluss körperlicher Erziehung (DelsarteÜbungen) u.v.a. zusammen«.64 Indem Häfker den Film in eine Linie stellt mit Ausdruckstanz, Gymnastik und Körperkultur, gewinnt sein Vergleich mit der Pantomime zeitdiagnostisches Profil: Sie wird zum Befund einer Ausdruckskultur der Bewegung. Auch der Psychologe Hermann Duenschmann erkennt 1912 im Kinematographen »ein Mittel zur mechanischen Wiedergabe von künstlerischen Produktionen«, das »in seinem sozialpolitisch und ästhetisch wesentlichsten Teile, eine Wiedergeburt der alten klassischen Pantomime« darstelle.65 Duenschmanns Vergleich verbindet zudem zwei massenpsychologische Argumente, die auf Gustave Le Bons 1895, im Jahr der Einführung des Kinematographen durch die Brüder Lumière, erschienene Schrift Psychologie des foules zurückgehen, und wendet sie auf Film und Pantomime an: Zum einen wirkten beide durch das Bild auf den empfänglichen Augensinn, zum anderen ließe sich die Zuschauermasse gerade durch Bilder affizieren: Wie diese, so wendet sich das Lichtspielbild, unter Ausschluß des Ohres, lediglich an das Auge. Die Personen welche uns vorgeführt werden, reden nicht, sie handeln! [...] Dieser besondere psychologische Umstand, nämlich die Tatsache, daß sich die im Lichtbilde dargestellte Handlung, ohne das Ohr bezw. die Sprache wesentlich in Anspruch zu nehmen, ausschließlich durch optische Mittel an unser öffentliches Empfinden wendet, ist von wesentlicher Bedeutung für die Erklärung der Wirkung auf die Volksmenge. Genau wie die Pantomime wirkt das Lichtbild nach Art eines in Handlung umgesetzten Gemäldes auf jene ein.66
62 Hermann Häfker: »Die Kulturbedeutung der Kinematographie und der verwandten Techniken«, in: Der Kinematograph, 2. Jg. (1908), Nr. 86, S. 1-4, hier S. 2. 63 Ebd. 64 Ebd., S. 3. 65 Hermann Duenschmann: »Kinematograph und Psychologie der Volksmenge« [1912], in: Albert Kümmel/Petra Löffler (Hg.): Medientheorie 18881933, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 85-99, hier S. 89. 66 Ebd.
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Wiederholt wird die massenpsychologische Wirkung des Films, die auf der Privilegierung des Auges und der Sichtbarkeit seiner Darstellungsmittel beruhe, in der ästhetischen Kinodebatte beschrieben. Herbert Tannenbaum führt diese Argumentation, ebenfalls 1912, in seiner Schrift Kino und Theater wirkungsästhetisch aus: »Die Eindringlichkeit optischer Vorgänge, welche die akustischer Eindrücke weit übertrifft, beflügelt die Einbildungskraft; es wird Tag und Nacht und wieder Tag in einem Film von 20 Minuten Dauer.«67 Wesentlichen Anteil an dieser Eindringlichkeit hat die Körpersprache des Filmschauspielers, die »in ihrer grundsätzlichen, stilistischen Wesensart der des sprechenden Menschen, des sprechenden und agierenden Schauspielers« entspreche und diese steigere. Deshalb müsse »die Kinodarstellung scharf von der Darstellung der Pantomime«, deren »Grundprinzip [...] die ornamentale, stilisierte Bewegung« sei, wie vom Drama unterschieden werden.68 Tannenbaum macht in seinen Ausführungen ein Argument von medientheoretischer Tragweite geltend: Die Darstellung des Filmschauspielers sei viel mehr an der ›Natur‹ des (sprechenden) Menschen und seiner Emotionen orientiert als die des Pantomimen – einfach weil der Film selbst als ein technisches Medium angesehen wird, das diese ›Natur‹ exakt reproduziere. Mit der Fokussierung der medialen Unterschiede in der Darstellungsweise von Pantomimus und Filmschauspieler vollzieht der Diskurs über den ›stummen‹ Film eine bedeutsame Wendung. Denn dieser zeichnet sich in Tannenbaums Argumentation durch eine Intensität der Sprechgebärde aus, die ihn als steigerbares Subjekt ausweist. Durch die gleichzeitige Absetzung vom Drama wie von der Pantomime sucht Tannenbaum die ästhetische Eigenständigkeit des Kinodramas in der besonderen Körpersprache des Filmschauspielers zu begründen, auch wenn er letztlich die »ganz neue, ganz eigenartige Ausdrucksmöglichkeit« des Films genealogisch auf die Pantomime zurückführt, wo sie »bei aller Neuheit ihre Wurzeln« habe.69 Mit dem ›stummen‹ Film gelangt in dieser Argumentation die körperliche Darstellung an ihren Ursprung im mimischen Drama zurück. Damit betreibt die frühe Filmdebatte zugleich eine folgenschwere Mythologisierung des Films, die in Béla Balázs‹ Filmtheorie Der sichtbare Mensch 1924 gipfelt.70 67 Herbert Tannenbaum: Kino und Theater, München: Verlag Max Steinebach 1912, S. 12. 68 Ebd., S. 21. Auch der Filmkritiker Joseph August Lux lehnt den Vergleich von Pantomime und Kinodrama ab (vgl. H.H. Diederichs: Filmkritik, S. 136, 140). 69 Ebd., S. 8. 70 Für Béla Balázs leistet der Film eine Normalisierung der Gebärdensprache, auf deren Grundlage sich »eine gewisse Normalpsychologie der weißen Rasse herausgebildet« habe. Der diskursiven Macht des Films werde nicht nur »ein einheitliches Schönheitsideal«, sondern »die einzige und
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Der Filmschauspieler wird in der Debatte um den ›stummen‹ Film zum Agenten einer gesteigerten, medial vermittelten mimischen Expressivität. Auch Hugo Münsterberg hat in seiner 1916 erschienenen psychologischen Studie Das Lichtspiel in Tannenbaums Sinne argumentiert: Der »Ausdruck innerer Zustände, das ganze System der Gesten« sei im Film »grundverschieden« von dem der modernen Pantomime: Im Unterschied zur stilisierten Körpersprache des Pantomimen nutze »der Lichtspieler die gewöhnlichen Kanäle seelischer Äußerung. Er benimmt sich einfach so, wie sich eine sehr emotionale Person benehmen würde«.71 Auf der Ebene der körpersprachlichen Mittel unterscheidet auch Münsterberg zwischen einem ›normalen‹ Affektausdruck beim Filmschauspieler, der sich einer »gewöhnlichen«, d.h. kulturell kodierten Mimik und Gestik bediene, und einem symbolischen beim Pantomimen. Wie für Tannenbaum ist für ihn jedoch die Frage der Medialität der Darstellung entscheidend: Während in der Pantomime wie im Drama anwesende Körper agierten, zeige der Film lediglich deren Abbild: »Die dennoch vorhandene, wirklich entscheidende Distanz zur körperlichen Realität wird dadurch geschaffen, daß das Bild des Schauspielers an die Stelle des Schauspielers selbst tritt.«72 Im Kontext dieser Fokussierung auf die gesteigerte Ausdrucksweise des Schauspielers im Film wird immer wieder auf seine ausdrucksstarke Mimik und die Visualisierungsmöglichkeiten der Kamera verwiesen. Die Kunst des Mimus erlebte im ›stummen‹ Film eine wahre Renaissance, glaubt man den zum Teil euphorischen Kommentaren seiner Befürworter, muß dieser doch auf das gesprochene Wort bei der Vermittlung von Affekten und Gefühlen verzichten und – abgesehen von Zwischentiteln – ganz der eloquentia corporis vertrauen. Durch Mienenspiel und Gestik lassen sich für die Zeitgenossen des ›stummen‹ Films die körperlichen Symptome von Affekten effektiv darstellen und damit den Ausfall von Sprache mehr als nur kompensieren: »Die Filmschauspielkunst ist zugleich eine epochale Wiedergeburt der Mimik und der Geste, der ganzen Körpersprache schlechthin.«73 Diese Verlautbarung von Victor Pordes pointiert Carl Hauptmann ebenfalls 1919, wenn er behauptet: »Gebärde, gemeinsame Psyche des weißen Menschen« zu verdanken sein (ders.: Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films, Wien/Leipzig: DeutschÖsterreichischer Verlag 1924, S. 32). Die ideologischen Implikationen einer solchen Mythologisierung wird die faschistische Rassentheorie und Filmzensur nur wenige Jahre später in Realpolitik umsetzen. 71 Hugo Münsterberg: Das Lichtspiel. Eine psychologische Studie (1916) und andere Schriften zum Kino, hg. von Jörg Schweinitz, Wien: Synema 1996, S. 85. 72 Ebd. 73 Victor Pordes: Das Lichtspiel. Wesen, Dramaturgie, Regie, Wien: R. Lechner (Wilhelm Müller) Universitätsbuchhandlung 1919, S. 87.
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das ist das Urbereich aller seelischen Mitteilung«.74 In den Augen seiner Befürworter gelangt durch den Film nicht nur die Darstellungskunst des Mimen zu neuer Geltung. Er lanciert darüber hinaus einen breiten Diskurs über Mittel und Formen mimischer Expressivität, dessen Argumente zwischen Ästhetik und Wissenschaft zirkulieren. Diese Debatte findet ihren Widerhall in verschiedenen Bereichen des kulturellen Diskurses – angefangen von der Literatur und Poetik über den Ausdruckstanz bis hin zur Dramatik – und kulminiert im deutschen Sprachraum in der Auseinandersetzung um den expressionistischen Film und in den experimentellen Forschungen der Ausdruckspsychologie.75 Auch aus der Perspektive anderer Diskurse wie der sich etablierenden Soziologie besteht zwischen dem Film und dem Stegreifschauspieler der Pantomime eine Verbindung. Der Schriftsteller Rudolf Leonhard etwa konstatiert »eine neue soziologische Beziehung und Wirkung des Films auf die Schauspieler«.76 Dieser rette nämlich für den Schauspieler die unersetzlichen und unentbehrlichen Reste eines prähistorischen, vor der jeweiligen bürgerlichen Geschichte der Individualität liegenden Komödiantentums. Auch das sorgfältigst durchgearbeitete Manuskript erlaubt und en[t]reißt dem Schauspieler fortlaufende Improvisationen. [...] Der optische Film, die ins Bild konzentrierte Regel der Improvisationen, ist [...] die eigentliche Restitution des Schau-Spielers.77
Die Improvisation stellt für Leonhard eine schauspielerische Methode dar, die dem Mimus neue Geltung verschafft. Das Besondere der Expressivität des Filmschauspielers liegt für ihn in der Verschränkung einer vorkulturellen Spielweise mit den medialen Darstellungskodes des Films begründet. Diese Argumentation findet auch in den Schauspielunterricht Eingang. In seinem Lehrbuch Mimik im Film, das ein »Leitfaden für den praktischen Unterricht in der Filmschauspielkunst« sein will, erinnert Oskar Diehl daran, daß »mimische Tänze« der »Uranfang aller Schauspielkunst« seien.78
74 Carl Hauptmann: »Film und Theater«, in: Die neue Schaubühne I, H. 6 (1919), S. 165-172, zit. in: Anton Kaes: Kino-Debatte. Texte zum Verhältnis von Literatur und Film. 1909-1929, München: dtv 1978, S. 125. 75 Vgl. zu den Diskurseffekten dieser Debatte Heinz B. Heller: Literarische Intelligenz und Film, Tübingen: Niemeyer 1985, bes. S.176f. 76 Rudolf Leonhard: »Zur Soziologie des Films«, in: Hugo Zehder (Hg.): Der Film von morgen, Berlin-Dresden: Rudolf Kaemmerer Verlag 1923, S. 101116, hier S. 110. 77 Ebd. 78 Oskar Diehl: Mimik im Film. Leitfaden für den praktischen Unterricht in der Filmschauspielkunst, München: Georg Müller 1922, S. 3.
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Daß der Film mit dem Mimus an die Ursprünge des Schauspiels zurückführe, ist ein verführerisches Argument, dem sich kaum einer seiner Verfechter entziehen kann, verleiht es doch dem technischen Medium eine quasimythische Aura, durch die es selbst Legitimität bezieht. So stellt auch Ernst Bloch in seinem Rückblick auf das noch junge Jahrhundert, der zwischen 1938 und 1947 entstandenen Textsammlung Das Prinzip Hoffnung, gleichfalls fest: Der Film hat den Mimus wiederbelebt. Unter dem Titel Neuer Mimus durch die Kamera widmet er ein ganzes Kapitel dem Zusammenhang von medialer Repräsentation und kultureller Entwicklung von Körpersprache: Auffallend nun, wie die Geste gerade filmhaft so reich werden konnte. Denn hier flimmerte sie in den Anfängen besonders arm und grob, schien Kitsch zu bleiben. [...] Insgesamt wurde durch das Glück, daß der Film als stummer, nicht als Tonfilm begann, eine mimische Kraft ohnegleichen entdeckt, ein bislang unbekannter Schatz deutlichster Gebärden.79
Erst der Filmschauspieler habe »die Gebärde zu konzentrierter Feinheit oder Vielseitigkeit geschärft«, die »Nuance«, »Zwischentöne oder scheinbar Nebensächliches ins Blickzentrum«gestellt.80 Der Film stellt sich damit in den Dienst einer epistemologischen Bewegung, die mit der Umstellung von den statischen Charakterzeichen auf die dynamischen Affektzeichen – von Physiognomik auf Pathognomik – und mit der fotografischen Aufzeichnung mimischer Affektbilder begonnen hatte und zur Privilegierung und Visualisierung mimischer Details und Nuancen geführt hat.81 Diese außerordentliche »mimische Kraft« des Schauspielers führt Bloch explizit auf die Visualisierungsmöglichkeiten des Films zurück. Er erwähnt den Einsatz der Großaufnahme durch Griffith und die bewegliche Kamera, die auch das Auge des Betrachters in Bewegung versetzt habe. Im Unterschied zur realen Anwesenheit des Schauspielers im Raum der Theaterbühne liefert der Film für Bloch ein realistisches Abbild seiner mimischen und gestischen Bewegungen im Repräsentationsmodus des flächigen Bildes – genauer: der Bildfolge. Dieser Repräsentationsmodus ermöglicht es, die bildgewordenen mimischen und gesti79 E. Bloch: »Neuer Mimus«, S. 471. 80 Ebd. 81 Auch Marshall McLuhan erklärt das »Zeitalter der Fotografie« zum »Zeitalter der Gebärde, der Musik und des Tanzes«: »Tatsächlich haben Momentaufnahmen fixierter menschlicher Haltungen durch die Fotografie die Aufmerksamkeit stärker auf physische und psychische Haltungen gelenkt als je zuvor« (ders.: Die magischen Kanäle. Understanding Media, Dresden/Basel: Verlag der Kunst 1995, S. 295f).
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schen Effekte in großer Nähe aufzuzeichnen und zu studieren. Der Film inauguriert eine Sichtbarkeit gerade dieser zeichenhaften Körperbewegungen, die dem Theater versagt blieb.82 Er verspricht die Mimesis einer Welt in Bewegung, wie sie sich in den Mienen und Gesten des Schauspielers paradigmatisch zeigt, die selbst wiederum Effekt des mimetischen ›Ursprungs‹ des Affekts sein sollen. Diese Überblendung von menschlicher facies und Zelluloidstreifen findet insbesondere in der filmischen Großaufnahme statt, die Mimiken in riesenhafter Vergrößerung vor die Augen des Filmpublikums führt. Blochs Feier der im filmischen Bewegungsbild sichtbar gewordenen mimischen Nuancen macht aber zugleich deutlich, daß deren Evidenz als scheinbar reales Abbild den semiologischen Einsatz der Mimesis vergessen läßt, die Nachahmung und Darstellung meint: Seit gar Griffith zum erstenmal die Köpfe der Menschen in die Handlung hineingeschnitten hat, seit dieser Verwendung der Großaufnahme erscheint auch das Muskelspiel der Gesichter wie aufgeschlagenes Leiden, Freuden, Hoffen. Der Zuschauer erfährt nun an der Großaufnahme eines riesig isolierten Kopfs weit sichtbarer als an dem des sprechenden Schauspielers auf der ganzen Bühne, wie fleischgewordener Affekt selber aussieht.83
Für Ernst Bloch hat nicht nur der Film dem Mimus zu seinem Recht verholfen, auch der Affekt ist in der filmischen Großaufnahme zu sich selbst gekommen – das Buch der Leidenschaften liegt offen vor ihm. Er nimmt das vergrößernde filmische Bewegungsbild für den Affekt selbst, den Zelluloidstreifen für seine Inkarnation. Die filmische Großaufnahme setzt den Maßstab für diese Evidenz des Sichtbaren, durch die Mienen keine Zeichen mehr, sondern die Sache – der Affekt – selbst geworden sind. Die Großaufnahme, die den Filmzuschauer geradezu körperlich bedrängt, hebt den Abstand zu den gefilmten Dingen und Menschen auf und bringt die Distanz zwischen Affekt und Ausdruck, zwischen Ausdruck und Darstellung zum Verschwinden. Im Verbund mit dieser hypostasierten Sichtbarkeit der Mimik im Film steht eine Renaturalisierung der Affekt-Ausdrucksbeziehung, die mit den – im Doppelsinn – bewegten Körpern dem ›Leben‹ selbst habhaft zu werden glaubt. Durch eine 82 Auf die Differenz zwischen Theater und Kino macht auch Erika FischerLichte aufmerksam (vgl. dies.: Semiotik des Theaters, S. 56f). Sie unterschlägt allerdings die Medialität der schauspielerischen Mimik im filmischen Bewegungsbild, die mediale Transformation von Anwesenheit (Präsenz des Schauspielers auf der dreidimensionalen Theaterbühne) in Abwesenheit (Repräsentanz des Schauspielers im zweidimensionalen Filmbild). 83 E. Bloch: Prinzip Hoffnung, S. 471.
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geradezu programmatisch zu nennende Verwechslung filmischer Effekte mit anthropologischen Konstanten läßt sich etwa für Helmuth Plessner leicht die »Emanzipation des Schauspielers« durch den Film mittels Einstellungswechsels und Großaufnahme feiern: »Insoweit als die Photographie Realität wiedergibt, verstärkt sie den Realitätscharakter der Menschen und Dinge, die sie zur Anschauung bringt.«84 Um diese epistemologische Bewegung nachzuzeichnen, durch die die fotografische Wiedergabe mimischer Nuancen Geltung erlangt, bedarf es eines schrittweisen Vorgehens. Zuerst soll die psychologische Erforschung der Körpersprache mit ihrer minutiösen Beobachtung mimischer und gestischer Details um die Mitte des 19. Jahrhunderts in den Blick genommen werden. Denn das ist der diskursive Ort, an dem die Frage der Darstellbarkeit ihrer flüchtigen Zeichen prominent wird. Sören Kierkegaard fragt nach der Eignung von Dichtung und Malerei zur Lösung dieses Problems und übernimmt damit die Stafette von Lessing, der in seinem Laokoon-Aufsatz (1766) den Wettstreit zwischen einer sukzessiven und einer simultanen Darstellung von Affekten behandelt hatte. Virulent wird diese Fragestellung für Kierkegaard wieder aufgrund des neuen Wissens um die Psychologie der Affekte, wodurch das Verhältnis zwischen diesem Wissen und seiner Darstellung als problematisch angesehen wird. Vor allem die unbewußt hervorgebrachten Gemütsbewegungen – von der Psychologie des 19. Jahrhunderts als Indizien des sich verbergenden Affekts in den Mittelpunkt ihres Forschungsinteresses gestellt – dislozieren den vermeintlich gesicherten Raum der Repräsentation. Als Indizien verweisen die mimischen Nuancen auf den »semiologischen Bruch«, den technische Medien wie Telegrafie und Fotografie offenbar werden lassen. Dieser steht, wie Michael Wetzel betont, in Zusammenhang »mit der Entdeckung der verweisenden Dimension des Realen«.85 Eine solche Verweisungsstruktur kennzeichnet die optischen Informationsketten der Telegrafie wie den indexikalischen Abbildmodus der Fotografie. Das bedeutet für die Repräsentation, daß die Dinge jetzt nicht mehr nur im Register des Bezeichneten, sondern vor allem in dem des Bezeichnenden auf[tauchen]; Bezeichnetes wird selbst bezeichnend: was auch heißt, daß die Gegenstände nicht mehr das sind, wofür das Wissen sie hält! Zeigend werden sie Zeugen ihrer eigenen Geschichte, für deren Spuren und Hinweise es in den epistemologischen Klassifikationen keinen Namen
84 H. Plessner: »Zur Anthropologie des Schauspielers«, S. 149. 85 Michael Wetzel: »Verweisungen. Der semiologische Bruch im 19. Jahrhundert«, in: Friedrich A. Kittler/Georg Christoph Tholen: Die Arsenale der Seele, München: Fink 1989, S. 71-95, hier S. 73.
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gibt, und lösen damit die substantielle Gewißheit des Sichtbaren in ein funktionales Beziehungsgeflecht unsichtbarer Überdeterminationen auf.86
An diesem Punkt treten mit der Telegrafie und der Fotografie erstmals technische Medien in Erscheinung. Sie sind mehr als nur Metaphern für eine gelungene Vermittlung von Affekt und Ausdruck; sie stellen zugleich Verfahren dar, durch die das Affektwissen Evidenz erlangt: Durch den telegrafischen Rapport bzw. das fotografische Bild gelangen selbst verheimlichte Affekte, die kaum nach außen hin sichtbar werden, ans Tageslicht und können dechiffriert werden.87 Deshalb stehen im zweiten Schritt die fotografischen Serien von Affektbildern, die Duchenne de Boulogne um 1850 angefertigt hat, im Mittelpunkt einer Rekonstruktion des fruchtbaren Moments der Fotografie. Duchennes fotografische Affektbilder geben noch die kleinsten Nuancen und Veränderungen auf dem Gesicht wieder und tragen sie in ein dynamisches Tableau ein, das ihre Steigerungsmöglichkeiten gleich mit verzeichnet. Optische Telegrafie und Fotografie stellen deshalb zwei Visualisierungsverfahren dar, die das Wissen um die Psychologie und Transitivität der Affekte zur Darstellung bringen können. Lessings poetologische Unterscheidung bleibt deshalb im Verlauf des 19. Jahrhunderts präsent, wo es um die Statik bzw. Dynamik von Gemütsbewegungen geht. Nicht nur spielt der Laokoon-Kopf in Duchennes physiologischer Erforschung der Mimik eine bedeutende Rolle. Gleichzeitig werden Lessings Genremarkierungen z.B. in der Schauspieltheorie obsolet. Die wissenschaftliche Psychologie vollzieht selbst den Übergang von der Untersuchung statischer zu der dynamischer Zeichen des Affektausdrucks. Im Anschluß an die fotografische Aufzeichnung von Mimik soll deshalb am Beispiel der Physiologischen Psychologie Wilhelm Wundts die Epistemologisierung der Ausdrucksbewegung rekonstruiert werden, bevor die experimentelle Ausdruckspsychologie und der populäre Film gewissermaßen als diskursives Gravitationszentrum des beginnenden 20. Jahrhunderts ausgemacht werden können.
86 Ebd. 87 Vgl. zum Einsatz von Telekommunikation zur Übermittlung von Liebesbotschaften Frank Haase: Die Revolution der Telekommunikation. Die Theorie des telekommunikativen Aprioris, Baden-Baden: Nomos Verlagsgesellschaft 1996, S. 62ff.
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3. (U N -)S I C HT B A R K EI T
DES
A F F EK T S
Wer unter die Oberfläche dringt, tut es auf eigene Gefahr. (Oscar Wilde)
3 . 1 B e weg u ng s ehen : B a l z a c s » T heo r ie d e la demarche« Das Projekt einer Visualisierung von Bewegungsvorgängen des menschlichen Körpers, das mit Francis Bacons Versuch einer empirischen und praktischen Psychologie einsetzt und in Georg Christoph Lichtenbergs Semiotik der Affekte ausformuliert wurde, wird zu Beginn des 19. Jahrhunderts nicht nur Gegenstand physiologischer Untersuchungen, sondern auch kulturtypologischer Abhandlungen. Das weite Feld humanwissenschaftlicher Forschungen spannt sich auch hier zwischen empirischen Studien einerseits und erkenntnistheoretischen Spekulationen andererseits. Ihnen gemeinsam ist ein begründetes Erkenntnisinteresse an den Mannigfaltigkeiten und Nuancen körperlicher Bewegungen und den Möglichkeiten ihrer Visualisierung. Etabliert sich doch in der Kultur dieser Zeit, wie etwa Richard Sennett herausgearbeitet hat, ein Beobachtungsimperativ, der in Kleidung wie Habitus, im Verhalten wie in den kleinsten Nuancen von Körperbewegungen den Ausdruck der Individualität bürgerlicher Subjekte erkennen will.1 Dieser ist der gesteigerten Komplexität funktional ausdifferenzierter Gesellschaften und ihrer Auffassung von Individualität geschuldet, die nun nicht zuletzt an deren singulären Ausdrucksleistungen bemessen und abgelesen wird.2 Die Kodifizierung dieser Ausdrucksleistungen macht Verfahren der Visualisierung erforderlich, die der Vielfalt der beobachteten Details gerecht werden können. Die Semantik der Individualität erweist sich dabei als ein Diskurseffekt, der auf dem Einsatz moderner Medientechniken beruht. Das, was sich über den Menschen wissen läßt, ist dieser Allianz zwischen der Semiotisierung des Menschen und optischen Medien ge1 2
Vgl. R. Sennett: Verfall und Ende, S. 178. Vgl. N. Luhmann: »Individuum, Individualität, Individualismus«.
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schuldet. Der Imperativ der Sichtbarkeit und die Verfahren der detaillierten Sichtbarmachung von Körperbewegungen verbindet daher zu Beginn des 19. Jahrhunderts wissenschaftliche und ästhetische Diskurse, die sich zwar in den Beobachtungsmethoden und in der Erfassung des Beobachteten unterscheiden, aber in der Interpretation ihrer Beobachtungen überschneiden. Der prekäre Status der Wissenschaften vom Menschen als ›Wissenschaft‹ macht solche Allianzen, wie Foucault betont hat, geradezu unvermeidlich: Daher kommt es, daß es so oft schwierig ist, die Grenzen nicht nur zwischen den Objekten, sondern auch zwischen den der Psychologie, der Soziologie, den literarischen Analysen und den Mythen eigenen Methoden abzustecken. [...] So überkreuzen sich alle Humanwissenschaften und können sich stets gegenseitig interpretieren, verwischen sich ihre Grenzen, vervielfältigen sich unbegrenzt die dazwischenliegenden und vermischten Disziplinen, löst sich ihr eigener Gegenstand schließlich auf.3
Kaum verwunderlich ist, daß auch die Literatur auf gänzlich neue Art den Menschen als epistemisches Objekt entdeckt und zugleich den Autor als erkennendes Subjekt einsetzt. Zunehmend gerät dabei das Akzidentielle von Körperbewegungen in den Fokus der Aufmerksamkeit: Schließlich erscheint an der Projektionsoberfläche der Sprache das Verhalten des Menschen als etwas, das etwas bedeutet. Seine geringsten Gesten haben bis hinein in ihre unfreiwilligen Mechanismen und bis hin zu ihrem Mißlingen eine Bedeutung. Alles, was er um sich herum deponiert, macht daraus Objekte, Bräuche, Gewohnheiten, Reden; die ganzen Spuren, die er hinter sich läßt, konstituieren ein kohärentes Ganzes und ein Zeichensystem.4
Dieses Bedeutungsregime findet sich in Ausdruckstheorien verwirklicht, in denen sprachliche Beschreibungen mit visuellen Darstellungsverfahren kombiniert werden und die ihre vermeintliche Objektivität zunehmend in den Dienst polizeilicher Observanz und statistischer Datenverarbeitung stellen. Besonders der literarische Realismus hat sich dem Milieustudium und der minutiösen Charakterisierung literarischer Figuren und ihres Verhaltens verschrieben. Die Literatur wird so zu einem Schauplatz eines positiven Wissens vom Menschen. Unter den humanwissenschaftlichen Bedeutungsimperativ geraten nun auch ephemere Phänomene wie der menschliche Gang. So hat etwa Honoré de Balzac im Zusammenhang seiner Comédie humaine eine Theorie de la demarche 3 4
M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 429. Ebd., S.428.
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verfaßt, die 1833 erstmals in vier Folgen der Zeitschrift L’Europe litteraire abgedruckt wurde.5 Balzacs Theorie läßt sich im Umfeld der populären Physiologies verorten, einem zeitgenössischen Genre, das soziale Klassen und Typen sowie Verhaltensregeln in visuell kodierter Form charakterisierte. Die Physiologies bedienten das zeitgenössische Interesse an der Kenntlichmachung des Menschen im Feld des Sichtbaren; sie stellten ihr vermeintliches Wissen in typologisierter und karikativ überspitzter Form auch Schriftunkundigen zur Verfügung. Ihre Klassifikationen durch Stereotypen stellen eine Ordnung des Wissens über den Menschen dar, die in den Mittelpunkt des Interesses rücken, was bisher unbeobachtet geblieben war: die Gewohnheiten und das Alltagsleben der (bürgerlichen) Stadtbewohner. Judith Wechsler charakterisiert dieses Genre als »classifications by stereotypes«.6 Analog findet sich in der Literatur eine Vielzahl von Milieuschilderungen, die ihre Figuren aus solchen Schematisierungen und Typologien schöpfen. Wechsler weist Balzac zudem als Kenner der physiognomischen Debatten und klassifikatorischen Modelle seiner Zeit aus, der »his insistence on social mobility, his fascination with bodily expression as a manifestation of social conditioning and his interest in manipulation of expression for social ends« miteinander verbinde.7 Der literarischen Manipulation von Typen und der Fixierung sozialer Hierarchien in den Romanen seiner Comédie humaine geht die Beobachtung der Körpersprache konkreter Individuen voraus, wie sie Balzac in seiner Theorie beispielhaft vornimmt. Durch diese Engführung visueller Stereotypisierung (in den Physiologies) und literarischer Beschreibbarkeit (exemplarisch in Balzacs Romanen) wird ein epistemologischer Konnex greifbar zwischen dem Sichtbaren und dem Sagbaren, der für das gesamte 19. Jahrhundert gültig ist. In ihm wird ein an technischen Medien wie der Fotografie gemessener Anspruch auf wissenschaftliche Objektivität kenntlich, der sich in den Naturwissenschaften wie in der Ästhetik gleichermaßen durchsetzte und für die Zolas Poetik des Experimentalromans paradigmatisch geworden ist.8 Die Physiologies stellen mit ihrer Visualisierung auffälliger Typen und der Schilderung ihrer Milieus ein kommunikativ erfolgreiches Genre 5 6 7 8
In Buchform erschien Theorie de la demarche zuerst 1855 im Verlag Eugène Didier in Paris. J. Wechsler: Human Comedy, S. 34, S. 37. Ebd., S. 20. Vgl. Irene Albers: Sehen und Wissen. Das Photographische im Romanwerk Émile Zolas, München: Fink 2002; dies.: »›Der Photograph der Erscheinungen‹. Émile Zolas Experimentalroman«, in: Peter Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit. Fotografie in Wissenschaft, Kunst und Technologie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 211-251.
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der Selbst- und Fremdbeobachtung des Bürgers im beginnenden 19. Jahrhundert dar.9 Diesem Beobachtungsimperativ folgt auch Balzacs Theorie de la demarche, die zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen die Irritation darüber macht, daß man das Gehen sehen und also beobachten könne, es aber bisher keine Theorie gebe, die die »ewigen Hieroglyphen des menschlichen Ganges« entziffert habe.10 Balzac reklamiert mit seinem theoretischen Entwurf für sich das Vorrecht, wissenschaftliches Neuland betreten zu haben. Er setzt sich nicht nur das Ziel, den menschlichen Gang zu analysieren, sondern ihn zu verbessern und allgemeingültigen Regeln zu unterwerfen.11 Dabei geht er – dem Paradigma humanwissenschaftlicher Forschung folgend – von der Prämisse aus, der menschliche Gang sei lesbar und klassifizierbar. Mit seiner Untersuchung setzt Balzac zugleich die Hegemonie des Gesichts als Bedeutungsträger par excellence außer Kraft. Für ihn ist nicht mehr die Physiognomie der entscheidende Schauplatz, auf dem sich der Charakter eines Menschen zeige, sondern sein Gang.12 Diese Neuorientierung folgt der Logik von Körperausdruckstheorien, die die Körperzeichentheorien abgelöst haben.13 Zudem vollzieht sie mit der Untersuchung des menschlichen Gangs einen entscheidenden Paradigmenwechsel. Zum Anlaß seiner Theorie erklärt Balzac die Auseinandersetzung mit dem »Begriff BEWEGUNG«, der für ihn »erstens, das Denken, [...] zweitens, das Wort, als dessen Übertragung, und drittens den Gang und die mehr oder weniger lebhafte Ergänzung des Wortes, die Gebärde«14 umfaßt. Indem Balzac seine Theorie um den Begriff der Bewegung zentriert, der sowohl das Denken wie das Sprechen als auch die Körperbewegung meint, löst er den statischen Zeichenbegriff Lavaters durch einen dynamischen ab. Wenn Balzac von der »Physiognomie des Körpers spricht«, meint er seine flüchtige Pathognomie, nicht seine Architektur oder Anatomie. Im Begriff der Bewegung wird das Leben des 9
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Walter Benjamin mißtraute den Physiologien, weil sie »auf ihre Art an der Phantasmagorie des pariser Lebens« webten (ders.: »Charles Baudelaire. Ein Lyriker im Zeitalter des Hochkapitalismus«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I/2, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 541). Honoré de Balzac: Theorie des Gehens (1833), Lana/Wien/Zürich: Edition Howeg 1997, S. 72. Wie alle Diskursbegründer äußert Balzac seine Verwunderung darüber, daß, »seit der Mensch geht, niemand sich gefragt hat, warum er geht, wie er geht, ob er geht, ob er besser gehen könnte, was er beim Gehen tut, ob es kein Mittel gäbe, seinen Gang zu reglementieren, zu verändern, ihn zu analysieren?« (H. de Balzac: Theorie, S. 70). Lavater sei es - so Balzac - durch die Privilegierung des Gesichts trotz der Annahme einer Homologie aller Körperteile unmöglich gewesen, eine Theorie des Gehens zu entwickeln (vgl. ebd., S. 74). Vgl. A. Käuser: »Körperzeichentheorie und Körperausdruckstheorie«. H. de Balzac: Theorie, S. 86.
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Menschen und seine Endlichkeit im humanwissenschaftlichen Diskurs adressierbar.15 Deshalb stellt er seinem Begriff der Bewegung eine Lebenskraft als Organisationsprinzip zur Seite, die alle Körperbewegungen reguliere.16 Diese Kraft sei ein »unsichtbares Fluidum«, über das der Mensch unbewußt verfüge, das sich aber langsam oder schnell – je nach Lebensweise – aufbrauche.17 Balzacs Vitalismus vermittelt zwischen der modernen Diätetik des 19. Jahrhunderts, die ein Haushalten mit der endlichen Lebenskraft empfahl, und deren dichterischer Verausgabung. Nicht umsonst ruft seine Rede von der unsichtbaren Lebenskraft die Fluidalmythologien des Mesmerismus und die unsichtbare Wirkmacht der Elektrizität gleichzeitig auf, um sie aber in einer entscheidenden Wendung mit der dichterischen Einbildungskraft gleichzusetzen. Die Verausgabung des schriftstellerischen Genies im Dienste der Theoriebildung steht für ihn denn auch gleichermaßen konträr zur Vergeudung der Lebenskraft durch »Haß, Liebe, Spaß und Ausschweifung«,18 durch eine rein affektive Verausgabung also, wie zum Maßhalten des Wissenschaftlers. Das führt Balzac zur Behauptung, weder ein Physiologe oder Arzt noch ein Statistiker sei bisher auf die Idee gekommen, eine Theorie des Gehens aufzustellen. 19 Seine Argumentation verfolgt eine Doppelstrategie: Um eine Theorie wie die des menschlichen Gangs aufzustellen und seine Gesetze zu erkennen, bedarf es einer Hinwendung zu diesem besonderen Gegenstand, zu der nur der Schriftsteller qua Einbildungskraft, Beobachtungsgabe und Schöpferkraft fähig sei. Balzac grenzt seinen Entwurf deshalb explizit gegen Physiologie und Statistik ab. Weder die experimentellen Untersuchungen der Physiologen noch die statistische Datenerhebung und ihre Auswertung vermögen für ihn eine Theorie des Gehens in seinem Sinne zu begründen. Was heißt das? Eine Theorie hat für Balzac nur diesen Namen verdient, sofern sie über ihre epistemologischen Voraussetzungen Rechenschaft ablegt. Diese aber genau erfüllen Messung und Statistik für ihn nicht. Wilhelm und Eduard Webers 1836 – also fast zeitgleich mit Balzacs Theorie de la demarche – erschienene Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge stellt eine solche »anatomisch-physiologische Untersuchung« 15 16 17 18 19
Vgl. dazu M. Foucault: Die Ordnung der Dinge, S. 377-384. Zum Vitalismus vgl. Ph. Sarasin: Reizbare Maschinen, S. 52-71. H. de Balzac: Theorie, S. 85. Ebd., S. 71. Balzac setzt seine Lebenskraft, das Fludium, »das so uneigentlich Einbildungskraft genannt wird«, vielmehr gezielt ein, um sich in seinen Betrachtungen »zwischen der Meßlust des Gelehrten und dem Taumel des Narren« in der Schwebe zu halten (ebd., S. 79).
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auf der Basis physikalischer Meßmethoden dar.20 Sie präsentiert Experimente und Messungen über den funktionalen Zusammenhang von Schrittlänge und Schrittdauer, die grafisch in Kurven dargestellt werden, sowie allgemeine mathematische Gesetze des menschlichen Gehens und Laufens. Die Physiologen interessiert der gesetzmäßige Bau und das automatische Funktionieren des menschlichen Bewegungsapparats; charakteristische Merkmale oder individuelle Abweichungen des Ganges fallen hingegen verallgemeinerbaren Gesetzen zum Opfer – nicht von ungefähr dient ihnen die Pendelbewegung einer Uhr als Vorbild. Für Balzac liegt der Vorteil seiner Theorie gegenüber einer Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge in der strikten, in der Person des Schriftstellers vollzogenen Union von empirischer Beobachtung und synthetisierendem Schreiben, von größtmöglicher Komplexität in der Datenerfassung einerseits und ihrer Reduktion in der Datenverarbeitung andererseits. Ihm geht es nicht wie den Brüdern Weber um die Anschreibbarkeit und Verallgemeinerbarkeit des funktionalen Menschen in mathematischen Gesetzen. Im Gegenteil: Balzac ruft den Topos gesteigerter Individualität auf, um sein Theorieprojekt zu rechtfertigen. Deren Objektivität gründe im Unterschied zu den Meßmethoden der Physiologen und den Datenanalysen der Statistiker auf einem rein »geistigen Mikroskop«21. Sein Interesse richtet sich daher vornehmlich auf die individuellen Besonderheiten des menschlichen Ganges. Das erklärt auch, warum Balzac in seiner Schrift mit der Verstellung einmal mehr einen gewichtigen moralphilosophischen Topos der Physiognomikdebatte des 18. Jahrhunderts aufnimmt. Er glaubt jedoch, daß sich der Gang schwerer verstellen lasse als das Gesicht, weil er weniger der Selbstkontrolle unterläge als dieses. Balzac attestiert dem Gang eine Natürlichkeit, die das Gesicht (nicht zuletzt durch aristokratische Verhaltenslehren) längst verloren habe, weil er den ›natürlichen‹ Gang als Ausdrucksmittel ansieht, das nicht der Kontrolle des Subjekts unterliegt: »Im Gang offenbart sich die Physiognomie des Körpers« – und zwar als Sprache des Körpers, deren Reichtum »in den unmittelbaren Wirkungen eines in aller Unschuld vorgebrachten Willens steckt«.22 Einzig wenn der Gang diese Unschuld verliere, könne er verstellt werden, was insbesondere auf bestimmte gesellschaftliche Gruppen zutreffe. Die »Kunst der Verstellung beim Gehen« haben für Balzac Höflinge, Kurtisanen und Schauspieler kultiviert – Ak-
20 Vgl. Wilhelm und Eduard Weber: Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge. Eine anatomisch-physiologische Untersuchung, Göttingen: Dieterichsche Buchhandlung 1836. 21 H. de Balzac: Theorie, S. 97. 22 Ebd., S. 101.
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teure einer höfischen Kultur der Maskierung, von der sich die bürgerliche abzugrenzen versuchte.23 Balzac sieht im natürlichen Gang hingegen einen subjektiven Willen am Werk, der im Unterschied zu einer bewußten Verstellung der Gesichtszüge »unschuldig« sei, weil er unbewußt wirke. Um diese paradoxe Bestimmung eines unmittelbar wirkenden, unbewußten Willens zu verdeutlichen, wählt Balzac ein aufschlußreiches Bild: »Gleichsam telegraphisch, und gegen unseren Willen, nimmt jede mehr oder weniger auffällige Krümmung eines unserer Glieder unsere Gewohnheiten an: die Art und die Form jeder dieser Gliederbewegungen ist durchdrungen von unserem Willen, und ist von erstaunlicher Aussagekraft.«24 Gewohnheitsmäßig ausgeführte Körperbewegungen erlangen jedoch erst durch eine Vorstellung von Individualität »Aussagekraft«, die in beiläufigem, unbewußtem Verhalten individuelle Unterschiede erkennen will.25 Insbesondere Balzacs Vergleich dieser Körperkrümmungen mit der Telegrafie erscheint erklärungsbedürftig. Was verbindet diese mit dem Automatismus von Bewegungsvorgängen? Diese Frage nötigt zu einem archäologischen Seitenblick auf die Geschichte der Telegrafie. Der Telegraf, den Claude Chappe 1792 der französischen Revolutionsregierung vorstellte, war ein optisches Signalsystem, das so einfache wie weithin sichtbare Zeichen von einer Telegrafenstation zur nächsten übertrug. Als Signalträger wurde eine Konstruktion mit beweglichen Flügeln, sogenannter Semaphoren, verwendet. Die Stellung der Flügel indizierte dem mit einem Fernrohr ausgestatteten Bediensteten der benachbarten Telegrafenstation nach einem vorher verabredeten Kode ganze Wörter bzw. Sätze, Befehle oder Ortsangaben, deren Sinn ihm gleichwohl verborgen blieb, denn die Entschlüsselung der telegrafisch kodierten Zeichen war nur Eingeweihten vorbehalten. Chappes »Schlüsselbücher« bargen ihren Sinn als (Staats-)Geheimnis, denn der Telegraf sollte ausschließlich den militärischen Informationsfluß beschleunigen. Die optische Telegrafie wurde so unter Napoleon zu einem kriegsentscheidenden Machtinstrument.26 Hierbei kam mit dem Fernrohr ein optisches Instrument als Kanal der Kommunikation zum Einsatz, das auch Physiologen wie den Brüdern Weber dazu diente, die Gesetzmäßigkeiten 23 Ebd., S. 94. 24 Ebd. 25 Das Unbewußte erscheint zeitgleich mit der Entdeckung des Menschen und der Herausbildung der Humanwissenschaften. Balzacs Vergleich von unbewußtem Willen und optischer Telegrafie markiert die Weichenstellung moderner Episteme: die Ausweitung des epistemologischen Feldes auf das Unsichtbare, Ungedachte und ihre mediale Transformation in eine Wissensordnung (vgl. M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 389-396). 26 Vgl. zur Geschichte der optischen Telegrafie als Kriegsgerät F. Haase: Revolution der Telekommunikation, S. 31-92.
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des menschlichen Gangs überhaupt erst ins Visier zu bekommen. Es gestattete ihnen nämlich, den Beobachtungsgegenstand – den gehenden Menschen – in gehörige Distanz und in einen optischen Rahmen zu versetzen, der seine experimentelle Untersuchung erst ermöglichte.27 Das Fernrohr ist damit eines jener Instrumente und technischen Medien, über deren »Umweg« Humanwissenschaften den Menschen als Forschungsgegenstand »entdeckten«. Balzac überträgt nun das telegrafische Modell der optischen Signalübertragung auf die Aussagefähigkeit von Körperkrümmungen. Diese sind für ihn kodierte Nachrichten im telekommunikativen Sinn. Er verbindet sichtbare Körperbewegungen (in der optischen Telegrafie: die Stellung der Semaphoren) mit einem Automatismus der Übertragung (per Teleskop), indem er den Körper als Medium der Übermittlung von Botschaften unterhalb seines Bewußtseins anschreibt. Dieser zeichnet sich wie der optische Telegraf dadurch aus, daß er seine Nachrichten übermittelt, ohne den Kode preiszugeben – d.h., er führt erlernte Bewegungen gewohnheitsmäßig aus, ohne daß ihm deren Organisationsprinzipien zu Bewußtsein kommen. Genauso verhält es sich für Balzac mit dem Gang. Gerade weil er – einmal erlernt – ohne bewußte Anstrengung, allein durch die »Macht der Gewohnheit«, also automatisch vonstatten gehe, eigne er sich so gut für die Beobachtung des angeblich unverstellten Subjekts.28 Hier setzt Balzacs Theorie des Gehens an: Sie stellt sich die Aufgabe, die gleichwohl sichtbaren, aber ohne Kenntnis des Kodes verständnislosen Körperzeichen des Gangs zu offenbaren. Die Telegrafie fungiert dabei als Kommunikationsmodell von unbewußten Körpersignalen und wird damit zum (technischen) Dispositiv des Unbewußten. Balzacs Vergleich von menschlichem Gang und optischem Telegrafen stellt deshalb weit mehr als nur eine gelungene Metapher dar – zeigt er doch, daß der Gang wie die telegrafische Signalübertragung der gleichen Disziplinierungsmacht gehorchen. Balzac hält die unbewußte Physiognomie des Menschen – also seine unwillentlichen Gehgewohnheiten – für den besonderen Ausdruck seiner Individualität. Physiologen wie die Brüder Weber sehen gerade darin eine verallgemeinerbare und mathe27 Das Webersche Experimentalsystem stellt der physikalischen Methode der Messung die optische Evidenzerzeugung durch das Fernrohr zur Seite, das den Gegenstand erfaßt, indem es ihn aus seiner Umgebung löst. Diesem Beobachtungsmodus folgen auch die grafischen Illustrationen, die das Untersuchungsobjekt Mensch auf das Skelett seiner Gehwerkzeuge reduzieren, also etwas zu sehen geben, das dem Blick sonst verborgen bleibt (vgl. W. u. E. Weber: Mechanik der menschlichen Gehwerkzeuge, S. 232). 28 Marcel Mauss wird im 20. Jh. das Gehen als Körpertechnik definieren (vgl. ders.: »Der Begriff der Technik des Körpers«, in: ders.: Soziologie und Anthropologie 2: Gabentausch, Soziologie und Psychologie, Körpertechniken, Begriff der Person, Frankfurt a.M.: Fischer 1989, S. 199-220).
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matisierbare »Mechanik«. In dieser reziproken Bezogenheit dieser beiden so unterschiedlichen Theorieansätze, die noch ihre gegenseitige Ignoranz offenbart, in der Blindheit beider für die unumgängliche Verbindung von (wissenschaftlicher) Empirie und (ästhetischer) Spekulation, zeigt sich das Unbewußte der Wissenschaften vom Menschen selbst. Daß Balzacs telegrafische Semiotisierung des Körpers das Gesicht hintanstellt, ist nur eine Pointe der Physiognomisierung der Gesellschaft, wie sie Richard Sennett für das 19. Jahrhundert beschrieben hat. Die optische Telegrafie erweist sich für die bürgerliche Konzeption des Körpers in zweierlei Hinsicht als – um die Formulierung Balzacs aufzunehmen – aussagekräftig. Einerseits »offenbart« dieser Körper Zeichen nur dem Kenner des Kodes; Feinden oder Fremden müssen sie unverständlich bleiben – wie etwa die Kleider- und Verhaltenskodes der Pariser Gesellschaft. Und als ein solcher Kenner versteht sich Balzac ausdrücklich in seiner Theorie, wenn er vom Beobachter zugleich die Gabe eines scharfen Blicks und die der Ausdruckskraft verlangt. Auch er dekodiert, was für ihn Bestandteil einer visuellen Zeichenordnung ist. Andererseits macht Balzacs Vergleich klar, dass seine Theorie das Sehen einer Bewegung möglich machen soll, die bisher am Rande der wissenschaftlichen Aufmerksamkeit, sprich: Sichtbarkeit, geblieben ist. Eine Theorie des Gehens bedürfe nämlich eines geschulten Beobachters, der das Detail wie das Ganze der Bewegung im Blick behalten müsse. Für Balzac ist die Beobachtung deshalb eine Kunst, die »die verstecktesten Bewegungen [des Menschen, P.L.] zu erhaschen« habe; sie erfordere »das Studium jener geringen Anhaltspunkte, die das Bewußtsein dieses privilegierten Wesens sich unfreiwillig entlocken läßt«, und »zugleich ein Übermaß an Genie und die Fähigkeit zu reduzieren: zwei Dinge, die sich ausschließen.«29 Mit dieser paradoxen Bestimmung der Beobachtung bringt Balzac zugleich den Schriftsteller als idealen Beobachter (und mithin: Ausnahmesubjekt) ins Spiel. Nur er verfüge über beide Voraussetzungen, um eine Analyse des unbewußten menschlichen Verhaltens durchzuführen – einerseits über die »Schärfe des Blicks«, sei er doch mit dem »geistige[n] Mikroskop für derartige Untersuchungen ausgerüstet«, und andererseits über »die Kraft des Ausdrucks«.30 Balzacs Argumentation folgt dem Imperativ gesteigerter Individualität, das in modernen, funktional ausdifferenzierten Gesellschaften und deren komplexen Kommunikationsverhältnissen Unterscheidbarkeit verbürgt: Angesichts der in solchen Gesellschaften zu bewältigenden Komplexitäten erscheint eine Steigerung der Beobachtungsfähigkeiten, namhaft gemacht in Balzacs »geistigem Mikroskop«, und die Reduktion dieser Komplexi29 H. de Balzac: Theorie, S. 96. 30 Ebd., S. 97.
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tät in der Darstellung des Beobachteten unvermeidlich. Mit den Instrumenten der Beobachtung gerät dabei zugleich – in einer Wendung der Beobachtung auf sich selbst – das Instrumentarium des Schriftstellers in den Blick, wodurch sich die Theorie als selbstreferentieller – sprich: moderner Text zu erkennen gibt. Balzacs Theorie interpretiert Thomas Schestag deshalb als Methodologie über das Vorgehen, eine Metareflexion über den Vorgang des Schreibens selbst – als einen cours de la méthode des Schriftstellers: »Theorie der Entstehung der Theorie.«31 Als solche versuche sie, »das Merkmal eines Flüchtigen zu entziffern«, und sei deshalb »skizziert«.32 Flüchtig ist jedoch nicht nur der Gedanke, den das gesprochene – und mit einer weiteren Verzögerung das geschriebene – Wort ja nicht als solchen, sondern lediglich in Form einer Denkbewegung zum Ausdruck bringe. Flüchtig sind auch jene geringen Anhaltspunkte des alltäglichen Verhaltens, die Balzacs Menschenbeobachter fokussiert: »Ausdruck bedeutet aus diesem Grund nicht Vor- und Darstellung eines ursprünglich inneren Gepräges, sondern Eindruck [...].«33 So wie der Gedanke in der Denkbewegung als Spur verzeichnet ist, die sich wiederum im sprachlichen Ausdruck zeigt, so zeichnen sich im Gang die geringen Anhaltspunkte als Spur der individuellen Physiognomie des Körpers ein und vermitteln sich dem Beobachter als Bewegungseindruck. Als Gang wird ›Ausdruck‹ zu einer unbeständigen Größe, denn er ist als Bewegungseindruck flüchtig und hinterläßt in der Regel keine bleibenden Spuren – er ist für Balzac grundlos in doppeltem Sinne: nur der Eindruck einer Berührung der Füße auf dem begangenen Grund.34 Balzacs Theorie als Skizze zu fassen, bedeutet deshalb, das Entstehen einer Theorie im Prozeß der Ideenbildung nachzuzeichnen und deren vorläufige Form auf ihren Gegenstand selbst anzuwenden. Als flüchtiger Entwurf scheint die Skizze auch deshalb die genaue Paßform ihres Gegenstandes zu sein, weil dieser selbst flüchtig, akzidentiell ist. Balzacs Theorie des Gehens stellt eine Skizze der »Physiognomie des Körpers« dar, die – wie ihr Autor unterstreicht – der »Theorie der Gangart unserer Ideen« folgt.35 In der Beschreibung der verschiedenen Lebensalter der Ideenbildung führt Balzac den Maler Daguerre an, »der sich zwanzig Tage lang einge31 Thomas Schestag: »Piedestal/Souterrain«, in: H. de Balzac: Theorie, S. 767, hier S. 24. 32 Ebd., S. 34. 33 Ebd., S. 44. 34 Diesen Gedanken führt Schestag bezogen auf eine Theorie des Lesens aus. Balzacs Theorie präzisiere »den Akut, der im Augenblick der Berührung der Markierung, weder transitiv noch intransitiv, sondern itiv — innehaltend« aufbreche (ebd., S. 19). 35 H. de Balzac: Theorie, S. 77.
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sperrt hat, um sein prachtvolles Bild der Insel St. Helena zu malen«.36 Mit diesem Beispiel ehrt Balzac nicht nur den ehemaligen Kulissenmaler Daguerre, sondern zugleich den Erfinder des Dioramas, jener dem Panorama verwandten Illusionstechnik auf der Basis theatraler Beleuchtungseffekte, und – nicht zuletzt – den der Fotografie selbst. Jacques Louis Mandé Daguerre hatten nämlich jene Inspiration, die ihn mit Nicéphore Niepce 1829 einen Vertrag über die Erfindung eines automatischen optischen Reproduktionsverfahrens abschließen ließ, sowie ein glücklicher Zufall, durch den er die Sensibilität von Jodsilber entdeckte, zur Erfindung des nach ihm benannten fotografischen Verfahrens der Daguerreotypie geführt. Nicht von ungefähr erweist Balzac schon im Vorwort seiner Comédie humaine Daguerre seine Referenz, worin er behauptet, sein Romanzyklus »wolle eine Daguerreotypie der zeitgenössischen französischen Gesellschaft sein«.37 Die Daguerreotypie stellte gegenüber der Lithografie, der bevorzugten Reproduktionstechnik der illustrierten Physiologies und Zeitschriften, nicht nur eine weitere Automatisierung der Bildgenerierung dar, sondern ihre bedeutende Beschleunigung. Binnen einer Minute war bei optimalem Sonnenlicht die fotografische Aufnahme eines unbeweglich gehaltenen Gegenstandes beendet, die zudem versprach, sein exaktes Abbild zu liefern. Balzac nimmt sich gerade wegen der Schnelligkeit und der überlegenen Detailtreue die Daguerreotypie zum Vorbild. Darüber hinaus hat die Fotografie, wie Walter Benjamin einhundert Jahre später feststellte, die Reiche des Unbewußten geöffnet.38 Wenn Balzac nun zunächst vor allem die unwillkürlichen Körperäußerungen beobachtet, die nicht der Kontrolle des Subjekts unterliegen und somit gegen Verstellung gefeit seien, dann deshalb, um den Gang als Ausdrucksmittel der ›Natur‹ bürgerlicher Subjekte zu legitimieren. Zugleich muß er seine am je besonderen Individuum gewonnenen Beobachtungen verallgemeinern. Die Vermittlung von individuellem Ausdruck im Gang und allgemeinen Ausdrucksformen erfolgt bei Balzac über den Begriff der Pose. Für ihn besitzt jeder Mensch eine ›natürliche‹ Pose, durch die er einem bestimmten Typus zugeordnet werden kann. In der Pose ist die Gehbewegung zu einem Bewegungseindruck eingefroren, der sich vergleichen und klassifizieren läßt. Wenn Balzac vom »Gang als Ausdruck der körperlichen Bewegung« spricht, dann meint er dezidiert diesen Bewegungseindruck.39
36 Ebd., S. 76. 37 Zit. in Friedrich Kittler: Optische Medien. Berliner Vorlesung 1999, Berlin: Merve 2002, S. 186. 38 Vgl. W. Benjamin: Kleine Geschichte der Photographie, S. 371f. 39 H. de Balzac: Theorie, S. 86.
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Indem Balzac die »Physiognomie des Körpers« im Bewegungseindruck sucht, vollzieht er den epistemologischen Wechsel vom substantiellen Körperzeichen zur akzidentiellen Körperbewegung, vom statischen Ausdruck zum dynamischen Eindruck. Ausdruck als Eindruck zu fassen bedeutet zugleich, die binäre hermeneutische Logik einer Entsprechung von Innen und Außen, derer sich die Physiognomik bedient, zu negieren. Genau diese Entkoppelung von sichtbaren Zeichen und unsichtbarem Sinn vollzieht die optische Telegrafie. Das macht ihre Attraktivität für Balzac aus. Damit der menschliche Gang seine Botschaften übermittelt, bedarf es für ihn nur eines Körpers als Medium und eines Bewegungsautomatismus, der den subjektiven Willen ins Unbewußte verlegt. Das enthebt auch den ›Ausdruck‹ einer intendierten Darstellungsfunktion; deshalb nimmt Balzac ausdrücklich Schauspieler aus seiner »Physiognomie des Körpers« aus. ›Ausdruck‹ bestimmt er vielmehr als Bewegungseindruck eines genialen Beobachters, der seinen Eindruck mittels der eigenen »Kraft des Ausdrucks« darstellt. Balzacs Theorieskizze wendet sich aus dieser epistemologischen Konstellation heraus den unwillkürlichen Körperbewegungen zu. Deren Flüchtigkeit diktiert ihm seine Vorgangsweise und legitimiert zugleich seinen wissenschaftlichen Anspruch. Der gewohnheitsmäßige Automatismus solcher Körperbewegungen verschleift gerade nicht ihre Signifikanz, ihre Redundanz läßt sie im Gegenteil erst als körperliches Unbewußtes hervortreten. Balzacs Theorie de la demarche steht daher paradigmatisch für die Ausforschungskultur des 19. Jahrhunderts, die die unbewußten Körperbewegungen unter strikte Observanz gestellt hat. In dieser Kultur kann eine »einfache Geste, ein unfreiwilliges Zucken der Lippen [...] zum fürchterlichen Auslöser einer lange zwischen zwei Herzen verborgenen Tragödie werden«.40 Gerade solche unwillkürlichen und unscheinbaren Bewegungen machen Eindruck und werden vom Beobachter registriert. Der kulturell sanktionierte Beobachtungszwang richtet sich in erster Linie auf die nicht beherrschbaren Regungen des Körpers, wie Balzacs Beispiel der unwillentlich zuckenden Lippen beweist. Gleichzeitig entdeckt die wissenschaftliche Psychologie und Psychopathologie des 19. Jahrhunderts in den Nerven das Unbewußte als Jenseits von Wille und Verstellung.41 Balzacs Theorie trägt dieser Verschiebung des Erkenntnisinteresses Rechnung: 40 Ebd., S. 76. 41 An dieser Stelle kann nicht die Geschichte dieses auf Plotin zurückgehenden Begriffs aufgerollt werden. Rationalistische Philosophen sahen die Nerven als Substanz und Organisationsprinzip der Seelentätigkeit an, bevor Bell und Magendie zu Beginn des 19. Jhs. »die Existenz von verschiedenen Nervenbahnen für die sensoriellen und für die motorischen Vorgän-
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(UN-)SICHTBARKEIT DES AFFEKTS Jeder von uns hat irgendeine schwache Stelle, in der die Seele triumphiert: ein Knörpelchen am Ohr, das errötet, einen zuckenden Nerv, eine allzu bedeutungsvolle Art die Lider zu senken, eine Falte, die außergewöhnlich hervortritt, ein sprechendes Zusammenzucken der Lippen, ein verräterisches Zucken der Stimme, eine Unregelmäßigkeit der Atmung.42
Solche unbewußten, habituell gewordenen Nuancen der menschlichen Mimik verraten Balzac die individuelle affektive Färbung einer Körperbewegung. In der Physiologie, die seit Albrecht von Haller die Iterabilität der Muskeln und die Sensibilität der Nerven unterscheidet, werden sie zu Symptomen, an denen körperliche Reaktionen auf äußere Reize gemessen werden können.43 Die Ästhetik eignet sich nun gewissermaßen deren mikroskopischen bzw. teleskopischen Blick an, um das besondere, bedeutende Detail einer Körperbewegung verwerten zu können. Balzac appliziert die Unterscheidungen der Physiologie wieder auf den psychologischen Zusammenhang von Leib und Seele. Er macht aus dieser Verschiebung der epistemologischen Koordinaten keinen Hehl, wenn er behauptet: »Es gibt eine vergleichende Anatomie der Seele, so wie es eine vergleichende Anatomie des Körpers gibt. Für die Seele wie für den Körper läßt sich vom Detail logisch auf das Ganze schließen.«44 Balzacs Interesse an der Anatomie verfolgt also einen klaren Zweck: Das beobachtete Detail einer Körperbewegung soll auf den Affekt als Ganzen hochgerechnet werden. Am Automatismus der Körpermaschine interessieren ihn nun aber nicht mehr wie bei Descartes, La Mettrie oder auch noch den Brüdern Weber deren reibungsloses Funktionieren, sondern die Regelabweichung und die Störung des Funktionsablaufes. Nur im Zerrbild der Marionette findet dieses Körperbild des Rationalismus Eingang in das naturalistische Zeitalter. Die Marionette stellt für Balzac das Gegenteil eines harmonischen »Gleichgewichts zwischen den einzelnen Teilen des Körpers« dar.45 Sie steht in seiner Theorie für sein ganz wörtlich genommenes Auseinanderfallen. Dies sei an einem Beispiel erläutert. Balzac beschreibt den Gang eines Mannes,
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ge« nachgewiesen haben (vgl. W. Hehlmann: Geschichte der Psychologie, S. 93-95; 137). Wichtig ist hier die Konzeption eines Nervenapparats, der unterhalb des Bewußtseins agiert. Eduard von Hartmanns 1869 veröffentlichte Schrift Philosophie des Unbewußten markiert einen ersten Höhepunkt der Erfolgsgeschichte auch dieses Begriffs in der Moderne. H. de Balzac: Theorie, S. 104. Hermann von Helmholtz hat die Fortpflanzungsgeschwindigkeit zwischen einer Nervenreizung und der resultierenden Muskelzuckung 1850 erstmals experimentell nachgewiesen. H. de Balzac: Theorie, S. 104. Ebd., S. 110.
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der den Eindruck vermittelte, aus zwei Abteilen zu bestehen. Sein linkes Bein und alles, was davon abhing, kam erst dann zum Einsatz, wenn das rechte mit seinem ganzen System sich bereits in Bewegung gesetzt hatte. Er gehörte zur Gruppe der Binären. Offenbar war sein Körper aufgrund irgendeiner Katastrophe bereits von Anfang an zweigeteilt gewesen und hatte sich später auf wunderbare, aber unvollständige Weise wieder zusammengefügt.46
Dieses Beispiel einer Auflösung der körperlichen Integrität nutzt Balzac für eine Kritik des cartesianischen Leib-Seele-Dualismus und der rationalistischen Physiologie. Der unkoordinierte Gang kann in Balzacs »Physiognomie des Körpers« nur als marionettenhafte Abweichung vom Ideal einer harmonischen, einheitlichen Körperbewegung verstanden werden. In ähnlicher Weise karikiert er einen Diplomaten, »der seinen Körper im Ganzen fortbewegte, als hätte ein Puppenspieler vergessen, die Fäden seiner Marionette zu ziehen«47. Dessen Gang erscheint dem Autor der Theorie de la demarche so hölzern wie die ungelenken Bewegungen einer führerlosen Holzpuppe, die erst der externe Wille eines Puppenspielers zu koordinieren und in einen logischen zeitlichen Ablauf zu bringen verstehe. Balzac denunziert hier die Vorstellung einer Körpermechanik, einer ›geistlosen‹ Apparatur, die nur unharmonische Bewegungen hervorbringen könne: »Die menschliche Bewegung zerfällt in deutlich voneinander unterschiedene ZEITEN. Werden diese durcheinandergebracht, dann wirkt die Bewegung ungelenk, wie die Mechanik.«48 Balzac faßt die Bewegung als zeitlichen Vorgang auf, er zergliedert sie in diskrete Stadien, die harmonisch ineinander übergehen und nicht willkürlich aufeinander folgen sollen. Nachdem er die Devianz eines mechanischen Körpermodells ausführlich dargestellt hat, fällt es ihm nicht mehr schwer, das »Geheimnis der schönen Gangart« zu lüften: »Sichtbar wird der Geist unserer Bewegung nur in ihren Übergängen: hier blitzt er unwillkürlich auf [...].«– die Schönheit einer Gangart »besteht ausschließlich in der Aufgliederung der Bewegung«.49 Harmonie zeigt eine Bewegung in ihren »Übergängen«; diese folgen einer Choreografie des Geistes, die in der Ästhetik seit alters her den Namen Anmut (nach dem lateinischen gratia) trägt. Balzac bestimmt sie mit Montesquieu als »richtige Verteilung der vorhandenen Kräfte«.50 Die Anmut stellt – wie auch Heinrich von Kleist in seiner 1810 verfaßten Schrift Über das Marionettentheater mitteilt –, das Einfache dar,
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Ebd., Ebd., Ebd. Ebd., Ebd.,
S. 111f. S. 112. S. 112f. S. 127.
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daß sich nur schwer erreichen läßt.51 Auch für Balzac unterliegen ihre Gesetze nicht der Geschichte, sondern einer überzeitlichen Ästhetik des Schönen. Anmut heißt für ihn darüber hinaus eine Diätetik der Kräfteverteilung und -einteilung, die seiner vitalistischen Vorstellung des körperlichen Organismus entspricht: »Die menschliche Bewegung ist gleichsam der Stil des Körpers, an dem man viel arbeiten muß, um ihn einfach erscheinen zu lassen. [...] Es gibt eine Harmonie der Bewegung mit klaren und unabänderlichen Gesetzen.«52 Diese Gesetze einer harmonischen Bewegung richtet Balzac nicht mehr – wie noch Kleist – am mechanischen Funktionsmodell der Marionette aus. Als zentralen Steuermechanismus inthronisiert er vielmehr einen autonomen Willen, der sich gerade in den unbewußten Körperbewegungen wie dem Gang kundtut. Indem Balzac die »menschliche Bewegung« – also im engeren Sinne den Gang – als »Stil des Körpers« identifiziert, stellt er über die Etymologie von Stil zugleich eine Analogie zwischen Körperbewegung und Schreiben her. Diese Analogie stellt die eigentliche Pointe der Balzacschen Theorie dar: Das lateinische stylus bezeichnete neben der Art und Weise des Schreibens zugleich das Schreibgerät selbst.53 Balzacs theoretische Betrachtung des Gehens faltet sich zu einer Choreografie aus; sie schreitet zu einer Stilanalyse des Gehens wie des Schreibens. Auf sie läuft seine Theorie de la demarche zu: Der Mensch sei nach der Maxime La Bruyères – »Le style c’est le homme« – an seinem Schreibstil wie an seinem Gang zu erkennen. Jedoch bedarf es eines Autors, der die flüchtigen Spuren und Merkmale des Gehens erkennt und verschriftlicht. Balzacs Theorie öffnet sich damit zugleich von einer Theorie der innehaltenden Markierung54 zu einer Theorie der Übergänge. Sie markiert die schwebende Berührung von Fuß und Grund – ganz so, wie er sein Vorhaben in der Schwebe zwischen Vernunft und Wahnsinn angesiedelt hat – als Übergang. Die Beobachtung der Bewegungsübergänge stellt das 51 In Kleists Erzählung ist ein Tänzer von der Anmut der bewegten Marionette überzeugt und glaubt, das menschliche Selbstbewußtsein bedrohe seine »natürliche Anmut«. Der Schwerpunkt der Marionette fungiert als zentrale ›Steuereinheit‹, die ihre Bewegungen koordiniert und anmutig erscheinen läßt - Kleists Ästhetik ist noch ganz der Newtonschen Physik verpflichtet (Heinrich von Kleist: Über das Marionettentheater [1810], in: ders.: Sämtliche Werke und Briefe, hg. von Helmut Sembner, München: dtv 1987, Bd. 2, S. 338-345, hier S. 341). 52 H. de Balzac: Theorie, S. 129. 53 Vgl. Vilém Flusser: »Die Geste des Schreibens«, in: ders.: Gesten. Versuch einer Phänomenologie, Frankfurt a.M.: Fischer 1994, S. 32-40. 54 Dies hebt Thomas Schestag in seinem brillanten Essay hervor: Balzacs Schrift sei »eine Theorie der Margen, Markierungen und Merkmale, eine Theorie der teilbaren Spur, [...] Theorie der Demarkation« (ders.: »Piedestal/Souterrain«, S. 12).
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Pendant zur Beobachtung der unwillkürlichen Körperbewegungen dar. In ihnen teilt sich für Balzac der Wille bzw. die Lebenskraft des Subjekts unwillkürlich mit. Gemeinsam bilden sie das Herzstück von Balzacs Theorie de la demarche. Diese wiederum bildet das Gegenstück zu einer Reihe von naturwissenschaftlichen Untersuchungen über das Gehen, die wie Wilhelm und Eduard Weber das »Schauspiel des Gehens auf trigonometrische Formeln gebracht [haben], um das Zusammenspiel von Knochen und Gelenken anzuschreiben«.55 Balzac glaubte, mit dem als Beobachter ausgezeichneten Schriftsteller eine Erkenntnisfigur geschaffen zu haben, die eine Theorie des Gehens verfassen könne. Gegen dessen Beschreibungspraxis setzt schon bald die Chronofotografie eine vermeintliche Objektivität der Aufzeichnung von Bewegung, die zum ersten Mal die Bewegungsphasen beim Gehen sichtbar macht.56 Was Ernst Heinrich und Wilhelm Weber begonnen haben: die chronografische Aufzeichnung der Schwingungen einer Stimmgabel durch eine Schweineborste auf rußgeschwärzter Platte, sollte Étienne-Jules Marey zu einer eigenen wissenschaftlichen Disziplin ausbauen. Urszene der Chronofotografie ist die schwarze Platte, auf der sich Bewegungsspuren aufzeichnen. Mareys Assistent, Georges Demenÿ, der wie sein Lehrer daran arbeitete, die diskreten Einzelbilder selbst wieder in Bewegung zu versetzen, veröffentlichte 1905 eine Schrift mit dem Titel Mécanisme et education du mouvement. Mit der Chronofotografie gelangen genau solche geringfügigen Bewegungsmomente zur Darstellung, die Ausgangspunkt von Balzacs theoretischen Einlassungen geworden sind.
3 . 2 E n t z ug d er S ic ht b a r k ei t : K ier k eg a a r d s » S c ha t t en r i s s e « Die unwillkürlich hervorgebrachten, geringen Anzeichen einer affizierten Individualität spielen in Honoré de Balzacs Theorie des Gehens und seiner Dynamisierung des Ausdrucksbegriffs eine entscheidende Rolle. Sie begründen eine Epistemologie der Bewegung auf der Ebene ihrer Sichtbarmachung. Sein Vertrauen in die Bedeutung solcher Nuancen von Körperbewegungen ist Teil einer bürgerlichen Beobachtungskultur, die ihre Mitglieder durch die Ausforschung individueller Besonderheiten diszipliniert. Wenn Balzac mit der optischen Telegrafie ein mediales 55 F. Kittler: »Von der Poesie zur Prosa«, S. 268. 56 Diese Objektivität stellt selbst wiederum einen Diskurseffekt dar; vgl. Lorraine Daston/Peter Galison: »Das Bild der Objektivität«, in: P. Geimer (Hg.): Ordnungen der Sichtbarkeit, S. 29-99.
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Modell für die Kodifizierung von Körperbewegungen vorschlägt, dann deshalb, weil er an ein Zeichensystem für diese Bewegungen glaubt. Dieser Glaube bleibt jedoch nicht unwidersprochen. Sören Kierkegaard etwa bezweifelt in seinem 1843 erschienenen Buch Entweder – Oder, daß sich das Affektbild der reflektierten Trauer physiognomisch darstellen läßt. Auch künstlerisch sei es nicht sichtbar zu machen, da dieser Affekt nicht dem Gebot der Schönheit gehorche und indifferent sei. Im Gegensatz zu Lessing, der in seiner Hamburger Dramaturgie physiologische Ursachen für eine mögliche Inkongruenz von Affekt und Ausdruck angegeben hatte,57 verlagert Kierkegaard die Problematik der Affekt-Ausdrucksbeziehung auf die Ebene der Repräsentation. Mit der reflektierten Trauer stellt er zudem die spezifisch moderne Verfaßtheit des Menschen ins Zentrum seiner Überlegungen zur Darstellbarkeit von Affekten: seine Anfälligkeit für Reflexion. Die reflektierte Trauer äußere sich im Unterschied zur unmittelbar sich zeigenden Trauer nur zeitlich verzögert und in einer Reihe von unwillkürlichen Anzeichen, die sich allerdings nicht zu einem ganzen Bild des Affekts zusammenfassen ließen. Die sich selbst bewußte Trauer wird so zum Symptom eines restriktiven Affektshaushalts. An ihr entwickelt Kierkegaard eine ganze Charakterologie des modernen Menschen. Die visuelle Undarstellbarkeit dieses Affektbildes verhandelt Kierkegaard in den »Schattenrissen« genannten Charakterbildern im ersten Teil von Entweder – Oder. Ihr anonymer Verfasser habe sie nach eigener Aussage zum »psychologischen Zeitvertreib« angefertigt, um das innere, nicht visuell repräsentierbare Bild der reflektierten Trauer am Leitfaden dramatischer Charaktere wie der Marie Beaumarchais aus Goethes Tragödie Clavigo oder der Donna Elvira aus der Mozart-Oper Don Giovanni zu versprachlichen.58 An die Stelle von Balzacs Darstellungsrealismus setzt Kierkegaard eine ästhetisch armierte Innerlichkeit, die eine natürliche Entsprechung von Innerem und Äußerem verneint. Sein Anonymus spielt das äußere Bild, die Physiognomie der Trauer, gegen das innere Bild, ihre psychische Form, aus. Er wählt deshalb Dramencharaktere aus Schauspiel und Oper, um eine psychologische Charakteristik der reflektierten Trauer zu entwerfen, die – aber das übergeht der Autor wohlweis-
57 Vgl. G.E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie, S. 197. 58 Sören Kierkegaard: Entweder - Oder (1843), Teil 1, hg. von Hermann Diem und Walter Rest, München: dtv 1988, S. 199-254. Kierkegaard verbirgt sich zudem hinter dem fiktiven Herausgeber Victor Eremita, der im Vorwort erläutert, wie er in den Besitz der Papiere und Korrespondenz zweier anonymer Verfasser kommt, die er mit »A« und »B« bezeichnet.
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lich – durch das Rollenspiel des Schauspielers bzw. Sängers in der Aufführung ja in actu verwirklicht wird.59 Diese von Kierkegaard vereinnahmten Bühnencharaktere sind daher – einer Beobachtung Theodor W. Adornos zufolge – wie alle seine »ästhetische[n] Figuren [...] einzig Illustrationen seiner philosophischen Kategorien, die sie fibelhaft verdeutlichen, ehe sie begrifflich zureichend artikuliert sind. Ihnen haftet, vorm heutigen Beschauer, der eigentümliche Charakter von Schein an, der vielen Illustrationen aus der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eignet.«60 Dieser Vergleich ist in zweifacher Hinsicht äußerst beredt. Einerseits wendet er Kierkegaards Verdikt der Undarstellbarkeit in sein genaues Gegensteil: Für Adorno entsprechen Kierkegaards ästhetische Figuren dem formelhaften Schematismus der illustrativen Praxis seiner Zeit. Andererseits wendet Adorno diese Techniken der klischeehaften Visualisierung gegen Kierkegaards Ambition, das Affektbild der reflektierten Trauer psychologisierend als »Schattenriß« beschreiben zu wollen: Sie bildet für ihn vielmehr das optische Unbewußte seiner darstellungstheoretischen Reflexion. Mit dem Begriff ›Illustration‹ ist ein Verfahren der Visualisierung benannt, das ›innere‹ Bilder in ›äußere‹ übersetzt. Dieser Begriff setzt sich nämlich erst um 1840 – also parallel zu Kierkegaards Überlegungen – als Bezeichnung für bildliche Texterläuterungen auf der Basis reproduktiver Drucktechniken durch. Senefelders Lithografie und die Einführung der Rotationspresse bildeten einen Medienverbund, dem die massenhafte und schnelle Verbreitung von Text-Bild-Erzeugnissen wie der Illustrierten zu verdanken ist. Zu denken ist hier aber auch an Illustrationen für die in dieser Zeit populären Abenteuer- und Kolportageromane und an die illustrierten Physiologies, in denen, kaum verwunderlich, die Karikatur eine Blütezeit erlebte, sowie an die virtuosen Bilderserien eines J.J. Grandville oder Gustave Doré. Für Balzac gehören Typologien zum Fundus, aus dem seine literarischen Figuren hervorgegangen sind. Die Unterschlagung der schauspielerischen bzw. gesanglichen Darbietung der von Kierkegaard eingeführten Bühnencharaktere, denen ja die Darstellung von Affekten wie der Trauer aufgegeben ist, entpuppt sich also auch im Blick auf die illustrierende Funktion dieser ästhetischen Figuren als strategische Option von Kierkegaards Text, der die Schrift gegen das Bild ausspielt. Seine »Schattenrisse« werden mithin zum allerdings verschwiegenen Testfall eines Affektbildes, das sich anders für Kierkegaard nicht darstellen läßt.
59 Erinnert sei nur an Lessings Definition der Schauspielkunst als »transitorische Malerei« im fünften Stück seiner Hamburgischen Dramaturgie. 60 Theodor W. Adorno: Kierkegaard. Konstruktion des Ästhetischen, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 16.
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Wenn im Folgenden diese textorganisierende Konfliktstellung zwischen der behaupteten Undarstellbarkeit des Affektbildes der reflektierten Trauer und den »Schattenrissen« als dessen sprachlicher Darstellung zum Ausgangspunkt einer Lektüre verschiedener Schriften Kierkegaards genommen wird, so zielt diese Lektüre zunächst auf eine Rekonstruktion des diskursiven Zusammenhangs, in dem die ästhetischen und im engeren Sinne ausdruckstheoretischen Annahmen Kierkegaards stehen. Darüber hinaus rechtfertigt sich diese Fokussierung durch die Weichenstellung, die seine Texte für das Visualisierungsproblem der Ausdruckstheorie und der Wissenschaften vom Menschen im Verlauf des 19. Jahrhunderts einnehmen. Die Diskrepanz zwischen Wissen und Darstellung, die bereits in der Debatte um Physiognomik bzw. Pathognomik im ausgehenden 18. Jahrhundert zu Tage trat, kehrt als epistemologische Problemstellung der Humanwissenschaften und ihres Verhältnisses zur Repräsentation wieder.61 Kierkegaards anonymer Verfasser schließt an die darstellungstheoretischen und poetologischen Auseinandersetzungen jener Epoche an, indem er einmal mehr Lessings Unterscheidung von Poesie und Malerei aus dessen Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie von 1766 zum Maßstab seiner ästhetischen Erörterungen erhebt. Diese Referenz muß allein schon deshalb überraschen, weil diese Schrift sich nur mittelbar mit der Darstellung von Affekten beschäftigt. Doch Dramentheorie und theatrale Aufführungspraxis stellten in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zusammen mit der Anthropologie den diskursiven Rahmen für die Diskussion der Ausdrucksproblematik dar. Daß Kierkegaards »A« nicht, wie naheliegend, auf Lessings Schauspieltheorie, sondern statt dessen auf seine Laokoon-Schrift zu sprechen kommt, muß also besondere Gründe haben. Lessing verpflichtete bekanntlich die Malerei auf die Gestaltung räumlicher Zusammenhänge und versagte ihr die visuelle Darstellung heftiger Bewegungen. Dagegen liegt für ihn die Bestimmung der Poesie in der sukzessiven sprachlichen Darstellung von Handlungen sowie von körperlichen und Gemütsbewegungen.62 Mit dem Laokoon ruft Kierke61 Foucault hat das Angewiesensein der Wissenschaften vom Menschen auf die Repräsentation dargelegt und gleichzeitig problematisiert: An die Stelle der klassischen Repräsentation als dem Schauplatz einer Ordnung der Dinge tritt in den Humanwissenschaften ein souveräner Raum, der »nicht mehr das Bild ihrer Anordnung zu entfalten« braucht und in der die »Wesen nicht mehr ihre Identität [offenbaren], sondern die äußerliche Beziehung, die sie zum menschlichen Wesen herstellen« (M. Foucault: Ordnung der Dinge, S. 378, s.a. S. 424). 62 Lessing begründet die Überlegenheit der Poesie entlang ihrer Möglichkeiten zur Schilderung körperlicher Schönheit, die eigentlich eine Domäne der Malerei sei. Die Poesie verwandle aber »Schönheit in Reiz«, und Reiz
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gaards Text auch die Ausdruckslogik von Lessings Ästhetik auf, die sprachliche von visueller Darstellung scheidet und als Genredifferenz faßt.63 Kierkegaards Anonymus geht es offensichtlich um diese Aporien der Darstellung, die er nur in der Gegenüberstellung von Malerei und Poesie aufzeigen kann. Auch Lavater und Lichtenberg – die maßgeblichen Opponenten der Ausdrucksdebatte in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts – haben ihre konträren Programme am Modell der Sprache orientiert. Diese Diskrepanz von Versprachlichung und Visualisierung, von Wissen und seiner Darstellung, die Lavaters physiognomische Schriften wie Lichtenbergs »Semiotik der Affekte« gleichermaßen durchzieht, dirigiert auch Kierkegaards Text. Seine Argumentation bewegt sich dennoch nur auf dem ersten Blick ganz in den Bahnen dieser Ausdruckstheorien. Denn fast unmerklich vollzieht sich ein epistemologischer Bruch zu den ausdruckstheoretischen Projekten der Aufklärung. Insbesondere die bereits zitierte Selbstrechtfertigung des anonymen Verfassers gibt einen entscheidenden Hinweis. Zwei Formulierungen aus den »Papieren von A« lassen aufhorchen: Bereits in den einleitenden Bemerkungen hatte er seine Charakterstudien als »Schattenrisse« bezeichnet und behauptet, diese zum »psychologischen Zeitvertreib« angefertigt zu haben. So offensichtlich auch diese Selbstbescheidung der Verharmlosung des eigenen, doch so ambitionierten Vorhabens dient: Das Deuten von Silhouetten gehörte zu Zeiten Lavaters und Lichtenbergs zur Standardkommunikation geselliger bürgerlicher Kreise. Man glaubte, den Charakter eines Menschen aus seiner Profillinie ablesen zu können. Zugleich ist mit dem Schattenriß ein Visualisierungsverfahren benannt, das auf der Projektion der äußeren Form des Kopfes beruht. Was Kierkegaards Anonymus jedoch angeblich zum bloßen Vergnügen betreibt und damit marginalisiert, ist eben gerade nicht die Lektüre von Schattenrissen in Lavaters Sinn. Psychologie heißt für ihn vielmehr das Projekt einer (Selbst-)Beobachtung und Plausibilisierung emotionaler Zustände – und nicht von Charakterzeichen in Lavaters Sinn – , die sich nicht oder nur schwerlich in körperlichen Anzeichen äußern und durch sie sichtbar werden. Damit geht Kierkegaard in Opposition zur ausdruckstheoretischen Prämisse schlechthin: der Sichtbarkeit der Zeichen am Menschen als Voraussetzung für ihre Deutbarkeit.
sei »Schönheit in Bewegung«; die könne der Maler »nur erraten lassen, in der Tat aber sind seine Figuren ohne Bewegung« (ders.: Laokoon, S. 145). 63 Vgl. William J. Thomas Mitchell: »Space and Time. Lessing’s Laokoon and the Politics of Genre«, in: ders.: Iconology. Image, Text, Ideology, Chicago/London: The Univ. of Chicago Press 1986, S.95-115.
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Experimentell ist Kierkegaards Psychologie in Wahl und Anordnung der in seinen Schriften geschilderten Fallgeschichten. Diese sind Versuchsanordnungen, die er aufgrund einer angenommenen, psychologisch relevanten Konstellation entworfen hat. Psychologie nennt Kierkegaard eine Methode der Beobachtung und Analyse psychischer Vorgänge. So gab er seiner ebenfalls 1843 unter dem Pseudonym Constantin Constantius erschienenen Schrift Die Wiederholung den (ironischen) Untertitel »Ein Versuch in der experimentierenden Psychologie«64. Der Prosaiker, als der sich Kierkegaards Constantin Constantius bezeichnet, setzt sich nach eigenem Bekunden als Beobachter »ganz ruhig das Mikroskop vor das Auge«, denn »dann läßt man nicht das Ohr aufschlucken, was gesagt wird, sondern man zieht die Jalousie vor, den Filter der Kritik, die jeden Laut und jedes Wort prüft.« Ein solcher Beobachter sei einem »Polizeispion in höherem Dienst« vergleichbar, denn seine Kunst sei es, »das Verborgene ans Licht zu bringen«.65 Diese Passage macht deutlich, daß Kierkegaards Beobachtungsmethode nicht nur auf der visuellen Erfaßbarkeit und Deutbarkeit der beobachteten Objekte beruht – er schließt akustische Daten, die das Ohr nur «aufschluckt«, auch bewußt aus. Darüber hinaus wählt Kierkegaards Verfasser mit dem Mikroskop ein optisches Gerät als tertium comparationis für seine Erkenntnisfähigkeit, das in den erkenntnistheoretischen Debatten des 19. Jahrhunderts immer wieder die Überlegenheit apparativ gestützten Sehens vor den Unzulänglichkeiten des menschlichen Auges zu beweisen hatte. Als deren Ausgangspunkt muß außerdem die Diskussion um die Fotografie angesehen werden, die mit der Bekanntmachung von Daguerres Patent im Jahr 1839, also wenige Jahre vor der Veröffentlichung von Kierkegaards Entweder – Oder und Die Wiederholung, einsetzte.66
64 Als ein »ironisches Experiment, das kein Ergebnis liefert, sondern ein solches verstellt«, beschreibt Elisabeth Strowick Kierkegaards Wiederholung (dies.: Passagen der Wiederholung. Kierkegaard - Lacan - Freud, Stuttgart/Weimar: Metzler 1999, S. 64). Damit setzt Kierkegaard die Parameter wissenschaftlichen Experimentierens (Objektivität, Kontrolle und Wiederholbarkeit) außer Kraft. 65 Sören Kierkegaard: Die Wiederholung, in: ders.: Werke II, übers. und hg. von Lieselotte Richter, Reinbek: Rowohlt 1961, S. 10. 66 Dem Kunstkritiker Jules Janin gebührt das Verdienst, den Vergleich von Mikroskop und Daguerreotyp noch vor der Bekanntgabe des gleichnamigen Verfahrens im Januar 1839 aufgebracht zu haben: »Legen Sie unter das Sonnenmikroskop den Flügel einer Fliege, und der Daguerreotyp, ebenso stark wie das Mikroskop, wird den Flügel in diesen unermeßlichen Dimensionen abbilden, die ans Märchenhafte grenzen« (ders.: Der Daguerreotyp, in: Wolfgang Kemp [Hg.]: Theorie der Fotografie I. 1839-1912, München: Schirmer/Mosel: 1980, S. 46-51, hier S. 49).
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Es lohnt sich, diesen Vergleich genauer zu studieren. Er vollzieht nämlich eine signifikante Verschiebung: Dem Mikroskop als Beobachtungsinstrument blendet Kierkegaards Constantius einen Filter vor, der nur bestimmte Eindrücke passieren läßt. Genauer gesagt: Die von ihm benannte Jalousie stellt die Wahrnehmung des beobachteten Objekts unter einen binären Kode, indem sie das Licht nur an bestimmten Stellen und dazu unvollständig durchläßt. Die Jalousie kodiert die Information Licht–Nichtlicht und diffundiert zugleich das wahrgenommene Objekt in einem Stroboskopeffekt: ganz so, wie – denn das ist die andere Bedeutung von la jalousie – die Eifersucht die Wahrnehmung blendet und damit subjektiv verzerrt. Das Mikroskop bezeichnet als Vehikel einer kalten Beobachtung für Kierkegaard zwar die Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis, die aber durch den »Filter der Kritik« subjektiv gefärbt wird. Bemerkenswert bleibt der Vergleich auch, weil Constantius Mikroskop und Jalousie als Prüfinstanzen für »jeden Laut und jedes Wort« wählt und damit Instrumente der visuellen Wahrnehmung und akustische Daten auf paradoxe Weise miteinander verschränkt, um seinen Erkenntnisanspruch zu formulieren. Erst diese optischen Instanzen legitimieren »das Ohr zum Organ der Innerlichkeit«,67 weil sie das nur Gesagte herausfiltern und die verborgene Innerlichkeit der Stimme freilegen. Im Gegensatz zu den optischen Daten, die Mikroskope gemeinhin liefern, ist diese Innerlichkeit inkommensurabel. Eingangs des zweiten Teils von Entweder - Oder stellt Kierkegaard diesen Zusammenhang heraus: »Denn wie die Stimme die Offenbarung einer zum Äußeren in keinem meßbaren Verhältnis stehenden Innerlichkeit ist, so ist das Ohr das Werkzeug, mit welchem diese Innerlichkeit erfaßt, das Gehör der Sinn, mit welchem sie zugeeignet wird.«68 Das ›akustische Mikroskop‹ dient als »Filter der Kritik« einer Datenselektion, an deren Ende Innerlichkeit als Substrat der Stimme hervortritt. Kierkegaards Formel, »das Verborgene ans Licht zu bringen«, bezeichnet dabei die Grundfigur der Hermeneutik schlechthin: das Begehren, ja die Wut, das zu verstehen, was sich hinter einer Reihe von Zeichen verbirgt.69 Kierkegaards Stärke ist, daß er zunächst verschiedene Wege einschlägt, um diesem Ziel näherzukommen. Das Mikroskop steht als pars pro toto für eine Erkenntnisweise, die die Grenze zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren durch eine apparativ erzeugte Sicht67 Th.W. Adorno: Kierkegaard, S. 97. 68 zit. ebd. 69 Jochen Hörisch setzt den universalen Anspruch der Hermeneutik um 1775 als Antwort auf eine Pädagogik an, die sich körperlicher Züchtigung enthält und statt dessen die Indoktrinierung des Geistes durch die Stimme des Pädagogen betreibt (vgl. ders.: Die Wut des Verstehens. Zur Kritik der Hermeneutik, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988, bes. S. 78-88).
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barkeit verschiebt. Zugleich ist es wie der Spion (in der Doppelbedeutung von Polizeispion und Türspion) ein Vehikel der Wahrnehmung, die auf die Sichtbarkeit von Objekten bzw. Spuren angewiesen bleibt.70 Und als Spurenleser wird sich der Kriminologe wie der Mediziner im 19. Jahrhundert zunehmend verstehen. Mikroskop und Spion verbindet zudem die Logik der Projektion: Sie bündeln das Wahrgenommene zu einem raumlosen Punkt, in dem »Wirklichkeit sich nicht zu erstrecken [vermag], sondern bloß in optischer Täuschung gleichwie in einem Guckloch erscheint«.71 Dieselbe Form der Kadrierung des Gesehenen hat Physiologen wie die Brüder Weber zur Bestimmung ihres wissenschaftlichen Gegenstandes geführt. Diesen Instrumenten ist deshalb ein Beobachter beigegeben, der die aufgenommenen Daten zu bewerten hat. Versagen muß diese Erkenntnisweise jedoch dort, wo es keine sichtbaren Zeichen zu deuten gibt. Übertragen auf die Ausgangsfrage, wo sich das Affektbild der reflektierten Trauer darstellen lasse, heißt das: Solange keine oder keine eindeutigen Zeichen vorliegen, bleibt es undeutbar. Und genau das behauptete Kierkegaard ja angesichts dieses indifferenten Affekts und wirft damit das ausdruckspsychologische Problem schlechthin auf: Er stellt in Frage, daß sich Emotionen überhaupt ausdrücken müssen, also an der Oberfläche des Körpers sichtbar werden. Sein Vorwort von Entweder – Oder eröffnet der fiktive Herausgeber Victor Eremita mit diesem kategorischen Zweifel: Es ist dir vielleicht doch schon zuweilen eingefallen, lieber Leser, an der Richtigkeit des bekannten philosophischen Satzes, daß das Äußere das Innere, das Innere das Äußere sei, ein bißchen zu zweifeln. Du hast vielleicht selbst ein Geheimnis gehütet, von dem du fühltest, daß es, in seiner Freude oder in seinem Schmerz, dir zu lieb sei, als daß du andere darein hättest einweihen mögen. Dein Leben hat dich vielleicht mit Menschen in Berührung gebracht, von denen du ahntest, daß etwas Derartiges bei ihnen der Fall sei, ohne daß doch deine Macht oder deine Bestrickung imstande gewesen wäre, das Verborgene offenbar zu machen.72
70 Als Spione wurden im 19. Jh. jene Reflexionsspiegel bezeichnet, die an Fenstern von Wohnblöcken angebracht wurden, um »die endlose Straßenlinie solcher Mietshäuser in den abgeschlossenen bürgerlichen Wohnraum hineinzuprojizieren«. Als Spion »in höherem Dienste, im Dienst der Idee« hat sich Kierkegaard zudem selbst bezeichnet (Th. W. Adorno: Kierkegaard, S. 78). 71 Th.W. Adorno: Kierkegaard, S. 82. 72 S. Kierkegaard: Entweder — Oder, Teil 1, S. 11 (meine Hervorhebung, P.L.).
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Kierkegaards Herausgeberfigur verneint hier kategorisch, daß sich innerer Schmerz und seine äußere Erscheinung entsprechen müssen. Das Verbergen von Affekten bildet deshalb eine Grundfigur von Kierkegaards Ästhetik, wie sie im ersten Teil von Entweder – Oder anhand der »Papiere von A« entwickelt und im Tagebuch des Verführers abschließend legitimiert wird. Adorno zitiert eine Passage aus Kierkegaards Schrift Die Krankheit zum Tode, um am Beispiel der Verzweiflung dessen paradoxe Auffassung der Affekt-Ausdrucksbeziehung aufzuzeigen. Dort fragt Anti-Climacus, der fiktive Verfasser der Schrift, nach der »entsprechenden Äußerlichkeit« einer sich selbst bewußten und daher sich verbergenden, »dämonischen« Verzweiflung: »Ja, da gibt es nichts ›Entsprechendes‹, da eine entsprechende Äußerlichkeit, die der Verschlossenheit entspräche, ein Widerspruch in sich selbst ist; denn wenn sie entsprechend ist, dann ist sie ja offenbarend.«73 Kierkegaards alter ego beharrt darauf, daß sich solche existentiellen Affekte wie die Verzweiflung gerade nicht an der Körperoberfläche ablesen lassen: Je geistiger aber die Verzweiflung wird, je mehr die Innerlichkeit eine eigene Welt für sich in der Verschlossenheit wird, desto gleichgültiger ist es mit dem Äußerlichen, worunter die Verzweiflung sich verbirgt. Aber gerade je geistiger eine Verzweiflung wird, desto mehr ist sie selbst aufmerksam mit dämonischer Klugheit, die Verzweiflung in der Verschlossenheit eingeschlossen zu halten, desto mehr ist sie darum aufmerksam darauf, das Äußere zu neutralisieren, es so unbedeutend und gleichgültig wie möglich zu machen.74
Geistigkeit und Affektausdruck stehen für Kierkegaard diametral gegenüber, so daß sich – gemäß der zivilisationstheoretischen Prämisse, wonach der kultivierte Mensch den Ausdruck seiner Affekte unterbinde – extremer Affekt (Verzweiflung) und extreme Geistigkeit (Innerlichkeit) im Ausdruck gegenseitig aufheben. Die Neutralisierung der äußeren Anzeichen der Affekte, die in Kierkegaards Verständnis keine plötzlichen Ausbrüche, sondern einen dauerhaften »geistigen« Zustand bezeichnen, ist oberstes Gebot einer sich um jeden Preis verbergenden Innerlichkeit. Adorno hat jedoch nachgewiesen, daß »das schlechthin Verborgene« bei Kierkegaard paradox mitgeteilt wird »in der Chiffre«, die wie »jegliche Allegorie, [...] nicht bloß Zeichen, sondern Ausdruck« sei.75 Diese Zwischenstellung der Chiffre zwischen Zeichen und Ausdruck stelle sich insbesondere in den Affekten
73 Sören Kierkegaard: Die Krankheit zum Tode (1849), in: ders.: Werke IV, übers. und hg. von Lieselotte Richter, Reinbek: Rowohlt 1962, S. 70. 74 Ebd., S. 71. 75 Th.W. Adorno: Kierkegaard, S. 49.
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dar, die selbst »Chiffren eines positiv-theologischen Gegenstandes« seien.76 So sei in Kierkegaards Schrift Der Begriff der Angst ›Angst‹ die Chiffre – Zeichen und Ausdruck – von Sünde und in Die Krankheit zum Tode »Verzweiflung die Chiffre von Verdammnis«.77 Über den Umweg der Chiffrierung sollen die verborgenen und verinnerlichten Affekte nicht im Bereich des Ästhetischen, aber gleichwohl im Bereich des Ethischen zur Darstellung kommen. Für Adorno wird durch den Sprung ins Ethisch-Religiöse »das Äußere eine magische Apparatur, die, als ›Ausdruck‹, verborgenen Gehalt zitiert« – ein Vorgang, den Kierkegaard selbst in Furcht und Zittern erklärt: »Für die ethische Betrachtung des Lebens ist es demnach die Aufgabe des einzelnen, sich der Bestimmung durch das Innere zu entkleiden und diese in einem Äußeren auszudrükken.«78 Neben der religiös-ethischen Dimension besitzt die Chiffrierung des Affekts für Adorno noch eine geschichtsphilosophische: »Die Affektenpsychologie will mit dem ewig-eigentlichen Menschenwesen den geschichtlich verlorenen Sinn zitieren«.79 Adorno macht aber auf diese Weise klar, daß Kierkegaards Innerlichkeitsphilosophie das Produkt einer »geschichtlichen Konstellation« sei, daß also »Kierkegaard als psychologisch Einsamer am wenigsten einsam« sei.80 Der Bruch zwischen dem Inneren und dem Äußeren ist deshalb nicht nur individualpsychologisch die Konsequenz aus dem Mißverhältnis zwischen dem Voyeurismus eines psychologisierenden Beobachters, der an kleinsten Nuancen des Verhaltens den Seelenzustand seines beobachteten Gegenübers zu entlarven sucht, und Kierkegaards Versuch, genau diesem Voyeurismus zu entgehen. Dieser Bruch ereignete sich historisch genau dann, als sich in der bürgerlichen Gesellschaft die Ansicht durchsetzt, zwischen Innerem und Äußerem gebe es eine ›natürliche‹ Entsprechung. Richard Sennett hat diese Umstellung der Subjektivitätsvorstellung vom Rollenverständnis der Aufklärung zur Immanenz der Persönlichkeit in der bürgerlichen Kultur des beginnenden 19. Jahrhundert nachgezeichnet und in die Formel einer »Immanenz der Persönlichkeit «81 gekleidet. Kierkegaards Beobachter versucht also, durch eine Vergeistigung des Affekts, die seine Diffusion im Sichtbaren bedeutet, der Beobachtung durch andere zu ent-
76 Ebd. 77 Ebd. Dem allegorischen Impuls erliegt auch Balzac, wenn er von den »ewigen Hieroglyphen des menschlichen Ganges« spricht (H. de Balzac: Theorie, S. 72). 78 Ebd., S. 105. 79 Ebd., S. 51. 80 Ebd., S. 56. 81 R. Sennett: Verfall und Ende, S. 186.
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gehen und dadurch nicht selbst zum Objekt voyeuristischer Zumutungen in der bürgerlichen Gesellschaft zu werden. Damit rührt Kierkegaard an die Grundannahme jeglicher Ausdruckstheorie und treibt sie in die Aporie: Wie kann man auch dort noch Ausdruckszeichen entdecken, wo nichts ausgedrückt wird, wo der Affekt keine sichtbaren Spuren hinterläßt? Kierkegaards Argumentation zielt zunächst auf eine Negation des Sichtbaren, genauer: auf eine Negation des sichtbaren Ausdrucks und der Sichtbarkeit als Garant der ausdruckstheoretischen Prämisse, Inneres müsse sich im Äußeren kundtun. Damit entzieht er Lektüreanleitungen wie der Physiognomik ihren erkenntnistheoretischen Boden. Erst nach dem Durchgang durch die Aporie des nichtsichtbaren Ausdrucks kann die Frage nach der Lesbarkeit der reflektierten Trauer für Kierkegaard erneut gestellt werden. An diesem Problem entlang entwickelt Kierkegaards »A« seine Überlegungen zur psychologischen Charakteristik der reflektierten Trauer. Da für ihn die Kunst »das Innere in einem entsprechenden Äußeren« transparent zu machen habe, werde diese »Aufgabe für den Künstler« um so schwieriger, je weniger sich am Äußeren das Innere ablesen lasse.82 Besonders die künstlerische Darstellung der Trauer zeige die Tendenz, sich zu verbergen, »ja zuweilen sogar [zu] betrügen«.83 Dies treffe besonders auf dasjenige Stadium der Trauer zu, in dem sich das Subjekt bewußt geworden sei zu trauern. Aus einem anfänglichen Affekt ist durch die Reflexion ein dauerhafter Zustand geworden. Allenfalls die »äußere Blässe« sei »gleichsam der Abschiedsgruß des Innern«84 und könne noch als äußeres Anzeichen der reflektierten Trauer gewertet werden. Dieser äußerlichen Unbewegtheit entspricht für Kierkegaards Anonymus in keiner Weise der innere Zustand, der durch eine permanente Unruhe gekennzeichnet sei. Deshalb sei die sich ihrer selbst bewußte Trauer in zweifacher Hinsicht künstlerisch nicht darstellbar – zum einen, weil »das Gleichgewicht zwischen dem Inneren und dem Äußeren« aufgehoben sei, und zum anderen, weil sie, da »es ihr an Ruhe« fehle, »nicht in einem bestimmten einzelnen Ausdruck« ruhe.85 Weder gälten für die äußere Erscheinung der reflektierten Trauer stabile Zuordnungsregeln von Affekt und Ausdruck, noch könne überhaupt der Affekt einem Ausdruck zugeordnet werden. Kierkegaards »A« formuliert hier auf subtile Weise einen Frontalangriff auf die Lektüretechniken des Ausdrucks, die auf der Sichtbarkeit
82 83 84 85
S. Kierkegaard: Entweder — Oder, Teil 1, S. 199f. Ebd., S. 200. Ebd. Ebd., S. 201.
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und Lesbarkeit körperlicher Symptome beruhen. Sein Angriff gilt in erster Linie einer universal lesbaren Semiotik der Affekte, wie sie Lichtenberg angestrebt hat. Aber auch Lavaters Projekt einer moralischen Entzifferung der menschlichen Physiognomie versagt Kierkegaard die Gefolgschaft: Die beiden Opponenten von Entweder – Oder bleiben schemenhafte Verkörperungen – nach Adorno »Illustrationen« – der Dialektik von Ästhetischem und Ethischem, die in keiner Weise physiognomisch faßbar werden. Wo die körperlichen Anzeichen der Affekte unterdrückt werden und deshalb die tradierten Ausdruckstheorien versagen, müssen für Kierkegaards alter ego neue Wege eingeschlagen werden, um auch verborgene Affekte und Leidenschaften wie die reflektierte Trauer ausforschen zu können. Denn auch er unterliegt – noch in der Negation der gesetzten Positivität des Ausdrucks – der Faszination des Erkennenwollens; auch er will lesen, wo es nichts zu lesen gibt. Was unternimmt Kierkegaards fiktiver Verfasser nun, um das Affektbild der reflektierten Trauer zu entziffern? Zunächst einmal organisiert er seine Beschreibung um eine Metapher. Die innere Rastlosigkeit der reflektierten Trauer führe zu einer einförmigen Bewegung, die dem Pendelschlag einer Uhr vergleichbar sei. Der Vergleich des menschlichen Organismus mit einem Uhrwerk ist von der rationalistischen Philosophie und Anthropologie des 17. Jahrhunderts eingeführt worden und wurde seitdem topisch verwendet. So verglich Descartes 1649 in seiner Schrift Die Leidenschaften der Seele die unwillentlichen Körperbewegungen mit der »Bewegung einer Uhr«, die »durch die bloße Kraft ihrer Feder und der Gestaltung ihrer Räder hervorgebracht wird.«86 Fast hundert Jahre später prägte La Mettries Rede vom l’homme machine den aufstrebenden Diskurs der rationalen Erkundung des Menschen: die Physiologie. Der Pendelschlag kennzeichnet für Kierkegaards »A« jedoch nicht mehr die rein physische Kausalität und Funktionsweise des menschlichen Organismus. Er beschreibt vielmehr eine Seelenbewegung, deren körperlichen Symptome unterdrückt werden. Mit der Wahl und Umdeutung dieser Metapher nimmt Kierkegaard Stellung zum Verhältnis von Physiologie und Psychologie. Er überträgt die Metapher vom menschlichen Uhrwerk auf die Regelhaftigkeit emotionaler Zustände und damit auf psychologische Zusammenhänge. Das Ausschlagen des Pendels ist bei der reflektierten Trauer wie bei anderen »geistigen« Affekten so gleichförmig, weil diese Pendelbewegung im Uhrwerk eingeschlossen bleibt und deshalb nicht wie noch die »unmittelbaren« Affekte am Körper sichtbar wird. In Kierkegaards Verwendung der Metapher kommt dem Gehäuse der Uhr, die den Pendelschlag begrenzt und nach außen hin unsichtbar 86 R. Descartes: Leidenschaften der Seele, S. 240.
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macht, eine entscheidende Bedeutung zu. Der gleichmäßige Pendelschlag, die äußere Ruhe, kennzeichnet in besonderer Weise den Menschenbeobachter und Ästhetiker Constantin Constantius, den fiktiven Verfasser der Wiederholung, der nichts mehr fürchtet und zugleich nichts mehr herbeisehnt, als aus seiner gleichförmigen Seelenverfassung herausgerissen zu werden. Über sein Verhältnis zu einem jungen Dichter, der Gegenstand seiner interessierten Beobachtung ist, schreibt Constantius: »Obgleich ich mich schon längst der Welt und allem Theoretisieren entschlagen hatte, kann ich doch nicht leugnen, daß der junge Mensch mich aus meiner Pendelbewegung wieder ein wenig herausbekam, aus Interesse für ihn.«87 Die Abkehr von der Welt, um deren Preis seine Gemütsruhe erkauft ist, bleibt also unvollständig, solange ein Interesse an dem »jungen Menschen« besteht. Den Widerspruch zwischen äußerer Ruhe und innerer Bewegtheit, den Kierkegaard in der Inkongruenz der Affekt-Ausdrucksbeziehung benannt und im sich verbergenden Affekt der reflektierten Trauer expliziert hat, überträgt er auch auf die Figurenebene seiner Texte. Dort äußert er sich in erster Linie in einer Aufspaltung der emotionalen Register.88 Während der Verfasser der Wiederholung als ein äußerlich ruhiger, fast kalter Beobachter entworfen wird, erhält der beobachtete und psychologisch analysierte »junge Mensch« alle Insignien einer heftigen, äußerlich sichtbaren Seelenverfassung. Die körperlichen Symptome seiner frischen Verliebtheit beschreibt Constantius ausführlich: »[...] er war mit sich selbst beschäftigt genug, hatte nicht einmal Ruhe, sich hinzusetzen, sondern ging schnell im Zimmer auf und ab. Sein Gang, seine Bewegung, seine Geste, alles war so sprechend, er selbst glühte in Liebe. Wie eine Traube in höchster Reife durchsichtig und klar wird, [...] so brach die Liebe nahezu sichtbar an seiner Erscheinung hervor.«89 Auch für Kierkegaard äußert sich im Gang und den übrigen Körperbewegungen der unmittelbare Affekt, in diesem Fall die jugendliche Verliebtheit. Auch er schenkt der Beobachtung der pathognomischen Zeichen am Anderen, sofern sie denn sichtbar werden, große Aufmerksamkeit. Constantin Constantius, die Autormaske von Kierkegaards Text, läßt zudem keinen Zweifel daran, daß dieser jugendliche Verliebte ein vorgestellter Doppelgänger seiner selbst ist, den er auf die imaginäre
87 S. Kierkegaard: Wiederholung, S. 73. 88 Am Ende des Buches offenbart Constantius seinen Lesern: »Meine Persönlichkeit ist eine Bewußtseinsvoraussetzung, die nötig ist, gerade um ihn [den jungen Mann, P.L.] herauszuzwingen, wogegen meine Persönlichkeit niemals dahin kommen kann, wohin er gelangt, denn die Ursprünglichkeit, in welcher er hervortritt, ist das andere Moment« (ebd., S. 83). 89 Ebd., S. 10f.
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Bühne einer psychologischen Versuchsanordnung gestellt hat. Wiederholt gibt er Winke an den Leser, die eine solche Lektüre nahelegen: In einer solchen Selbstanschauung der Phantasie ist das Individuum nicht eine wirkliche Gestalt, sondern ein Schatten, oder richtiger die wirkliche Gestalt ist unsichtbar zugegen und begnügt sich daher nicht damit, nur einen Schatten zu werfen, sondern das Individuum hat eine Mannigfaltigkeit von Schatten, die alle ihm gleichen und die augenblicksweise gleichberechtigt sind, es selbst zu sein.90
Diese Geburt mannigfacher Ichs aus dem Geist der Projektion stellt eine Flexibilisierung des Individuums in der Phantasie dar – der Horror von Doppelgängern oder Schatten, die die romantische Literatur bevölkern und in der okkultistischen Fotografie nur wenig später fröhliche Wiederkehr feiern, ist hier ganz ins Positive gewendet.91 Sie entspricht Sennetts Instabilität der Person und lotet in der Zeitlichkeit subjektiver emotionaler Zustände eine Vorstellung gesteigerter Individualität aus, die spätestens mit Ernst Machs Analyse der Empfindungen und das Verhältnis von Physischem und Psychischem von 1885 gesicherte wissenschaftliche Erkenntnis geworden ist. Die »Schattenexistenz« eines Doppelgängers bietet dem »verborgenen Individuum« nämlich unzählige Möglichkeiten, sich in einer »szenischen Umgebung« geträumter Existenzen zu wiederholen.92 Das psychologische Experiment der Wiederholung erweist sich als Autosuggestion ihres Experimentators, der so zugleich zu seinem eigenen Probanden wird. Zugleich vollziehen die als Schatten bezeichneten alter ego einen Brückenschlag zur Deutungspraxis der fiktiven Schattenrisse des anonymen »A« im ersten Teil von Entweder – Oder: Die dort beschriebenen Schattenrisse sind vor allem Projektionen ihres Autors – mit Adorno: Illustrationen philosophischer Kategorien. Ausgehend von der Metapher des Pendelschlages sind für den fiktiven Verfasser der Schattenrisse jedoch eine Reihe weiterer Übersetzun90 Ebd., S. 28. 91 Die Konjunktur des Doppelgänger-Motivs seit der Romantik ist unübersehbar; vgl. Friedrich Kittler: »Romantik - Psychoanalyse - Film: Eine Doppelgängergeschichte«, in: Jochen Hörisch/Georg Christoph Tholen (Hg.): Eingebildete Texte. Affairen zwischen Psychoanalyse und Literaturwissenschaft, München: Fink 1985, S. 118-135; zu seinen visuellen Effekten in der Fotografie vgl.: Im Reich der Phantome. Fotografie des Unsichtbaren, Ostfildern-Ruit: Cantz 1997. 92 Vgl. S. Kierkegaard: Wiederholung, S. 28f. Weil jede Möglichkeit »zugleich gestaltend« sei, bleibt nicht aus, daß sich das Individuum in Schattengefechte verwickelt: »Jede seiner Möglichkeiten ist daher ein tönender Schatten« (ebd. S. 29). Da Kierkegaard das äußere Theater der Affekte ablehnt, bleibt ihm nur die Idee einer vollkommen theatralischen Innerlichkeit.
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gen notwendig, um das Bild der reflektierten Trauer vor dem Auge des Lesers erstehen zu lassen. Ein entscheidender Zug der Argumentation liegt in der Aufblendung der individualpsychologischen Perspektive: Kierkegaards »A« veranschlagt die Reflektiertheit der Trauer als Kennzeichen der modernen Subjektivität, die es dem »reflexionssüchtigen Individuum« unmöglich mache, »sich die Trauer ohne weiteres zu assimilieren«.93 Im Unterschied dazu sei die »unmittelbare Trauer [...] der unmittelbare Abdruck und Ausdruck des Eindrucks der Trauer, die vollkommen kongruieren gleich jenem Bild, das Veronika in ihrem Schweißtuch zurückbehielt, und die heilige Schrift der Trauer steht da ins Äußere geprägt, schön und rein und lesbar für alle.«94 Bemerkenswert ist an dieser Passage zunächst, daß Kierkegaard den Abdruck der Züge des leidenden Christus auf dem Schweißtuch der Veronika überhaupt mit dem »unmittelbaren« Ausdruck der Trauer und nicht – wie in kunstgeschichtlicher Ikonographie üblich – mit dem Ausdruck körperlichen Leidens gleichsetzt. Aber Kierkegaards Vergleich rechtfertigt sich allein respräsentationslogisch: Es geht ihm um eine Kongruenz im »Bild«. Als vera ikon, auf dem sich das Antlitz Christi »unmittelbar« abgedrückt habe, steht das Schweißtuch der Veronika weder im Verdacht, Affekte zu verbergen, noch gar einen anderen Gemütszustand vortäuschen zu wollen. Hier entsprächen sich im Gegensatz zur reflektierten Trauer Inneres und Äußeres »vollkommen« und würden wie bei der unmittelbaren Trauer im äußeren Abdruck vollständig transparent: Ihr Ausdruck ist paßgenaues Gegenstück des Eindrucks, den sie im Tuch der Veronika hinterlassen hat. Wie Balzac definiert auch Kierkegaard Ausdruck als Eindruck, als reale Spur einer flüchtigen Berührung – allerdings um den Preis einer Ausblendung: Er leugnet die Nachträglichkeit, die der Zeichenlogik der Spur eignet. Im Gegensatz zu Balzacs Theorie der Bewegung stellt Kierkegaards Utopie der Unmittelbarkeit eine Mortifikation der einmal abgedrückten Affektzeichen dar: Nichts kann die Gesichtszüge auf dem Schweißbild der Veronika wieder beleben. Das Ausdrucksideal der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts scheint hier – in der »unmittelbaren«, von keiner Reflexion angegriffenen, aber zugleich mortifizierten Affektäußerung – und nur hier verwirklicht zu sein. Kierkegaards Anonymus referiert in dieser Passage minutiös die Verfahrenweise des Abdrückens, die der Zeichen-Logik der Spur folgt.95 Veronikas Schweißtuch ist in diesem Sinne nicht Bild, weder Abbild noch
93 S. Kierkegaard: Entweder — Oder, Teil, 1, S. 202. 94 Ebd., S. 204. 95 Vgl. Georges Didi-Huberman: Ähnlichkeit und Berührung. Archäologie, Anachronismus und Modernität des Abdrucks, Köln: DuMont 1999.
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Imagination, sondern Indiz einer realen, vergangenen Anwesenheit. Auch die »heilige Schrift der Trauer« ist als Schrift Spur und verweist auf die Existenz eines göttlichen Urhebers. Das Schweißtuch der Veronika beglaubigt in Kierkegaards Text die Wahrheit der Passion Christi in Bild und Schrift.96 Hier und nur hier im Reich der heiligen Zeichen gelingt die Kongruenz von Sichtbarem und Sagbarem. Die Unmittelbarkeit des Affektausdrucks wird zur Glaubenssache, die jede zeichenlogische und mediale Verschiebung leugnet. Glauben und Reflexion – das wußte schon Lavater, der seine Physiognomik am Vor-Bild des Antlitzes Christi ausrichtete – trennen ausdruckstheoretisch gesehen Welten. Diese Unmittelbarkeit der Trauer, die Voraussetzung ihrer Lesbarkeit ist, bleibt dem modernen Subjekt jedoch verwehrt. Was bedeutet das jenseits heilsgeschichtlicher Überlegungen? Die Affektpsychologie jener Zeit gibt folgende Antwort: Unmittelbar sichtbar wird eine Trauer durch körperliche Symptome, wenn das Subjekt von ihr plötzlich überwältigt wird und sich deshalb nicht (mehr) kontrollieren kann. Die Steigerung des Affekts führt automatisch zu seiner Äußerung, weil er nicht dem Willen des Subjekts gehorcht.97 Der heftige Affekt, darin stimmt Kierkegaards »A« in den Chor der zeitgenössischen Affekttheoretiker und Psychologen ein, läßt sich nicht verbergen – er muß sich körperlich kundtun. Daß er, um diesen Zusammenhang zu erläutern, das Beispiel des Turiner Schweißtuches wählt, hat seinen guten Grund. Die vera ikon gilt ihm als Beweis einer unmittelbaren, also unvermittelten Affektdarstellung, als reiner Ausdruck, weil Abdruck. So wie Kierkegaards fiktiver Verfasser die Materialität des Tuches als Ausdrucksträger verleugnet, so übergeht er auch die facies als bedeutungsgenerierende Matrix. Für ihn gilt deshalb in Analogie zum Schweißtuch der Veronika: Nur der unverstellte Affekt ist wahr in seinen sichtbaren Ausdruckszeichen. Die reflektierte Trauer läßt sich für Kierkegaards Anonymus dagegen verbergen, sie öffnet sich der dissimulatio im Anschluß an die im 18. Jahrhundert in moralphilosophischer Hinsicht so prominente Verstellung und macht die sichtbaren Zeichen des Affekts am Menschen unkenntlich und damit unlesbar. Trotz des immanenten Persönlichkeitsbegriffs der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts, der Vorstellung, das Innere sei unmittelbar im Äußeren präsent, verschwindet die Verstellung als Pro96 Adorno kennzeichnet Kierkegaards Interpretationsverfahren als Exegese: »Denn allerorten kommunizieren seine Aussagen mit Texten, die er als heilig anerkannte« (Th.W. Adorno: Kierkegaard, S. 25). 97 Vgl. G.E. Lessing: Hamburgische Dramaturgie, S. 201 (s.o. Kap. 2.1 Das Schauspiel der Affekte); zur Unkontrollierbarkeit heftiger Affekte vgl.: Petra Löffler: »›Mimische Störungen‹. Zum Bild der Grimasse«, in: Albert Kümmel/Erhard Schüttpelz (Hg.): Signale der Störung, München: Fink 2003, S. 173-197.
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blemstellung daher nicht aus den ausdruckspsychologischen Überlegungen. So werden sich Physiologen und Psychologen im Verlauf des 19. Jahrhunderts zunehmend für die Frage interessieren, welche Affekte sich simulieren lassen und welche nicht. In der Hysterie werden sie ihren bevorzugten Gegenstand finden, der für empirisch-experimentelle Untersuchungen wie für erkenntnistheoretische Spekulationen und Projektionen bestens geeignet scheint. Gerade der sich verbergende Affekt ist deshalb für Kierkegaards »A« von großem Interesse. Das opake Erscheinungsbild der reflektierten Trauer fordert seine Vorstellungskraft in doppelter Hinsicht heraus. Er selbst muß dessen Opazität durchdringen. Kierkegaards Anonymus will daher die undeutlichen äußeren Züge der reflektierten Trauer durchleuchten und als sprachlichen Schattenriß auf die imaginäre Leinwand des Geistes für die Gemeinschaft der denkenden Wesen projizieren, um »das feine innere Bild, das gleichsam zu seelisch ist, um unmittelbar gesehen zu werden«, am Ende doch noch seinen sympathiebegabten Lesern vor Augen führen zu können. Kierkegaards Argumentation folgt dabei der rhetorischen Technik der hypotyposis, der Veranschaulichung eines Gegenstandes durch seine Illusionierung. Indem er die optisch nicht darstellbare, reflektierte Trauer seinen Lesern als Vorstellungsbild vor Augen führt, beansprucht seine Beschreibung eine Evidenz, die er anderen Visualisierungsformen verweigert – nur im Sonderfall der unmittelbaren Trauer waren (heilige) Schrift und Bild (vera ikon) ja identisch. Sein Bild der reflektierten Trauer gehört einer anderen als der Ordnung profaner Sichtbarkeit an, zu der etwa die gezeichneten Physiognomien oder Karikaturen in den von Balzac und seinen Zeitgenossen so beliebten Physiologies gehören. Lediglich als Modell seines Vorstellungsbildes fungiert der Schattenriß, der allerdings erst »gegen das Tageslicht« gehalten werden muß, um das in ihm eingeschlossene Bild der Seele preiszugeben.98 Kierkegaard spielt das sichtbare äußere Bild gegen das unsichtbare innere aus gemäß einer Logik der Imagination (und Erleuchtung), die es besonderen Subjekten wie Kierkegaards alter ego erlaubte, auch Unsichtbares vorzustellen. Im Vergleich zur unmittelbaren Repräsentation der unmittelbaren Trauer im Schweißtuch der Veronika vollzieht sich hier eine eigentümliche Umwertung der Kategorie der Repräsentation selbst. Das, was sie zeigt, steht in einem gewissen Abstand zum Wesen der Dinge, die sie zeigt – sie ist mittelbar. Für Foucault zeichnete ja dieser Abstand die humanwissenschaftliche Repräsentation im Unterschied zur klassischen aus. Das innere Bild der reflektierten Trauer, das für Kierkegaard »zu seelisch ist, um unmittelbar gesehen zu werden«, wird deshalb Gegen98 S. Kierkegaard: Entweder — Oder, Teil 1, S. 205.
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stand einer Projektion, die genau den Abstand zwischen Affekt und seinem Bild ausmißt. Erst diese Projektion, also die Übertragung des »feinen inneren Bildes« in einen Schattenriß, garantiert Kierkegaards »A«, sich vom Äußeren nicht täuschen zu lassen – einem Äußeren, das nicht »als Ausdruck des Inneren, sondern als eine telegraphische Nachricht, daß sich tief innen etwas verberge«, Bedeutung erlange.99 Das Äußere ist für ihn nicht mehr und nicht weniger als eine verschlüsselte Botschaft, die nur erhellt wird durch ein transzendentes Licht. Dieser kryptografische Kode stülpt sich beim modernen Subjekt als ein »zweites Gesicht«100 über das ›eigentliche‹ als eine Maske der Bedeutung. Nur ein »besonderer Blick« vermag ihn zu entschlüsseln: In der reflektierten Trauer nimmt das Gesicht, »das sonst der Spiegel der Seele ist, [...] eine Zweideutigkeit an, die sich künstlerisch nicht darstellen läßt und die im allgemeinen sich auch nur einen flüchtigen Moment lang erhält. Es gehört ein besonderes Auge dazu, um es zu sehen, ein besonderer Blick, um dieses untrügliche Indizium heimlicher Trauer weiter zu verfolgen«.101 Um mit diesem besonderen Blick ausgestattet zu werden, der diese »zweite« Bedeutungsschicht zu entziffern vermag, bedarf es mehr als als der geschulten Beobachtung und der Menschenkenntnis des Physiognomen. Um das Bild der reflektierten Trauer, die sich vor den Blicken anderer verbirgt, auszuspionieren, bedarf es einer besonderen Übersetzungsleistung, die die Zweideutigkeit und Flüchtigkeit dieses Affektbildes bezwingt. Wie Balzac inthronisiert Kierkegaard einen Menschenbeobachter mit besonderen Fähigkeiten, um die flüchtigen und durch die Überblendung zweier Gesichter nur verzerrt wahrnehmbaren Zeichen der reflektierten Trauer zu entschlüsseln: Er muß empfänglich sein für mediale Kodes – oder mit einem Wort des Sensualismus: sympathetisch. Nicht umsonst adressiert Kierkegaard die Leser seiner Schattenrisse als »Ritter der Sympathie«102. Kierkegaards Sympathie-Konzept rechnet die subjektiven (medialen) Eigenschaften von Beobachtern in seine Ausdruckstheorie ein. Wie Balzac versteht er ›Ausdruck‹ als Wahrnehmungseindruck.103 Und wie Balzac bedient sich auch Kierkegaard modellhaft der Telegrafie als Kommunikationstechnik. Die »telegrafische Nachricht« entschlüsselt 99 100 101 102 103
Ebd., S. 206. Ebd. Ebd., S. 207. Ebd., S. 209. Dieses Konzept sollte über Herder und die Romantiker hinaus in der späteren psychologischen Ästhetik als »Einfühlung« Erfolge feiern (vgl. Christian G. Allesch: Geschichte der psychologischen Ästhetik. Untersuchungen zur historischen Entwicklung eines psychologischen Verständnisses ästhetischer Phänomene, Göttingen/Toronto/Zürich: Hogrefe 1987, S. 326-351).
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sich nur dem, der in den Kode eingeweiht ist. Die Faszination für die Kryptologik der Telegrafie hat in der Literatur des beginnenden 19. Jahrhundert parallel zu der des technischen Mediums selbst Konjunktur. Der Einsatz der optischen Telegrafie durch die napoleonische Armee stellt ein Ereignis dar, das nicht nur die Kriegsführung nachhaltig beeinflußte, sondern auch die Diskursordnung der Menschenbeobachtung erschütterte, stellt sie doch zugleich einen Beobachtungsimperativ zur Disziplinierung von Körperbewegungen dar. Die Effekte dieser Disziplinierung lassen sich auch noch in entfernten Regionen, wie der Gehörlosenpädagogik beobachten. Dort träumt man von einer »Minen-Telegraphie«, die Sprache wie Schrift gleichermaßen ersetzen könne. Diese legitimiere sich durch die Sichtbarkeit wie Unmittelbarkeit ihrer Zeichen und sei eine Sprache, die ohne Einwirkung des Willens entstanden sei: Um in Zukunft seine Gedanken sich mitzutheilen, wird man nicht mehr der verrätherischen Sprache, nicht mehr der überzeugenden Schrift bedürfen. Sowie man sich genau zu erkennen im Stande ist, sei es in der Nähe mit bloßem Auge, sei es in gewisser Ferne mit Hilfe der Fernröhre, wird man durch Mienen und Zeichen sich unterhalten, seine Gesinnungen, Pläne und Wünsche sich mittheilen. Es kann sich in der Folge sogar eine Art ›Minen-Telegraphie‹ ausbilden, vollkommener und geheimnisvoller als die gegenwärtige der Zeichen. [...] Diese natürliche Sprache geht unmittelbar vom Gedanken aus, und gleicht einer flüchtigen, farblosen Zeichnung. Sie ist ein Dollmetscher der früher existierte, als alle geredeten Sprachen, und der aus diesem Grunde höchst einfach, an keine der willkürlichen Formen gebunden ist, welchen man den Ausdruck der Rede später unterzogen.104
So wie Balzac dem Gang eine unmittelbare Verbindung zum Denken unterstellt, wird auch hier die Mimik als unmittelbarer Ausdruck der Gedanken verstanden, wird körperlichen Bewegungen eine Gleichursprünglichkeit mit ihnen attestiert. Kaum verwunderlich, daß auch die »Minen-Telegraphie« mit »einer flüchtigen, farblosen Zeichnung« – sprich: Skizze – verglichen wird. Wie diese zeichnet sie die einfachen Konturen einer Sprache vor jeder Ausdifferenzierung nach, bevor Bild wie Sprache epistemische Ereignisse wurden. Sie stellt aus diesem Grunde die Idee von Sprache als eines vollständig transparenten Kommunikationsmediums dar. Daß optische Instrumente wie das Teleskop und technische Medien wie die Telegrafie diese Utopie beglaubigen sollen, macht 104 Anonym: »Die Geberden- und Zeichensprache, oder neues Mittel der gesellschaftlichen Mitteilung«, zit. in: U. Bergermann: Ein Bild von einer Sprache, S. 31.
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eine solche (Re-)Naturalisierung von Sprache jedoch verdächtig. Unterstellen diese Instrumente und Medien doch den Menschen der disziplinierenden Macht von physiologischen Gesetzen und psychischen Kodes. Letztere dienen gerade dazu, auch die geheimsten Regungen des beobachteten Subjekts zu entschlüsseln. Dies zeigt sich an Kierkegaards Entschlüsselung der reflektierten Trauer: Wodurch verrät sie sich? Woran läßt sich die »Zweideutigkeit« der zwei Gesichter des Trauernden, der seine Trauer verbirgt, erkennen? Ihre Erkenntnis bedarf der helfenden Hand des Zufalls; sie wird indiziert durch Unachtsamkeit, wenn »zufällig eine Miene, ein Wort, ein Seufzer, ein Klang der Stimme, ein Wink des Auges, ein Zittern der Lippe, ein falscher Händedruck treulos verrät, was auf das Sorgsamste versteckt wurde«.105 Diese unwillkürlichen Gebärden verraten für Kierkegaard den inneren Zustand nur für einen Moment und fordern daher das ganze Geschick des Menschenbeobachters, seine »Wachsamkeit, Ausdauer und Klugheit«,106 heraus. Aus Zufall wird in Kierkegaards ausdruckspsychologischer Deutung auf diese Weise mühelos Vorsehung: In der Sichtbarkeit blitzt für einen Moment etwas auf, was sonst verborgen bleibt.107 Diese Entzifferungstechnik partizipiert an Kierkegaards Ästhetisierung des Augenblicks, des Nu, als dem entscheidenden qualitativen Sprung aus der Monotonie des Daseins heraus. Das Ästhetische ist für Kierkegaard eine vom Ethischen strikt geschiedene Sphäre: »Das Ästhetische im Menschen ist das, wodurch er unmittelbar ist; das Ethische ist das, wodurch er wird, was er ist.«108 Deshalb habe das Ästhetische »als Kunst wie als Haltung« für ihn auch »mit dem Innerlichen nichts zu tun«,109 es sei vielmehr eine Mitteilungsform. Diese Ästhetik des Augenblicks steht jedoch nicht mehr im Dienst von Lessings Gattungshierarchie, sondern untersteht der Verzeitlichung der Wahrnehmung. Sie ist einer apparativ armierten Beobachtungskultur geschuldet, die der disziplinierenden Aufdeckung verborgener Affektzustände dient. Kierkegaards affektpsychologische Versuchsanordnungen entsprechen modernen Beobachtungsverhältnissen, die auf technische Medien
105 S. Kierkegaard: Entweder — Oder, Teil 1, S. 209. 106 Ebd. 107 Dieses Aufblitzen für einen Moment hat Charles Baudelaire zur ästhetischen Maxime erhoben. Berühmt ist die Formulierung in seinem Gedicht A une passante »Un éclair... puis la nuit« (vgl. Ch. Baudelaire: Sämtliche Werke/Briefe, hg. von Wolfgang Kemp und Claude Pichois in Zusammenarbeit mit Wolfgang Drost, Bd. 3, München/Wien: Hanser 1975, S. 244). W. Benjamin hat diese Figur als Chiffre moderner Schockerfahrung interpretiert (vgl. ders.: »Charles Baudelaire«, S. 547f. sowie S. 612-618). 108 Zit. in: Th.W. Adorno: Kierkegaard, S. 36. 109 Ebd.
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angewiesen sind.110 Mit dem Hinweis, die reflektierte Trauer zeige sich nur augenblicklich, in marginalen körperlichen Anzeichen, befindet sich Kierkegaard in Übereinstimmung sowohl mit der zeitgenössischen Psychologie wie der modernen Auffassung gesteigerter Individualität. Indem er deren Bild in eine Vielzahl von Einzelbildern diffundieren läßt, die für die Nichtdarstellbarkeit der reflektierten Trauer verantwortlich seien, verweist seine Problematisierung des Affektausdrucks und seiner Darstellung implizit auf die Rolle von Medientechniken für die Lösung dieses Darstellungsproblems. Das zeigt sich insbesondere bei der reflektierten Trauer, bei der im »Vergleich zum Inneren [...] das Äußere bedeutungslos geworden und in die Indifferenz gesetzt«111 sei. Da sie sich in ständiger Unruhe befinde und ihren Gegenstand in »stetiger Fluktuation« suche, müßte man für Kierkegaard, um die reflektierte Trauer darzustellen, eine ganze Folge von Bildern besitzen; doch kein einzelnes Bild drückte die Trauer aus, und kein einzelnes Bild hätte eigentlich künstlerischen Wert, da es nicht schön sein würde, sondern wahr. Man müßte also diese Bilder betrachten, wie man die Sekundenzeiger einer Uhr betrachtet; das Werk sieht man nicht, die innere Bewegung aber äußert sich fortwährend dadurch, daß das Äußere sich fortwährend verändert. Diese Veränderlichkeit aber ist nicht künstlerisch darstellbar, und doch ist sie die Pointe des Ganzen.112
Nur in einer Reihe von Augenblicksbildern fände die reflektierte Trauer für Kierkegaard zu einer adäquaten Darstellung. Die Darstellung solcher »Veränderlichkeit« fällt für Kierkegaard nicht in den Bereich der Kunst, denn dabei treten Wahrheit und Schönheit auseinander. Die bildliche Wahrheit über bewegte Objekte sucht jedoch die Momentfotografie zu erkunden, die zeitgleich erste Versuche der Bewegungsdarstellung unternimmt. Nicht umsonst hat Roland Barthes die Kamera als eine Uhr zum Sehen bezeichnet.113 Die Fotografie ist in der Lage, den unaufhörlichen 110 Ernst Müller weist auf hin, daß Kierkegaards Vorliebe für technische Sujets »auf entscheidende Denkfiguren, Kategorien und geschichtsphilosophische Konstrukte« gewirkt habe und »Technik in Kierkegaards Wahrnehmung immer schon theoretisch prädisponiert« sei. Es reiche deshalb nicht aus, seine technischen Bilder als »zeitlose Allegorien, Metaphern oder Gleichnisse« zu verstehen (ders.: »›Der Einsame, der die Fahrt eines Eisenbahnzuges gestört hat‹. Wahrnehmungs-, Kommunikations- und Bewegungstechniken bei Kierkegaard«, in: Bernhard Dotzler/Ernst Müller [Hg.]: Wahrnehmung und Geschichte. Markierungen zur Aisthesis materialis, Berlin: Akademie Verlag 1995, S. 43-82, hier S. 48). 111 S. Kierkegaard: Entweder - Oder, Teil 1, S. 211. 112 Ebd. 113 Roland Barthes: Die helle Kammer. Bemerkung zur Photographie, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1989, S. 24.
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Pendelschlag im Inneren des versteckt Trauernden in eine Reihe temporärer Zustandsbilder zu überführen und damit Kierkegaards Vorstellung einer Bilderserie einzulösen, die für ihn erst das Bild der reflektierten Trauer als Ganzes ergibt. Die Synchronisation von Zeit und Bewegung hat schließlich die Chronofotografie nur wenige Jahre später verwirklicht.114 Was Kierkegaard noch in den Bereich der Imagination versetzt, entspricht nicht nur dem medientechnischem Stand seiner Zeit, sondern auch den ihnen zugehörigen Visualisierungsverfahren. In der Medizin, dem Diskurs, in dem die Semiotik der Affekte seit jeher ihre Heimstatt hat, werden genau jene Affektbilder visualisiert, denen Kierkegaard eine bildliche Darstellung abspricht. So beschrieb Duchenne de Boulogne in seiner 1862 erschienenen Abhandlung Mécanisme de la physiognomie humaine nicht nur die körperlichen Symptome der Trauer, sondern stellte sie auch in einer Reihe von Fotografien nach, die die Steigerungsstufen dieses Affekts visualisieren. Und in Charles Darwins evolutionsbiologischer Darstellung The Expression of the Emotions in Man and Animals von 1872 werden die charakteristischen Merkmale von Traurigkeit und Kummer nicht nur anhand persönlicher Beobachtungen gewonnen, sondern durch medizinische Fallstudien an Geisteskranken, insbesondere Melancholikern, sowie durch Fotografien – u.a. denen Duchennes – verifiziert. Darwin definiert Kierkegaards reflektierte Trauer (lat. tristitia, auch melancholia) als langanhaltender Kummer bzw. körperlicher oder seelischer Schmerz (lat. dolor), der zu einem dauerhaften Leiden abgemildert ist. Zu seinem physiologischen Erscheinungsbild rechnet Darwin Passivität oder gelegentliches Hin- und Herschwanken, eine verminderte Atmung und häufiges Seufzen, Blässe des Gesichts sowie Mattheit von Gesichtszügen und Körperhaltung. Als besondere mimische Charakteristika hebt er die herabgezogenen Mundwinkel und die schräggestellten Augenbrauen mit einer auffälligen Faltung der Stirn hervor.115 Diese werde von der Aktivität der sogenannten »Gram-Muskeln« hervorgebracht, deren Tätigkeit allerdings »oft nur momentan« sei und sich deshalb »leicht 114 Étienne-Jules Marey studierte seit 1879 chronofotografisch den menschlichen Gang, 1888 verwendete er zum ersten Mal eine Kamera mit einem lichtempfindlich gemachten Papierstreifen - der Vorform des Rollfilms. Auch Albert Londe, Leiter der fotografischen Abteilung in Charcots Salpêtrière, hat den Gang fotografisch aufgezeichnet. Den mathematischstatistischen Ansatz der Brüder Weber führten hingegen Otto Fischer und R. du Bois-Reymond fort (vgl. Martin Weiser: Medizinische Kinematographie, Dresden/Leipzig: Verlag von Theodor Steinkopff 1919). 115 Vgl. Charles Darwin: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen bei den Menschen und den Tieren, kritische Edition, Einleitung, Nachwort und Kommentar von Paul Ekman, Frankfurt a.M.: Eichborn 2000, S. 195f.
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der Beobachtung« entziehe: »Obgleich die Ausdrucksform, wenn sie zur Beobachtung kommt, ganz allgemein und augenblicklich als die des Kummers oder der Sorge erkannt wird, so ist doch nicht eine Person unter einem Tausend, wenn sie den Gegenstand nicht eingehend studiert hat, imstande, genau anzugeben, was für eine Veränderung an dem Gesichte des Leidenden vorgeht.«116 In dieser Passage scheint Darwin Kierkegaards Verdikt zu folgen, wonach sich die reflektierte Trauer nur schwer beobachten lasse und daher undarstellbar sei. Gleichwohl gibt er einige fotografische Belege dieser Symptome, die Kierkegaards Votum widerlegen. Darwin führt seine physiologische Argumentation auf der Basis fotografischer Exempla durch, die seine Beweisführung stützen sollen. Auch der italienische Arzt und Anthropologe Paolo Mantegazza veröffentlichte nur zwei Jahre später eine Fisiologia del dolore, der er 1876 einen Atlas mit mehreren Fotografien folgen ließ. Er suchte dort nach Unterschieden zwischen der Mimik des geistigen Kummers (»dolori intellettuali«) – Kierkegaards reflektierter Trauer – und der Mimik des sinnlich wahrnehmbaren Kummers (»dolori specifici dei sensi«).117 Dabei verwendete er auch fotografische Serien als Beweismittel und stellte – wie schon Duchenne – seine medizinischen Fotografien in eine Reihe mit solchen von Gemälden und Skulpturen von Künstlern vergangener Epochen – ein Verfahren des vergleichenden Sehens, das als ›Ursprung‹ einer anderen akademischen Disziplin angesprochen werden kann: der Kunstwissenschaft.118 Neben der pathologischen Seite des Affektausdrucks und seinen sichtbaren Symptomen war die empirisch ausgerichtete Medizin des 19. Jahrhunderts vor allem an der Visualisierung von Krankheitsbildern interessiert.119 Damit folgte sie – insbesondere dort, wo sie der Faszination extremer pathologischer Zustände unterlag – der verbreiteten Tendenz zum Voyeurismus. Indem Ärzte die Besonderheit medizinischer Einzelfälle als pathologische Extremata herausstellten und bebilderten, verloren sie zugleich jene Normalität aus den Augen, die Voraussetzung von Typologien ist. Dagegen hält Kierkegaard an einem Ausdrucksmodell fest, 116 Ebd., S. 203. 117 Vgl. Flavio Caroli: L’Anima e il Volto. Ritratto e fisiognomica da Leonardo a Bacon, Milano: Electa 1998, S. 398. Den Hinweis auf Mantegazzas Schrift verdanke ich Gunnar Schmidt, der auch eine Serie von Fotografien aus dessen Atlas wiedergibt (vgl. ders.: Das Gesicht. Eine Mediengeschichte, München: Fink 2003, S. 62). 118 In diese Reihe gehört ohne Zweifel auch das Werk Les démoniaques dans l’art von Jean-Martin Charcot und Paul Richet aus dem Jahr 1887. 119 Vor Mantegazza hatten bereits insbesondere Morison und Esquirol die Anzahl der Abbildungen in medizinischen Büchern enorm erhöht; vgl. zum Visualisierungsboom des kranken Körpers in der medizinischen Literatur des 19. Jhs. G. Schmidt: Anamorphotische Körper.
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das mit dem Affektbild der reflektierten Trauer zugleich eine Charakteristik moderner Subjektivität entwirft. Doch auch bei ihm ersetzt unterschwellig Medientechnik (Telegrafie, Fotografie) die physiognomische Lektüretechnik (Schattenriß). Seine Auseinandersetzung mit der Affektpsychologie auf dem Feld der Ästhetik vermag noch in ihrer offenkundig verneinenden Ausrichtung die epistemologische Konstellation der Moderne und ihre Schwierigkeiten benennen, den Menschen als »empirischtranszendente Dublette« (Foucault) zu erfassen. Um den komplexen Anforderungen humanwissenschaftlicher Erkenntnisweisen zu genügen, reicht es nun nicht mehr aus, die statischen, äußerlich lesbaren Zeichen am Menschen zu entziffern. Vielmehr bedarf es größerer Anstrengungen, um die flüchtigen Affektzeichen auch dann zu erkennen, wenn sie tunlichst verborgen werden. Dazu treten die Wissenschaften vom Menschen wie die Ästhetik in eine Allianz mit technischen Medien wie der Telegrafie und der Fotografie ein, die ihnen die Beobachtung und Analyse dessen ermöglichen, was sich nur in aller Flüchtigkeit sehen läßt. Die unwillkürlichen Bewegungen des Körpers, sein Gang wie seine Mimik, werden zum entscheidenden Moment der Sichtbarkeit der Zeichen am Menschen, die zu fixieren nicht zuletzt technische Medien erfunden und eingesetzt wurden.
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F O TO G R A F IS C H E
A U F ZE I C H N UN G
VON
MIMIK
Das wahre Geheimnis der Welt ist das Sichtbare, nicht das Unsichtbare [...]. (Oscar Wilde)
Was Affekte in ihrer Flüchtigkeit zu erkennen geben oder zu verbergen suchen, kann nur dann Gegenstand positiven Wissens werden, wenn die Körperbewegungen, die den Affekt begleiten, überhaupt wahrgenommen werden. Diese Überzeugung teilen Balzacs Theorie de la demarche und Kierkegaards Schattenrisse. Was jedoch gesehen werden kann, entscheiden Diskurse und ihre Dispositive – Dispositive des Sagbaren wie des Sichtbaren. Die Beobachtung geringfügiger Details von Körperbewegungen, die gewöhnlich der Selbstkontrolle entgehen, wird dabei – auch das haben die Lektüren von Balzacs Theorie und Kierkegaards Schattenrissen gezeigt – nicht nur von Vehikeln der Wahrnehmung gestützt. Die exakte Fixierung der flüchtigen Zeichen am Menschen gelingt erstmals technischen Medien wie der Fotografie, die sie im Moment der Aufnahme einfrieren und damit konservieren. Als die Erfindung der Fotografie im Jahre 1839 bekanntgegeben wurde, galt die wahrheitsgetreue Reproduktion der äußeren Realität als eine ihrer ehrenvollsten Aufgaben. Doch bei der bloßen Ablichtung von ›toten‹ Gegenständen und Monumenten des kulturellen Gedächtnisses ist es nicht geblieben. Schon bald kam die Erfassung des Menschen im fotografischen Porträt und die seiner flüchtigen Bewegungen in der Moment- und nur wenig später in der Chronofotografie hinzu. Im Buch der Ausdruckstheorie wurde eine neue Seite aufgeschlagen: Die gewachsene Relevanz des epistemischen Objekts ›Mimik‹ ist nicht ohne den investigativen Einsatz der Fotografie zu denken, die den flüchtigen Affektbildern zu pikturaler Dauer verhilft.
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4 . 1 F o t o g r a f i e un d E x p er im en t Seit Beginn des 19. Jahrhunderts zeichnet sich mit der Hinwendung zu marginalen Körperbewegungen in den Wissenschaften vom Menschen eine Wende ab, die in Balzacs Theorie de la demarche und Kierkegaards Schattenrissen greifbar geworden ist. Obwohl auf dem Gebiet der anatomischen Spezifierung und Klassifizierung der Gesichtsmuskeln Fortschritte erzielt wurden und auch deren Zusammenwirken untersucht wurde, blieb die Frage nach dem Verhältnis von Physis und Psyche weiter virulent.1 Der Modernisierungsschub hatte zugleich das Problem der visuellen Repräsentation dieser flüchtigen Zeichen aufgeworfen: Statische Visualisierungstechniken wie Zeichnung, Schattenriß oder Kupferstich, aber auch der Repräsentationsmodus des Porträts waren nicht in der Lage, einen momentanen Affektausdruck detailliert und präzise zu fixieren. Auf dieses Darstellungsproblem machte Lichtenberg bereits in seiner Auseinandersetzung mit der Physiognomik Lavaters unmißverständlich aufmerksam: »Ich gestehe gerne, auch das ruhende Gesicht mit allen seinen pathognomischen Eindrücken, bestimmt den Menschen noch lange nicht. Es ist hauptsächlich die Reihe von Veränderungen in demselben, die kein Porträt und viel weniger der abstrakte Schattenriß darstellen kann, die den Charakter ausdrückt [...].«2 Diese Diskrepanz zwischen ausdruckstheoretischem Wissen und seiner visuellen Darstellung läßt sich als Krise der Evidenzbildung beschreiben, die Lavater zum Fälscher werden ließ.3 Zugleich avanciert die veränderliche Mimik bei Lichtenberg zum Ausweis des individuellen menschlichen Charakters. In dieser Verschiebung der Wertigkeit der Zeichen am Menschen treten die Konturen einer Auffassung hervor, die die Eigenart des Menschen an den minutiösen Veränderungen seiner Mimik und Gestik ermißt. Erst die um 1850 geschlossene Allianz von experimenteller Physiologie und Fotografie überschreitet jedoch die epistemologische Schwelle, durch die eine »Zeichenlehre der flüchtigen Bewegung«4 positives Wissen werden kann. Die Affekt-Ausdrucksproblematik 1
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Den anatomischen Zusammenhang von Mienenspiel und Gesichtsmuskulatur erforschte bereits John Bulvers Pathomyotimia: or a Dissection of the significative Muscles of the Affections of the Minde von 1649. James Parsons folgte 1745/47 mit einer Human Physiognomy explained in the Crounian Lectures on Muscular Motion. Charles Bell untersuchte in seinen 1806 veröffentlichten Essays on the Anatomy of Expression in Painting die Funktionen einzelner Gesichtsmuskeln und schuf die Voraussetzung für ein psychologisches Verständnis mimischer Bewegungen. G.Ch. Lichtenberg: Über Physiognomik, S. 108. Vgl. Karl Markus Michel: Gesichter: Physiognomische Streifzüge, Frankfurt a.M.: Hain, 1990, S. 34. R. Campe: Affekt und Ausdruck, S. 471.
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FOTOGRAFISCHE AUFZEICHNUNG
findet nun Eingang in ein diskursives Netzwerk, das die latente »Spannung zwischen Wissen und Darstellung«5 mittels neuer Untersuchungsmethoden und Visualisierungstechniken zu beheben sucht. Einen ersten wissenschaftlichen Versuch, den immer wieder benannten Wissensmangel zu beheben, stellt der Neurologe GuillaumeBenjamin-Armand Duchenne de Boulogne vor. Als 1855 seine erste wissenschaftliche Arbeit über die experimentelle Erforschung der Bewegungsgesetze des menschlichen Organismus erschien,6 hatte er bereits mehr als zwanzig Jahre in Pariser Kliniken, insbesondere in der Salpêtrière, die unter ihrem späteren Leiter Jean-Martin Charcot zum Tempel der Hysterie avancieren sollte, zahlreiche Fälle bisher unbekannter neurologischer Krankheiten untersucht und behandelt – und zwar, indem er z.B. defekte Nerven elektrisch stimulierte. Von der Elektrophysiologie versprach sich Duchenne zunächst therapeutische Erfolge bei der Behandlung von Bewegungsstörungen und darüber hinaus Erkenntnisse über die Lokalisierung neurologischer Prozesse. Sein elektrophysiologisches Instrumentarium sollte sich jedoch besonders bei der Untersuchung des menschlichen Mienenspiels bewähren, das Gegenstand seines 1862 erschienenen Werks Mécanisme de la physiognomie humaine ist. Duchenne ersetzte das Skalpell des Anatomen, das in den toten Körper eindringt, durch Elektroden, die er auf der Gesichtshaut seiner Probanden ansetzte. Auch von der Vivisektion setzte er sich ab und betrieb Physiologie im Sinne Albrecht von Hallers als anatome animata, als »animated« oder »living anatomy«,7 ohne jedoch die Oberfläche des lebenden Körpers zu verletzen. Durch diese bedeutsame Trennung von der anatomischen Praxis der Sektion konnte die bewegliche Mimik als epistemisches Objekt hervortreten: An die Stelle der gleichsam ›toten‹ Physiognomie traten die ›lebendigen‹ Mienen des Gesichts. Die hermeneutische Entzifferung der physiognomischen Zeichen machte dem Experiment und der wissenschaftlichen Darstellung des veränderlichen Mienen-
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R. Campe: »Bezeichnen, Lokalisieren, Berechnen«, S. 170. Guillaume-Benjamin-Armand Duchenne de Boulogne: De l’électrisation localisée et de son application à la pathologie et à la thérapeutique, Paris: J.B. Baillière et fils 1855. Gut ein Jahrzehnt später erschien als Ergebnis seiner zwanzigjährigen Forschungsarbeit der Band Physiologie des mouvements, demonstrée à l’aide de l’experimentation électrique et de l’observation clinique et appliciable à l’etude des paralysies et des deformations, Paris: J.B. Baillière et fils 1867. Vgl.: Anthrew R. Cuthbertson: «The highly original Dr. Duchenne«, in: G.-B. Duchenne: Mechanism, S.225-241; zu seiner Bedeutung für die Neurologie vgl. ebd., S. 227-229 sowie Michel Fardeau: «Actualité de l’œuvre de Duchenne de Boulogne«, in: Duchenne de Boulogne, la mécanique des passions, Katalog: Paris, École Nationale Supérieure des Beaux Arts 1999, S. 41-49. G.-B. Duchenne: Mechanism, S. 10; 32.
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spiels Platz.8 Mimik untersteht als Gegenstand anthropologischen Wissens einem neuen wissenschaftlichen Paradigma: der Entdeckung des Lebens. Sein Experimentalsystem entwickelt Duchenne de Boulogne entsprechend dieser epistemologischen Zäsur: Die Funktionsweise seines Elektrisierapparats sieht er ganz analog zur natürlichen Nerventätigkeit lebender Organismen. Mittels dieses Apparates sollte es ihm nach eigener Aussage gelingen, »mit Leichtigkeit« die expressiven Züge der Affekte und Leidenschaften auf das Gesicht zu »malen«.9 Grundlage seines Experimentalsystems ist eine Auffassung von Elektrizität, die ›natürliche‹ Gehirnströme und apparativ erzeugten Wechselstrom gleichsetzt.10 Seine experimentelle Apparatur imitiert also nur die Reize, die das zentrale Nervensystem an die Gesichtsmuskulatur aussendet. Sie fungiert als Substitut einer ihrerseits als Nerventätigkeit supplementierten Psyche. Unter diesen experimentellen Voraussetzungen galt es für Duchenne einerseits herauszufinden, welche Muskeln am Zustandekommen eines bestimmten Affektausdrucks in welcher Weise beteiligt sind, und andererseits den Nachweis zu führen, daß diese bestimmten Muskeln stets gleiche mimische Muster hervorbringen.11 Duchenne isolierte einzelne Gesichtsmuskeln und reizte sie bei nach Geschlecht und Alter differenzierten Probanden, um so für jeden mimischen Effekt die beteiligten Muskeln zu bestimmen und sie einzelnen Affekten zuordnen zu können (vgl. Abb. 3). In seinen Experimenten setzte er einen Faradayschen Induktionsapparat ein, durch den er Stärke und Dauer der mittels Elektroden auf die Gesichtsmuskulatur übertragenen Stromstöße kontrollieren konnte.12 Auf diese Weise entdeckte Duchenne die diskrete, räumlich begrenzte Ausstrahlung von Reizen auf die Gesichtsmuskulatur und be8
Vgl. Hans-Christian von Hermann/Bernhard Siegert: »Beseelte Statuen — zuckende Leichen. Medien der Verlebendigung vor und nach GuillaumeBenjamin Duchenne«, in: Kaleidoskopien 3 (2000), S. 66-99, bes. S. 79. 9 Vgl. G.-B. Duchenne: Mechanism, S. 9. 10 Zu den Diskurseffekten der Gleichsetzung von Nervenstrom und Elektrizität vgl. Bernhard Dotzler: Papiermaschinen: Versuch über Communication & Control in Literatur und Technik, Berlin: Akademie-Verlag 1996, S. 338. 11 Der Titel Mécanisme de la Physiognomie humaine irritiert insofern, als Duchenne »weniger die Physiognomie im engeren Sinne, also weniger das Ausdruckspotential des fixierten Knochenbaus, als in der Nachfolge Lichtenbergs die mimische Bewegung und ihren Bezug auf wandelnde Sinneseindrücke« studierte (Anton Kaes: »Das bewegte Gesicht. Zur Großaufnahme im Film«, in: C. Schmölders/S.L. Gilman (Hg.): Gesichter der Weimarer Republik, S. 156-174, hier S. 168). 12 Die Muskelkontraktionen waren nur mittels Wechselstrom zu erzielen. Dessen apparativer Einsatz wurde durch Michael Faradays Entdeckung der elektromagnetischen Induktion im Jahre 1832 möglich; vgl.: Monique Sicard: »Quand se croisent le visage, la photographie, la médicie et l’électricité«, in: Duchenne de Boulogne (Katalog 1999), S. 67-78.
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reicherte die anatomische Ordnung des Körpers um bisher noch nicht klassifizierte und benannte Muskeln.13
Abbildung 3: Duchenne de Boulogne/Adrian Tournachon: Das Entsetzen (1854)
Das traditionelle Tableau der Affekte bleibt von seiner experimentellen Methode jedoch weitgehend unberührt. Unhinterfragt bleibt auch die Auszeichnung des Gesichts als Ausdrucksmedium par excellence. Der Ausdruck der Affekte auf dem Gesicht gehorcht für Duchenne einem besonderen Gesetz, wonach er der Phantasie des Schöpfergottes entspringe, der »the characteristic signs of the emotions, even the most fleeting«, auf das menschliche Gesicht zu zeichnen gewünscht habe.14 Er rüttelt weder an der Annahme einer angeborenen »natürlichen Sprache« der Mienen noch an der Möglichkeit, sich dieser Sprache »instinktiv« zu bedienen; er setzt die Lesbarkeit der universalen Mienensprache wie Charles Bell oder auch schon Lichtenberg voraus.15 Mechanisch heißt die »natürliche«
13 Vgl. G.-B. Duchenne: Mechanism, S. 22f. 14 Ebd., S. 19 (meine Hervorhebung, P.L.). 15 Ebd., S. 29: »As man has the gift of revealing his passions by this transfiguration of the soul, should he not equally be able to understand the
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Sprache der Mienen nur in dem Sinne, als die Aktivierung gleicher Muskeln zu gleichen mimischen Effekten führt, die Zuordnungen von Affekt und Ausdruck also in jedem Fall stabil sind. Deshalb sei die Mienensprache »universal and immutable«.16 Der experimentelle Nachweis der angenommenen Stabilität der Affekt-Ausdrucksbeziehung ist Duchennes Beitrag zur Klärung des Verhältnisses von Physis und Psyche.17 Er konzentriert sich dabei auf die »fruchtbaren Momente«18 des Mienenspiels, die entscheidenden Nuancen im Zusammenspiel der einzelnen Gesichtsmuskeln, und entwickelt im Unterschied zu den idealisierten Affektbildern Le Bruns oder Bells diverse Momentbilder von Leidenschaften.19 Die visuelle Repräsentation der distinkten Veränderungen in den Affektmimiken überantwortet Duchenne einem technischen Medium, das seit seiner offiziellen Vorstellung im Jahr 1839 besonders wegen seiner Dienste für die Wissenschaft gepriesen wurde: der Fotografie. Sie leistet für die Verfechter einer wissenschaftlichen Objektivität eine wahrheitsgetreue Visualisierung dessen, was die Kamera aufzeichnet: Die Fotografie allein scheint deshalb befähigt, die flüchtigen Affektmimiken exakt zu fixieren, weil sie die ›wahren‹ Zeichen des Affekts als Spur wiedergibt. Als »pencil of nature« (Talbot) verdoppelt die Fotografie dabei nur die primären und sekundären Spuren, die die Affekte gemäß Duchennes Physio-Logik selbst auf das Gesicht »gezeichnet« haben. An dieser Logik richtet er auch sein experimentelles Vorgehen aus, das er folgendermaßen beschreibt: »First I put each of the muscles into isolated contraction, on one side and then both sides of the face at the same time; then, progressing from the simple to the composite, I combined these isolated muscle contractions in all the variations possible, by making the different named muscles contract, two by two and three by three.«20
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very varied expressions successively appearing on the face of his fellow men?« Auch Charles Bell glaubte an eine ›natürliche‹ Sprache der Mienen. Ebd., S. 19. Deshalb schlägt Duchenne seine Untersuchung auch der Psychologie zu: »The study of facial expression is that part of psychological dealing with the different ways man manifests his emotions by the movement of the face« (ebd., S. 29). K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 119 (meine Hervorhebung, P.L.). Diese entscheidende Zäsur ist nicht unbemerkt geblieben. Vgl. z.B. Carl Fervers: Der Ausdruck des Kranken. Einführung in die pathologische Physiognomik, München: J.F. Lehmanns Verlag 1935, S. 28: »Auf real anatomischem Boden bewegt sich dagegen die experimentale Physiognomik Duchennes, die an die Stelle eines anatomischen Atlasses instruktiv wechselvolle Bilder [meine Hervorhebung, P.L.] über die physiognomischen Veränderungen des Gesichts durch die künstliche Kontraktion der mimischen Muskulatur gibt.« Dagegen seien Bells »außerordentlich feine[n] Zeichnungen [...] natürlich durch die modernen photographischen Methoden überholt« (ebd., S. 29). G.-B. Duchenne: Mechanism, S. 12.
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Die Komplexität des menschlichen Mienenspiels löst Duchenne in eine Kombinatorik reizbarer Muskeln auf, die, einzeln oder zusammen stimuliert, das Gesamtbild des Affekts ergeben. Dieses besteht aus primären Spuren, die seine »pathognomische Signatur« bilden, und aus sekundären, den Spuren, die heftige Leidenschaften und der Alterungsprozeß dauerhaft hinterlassen können.21 Auf experimentelle Weise versucht er damit genau jene Zuordnungsweisen zwischen Affekt und Ausdruck – »the rules of the orthography of facial expression«22 – auf der Ebene ihrer faßbaren Erscheinung zu rekonstruieren, über die in der Anthropologie so große Unsicherheit geherrscht hatte. Sein Vorgehen bleibt jedoch rein klassifikatorisch; die Zuordnung erfolgt rekursiv: Duchenne geht von einer Affektordnung aus, in der der einem Affekt entsprechende Ausdruck bereits bekannt und mit einem Affektnamen versehen ist, und verkehrt diese Bezugsrichtung nur, um die Ausdruckszeichen (die einzelnen Gesichtsmuskeln) diskret und in ihren möglichen Kombinationen bestimmen zu können. Er stimuliert einzelne Gesichtsmuskeln und identifiziert die resultierenden mimischen Effekte als Affektbild in Homologie zum Affektnamen.23 Dabei unterscheidet Duchenne erstens ursprüngliche (»primordiale«) Affektbilder, die von vollständig expressiven Muskeln oder einer Kombination von unvollständig expressiven und komplementär expressiven Muskeln hervorgebracht werden, und zweitens komplexe, bei denen mehrere ursprüngliche Affektbilder interagieren. So isoliert Duchenne den Nasenmuskel (musculus procerus) als vollständig expressiven »Muskel der Agression« und den Augenbrauenheber (musculus corrugator supercilii) als »Muskel des Leidens« – benannt nach dem jeweiligen Affekt, den diese Muskeln als seinen Ausdruck hervorrufen. Dieses Bezeichnungsverfahren ist streng gesehen tautologisch: Der Affekt ist durch die Bezeichnung des Muskels bereits gegeben. Sein Name geht auf den Muskel über, der seinen Ausdruck visuell allein als Effekt seiner Simulation (im elektrophysiologischen Experiment) hervorbringt. Der Affekt ist durch diese Verschiebung in der Signifikation überflüssig geworden. Duchenne verlagert damit das Problem der Lokalisierung und Bezeichnung der Affekte auf die Ebene einer physiologischen Funktionslogik, die wiederum auf einer diskreten muskulären Mechanik 21 Vgl. ebd., S. 34. 22 Ebd., S. 35. 23 Auf diese Umkehrung der Bezugsrichtung, die zugleich eine »radikale Umkehrung« der von »Bedeutungsverlust« bedrohten Physiognomik ist, weist Bernhard Dotzler hin: »An die Stelle der Kunst, die Gemütsbewegungen von den Partien und Regungen des Gesichts abzulesen, tritt das Projekt, jene in dieses hineinzuschreiben.« Neben der Elektrifizierung macht Dotzler »ein neues Dispositiv von Kontrolle« für diesen Systemwechsel verantwortlich (ders.: Papiermaschinen, S. 349).
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beruht.24 Unterhalb der sichtbaren facies findet er eine zweite Haut gespannt, ein reizbares und diskretes Muskelsystem, das jeden empfangenen Reiz in eine Kontraktion übersetzt und zu einem Affektbild komponiert. In einer Synopsis werden schließlich alle Affektbezeichnungen und die an ihrem Affektbild beteiligten Muskeln zusammengeführt. Das elektrophysiologische Experimentalsystem verkürzt den langen Weg, den die Zuordnungslogik von Affekt und Ausdruck bisher zu durchlaufen hatte. Dieser Weg führte ausgehend von der Beschreibung der einzelnen Symptome, an denen ein Affekt zu erkennen ist, über die Benennung von Situationen, in denen er gewöhnlich auftritt, bis zur Auflistung von charakterlichen Dispositionen, die ihn befördern oder hemmen. Der Affekt dagegen, der in seinem Bild (als Simulacrum) immer schon gegeben ist, braucht nicht mehr selbst Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse zu sein. Die physiologische Affekttheorie konzentriert sich auf die äußeren, am Körper sichtbaren Kennzeichen des Affekts, die nicht als Folgeerscheinung, sondern als sein konstitutiver Bestandteil angesehen werden. Damit macht Duchennes Ausdrucksmechanik zugleich auch die Seelentätigkeit (motus animae) als Ursache des Affektausdrucks entbehrlich. Diese Vereinfachung der Zuordnungsregeln von Affekt und Ausdruck wird durch das elektrophysiologische Experiment und die fotografische Aufzeichnung erreicht. Deshalb trennt Duchenne Muskelbewegung und Affektbezeichnung auch nur vorläufig. Er induziert einen mimischen Effekt auf den Gesichtern seiner Probanden, dessen Bild er anschließend mit dem bereits gewußten Affektnamen identifiziert und in sein Klassifikationsschema einträgt. Damit unterbricht Duchenne zugleich die (Psycho-)Logik der Affekt-Ausdrucksbeziehung, sofern sie, im Sinne des influxus animae, von der Vorgängigkeit des Affekts ausgeht. Gegenstand seiner Experimente ist nicht das Evozieren tatsächlicher Affekte oder Gefühle bei seinen Versuchspersonen. Duchenne prüft also auch nicht, ob die mimischen Effekte umgekehrt – im Sinne des influxus corporis – die entsprechenden Emotionen bei seinen Probanden hervorrufen können – eine Frage, die die Schauspieltheorien eingehend beschäftigte und die wissenschaftliche Psychologie wieder beschäftigen wird. Duchennes künstliche Aktivie24 Seit den 1840er Jahren ist mit der Elektrophysiologie auch eine Physikalisierung der Physiologie zu beobachten, die deren Gesetze auf die Wissenschaft vom Leben anwendet. Emil du Bois-Reymond, der sich als »Faraday der Physiologie« ausgab, gründete 1854 in Berlin ein physiologisches Labor, wo er 1858 seinem Lehrer Johannes Müller auf dem Lehrstuhl für Physiologie nachfolgte (vgl. Timothy Lenoir: Politik im Tempel der Wissenschaft. Forschungen und Machtausübung im deutschen Kaiserreich, Frankfurt a.M.: Campus 1992, bes. S. 18-52).
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rung der Gesichtsmuskulatur hat dagegen ausschließlich das wissenschaftlich exakte Affektbild im Visier.
4 . 2 De r fr uc ht b a r e Mo m ent d er F o t o g r a f ie Duchennes Experimentalsystem erfaßt den Affekt allein in seinem elektrophysiologisch fingierten Bild. Deshalb unterscheidet er auch nicht zwischen Affekten und Gefühlen oder Leidenschaften, die für gewöhnlich ihre unterschiedliche Dauer als Distinktionsmerkmale voneinander trennt.25 Und deshalb stellt die fotografische Technik der Bildgenerierung das kongeniale Repräsentationsmedium innerhalb seines Experimentalsystems dar. Noch vor Mécanisme de la physiognomie humaine veröffentlichte er 1862 ein Album des photographies pathologiques mit 17 Aufnahmen, das sein 1855 erstmals erschienenes Standardwerk der Elektrophysiologie ergänzen sollte, und stellte damit erstmals körperliche Defekte und Bewegungsstörungen durch Fotografien dar.26 Die Fotografien dieses Albums trennt jedoch eine entscheidende Zäsur von denen, die in Mécanisme de la physiognomie humaine eingeflossen sind: Während jene substantielle krankhafte Veränderungen des Organismus zeigen, geben diese akzidentielle Modifikationen des Gesichtsausdrucks zu sehen. Duchennes Fotografien von momentanen Affektbildern generieren erst den Gegenstand seiner wissenschaftlichen Untersuchung; sie geben ihn als neue Positivität des Wissens zu sehen.27 Durch seine fotografische Erfassung wird das fingierte Zustandsbild des Affekts zum distinkten Objekt wissenschaftlicher Analyse. Denn erst als fotografisch fixiertes Bild erlangt das Affektbild für die Dauer einer elektrischen Reizung optische Evidenz und kann in den wissenschaftlichen Diskurs eingebracht werden.28 Fotografie und Experiment gehen ei-
25 Die begriffliche Trennung von Affekt, Stimmung, Gefühl und Leidenschaft beschäftigt die psychologischen Affekttheorien des 19. Jhs. Es beginnt sich allerdings die Überzeugung durchzusetzen, daß die Übergänge zwischen den verschiedenen psychischen Zuständen fließend sind. Damit wird eine klare Abgrenzung unmöglich; vgl. Karl Bernecker: Kritische Darstellung des Affektbegriffes (von Descartes bis zur Gegenwart), Greifswald/Berlin (Diss.): Otto Godemann 1915, insb. S. 212ff. 26 Vgl. R.A. Cuthbertson: »The highly original Dr. Duchenne«, S. 228f; Norbert Borrmann: Kunst und Physiognomik. Menschendeutung und Menschendarstellung im Abendland, Köln: DuMont 1994, S. 161. 27 Zur Publikationsgeschichte vgl. Robert A. Sobieszek: Ghost in the Shell. Photography and the Human Soul, 1850-2000, Los Angeles: Los Angeles County Museum of Art; Cambridge/Mass.: MIT Press 1999, S. 39f. (Anm.). 28 Als entscheidenden Unterschied zu früheren elektrophysiologischen Experimenten sehen auch von Hermann und Siegert die Differenz »zwischen
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ne Allianz ein, die »afforded Duchenne unprecedented control in the study of expression«.29 Die fotografische Aufnahme friert das durch temporäre Reizung einzelner Gesichtsmuskeln experimentell gewonnene Ausdrucksbild »augenblicklich« und detailgenau auf einem materiellen Träger ein. Prägnanz und Schnelligkeit der Aufzeichnung hält auch der Psychiater Hugh W. Diamond, der selbst den Genesungsprozeß seiner Kranken fotografisch dokumentierte, in einem 1856 gehaltenen Vortrag für Vorzüge der Fotografie: Der Photograph dagegen hält mit unfehlbarer Genauigkeit die äußere Erscheinung jeder Gemütsbewegung als wirklich zuverlässiges Anzeichen einer inneren Störung fest und [...] erfaßt in einem einzigen Augenblick die immerwährende Wolke oder einen vorübergehenden Sturm oder einen Sonnenstrahl über der Seele und ermöglicht so dem Metaphysiker, die Verbindung zwischen dem Sichtbaren und dem Unsichtbaren auf einem wichtigen Untersuchungsgebiet der Wissenschaft von der menschlichen Seele mit eigenen Augen zu sehen und festzuhalten.30
Aus Ausdruckssymptomen werden so Indizien, manifeste Spuren eines Ausdrucksvorgangs, die zeichenlogisch mit ihm verknüpft sind: Was sich auf der fotografischen Platte abzeichnet, muß sich auch so auf dem Gesicht ereignet haben.31 Damit erwächst der Fotografie die Rolle eines wissenschaftlichen Dokuments. Fotografisches Dokument und physiologisches Experiment erzeugen gemeinsam Objektivität und Wahrheit ihres Untersuchungsgegenstandes.32 Die Fotografie zeichnet somit den Weg einer doppelten Transposition nach: von der Unvermeidlichkeit des Af-
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Flüchtigkeit und Fixierung« an (H.-Chr. von Hermann/B. Siegert: »Beseelte Statuen — zuckende Leichen«, S. 89). Phillip Prodger: »Illustrations as Strategy in Charles Darwin’s ›The Expression of Emotions in Man and Animals‹«, in: Timothy Lenoir (Hg.): Inscribing Science. Scientific Texts and the Materiality of Communication, Palo Alto: Stanford Univ. Press 1998, S. 140-181, hier S. 164. A. Borrows/I. Schumacher: Doktor Diamonds Bildnisse von Geisteskranken, S. 155 (meine Hervorhebung, P.L.). Zur fotografischen Beglaubigung des »Es-ist-so-gewesen« vgl. R. Barthes: Die helle Kammer, S. 86; zur Fotografie als Index: Charles Sanders Pierce: »Die Kunst des Räsonierens (MS 404, 1893), Kapitel II: Was ist ein Zeichen?«, in: ders.: Semiotische Schriften, hg. und übers. von Christian Kloesel und Helmut Pape, Bd. 1, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1986, S. 191201. Vgl. I. Albers: »‹Der Photograph der Erscheinungen‹«, S. 214: »Gerade die humanwissenschaftlichen Anwendungen der Fotografie zeigen, daß das Medium offenbar dazu veranlaßte, Gesetzmäßigkeiten direkt aus der fotografischen Visualisierung abzuleiten und sie zugleich mit unabdingbarer Evidenz auszustatten.«
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fekts33 zur alleinigen Signifikanz der facies und vom inneren Geschehen zum äußeren Bild, das die Fotografie bestätigt. Der fruchtbare Moment der Fotografie besteht im Erzeugen dieser optischen Evidenz: dem Beglaubigen des flüchtigen Affekts in seinem Bild. Auf der Fotografie ruht die ganze Beweislast des Experiments, in ihr spiegelt sich, wie Duchenne meint, die ›Wahrheit‹ des artifiziell gewonnenen Affektbildes: »Photography, as true as a mirror, can illustrate my electrophysiological experiments and help to judge the value of the deductions that I have made from them.«34 Die Fotografie wird in der Ideologie der positivistischen Wissenschaften zum ›wahren‹ Spiegel der ›Natur‹ des Affekts; sie generiert positives Wissen über die Zuordnungsregeln zwischen Affekt und Ausdruck. Deshalb hielt es Duchenne auch für nötig »to initiate myself in the art of photography«35. Mit dieser Initiation vollzieht auch er den Brückenschlag zwischen Medizin und Kunst, der für die Geschichte der Ausdruckstheorie so charakteristisch ist. Duchenne wendete sowohl seine wissenschaftlichen Erkenntnisse als auch seine fotografischen Fertigkeiten auf die Interpretation ästhetischer Objekte an. Deshalb ist Mécanisme de la physiognomie humaine in einen wissenschaftlichen und einen ästhetischen Teil aufgeteilt. In diesem entwirft Duchenne szenische Affektbilder nach dem Vorbild der Tableaux vivants und gibt damit preis, was seine physiologische Ausdruckstheorie dem Repräsentationsmodell des Theaters verdankt. Kaum erstaunlich ist, daß einer seiner Probanden der Bildhauer und Wachsmodelleur Jules Talrich war, der zwar – wie häufig angenommen wurde – kein Schauspieler war, aber seine Gesichtsmuskeln wie dieser kontrollieren konnte. Sander L. Gilman geht sogar so weit zu behaupten, Duchenne habe »die Ausdrucksattitüden der französischen Bühne als die genaue Widerspiegelung der ganzen Skala menschlichen Ausdrucks« angesehen, und die Fotografien des ästhetischen Teils seien grundlegend für den wissenschaftlichen gewesen.36 Dagegen spricht allerdings, daß Duchenne in erster Linie an experimentell verifizierbaren Befunden interessiert war: So versucht er in 33 Auch in der moralphilosophischen Problematik der Simulation und Dissimulation von Affekten geht es immer um die Enthüllung eines ›primären‹ Affekts, der dem vorgetäuschten oder verborgenen entgegengesetzt sei. 34 G.-B. Duchenne: Mechanism, S. 39. 35 Ebd. 36 Sander L. Gilman: »Charles Darwin und die Wissenschaft von der Visualisierung der Geisteskranken«, in: Rüdiger Campe/Manfred Schneider (Hg:): Geschichten der Physiognomik: Text, Bild, Wissen, Freiburg/Br.: Rombach 1996, S. 453-471, bes. S. 463; zu Talrich vgl. Jean-François Debord: »The Duchenne de Boulogne Collection in the Department of Morphology, L’École Nationale Superieur des Beaux Arts«, in: G.-B. Duchenne: Mechanism, S. 242-256, bes. S. 247f.
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verschiedenen Experimenten, Descartes‹ Ansicht zu bestätigen, das Verbergen eines Affekts evoziere stets sein Gegenbild auf dem Gesicht. Außerdem will er beweisen, daß auch der beste Schauspieler nicht jeden Gesichtsmuskel willentlich bewegen und also nicht jeden Affekt simulieren kann. Am prominenten Fall des falschen Lächelns unterscheidet Duchenne willkürlichen und unwillkürlichen Affektausdruck – eine Leistung, die seine wissenschaftliche Anerkennung stark beförderte.37 Doch nicht nur im ästhetischen Teil des Buches ist der Einfluß ästhetischer Vorannahmen und Sehgewohnheiten auf Duchennes Ausdruckstheorie greifbar. Auch in den Fotografien der wissenschaftlichen Sektion wird die experimentelle Beweisführung vom Einfluß künstlerischer Bildkonventionen überlagert – etwa wenn Duchenne das gesteigerte Affektbild extremen Leidens mit dem stereotypischen Gesichtsausdrucks des leidenden Christus vergleicht38 oder sich beim Arrangement seiner Aufnahmen von der Lichtführung berühmter Gemälde leiten läßt. So unterstreicht er, daß die Verteilung des Lichts auf den Fotografien harmonisch zu den jeweiligen Affekten passe, die sie darstellen: »Thus the plates that portray the somber passions [...] gain singularly in energy under the influence of chiaroscuro; they resemble the style of Rembrandt [...]. Other plates, taken in plain sunlight where the exposure time could be very short, display the finer details, the shadows show great complexity; there is again chiraoscuro, but after the style of Ribera [...].«39 Durch eine solche ästhetische Differenzierung der Ausleuchtung und das Zitieren der Lichtführung auf Gemälden von Rembrandt oder Ribera schlägt Duchenne seine Fotografien kunstgeschichtlichen Bildtraditionen zu. Außerdem profitiert auch die wissenschaftliche Evidenzerzeugung von der bildmäßigen Ausleuchtung der Gesichter bei der fotografischen Aufnahme: Denn sie ist stets so gehalten, daß die charakteristischen Züge des fingierten Affektbildes detailliert modelliert werden. Die kalkulierte Verteilung von Licht und Schatten auf den Fotografien, die entsprechend der dargestellten Affekte gewählt wird, unterstützt die Evidenz des Affektbildes, werden doch so die Mimiken erst optisch herauspräpariert. Gerade durch diese an künstlerischen Vorbildern geschulte lichtplastische Modellierung erzielten Duchennes Fotografien für seine Zeitgenossen eine »vérité incomparable«40 – eine Wahrheit, die auf der Verbindung von wissenschaftlich-objektiver Detailgenauigkeit und ästhetischen Sehgewohnheiten beruht, die den Kunstwert eines Bildes an der gelun37 Vgl. Paul Ekman: »Duchenne and Facial Expression of Emotion«, in: G.-B. Duchenne: Mechanism, S. 270-284, bes. 276-279. 38 G.-B. Duchenne: Mechanism, S. 60f. 39 Ebd., S. 40. 40 Catherine Mathon: »Duchenne de Boulogne, photographe malgré lui?«, in: Duchenne de Boulogne (Katalog 1999), S. 11-25, hier S. 15.
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genen Verteilung von Licht und Schatten bemessen. Kaum verwunderlich ist daher, daß gleichzeitig die Lichtgestaltung in den Diskussionen um den künstlerischen Wert der Fotografie eine wichtige Rolle spielte.41 Wodurch erzielt Duchenne jedoch fotografisch die Prägnanz seiner Affektbilder? Wie sah das Zusammenspiel von physiologischem Experiment und fotografischer Aufzeichnung genau aus? Alle Aufnahmen für sein Buch entstanden zwischen 1852 und 1856. Duchenne hat sie in einem Atelier hergestellt. Wie ein Porträtfotograf plaziert er seine Modelle in der Mitte des Bildkaders und verwendet als Trägermaterial stark auflösende Kollodiumplatten, die seit 1851 rasch Verbreitung fanden.42 Auch die Lichtstärke der Objektive wurde verbessert, so daß sich die Expositionszeiten auf wenige Sekunden verkürzten.43 Erst diese aufnahmetechnischen Voraussetzungen ermöglichten die Allianz von Experimentalphysiologie und Fotografie – bestand doch für Duchenne die Schwierigkeit bei der Durchführung seiner Experimente darin, die elektrische Reizung der Gesichtsmuskulatur und die fotografische Aufzeichnung ihrer mimischen Effekte zeitlich zur Deckung zu bringen: »Although my electrical induction apparatus is of great precision and was adjusted for each of these electrophysiological experiments, it was still impossible to maintain these muscular contractions at the same degree for a long time [...]. Therefore, I needed to photograph rapidly the expressions produced by the electrophysiological stimulus.«44 Die Belichtungszeit mußte allein schon deshalb gering sein, um die nur für kurze Zeit arretierbaren Affektbilder überhaupt fixieren zu können. Duchenne war deshalb gezwungen, den entscheidenden Moment der fotografischen Aufnahme zu bestimmen: Er »choisit l’intensité et la durée du courant, installe le sujet, lui donne des indications pour le regard et la position de la bouche, décide du moment favorable pour la prise de vue, choisit ›l’instant décisif‹.«45 Die sorgfältige Planung und Gleichschaltung von Experiment und fotografischer Aufnahme impliziert eine Strategie der Verzögerung, um die flüchtigen Affektzeichen überhaupt exakt aufzeichnen zu können.
41 Vgl. W. Kemp: Theorie der Fotografie I, S. 27; Philip Hamerton: Die Beziehungen zwischen Fotografie und Malerei (ebd., S. 143-151). Der Text erschien wie Duchennes Mécanisme 1862. 42 Zur Einführung des Kollodiumverfahrens vgl. H. Gernsheim: Geschichte der Photographie, S. 202ff. 43 Duchenne beklagt selbst die Mängel seines Objektivs. Doch auch Verzerrungen und Unschärfen beeinträchtigen für ihn nicht den wissenschaftlichen Wert seiner Aufnahmen (vgl. ders.: Mechanism, S. 40). Erst durch Steinheils Aplanat (1866) konnten diese korrigiert werden. 44 Ebd., S. 39f. (meine Hervorhebung, P.L.). 45 C. Mathon: »Duchenne de Boulogne, photographe malgré lui?«, S. 15.
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Duchenne verlängert durch die induzierte Reizung der Gesichtsmuskeln die Zeit des Affekts um genau die Zeit, die er zur fotografischen Fixierung seiner experimentell erzeugten mimischen Effekte braucht. Dadurch hebt er auch deren ›natürliche‹ Flüchtigkeit kurzzeitig auf. Diese Verzögerung wiederum ermöglicht erst die fotografische Aufzeichnung der Affektmimik im entscheidenden Moment ihrer größtmöglichen Prägnanz. Die Wahl des Aufnahmemoments stellt den entscheidenden bedeutungsstiftenden Akt in Duchennes Experimentalsystem dar: er begründet die Evidenz des fotografischen Affektbildes. Die Gleichzeitigkeit von Muskelreizung und Belichtung konnte Duchenne nur manuell erreichen. Bis vor allem in der Chronofotografie automatische Kameraverschlüsse entwickelt und eingesetzt wurden, richtete sich die Belichtungszeit nach der Beleuchtung des Kameraobjekts und der Lichtempfindlichkeit des Aufnahmematerials. Das Objektiv mußte manuell freigegeben und wieder verdeckt werden – die Entscheidung über die Expositionszeit lag allein in der Verantwortung des Fotografen.46 Die experimentelle Auslösung von Affektsymptomen diente also in erster Linie der Arretierung ihrer flüchtigen mimischen Effekte. Elektrophysiologisches Experiment und fotografische Aufzeichnung waren von Anfang an aufeinander angewiesen; sie schufen ein effektives Experimentalsystem, in dessen Zentrum die Fixierung des Affekts in seinem Bild stand. Die fotografische Aufzeichnung diente der Beglaubigung des im Experiment gewonnenen physiologischen Wissens. Der fruchtbare Moment der Fotografie beruht auf der Stationierung der flüchtigen Affektmimik im elektrophysiologischen Experiment. Duchennes Experimentalsystem inauguriert die Dehnung des entscheidenden Augenblicks unter gleichsam abgeschlossenen Laborbedingungen.47 Diese experimentell-fotografische Praxis der Verzögerung gefährdet die Einheit des Augenblicks. Sie muß diesen Moment hinauszögern, um ihn als entscheidenden zu erzeugen und nachträglich bestimmen zu können. Ihm haftet das Stigma des Supplementären an. Duchennes Affektbilder weisen also auch auf der Ebene ihrer experimentellfotografischen Erzeugung ein entscheidendes konstruktives Moment auf, das ihrer vermeintlichen dokumentarischen Treue zuwiderläuft. Während sich Physiologen wie Duchenne ihre Aufnahmebedingungen im fotografischen Atelier selbst schufen, um den entscheidenden 46 Um die Belichtungszeit zu verkürzen und zu automatisieren, wurden später elektromagnetische Verschlußmechanismen und Uhrwerke eingesetzt; vgl. Bernd Busch: Belichtete Welt. Eine Wahrnehmungsgeschichte der Fotografie, Frankfurt a.M.: Fischer 1995, bes. S. 367-370. 47 Vgl. G. Schmidt: Gesicht, S. 59: »Duchenne hatte die Flüchtigkeit überlistet. Der Ausdruck konnte im Labor wie ein Kristall gezüchtet werden und die anatomischen Bedingungen genau nachvollzogen werden.«
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fruchtbaren Moment der Fotografie experimentell zu erzeugen, entwikkelten zur selben Zeit nicht weniger experimentierfreudige Fotografen Verfahren, um bewegte Objekte wie Fahrzeuge, Wolken oder Passanten auf öffentlichen Plätzen aufzeichnen zu können. Das war die Geburtsstunde der Momentfotografie. Deren Geburtshelfer ist – das beweisen die Berichte ihrer Pioniere – der entscheidende Augenblick, l’instant décisif.48 Den epistemologischen Zusammenhang von Momentfotografie und entscheidendem Augenblick haben sich in erster Linie jene Verfechter der Fotografie zunutze gemacht, die in ihr vor allem eine neue Kunstform sahen, um die individuelle künstlerische Leistung des Fotografen zu unterstreichen.49 Die Wahl des entscheidenden Augenblicks und die serielle Aufschlüsselung von Bewegungen in der Chronofotografie waren Versuche, die Aporie der Momentfotografie aufzuheben. Denn je mehr sich Fotografen bemühten, Objekte in Bewegung innerhalb von Sekundenbruchteilen zu erfassen, desto mehr entzog sich diese Bewegung. Deshalb waren sie einerseits gezwungen, aus dem Bewegungsverlauf singuläre Momente auszuwählen, die auffällig genug waren, um die Bewegung zu charakterisieren (Momentfotografie). Andererseits rekonstruierten sie nachträglich eine Bewegung durch die sukzessive Abfolge der Einzelbilder (Chronofotografie).50 Das singuläre Einzelbild, das die Bewegung zusammenfaßt, und die Bildfolge, die die Bewegungsphasen aufschlüsselt, stellen die wichtigsten Verfahren für die fotografische Bewegungsdarstellung dar. In ihnen liegt aber zugleich die Rhetorizität dieser Visualisierungsweisen begründet. Die bildrhetorische Figurierung des fruchtbaren und daher entscheidenden Augenblicks in der Experimentalphysiologie einerseits und der Porträtfotografie andererseits soll dies im Folgenden belegen. Als Autodidakt legte Duchenne Wert auf die Feststellung, daß er den Großteil der zwischen 1852 und 1856 entstandenen 73 Aufnahmen des wissenschaftlichen Teils selbst gemacht bzw. ihre Durchführung überwacht habe. Es ist jedoch bekannt, daß Adrian Tournachon, der jüngere Bruder des berühmten Fotografen Félix Nadar, ihn unterstützt hat.51 Die
48 Neben der Verwendung kleinformatiger Platten und der sorgfältigen Auswahl des Standorts war besonders der Zeitpunkt der Aufnahme für die Momentfotografie von Bedeutung (H. Gernsheim: Geschichte der Photographie, S. 316-319). 49 Die fotografische Ästhetisierung des entscheidenden Augenblicks wird im 20. Jahrhundert vor allem mit Henri Cartier-Bresson verbunden. 50 Vgl. zur Aporie der Bewegungsdarstellung durch die Momentfotografie: B. Busch: Belichtete Welt, S. 359-385. 51 Vgl. G.-B. Duchenne: Mechanism, S. 39 sowie Françoise Heilbrun: »Nadar and the Art of Portrait Photography«, in: Maria Morris Hambourg/
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Brüder arbeiteten etwa zur selben Zeit an einer Serie von Aufnahmen, in denen der Pantomime Charles Deburau in der Rolle des Pierrots vor der Kamera posierte. Die Korrespondenzen dieser Études d’expression de Charles Deburau en Pierrot, die 1855 auf der Weltausstellung in Paris gezeigt wurden, mit den Aufnahmen Duchennes sind zeitgenössischen Beobachtern nicht verborgen geblieben.52 Neben der Behandlung des Helldunkels, für die Duchennes Fotografien ein willkommenes Experimentierfeld bereitstellten, bildet jedoch die Verbindung von fotografischer Aufnahmepraxis und mimischer Expressivität den entscheidenden Kreuzungspunkt beider Serien. Der Fotografiekritiker Ernest Lacan sah denn auch in diesen Aufnahmen der Tournachons »an admirable rendered study of expression«.53 Deburaus Gesicht wurde für die Aufnahmen weiß geschminkt, um seine individuellen Merkmale zu tilgen. Auch Details seines Kostüms wie die große Halskrause wurden zugunsten der Sichtbarkeit seines Mienenspiels weggelassen. Diese Têtes d’expression und Duchennes Affektbilder treffen sich in der Erkenntnisfigur des entscheidenden Augenblicks. Diese stellt ihre gemeinsame medientheoretische Voraussetzung dar. Auch die Fotografien der Mienen und Gesten des Pantomimen generieren wie Duchennes Affektbilder semantisch distinkte Momente des Ausdrucks: Sie bilden zwei Seiten einer epistemologischen Figur – des fruchtbaren Moments der Fotografie. Sie lassen sich zudem als Indiz einer bedeutsamen Verschiebung ausdruckstheoretischer Axiome interpretieren: In beiden Fällen läßt die fotografische Repräsentation den künstlichen Affektausdruck als natürlich erscheinen. Die Erkenntnisfigur des fruchtbaren Moments steht zwischen zwei konträren Zeichenordnungen der Bewegungsdarstellung. Weder Duchennes Affektbilder noch die Études d’expression der Tournachon-Brüder stellen Posen im traditionellen Sinn dar – d.h., sie sind keine Haltungen mehr, die eine Bewegung als deren Essenz zusammenfaßt, aber auch noch keine beliebigen Momente aus einem kontinuierlichen Bewegungsvorgang wie beim kinematographischen Bewegungsbild.54 Sie geben vielmehr die entscheidenden Momente expressiver Bewegungen zu sehen. Françoise Heilbrun/Philippe Néagu (Hg.): Nadar, New York: Katalog The Metropolitan Museum of Modern Art 1995, S. 35-58, hier S. 41. 52 Ebd. Françoise Heilbrun verweist auf André Jammes Aufsatz: »Duchenne de Boulogne: La Grimace provoquée et Nadar«, der diesen Vergleich aufgebracht habe. Jüngst hat Gunnar Schmidt »die Übergänge zwischen Theater und Labor« eingehend untersucht (vgl. zu den PierrotFotografien: ders.: Gesicht, S. 60). 53 Vgl. Ernest Lacan: Exquisses photographiques (1865), zit. in: F. Heilbrun: »Nadar«, S. 41. 54 Diese Differenz arbeitet Gilles Deleuze in ihrer Abhängigkeit vom modernen kontinuierlichen Zeitbegriff heraus; vgl. ders.: Kino 1: Das Bewe-
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Die Steigerung der Expressivität zeichnet die Kunst des Pantomimen und die Ausrichtung der elektrophysiologischen Experimente Duchennes aus. Beide bedienen sich der Fotografie bei der Fixierung dieser Expressivität. Das pointiert eine Aufnahme der Tournachons, die Deburau mit einer großformatigen Fotokamera zeigt, die auf einem Stativ angebracht ist (vgl. Abb. 4).
Abbildung 4: Nadar: Pierrot der Fotograf (1854/55)
Sein Pierrot führt gerade eine unbelichtete Platte in die Kammer ein und verweist mit einer Hand auf das Objektiv, das für die Dauer der Belichtung geöffnet wird und das Bild aufnehmen wird. Diese Spiegelung der fotografischen Aufnahmeprozedur inszeniert den Zusammenhang von Sehen und Wissen wiederum in einem Bild. Es dient der Selbstvergewisserung und der Selbstdarstellung des Fotografen. In gleicher Weise hatte sich auch Duchenne mit seinem bevorzugten Probanden, einem alten Mann mit unempfindlichen Gesichtsmuskeln, auf dem Frontispiz von Mécanisme de la physiognomie humaine gezeigt: mit Elektroden in den Händen. Die Hände, die diese Instrumente an den festgelegten Punkten gungs-Bild, S. 16-21. Bernd Busch weist zudem darauf hin, daß das Aufkommen der Momentfotografie historisch mit der Einführung von Zeitzonen zusammenfällt (vgl. ders.: Belichtete Welt, S. 383).
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der Gesichtsmuskulatur halten, verweisen auf den inszenatorischen Charakter seiner Affektbilder. Durch das Ausstellen des fotografischen Aufnahmeprozesses und der experimentellen Anordnung überschreitet die Visualisierung der Affektmimiken die Schwelle vom Ausdruck zur Darstellung: Expression ist also schon immer Darstellung, die nachträglich als Ausdruck (re-)naturalisiert wird. Die Affektbilder expressiver Mimiken, die Duchenne experimentell erzeugte, waren zu gleicher Zeit im Theater populär. Charles Deburaus Pierrot war bereits durch seinen Vater zu einer berühmten Figur der Pariser Theaterszene geworden. Beide traten im Théâtre des Funambules auf und begeisterten das großstädtische Publikum. Die Popularität dieser Figur beweist, wie sehr Duchennes wissenschaftlich exakte, ›natürliche‹ Affektbilder mit den gemimten, ›künstlichen‹ Posen der TournachonSerie diskursiv verknüpft sind. So wird rückblickend auch die Theatralizität von Duchennes Affektbildern verständlich, die sich gerade nicht eindeutig der Wissenschaft zuordnen lassen. Aus dieser Perspektive ist Duchennes Insistieren, er selbst habe die Fotografien seines Buches gemacht, nur zu verständlich.55 Die Autorschaft an den Fotografien sicherzustellen war für ihn aus zwei Gründen erforderlich: Zum einen, um die wissenschaftliche Exaktheit seiner Aufnahmen zu beglaubigen, zum anderen, um sich die geistige Urheberschaft an den Fotografien zu sichern. Deshalb hat er auch die bildlichen Qualitäten seiner Fotografien hervorgehoben. Als Wissenschaftler mußte Duchenne die exakte Durchführung des elektrophysiologischen Experiments gewährleisten, als Kunstliebhaber die bildliche Aufzeichnung durch die Fotografie steuern. Dies erforderte allerdings ein einigermaßen kompliziertes Prozedere, weil er unmöglich zugleich die Elektroden ansetzen und die Fotokamera bedienen konnte, beides aber Voraussetzung dafür war, die Objektivität von wissenschaftlichem Experiment und fotografischem Bild zu legitimieren. Deshalb war er gezwungen, die Illusion aufrecht zu erhalten, [...] one can simultaneously perform an electrophysiological experiment and photograph it. After having arranged the pose of the subject corresponding to the desired scene, and having positioned the head, with the aid of a head rest, the experimenter illuminates the head so as to highlight the expressive lines that he wants to depict by electrical stimulation; then he proceedes to focus. During this stage of the operation, which demands considerable artistic feeling, the photographic plate is colloidonized and sensitized by an assistant. Before placing the plate in the camera, the assistant focuses the experimental artist in the position he must hold, without disturbing the sub55 Vgl. G.-B. Duchenne: Mechanism, S. 102.
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ject. [...] Finally, he signals the assistant to open and shut the objective lens; then the experimenter himself proceeds with the development of the plate.56
Um wissenschaftlich Objektivität zu behaupten, ist es für Duchenne erforderlich, die Bedingungen der Aufnahmeprozedur genau festzulegen und zu kontrollieren. Deshalb hat er sich auch dort, wo Adrian Tournachon hinter der Kamera stand, als Urheber der Aufnahme ausgegeben. Auf einer Fotografie mit dem Titel Entsetzen (vgl. Abb. 3) sind nicht nur die Hände des Experimentators, sondern im Hintergrund des Bildes auch der Assistent Duchennes – gewissermaßen als sein Phantom – zu sehen. Der aufgenommenen Fotografie kommt Beweisstatus bezüglich des fingierten Ausdrucksbildes zu – nicht zuletzt, weil die Hände, die die Elektroden bedient haben, als Beweismittel mit abgelichtet werden. All diese Vorkehrungen waren notwendig, um den entscheidenden Augenblick, in dem ein fingierter Affektausdruck seine größte Intensität erreicht hatte, abzupassen und zu fixieren. Die Einheit von Affekt und Ausdruck garantiert dieses Bild, die Fotografie, die den Moment seiner größten Prägnanz in »unvergleichbarer Wahrheit« wiedergibt. Und diese Momente sind noch einmal steigerbar und akkumulierbar, denn Duchenne testete auch alle möglichen Abstufungen und Varianten innerhalb eines festgelegten Ausdrucksspektrums.57 In jedem Fall ist die Prägnanz der flüchtigen Affektbilder jedoch abhängig von der richtigen Dosierung der elektrischen Reizung – eine zu lange oder zu starke Reizung der Gesichtsmuskeln zerstören es wieder58 – und von seiner fotografischen Fixierung im richtigen Moment. In dieser fotografischen Erfassung des Affektbildes werden die zeitliche Entfaltung sowie die Nuancen und Varianten der mimischen Effekte gleichsam konserviert.59 56 Ebd., S. 102f. (Anm.). 57 Duchenne differenziert z.B. die Affektbilder von Reflexion, Meditation und geistiger Entschlossenheit allein als Steigerungsstufe der Anspannung des Augendeckelhebers (musculus orbicularis oculi), also im Grad der Augenöffnung (vgl. ebd., S. 26). 58 Duchenne demonstriert diesen Sachverhalt in Experimenten, bei denen er den Augenbrauenrunzler (musculus corrugator supercilii) — den sogenannten »muscle of pain« (»Grammuskel«) — reizt, um den Ausdruck angstvollen Leidens hervorzubringen (ebd., S. 60). Bei zu starker Reizung des Muskels schlägt dieser um in Ausdruckslosigkeit. Es gilt also stets den genauen Zeitpunkt zu bestimmen, in dem durch die Reizung die größtmögliche Ausdrucksintensität erzielt wird. 59 Deshalb ist Cuthbertsons Darstellung des Zusammenhangs von Fotografie und Elektrophysiologie an entscheidender Stelle zu korrigieren, die beklagt, daß Duchenne keine chronofotografischen Serien angefertigt hat, dabei aber unterschlägt, daß er auch zeitliche Steigerungsstufen einzelner Affektbilder fotografiert hat (vgl. R.A. Cuthbertson: »The highly original Dr. Duchenne«, S. 231).
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Duchenne gelingt es, die zeitliche Dimension eines Affektausdrucks zu erfassen, indem er verschiedene Intensitätsgrade eines Affektbildes, abhängig von Reizstärke und Dauer des Experiments, unterscheidet und visualisiert (vgl. Abb. 5). Am fotografischen Bild des artifiziell erzeugten Affekts lassen sich so auch Beobachtungen über das Zustandekommen eines visuellen Eindrucks gewinnen. Darüber hinaus strapaziert Duchenne die Gesichtsmuskulatur seiner Probanden, indem er verschiedene Ausdrücke auf den beiden Gesichtshälften provoziert, um die Beobachtung des Funktionierens und Zusammenwirkens der unterschiedlichen Muskeln an ihrem Kontrast zu schärfen. Außerdem deckt er Teile des Gesichts ab und simuliert dadurch Ausdrucksveränderungen, die die Bildbeobachtung gleichsam selbst in Bewegung versetzen bzw. sogar »einen minimalen Filmeffekt« hervorbringen.60 Das Experimentieren mit diesen Teilabdeckungen führt Duchenne zur Erkenntnis, daß der Beobachter fehlende Teile des erwarteten Ausdrucksbildes eigenständig ergänzt und selbst dann noch mimische Effekte zu sehen glaubt, wenn die Muskeln gar nicht gereizt wurden.61 Die Bildeffekte dieses Wechselns der Abdeckung von einer Gesichtshälfte auf die andere beschreibt Duchenne in folgender Passage über den »Muskel der Aufmerksamkeit«: »And then see the differences between the right cheek and the left cheek. On the left there is darkness, a heaviness of features, inner calm, and the most complete indifference of expression. On the right, on the contrary, the light of the eye [...] and the features appear lengthened and their relief modified. What a marvelous transformation of facial expression! It is the awakening of the spirit.«62 Duchenne beschreibt hier jedoch nicht nur das »Erwachen des Geistes« durch die Reizung des Musculus frontalis, das von einem Erleuchten begleitet wird, welches für Duchenne einer göttlichen Beseelung gleichkommt. Seine Argumentation benennt unterschwellig zugleich die Rolle der Fotografie bei der Erzeugung optischer Evidenz, denn das emphatisch begrüßte Erscheinen des ›Geistes‹ verdankt sich tatsächlich einer ungleich profaneren Erscheinung: der einseitigen Ausleuchtung des Gesichts bei der Aufnahme. Daß diesem Muskel der Aufmerksamkeit so viel Beachtung zuteil wird und seine Darstellung die Aufstellung der 60 H.-Chr. von Hermann/B. Siegert: »Beseelte Statuen — zuckende Leichen«, S. 88. Solches Abdecken einzelner Gesichtspartien praktizierte bereits Rodolphe Toeppfer in seinem 1845 veröffentlichten Essay de physiognomonie. Dieses Verfahren der Teilabdeckung wird der Gestaltpsychologe und Filmtheoretiker Rudolf Arnheim 1928 in seiner Dissertation Experimentell-Psychologische Untersuchungen zum Ausdrucksproblem erneut anwenden und die Ausdrucksvalenzen statistisch auswerten. 61 Diese Erkenntnis überrascht Duchenne; sie läßt sich aber mittels der Fotografie verifizieren (vgl. ders.: Mechanism, S. 66f.). 62 Ebd., S. 50f.
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Leidenschaften eröffnet, läßt sich also durch die medialen Effekte der fotografischen Bildgenerierung erklären, in der ›Aufmerksamkeit‹ als Äquivalent einer Kippfigur fungiert: dem aufnahmetechnisch herbeigeführten Wechsel von Licht und Schatten.63
Abbildung 5: Duchenne de Boulogne: Steigerungsstufen der Furcht (1862)
Die Allianz von Elektrophysiologie und Fotografie stiftet mit der fotografischen Erfassung fruchtbarer Momente des Affektausdrucks eine Erkenntnisfigur, die die Lesbarkeit der flüchtigen Zeichen am Menschen gewährleisten soll. Die fotografische Erfassung des entscheidenden Augenblicks des Affekts und seine experimentelle Steigerbarkeit beerben Lessings Erkenntnisfigur des fruchtbaren Moments. In seiner Schrift Laokoon oder über die Grenzen der Malerei und Poesie von 1766 hatte er dem Maler, den er prinzipiell außerstande sah, den zeitlichen Verlauf einer Handlung darzustellen, empfohlen, »von der immer veränderlichen Natur nie mehr als einen einzigen Augenblick«, der »nicht fruchtbar genug gewählet werden« könne, zu nehmen. Dieser Moment dürfe jedoch nie »die höchste Staffel« eines Affektverlaufs anzeigen.64 Von dieser ästhetischen Prämisse sind Duchennes Fotografien jedoch weit entfernt.
63 Für von Herrmann und Siegert hat »das elektrophysiologische Experiment die hermeneutische Entzifferung von Zeichen als Ausdruck durch Auslösungsvorgänge und Meßgeräte« ersetzt. »An die Stelle einer Seele, deren Bewegungen Grund für die physiognomischen Zeichen waren«, trete damit »das technische Unbewußte von Medien: Wechselstrom und Photographie« (dies.: »Beseelte Statuen — zuckende Leichen«, S. 79). Dennoch zeitigt dieses Unbewußte immer wieder magische Effekte wie Duchennes »awakening of the spirit«. 64 G.E. Lessing: Laokoon, S. 25.
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Nicht nur suchen sie den Affekt in verschiedenen Stadien bis zum Augenblick seiner größten Intensität zu fixieren, seine Affektbilder stellen am prominenten Beispiel des Laokoon-Kopfes auch die Unvereinbarkeit von künstlerischer und wissenschaftlicher Wahrheit heraus. Duchenne führt nämlich den Nachweis, daß die Komposition seiner schmerzverzerrten Züge nach seinen physiologischen Untersuchungen schlichtweg unmöglich sei.65 Gerade die Möglichkeiten der Fixierung noch kleinster Bewegungen und unbedeutender Details, die der Fotografie in den Naturwissenschaften zu baldiger Anerkennung verholfen hat, setzen sie in stetige Konkurrenz zur Malerei und führten zum Streit über ihren künstlerischen Wert.66 Lessings Unterscheidung von Malerei und Poesie findet über die Diskussion mimischer Stile auch wieder Eingang in die Schauspieltheorie. In einem 1877 gedruckten Vortrag bezieht der Tübinger Professor für Anatomie, Wilhelm Henke, Lessings poetologisches Konzept der »fruchtbaren Momente« auf »den sichtbaren Theil der ganzen mimischen Vorstellung«67. Dabei kennzeichne den modernen Schauspieler »die plötzliche und entschiedene Bewegung einzelner Körperteile« im Unterschied zum gleichmäßigen Bewegungsfluß, dessen sich der antike Schauspieler bedient habe. Diese fließenden Bewegungen fanden in fixierten Stellungen, den Posen, immer wieder ihre Ruhepunkte. Dagegen zeigen die plötzlichen Bewegungen des modernen Schauspielers für Henke besonders die momentane innere Verfassung und Situation an, in der sich die Figur befinde.68 Diese Psychologisierung der plötzlichen Bewegung einzelner Körperteile entspricht der modernen Auffassung von Individualität, die im Diskontinuierlichen und Flüchtigen unbedachter Äußerungen oder Gesten das Besondere von Subjekten erkennen will, und die besagt, daß Individualität so veränderlich ist, wie psychische Zustände vorübergehen. Und sie entspricht der Duchenneschen Prägung des fruchtbaren Moments in ihrer Fokussierung auf die fotografische Akkumulation fruchtbarer Momente. Das physiologisch gewonnene Wissen um die sichtbaren, aber flüchtigen Zeichen des Affektausdrucks wird so in der Schauspieltheorie nach 65 Vgl. G.-B. Duchenne: Mechanism, S. 95; 97-99. 66 Vgl. W. Kemp: Theorie der Fotografie I, bes. S. 13-24. Der Kritiker Jules Janin formuliert schon 1839 das Programm eines fotografisch geschulten Sehens, dem Duchenne folgen wird: »Denn so groß ist die Kraft dieses unbeirrbaren Bildners, daß er sogar das Blinzeln des Auges, das Runzeln der Stirn, die geringste Falte des Gesichts, die leiseste Bewegung einer Haarlocke aufzeichnet« (ebd., S. 50). 67 Wilhelm Henke: »Zwei Arten von Stil in der Kunst der Mimik«, in: ders.: Vorträge über Plastik, Mimik und Drama, Rostock: Wilhelm Werthers Verlag 1892, S. 162-188, hier S. 171. 68 Ebd., S. 183.
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dem Vorbild des entscheidenden Moments resemantisiert, den die Fotografien Duchennes experimentell erzeugen und der zugleich der fruchtbare Moment des Affektausdrucks ist. Lessing Laokoon-These, nur das dichterische Wort könne den zeitlichen Modus des Affektausdrucks erfassen, hat in der fotografischer Erfassung entscheidender Augenblicke ihre medienhistorische Grenze gefunden. Die Darstellung von Affektbewegungen ist nicht länger eine Domäne der Sprache. Diese tritt nun in Konkurrenz zu technischen Bildmedien, die ihr mit der Augenfälligkeit ›wahrer‹ Abbilder der ›Natur‹ den Alleinvertretungsanspruch dichterischer Einbildungskraft streitig machen und darüber hinaus selbst nach der Anerkennung als autonome Kunstform streben.
4 . 3 A r c hiv e d e s A f fek t s Duchennes experimentelle Kombinatorik des fotografisch erfaßten, mimischen Affektausdrucks ist also von Anfang an die Epistemologie des Archivs gebunden.69 Am Ende seines Buches fügt er deshalb die fotografischen Belege seiner Experimente in neun synoptischen Tafeln zu je sechzehn Abbildungen zusammen. Dazu wurden die ursprünglich ganzseitigen Fotografien verkleinert und mit einem ovalen Passepartout versehen. Diese optische Homogenisierung prägt den Affektbildern den einheitlichen Status eines Lexikoneintrags auf. Wenn auf den beiden Gesichtshälften unterschiedliche Ausdrücke evoziert wurden, deckt Duchenne eine Gesichtshälfte ab, so daß auf jedem Gesicht nur ein Affektbild zu sehen ist. Auch Fotografien des Laokoonkopfes und von Köpfen anderer antiker Statuen wurden in diese synoptischen Tableaus integriert. Dieses Vorgehen stellte kein ungewöhnliches Unterfangen dar. Die visuelle Repräsentation von Wissen wurde vor allem im Verbund mit der Reproduktionstechnik Fotografie geradezu unverzichtbar bei der Archivierung und Verwaltung großer Datenmengen. Fotografische Taxonomien wurden deshalb ab etwa 1850 im Verbindung mit klinischen Studien und statistischen Erhebungen eingeführt: Während bereits der englische Nervenarzt Hugh W. Diamond durch Patientenporträts den zeitlichen Verlauf von Krankheitsfällen in verschiedenen Stadien der Genesung fotografisch festhielt,70 demonstrierten Jean-Martin Charcot und seine Mitarbeiter Désiré Bourneville, Albert Londe und Georges Gilles de la 69 Vgl. Allan Sekula: »The Body and the Archive«, in: October 39 (1987), S. 3-64. 70 Diamond stellte zwei Porträtserien unter dem Titel »Formen der Geisteskrankheit« erstmals 1852 öffentlich aus; vgl. A. Burrows/I. Schumacher: Doktor Diamonds Bildnisse von Geisteskranken, S. 23f.; T. Gunning: In Your Face, S. 12.
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Tourette die typische Verlaufsform des hysterischen Anfalls durch fotografische Reihen. Ihre mehrbändige Iconographie photographique de la Salpêtrière und deren Neuauflagen, die zwischen 1876 und 1918 erschienen, stellt das umfangreichste Unternehmen auf diesem Gebiet dar.71 Neben Geisteskranken wurden vorwiegend Verbrecher fotografisch »erfaßt«. Cesare Lombroso und Alphons Bertillon erstellten fotografische Karteien, und Francis Galton versuchte, durch Mischfotografien das »typische Gesicht« des Verbrechers zu konstruieren.72 Positives Wissen wird hier in erster Linie durch die Archivierung fotografischer Bilder generiert. Sie sollen die Identität der repräsentierten Objekte durch das schnelle Erfassen ihrer distinkten Merkmale garantieren. Auch Duchennes Synopsis ermöglicht das vergleichende Sehen der verschiedenen fotografischen Affektbilder, die unter der Maßgabe des Typischen den Affektnamen visuell repräsentieren und im Kontext der übrigen Fotografien seine Bedeutung festlegen (vgl. Abb. 6). Das Tableau versammelt die fotografischen Resultate mit den verschiedenen Probanden, um die Homologie der Einzelfälle bezüglich des dargestellten Affekts zu veranschaulichen.73 Der visuelle Vergleich soll belegen, daß das Affektbild trotz individueller Unterschiede bei den Versuchspersonen stets identisch ist und den gleichen Ausdrucksgesetzen gehorcht. Die serielle Anordnung der Affektbilder bildet eine Lexikografie des Ausdrucks und ermöglicht eine vergleichende Lektüre ihrer distinkten Merkmale.74 In Duchennes Lexikon der Affekte finden jedoch nur die identifizierten Affektbilder Eingang. Die unsinnigen Kombinationen gereizter Gesichtsmuskeln, die bei ihm Grimassen heißen, scheiden aus 71 Vgl.: G. Didi-Huberman: Erfindung der Hysterie; Sander L. Gilman: »The Image of the Hysteric«, in: ders. u.a. (Hg.): Hysteria beyond Freud, Berkeley/Los Angeles/London: Univ. of California Press 1993, S. 345-452; Susanne Regener: »Vom sprechenden zum stummen Bild. Zur Geschichte der psychiatrischen Fotografie«, in: Marianne Schuller/Claudia Reiche/Gunnar Schmidt (Hg.): BildKörper. Verwandlungen des Menschen zwischen Medium und Medizin, Hamburg: LIT Verlag 1998, S. 185-209; Marianne Schuller: »Aufstieg und Fall von ›Krankheitsbildern‹ in der Psychiatrie: Hysterie und Melancholie. Zum Sichtbarkeits- und Wissensparadigma in der Moderne«, in: Heidrun Kaupen-Hass/Christiane Rothmaler (Hg.): Naturwissenschaften und Eugenik, Frankfurt a.M.: Mabuse-Verlag 1994, S. 41-56. Zur Kritik dieses Wissenschaftsparadigmas vgl.: André Gunthert: »Klinik des Sehens. Albert Londe, Wegbereiter der medizinischen Fotografie«, in: Fotogeschichte, 21. Jg. (2001), H. 80, S. 27-40. 72 Vgl.: Sander L. Gilman: Disease and Representation. Images of Illness from Madness to AIDS, Ithaca/London: Cornell Univ. Press 1988; Susanne Regener: Fotografische Erfassung. Zur Geschichte medialer Konstruktionen des Kriminellen, München: Fink 1999; Gunnar Schmidt: »Nahblicke Feinblicke. Francis Galtons Suche nach Spuren von Gesichtern«, in: Kaupen-Hass/Rothmaler (Hg.): Naturwissenschaften und Eugenik, S. 57-82. 73 Zur Auswahl der Probanden vgl. G.-B. Duchenne: Mechanism, S. 42f. 74 Vgl. C. Mathon: »Duchenne de Boulogne, photographe malgré lui?«, S. 18.
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diesem Schema aus.75 Die synoptischen Tafeln ersetzen zugleich die Listen der Affektenlehre und das Gesichterlesen der Physiognomik: Der Affektname erscheint in ihnen als Supplement des fotografisch fixierten Affektbildes, und der physiognomische Vergleich von Profillinien weicht der fotografischen Lektüre einer reizempfindlichen facies, auf der sich die Linien des flüchtigen Affektbildes artifiziell einschreiben.
Abbildung 6: Duchenne de Boulogne: Synoptische Tafel VII (1862)
Im Unterschied zu Lavaters Physiognomischen Fragmenten, die unvollendet bleiben mußten, weil moralisches Handeln sich nicht mit den festen Formen des Gesichts korrelieren läßt und sich Physiognomien einfach nicht gänzlich verschriftlichen lassen, sowie zu Lichtenbergs aphoristischen Vorstößen in Richtung einer universalsprachlichen Pathognomik bietet Duchennes fotografische Synopsis das Ganze des Affektaus75 Grimassen sind für Duchenne Störungen der (Geister-)Kommunikation: »Such grimaces serve only as the noise within his system of facial expression in which a mask of muscles sculpts the invisible impulses of the spirit« (T. Gunning: »In Your Face«, S. 10); vgl. zur Auffassung der Grimasse als Störung: H.-Chr. von Hermann/B. Siegert: »Beseelte Statuen — zuckende Leichen«; P. Löffler: »Mimische Störungen«.
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drucks als Bild. Denn für seine Zeitgenossen spiegelte die Fotografie die Natur des Affekts und leistete damit genau das, was laut Rüdiger Campe der Sprache des Physiognomikers wie des Pathognomikers nicht gelingen konnte – Darstellungsökonomie: »Das Buch der Natur – überfüllt mit Spiegelzeichen – geht in kein wissenschaftlich zu verantwortendes Buch, d.h. keine mit hinreichender Ökonomie vorzunehmende Speicherung ein.«76 An dieser epistemologischen Sollbruchstelle setzt der Verbund von Elektrophysiologie und fotografischer Aufzeichnung an, der eine solche Ökonomie der Speicherung entwickelt: Mittels der Elektroden, die die Gesichtsmuskeln wie sonst das Nervenfluidum reizen, schreibt – oder, in Duchennes Terminologie, »malt« – der Experimentator wie die ›Natur‹ die Affekte und Leidenschaften auf die empfindliche facies, die sich wiederum auf einer zweiten empfindlichen Oberfläche, der fotografischen Platte, abdrücken. Das fotografische Affektbild wird so zum interface, auf dem sich zwei mediale Inskriptionen treffen. Elektrophysiologisches Experiment und fotografische Aufzeichnung virtualisieren ihren Gegenstand und bringen ihn auf diese Weise verknappend, aber dafür als ganzen zur Darstellung.77 In dieser artifiziellen Zeichenlogik sind Schreibbarkeit und Lesbarkeit mittels einer visuellen Aufzeichnungsökonomie zusammengebunden, die voraussetzt, daß das, was geschrieben, auch gelesen werden kann. Absolute Lesbarkeit und Universalsprache der Mienen fallen bei Duchenne ineins, glaubt er doch an die gottgewollte »mechanische« Logik einer universalen Mienensprache: »What use is a language one cannot understand?«78 Erst der fotografische Bildatlas stellt jedoch eine veritable Wissensform dar, in der die experimentell gewonnene, physiologische Funktionslogik der Mimik gänzlich zur Geltung kommt.79 Dieser Bildatlas erfüllt nicht nur alle Anforderungen einer wissenschaftlichen Darstellung, sondern ersetzt obendrein langatmige Beschreibungen. Fotografische Genauigkeit und Detailschärfe vermitteln für Duchenne ein Wissen über die ›Natur‹ des Affekts, das der Sprache abgeht: »Photographic figures that represent, as in nature, the expressive traits assigned to the muscles that interpret the emotions, teach a thousand times more than extensive 76 R. Campe: Affekt und Ausdruck, S. 458. 77 »Experiment, Formel und Kalkül bilden Abstraktionen, die ein einmal definiertes, d.h. als Ganzes konstruiertes, Ensemble von Phänomenen in fortschreitender Darstellungsverknappung gegenwärtig halten. Das Ganze des Dargestellten und die Verknappung der Darstellung gehören zusammen [...]« (R. Campe: »Bezeichnen, Lokalisieren, Berechnen«, S. 170f). 78 G.-B. Duchenne: Mechanism, S. 29. 79 Die Bilder wissenschaftlicher Atlanten wurden »zu Manifesten des neuen Typus wissenschaftlicher Objektivität« (L. Daston/P. Galison: »Das Bild der Objektivität«, S. 30).
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written descriptions.«80 Wissenschaftliche Objektivität wird in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts am Naturalismus der Visualisierungstechniken von Wissen gemessen. Deshalb weist Duchenne auch der Evidenz des fotografischen Bilderatlasses Priorität vor der wissenschaftlichen Deskription zu: Wissenschaftliche Erläuterung werden so schlicht zu Bildunterschriften.81 Die Fotografie scheint ihre Rolle bei der Wissensvermittlung erfüllt zu haben. Denn Duchennes fotografische Affektbilder haben bald Eingang in die wissenschaftliche Bildzirkulation gefunden. Bereits Charles Darwin, dessen 1872 publiziertes Werk The Expression of the Emotions in Man and Animals über die Grenzen seiner Wissenschaft hinaus einen weitaus größeren Widerhall als Duchennes Mécanisme de la physionomie humaine gefunden hat, würdigt dessen wissenschaftlichen Erfolge.82 Kaum verwunderlich ist auch, daß der Evolutionsbiologe dessen Annahme einer universalen Mienensprache göttlichen Ursprungs ablehnt.83 Deshalb eignet sich Darwin für sein eigenes Unternehmen, Genealogie und Universalität der Affektmimiken nachzuweisen, ausschließlich dessen Fotografien an. Darwins Buch gibt die meisten dieser Fotografien jedoch grafisch wieder. Einerseits werden so die Spuren der elektrophysiologischen Versuchsanordnung – die Hände des Experimentators und die Elektroden – getilgt, andererseits etwa mimische Merkmale des Affektausdrucks hervorgehoben, auf die es ihm besonders ankommt: Darwin geht es nicht wie Duchenne um die Beglaubigung einer Experimentieranordnung und den fotografischen Nachweis der Resultate des physiologischen Experiments. An deren Stelle treten bei Darwin die Statistik und die Untersuchung des Lektürevorgangs der fotografischen Affektbilder. Durch sie soll die behauptete Universalität der Mimik getestet werden. Anders als Duchenne glaubt Darwin nämlich nicht, daß Fotografien per se Evidenz stiften:
80 G.-B. Duchenne: Mechanism, S. 37. 81 Vgl. ebd.: »I have therefore composed an album of photographic plates from nature, which represent my electrophysiological experiments on the mechanism of facial expression, and, in the captions to these plates, I have reviewed the principal facts that emerged from my experiments.« 82 Vgl. Ch. Darwin: Ausdruck der Gemütsbewegungen, S. 12: »Nach meiner Ansicht hat Dr. Duchenne den Gegenstand durch seine Behandlung desselben bedeutend befördert. Niemand hat die Kontraktion jedes einzelnen Muskels und die infolge davon in der Haut entstehenden Furchen sorgfältiger studiert als er. Er hat auch gezeigt — und dies ist ein sehr wichtiger Dienst, den er der Sache geleistet hat —, welche Muskeln am wenigsten unter der Kontrolle des Willens sind.« 83 Vgl. François Delaporte: »Duchenne, Darwin et la mimique«, in: Duchenne de Boulogne (Katalog 1999), S. 79-85.
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Obwohl Photographien den Ausdruck unvergleichlich besser zur Geltung bringen als jede Zeichnung, glaube ich doch, daß es eigentlich notwendig ist, sich mit dem vorangegangenen Erscheinungsbild der Miene zu beschäftigen, mit ihren Veränderungen (und seien sie noch so klein) und mit den lebendigen Augen, um sich dann am Ende ein sicheres Urteil bilden zu können. Mein Verdacht darüber hinaus ist der, daß unser Urteil in den meisten Fällen in einem sehr großen Maße von hinzutretenden Umständen beeinflußt wird.84
Darwin verweist explizit darauf, daß sich die Bedeutung eines Affektbildes erst aus einer Sequenz von Fotografien ergeben kann, wie sie die Chronofotografie und wenig später das filmische Bewegungsbild zu sehen geben werden. Deshalb haben die Bilder, die Darwin in The Expression of the Emotions in Man and Animals verwendet, auch eher den Charakter von Illustrationen als von Beweisstücken: Er ordnet sie im Unterschied zu Duchenne den jeweiligen Textpassagen zu und kompiliert verschiedene Affektbilder in unterschiedlichen Abbildtechniken auf einer Seite. Die Bildgruppen werden strategisch plaziert und unterstützen allein durch ihre Anordnung die Argumentation. Außerdem schickt Darwin Fotografien von Affektbildern – neben denen Duchennes verwendet er vor allem gestellte Aufnahmen des Fotografen Oscar Gustave Rejlander – und einen Fragenkatalog an Gewährsmänner in allen Kontinenten und erbittet Nachforschungen vor allem bei sogenannten Naturvölkern. Insbesondere Missionare und Bewohner britischer Kolonien geben ihm Informationen über die Reaktionen Einheimischer auf die ihnen vorgelegten Fotografien. Dieses Material wertet Darwin statistisch aus und leitet daraus die Verbreitung und Allgemeinverständlichkeit bestimmter Affektbilder ab. Mit der Distribution der Fotografien und der Erhebung von Daten über ihre Aufnahme betritt Darwin den Boden moderner Ausdruckswissenschaft, denn statistische Verfahren der Verifizierung von visuellen Eindrücken werden für die Ausdrucksforschung im 20. Jahrhundert unumgänglich. Mit diesem Vorgehen ist zugleich ein Wechsel der wissenschaftlichen Blickrichtung auf die Affekt-Ausdrucksbeziehung verbunden: Indem Darwin die fotografischen Affektbilder dem Urteil einer Vielzahl nichtwissenschaftlicher Beobachter unterwirft und sie somit von einem weltweitem Publikum testen läßt, wechselt er auch von einer Ausdruckstheorie zur Eindrucksanalyse: Ausdruck ist hier das Ergebnis einer Interpretation, ist subjektiver Eindruck, der letztlich nur durch statistische Erhebungen wissenschaftlich objektivierbar ist. Für Darwin ist die universale Lesbarkeit von Affektmimiken eine Frage der richtigen Bildlektüre.
84 Zit. in S.L. Gilman: »Charles Darwin«, S. 469.
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4 .4 S t r a t eg ie n d e r V i s u a l i s i e r un g Auch von Seiten der sich etablierenden Psychologie ließ die Rezeption der Forschungsergebnisse Duchennes nicht lange auf sich warten. Zur selben Zeit, als dieser 1855 mit De l’électrisation localisée die ersten Ergebnisse seiner elektrophysiologischen Experimente veröffentlichte, verfaßte mit Theodor Piderit wiederum ein Mediziner eine Darstellung der Grundsätze der Mimik und Physiognomik, die 1858 erschien. Eine systematische Abhandlung legte Piderit dann 1867 mit Mimik und Physiognomik vor, die sich wie eine Abrechnung mit Duchennes physiologischem Experimentalismus liest. Dessen experimentelle Supplementierung des Affekts war aus psychologischer Sicht nicht hinnehmbar. Schon im Vorwort zur ersten Ausgabe von 1867 erklärt Piderit, er wolle die »dunklen Gebiete der Physiologie einer wissenschaftlichen Behandlungsweise zugänglich« machen.85 Weil es sich dabei »um eine außerordentliche Fülle komplizierter Erscheinungen und verwickelter Fragen« handele, seien die bisherigen Untersuchungen der »mimischen Gesichtsbewegungen« – einschließlich der Duchenneschen – nur sehr mangelhaft.86 Die Ablösung der Physiognomik durch die Mimik steht jedoch auch für Piderit außer Frage: Ganz selbstverständlich wird sie ausschließlich als deren Supplement geführt, physiognomisch verwertbar sollen allein die Spuren mimischer Gesichtsbewegungen sein. Neben Bells und Darwins Arbeiten diskutiert Piderit ausführlich Duchennes Mécanisme de la physiognomie humaine. In erster Linie nimmt Piderit an der Allianz von Elektrophysiologie und Fotografie Anstoß, durch die dieser den Affekt allein an seinem Bild bestimmt hatte. Aus seiner Ablehnung des experimentellen Verfahrens macht Piderit keinen Hehl. Explizit kritisiert er, daß Duchenne sich in seiner Abhandlung darauf beschränkt habe, in Photographien die Gesichtsausdrücke wiederzugeben, welche er durch Reizung einzelner oder mehrerer Gesichtsmuskeln hervorruft. Da aber nicht durch innere, sondern äußere Ursachen, nicht durch eigenen, sondern fremden Willen diese Muskelbewegungen hervorgebracht werden, so können solche künstlichen Grimassen wenig dazu beitragen, den Zusammenhang gewisser Affekte mit gewissen Gesichtsmuskelbewegungen aufzuklären.87
85 Theodor Piderit: Mimik und Physiognomik (1867), 4. Auflage, hg. und neubearbeitet von Max von Kreusch, Detmold: Verlag der Meyerschen Hofbuchhandlung 1925, S. XIV. 86 Ebd., S. XIV; XVI. 87 Ebd., S. 6.
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Für Piderit bleiben alle fotografisch fixierten Affektbilder Duchennes schlichtweg Grimassen, weil sie Affekte nur simulieren. Aus diesem Dilemma weist in seinen Augen nur eine »psychologische Untersuchung«, die den Zusammenhang zwischen den sichtbaren Effekten zu dem verursachenden Affekt wieder herzustellen hätte. Piderits Verdikt betrifft deshalb auch das Aufzeichnungsmedium, dessen sich Duchenne zur Fixierung der Affektbilder bedient hatte: Die Fotografie, die ihren Gegenstand gleichsam nur ›mechanisch‹ und ›oberflächlich‹ wiedergibt und damit mortifiziert, vermag für Piderit – trotz ihrer wissenschaftlichen Exaktheit – nicht zu den ›verborgenen‹ psychologischen Ursachen der Affekte vorzudringen. Deshalb kehrt er auch Duchennes experimentalphysiologische Methode geradewegs um und setzt die »psychologischen Entstehungsursachen« wieder an die erste Stelle: »Indem ich zunächst die Sprache der Leidenschaften bis zu ihren psychologischen Entstehungsursachen verfolgte, und dann das flüchtige und komplizierte Spiel der Mienen in seine Einzelheiten zerlegte, habe ich eine systematische Einteilung und Erklärung der mimischen Muskelbewegungen zu erreichen gesucht.«88 Anders als Duchenne, der von den sichtbaren Wirkungen, dem äußeren Zusammenspiel der Gesichtsmuskeln ausgegangen war, betreibt Piderit explizit Ursachenforschung. Deshalb kritisiert er auch dessen Substituierung des Affekts durch sein Bild und bezweifelt, »daß schon die mechanische Nachahmung der äußeren Zeichen eines Affekts allein genügt, um denselben in der Seele wirklich hervorzurufen [...]. Mir will es scheinen, daß bei diesen Vorgängen nicht sowohl die Affektvorstellungen durch mimische Muskelbewegungen als vielmehr umgekehrt diese durch jene veranlaßt werden.«89 In der (auch schauspieltheoretisch) relevanten Frage nach dem Verhältnis zwischen der Nachahmung der äußeren mimischen Zeichen und Vorstellung des inneren Affekts bezieht Piderit eindeutig Stellung: Für ihn kann ein nur simulierter Affekt niemals zu dessen psychologischer ›Wahrheit‹ vordringen. Er teilt jedoch mit Duchenne die Annahme einer »Sprache der Leidenschaften« und »zerlegt« wie dieser das vielgestaltige Mienenspiel funktionslogisch in seine Bestandteile. Außerdem sieht er ebenso wie Duchenne in den bildenden Künsten ein wichtiges Anwendungsgebiet seiner Mimiktheorie. Auch er propagiert als ihr ästhetisches Ideal das mimisch bewegte Gesicht.90 Dieses Interesse an der beweglichen Mimik verrät, wie viel Piderit – trotz ihrer Ablehnung – fotografischen Affektbildern zu verdanken hat, die er in den Werken Duchennes und Darwin studieren konnte. 88 Ebd., S. 27. 89 Ebd., S. 20. 90 Vgl. ebd., S. 27.
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Er selbst bevorzugt jedoch in seiner Abhandlung Mimik und Physiognomik eine andere Visualisierungstechnik, denn er hegt die Hoffnung, daß mittels seiner »Regeln und Gesetze« jeder Künstler »einen beliebigen Ausdruck gleichsam geometrisch [...] konstruieren« könne.91 Piderit geht es also vorrangig um objektive Konstruktionsregeln und -gesetze mimischer Affektbilder, nicht um deren subjektiven Eindruck. Auf diese Weise sucht er die unvermeidliche Gespaltenheit des Menschen als Subjekt und Objekt der anthropologischen Erkenntnis zu umgehen. Die gesetzmäßige und regelgeleitete Konstruierbarkeit eines jeden beliebigen Gesichtsausdrucks bildet das grundsätzliche Versprechen der wissenschaftlichen Ausdrucksforschung dieser Zeit. Die Vorstellung, jedes Affektbild lasse sich konstruieren, trägt der gestiegenen Komplexität anthropologischen Wissens auf der Ebene der sichtbaren mimischen Zeichen Rechnung, die physiologische Forschungen und fotografische Aufzeichnung erbracht haben. Sie wird in der variablen Kombinatorik einzelner Gesichtsmuskeln und der Steigerbarkeit von Affektbildern deutlich. Anders als Duchenne erstellt Piderit zur Illustration seiner ausdruckspsychologischen Regeln und Gesetze schematisierte Zeichnungen des Gesichts, die ausdrücklich jeden individuellen Zug tilgen sollen (vgl. Abb. 7), so daß sich »immer dieselbe Physiognomie wiederholt«92. Damit leistet er zugleich auf die Fülle mimischer Nuancen Verzicht, die Duchennes Fotografien fixiert hatten. Durch diese schematisierten Zeichnungen könnten allerdings nur »einfache Seelenzustände, deutlich ausgesprochene Leidenschaften« dargestellt werden, nicht aber »die feinen und mannigfaltigen Modifikationen und Nuancierungen des Mienenspiels«.93 Die Bedeutung dieser Schemata liegt jedoch in ihrer Vereinfachung und Verkürzung. Das zeigt die Beschreibung seines Vorgehens: »Dabei wurde zunächst die Schablone dieser Physiognomie auf das genaueste kopiert und dann durch wenige charakteristische Striche der mimische Ausdruck hineingelegt. Auf diese Weise habe ich soviel wie möglich den Zeichnungen die Bestimmtheit und Deutlichkeit geometrischer Figuren zu geben gesucht«.94 Die Herstellung dieses Schemas erweist sich als hermeneutische Operation: Der gewünschte mimische Ausdruck wird in die Schablone »hineingelegt«, d.h. projiziert und »durch wenige charakteristische Striche« als mimische Zeichen semantisiert und lesbar gemacht. Darstel-
91 92 93 94
Ebd. Ebd., S. 28. Ebd., S. 29. Ebd., S. 28f.
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lungsökonomie zwingt Piderit zu dieser Geometrisierung des Ausdrucks, die auf Kosten der Komplexität des mimischen Ausdrucks geht.95
Abbildung 7: Theodor Piderit: Der prüfende Zug (1867)
Er setzt »auf den Modellcharakter der Illustration« statt wie Duchenne und Darwin auf Experiment und Empirie und betreibt damit auf der Darstellungsebene seiner Mimiktheorie eine Komplexitätsreduktion, die im (bewußten) Gegensatz zum Wissen um die angesprochenen mimischen »Modifikationen und Nuancierungen« steht. Diese Reduktion der Detailfülle, die Fotografien zu sehen geben, etwa durch schematisierte Zeichnungen ist selbst wiederum ein (notwendiger) Effekt der Mediatisierung des (nicht nur) wissenschaftlichen Blicks. Diese Mediatisierung erzwang neue Ökonomien der Darstellung von Wissen. Das erklärt auch, warum Fotografie und Zeichnung in wissenschaftlichen Abhandlungen oder Atlanten häufig gleichberechtigt verwendet wurden. Nur ein Künstler kann für Piderit den Variationsreichtum des Mienenspiels darstellen – oder eben Fotografien, von denen er nur sehr zögerlich Gebrauch macht. Sie finden nur in gedruckter Gestalt Eingang in sein Werk, nachdem sie »mit gewissenhafter Sorgfalt kopiert« und die »charakteristischen Linien ›durchgefenstert‹ oder ›durchgepaust‹ wurden, die Schatten aber« – die in Duchennes Affektbildern eine zentrale Rolle spielen – »weggelassen wurden«.96 Der Kopist wird so zum Agenten einer psychologischen Hermeneutik des Affektausdrucks. Er transformiert das vielgestaltige, apparativ erzeugte Bild in ein semantisch eindeutiges Schema. Piderits umständliches Kopierverfahren tilgt also genau die mimischen Nuancen, welche Fotografien sichtbar machen, zugunsten eines idealisierten Ausdrucksmodells. Das wird auch – in aller95 Zu Darstellungsschematismus in Physiognomik und Pathognomik und ihre Nähe zur Karikatur vgl. C. Schmölders: Vorurteil im Leibe, S. 109-140. 96 Th. Piderit: Mimik und Physiognomik, S. 29f.
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dings deutlich dynamisierter Form – in der experimentellen Ausdruckspsychologie des 20. Jahrhunderts Verwendung finden.97 Obwohl auch Piderit Fotografien für wesentlich »zuverlässiger« für die wissenschaftliche Analyse der Mimik als gemalte Porträts hält, beklagt er doch, daß es ihnen bedauerlicher Weise oft an Ähnlichkeit mit dem Porträtierten mangele.98 Die Evidenz der fotografisch erfassten Mimik steht für ihn wie für viele seiner Zeitgenossen im Widerspruch zur ästhetischen Kategorie der Ähnlichkeit. Piderit spricht an dieser Stelle den Schock der Selbstentfremdung an, den Fotografien, die nicht länger Porträts selbstidentischer Individuen, sondern Abbilder seiner singulären Zustände sind, hervorrufen konnten. Die apparativ generierte ›Ähnlichkeit‹ des fotografischen Abbildes, die ja – zeichenlogisch betrachtet – auf einer Beziehung der Kontiguität, also der raumzeitlichen Berührung von Signifikat und Signifikant, beruht, ist nicht mit der eines gemalten Porträts zu verwechseln, die der Logik symbolischer Repräsentation gehorcht. In dieser Konfusion einer ›mimetischen‹ und einer ›symbolischen‹ Ähnlichkeit verkennt Piderit, daß die fotografischen Affektbilder, die Duchenne angefertigt hatte, keine Porträts von Individuen, sondern ausdrücklich Darstellungen von Leidenschaften sind. Aus seiner Kritik spricht nicht nur eine Skepsis gegenüber der Evidenz des fotografisch generierten Bildes. Sie macht außerdem deutlich, daß Fotografien von eingeübten Wahrnehmungskonventionen entfremden.99 Kombinatorische Verwendungen von Fotografie und Zeichnung waren in wissenschaftlichen Abhandlungen der Zeit eine verbreitete Praxis, um Detailgenauigkeit einerseits und Systematisierbarkeit andererseits zu gewährleisten. Auch Alfred Giraudet, der 1895 einen Mimique, physiognomie et gestes betitelten Atlas der Kombinationsmöglichkeiten von Ausdrucksbewegungen veröffentlichte, wählte »un procédé mixte«,100, um bestimmte Momente einzelner Körperbewegungen herauszuheben. Er kombinierte Fotografie und Zeichnung, denn auch ihm bereitete die optische Darstellung bestimmter Ausdrucksmomente Schwierigkeiten, wenn es galt, den Moment der größten Ausdrucksintensität innerhalb einer Körperbewegung zu erfassen. Die Fotografie erwies sich dabei nicht 97
Die Experimentalpsychologie hat Piderits Schema zu einer quasifilmischen Demonstration weiterentwickelt (vgl. Edwin G. Boring/Edward B. Titchener: »A Model for the Demonstration of Facial Expression«, in: The American Journal of Psychology XXXIV, Nr. 4 [Okt. 1923], S. 471-485). 98 Th. Piderit: Mimik und Physiognomik, S. 162. 99 Die Ablehnung von Duchennes fotografischen Affektbildern im ästhetischen Diskurs seiner Zeit läßt sich durch diesen Bruch mit den Darstellungskonventionen des Porträts erklären. 100 Alfred Giraudet: Mimique, physiognomie et gestes. Méthode practique d’apres le système de F. Del Sarte pour servir a l’expression des sentiments, Paris: Librairies-Imprimeries Réunies 1895, S. 31.
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immer als hilfreich: »La photographie, qui semblait à première vue le meilleur procédé, avait divers inconvénients qui nous l’ont fait rejeter. La manière extrême, c’est-à-dire le schéma d’un mouvement, pouvait ne pas ètre suffisament frappante.«101 Deshalb orientierte sich Giraudet auch am Ausdruckssystem François Delsartes, das selbst wiederum auf den Forschungen von Duchenne, Piderit und Darwin beruht.102 Er hält »une science du geste« allein schon deshalb für unumgänglich, um »la multitude des détails nécessaires« und »le nombre incalculable, disons infini, de mouvements«103 bewältigen zu können. Giraudet adaptierte deshalb das streng logisch-mathematische Klassifikationsschema Delsartes. Dieses Schema bestand aus 243 Bewegungstypen und insgesamt 729 – oder 3 hoch 6 – datierbaren Bewegungsdetails. Diese ließen sich durch eine Ziffern- bzw. Buchstabenfolge oder ein Graphem bezeichnen und darstellen. Delsartes ausdifferenziertes Notationssystem formierte eine »mimische Sprache« auf der Basis dieser funktionalen Kombinatorik, um die vielgestaltigen Körperbewegungen erfassen zu können.104 Dieses Prozedere ist Resultat der wissenschaftlichen Spezifikation, der Aufgliederung des Untersuchungsobjekts ›Mensch‹ in funktionale Einheiten und Teil einer fotografischen Praxis, die sich am Herausheben bedeutender Details und fruchtbarer Momente geschult hat. Die synoptischen Tafeln, die das Ausdruckssystem Delsartes repräsentieren sollen, kombinieren Duchennes fotografische Serien mit Piderits abstraktem Gesichtsschema. Die Zeichnungen Gaston Le Doux’ konstruieren ein Ideal des körpersprachlichen Ausdrucks, indem sie signifikante Bewegungsmomente herausheben und fixieren. Sie sind wie Duchennes Fotografien und Piderits Schemata Dispositive im Bereich des Sichtbaren. In ganz anderer Weise setzten um 1900 Künstler und Schauspieler Fotografien ein, um Affekte zu visualisieren. Albert Borées Physiognomische Studien von 1899 waren vor allem an seine Schauspielerkollegen gerichtet, denen er einen »mimischen Leitfaden«105 zum Selbststudium an die Hand geben wollte. Dazu stellte er wie Duchenne ein Tafelwerk aus fotografischen Affektbildern zusammen, bei denen Borée selbst als Modell fungierte. Den Fotografien hat Borée Beschreibungen beigegeben, die explizit als Handlungsanweisung verstanden werden sollten. 101 Ebd., S. 31. 102 Ebd., S. 9. 103 Ebd., S. 7; vgl. Genevieve Stebbins: Delsarte System of Expression, New York: Dance Horizons (6. Aufl.) 1977. 104 A. Giraudet: Mimique, S. 23: »[...] nous avons pu créer un moyen de notation des plans scéniques et, enfin, former un LANGUAGE MIMIQUE, ce qui semblait, jusqu’ici, impossible, étant considerée la multiplicité des phénomenes à eprimer.« 105 N. Borrmann: Kunst und Physiognomik, S. 164.
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Ausdrücklich auf Piderit bezog sich Hermann Vincenz Heller. Er stellte dessen mimische Schemata nach und fotografierte sie. Auf diese Weise gelangten sie wieder in den Kreislauf der Bilder. Anschließend fertigte Heller nach diesen Fotografien plastische Masken an, die er noch einmal ablichtete und 1902 in seinen Grundformen der Mimik des menschlichen Antlitzes abdruckte. Eine Darstellung mimischer Grundformen brachte ein Jahr später auch Heinrich Rudolph heraus. Sein umfangreiches Werk Der Ausdruck der Gemütsbewegungen des Menschen bestückte er mit 38 Fotografien, die stark konventionalisierte bis überspitzte Gesten zeigen. Ihr Titel verweist auf das Vorbild Darwins, dessen unzulängliche Bebilderung Rudolph mit seinen theatralischen Posen übertreffen wollte. Zusätzlich gab er in einen Band mit Zeichnungen heraus, der – sagenhafte – 640 gezeichnete Affektbilder enthält (vgl. Abb. 8).106
Abbildung 8: Heinrich Rudolph: Erstaunen, Entsetzten, Angst (1903)
Als ein prägnantes Beispiel für die Popularität der menschlichen Mimik als Forschungsgegenstand auch wissenschaftlicher Amateure verdient Fritz Möllers Album Physiognomischer Studien genannt zu werden, das
106 Zu Rudolph vgl. Oliver Zybok: Von Angesicht zu Angesicht: Mimik — Gebärden — Emotionen, Leipzig: E.A. Seemann 2000, S. 206.
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immerhin auf der Pariser Weltausstellung im Jahr 1900 im Rahmen einer Sammelausstellung des Fotografengewerbes gezeigt und von der Jury ausgezeichnet wurde.107 Der Fotograf und Hobbyschauspieler Möller legte mit seinem Album ein mimisches »Musterbuch« vor,108 in dem zunächst die unterschiedlichen Ausdrucksvalenzen von Auge, Mund, Nase und Stirn aufgelistet werden, bevor deren Kombinationen zu expressiven Affektbildern gezeigt werden (vgl. Abb. 9). Sein Lexikon trägt bei aller Ernsthaftigkeit auch parodistische Züge, etwa wenn sich der Selbstdarsteller Möller als Frau kostümiert, um als typisch weiblich apostrophierte Verhaltensweisen wie das kokette Lachen oder das verschämte Lächeln darzustellen.109
Abbildung 9: Fritz Möller: Mimik des Mundes (1900)
Diese Beispiele belegen, wie weit sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts die ausdruckstheoretische Diskussion auf die Mimik verlagert hat. Der fotografische Bildatlas stellt eine verbreitete Wissensform dar. Die fotografischen Serien, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts vorwiegend in Kliniken und Gefängnissen entstanden waren und ein positives Wissen über die Symptome von Krankheiten bzw. die Anzeichen von Delinquenz hervorbrachten, sind – wie die Wirkungsgeschichte der Iconographie photographique de la Salpêtrière exemplarisch beweist – über die Grenzen der Wissenschaft hinaus populär geworden.
107 Vgl. Hanns Grote/Moritz Götze/Thomas Steuber (Hg.): Die Selbstinszenierungen des Fotografen Fritz Möller, Leipzig: Stadtlicht 2001. 108 Matthias John: »Streifzüge durch die Geschichte der Physiognomik mit Blick auf Fritz Möller«, in: ebd., S. 17-33, hier S.19. 109 Ebd., Abb. 101, 103.
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4 . 5 Mo m ent b il d er d es A us d r uc k s Das anthropologische Wissen über die pathognomischen Zeichen erreicht durch fotografische Visualisierungstechniken seit Mitte des 19. Jahrhunderts jene Ebene der Positivität, die Voraussetzung für die Ausbildung einer Wissensformation ist. Bezeichnend dafür ist, daß dieses Wissen zwischen Wissenschaft und Kunst zirkuliert. Die Diskrepanz zwischen Wissen und Darstellung soll durch die Synchronisierung des Aufnahmemoments der Fotografie mit dem Moment der größten Ausdrucksintensität des flüchtigen Affektbildes sowie im Dispositiv des Bildatlasses behoben werden. Auch Piderits Gesichtsschema kompensiert das Darstellungsproblem, das die Ausdruckstheorien bis ins 19. Jahrhundert hinein beherrscht hatte. Von Le Bruns auf den ersten Blick ähnlichen Zeichnungen des Affektausdrucks trennen es zwei bedeutsame epistemologische Einschnitte: Zum einen stellt das Schema eine Abstraktion der mimischen Oberfläche des Gesichts gewissermaßen nach seinem Durchgang durch die fotografisch sichtbar gemachte Zeichenfülle des bewegten Gesichts dar. Wie Duchennes fotografische Synopsis vereinheitlicht es als Abstraktion die mimischen Modifikationen zu einem Gesamtbild des Affektausdrucks. Zum anderen stellt es – und zwar als Konsequenz der fotografisch generierten Evidenz fruchtbarer Momente des Affektbildes – mimische Anzeichen von Bewegungen dar, wie schon Karl Bühler beobachtet hat: »PIDERIT sucht alles, das ganze Muskelspiel um Auge, Mund und Nase als Initialsymptome von Handlungen zu begreifen.«110 Als Folge fotografischer Evidenzbildung können die »synsemantischen Anzeichen«, die Piderit auflistet, »wie die von den Juristen als Indizien bezeichneten Beweismittel« Geltung beanspruchen.111 Die Gleichsetzung von Symptom und Indiz, die Bühler hier vornimmt, verweist auf die Privilegierung von Nuancen des dynamisch gedachten Mienenspiels. In der Debatte um die Affekt-Ausdrucksbeziehung gewannen diese Nuancen im Verlauf des 19. Jahrhunderts stetig an Bedeutung und wurden schließlich in der fotografischen Aufzeichnung dieser Nuancen Gegenstand positiven Wissens. Auch Giovanni Morellis Methode der Identifizierung und Korrektur falscher Zuschreibungen von Gemälden basiert auf der Distinktionskraft marginaler Details.112 Piderits Systematik ist – trotz aller Unterschiede in der wissenschaftlichen Verfahrensweise – wie die Duchennes auf ein Lexikon mimischer Bewegungen gerichtet. Piderit gilt Bühler deshalb als »der erste Vertreter einer Aktionstheorie des mimischen Geschehens«, den an den ver110 Ebd., S. 73. 111 Ebd., S. 83. 112 Vgl. C. Ginzburg: Spurensicherung, bes. S. 7-44.
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schiedenen Blickmöglichkeiten »außer dem Inventar der mimischen Einzelsymptome« bereits »das semantische Umfeld der lexikalisch gefaßten Symptome« interessiere.113 Darin sind sie Duchennes Steigerungsformen von Affektmimiken verwandt. Deshalb kann Piderit für Bühler auch zum Vorreiter der Ausdruckspsychologie des 20. Jahrhunderts avancieren: Mehr noch als Duchenne mußte er »bestimmte fruchtbare Momente« aus »dem kontinuierlichen Fluß des bewegten Muskelspiels«114 herausheben, um sie als distinkte Merkmale in sein idealisiertes Gesichtsschema einsetzen zu können (vgl. Abb. 7, 10).
Abbildung 10: Theodor Piderit: Schläfrig gesenkte Augen, aufgerissene Augen (1867)
Allerdings beschränkte sich Piderit bei der Ausarbeitung seines mimischen Lexikons weitgehend auf semantisch und visuell isolierbare Symptome wie die senkrechten Stirnfalten, die nicht durch andere mimische Zeichen kontextualisiert werden müssen und sich für eine Darstellung im abstrakten Gesichtsschema besonders eignen – diese Beschränkung hat für Karl Bühler eine darstellungstheoretische Ursache: Wenn man wie PIDERIT die Malerei und Plastik durchmustert nach mimischen Symptomen, wenn man ins Lexikon all das und im wesentlichen nur das aufnimmt, was bei der statischen Wiedergabe von Ausdrücken aufscheint, dann ist es unvermeidlich, daß an sich so Verschiedenartiges wie der versteckte Blick und die senkrechten Stirnfalten zusammen geraten. Die modernen Hilfsmittel der Forschung (wie Filmaufnahmen) gestatten und fordern kategorisch eine methodische Erweiterung des Unternehmens und dabei werden sich schon wie von selbst einige sachliche Differenzierungen der Symptome herausstellen.115
113 K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 89; S. 79. 114 Ebd. 115 Ebd., S. 88.
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Um die von Piderit arretierten mimischen Zeichen semantisch erneut in Bewegung zu versetzen, bedarf es für Bühler einer Erweiterung des medialen Settings: Erst das filmische Bewegungsbild leiste eine Kontextualisierung, die synsemantische Indizien wie der »versteckte Blick« geradezu fordern. Diese synsemantische Indizien entfalten erst in der Ausdrucksbewegung ihre semantische Fülle, denn sie seien »in hohem Maße kontextbestimmt, kontextgetragen«.116 Für die experimentelle Psychologie des 20. Jahrhunderts, die gelernt hat, in der filmischen Montage das Interagieren von Kontextbezügen zu beobachten, werden solche komplexen mimischen Zeichen Gegenstand der wissenschaftlichen Analyse. Die Selektion bestimmter Ausdrucksmomente aus dem Gesamtverlauf einer mimischen Bewegung ist die Aufgabe, der sich die Ausdrucksforschung zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellen wird. In dieser Hinsicht ist die Vorgehensweise Philipp Lerschs aufschlußreich, dessen 1932 erschienenes Buch Gesicht und Seele für Bühler die Richtung vorgibt. Lersch schneidet aus seinen filmisch aufgezeichneten Experimenten nicht nur »prägnante Einzelbilder«117 aus, sondern isoliert darüber hinaus die mimisch prägnanten Gesichtspartien dieser Affektbilder, indem er die die physiognomisch-statischen einfach entfernt (vgl. Abb. 11): »Um eine Erkennung der Einzelpersonen unmöglich zu machen, war es geboten, die Gesichter so weit abzudecken, daß lediglich das jeweils mimisch Eigenartige erscheint, während das Physiognomische, das in der festen Architektonik des Gesichtes begründet ist, ausgeschaltet bleibt.«118 Mit diesem Verfahren verbindet er zwei ›ältere‹ Visualisierungstechniken: Duchenne hatte Teile des Gesichts abgedeckt, um die Prägnanz eines mimischen Affektbildes zu steigern, und Piderit verwendete ein idealisiertes Gesichtsschema, das jede verkomplizierende Nuance tilgte. Auch Lerschs Darstellungsform ist konstruktiv und ökonomisch: Sie abstrahiert und vereinfacht die optische Wiedergabe des Gesichts und wählt fruchtbare Momente aus. Diesen Selektionsschub im Bereich des technisch generierten Sichtbaren teilen wissenschaftliche Ausdrucksforschung und populärer Film: Ausdruck heißt für beide Diskurse Prägnanz von Bewegungsmomenten, deren »Fruchtbarkeit [...] gerade darin beschlossen [liege], daß sie Sukzessionsgestalten zu repräsentieren vermögen«.119 Die Momentfotografie des 19. Jahrhunderts hatte einen visuellen Repräsentationsmodus verfügbar gemacht, in dem das Wissen um die fruchtbaren Momente des Affektausdrucks eingegangen ist. Darauf konnte die Ausdrucksforschung 116 Ebd., S. 86. 117 Ebd., S. 80. 118 Philipp Lersch: Gesicht und Seele. Grundlinien einer mimischen Diagnostik, München: Ernst Reinhardt 1932, S. 7. 119 K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 81.
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des beginnenden 20. Jahrhunderts aufbauen. Die Fokussierung auf die fruchtbaren Momente verdankt sich der Verknüpfung von Wissen und Sehen, die mit der Einführung der Fotografie in Aussicht gestellt wurde. Darauf weist Hermann Krukenberg rückblickend hin: »Mit der Vervollkommnung der photographischen Technik hat sich eine neue Untersuchungsmethode eingebürgert, die darin besteht, willkürlich angenommene, für eine Seelenstimmung charakteristische Mienen zum analytischen Detailstudium auf der Platte festzuhalten.«120
Abbildung 11: Philipp Lersch: Gesicht und Seele, Tafel IV (1932)
Auch in der psychologischen Theorie der Mimik nimmt diese Problemstellung mit anderer Gewichtung eine zentrale Rolle ein: Duchenne hat mit der Untersuchung, welche mimischen Affektbilder willkürlich evoziert werden können und welche nicht (z.B. das Lächeln), eine der wich120 H. Krukenberg: Gesichtsausdruck, S. 40.
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tigsten ausdruckspsychologischen Unterscheidungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eingeführt. Zudem zeichnet sich in der Begrifflichkeit der Ausdruckstheorie selbst dieser Paradigmenwechsel zum Momentbild ab: Die Rede von der ›Ausdrucksbewegung‹ wird ubiquitär. In ihr sedimentiert sich ein Wissen um die der Bewegung innewohnenden Gesetzmäßigkeiten des Motorischen wie Rhythmus, Verlauf, Anfang und Ende einer Bewegungsfolge. Für letztere stellt sich wie für die Zustandsbilder des Affektausdrucks in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Problem der Darstellung: Besondere Schwierigkeiten bieten die auf flüchtige Reize folgenden schnellen Bewegungen des Gesichts für die bildliche Darstellung. [...] Die Wiedergabe einer Bewegung ist um so schwieriger, je schneller sie geschieht. Wohl können wir jede Phase einer Bewegung bildlich darstellen. Die Momentphotographie ist imstande, das Bild in schnellster Bewegung befindlicher Körper festzuhalten, aber wir sehen in solchen Bildern nur das, was sich auf der photographischen Platte und nicht, was sich in unserem Auge bzw. in unserem Vorstellungsvermögen abgespielt hat.121
Für Krukenberg handelt es sich hier nicht mehr nur um ein Selektionsproblem: Mit der Chronofotografie kann eine Bewegungssequenz in jeder ihrer Phasen visuell rekonstruiert werden. Aber das reicht nicht aus, um die Vorstellung, die das menschliche Auge im Unterschied zur technischen Apparatur von einer Bewegung generiert, zu erklären. Die fotografische Wiedergabe kollidiert mit der Vorstellung von Bewegung, die das menschliche Sehen konstruiert. Darauf hat Henri Bergson in seiner Schrift Schöpferische Entwicklung (1907) hingewiesen. Max Wertheimer hat nur wenige Jahre später in seinen Experimentellen Studien über das Sehen von Bewegungen eine wissenschaftliche Erklärung für diesen Sachverhalt geliefert.122 Wahrnehmungspsychologische Erklärungen waren für das Verständnis des filmischen Bewegungseindrucks von zentraler Bedeutung, wie Hugo Münsterberg in der ersten psychologischen Theorie des Kinos – seiner 1916 erschienenen Schrift Das Lichtspiel – mit der Auffassung beweist, daß »der Eindruck der Bewegungskontinuität von einem vielschichtigen Bewußtseinsvorgang herrührt, durch den die verschiedenen Bilder in der Einheit eines höheren Vorgangs zusammengehalten werden.«123 121 Ebd., S. 149f. 122 Vgl. Max Wertheimer: »Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung«, in: Zeitschrift für Psychologie 61 (1912), S. 161-265. Wertheimer wies nach, daß beim Sehen von Bewegung nicht die Bewegung der Objekte selbst, sondern ihre Lageverschiebung wahrgenommen wird. 123 H. Münsterberg: Das Lichtspiel, S. 49.
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Dagegen liegt die Schwierigkeit fotografischer Aufnahmen von Bewegungen also immer im Auffinden entscheidender Augenblicke.124 Dies verdeutlicht Krukenberg am Beispiel einer Momentaufnahme, die einen Augenblick heftigen Zusammenzuckens zeigt: »Der Ausdruck des Erschreckens zeigt sich auf dem außerordentlich scharfen Bilde in keiner Weise, der Ausdruck ist für den Beschauer vielmehr gänzlich unverständlich«.125 Fruchtbare Momente finde der Fotograf hingegen, wenn er »sich gewissermaßen einen Ruhepunkt« der Bewegung heraussuche, »der auf unser Auge einen nachdrücklicheren Eindruck macht, und das sind in der Regel die Endpunkte oder bei intendierten Bewegungen auch die Anfangspunkte der Bewegung«.126 Die Anfangs- und Endpunkte einer Bewegung werden von Krukenberg als hinlänglich signifikant bestimmt. Sie lassen sich leicht herausheben und fotografisch erfassen. Der gesteigerte, d.h. singuläre Affektausdruck, kann, wie das heftige Erschrecken zeigt, für Krukenberg dagegen nicht bezeichnet werden. Er bleibt in seinem ästhetischen Bildverständnis unverständliche Grimasse. Duchennes Modernität liegt genau darin begründet, daß er solche Singularitäten des Affektausdrucks als fruchtbare Momente zu denken und zu zeigen vermochte. Mit solchen angeblichen Grimassen operiert aber bereits der frühe ›stumme‹ Film. In der Ära des Attraktionskinos unterhalten sogenannte Facial Expression Films das Publikum mit in Nahsicht gefilmten mimischen Aktionen sowie Gesichtsverzerrungen. Kernstück der Attraktion sind physiologische Bewegungsextreme, nicht das Verstehen von Ausdrucksbewegungen. Gleichzeitig eröffnen sie ein epistemologisches Feld der Erfassung und Erforschung des Gesichts in extremen Verzerrungen.127 Das Narrationskino wird diese Möglichkeiten nicht ungenutzt lassen, denn es experimentiert immer wieder mit dem Schockerlebnis, das in Großaufnahme gefilmte Gesichter in extremer Verzerrung auslösen.128
124 Zu Bergsons Kritik an der Fotografie vgl. Mary Ann Doane: »Temporality, Storage, Legibility: Freud, Marey, and the Cinema« in: Critical Inquiry 22 (Winter 1996), S. 313-343; G. Deleuze: Bewegungs-Bild, S. 13-26. 125 H. Krukenberg: Gesichtsausdruck, S. 151. 126 Ebd., S. 152. 127 Vgl. T. Gunning: »In Your Face, S. 23. 128 Vgl. Lotte H. Eisner: Die dämonische Leinwand, hg. von Hilmar Hoffmann und Walter Schobert, Frankfurt a.M.: Fischer 1980; T. Gunning: »In Your Face«; Oksana Bulgakowa: Die Fabrik des Exzentrischen Schauspielers, Berlin: Potemkin Press 1996.
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5. P S Y CH O L O G IE
DER
A U S DR U C K S BE W E G U NG
Die Erregung hat ihre Entwicklung, ihre Wellen, ihre Ruhepunkte, ihren Anfang, Mitte und Höhepunkt. (Denis Diderot)
Mit der experimentalphysiologischen Untersuchung und fotografischen Erfassung von Affektbildern setzt eine epistemologische Wende ein, durch die die flüchtigen Zeichen der Affekte, die Dynamik psychischer Prozesse, den Raum positiven Wissens betritt. Diese Wende beschreibend, notiert Oberministerialrat Dr. Robert Volz 1866 in der Deutschen Vierteljahres-Schrift: Die Lehre von der Mimik hat in der neuesten Zeit einen bedeutenden Fortschritt gethan, welcher ihre Stellung grundsätzlich verändert. In ihr Gebiet, das bisher fast einzig der Kunst gehörte, ist die Wissenschaft eingedrungen, die Mimik ist als ein Theil der Naturforschung erkannt, aus den Lehrbüchern der Aesthetik in die der Physiologie aufgenommen worden.1
Im Verbund von Elektrophysiologie und Fotografie fanden nun selbst geringe mimische Effekte der Affekte zum ersten Mal ein geeignetes Medium der Darstellung. Darüber hinaus etablierte sich mit dem fruchtbaren Moment der Fotografie eine Erkenntnisfigur, die physiologisches mit ästhetischem, psychologisches mit schauspieltheoretischem Wissen verband und zwischen den Diskursen zirkulierte. Im Zentrum dieser Entdeckung der Dynamik von Affekten steht ein Begriff von Bewegung, wie ihn Balzacs Theorie de la demarche 1833 propagiert hatte. Dieser entspricht nicht nur der gestiegenen Komplexität der bürgerlichen Gesellschaft, sondern zugleich der Modernität des Menschen in seiner Endlichkeit. Nicht umsonst versuchen Physiologen und Psychophysiker von nun an, die Zeit (des Menschen) selbst dort zu messen, wo für den menschlichen Beobachter keine Zeit vergeht, wenn sie 1
Robert Volz: »Ueber Physiognomik und Mimik«, in: Deutsche Vierteljahres-Schrift, 29. Jg. (1866), S. 274-327, hier S. 274. Als Gewährsmänner nennt Volz vor allem Piderit, er verweist auch auf Duchennes elektrophysiologische Untersuchungen.
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wie Hermann von Helmholtz 1850 die Fortpflanzungsgeschwindigkeit der Nervenreizung – also die Zeit, die zwischen der Reizung eines Nervs und einer Muskelreaktion vergeht – mit etwa 0, 0015 Sekunden angeben.2 Mit diesem Experiment dringt die Physiologie in einen Bezirk des Unwahrnehmbaren ein – Versuchsanordnungen erobern das Unbewußte menschlicher Beobachter: »Das Maßlose des Fundes liegt genau darin, daß im empfindlichsten Milieu, im Nervensystem, daß im Augenblick der Mitteilung, den Aufriß des Augenblicks erschütternd, meßbare Zeit unwahrnehmbar vergeht.«3 Solche Erkenntnisse bestärken zugleich die Einsicht in die Zeitlichkeit und Dynamik physischer wie psychischer Vorgänge sowie in die Beobachterabhängigkeit jeglicher Erkenntnis.4 Ein Gravitationszentrum dieses diskursiven Netzwerks bildet sich um den Begriff ›Ausdrucksbewegung‹, der dezidiert die zeitlich-dynamischen Komponenten des Affektausdrucks benennt. Wilhelm Wundt, zeitweilig von Helmholtz’ Assistent, hat ihn in die experimentelle Psychologie eingeführt, als deren Begründer er zugleich gilt.5 In seiner programmatischen Abhandlung Grundzüge der Physiologischen Psychologie, die erstmals 1873 und 1874 in zwei Bänden erschien,6 entwickelt er Begriff und Theorie der Ausdrucksbewegung und leitet damit einen Paradigmenwechsel in der Psychologie ein.7 Mit dem statischen Zeichenbegriff der Physignomik verabschiedet die experimentelle Psychologie auch die Auffassung, der Charakter eines Menschen sei unveränderlich: Die Versuche, zwischen dem Aueßeren des Menschen, namentlich seinen Gesichtszügen, und seinem Innern gewisse Gesetze der Beziehung aufzufinden, sind zwar uralt, denn sie gründen sich auf die allgemeine Wahrnehmung der 2
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Vgl. Th. Schestag: »Souterrain«, S. 7-67. Helmholtz hatte — wie in dieser Zeit üblich — seine Experimente an Froschschenkeln vorgenommen. Als seinen legitimen Nachfolger benennt Schestag den französischen Physiologen Etienne-Jules Marey, der in seiner 1873 erschienenen Abhandlung La machine animale. Locomotion terrestre et aérienne auch den menschlichen Gang fotografisch aufgezeichnet hat. Ebd., S. 50. Vgl. Mary-Ann Doane: The Emergence of Cinematic Time: Modernity, Contengency, the Archive, Cambridge (Mass.)/London: Harvard Univ. Press 2002; Anson Rabinbach: The Human Motor: Energy, Fatigue, and the Origins of Modernity, New York: Basic Books 1990. Vgl. Edwin G. Boring: A History of Experimental Psychology, New York/ London: The Century Co. 1929, S. 310; Helga und Lothar Sprung: »Wilhelm Maximilian Wundt. Vater der experimentellen Psychologie«, in: Clair/Pichler/Pircher: Wunderblock, S. 343-349. Laut Boring »the most important book in the history of modern psychology« (ders.: History of Experimental Psychology, S. 317). Das Standardwerk versammelt Vorlesungen, die Wundt seit 1867 gehalten hatte. Bis 1911 sollte es in sechs Auflagen zahlreiche Erweiterungen erfahren. Vgl. W. Hehlmann: Geschichte der Psychologie, S. 334.
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Wechselwirkung zwischen Geist und Körper; doch sind diese Versuche, wie sie namentlich in den früheren Versuchen der Physiognomik vorliegen, von geringem Werthe. Sie leiden alle an dem Fehler, dass sie bleibende Verhältnisse der Form, die auf dem Knochenbau oder andern Eigenschaften der ursprünglichen Bildung beruhen, als bedeutungsvolle Symbole des geistigen Charakters ansehen [...].8
Dagegen beruft sich Wundt auf die Pathognomik Lichtenbergs, auf Engels Ideen zu einer Mimik und Bells anatomische Studien, um die »an die Affecte gebundenen Ausdrucksbewegungen« in den Vordergrund zu rücken.9 Nur ein Jahr nach Erscheinen der Grundzüge übernimmt Wundt einen Lehrstuhl für Philosophie an der Universität Leipzig und gründet dort 1879 das weltweit erste Institut für experimentelle Psychologie.10 Wundts Grundzüge stellen einen wissenschaftlichen Versuch dar, physiologische Forschungsmethoden und psychologische Fragestellungen zu verknüpfen. Die wissenschaftliche Psychologie errichtet er auf zwei Säulen: der experimentellen Physiologischen Psychologie einerseits und der vergleichenden Völkerpsychologie andererseits, der er in einem ehrgeizigen Publikationsvorhaben zwischen 1900 und 1920 – seinem Todesjahr – ganze zehn Bände widmen sollte. Die Völkerpsychologie erfuhr namentlich durch die Forschungen von Moritz Lazarus und Heymann Steinthal, die 1859 die Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft begründeten, wichtige Impulse. Durch den völkerpsychologischen Ansatz weitet Wundt die individualpsychologische Perspektive seiner Forschung auf die Psychologie der Gemeinschaft aus, durch die erst die ›höheren‹ geistigen Prozesse erklärbar würden.11 Auf 8
Wilhelm Wundt: Grundzüge der Physiologischen Psychologie (1873-74), Leipzig, 4. umgearb. Auflage: Wilhelm Engelmann 1893, Bd. 2, S. 607. 9 Ebd., Bd. 2, S. 608. 10 Vgl. Mitchell G. Ash: »Die experimentelle Psychologie an den deutschsprachigen Universitäten von der Wilhelminischen Zeit bis zum Nationalsozialismus«, in: ders./Ulfried Geuter (Hg.): Geschichte der deutschen Psychologie im 20. Jahrhundert, Opladen: Westdeutscher Verlag 1985, S. 45-82. Bereits als Privatdozent der Physiologie in Heidelberg hat sich Wundt für die experimentelle Messung von Reaktionszeiten (z.B. Zeitdifferenzen zwischen Gesichts- und Gehörwahrnehmungen) interessiert; vgl. Henning Schmidgen: »Zur Genealogie der Reaktionsversuche in der experimentellen Psychologie«, in: Christoph Meinel (Hg.): Instrument — Experiment. Historische Studien, Berlin: Diepholz 2000, S. 168-179. 11 Diesen systemischen Wechsel beschreibt Wundt in Begriffen gesteigerter Komplexität: »Dass die Fragen der physiologischen Psychologie bis zu einem gewissen Grade geklärt sein mussten, ehe sich die wissenschaftliche Arbeit den complizirteren völkerpsychologischen Problemen zuwenden konnte, ist wohl begreiflich« (Wilhelm Wundt: Völkerpsychologie. Eine Untersuchung der Entwicklungsgesetze von Sprache, Mythus und Sitte,
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diese Weise versucht Wundt, die Psychologie in der Rolle als »Vermittlerin« zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, ja als deren disziplinäre Grundlage zu etablieren.12
5 . 1 A u s d r u c k s b eweg ung a l s M i t t ei l ung s fo r m u nd p s y c h i s c h er P r o z e ß Im zweiten Band der Grundzüge legt Wundt seine Überlegungen zur Psychologie der Ausdrucksbewegung vor. Er definiert sie dort explizit als Mitteilungsform: Indem sich die Gemüthsbewegungen fortwährend in äußeren Bewegungen spiegeln, werden die letzteren zu einem Hülfsmittel, durch das sich verwandte Wesen ihre inneren Zustände mittheilen können. Alle Bewegungen, die einen solchen Verkehr des Bewusstseins mit der Außenwelt herstellen helfen, nennen wir Ausdrucksbewegungen.13
Diese besitzen jedoch zunächst nur »symptomatischen Charakter«14 und bedürfen daher der Interpretation eines Gegenübers, das sie zu dechiffrieren vermag. Ausdrucksbewegungen definiert Wundt somit strikt kommunikationstheoretisch: »Sobald eine Bewegung ein Zeichen innerer Zustände ist, welches von einem Wesen ähnlicher Art verstanden werden und möglicherweise beantwortet werden kann, wird sie damit zur Ausdrucksbewegung.«15 Wie wird nun aber eine Bewegung zum »Zeichen innerer Zustände«? Wundts Theorie der Ausdrucksbewegung basiert auf der Annahme eines Parallelismus zwischen physischen und psychischen Prozessen. Sie stützt sich auf Ernst Heinrich Webers Untersuchungen über die Empfindungen und das Weber-Fechnersche Gesetz.16 Physisches und Psychisches besit-
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Leipzig: Verlag von Wilhelm Engelmann 1900, Bd. 1: Die Sprache, S. VI); vgl. Irmingard Staeuble: »›Subjektpsychologie‹ oder ›subjektlose Psychologie‹ — Gesellschaftliche und institutionelle Bedingungen der Herausbildung der modernen Psychologie«, in: M.G. Ash/U. Geuter (Hg.): Geschichte der deutschen Psychologie, S. 19-44. Vgl. W. Wundt: Grundzüge, Bd. 1, S. 4; s.a.: Alfred Arnold: Wilhelm Wundt. Sein philosophisches System, Berlin: Akademie-Verlag 1980, S. 229-233; Berthold Oelze: Wilhelm Wundt. Die Konzeption der Völkerpsychologie, Münster/New York: Waxmann 1991. Ebd., Bd. 2, S. 598f. Ebd., S. 599. Ebd. Das Weber-Fechnersche Gesetz bestimmt die Wahrnehmungsschwelle von Empfindungen: Je intensiver ein Reiz, desto größer muß der Reizzuwachs
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zen demnach nicht nur »verschiedene Erscheinungsformen«, sondern müssen auch als je »eigene Kausalreihe verstanden werden«.17 Diesen »verschiedenen Erscheinungsformen« müsse eine psychologische Theorie durch eine Differenzierung ihrer Methoden gerecht werden. Das »innere Dasein« ist für Wundt nur durch den Nachweis der »willkürlichen und quantitativ bestimmbaren Veränderung [...] der äusseren, physischen Bedingungen der inneren Vorgänge« möglich.18 Rückschlüsse auf psychische Prozesse können für Wundt also nur durch meßbare physische Veränderungen gewonnen werden. Metaphysische Spekulationen über ihren Zusammenhang lehnt er hingegen grundsätzlich ab.19 Diese Haltung begründet Wundt damit, daß sich die Psychologie damit begnügen müsse, die einem gegebenen psychischen Act entsprechende äußere Bewegung als psychologisch erklärt anzusehen, sobald nur ihr Eintritt dem Princip des psycho-physischen Parallelismus entspricht, d.h. sobald die Bewegung einem aus psychologischer Causalität abgeleiteten inneren Vorgange als die zugehörige physische Erscheinung sich anschließt.20
Die Beziehung zwischen »äußerer Bewegung« und »innerem Vorgang« regelt für Wundt das Gesetz einer »psychologischen Causalität«, das impliziert, daß psychische Prozesse und die ihr »zugehörigen physischen Erscheinungen« parallel auftreten, daß also die sichtbaren transitorischen Zeichen am Körper als Ausdrucksbewegungen gedeutet sowie die unsichtbaren transitorischen Zeichen im Körper als Atmungs-, Herz- und Pulstätigkeit apparativ gemessen werden können. Wundts Parallelimus-These öffnet und differenziert den Raum der psychologischen Analyse. Sie stellt experimentelle und verstehende Methoden bei der Untersuchung der Affekt-Ausdrucksbeziehung gleich. Wundts Ausdruckstheorie bewegt sich also schon in den Grundzügen in den Bahnen seiner späteren Völkerpsychologie, die er als umfassende
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sein, um eine differente Empfindung auszulösen (vgl. W. Hehlmann: Geschichte, S. 141, 156-160; S. Rieger: Ästhetik des Menschen, S. 9). W. Hehlmann: Geschichte der Psychologie, S. 177; 179. W. Wundt: Grundzüge, Bd. 1, S. 5. Weil Wundt die Frage nach Sitz bzw. Charakter der Seele nicht stellt, ist seine psychologische Theorie als »Psychologie ohne Seele« bezeichnet worden. Für ihn hat Erfahrung jedoch »nicht mit irgend einem transzendenten Träger seelischer Vorgänge zu tun, sondern allein mit den psychischen Prozessen« (W. Hehlmann: Geschichte der Psychologie, S. 177); vgl. Wilhelm Wundt: »Gehirn und Seele«, in: Deutsche Rundschau, Bd. XXV (October-December 1880), S. 47-72. W. Wundt: Grundzüge, Bd. 2, S. 609; zu Wundts vgl. Gerold Ungeheuer: »Bühler und Wundt«, in: Achim Eschenbach (Hg.): Bühler-Studien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1984, S. 9-67.
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Theorie der Kultur und ihrer Geschichte zu entwerfen suchte. Während die direkt sichtbaren Ausdrucksbewegungen intersubjektiv gedeutet werden müssen, bedürfen die unsichtbaren Körpervorgänge zunächst der Messung und Aufzeichnung. Diese Körperdaten müssen erst ins Optische transkribiert werden. Durch Étienne-Jules Marey haben chronografische und chronofotografische Verfahren Einzug in die Physiologie gehalten.21 Er hat die Stadien von Bewegungsabläufen minutiös untersucht und fotografisch fixiert. Wundt überträgt Mareys Erkenntnisse auf ›genuin‹ psychologische Fragestellungen. Die Unterschiede zwischen experimenteller und verstehender Methode egalisiert er auf der Ebene der psychologischen Theoriebildung, indem er die Annahme einer psychologischen Kausalität mit dem Prinzip des psychophysischen Parallelismus vermittelt. Die Kopplung von Psychischem und Physischem gewährleistet ein Begriff von Bewegung, der die flüchtigen Anzeichen des Affekts als Ausdrucksbewegung identifiziert und in eine Dynamik psychischer Prozesse überführt – innere Vorgänge können so in Bewegungskurven übersetzt werden. Damit zeichnet sich am Horizont der Psychologie der Ausdrucksbewegung eine auch medienhistorisch bedeutsame Weichenstellung ab: eine Aufschlüsselung der körpersprachlichen Phänomene und ihrer medialen Aufzeichnungspraktiken: Einerseits werden sichtbare Ausdrucksbewegungen intersubjektiv gedeutet und andererseits innere psychische Prozesse gemessen und aufgezeichnet. Unter dem Einfluß der Physiologie gelangen so mit Mathematik und Statistik auch Wissenspraktiken in die Psychologie, die den Menschen in Formeln und Kurven datierbar machen sollen.22 Wundts Erklärungsanspruch steht und fällt mit dem »heuristischen Prinzip«23 des psychophysischen Parallelismus und dem Gesetz der psychischen Kausalität, das daran gekoppelt wird. Psychische Kausalität versteht Wundt im Unterschied zur physikalischen Kausalität nicht als mechanisches und damit quantifizierbares Verhältnis von Ursache und
21 Vgl. Étienne-Jules Marey: Le mouvement (1894), mit einem Vorwort von André Miquel, Nîmes: Éditions Jaqueline Chambon 1994; Marta Braun: Picturing Time. The Work of Etienne-Jules Marey (1830-1904), Chicago/London: The Univ. of Chicago Press 1992. Marey stellte 1860 nicht nur den ersten Pulsschreiber für die klinische Praxis vor, sondern entwikkelte 1865 auch einen transportablen Polygraphen, der neben Puls- und Herzschlag auch Atmung und Muskelkontraktion aufzeichnen konnte. 22 Neben der experimentellen Methode integriert Wundt auch die Statistik in sein wissenschaftliches System der Psychologie; vgl. zu Wundts Methodenpluralität Carl F. Graumann: »Experiment, Statistics, History: Wundt’s First Program of Psychology«, in: Wolfgang G. Bringmann/Ryan D. Tweney (Hg.): Wundt Studies, Göttingen: Hogrefe 1980, S. 33-41. 23 A. Arnold: Wundt, S. 88.
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Wirkung, sondern als eigendynamischen Prozeß.24 Er unterstreicht damit die Eigengesetzlichkeit physischer wie psychischer Prozesse. Wie sich Wundt die Parallelität psychischer und physischer Prozesse konkret vorstellt, läßt sich an seiner Affekttheorie studieren, die er ebenfalls in den Grundzügen entwickelt hat: Die directe Innervationsänderung ist fast immer begleitet von einer bedeutenden Rückwirkung des Affectes auf die Apperception. Nicht bloß die plötzliche Lähmung oder Erregung der Muskeln bei starken Affecten, sondern auch jene schwächeren Anwandlungen, die sich nur am Herzschlag, am Erbleichen oder Erröthen der Wangen verrathen, sind sehr gewöhnlich mit der Verwirrung des Gedankenverlaufs verbunden, die ihrerseits auf den Affect selbst und seine körperlichen Folgen verstärkend zurückwirken kann. Der Furchtsame oder Verlegene stottert, nicht bloß weil ihm die Zunge mechanisch den Dienst versagt, sondern zugleich weil ihm die Gedanken stille stehen.25
Den Zusammenhang zwischen physischen und psychischen Vorgängen sieht Wundt durch ihre gegenseitige Beeinflussung, durch ihr Zusammenwirken gewährleistet, das in hohem Maß eigendynamisch sei. Ihr prozessualer Charakter wird somit zum bestimmenden Faktor seiner Ausdruckstheorie. Das hebt auch Karl Bernecker in seiner Kritischen Darstellung des Affektbegriffs hervor: »Die Auffassung des Affektes als einer zusammengehörigen Reihe von Gefühlen, welche sich von den vorausgehenden und darauffolgenden Gemütszuständen als ein besonderes Ganzes abhebt, ist von Wilhelm Wundt begründet worden.«26 Unter den Terminus ›Gemütsbewegung‹ subsumiere Wundt »komplexe Gefühle, Stimmungen, Affekte und Willensvorgänge«27 – also das ganze Spektrum emotionaler Zustände des Menschen, die er nach dem Prinzip gesteigerter Komplexität differenziert. Unter ›Affekt‹ verstehe Wundt daher »nicht den Gemütszustand eines einzigen Seelenaugenblickes, sondern einen durch ein einheitliches Motiv charakterisierten zusammenhängenden Gefühlsverlauf«.28 Diese Temporalisierung der Affekt-Ausdrucksbeziehung gelangt in den Bewegungsanalysen Mareys und seinen chronografischen und -fotografischen Darstellungsmodi zur Positivität einer Wissensordnung. Die Eigendynamik des Gefühlsverlaufs liegt für Wundt darin begründet, daß seine physischen und psychischen Bestandteile zusammenwirken und zu einer Reihe sekundärer Effekte führen. Der Gefühlsver24 25 26 27 28
Vgl. E.G. Boring: History of Experimental Psychology, S. 330-333. W. Wundt: Grundzüge, Bd. 2, S. 603. K. Bernecker: Affektbegriff, S. 226. W. Wundt: Grundzüge, Bd. 1, S. 409. K. Bernecker: Affektbegriff, S. 227.
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lauf ist also einer Reihe von Veränderungen in seiner Intensität, Qualität und Richtung unterworfen.29 Wundt vertritt explizit die Auffassung, daß die körperlichen Begleiterscheinungen der Affekte und ihre körperlichen Symptome den Vorstellungsverlauf stören. Diese seien als »sekundäre Affekte« zu verstehen, die seinen Verlauf beeinflussen, seine Intensität steigern oder mindern und auf diese Weise die Gemütsbewegung selbst verändern. Seine Theorie der Affekt-Ausdrucksbeziehung verzeichnet auf beiden Seiten der Zuordnung eine Verzeitlichung und Dynamisierung: Gefühlsverlauf und Ausdrucksbewegung verhalten sich komplementär zueinander. Mit der experimentellen Untersuchung psychischer Prozesse nimmt Wundt die Zeitlichkeit und den Verlauf von Affekten in den Blick. Den experimentellen Nachweis seiner Affekttheorie sieht Wundt durch die Pulskurven Alfred Lehmanns erbracht, die er im ersten Band seiner Völkerpsychologie abdruckt.30 Lehmann, der sich an Wundts experimentalpsychologischem Institut schulte, hatte 1892 eine Abhandlung über Die Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens auf experimenteller Basis veröffentlicht. Darin bereicherte er die »Analyse der Gefühle«, die »zu den misslichsten und meistumstrittenen Aufgaben der Psychologie« gehöre, durch eine »Untersuchung der physischen Begleiterscheinungen der Gefühle«, indem er die Veränderungen der Herz-, Atmungs- und Pulstätigkeit maß und chronografisch aufzeichnete.31 Diese Aufzeichnungspraxis, die Marey insbesondere für die Analyse von Bewegungen eingeführt hat, wurde auch bei psychologischen Untersuchungen eingesetzt. Die Verzeitlichung der Affekt-Ausdrucksbeziehung findet also zunächst im chronografischen Modus eine quantitative Analyse und Visualisierung. Die flüchtigen mimischen Zeichen der Ausdrucksbewegung, die für Wundt Symptome, aber keine qualitativen Merkmale der Gefühle sind, werden hingegen nur im Gesicht lokalisiert.32 Zugleich bildet Wundts Einbindung von Lehmanns Forschungen ein Beispiel für die Verbindung von physiologischem Experiment und psychologischer Theoriebildung. Die Messung der Herz-, Atmungs- und Pulstätigkeit korreliert mit Wundts Annahme, Psychisches sei nur durch Physisches erkennbar und die Verbindung von Affektverlauf und Ausdrucksbewegung lasse sich nur durch die Beobachtung ihrer Verände29 30 31 32
Vgl. W. Wundt: Völkerpsychologie, Bd. 1/1, S. 39. Vgl. ebd., S. 42f. Ebd., S. 39f. Deshalb greift W. Wundt nur spärlich auf Illustrationen zurück. Er verwendet teils Piderits Modellskizzen, teils Abbildungen aus medizinischer Fachliteratur (vgl. ders.: Völkerpsychologie, Bd. 1/1, S. 110 Anm.) und bestimmt die »eigenthümliche lokale Beschränkung und Vertheilung« der Affektsymptome als ihre qualitativen Merkmale.
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rung in der Zeit untersuchen. In den von Lehmann und anderen entwikkelten Versuchsanordnungen stehen die meßbaren physiologischen und grafisch darstellbaren Symptome des Affektverlaufs als wissenschaftlich objektivierbare Daten im Vordergrund. Wundts Konzeptualisierung des Gefühlsverlaufs und der Ausdrucksbewegung bildet den wissenschaftlichen turn in den Humanwissenschaften ab, der sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts vollzog: Was sich vom Menschen wissen läßt, wird in seinen Körperbewegungen erkennbar. Wundts Physiologische Psychologie bietet den Vorteil, die unterschiedlichen physischen und psychischen Aspekte der Affekt-Ausdrucksbeziehung in ein Beschreibungsmodell integrieren zu können. Dieses Theoriemodell war nicht nur in der Psychologie jener Zeit erfolgreich, sondern wurde auch in andere Diskurse eingespeist. Konrad Fiedler, dessen kunsttheoretische Schriften auf zahlreiche Künstler und Theoretiker des 20. Jahrhunderts gewirkt haben, hat nicht nur Wundts Grundzüge ausgiebig studiert, sondern auch den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit in seiner gleichnamigen Schrift aus dem Jahr 1887 in die Ausdrucksbewegung verlegt und ganz im Sinne von Wundts ParallelismusThese argumentiert.33 Das Erklärungsprinzip des psychophysiologischen Parallelismus war jedoch bereits zu Wundts Lebzeiten umstritten.34 Inwieweit der Parallelismus psychischer und physischer Prozesse nur Postulat bleibt, dem Experiment wie Erfahrung widersprechen, wurde Gegenstand einer nachhaltigen Kontroverse.35 Wundt räumt selbst ein, daß die »Untersuchung der einzelnen mimischen Formen«, aus denen sich die Ausdrucksbewegungen zusammensetzen, nicht Gegenstand seiner Untersuchung sei, »bei der es sich bloß um die Nachweisung der allgemeinen psychophysischen Gesetze« gehandelt habe.36 Seine Psychologisierung der Ausdrucksbewegung hat also zunächst ausschließlich deren theoretische Fundierung zum Ziel.37 Darum greift Wundt auch die Ausdrucksgesetze Theodor Piderits auf und modifiziert sie lediglich geringfügig, wenn er sich mit Darwins evo33 Vgl. Konrad Fiedler: »Über den Ursprung der künstlerischen Tätigkeit« (1887), in: ders.: Schriften zur Kunst, hg. von Gottfried Boehm, Bd. 1, München: Fink 21991, S. 111-220; ders.: »Wirklichkeit und Kunst. Drei Bruchstücke«, in: ebd. Bd. 2, S. 107-193; vgl. zu den Diskurseffekten S. Rieger: Ästhetik des Menschen, S. 258-271. 34 Vgl. Carl Seeberger: »Wilhelm Wundt und seine Kritiker«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 27 (1913), S. 1-76. 35 Vgl. G. Ungeheuer: »Bühler und Wundt«, S. 14-21; K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 131. 36 W. Wundt: Grundzüge, Bd. 2, S. 606. 37 S. Rieger bezeichnet Wilhelm Wundt als »einen der Cheftheoretiker der Ausdrucksbewegung überhaupt« (ders.: Ästhetik des Menschen, S. 303).
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lutionstheoretischen Erklärungen habitualisierter Ausdrucksformen auseinandersetzt.38 Das »Wesen der Ausdrucksbewegungen« sieht auch er in deren »unmittelbaren Ursprung« aufscheinen.39 Dieser Ursprung werde insbesondere bei den unwillentlichen Ausdrucksbewegungen greifbar, wo der Affekt sich unmittelbar zeige: »Unter dem Princip der directen Innervationsänderung verstehen wir die Thatsache, dass bei starken Gemüthsbewegungen eine unmittelbare Wirkung auf die Centraltheile der motorischen Innervation stattfindet, wobei bei den heftigsten Affecten eine plötzliche Lähmung zahlreicher Muskelgruppen [...] entsteht [...]. Dieses Princip tritt um so reiner hervor, je stärker die Gemüthsbewegung ist.«40
Starke Affekte wirken unmittelbar auf den Körper und lähmen ihn. Bei ihnen sind daher »Unterschiede des Ausdrucks, an denen sich die Qualität des Affectes erkennen ließe, nicht mehr wahrzunehmen«; erst bei einer weniger heftigen »Gemüthsbewegung« wären »nun endlich deutlich die Beschaffenheit der Gefühle oder die Richtung der Sinnesvorstellungen, welche den Affect erzeugten, in Mienen und Geberden zu lesen«.41 Affekte sind für Wundt also nur bis zu einem bestimmten Intensitätsgrad psychologisch deutbar. Überschreiten sie diese Grenze, werden ihre körperlichen Anzeichen indifferent.42 Als Ausdrucksbewegungen können demnach nur gemäßigte Affekte verstanden werden. Mitchell G. Ash erkennt darin eine Pointe von Wundts Affektpsychologie, daß sie die bürgerliche Affektökonomie bestätigt: Bei Wundt habe sich gewissermaßen das bürgerliche Subjekt selbst untersucht.43 Zugleich gibt Wundt hier eine physiologische Erklärung einer ausdrucksästhetischen Prämisse: Heftige Affekte erzeugen eine Uniformität 38 Vgl. Th. Piderit: Mimik und Physiognomik, S. 14f. Wundt bezieht sich wiederholt auf Darwins Schrift Der Ausdruck der Gemüthsbewegungen, die 1872 erschienene Übersetzung seines Standardwerkes The Expression of the Emotions in Man and Animals. Trotzdem entwickelt er eine abweichende Theorie des Ursprungs von Ausdrucksbewegungen. 39 W. Wundt: Grundzüge, Bd. 2, S. 600. Vgl. zur Sprachursprungsdebatte zwischen Sprachhistorikern und (Völker-)Psychologen Clemens Knobloch: Geschichte der psychologischen Sprachauffassung in Deutschland von 1850 bis 1920, Tübingen: Niemeyer 1988, S. 93-181). 40 Ebd. 41 Ebd. 42 Die Abhängigkeit der psychologischen Lesbarkeit vom Intensitätsgrad des Affekts betont Wundt auch im ersten Band seiner Völkerpsychologie (S. 88f) und bestätigt damit das Weber-Fechnersche Gesetz, wonach für die Wahrnehmung unterscheidbarer Empfindungen ein hinreichend großer Reizunterschied vorhanden sein muß. 43 Vgl. Mitchell G. Ash: Gestalt Psychology in German Culture, 1890-1967. Holism and the Quest for Objectivity, Cambridge: Univ. Press 1995.
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der Mimik und lassen sich nicht nach psychologisch lesbaren Ausdrucksformen differenzieren. Soll eine Ausdrucksbewegung psychologisch lesbar sein, müssen ihre gestischen und mimischen Zeichen unterschieden werden können. Die Unterscheidbarkeit wiederum hängt ab von der Intensität des Affekts. Denn heftige Affekte erzeugen für Wundt nur Grimassen und sind folglich für eine psychologische Theorie der Ausdrucksbewegungen unergiebig. Sie sind mit einer Lähmung der Muskulatur verbunden und werden daher der Pathologie des Ausdrucks zugeschlagen. Besonderes Augenmerk richtet Wundt dennoch auf unwillkürliche Ausdrucksbewegungen wie Erblassen, Erröten und Weinen, die »am meisten der Herrschaft des Willens entzogen«, aber gleichwohl »zugleich specifisch menschliche« seien.44 Er führt sie jedoch nicht wie Darwin auf eine ursprüngliche Reflexbewegung zurück,45 sondern erklärt, daß Ausdrucksbewegungen auch durch Vorstellungen ausgelöst werden können, die »eine jenen Empfindungen analoge Wirkung auf das Bewusstsein« ausüben – Ausdrucksbewegungen können für Wundt also auch in Bewußtseinsprozessen ihren ›Ursprung‹ haben: »Der Thränenerguss ließe sich demnach als eine Wirkung leidvoller Gesichtsvorstellungen auffassen, welche dann allmählich zur Aeßerungsform des Schmerzes überhaupt geworden ist« und »erst unter der Wirkung der Vererbung« zum Reflex.46 Wundt kehrt damit Darwins evolutionstheoretische Herleitung des Tränenflusses aus einer ursprünglichen Reflexbewegung, die dem Schutz des Auges vor einer Verletzung diene, geradewegs um. In der Frage nach dem »unmittelbaren Ursprung« von Ausdrucksbewegungen geht es Wundt um den Nachweis, daß insbesondere körperliche Reflexe wie das Weinen als Vorstellungsakt erklärbar seien und sich menschheitsgeschichtlich gesehen immer mehr verfestigten und schließlich unwillentlich ausgeführt würden. Um diese überhaupt als Ausdrucksbewegungen anschreiben zu können, muß Wundt ihren Ursprung in der subjektiven Vorstellung annehmen. Denn Ausdrucksbewegungen sind für ihn immer intendiert, sie sind von Anfang an Mittel zur Verständigung, die erst im Prozeß der Zivilisation (wieder) zu unwillkürlichen Bewegungen werden.47 Es zeigt sich jedoch, daß Wundts psychologische 44 W. Wundt: Grundzüge, Bd. 2, S. 600; 601. 45 Darwin setzte sich ausführlich mit Bells Respirationstheorie auseinander, um den Tränenfluß als assoziierte Gewohnheit einer ursprünglichen Reflexbewegung zu erklären: »Die Absonderung von Tränen infolge der Reizung irgendeines fremden Körpers im Auge ist eine Reflextätigkeit [...]« (Ch. Darwin: Der Ausdruck der Gemütsbewegungen, S. 186). 46 W. Wundt: Grundzüge, Bd. 2, S. 601. 47 Vgl. zur diskursbegründenden »Unterscheidung zwischen willkürlichen und unwillkürlichen (nicht-intendierten) Akten des Ausdrückens« H.U. Gumbrecht: »Ausdruck«, S. 417, Sp. 2.
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Interpretation bereits von kodifizierten und kulturell interpretierten Ausdrucksbewegungen ausgeht – dem Weinen als internalisierte Äußerungsform des Schmerzes – und erst ex post ihren psychischen Ursprung konstruiert. Wundt unterstellt Ausdrucksbewegungen also eine psychologische Bedeutung, die sie als unwillkürliche gar nicht beanspruchen können. Diesem Sachverhalt trägt Wundt unabsichtlich Rechnung, wenn er bekennt: »Ihrem Ursprunge nach besitzen ja die Ausdrucksbewegungen keine specifische Bedeutung, da sie [...] theils den Trieb-, theils den Willkür-, theils endlich den Reflexbewegungen unterzuordnen sind.«48 In der Frage nach dem Anteil des Unbewußten an jeder Ausdrucksbewegung bleibt das Problem der Selbstkontrolle virulent, das das bürgerliche Subjekt im 19. Jahrhundert beschäftigt. Einmal mehr wird es auch von Wundt an der Figur des Schauspielers vorgeführt: »So können z. B. gewisse Ausdrucksbewegungen eines Schauspielers willkürlich und sogar aufgrund vorangegangener Überlegungen erfolgen: sie sind aber mit anderen Bewegungen von der gleichen Bedeutung so fest associirt, dass die Wahl der Ausdrucksform im allgemeinen bloß den Anfang und die allgemeine Richtung der Erscheinungen zu bestimmen pflegt.«49 Kalkuliertes Spiel verbindet sich mit Trieb- und Reflexbewegungen und geht in sie über – das ist die psychologische Antwort Wundts auf Diderots Paradox über den Schauspieler. In seiner Ausdruckstheorie wird die Unterscheidung zwischen Ausdruck und Darstellung schlicht negiert, weil auch das Schauspielen nach den Regeln psychologischer Kausalität ablaufen soll. In einem 1877 veröffentlichten Aufsatz geht Wundt noch einmal auf den Zusammenhang von Schauspieltechnik und psychologischer Theoriebildung ein. Er greift dabei Argumente aus Diderots und Lessings Schauspieltheorien auf und formt sie um. Ausgehend vom Prinzip des psychophysischen Parallelismus entwickelt er dort eine psychologische Erklärung der Affekt-Ausdrucksbeziehung aus der Perspektive des Schauspielers: »Ebenso wie [...] die mimische Bewegung als ein äußerer, sinnlicher Reflex eines inneren Seelenzustandes uns entgegentritt, ebenso besitzt sie auf der anderen Seite die Eigenschaft, wieder auf diesen zurückzuwirken, indem sie ihn unterhält und verstärkt.«50 Mimische Bewegung und innerer Zustand werden auch hier als sich beeinflussende prozessuale Größen gedacht, die sich gemäß der Theorie der »secundären Affekte« gegenseitig steigern.
48 W. Wundt: Grundzüge, Bd. 2, S. 609. 49 Ebd. 50 Wilhelm Wundt: »Ueber den Ausdruck der Gemüthsbewegungen«, in: Deutsche Rundschau, 3. Jg., H. 7 (April 1877), S. 120-133, hier S. 127.
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Die instantane Rückwirkung des Ausdrucks auf den Affekt ist für Wundt eine allgemeine psychologische Tatsache, die etwa der Schauspieler nur besonders trainiere, so daß »[w]as anfänglich Kunst war«, sich zum natürlichen Ausdruck wandele, »und dies um so schneller, je heftiger der Ausdruck der Geberden ist.«51 Mit der Übergängigkeit von willkürlichem und unwillkürlichem Affektausdruck fällt die Schranke zwischen ›künstlichem‹ und ›natürlichem‹ Affektausdruck als Leitdifferenz von Körperzeichentheorien. Mit ihrer Dynamisierung zur Ausdrucksbewegung werden solche semiotischen Passagen möglich. Das Wissen vom Menschen und seinen Affekten wird damit selbst in Bewegung gebracht und gewinnt dadurch an Komplexität: Das Umschlagen des artifiziellen Affektausdrucks in einen ›natürlichen‹ wertet Wundt dementsprechend als Steigerung seiner Objektivität. Er betreibt eine Renaturalisierung des willentlichen Affektausdrucks, um ihn in seine psychologische Theorie der Ausdrucksbewegung einzubinden. Die Steigerungsmöglichkeiten des Affektausdrucks werden mit einer Vorstellung gesteigerter Individualität verbunden, die im Schauspieler ihren Verbündeten findet. Wundts Ausdruckstheorie folgt dabei einer Vorstellung von Individualität, die sich an singulären psychischen Zuständen orientiert.
5 . 2 » Re p r o d u c ir t e B il d e r « In Wundts Grundzügen werden Ausdrucksbewegungen gleichermaßen als Mitteilungsform und als psychophysische Prozesse konzipiert. Als solche sind sie vor allem durch Gewöhnung und Vererbung internalisierbar und bilden aufgrund des »Princips der Assoziation analoger Empfindungen« mit der Zeit konventionelle Formen aus.52 Daß Affektmimiken auch ohne affektive Veranlassung entstehen können, zeigt Wundt noch einmal anhand der sogenannten Verkostungsmienen auf. Der »Ausdruck des Sauren, Bittern und Süßen« stelle sich auch ein, wenn Empfindungen wie etwa Ekel zum Ausdruck gebracht werden, denn deren »Bewegungen haben sich nun so fest mit den betreffenden Geschmacksempfindungen associirt, dass ein reproducirtes Bild der letzteren, ohne die thatsächliche Einwirkung eines Geschmacksreizes, durch die Bewegung selbst schon entsteht.«53 Unangenehme Vorstellungen können sich demnach in den gleichen mimischen Bewegungen äußern wie Geschmacksreize, weil diese Bewegungen als Vorstellungsbild gespeichert wurden und reproduzierbar sind. 51 Ebd., S. 128. 52 Vgl. W. Wundt: Grundzüge, Bd. 2, S. 603. 53 Ebd., S. 604 (meine Hervorhebung, P.L.).
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AFFEKTBILDER
Für Wundt sind Affektbilder übertragbar und reproduzierbar: Äußere Reize und innere Vorstellungen, physische und psychische Anlässe sind damit austauschbar geworden. Wundt geht dabei nur scheinbar den umgekehrten Weg wie Duchenne de Boulogne: Auch er supplementiert den Affekt durch sein Bild, insofern er eine Übertragbarkeit des reproduzierten Affektbildes annimmt.54 Diese Verselbständigung der Affektbilder, die ohne den ›ursprünglichen‹ Affekt als ihren Auslöser auskommen und als Signifikanten analoger Empfindungen und Vorstellungen gebraucht werden können, ist selbst Effekt einer Zeichenökonomie, die auf der assoziativen Reproduzierbarkeit von (Vorstellungs-)Bildern beruht.55 Dieser Zeichenökonomie trägt Wundt insgeheim Rechnung, indem er die Übertragbarkeit von reproduzierbaren Affektbildern als psychologische Erklärung für den mimischen Ausdruck von Vorstellungsinhalten in Anschlag bringt. Wenn Wundt von »reproducirten Bildern« eines Affekts redet, meint er eine Fixierung der Assoziation auf ein bestimmtes Affektbild, das gleichwohl als Bild gegenwärtig sein muß.56 So hatte Wundt ja den Tränenfluß aus dem Vorstellungsbild des Schmerzes hergeleitet, also eine symbolische Beziehung angenommen. Auch Wundts Interpretation der Experimente Duchennes folgt dieser assoziationspsychologischen Logik: Dieser »variirte und combinirte die Angriffspunkte der Reize so lange, bis es ihm geglückt war, diejenige Ausdrucksform zu erzeugen, die einer bestimmten seelischen Stimmung, wie der Freude, dem Missbehagen, dem Kummer, der Sorge u.s.w., entsprach.«57 Wundt unterstellt damit, daß Duchenne eine bestimmte Vorstellung von einem Affektbild gehabt habe, bevor er es durch sein Experimentalsystem visualisierte. Seine fotografischen Affektbilder hätten mithin weniger eine physiologische Wahrheit als eine kulturelle Latenz zum Vorschein gebracht, die mimische Ausdrucksbewegungen als intersubjektive Mitteilungsform 54 Wundt kommt im Kapitel über die Ausdrucksbewegungen seiner Völkerpsychologie auf Duchennes Werk Mécanisme de la physiognomie humaine zu sprechen und gewinnt die Erkenntnis, »dass mannigfacher noch als das Spiel der äußeren Erscheinungen die innere Mechanik der Innervation selbst« sei (W. Wundt: Völkerpsychologie, Bd. 1/1, S. 64f.). 55 Deshalb besitzen die nachahmenden und malenden Gebärden bei Wundt einen hohen Stellenwert (vgl. C. Knobloch: Geschichte der psychologischen Sprachauffassung, S. 148). 56 Als Assoziation wird seit David Humes A Treatise of Human Nature von 1739/40 eine auf Ähnlichkeit, zeitlicher oder räumlicher Kontiguität und Kausalität beruhende reproduktive Tätigkeit definiert. Noch für Hegel unterliegen Assoziationen der Willkür und der »passiven Ordnung der Vorstellungen«. Sie produzieren für ihn nur Bilder, keine Ideen. In der Psychologie des 19. Jhs. gilt hingegen die Assoziation als eines der »fruchtbarsten Konzepte zur Beschreibung und Erklärung von Erfahrungszusammenhängen« (Karl Heinz Stäcker: »Assoziation«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 1, Sp. 547-554). 57 W. Wundt: Völkerpsychologie, Bd. 1/1, S. 63.
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generell auszeichne. Wundt wendet Duchennes Erkenntnisfigur des fruchtbaren Moments auf die assoziative Übertragung und Reproduktion von Affektbildern an, als dessen Speicherort der menschliche Organismus in seiner Einheit aus Bewußtsein und Körperempfinden fungiert. An der Untersuchung von Gedächtnisprozessen suchte die experimentelle Psychologie diesen Zusammenhang zu beweisen. Bereits 1870 hielt der Physiologe Ewald Hering einen Vortrag Über das Gedächtnis als eine Funktion der organisierten Materie, der zum Gründungstext der psychologischen Gedächtnisforschung avancierte. Hering unterschied zwei Formen des Gedächtnisses: ein absichtliches Reproduktionsvermögen von einem unbewußten Gedächtnis als »Grundvermögen der organisierten Materie«.58 Aufgrund dieses Vermögens sei es möglich, »daß das vielen Dingen Gemeinsame und deshalb besonders oft Empfundene und Wahrgenommene nach und nach so reproduktionsfähig wird, daß es endlich ohne den entsprechenden, von außen kommenden wirklichen Reiz schon auf schwache innere Reize hin reproduziert wird«.59 Auch Wundts Konzeption des reproduzierbaren Affektbildes partizipiert an dieser Psycho-Logik der unwillkürlichen Reproduktion als besonderer Fähigkeit von Organismen. Experimentell operationalisiert hat Herings Verbindung von Reproduktion und Gedächtnis einige Jahre später der Psychologe Hermann Ebbinghaus. In seiner 1885 erschienenen Abhandlung Ueber das Gedächtnis, die ihm mit einem Schlag zu Ansehen unter seinen Fachkollegen verhalf, ermittelte er experimentell, daß die Frequenz der Reproduktion von Sinneseindrücken der entscheidende Faktor bei der Messung von Gedächtnistätigkeit sei.60 Auch Alfred Lehmann beschreibt 1892 in seiner Schrift Die Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens Formen der »affektiven Reproduktion« von Gefühlen und unterscheidet zwischen wiedererlebten und vorgestellten Emotionen. Er sieht in der »Reproduktion gefühlsbetonter Vorstellungen [...] tatsächlich die conditio sine qua non für die Entstehung einer Gemütsbewegung«, die Voraussetzung für emotionale Erfahrungen überhaupt an. Um »Erinnerungsbilder« von Empfindungen zu reproduzieren, bedarf es nach Lehmann allerdings der willentlichen »Konzentration der Aufmerksamkeit«, während sich das reproduzierte Affektbild bei Wundt unbewußt per Assoziation einstellt.61 In Herings psychophysiologischer Gedächtnistheorie finden sich bereits Wundts Argumentation der »reproducirten Bilder« sowie seine am 58 Ewald Hering: Über das Gedächtnis als eine Funktion der organisierten Materie, Leipzig: Akademische Verlagsgesellschaft 31921, S. 6; 7. 59 Ebd., S. 8. 60 Vgl. E. G. Boring: History of Experimental Psychology, S. 380f. 61 Alfred Lehmann: Die Hauptgesetze des menschlichen Gefühlslebens, Leipzig: O.R. Reisland 21914, S. 221; 226; 220.
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Beispiel gewohnheitsmäßige Tätigkeiten ausgeführten Überlegungen zu den selbsttätigen Assoziationsketten, die, einmal gebildet, unbewußt aufgerufen werden können. Wundt bindet hingegen die Reproduktion von Körperbewegungen explizit an Affektbilder, die den Funktionszusammenhang der mimischen Aktionen erst herstellen. Henri Bergsons 1896 in Matière et mémoire formulierte Phänomenologie des Gedächtnisses wird die gewohnheitsmäßige Reproduktion wieder gegen die selbsttätige Erinnerung ausspielen – zugunsten eines inneren Wahrnehmungsdispositivs von Bewegung, das gegen die naturwissenschaftliche Zergliederung und visuelle Exposition von Bewegungen gerichtet ist.62 Die zentrale Stellung der »reproducirten Bilder« in Wundts Theorie der Ausdrucksbewegung wird auch dadurch deutlich, daß er in seiner Völkerpsychologie auf die Rolle der assoziativen »Reproductionen« und dort auch wieder auf die Verkostungsgesten im Zusammenhang einer »Theorie der mimischen Ausdrucksbewegungen« zurückkommt: Die mimische Bewegung selbst wird nämlich von einer Tast- und Muskelempfindung begleitet, die auf das engste mit den entsprechenden Sinneseindrükken associiert ist. Die so erweckten psychischen Inhalte [...] gehören eben zu jenen nicht selten vorkommenden und bei den verschiedensten Associationsvorgängen eine Rolle spielenden Reproductionen, bei denen die Gefühlselemente unverhältnismäßig stark vor den im Dunkel des Bewusstseins bleibenden Empfindungselementen hervortreten. Das ist im vorliegenden Fall um so eher möglich, als hier die ursprünglichen Empfindungselemente hauptsächlich durch die an die mimischen Bewegungen gebundenen Tastempfindungen ersetzt werden, mit denen nun die entsprechenden sinnlichen Gefühle fest associiert sind. Darum ist bei dem Geschmacksausdruck des Süßen, Bittern, Sauern wirklich etwas vom gleichen Geschmackseindruck in unserem Bewußtsein.63
Das Affektbild ist durch die Psychologisierung der Ausdrucksbewegung gleichsam in das unsichtbare und unbewußte Körpergedächtnis eingedrungen, das die mimischen Bewegungen als Tastempfindung bewahrt und den fruchtbaren Moment, dem dieses Affektbild seine Inskription überhaupt erst verdankt, auf diese Weise konserviert. Grundlage dieser Gedächtnisordnung ist ein Affekt, dem die Einschreibung im Körpergedächtnis zwar zu verdanken ist, auf den durch die Reproduzierbarkeit seines Bildes per Analogie aber verzichtet werden kann. Sie bewahrt die 62 Vgl. Henri Bergson: Materie und Gedächtnis. Eine Abhandlung über die Beziehung zwischen Körper und Geist, Frankfurt a.M./Berlin/Wien: Ullstein 1982, S. 72: »Die selbsttätige Erinnerung ist sofort vollständig; die Zeit kann ihrem Bilde nichts hinzufügen, ohne es zu verfälschen.« 63 W. Wundt: Völkerpsychologie, Bd. 1/1, S. 114.
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Spur dieser Inskription des Affektiven jedoch als theoretischen Ursprung der Ausdrucksbewegung. Bereits in seinem Aufsatz Ueber den Ausdruck der Gemüthsbewegungen hatte Wundt 1877 dieses Konzept eines Körpergedächtnisses der Ausdrucksbewegungen entwickelt. Auf der Grundlage des Gesetzes der Verbindung analoger Gefühle treten nun naturgemäß zu den Seelenzuständen [...] nicht bloß schwache Abbilder sinnlicher Empfindungen hinzu, sondern mit ihnen zugleich die Bewegungen und Bewegungsempfindungen, die der natürlichen Reaction unserer Sinnesorgane auf die sinnlichen Eindrücke entsprechen. So wird die mimische Bewegung, die ursprünglich nur das Verhalten des empfindenden Organes zu dem Sinnesreiz andeutet, zur allgemeinen Ausdrucksform unserer Gefühle und Gemüthsbewegungen.64
Im Zentrum von Wundts Beschreibung des Analogieprinzips steht die Figur des »reproducirten Bildes«, das vom konkreten Affektbild zum emotional aufgeladenen Vorstellungsbild transkribiert wird. In Duchennes Ausdrucksmechanik war das Affektbild zum Simulacrum geworden: Auf das Auslösen des Affekts konnte ein Experimentalsystem verzichten, dem es zuvorderst auf das Bild des Affekts ankam. Bei Wundt steht dieses Affektbild als Signifikant auch solchen Empfindungen und Vorstellungen zur Verfügung, die qua Assoziation aus dem ursprünglich bezeichneten Affekt ableitbar sind. Er weitet damit den Begriff des Unbewußten auf die assoziative Fortpflanzung von Affektbildern aus. Als nur vorgestellte überschreiten sie die Grenze des Sichtbaren und entfalten ihre Wirksamkeit im Körpergedächtnis.
5 . 3 A u s d r u c k s b eweg ung und Un iv er s a ls p r a c h e Bereits in seinen Grundzügen der Physiologischen Psychologie hatte Wundt das theoretische Fundament für seine spätere Völkerpsychologie gelegt, indem er die Ausdrucksbewegung als intersubjektive Mitteilungsform und mithin als soziale und kommunikative Praxis definierte.65 Zu Ausdrucksbewegungen werden die körperlichen Anzeichen für Wundt dort nur, insofern sie von anderen verstanden werden. Weil jede Aus64 W. Wundt: »Ausdruck der Gemüthsbewegungen«, S. 127. 65 Vgl. W. Wundt: Grundzüge, Bd. 2, S. 598f. In diesem Punkt ist Clemens Knobloch zu widersprechen, der dem völkerpsychologischen Ansatz und auch Wundt unterstellt, sie schlössen Mitteilungsabsicht und Verständlichkeit aus ihrer Behandlung der Sprachursprungsproblematik aus (vgl. ders.: Geschichte der sprachpsychologischen Auffassung, S. 96).
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drucksbewegung damit zumindest potentiell die Gesamtheit aller »Wesen ähnlicher Art« anspricht, »bildet sie den Uebergang von der individuellen Psychologie zur Psychologie der Gemeinschaft«.66 Auch mehr als zwanzig Jahre später bestimmt er in seiner Völkerpsychologie die Ausdrucksbewegung als körperlich sichtbares Korrelat der Gemütsbewegung: »Die psychophysischen Lebensäußerungen [...] bezeichnen wir ihrem allgemeinen Begriffe nach als Ausdrucksbewegungen. Jede Sprache besteht in Lautäußerungen oder in deren sinnlich wahrnehmbaren Zeichen, die, durch Muskelbewegungen hervorgebracht, innere Zustände, Vorstellungen, Gefühle, Affecte, nach außen kundgeben.«67 Wundt definiert ›Ausdrucksbewegung‹ nun explizit als Sprache, die aus »sinnlich wahrnehmbaren Zeichen« besteht und »durch Muskelbewegungen« innere Zustände kommunizierbar macht. Als Sprache stellen Ausdrucksbewegungen nicht nur den Kontakt zu Mitmenschen her, sondern machen auch Unsichtbares transparent, indem sie ihre Darstellungsfunktion zugleich verleugnen.68 Indem Wundt Ausdrucksbewegungen als Symptome körperlicher Bewegungen liest, verkörpern sie zugleich die Veränderungen, die sie begleiten. Mit der Ableitung einer Sprachtheorie aus der psychologischen Theorie der Ausdrucksbewegung nimmt Wilhelm Wundt nicht nur die Idee einer universalen Körpersprache, die im gesamten 18. Jahrhundert breit diskutiert wurde, wieder auf, er schließt auch an die Sprachursprungsdebatten dieser Epoche an. Allerdings entwickelt er seine Argumentation auf der Basis der in den Grundzügen gewonnenen psychologischen Gesetzmäßigkeiten und versucht auf diese Weise, metaphysische Spekulation durch empirisch nachprüfbare Wissenschaft zu ersetzen. Bei Wundt heißt diese Völkerpsychologie. Ihr fällt die Aufgabe zu, die experimentell gewonnenen Erkenntnisse der Physiologischen Psychologie zu verallgemeinern. Deshalb überführt Wundt die Psychologie der Ausdrucksbewegung in eine Sprachursprungstheorie. Dabei bemüht er zwei vertraute Argumente: Die anfängliche Triebbewegung geht in eine willkürliche Bewegung über, die zu dem Zweck hervorgebracht wird, Vorstellungen und Gefühle mitzutheilen an Andere. Wie schon bei dem Ursprung der Geberde der Nachahmungstrieb zur Nachbildung äußerer, das Gefühl erregender Vorgänge anregt, so bewirkt derselbe weiterhin eine Nachbildung von Seiten der Mitmenschen, an den die 66 Ebd. 67 W. Wundt: Völkerpsychologie, Bd. 1/1, S. 31. 68 Auf dieser Unterscheidung wird die Linguistik des 20. Jahrhunderts beharren. Karl Bühlers Organonmodell benennt mit Ausdruck, Appell und Darstellung die verschiedenen Funktionen der Sprache (ders.: Sprachtheorie. Die Darstellungsfunktion der Sprache, Jena: Gustav Fischer 1934, S. 150).
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Geberde sich wendet, ein Vorgang, der zur Befestigung und Ausbreitung bestimmter pantomimischer Bewegungen wesentlich beiträgt. Je öfter aber eine gleiche Geberde gebraucht wurde, um so mehr geht sie in ein conventionelles Zeichen für die Vorstellung über, welches nun auch ohne einen besonderen Antrieb des Affectes benutzt werden kann.69
Die häufige mimetische Wiederholung einer Gebärde begründet für Wundt ihren Ursprung als Sprache und bildet zugleich den Modus ihrer Konventionalisierung.70 Durch Nachahmung entstehe eine Semantik der Gebärde heraus, die sich unabhängig vom Affekt macht. Mit dieser kommunikationstheoretischen Wendung legt Wundt sein Augenmerk auf den Prozeß der Kodifizierung und Symbolisierung vom individuellen Affekt- zum kollektiv verständlichen Ausdruckszeichen. Besonders deutlich wird dies an den »symbolischen« Gebärden: Dagegen sind die einfache Bejahung und Verneinung sowie die verschiedenen Geberden, die Zuneigung, Freundschaft, Hochachtung und ähnliche Gefühle ausdrücken, zum Theil jedenfalls aus natürlichen Ausdrucksbewegungen hervorgegangen, die ursprünglich nur dem subjectiven psychischen Zustand Befriedigung schafften und erst secundär die Kundgebung der Affecte selbst und endlich auch die Mittheilung der Vorstellungen solcher Affecte bezweckten.71
Durch Wiederholung verfestigen sich also einerseits die gebärdensprachlichen Zeichen,72 andererseits unterliegen sie einem Wandel ihrer kulturellen Bedeutung: »Wie die erste Entstehung solcher symbolischen Geberden aus Ausdrucksbewegungen, so sind aber auch die Metamorphosen ihrer Bedeutung Processe, die aus dem stetigen Wandel der psychischen Zustände von selbst hervorgehen [...].«73 Sein naturwissenschaftlicher Ansatz zwingt Wundt, auch die Geschichte der Gebärdensprache in die Dynamik psychischer Prozesse einzubinden. Die Verschiebung des Affektausdrucks zur Gebärde macht nicht nur den Affekt als »Auslöser« entbehrlich, seine Läuterung und Kultivierung 69 W. Wundt: Grundzüge, Bd. 2, S. 610 f. 70 Die Gebärdensprache gelangt bereits im 18. Jh. in der Debatte um den Ursprung der Sprache, insbesondere in den Schriften von Condillac, Rousseau und Herder, zu Prominenz. Indem Wundt die Ausdrucksbewegung an den Anfang jener Entwicklung setzt, die zur Herausbildung der Lautsprache geführt hat, propagiert er eine psychologische Erklärung des Sprachursprungs; vgl. U. Bergermann: Ein Bild von einer Sprache, S. 78-85. 71 W. Wundt: Völkerpsychologie, Bd. 1/1, S. 178. 72 Vgl. ebd., S. 171: »Nun besteht bei jeder Geberde die Beziehung zwischen ihr und der Vorstellung, die sie bedeutet, in einer Association, die sich außerdem nicht selten durch häufigen Gebrauch befestigt.« 73 Ebd. S. 178.
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zum allgemeinverständlichen Ausdruck von Gedanken bildet zugleich die Voraussetzung der Universalität gebärdensprachlicher Zeichen. Bereits in den Grundzügen hatte Wundt eine verbindliche »menschliche Natur« als Grundlage ihrer Universalität angenommen, die »aller Orten die nämliche« sei und daher »bei den Taubstummen verschiedener Länder, zwischen wilden Stämmen, die ohne gemeinsame Lautsprache verkehren«, noch immer anzutreffen sei.74 Ihre Universalität verdanke die Gebärdensprache ihrem Ursprung im »natürlichen« Drang des Menschen, sich mitzuteilen.75 Zugleich gewährleiste der Ursprung dieser bewußt eingesetzten Ausdrucksbewegungen in der »natürlichen Geberdensprache«, daß ihre konventionalisierte, mitteilende Form keine »an sich bedeutungslose Zeichen« hervorbringe.76 Die Veränderungen, denen die Ausdrucksbewegungen kulturgeschichtlich unterliegen, beobachtet Wundt auch bei der Ontogenese des Menschen: Alle Aeußerungen der Gemüthsbewegungen geschehen selbst beim Menschen im Anfang des Lebens unwillkürlich; sie sind theils Triebhandlungen theils reflectorische Bewegungen. Allmählich erst werden einzelne Ausdrucksbewegungen durch den Willen gehemmt, andere hervorgebracht, die nicht durch einen zwingenden Trieb verursacht sind, und es entstehen auf diese Weise willkürliche Ausdrucksformen. Indem der Culturmensch den Ausdruck seiner Affecte nach den Andern richtet, von denen er sich beobachtet weiß, sucht er Geberden und Mienen dieser Rücksicht anzupassen. Er sucht gewisse Affecte zu verbergen und andere auszudrücken.77
Zwischen Onto- und Phylogenese herrscht für Wundt strikte Analogie: Das individualpsychologische Modell des Übergangs von unwillkürlichen zu willkürlichen Ausdrucksbewegungen überträgt Wundt auch auf die Völkerpsychologie. Die zivilisatorische Entwicklung der Ausdrucksbewegung verläuft für ihn parallel zum Prozeß der Sozialisation und geht mit einer zunehmenden Bewußtheit und Kontrolle der körpersprachlichen Äußerungen einher. Ausdrucksbewegungen werden so zu Körpertechniken.78 74 W. Wundt: Grundzüge, Bd. 2, S. 611. 75 W. Wundt nimmt deshalb auch bei stark kodifizierten Gebärdensprachen wie dem Fingeralphabet der Taubstummen eine »natürliche« Entstehung nach dem Muster des kindlichen Sprach- und Schrifterwerbs an. So könne «gewissermaßen auf natürlichem Wege eine völlig künstliche, erst auf der Grundlage der Schrift mögliche Geberdensprache entstehen« (ders.: Völkerpsychologie, Bd. 1, S. 133f). 76 W. Wundt: Grundzüge, Bd. 2, S. 611. 77 Ebd., S. 599. 78 Der Begriff der techniques du corps wurde von Marcel Mauss, in einem 1934 gehaltenen Vortrag geprägt. Er versteht darunter »die Weisen, in
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Wundts Ausdruckstheorie produziert eine Reihe von Widersprüchen, die durch den Versuch entstehen, die unterschiedlichen Methoden von Physiologischer Psychologie und Völkerpsychologie zu homogenisieren. Hatte Wundt in den Grundzügen am Beispiel der »reproduzirten Bilder« im Zusammenhang mit den Verkostungsgesten den »unmittelbaren Ursprung« dieser Gesten in einer Vorstellung zeigen wollen, beharrt er in der Völkerpsychologie auf einem »unwillkürlichen« Ursprung aller Ausdrucksbewegungen. Assoziationspsychologie und Genealogie der Sprache lassen sich in dieser Hinsicht nicht vermitteln. Der Ursprung der Ausdrucksbewegung bleibt prekär. In der Debatte um den ›stummen‹ Film werden beide Aspekte der Ausdrucksbewegung, ihre psychische Qualität als Prozeß wie ihre Universalsprachlichkeit, wiederkehren. In der Völkerpsychologie sind Ausdrucksbewegungen nicht nur natürliche, sondern auch universal verständliche Affektäußerungen, die in der unmittelbaren Anschaulichkeit gebärdensprachlicher Zeichen fortleben. Unmittelbar anschaulich sei die Gebärde, weil sie körperlich an den ›Sprecher‹ gebunden und die Entfernung zum Angesprochenen auf ein gemeinsames Sehfeld begrenzt sei. In dieser unmittelbaren Anschaulichkeit sieht Wundt die idealtypische Zeichenrelation zwischen der bezeichnenden Gebärde und ihrem bezeichneten emotionalen bzw. gedanklichen Inhalt begründet – eine Relation, die zugleich den sprachlichen Urzustand universaler Verständlichkeit bewahre. Deshalb spielt die Gebärdensprache für Wundt in der Spekulation über den Ursprung der Sprache eine so zentrale Rolle: »Man könnte sagen: der Begriff einer Ursprache, im Gebiet der Lautsprache ein hypothetischer Grenzbegriff, wird bei der Gebärdensprache zur unmittelbar beobachteten Wirklichkeit.«79 Was man nach Wundts psychologisch begründeter Ansicht über den Ursprung der Sprache wissen kann, ist das, was Gebärden noch immer zu sehen geben. Sobald Ausdrucksbewegungen jedoch bewußt als Mitteilungsform eingesetzt werden, beginnt ihre Konventionalisierung. Es bilden sich gebärdensprachliche Systeme: Aus natürlichen Ausdrucksbewegungen entsteht eine kodifizierte Mimik und Gestik. Die paradoxe Stellung der Geste zwischen Natur und Kultur, von der Derrida im Zusammenhang mit Rousseaus Essai sur l’origine des langues spricht, erkennt auch Wundt den verschiedenen Gebärdensprachen zu: »Alle diese Systeme sind [...] natürlich und künstlich zugleich.«80 Wie jener erklärt er diese Zwischender sich die Menschen in der einen wie der anderen Gesellschaft traditionsgemäß ihres Körpers bedienen« (vgl. ders.: »Der Begriff der Technik des Körpers«, S. 199). Diese anthropologisch-vergleichende Sichtweise ist in der Völkerpsychologie Wundts angelegt. 79 W. Wundt: Völkerpsychologie, Bd. 1/1, S. 150. 80 Ebd., S. 148.
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stellung durch eine Verzeitlichung und einen Medienwechsel.81 Einerseits definiert er den Übergang von der natürlichen Universalität gebärdensprachlicher Zeichen zu ihrem konventionalisierten Gebrauch als Prozeß der Kulturalisierung, andererseits koppelt er die Universalsprachlichkeit der Gebärde, die auch die Konventionalisierung nicht gänzlich tilgen kann, an ihre unmittelbare Sichtbarkeit: »Dieser universelle Charakter ist aber sichtlich durch die unmittelbar in der Anschauung gegebene Beziehung bedingt, in der die Geberde und ihre Bedeutung zu einander stehen.«82 Wundt entwickelt in seiner Völkerpsychologie eine psychologische Ausdruckstheorie der Sprache und verläßt damit den Boden der experimentellen Physiologischen Psychologie. Diese Sprachtheorie bindet den Ursprung der Sprache an den Körperausdruck, der in einer psychologisch gedachten Genealogie zunächst ein natürliches, unwillkürlich hervorgebrachtes Anzeichen des Affekts darstellt, bevor er unwillentlich reproduziert und schließlich durch willentliche Wiederholung konventionalisiert wird. Aus einem solchen konventionalisierten Affektausdruck kann wieder eine unwillentlich hervorgebrachte Reflexbewegung entstehen. Am Beispiel des Schauspielers hat Wundt dieses Umschlagen von kalkuliertem Spiel in automatisierte psychisch-physische Abläufe beschrieben. Wundts psychologische Theorie der Ausdrucksbewegung etabliert nicht nur ein Modell, das die Dynamik physischer und psychischer Abläufe interpretiert, sondern auch die zeichentheoretischen Unterscheidungen (natürlich-künstlich, unwillkürlich-willkürlich) prozessualisiert und sie in ein System wechselseitigen Umschlagens überführt.
5 . 4 Un iv er s a l i t ä t und S ic h t b a r k eit Die unmittelbare Sichtbarkeit der Zeichen am Menschen soll die Gebärdensprache der Schrift ähnlich machen, deren Zeichen zwar nur mittelbar gegeben, aber ebenfalls – im Unterschied zur gesprochenen Sprache – sichtbar seien. Erst durch diesen Medienwechsel zur »Bilder- oder Zeichenschrift« gelinge die Aufzeichnung der »rasch vorübergehenden Zeichen« von Gebärdensprachen.83 Deren Kodifizierung hängt also wie bei der Schrift an einem Aufzeichnungssystem. Erst durch die nachträgliche 81 Vgl. J. Derrida: Grammatologie, S. 395-416. 82 W. Wundt: Völkerpsychologie, Bd. 1/1, S. 132. 83 Ebd., S. 131: Wie die gesprochene Sprache benutze die Gebärdensprache »rasch vorübergehende« Zeichen, die aber aufgrund ihrer Sichtbarkeit zugleich der »Bilder- oder Zeichenschrift« verwandt seien, obwohl sie »ihre Symbole mittelst der flüchtigen Geberde in die Luft zeichnet, statt auf ein solides, sie dauernd festhaltendes Material«.
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Fixierung der gebärdensprachlichen Zeichen gewinnt die Annahme der Universalität und des natürlichen Ursprungs der Gebärdensprache an Operationalität: Denn nur so wird die Bedeutung der sichtbaren, aber flüchtigen Gebärden untereinander vergleichbar.84 Die behauptete Universalität dieser Zeichen hängt von ihrer optischen Darstellbarkeit auf derselben Ebene ab, die ihre Unmittelbarkeit garantieren soll: der Sichtbarkeit. Indem Wundt die Universalsprachlichkeit der Gebärde mit ihrer unmittelbaren Anschaulichkeit und Verständlichkeit gleichsetzt, deren Unmittelbarkeit er aber nur nachträglich rekonstruieren kann, muß er implizit eine Theorie des flüchtigen Zeichens und seiner optischen Darstellung entwickeln. Das zeigt sich in seiner Diskussion unterschiedlicher Gebärdensprachsysteme, die beim Unterricht von Taubstummensprache verwendet werden. An diesen Sprachsystemen entwickelt Wundt Geschichte und Bild einer Gebärdensprache, die sich »in fortwährendem Flusse« befinde.85 Er gibt der Taubstummensprache, die Samuel Heinicke in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts begründet hat, den Vorzug vor dem Fingeralphabet, das die Buchstaben des Alphabets in einen Kode von Fingerhaltungen übersetzt, ihre Benutzer aber damit von der Verständigung durch die gesprochene Sprache ausschließe. Heinicke hingegen geht von den Artikulationsbewegungen Sprechender aus, die auch der Taubstumme erlernen könne: »Verstehen lernt er die Sprache dadurch, dass er sie vom Munde abliest, also in der Folge von Gesichtsbildern. Gebrauchen lernt er sie, indem er die Articulationsbewegungen des Hörenden und Sprechenden nachbildet.«86 Diese Methode macht sich zu Nutze, daß das Sprechen mit sichtbaren mimischen Effekten verbunden ist, die sich als »Folge von Gesichtsbildern« dekodieren und »nachbilden« lassen. Die Gesichtsbilder sind hier nicht nur Träger affektiver Informationen, sondern stumme Bilder von Lautfolgen, die sich auch von Gehörlosen imitieren lassen. Grundlage dieser Lernmethode ist die Substitution des fehlenden Gehörsinns durch Gesichts- und Tastsinn, die besonders trainiert werden. Obwohl diese Methode für Wundt den »Vorzug der Natürlichkeit«87 verliert, den Gebärdensprachen ursprünglich genießen, eignet sie sich für eine psychologische Betrachtung des Spracherwerbs und -gebrauchs in besonderer Weise. Vermag sie doch den Prozeß des Sprachverstehens zu veranschaulichen, der sich in der Verknüpfung zwischen Sprachlauten
84 Die Vergleichbarkeit gebärdensprachlicher Systeme wertet Wundt als Indiz ihrer »natürlichen« Universalität (vgl. ebd., S. 135). 85 Ebd., S. 136. 86 Ebd., S. 138. 87 Ebd., S. 139.
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und dem Sinn einer sprachlichen Mitteilung vollzieht, indem die Lautfolge durch die sichtbaren Artikulationsbewegungen ersetzt wird. In diesen Bewegungen, den mimischen Begleiterscheinungen des Sprechens, liegt für Wundt eine besondere Form von Ausdrucksbewegungen vor, die, da sie gewöhnlich dem hörenden Verstehen untergeordnet und dadurch unsichtbar geworden sind, im besonderen Fall des Taubstummenunterrichts jedoch zur alleinigen Voraussetzung des Sprachverstehens werden. Diese von vollsinnigen Sprechern gewöhnlich vernachlässigte Sichtbarkeit der Sprechgebärde wird von Wundt zum Erkenntnisinstrument nobilitiert. In beiden Fällen handelt es sich um Ausdrucksbewegungen, die sich einer Reihe zeitlich aufeinander folgender Mimiken entfalten. Zeitlichkeit und Dynamik von Ausdrucksbewegungen lassen sich in besonderer Weise für Artikulationsbewegungen geltend machen, da sich das Verständnis eines Wortes und erst recht einer Wortfolge nur aus der Beobachtung mimischer Veränderungen einstellen kann.88 Diese Lernmethode gründet wie jedes gebärdensprachliche System auf der Sichtbarkeit ihrer Zeichen. Zugleich lenkt sie die Aufmerksamkeit auf das Artikulationsvermögen als natürliche Grundlage jeder gesprochenen Sprache.89 Sie steht damit nicht nur wie Gebärdensprachen allgemein zwischen gesprochener Sprache (flüchtig) und Schrift (fixiert), sie vermittelt darüber hinaus zwischen beiden, indem das Sehen das defizitäre Gehör ersetzt. Artikulation meint hier nicht nur das Aussprechen einer Lautfolge, die sich an den mimischen Bewegungen des Gesichts ablesen läßt, sondern gleichfalls das Äußern von Affekten und Gedanken.90 Mit der Beobachtung von Sprechbewegungen werden so auch die Zuordnungsweisen in der Affekt-Ausdrucksbeziehung auf der Ebene ihrer sichtbaren mimischen Effekte zu einem Zeitpunkt reformuliert, als auch die (gesprochene) Sprache in psychologischer Lesart als Sonderform von Ausdrucksbewegungen definiert wird.91 88 Zu Wundts Analogie von Lautgebärde und nachahmender bzw. hinweisender Gebärde vgl. C. Knobloch: Geschichte der psychologischen Sprachauffassung, S. 149. 89 Vgl. J. Derrida: Grammatologie, S. 393: »Saussure erkannte, was im Widerspruch zu seinen phonologistischen Thesen stand, daß nämlich allein das Artikulationsvermögen — und nicht die gesprochene Sprache — dem Menschen ›natürlich‹ war«. 90 Wilhelm von Humboldt begründete die »Übereinstimmung des Lautes mit dem Gedanken« sprachphilosophisch (vgl. Leo Weisgerber: »Artikulation«, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. von Joachim Ritter, Bd. 1, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971, S. 535f). 91 Vgl. C. Knobloch: Geschichte der psychologischen Sprachbetrachtung, S. 148: »Die Sprache ist nichts anderes als die Ausdrucksbewegung, die der Höhe des menschlichen Seelenlebens angemessen ist und sich Schritt für Schritt mit diesem zusammen entwickelt hat. Wundt rückt das Ausgedrückte mit der ausgedrückten Bewegung sehr eng zusammen.«
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Wundt leitet folgerichtig auch die Lautgebärde aus den Ausdrucksbewegungen ab. Diese ahme ursprüngliche Affektäußerungen nach, die sich zu mimischen Sprechbewegungen verfestigt hätten. Damit wird auch der Sprache eine psychologisch begründete Ausdrucksrelation unterstellt, die auf der Analogie von innerem Erleben und äußeren Ausdruckszeichen beruht – mit dem einzigen Unterschied, daß letztere nun willentlich herbeigeführt und durch häufigen Gebrauch konventionalisiert werden. Dadurch kommt aber auch eine Spaltung in die ursprünglich unmittelbar gedachte Ausdrucksbeziehung: Während die Sprachlaute erst durch die Artikulation in sichtbare Mundbewegungen überführt werden müssen, bevor die sprachliche Mitteilung dekodiert werden kann, transportieren in Wundts psychologischer Ausdruckstheorie die begleitenden mimischen Bewegungen des Gesichts unabhängig davon affektive Aspekte und sogar Vorstellungsinhalte auf direktem Wege. Wundt denkt daher die Artikulationsbewegungen einerseits in Analogie zu den malenden Gebärden und deren Anschaulichkeit: Die Lautgebärde bezeichnet für ihn den Übergang von der Gebärdensprache zur gesprochenen Sprache.92 Andererseits hebt er an ihr die »die Articulationsbewegungen begleitenden inneren und äußeren Tastempfindungen« hervor, durch die sich der Sprechende erst der Sprechbewegungen bewußt werde und auf deren Grundlage Taubstummen der Spracherwerb möglich sei. Diese internalisierten Tastempfindungen erfüllen bei der Reproduktion von Artikulationsbewegungen dieselbe Funktion wie die reproduzierten Affektbilder bei der Übertragung der Verkostungsgesten auf andere Empfindungen oder Vorstellungsinhalte. Die strenge Kopplung von affektiver und körperlicher Bewegung, die Wundts Prinzip des psychophysischen Parallelismus vorschreibt, ermöglicht die Wiederholung und semantische Verschiebung einmaliger Synthesen von Affektund Ausdrucksbewegungen. Die Tastempfindung bildet das psychologische Substitut der mimischen Ausdrucksbewegung und die Spur einer Inskription des Affekts in das Körpergedächtnis. Daß Taubstummen der Spracherwerb durch die Nachahmung von Artikulationsbewegungen möglich ist, heißt aber auch, daß die Lautsprache zum Prozeß der Sozialisation gehört. Denn das Artikulationsvermögen, nicht die gesprochene Sprache ist mit Saussure ›dem Menschen‹ gegeben. Als Ausdrucksbewegungen sind Sprechbewegungen – das lehrt das Beispiel des Taubstummenunterrichts – erlernbar und können gezielt eingeübt und getestet werden. Diese sichtbaren Artikulationsbewegungen sind selbst Gegenstand experimenteller Untersuchungen geworden. Georges Demenÿ, Assistent 92 Zur Kritik dieses Sprachursprungsmodells vgl. ebd., S. 151; K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 130.
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Étienne-Jules Mareys, hat sich darüber hinaus um ihre Visualisierung bemüht. Er fertigte als Testreihe für den Taubstummenunterricht eine chronofotografische Reihe von Aufnahmen auf einem Filmstreifen an, die ihn sprechend zeigen (vgl. Abb. 12).
Abbildung 12: Georges Demenÿ: »Je vous aime« (1891)
Wie Duchenne war Demenÿ Testperson und Versuchsleiter in Personalunion. Er sprach kurze Sätze wie »Je vous aime« und »Vive la France« – die Länge des Filmbandes war schließlich begrenzt – in eine auf Kopfhöhe und ziemlich nah postierte Kamera, damit seine mimischen Bewegungen präzise aufgezeichnet werden konnten. Um keine unscharfen Bilder zu erzeugen, durfte die Belichtungszeit der Aufnahmen nur wenige Millisekunden betragen. Deshalb setzte Demenÿ Reflektoren ein, die das natürliche Licht verstärkten. Dieses Licht blendete ihn jedoch zugleich, was an seinen zusammengekniffenen Augen zu sehen ist. Die Einzelbilder des Filmstreifens ordnete er nach einem aufwendigen Kopierverfahren auf einer Scheibe an und brachte diese nach dem Vorbild des Phenakistoskops in Bewegung.93 Demenÿ nutzte die technischen Möglichkeiten der Chronofotografie, die vor ihm Eadweard Muybridge und vor allem Marey entwickelt hatten, um die mimischen Bewegungen des Gesichts bei der Artikulation zu fixieren. Dieser Faszination erlag auch der Amateurfotograf Fritz Möller, der nur wenig später eine mimische Taxonomie des Alphabets an den Anfang seiner Physiognomischen Studien gestellt hat (vgl. Abb. 13). Den Nachweis, daß es sich bei diesen Artikulationsbewegungen aus psychohistorischer und -logischer Sicht um Ausdrucksbewegungen handelt, hat Wilhelm Wundt geführt. Demenÿ hatte neben der wissenschaftlichen Beweisführung auch die kommerzielle Verwertung seiner Aufnahmen im Sinn. Er glaubte, die Bildfolge einer Sprechbewegung könne als »lebendiges Porträt« an die Seite von Edisons Phonographen treten und die traditionellen privaten Fotoalben in der Gunst seiner Zeitgenossen ablösen. Auch Thomas Alva Edison sah in der Kopplung von Bild und Ton die gemeinsame Zukunft 93 Vgl. T. Gunning: In Your Face, S. 17-20; Friedrich Kittler: Grammophon — Film — Typewriter, Berlin: Brinkmann & Bose 1986, S. 206-209; M. Braun: Picturing Time, S. 176-187.
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von akustischer Reproduktions- und optischer Projektionstechnik. Wirtschaftlicher Erfolg war Demenÿ mit dieser Idee allerdings nicht beschieden. Sein Phonoskop ging nicht in Massenfertigung, weil seine aufwendigen Bilderscheiben immer noch per Hand hergestellt werden mußten.
Abbildung 13: Fritz Möller: Mimisches Alphabet (1900)
Daß Demenÿ mit der Reproduktion von Sprechbewegungen auch das überkommene künstlerische Genre des Porträts als Repräsentation des Individuums zu einer Kommunikationsform umbildete, ist ein kultureller Nebeneffekt des Medienwandels, der sich mit der massenhaften Verbreitung gefilmter Gesichter auf Projektionswänden allgemein durchsetzte. Mit der Erfindung seines Phonoskops, das Demenÿ im Juli 1891 der Academie des Sciences vorstellte, erzielte er erstmals in der Geschichte der optischen Medien die filmische Illusion eines mimisch bewegten Gesichts und läutete eine neue Ära der Sichtbarkeit von Ausdrucksbewegungen ein. Sein Experiment beweist, was Wundts psychologische Theorie der Ausdrucksbewegung in der doppelten Dynamisierung der Affekt-Ausdrucksbeziehung theoretisch formuliert hat: Ausdrucksverstehen ist das Übersetzen von körperlichen Bewegungen in Affektbilder, ist Bilderlesen. Der wissenschaftliche Erfolg seines Experiments bietet einen Vorgeschmack auf das Verstehen stummer Bilder, das im Kino dann nur weni-
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ge Jahre später massenhaft betrieben werden wird.94 Damit ist auch klar, daß eine Zeichenlehre der flüchtigen Bewegungen sich nun auf das filmische Bewegungsbild gründet. Artikulationsbewegungen ergänzen dort die mimisch-expressiven Ausdrucksbewegungen und fungieren damit »als mimisches Ausdrucksmittel«,95 weil das Kinopublikum die Schauspieler sprechen sieht, ohne seine Worte hören zu können.96 Im Unterhaltungsfilm erfährt die Gebärdensprache als »sichtbare Sprache« jene Allgemeinheit und kulturelle Wirksamkeit, die Wilhelm Wundt in seiner Völkerpsychologie sprachhistorisch sichern wollte. Die Tatsache, daß das Publikum im Kino den Schauspieler sprechen sieht, während es im Theater »das Sprechen als Ausdrucksbewegung, als Mienenspiel des Mundes und des ganzen Gesichts«97 nicht bemerkt, markiert eine mediale Differenz von epistemologischer Tragweite: »Auf dem Film aber ist das Sprechen ein Mienenspiel und unmittelbar-visueller Gesichtsausdruck. Wer das Sprechen sieht, erfährt ganz andere Dinge als jener, der die Worte hört.«98 Diese Sichtbarkeit der Artikulationsbewegungen als Teil des affektiv-kommunikativen Mienenspiels wird im Film zu einem Erkenntnisinstrument sui generis. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, daß in der Nachfolge Wundts zu Beginn des 20. Jahrhunderts zahlreiche anthropologische bzw. ethnologische Ausdruckstheorien entstanden, die explizit auf die sprachlichen Artikulationsvorgänge als Ausdrucksbewegungen eingehen. Zu nennen sind hier in erster Linie Lucien Léy-Bruhls einflußreiche Schrift Les fonctions mentales dans les sociétés inférieures (1918), Richard Pagets Studie Nature et origine du language humaine von 1925 und Marcel Jousses mimisch-gestische Sprachpsychologie, die er 1936 in 94 Ulrike Hick wertet Demenÿs Experiment als »ein eigenwilliges, auf den sprechenden Film vorausweisendes Projekt [...], soll hier doch die gesprochene Sprache vermittels ihrer visuellen Aufzeichnung wiedergegeben werden« (dies.: Geschichte der optischen Medien, S. 321). 95 Herbert Tannenbaum: »Probleme des Kinodramas«, in: Bild und Film. Zeitschrift für Lichtbildnerei und Kinematographie, 3. Jg. (1913/14), H.1, S. 60-63, hier S. 62. 96 Das Aussetzen der Alltagswahrnehmung betont Joseph August Lux: »Wir sehen im Kino die Schauspieler sprechen, ohne dasz wir die Worte hören« (ders.: »Das Kinodrama«, in: Bild und Film. Zeitschrift für Lichtbildnerei und Kinematographie, 3. Jg. [1913/14], H.6, S. 121-123, hier S. 121). 97 Béla Balázs: Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films, Wien/ Leipzig: Deutsch-Österreichischer Verlag 1924, S. 51 (meine Hervorhebung, P.L.). Balázs bezieht sich terminologisch auf Wundt und zitiert dessen Auffassung, »daß der Ursprung der Sprache die Ausdrucksbewegung ist«: »Die Bewegungen der Zunge und der Lippen sind zu Anfang genauso spontane Gebärde wie jede andere Ausdrucksbewegung des Körpers« (ebd., S. 25f). Auch verwendet er explizit die Formulierung »sichtbare Sprache« (ebd. S. 51). 98 Ebd.
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seinem Aufsatz »Le mimisme humaine et l’anthropologie du language« entwarf. Walter Benjamin hat diese anthropologische bzw. sprachsoziologische Nobilitierung der Artikulationsbewegungen in verschiedenen Wissenschaftsbereichen analysiert. In seinem 1935 erschienenen Aufsatz Probleme der Sprachsoziologie bringt er die Forschungen von Paget und Jousse sowohl mit der Poetologie Mallarmés und Valérys als auch mit der Sprachphysiognomik Heinz Werners und Rudolf Leonhards in Verbindung.99 Letzterer ist jedoch nicht nur als Sprachforscher und Schriftsteller hervorgetreten, sondern hat 1923 zugleich eine Schrift Zur Soziologie des Films veröffentlicht. Und ein gewisser Friedrich Fuchs bezeichnete Marcel Jousses Begriff des style manuel explizit als »Stil des Films«, der durch den Filmschauspieler »vollendet« zur Geltung gebracht werde.100 Prominent wurde Wundts Genealogie der Ausdrucksbewegung also insbesondere in der Debatte um den ›stummen‹ Film, weil sie die Sprache aus der körperlichen Ausdrucksbewegung ableitete und somit eine Legitimation für die in Aussicht gestellte ›Universalsprache‹ der Mimik und Gestik bereitstellte. Seine psychologische Theorie der Ausdrucksbewegung stellt somit eine wichtige diskursive Gelenkstelle zur Debatte um den Film als neue Universalsprache des bewegten Bildes und zur Neubegründung des »Mimus durch die Kamera« dar. Kritiker und Theoretiker wie Béla Balázs sahen in Wundts Konzept gar eine neue »visuelle Kultur« begründet, die sogar »ohne Sprache denkbar« sei und sich allein auf »das Bild des Menschen und der Welt in der unmittelbaren Ausdrucksbewegung« beschränken würde.101
99
Vgl. Walter Benjamin: »Probleme der Sprachsoziologie. Ein Sammelreferat«, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. 3, hg. von Hella TiedemannBartels, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 452-480. 100 Friedrich Fuchs: »Grenzen des Films«, in: Hochland. Monatschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst, 26. Jg. (1929), Bd.2, S. 9295. 101 B. Balázs: Der sichtbare Mensch, S. 29.
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6. A U S DR U C K S BE W E G U NG U N D K I NE M A T O GR A P H IS C H E S B E W EG U N G S BI L D
Und da jedes Medium den Dingen besonders zugetan ist, die es allein darstellen kann, scheint das Kino vom Wunsch beseelt, vorübergleitendes materielles Leben festzuhalten, Leben in seiner vergänglichsten Form. Straßenmengen, unbeabsichtigte Gebärden und andere flüchtige Eindrücke sind seine Hauptnahrung. (Siegfried Kracauer)
Bereits in den ersten Versuchen, die Gesetzmäßigkeiten des mimischen Affektausdrucks experimentell zu bestimmen, fotografisch zu fixieren und damit zu beglaubigen, war eine Zeichenlehre der flüchtigen Bewegungen das erklärte Ziel der Erforschung der menschlichen Mimik. Die Anstrengungen, die Duchenne de Boulogne als Experimentator und Fotograf unternommen hatte, um den fruchtbaren Augenblick der fotografischen Aufnahme als Kairos des Ausdrucks zu bestimmen, waren dieser Flüchtigkeit geschuldet. Mußte Duchenne einerseits diesen entscheidenden Moment für die Dauer der Aufnahme anhalten, um ihn in einem statischen Bild zu konservieren, so akkumulierte er andererseits steigerbare Affektbilder. Sein Bilderatlas verzeichnete mithin Varianten und Modifikationen eines Affektbildes und sprengte damit die Einheit des Affekts in seinem Bild. Die zeitliche Aufgliederung eines Bewegungsvorgangs leistete die diskursive Verknüpfung von Chronofotografie und Physiologischer Psychologie, die in der Sequenzialisierung von Körperbewegungen und der psychologischen Definition des Affektausdrucks als Ausdrucksbewegung die Ebene der Positivität erreichte.1
1
Die Leistung Mareys dabei wurde schon frühzeitig anerkannt: Er führte »die Photographie zur Messung von Bewegungsvorgängen als neues Untersuchungsverfahren ein, mit welcher man die Bewegungen von Körperteilen mit großer Exaktheit auf eine Ebene projizieren kann und mit welcher man gleichzeitig auch den zeitlichen Verlauf der Bewegungen berücksichtigen konnte« (M. Weiser: Medizinische Kinematographie, S. 11f.).
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Die psychophysische Definition von Bewegungsvorgängen als Ausdrucksbewegung wurde so eine Domäne der Psychologie. Diese Kopplung von ›Bewegung‹ und ›Ausdruck‹ kann als diskursiver Knotenpunkt der modernen Episteme hinsichtlich des Wissens über den Menschen gelten. Georg Simmel, der wie kaum ein anderer seismografisch die tektonischen Erschütterungen im modernen Wissensgefüge registriert hat, beschreibt diese Zäsur anläßlich der Plastiken Rodins: Denn das Wesen der Moderne überhaupt ist Psychologismus, das Erleben und Deuten der Welt gemäß den Reaktionen unsres Inneren und eigentlich als einer Innenwelt, die Auflösung der festen Inhalte in das flüssige Element der Seele, aus der alle Substanz herausgeläutert ist, und deren Formen nur Formen von Bewegungen sind. [...] Wo deshalb die psychologische Tendenz das Bild des ganzen Lebens formt, hält sie sich an seine Bewegung. Diese Bewegtheitstendenz ist die tiefgründigste Beziehung der modernen Kunst zum Realismus: [...] Die Kunst spiegelt nicht nur eine bewegtere Welt, sondern ihr Spiegel selbst ist beweglicher geworden.2
In Simmels lebensphilosophischer Ästhetik wird die transzendentale Obdachlosigkeit einer substanzlosen Seele durch Bewegung kompensiert. Nur sie vermag die Ganzheit des Lebens zu restituieren.3 Was Simmel auf die moderne Kunst beschränkt wissen möchte, kennzeichnet jedoch zugleich eine medialisierte Wissenskultur: Die Hegemonie einer Psychologie der Bewegung zeigt sich auch hier in der Rolle, die technische Medien bei deren Aufzeichnung spielen. Denn ein »beweglicherer Spiegel« liegt seit der Erfindung der Kinematographie mit Filmkamera und Projektionsapparat vor, also technischen Apparaten, die die aufgenommenen Objekte durch wechselnde Einstellungen variabel halten können. So lassen sie etwa das Gesicht, das die Moderne Simmel zufolge als Gegenstand von Visualisierung bevorzuge,4 in der filmischen Großaufnah-
2
3
4
Georg Simmel: »Rodin«, in: ders.: Hauptprobleme der Philosophie, Philosophische Kultur, hg. von Rüdiger Kramme und Ottheim Rammstedt (= Gesamtausgabe, Bd. 14), Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1996, S. 330-348, hier S. 347f. Simmels Argumentation folgt mit der Unterscheidung von Oberfläche und Tiefe und der Annahme individueller Synthesen im überkommenen Begriff einer ›Seele‹ lebensphilosophischen Topoi, die u.a. durch Balázs Eingang in die Filmdebatte gefunden haben; vgl. Karl Prümm: »Die beseelte Maschine. Das Organische und das Anorganische in der ›Kinodebatte‹ und in der frühen Filmtheorie«, in: Hartmut Eggert/Erhard Schütz/Peter Sprengel (Hg.): Faszination des Organischen. Konjunkturen einer Kategorie der Moderne, München: Indicium 1995, S. 145-172. Vgl. G. Simmel: »Rodin«, S. 152.
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me geradezu als Entität erscheinen.5 Simmels Befund einer Psychologisierung der Kultur qua Bewegung erweist sich somit als Effekt ihrer Mediatisierung. Zugleich verleiht Simmel implizit der filmischen Mimesis einen lebensphilosophischen Rahmen, der seine Tragfähigkeit in der Auseinandersetzung um das neue Medium beweisen sollte.
6 . 1 » U r m it t eil un g d u r c h G e b ä r d e« Durch das filmische »Bewegungsbild«, dessen Eigenschaften Gilles Deleuze in Anschluß an Henri Bergson beschrieben hat, erhält die seit Bacon in Aussicht gestellte Zeichenlehre der flüchtigen Bewegung neue Impulse. Deleuze kommentiert in seiner Theorie des Kinos Bergsons Entdeckung des Bewegungsbildes, die dieser in seiner Schrift Matière et mémoire 1896 publik gemacht hatte. Er hatte dort eine »Krise der Psychologie« diagnostiziert, die sich daran entzündet habe, »die Bewegung als physikalische Realität in der Außenwelt und das Bild als psychische Realität im Bewußtsein nicht mehr als Gegensätze begreifen« zu können. Bergson richtete sich gegen eine assoziationspsychologische Verbindung von Vorstellungsbild und sichtbarem Affektbild, wie sie etwa Wundts Ausdruckspsychologie im Konzept des »reproducirten Bildes« eingegangen war. Eine solche reproduktionslogische Verknüpfung, die die Suggestivwirkung kinematographischer Bilder vorbereitete, lehnte er ab. Bergson stellte dann allerdings in seiner 1907 erschienenen Abhandlung L’Évolution créatrice der filmischen Bewegungsillusion einen »inneren Kinematographen« als Erkenntnisapparat gegenüber, um die »Differenz von natürlicher und kinematographischer Wahrnehmung« phänomenologisch zu begründen.6 Die philosophischen Anstrengungen Bergsons zeigen, daß durch technische Medien die Grenzen zwischen Innerem und Äußerem, zwischen Bewußtseinsprozessen und Datenflüssen, nicht nur durchlässiger werden, sondern geradezu zusammenbrechen und nur mühsam restauriert werden können. Immer wieder stören technische Medien den unterstellten Zusammenhang zwischen Innerem (Affekt) und Äußerem (Ausdruck), gerade weil sie dieses Innere sichtbar machen sollen. So legt die fotografische Oberfläche, die die Wahrheit des Affekts bannen soll, gerade nicht den Blick auf eine vermeintliche Tiefe frei, sondern supplementiert diese durch das Bild: Das Affektbild tritt an die Stelle des Affekts. In der Debatte um den Film kehren die alten physiognomischen 5 6
Vgl. G. Deleuze: Das Bewegungs-Bild, S. 134, der diesen Gedanken im Anschluß an Filmtheorien der 1920er Jahre entwickelt. Alle Zitate ebd., S. 11; 15.
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Unterscheidungen als Wiedergänger des medialen Wandels zurück und werden zumeist in den Dienst einer Kulturkritik gestellt. Der Germanist Robert Petsch etwa sieht durch den Vormarsch des Films das Drama in Gefahr. Er befürchtet, daß es »von der durchgeistigten andeutenden ›Geste‹ auf die rein körperliche Beredsamkeit, vom Inneren aufs Äußere, von der künstlerisch bedeutsamen, ausdrückenden Darstellung auf den bloßen ›Effekt‹ hingedrängt« werde.7 Die kritische Bestandsaufnahme von Medienkonkurrenz schärft aber auch den Blick für Verschiebungen innerhalb der kulturellen Semantik. Wenn das Gesicht in der filmischen Großaufnahme als Entität erscheint, wie Deleuze behauptet, dann gerade deshalb, weil sie die physiognomischen Bedeutungszuschreibungen außer Kraft setzt, den Affekt als ›pure‹ Oberfläche visualisiert und in einer Bildsequenz aufspaltet. Und wenn etwa Siegfried Kracauer in kulturkritischer Absicht die Verbreitung eines »Photographiergesichts« diagnostiziert oder Max Picard nicht weniger abwertend das »Kinogesicht« als Degeneration des menschlichen Antlitzes beschreibt, dann deshalb, weil optische Medien das Gesicht aus seiner traditionellen Funktion als Träger von Individualität entlassen haben.8 Als einmalig erscheint im fotografischen Affektbild nicht länger das Individuum, sondern sein augenblicklicher psychischer Zustand. Die Integration technischer Medien in den kulturellen Diskurs provoziert Debatten, an denen die Bruchstellen der Moderne sichtbar werden. Daher verwundet es nicht, daß sich nach der Einführung des Kinematographen im Jahr 1895 zunächst – wie nach der Erfindung der Fotografie – eine hitzig geführte Debatte über seinen kulturellen Stellenwert entspannt.9 Als bloßes Massenunterhaltungsmittel sei er eine »Afterkunst«, behaupten seine Gegner, die das traditionelle System der Künste in Gefahr sehen. Der medizinische Begriff des Epidemischen wird bemüht, um 7 8
9
Robert Petsch: »Drama und Film«, in: Jahrbuch des Freien Deutschen Hochstifts 1927, S. 266-298, hier S. 267. Siegfried Kracauer: »Die Photographie«, in: ders.: Das Ornament der Masse. Essays, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1977, S. 21-39, hier S. 34; Max Picard: Das Menschengesicht (1929), Erlenbach-Zürich: Rentsch (5. Aufl.)1947, S. 147; vgl. zum Bedeutungsverlust physiognomischer Unterscheidungen Petra Löffler: »›Ein Dichter sieht aus wie ein Chemiker‹«, in: Stefan Andriopoulos/Bernhard J. Dotzler (Hg.): 1929. Beiträge zur Archäologie der Medien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2002, S. 132-157. Diese sogenannte »Kino-Debatte« stellt ein Konglomerat von vornehmlich in Tageszeitungen und Fachzeitschriften geführten Diskussionen um die Kunstwürdigkeit des neuen Mediums und seine ökonomischen, sozialen und kulturellen Auswirkungen dar, das als »diskursives Ordnungsgefüge« bisher »noch nicht entschlüsselt worden« sei (K. Prümm: »Die beseelte Maschine«, S. 148). Neben den Anthologien von A. Kaes und J. Schweinitz, die zahlreiche zentrale Texte dieser Debatte versammeln, sowie der Abhandlung von H.H. Diederichs sei auf die Anthologie Medientheorie 1888-1933. Texte und Kommentare verwiesen.
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das neue Massenmedium als »Kinematographenbazillus« anzuschreiben, der »die ganze Kulturmenschheit« befallen habe, oder um es von der Warte einer ›hohen‹ Kunst aus als kommerzielle »Schundware« zu denunzieren.10 Aber die richtige Bewertung des Films ist nicht nur für die Ästhetik von Belang. »Es ist«, wie der Schriftsteller Rudolf Leonhard 1923 betont, »durchaus wichtig, zu wissen, wo wir den Film einzuordnen haben, wenn wir ihn erkennen wollen.«11 Jede Einordnung impliziert einen deutenden Zugriff auf ihren Gegenstand. Sie trifft Vorentscheidungen darüber, als was und wie er erkannt wird. Wissen über (neue) Medien läßt sich demnach nur innerhalb kultureller Zusammenhänge gewinnen, die sie zugleich aufbrechen. Den Überlegungen Herbert Tannenbaums und Rudolf Leonhards dient deshalb die Auflistung der Schmähworte über das Kinematographentheater jedoch nur als rhetorische Drohkulisse. Tannenbaum etwa weist bereits 1912 in seiner Schrift Kino und Theater der »Kinokunst« einen Platz unter den dramatischen Künsten an: Sie trete »als isolierte Ausdruckskunst zwischen Theater und Pantomime.«12 Die Nobilitierung erfolgt unter Bezug auf den Begriff ›Ausdruck‹ – was das Kino zur Kunst macht, ist seine Fähigkeit, etwas mittels Körperbewegungen darzustellen. Darin beerbt es die Darstellungsmacht der eloquentia corporis, die im Film zu neuer Geltung gelangt. Carl Hauptmanns Essay Film und Theater von 1919 kann als exemplarisch für die Euphorie jener Zeit bezüglich dieser Darstellungsmacht gelten. Hauptmann bemüht seinerseits den Vergleich mit den bildenden Künsten, um die Überlegenheit des »Bioskops« bei der visuellen Darstellung zeitlicher Abläufe – und damit der Zeit selbst13 – zu begründen. Sein tertium comparationis bildet einmal mehr die Darstellbarkeit von lesbaren Körperbewegungen – sprich: Gebärden. Während sich bildende Künstler »unendlich leidenschaftlich bemüht« hätten, »den transitorischen Moment der Gebärde in ihren Werken so zu steigern, daß es zur Vortäuschung ausdrucksvoller Bewegungen kam«, sei es »einzigartiges, ganz spezifisches Vermögen« des Films, »den Ablauf aller bedeutungs-
10 11 12 13
H. Tannenbaum: Kino und Theater, S. 5f. R. Leonhard: »Soziologie des Films«, S. 102f. H. Tannenbaum: Kino und Theater, S. 21. Vgl. Hans Goetz: »Kinematograph und Wissenschaft«, in: Bild und Film. Zeitschrift für Lichtbildnerei und Kinematographie, 3. Jg. (1913/14), H. 1, S. 4-7: »Ein Gemälde [...] kann immer nur ein unbewegtes Momentbild sein, eine Bewegungsphase, ein Zustand. Die Bewegung selbst, die räumliche Verschiebung während der Zeit und damit die Zeit selbst, kann es nicht wiedergeben [...]« (ebd., S. 5). Dies sei erst Phonograph und Film gelungen.
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vollen Bewegung, die lebendige Gebärde aller Wesen, der lebendigen und der toten Dinge, absolut zu objektivieren.«14 Diese genuine Darstellungsleistung des Films macht den Verlauf einer Körperbewegung sichtbar und begründet dadurch ihren Sinn. Dadurch gewinnt der Film Objektivität nicht nur für Kinoschriftsteller wie Carl Hauptmann, sondern auch für eine wissenschaftliche Ausdruckspsychologie. Diese entdeckt den Film nicht nur als adäquates Aufzeichnungsmedium für Körperbewegungen, sondern entwickelt durch ihn auch Fragestellungen wie die nach dem Verlauf und der Bewegungsdynamik einer Gebärde.15 Die wissenschaftliche Beschäftigung mit Ausdrucksbewegungen wird dabei flankiert von einer medientechnisch informierten Ästhetik, die den »Sinn des Films, sein innerstes Ausdrucksmittel«, in der »Urmitteilung durch Gebärde« sehen will und die gesamte Kultur ihrer Zeit von dieser Mitteilungsform infiziert glaubt. Und sie profitiert von einer sprachpsychologisch definierten Universalität der Gebärdensprache, deren Bedeutung für die Literatur und Kunst der Moderne des beginnenden 20. Jahrhunderts unübersehbar ist.16 Wundts Auffassung der Sprache als Ausdrucksbewegung bildet ihre diskursive Voraussetzung. Dabei ist es die Neuheit des Mediums selbst, die eine Verschiebung im Kanon der Künste erforderlich macht und zu einem Hybrid aus darstellenden und bildenden Künsten führt, wie Leonhard nicht ohne Emphase herausstellt: »Wie das Drama einmal neu war, ist es heute der Film. Er ist [...] eine neue Dichtungsgattung – innerhalb der bildenden Kunst; er ist der legale Übergriff der Dichtung in die bildende Kunst, in die Bildkunst.«17 Leonhard sieht im Film ein eigenartiges Gattungszwitterwesen: Der Film ist Dichtung und Bildkunst zugleich. Das Filmmanuskript definiert er als neue Gattung der Dichtung. Transformiert in das
14 Carl Hauptmann: »Film und Theater« (1919), in: A. Kaes (Hg.): KinoDebatte, S. 123-130, hier S. 124. Er führt als Beispiel für dieses Bemühen die Plastiken Rodins an, die »in dem einen starren Bildmoment aufeinanderfolgende Momente der Bewegung« vereinigten (ebd.). Rilkes Essay Auguste Rodin, ebenfalls 1919 erschienen, hat diese Auffassung bestärkt. Deleuze hat diese Auffassung von Bewegung allerdings strikt vom filmischen »Bewegungs-Bild« geschieden. 15 Vgl. Auguste Flach: »Die Psychologie der Ausdrucksbewegung«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 65 (1928), S. 435-534; s.u. Kap. 7.2 Mimische Mehrdeutigkeit. 16 Vgl. H.B. Heller: Literarische Intelligenz und Film; Gabriele Brandstetter: Tanz-Lektüren. Körperbilder und Raumfiguren der Avantgarde, Frankfurt a.M.: Fischer 1995. Hugo von Hofmannsthals Interesse für die Schauspielerin Eleonora Duse zeichnet ihn als typischen Grenzgänger zwischen den ausdruckstheoretischen Diskursen aus (vgl. P. Löffler: »Fragile Gesten — exzentrische Mienen«). 17 R. Leonhard: »Soziologie des Films«, S. 103.
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sichtbare Bewegungsbild stellt der Film zugleich das neue »Bindeglied zur bildenden Kunst« dar – als solches verfüge er über eine »Vollkommenheit der Möglichkeiten, von der weder das lyrische ›Gemälde‹ vergangener Zeiten noch die Pantomime etwas ahnen ließen. Lessings Laokoon, nun erst völlig widerlegt und dennoch gerade darum von ganz neuer Bedeutung, müßte neu geschrieben werden.«18 Lessing tritt hier als Gewährsmann einer veralteten Trennung der Künste auf. Das hybride Medium Film stellt nicht nur das traditionelle Gattungssystem von Sprach- und Bildkünsten in Frage – es macht auch ihre Trennung nach der Art und Weise, wie sie ihre Gegenstände behandeln und darstellen können, überflüssig. Diese besondere Leistung des Films hat Julius Bab 1925 hervorgehoben: Die tiefste Wirkung der malerischen und zeichnerischen Künste beruht ja gerade darauf, daß sie das Leben in einem bestimmten Moment zum Stehen gebracht haben [...]. In der bildenden Kunst scheint das Zeitmoment ausgeschaltet. [...] Dies ist aber nun gerade der Punkt, wo der Film [...] doch als bildende Kunst schöpferisch werden könnte. Er kann die absolute Malerei in Bewegung setzen und ihr so das fehlende Zeitmoment schaffen [...].19
Mit der Visualisierung sowohl räumlicher Anordnungen als auch zeitlicher Abläufe verspricht der Film eine Wende in der Ästhetik, in der die Darstellung von Bewegungen einen zentralen Platz eingenommen hat.20 Leonhards Vorschlag, Lessings Laokoon neu zu schreiben und auf den medientechnischen und kulturellen Stand des 20. Jahrhunderts zu bringen, ist denn auch prompt befolgt worden. Nur einige Jahre nach seinem Vorstoß verfaßte Sergej Eisenstein einen Aufsatz, dessen schlichter Titel Laocoön in einer Überbietungsgeste direkt auf Lessings Abhandlung Bezug nimmt und der im Film alle Genregrenzen überwunden sieht.21 Eisenstein begibt sich darin zunächst auf eine tour de force durch die 18 Ebd. 104. 19 Julius Bab: »Film und Kunst«, in: Kümmel/Löffler (Hg.): Medientheorie, S. 163-177, hier S. 165f. 20 Kein geringerer als Erwin Panowsky bestätigt diese Zäsur: »Diese spezifischen Eigenschaften des Films lassen sich definieren als Dynamisierung des Raumes und entsprechend als Verräumlichung der Zeit« (ders.: Die ideologischen Vorläufer des Rolls-Royce-Kühlers & Stil und Medium im Film, Frankfurt a.M./New York: Campus 1993, S. 22). 21 Vgl. Sergej M. Eisenstein: Laocoön, in: Richard Taylor/Naum Kleiman (Hg.): S.M. Eisenstein: Selected Works, Bd. II, London: British Film Institute 1991, S. 109-202. Der Essay gehört in ein Konvolut von Texten, in denen Eisenstein in den Jahren 1937 bis 1940 seine Montage-Theorie nach heftigen Anfechtungen seitens der Kulturfunktionäre Stalins und der Einführung des Tonfilms reformulierte (vgl. Geoffrey Nowell-Smith: »Eisenstein on Montage«, in: ebd., S. XIII-XVI).
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Kunstgeschichte, um protofilmische Bewegungsphänomene in älteren Visualisierungsformen aufzufinden.22 Erst die filmische Montage jedoch überwinde nicht nur die generische Trennung von Malerei und Poesie, sondern auch die von Raum und Zeit.23 Ausgerechnet die Ergebnisse der elektrophysiologischen Experimente Duchenne de Boulognes zieht Eisenstein heran, um seinen theoretischen Ansatz zu untermauern. Dessen Erkenntnis, wonach die mimischen Verzerrungen auf dem Gesicht der Hauptfigur der Laokoon-Gruppe physiologisch unmöglich seien, münzt er in die These um, in dieser seien zwei verschiedene Phasen des Affektausdrucks miteinander kombiniert.24 Gegen Duchenne führt Eisenstein ins Feld, daß eine korrekte Darstellung der Affektmimik nicht den gleichen dynamischen Effekt habe wie die physiologisch inkorrekte – diese mache die eigentliche ästhetische Wirkung dieser Skulptur aus. Zudem hebt er die aktive Rolle des Betrachters beim Sehen von Bewegung hervor. Für Eisenstein faßt dieser die Einzelstadien einer Bewegung zu einem einheitlichen Bewegungseindruck zusammen – eine Beobachtung, die der Gestaltpsychologe Max Wertheimer in seinem maßgeblichen Aufsatz Experimentelle Studien über das Sehen von Bewegung bereits 1912 wissenschaftlich bestätigt hatte.25 Eisenstein weist sich nicht nur hier als Kenner wahrnehmungswie ausdrucksphysiologischer und -psychologischer Forschung aus; er hat sich darüber hinaus in zahlreichen Schriften mit ausdruckstheoretischen Problemen beschäftigt.26 Sein Essay kombiniert selbst ästhetische, naturwissenschaftliche und soziologische Argumente, um Lessings Laokoon zu überbieten. Dabei gerät ihm das Verständnis der filmischen Ästhetik und des kinematographischen Prinzips der Bewegungsdarstellung – eine Serie von Einzelbildern, die zusammen einen Bewegungseindruck vermitteln – zur »höchsten Form sozialer Organisation«.27 Auch das Agieren des Schauspielers unterwirft Eisenstein den Prinzipien der Montage: Sie soll den 22 Solche Rückdatierungen werden oftmals vorgenommen, um eine Vorgeschichte des Films zu konstruieren. Sie sollen ausnahmslos seine kulturelle Bedeutung justieren; vgl. auch: Joseph Gregor: Das Zeitalter des Films, Wien/Leipzig: Reinhold-Verlag 21932. 23 Vgl. G. Nowell-Smith: »Eisenstein on Montage«, S. XV. 24 Vgl. S.M. Eisenstein: Laocoön, S. 114. 25 S.o. Kap. 4.5 Momentbilder des Ausdrucks. Zu den medientheoretischen Implikationen der Experimente Wertheimers vgl. Christoph Hoffmann: »jPhänomen Film. Der Kinematograph als Ereignis experimenteller Psychologie um 1900«, in: Stefan Andriopoulos/Eckhard Schumacher/Gabriele Schabacher (Hg.): Die Adresse des Mediums, Köln: DuMont 2001, S. 236252; M.G. Ash: Gestalt Psychology, S. 125-134. 26 Vgl. Oksana Bulgakowa: »Eisenstein und die deutschen Psychologen«, in: Beiträge zur Film- und Fernsehwissenschaft 32 (1988), S. 16-44. 27 Vgl. S.M. Eisenstein: Laocoön, S. 117.
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Schauspieler dazu befähigen, Emotionen durch die Synthese suggestiver Details hervorzubringen.28 Diese Gleichsetzung soll die Universalität seiner Montage-Prinzipien belegen, die auch für Bewußtseinsprozesse Geltung beanspruchen. Gegen Lessing, der mit der Unterscheidung von raum- und zeitdarstellenden Künsten auch ihre Autonomie im Sinn hatte, führt Eisenstein in seinem Laocoön den Nachweis, daß es sich hierbei um eine Unterscheidung künstlerischer Methoden handeln müsse, die nur unterschiedlich gewichtet in allen Künsten eingesetzt würden.29 Auf exemplarische Weise vereine der Film beide Darstellungsoptionen. Mit anderen Worten: Der Film zeigt eine Handlung in Raum und Zeit und löst damit die Voraussetzung für eine Zeichenlehre der flüchtigen Bewegung ein. Auf die Bedeutung der Filmhandlung hatte bereits der Kinotheoretiker Herbert Tannenbaum hingewiesen: »Wir wissen und erkennen hier eben nur das, was wir sehen, woraus folgt, daß beim Kinodrama die eigentliche Wesensbedingung die Handlung ist.«30 Das »Kinodrama, das Drama ohne Worte« beschreibt er deshalb als »Drama der reinen Sichtbarkeit«.31 Mit der Plazierung des Films zwischen Theater und Pantomime leitet Tannenbaum zudem eine Diskussion seiner Darstellungsmittel ein, in die in evidenter Weise das ausdruckstheoretische Wissen des 19. Jahrhunderts eingeflossen ist. Er stellt zugleich die Weichen für eine Renaissance der Ausdruckstheorie im Zeitalter der medialen Reproduzierbarkeit des bewegten Bildes. Die Debatte um die Kunstwürdigkeit des Films etabliert bereits in ihrer ersten Phase eine Reihe von Argumenten, die in den elaborierten Filmtheorien seit den 1920er Jahren nur noch fortgeschrieben werden müssen. Eine der populärsten – Béla Balázs’ Der sichtbare Mensch von 1924 – erhebt den Film und seine genuine Körpersprache zum Maßstab einer visuellen Kultur, der im filmischen Spiegelbild ihr »irrationales Selbst« entgegenblickt: Denn der Mensch der visuellen Kultur ersetzt mit seinen Gebärden nicht Worte wie etwa die Taubstummen mit ihrer Zeichensprache. Er denkt keine Worte, deren Silben er mit Morsezeichen in die Luft schreibt. Seine Gebärden bedeuten überhaupt keine Begriffe, sondern unmittelbar sein irrationales Selbst, und was sich auf seinem Gesicht und in seinen Bewegungen ausdrückt,
28 29 30 31
Vgl. ebd., S. 139. Vgl. ebd., S. 153. H. Tannenbaum: Kino und Theater, S. 9. Herbert Tannenbaum: »Probleme des Kinodramas«, in: Bild und Film. Zeitschrift für Lichtbildnerei und Kinematographie, 3. Jg. (1913/14), H. 3/4, S.60-63, hier S. 60.
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kommt von einer Schicht der Seele, die Worte niemals ans Licht fördern können. Hier wird der Geist unmittelbar zum Körper, wortelos, sichtbar.32
Balázs’ Nobilitierung der Gebärde zielt ausdrücklich auf unwillkürliche Ausdrucksbewegungen ab. Durch sie werde das Unkontrollierbare, Unbewußte von Affektäußerungen, das sich nicht versprachlichen lasse, als Merkmal moderner Subjektivität sichtbar. Dem Film spricht Balász damit implizit eine investigative Rolle zu. Die Tradition einer »technischen Vermessung des Körpers«33 und Wundts psychologische Theorie der Ausdrucksbewegungen stehen dabei Pate. In der visuellen »Kultur des Films« (Béla Balázs) ist jedoch keineswegs Lessings Erkenntnisfigur des fruchtbaren Augenblicks aufgegeben. Sie hat sich nur gewissermaßen auf dem Feld des Sichtbaren ausgebreitet und unterliegt dort der Logik der Akkumulation. So hat Roland Barthes völlig zu Recht Eisensteins Filmtheorie in eine Traditionslinie mit Diderot und Lessing gestellt und das Sehen seiner Filme als »beständigen Genuß« charakterisiert, »der aus einer Summierung perfekter Augenblicke besteht«.34 Auch der Psychologe Karl Bühler spricht in seiner Ausdruckstheorie von der »Jagd nach fruchtbaren Momenten«35 in einem in der Zeit ablaufenden Ausdrucksgeschehen. Und wenn Philipp Lersch in seiner psychologischen Abhandlung Gesicht und Seele für Bühler eine »neues Lexikon der fruchtbaren Momente mimischen Geschehens« aufstellt,36 dann nur mittels eines technischen Mediums, das die Konservierung und nachfolgende Analyse dieser Momente erlaubt: dem Film. Die filmische Visualisierung von Bewegung stellt die unhintergehbare Voraussetzung für die Ausdruckspsychologie wie für die Ästhetik des beginnenden 20. Jahrhunderts dar. Damit ist eine diskursanalytisch bedeutsame Konstellation angesprochen: die Zirkulation ausdruckstheoretischen Wissens zwischen dem ästhetischen und dem wissenschaftlichen Diskurs und die Rolle, die technische Medien wie der Film dabei spielen. Im Begriff ›Ausdrucksbewe32 Balázs: Der sichtbare Mensch, S. 24. Im Zeichen einer filmischen Visualisierung des Unbewußten erteilt Balázs dem gebärdensprachlichen Modell einer »Minentelegraphie« eine Absage; s.o. Kap. 3.2 Entzug der Sichtbarkeit: Kierkegaards »Schattenrisse«. 33 Heide Schlüpmann: »Filmsprache als Körpersprache. Zu Béla Balázs‹ Ästhetik des Kinos von 1925, in: Birgit R. Erdle/Sigrid Weigel (Hg.): Mimesis, Bild und Schrift. Ähnlichkeit und Entstellung im Verhältnis der Künste, Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1996, S. 83-97, hier S. 86. Schlüpmann stellt Balázs’ Filmtheorie in eine historische Linie mit Marey und Charcot. 34 Roland Barthes: »Diderot, Brecht, Eisenstein«, in: ders.: Der entgegenkommende und der stumpfe Sinn, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1990, S. 94102, hier S. 97. 35 K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 80. 36 Ebd., S. 204.
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gung‹ und seinen Filiationen wird sie einen diskursiven Knotenpunkt finden. Zugleich steht die Möglichkeit eines positiven Wissens über den Menschen (erneut) zur Disposition. In der Abhängigkeit dieses Wissens von medialen Untersuchungsmethoden lauert eine Latenz, die dem unsicheren Status des Menschen als »empirisch-transzendente Dublette« (Foucault) geschuldet ist. Sie führt zu immer wieder neuen Versuchen einer Wissensproduktion und bedingt zugleich deren Abhängigkeit von kulturellen Zeichensystemen.
6. 2 » B eweg ung a l s A usd r uc k « Während der Film seinen Siegeszug durch die populären Vergnügungsstätten und Nickelodeons antritt, arbeiten Befürworter wie Gegner des neuen Mediums an seiner diskursiven Verbreitung. In dieser ersten Kinodebatte, die Jörg Schweinitz für die deutschsprachigen Länder zwischen 1909 und 1914 ansetzt,37 steht die provozierende Sichtbarkeit des kinematographischen Bewegungsbildes im Zentrum des argumentativen Für und Wider. Der Kinematograph rückt von Anbeginn (belebte und unbelebte) Körper in Bewegung ins Zentrum der Aufmerksamkeit. Dieses starke Interesse an physischen Bewegungsabläufen hat Tom Gunning als »gnostischen Impuls« des frühen Films bewertet.38 Dabei steht die affektive Mimik erneut auf dem Prüfstand: Sogenannte Facial Expression Films visualisieren besonders extreme mimische Verlaufsformen und bilden im Cinema of Attractions ein eigenes Genre aus.39 Die Attraktivität von Filmen wie FRED OTT’S SNEEZE (1894), MAY IRWING-JOHN RICE KISS (1896) oder THE BIG SWALLOW (1901) besteht für das Publikum in erster Linie darin, die physiologische Funktionsweise der Mimik in Nahsicht verfolgen zu können. Die diskursiv vermittelte Wahrnehmung des ›stummen‹ Films konzentriert sich also zunächst auf die Effekte seiner Visualität. Dazu zählt 37 Vgl. Prolog vor dem Film. Nachdenken über ein neues Medium. 19091914, hg. und kommentiert von Jörg Schweinitz, Leipzig: Reclam 1992. Anton Kaes läßt seine Anthologie (Kino-Debatte) ebenfalls 1909 beginnen, verlängert sie aber um eine zweite, etwa 1919 entflammte Debatte bis 1929. Als historische Zäsur gilt beiden Autoren der Erste Weltkrieg. 38 Vgl. T. Gunning: »In Your Face«, S. 23. 39 T. Gunning trennt dieses Attraktions- vom Narrationskino, in dem ab etwa 1910 Affektmimiken bewußt eingesetzt werden, um psychologisch motivierte Charaktere und Handlungen zu plausibilisieren; vgl. ders.: »The Cinema of Attractions: early Films, its Spectator and the Avant-Garde«, in: Thomas Elsaesser/Adam Barker (Hg.): Early Cinema. Space – Frame – Narrative, London: British Film Institute 1990, S. 56-62; ders.: D.W. Griffith and the Origins of American Narrative Film. The Early Years at Biograph, Urbana/Chicago: Univ. of Illinois Press 1991.
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an erster Stelle die optische Exposition bewegter Körper, insbesondere der Mimik. Deren psychologische Interpretation macht seit dem 19. Jahrhundert eine wissenschaftliche Psychologie möglich, die im Begriff ›Ausdrucksbewegung‹ eine folgenreiche Theoretisierung des Affektausdrucks unternahm. In der Hegemonie dieses wissenschaftlich-experimentellen Diskurses in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts kommt wiederum eine Zeichenökonomie zum Vorschein, die den Zeichen der Bewegung, die der Affekt-Ausdrucksbeziehung eingeschrieben sind, Priorität zuerkennt und sie medial repräsentiert. In seinem Essay über Die Kulturbedeutung der Kinematographie und der verwandten Techniken hat Hermann Häfker 1908 das Schlüsselwort »Bewegung als Ausdruck«40 geprägt und den Film mit der Pantomime verglichen. Er spannt in seinen Bemerkungen zum »Kinodrama« ein weites diskursives Netz zwischen dem mimischen und gestischen Ausdrucksmodus des Films und dem der Pantomime und schlägt den Bogen zu spezifisch modernen Ausprägungen wie dem Ausdruckstanz oder der Körperkultur. Ihr gemeinsames Gravitationszentrum bildet die von Häfker benannte Erkenntnisfigur »Bewegung als Ausdruck«. Diese Formel – und das begründet ihre diskursive Wirksamkeit – läßt sich ohne Schwierigkeit umkehren. Ihre Inversion zirkuliert nämlich als Ausdrucksbewegung gleichermaßen im Diskursfeld. Der Experimentalpsychologe Wilhelm Wundt hatte den Begriff 1874 in seiner Physiologischen Psychologie definiert und in Umlauf gebracht. Diese Austauschbarkeit der Begriffe verdeutlicht nicht nur, daß ›Ausdruck‹ und ›Bewegung‹ terminologisch ineins gesetzt werden können, sondern auch, wie sehr dieser Schlüsselbegriff den wissenschaftlichen und den ästhetischen Diskurs bezüglich der Affekt-Ausdrucksbeziehung strukturiert. So nahe Film und Pantomime aufgrund der allein auf Sichtbarkeit abgestellten Handlungen auch gerückt werden, als »neue Pantomime« stellt der Film jedoch gerade keine Pantomime dar, denn im Unterschied zu dieser tragen die Handlungen im Film keinen Symbolcharakter. Deshalb ist für Robert Petsch der Film eine »pantomimische Darstellung, welche bestimmte Gebiete des wirklichen Lebens in ihrer eigentümlichen Bewegung auffaßt und steigernd darstellt.«41 Sein abbildender Charakter unterscheidet den Film zeichenlogisch strikt von der Pantomime. Zugleich steigert er die Darstellung von Bewegung im Sinne größerer Komplexität. Deshalb überträgt Petsch dem Film die Aufgabe, Handlungen ›lebendiger‹ Menschen wiederzugeben:
40 H. Häfker: »Kulturbedeutung«, S. 3; s.o. Kap. 2.3 »Neuer Mimus durch die Kamera«. 41 R. Petsch: »Drama und Film«, S. 273.
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BEWEGUNGSBILD Eine solche Darstellung könnte durch allmählich volle Beherrschung der Technik und durch ihre wie selbstverständliche Unterordnung unter ein eigentlich ästhetisches Prinzip zur wirklichen künstlerischen Darstellung bestimmter Lebensgebiete des Menschen führen: [...] jener ungeheuren Schicht des gesellschaftlichen und öffentlichen Lebens, die wir vor allem in unserem Handeln, in unserer zielbewußten oder kennzeichnenden Bewegung offenbaren.42
Petsch verpflichtet den Film unter Rückgriff auf lebensphilosophische Annahmen auf das ästhetische Prinzip des Realismus. Er wird als Dokument des Lebens betrachtet, das er eins zu eins abbilde. Die ästhetische Doktrin des Realismus ergibt sich für Petsch fast zwangsläufig aus den medialen Voraussetzungen der filmischen Apparatur: der optischen Reproduktion äußerer Realität.43 Der Kurzschluß zwischen der Logik der abbildenden Reproduktion und der Rezeption des reproduzierten bewegten Bildes macht den Film als epistemisches Objekt jedoch unsichtbar.44 Die Utopie einer Ästhetisierung des Films besteht im Zusammenfall des Erkenntnisgegenstandes ›Leben‹ und seiner Darstellung im bewegten Kinobild, den der Begriff der Bewegung leisten soll.45 Nicht umsonst wird positives Wissen über den Menschen nun vor allem auf dem Zelluloidstreifen gesucht. Dieser Darstellungsutopie folgt auch Robert Petsch, wenn er behauptet, den modernen Menschen dränge etwas dazu, wenigstens in künstlerischer Darstellung den handelnden, den körperlich bewegten, den durch sein Spiel sich ausdrückenden – oder auch sich verhüllenden Menschen als solchen so stark wie möglich herauszuarbeiten, die Sprache der Gebärde mit einseitiger Betonung ins Ungemessene zu erweitern und die Welt oder doch eine bestimmte Schicht der Welt ganz und gar in solche bezeichnende Bewegung aufzulösen.46
42 Ebd. 43 Die Summe dieser ästhetischen Doktrin stellt Siegfried Kracauers erst 1960 veröffentlichte Theorie des Films dar. Für ihn besitzt der Film »eine — der Fotografie versagte — Affinität zum Kontinuum des Lebens oder ›Fluss des Lebens‹« (ders.: Theorie des Films. Die Errettung der äußeren Wirklichkeit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1960, S. 109). 44 Die Bedeutung der filmischen Darstellung von Realität sei »für den heutigen Menschen darum die unvergleichlich bedeutungsvollere, weil sie den apparatfreien Aspekt des Wirklichen [...] gerade auf Grund ihrer intensivsten Durchdringung mit der Apparatur gewährt« (Walter Benjamin: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit, in: ders.: Gesammelte Schriften, Bd. I/2, S. 431-508, hier S. 459). 45 Zur lebensphilosophischen Gleichschaltung von Film, Bewegung und Leben vgl. K. Prümm: »Die beseelte Maschine«, S. 153-156. 46 R. Petsch: »Drama und Film«, S. 273.
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Der Wissensdrang richtet sich explizit auf den »körperlich bewegten« Menschen. Wie das Gros der Filmtheoretiker seiner Zeit glaubt auch Petsch, daß erst der Film diesen sichtbar gemacht habe. Der unsichere Status des modernen Menschen in seiner Doppelfunktion als Subjekt und Objekt der Erkenntnis findet so in der filmischen Erfassung von ›Leben‹ eine scheinbar ganz ›natürliche‹ Aufhebung. Der Film erweitert für Petsch die Erkenntnis der affektiven Körperbewegungen, weil diese in ihm – im Unterschied zu Theater und Pantomime – aus ihrer Konventionalisierung bzw. Symbolisierung entlassen und also ganz ›natürlich‹ seien. Jenseits der Register der Rhetorik und der Schauspieltheorie öffne er einen Bereich des »Ungemessenen«. In diesen Bereich fallen ausdrücklich auch die Strategien der Verstellung, simulatio und dissimulatio: Der spielende wie der sich verhüllende Mensch werden unter die Observanz einer Apparatur gestellt, die solche Strategien durchschaubar machen soll. Von einem solchen »Hilfsmittel« hatte auch Kierkegaards sympathetischer Menschenbeobachter geträumt.47 Die gefilmten menschlichen Bewegungen stellen für Petsch deshalb eine Erweiterung des positiven Wissens vom Menschen dar. Gleichwohl beharrt er darauf, daß der Film mit der Darstellung von Bewegungen diese zugleich signifiziere. Nur generiert die »bezeichnende Bewegung«, bei der Auf- und Bezeichnung zusammenfallen, Bedeutung auf eine Weise, die den Vorgang der Bezeichnung vergessen läßt. Es handelt sich für Petsch gewissermaßen um eine Signifikation unterhalb des Bewußtseins von Beobachtern, um eine ›unmittelbare‹ Bezeichnung, die für sich selbst spricht. Zugleich wird diese selbst der Bewegung unterworfen. Die am Film gewonnene Erkenntnis der Bewegung läßt sich nicht als Körperzeichensystem fassen. Statt dessen installiert der Film ein dynamisches Körperausdruckssystem, das Mimesis an die Welt betreibt. Der Film bedient für Petsch einen Erkenntniswillen nach dem Sehen von Bewegung, den Balzac fast hundert Jahre zuvor in seiner Theorie de la demarche so brillant formuliert hatte. »Diesem Streben nun kommt die Erfindung der Kinematographie entgegen.«48 Das filmische Bewegungsbild wird dabei kurzerhand mit der aufgezeichneten Bewegung gleichgesetzt, denn der Film biete die Möglichkeit, »die Welt, insofern sie sich bewegt und insoweit sie am deutlichsten in der Bewegung ihr Wesen offenbart, mit aller Schärfe zu erfassen und unseren Augenschein in vollkommenster Weise zu ergänzen«.49 Zwischen Auge und Apparat besteht für Petsch kein Unterschied, sofern der Film nur das ergänzt und damit objektiviert, was dem menschlichen Sehen entgeht. Mit dieser Gleichset47 S. o. Kap. 3.2 Entzug der Sichtbarkeit: Kierkegaards »Schattenrisse«. 48 R. Petsch: »Drama und Film«, S. 274. 49 Ebd.
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zung von menschlichem und apparativem Sehen spricht Petsch eine weitere Medienutopie seiner Zeit an, wonach technische Medien – mit einem Wort Marshall McLuhans – nichts als Extensionen menschlicher Organe, nichts als Prothesen der Wahrnehmung seien.50 Deshalb eignet sich der Film für Petsch auch so hervorragend zur Erkenntnis des lebenden Menschen. Den Umgang mit der filmisch erfaßten Wirklichkeit nennt er wissenschaftlich, denn man könne wie beim physikalischen Experiment den gleichen Vorgang unter wechselnden Umständen beobachten, [...] ein bewegtes Bild von seinem natürlichen Hintergrunde lösen, es in eine ›gemäßere‹ Umgebung hineinstellen und abwandeln. Wir können mit Hilfe von Zeitlupe und Zeitraffer eine Bewegung, die sich im Nu vollzieht, auf beliebig lange Zeit ausdehnen und das Wachstum einer Pflanze [...] in wenige Augenblicke zusammendrängen [...].51
Petschs Vergleich der Möglichkeiten einer filmischen Bewegungsanalyse mit der Verfahrenslogik physikalischer Experimente rückt den Objektivitätsanspruch technischer Medien in den Vordergrund: Durch den Film soll eine Experimentalisierung des Lebens gelingen, die die Logik moderner Experimentalsysteme wie Duchennes Allianz von Elektrophysiologie und Fotografie fortschreibt und dem medientechnischen Stand der Zeit anpaßt. Mit Zeitlupe und Zeitraffer benennt Petsch zudem zwei Wahrnehmungsdispositive, die das Verständnis zeitlicher Bewegungsabläufe grundsätzlich verändern. Durch die mittels Zeitlupe und Zeitraffer ermöglichte Aufspaltung des Augenblicks sollen Analyse und Erkenntnis von Bewegungsvorgängen gelingen. Die Erfassung der fruchtbaren Augenblicke einer Handlung geht dabei – wie schon bei Duchenne – aus der Verantwortung der Ästhetik in die der Wissenschaft über: Nicht mehr das (Künstler-)Subjekt entscheidet über die Evidenz eines Augenblicks, sondern der Experimentator, der die filmischen Aufzeichnungen bewertet. Was sich dabei an Wissen über den Menschen gewinnen läßt, wird technischen Medien zu verdanken sein. Nicht umsonst setzt vor allem die zeitgenössische Psychiatrie und Pathophysiologie den Film ein, um Bewegungsanomalien zu erfassen und zu beschreiben.52 Der wissenschaftliche Einsatz des Films profitiert von der Darstellungsutopie des Films, wonach er ein realistisches und 50 Zur Gleichsetzung von menschlichem Auge und Kameralinse vgl. P. Löffler: »›Ein Dichter sieht aus wie ein Chemiker‹«, S. 142f. 51 R. Petsch: »Drama und Film«, S. 274. 52 Vgl. etwa Hans Hennes: »Die Kinematographie im Dienste der Neurologie und Psychiatrie, nebst Beschreibung einiger seltener Bewegungsstörungen«, in: Medizinische Klinik 6 (1910), S. 2010-2014 sowie die weiterführenden Angaben in M. Weiser: Medizinische Kinematographie, S. 130-135.
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objektives Bild einer Welt in Bewegung liefere. Ästhetische Doktrin und Wissenschaftlichkeit werden so – wie schon bei der Fotografie – miteinander korrelierbar und sollen die Objektivität der gefilmten Körperbewegungen und Handlungen beglaubigen. In diesem Sinne argumentiert der spätere Wehrmachtspsychologe Philipp Lersch in seiner 1932 erschienenen Schrift Gesicht und Seele: Im Rahmen einer umfassenden, im Zusammenwirken psychologischer und psychiatrischer Fachleute durchgeführten charakterologischen Begutachtung wurde u.a. auch das im Film festgehaltene Mienenspiel der zu begutachtenden Personen als diagnostisches Mittel herangezogen. Die Aufnahmen wurden in konkreten Lebenssituationen ohne Wissen der Personen gemacht und sorgfältig sowohl in ihren einzelnen Momentbildern als auch in ihrem Gesamtverlauf analysiert. Die Mannigfaltigkeit der mimischen Formen und die Eindringlichkeit ihres Ausdrucksgehaltes, die dabei in Erscheinung traten, waren überraschend. [...] Somit wird hier ein Erfahrungsmaterial vorgelegt, das auch abgesehen von jeder wissenschaftlichen Verarbeitung einen bleibenden Wert besitzt als ein Stück anschaulicher Wirklichkeit.53
Lersch ruft hier nicht nur einen Topos der Filmdebatte auf, wonach der Film Wirklichkeit exakt und unmittelbar wiedergebe. Der Film erhält zudem als »diagnostisches Mittel« wissenschaftliche Dignität. Zugleich markiert Lersch mit »Mannigfaltigkeit« und »Eindringlichkeit« zwei Parameter der wissenschaftlichen Untersuchung der Mimik, die ihrer komplexitätssteigernden Aufzeichnung durch den Film zu verdanken sind. Diese vermeintliche Glaubwürdigkeit der filmischen Wiedergabe von Realität zweifeln jedoch Kinogegner an, deren Kritik sich oftmals am filmischen Illusionismus und seinen Auswirkungen auf das Unbewußte des Kinopublikums entzünden.54 In diesem Sinne argumentiert ein gewisser Eugen Kalkschmidt: »Der Filmeinblick in Welt und Leben beruht freilich auf einer Fiktion, auf der Glaubwürdigkeit der vorgespielten ›Tatsachen‹ des Laufbildes. Sie sind Tatsachen nur insofern, als sie in der gegebenen Folge wirklich einmal vor der photographischen Linse sich abgespielt haben.«55 Die indexikalisch erzeugte Evidenz steht im Einklang mit jener Suggestivwirkung des Films auf seine Zuschauer, die Ki53 Ph. Lersch: Gesicht und Seele, S. 7. 54 Diese als schädlich diagnostizierten Wirkungen werden meist mittels medizinischer Begriffe als hypnotisch bzw. suggestiv beschrieben und zugleich kriminalisiert; zum Diskursereignis »kinematographisches Verbrechen« vgl. Stefan Andriopoulos: Besessene Körper. Hypnose, Körperschaften und die Erfindung des Kinos, München: Fink 2000. 55 Eugen Kalkschmidt: »Die Macht des Films«, in: Hochland. Monatsschrift für alle Gebiete des Wissens, der Literatur und Kunst, 26. Jg. (1929), H. 1, S. 633-647, hier S. 643.
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nogegner gern pathologisch nennen, weil die Filmbilder zugleich »mit all der suggestiven Eindringlichkeit, die der photographischen Optik eigen ist [wirken]. Unbewußt erliegt die Menge dieser Suggestion und ist glücklich benebelt in einem Zustande, der halb Rausch, halb Wahn ist«.56 Diese Ambivalenz der Suggestivwirkung – »halb Rausch, halb Wahn« – verhindert, daß das Publikum den filmischen Illusionismus im Unterschied zur ästhetischen Illusion durchschaut. Das ist zumindest die Überzeugung des Tübinger Ästhetikprofessors und Kinogegners Konrad Lange, der nicht müde geworden ist, die schädlichen Wirkungen der filmischen Suggestion anzuprangern.57 Ein anderer Kinokritiker hat den Film gleich selbst zu einem physiologischen Experiment erklärt: »Die Menschen müssen vor Erschütterung in ihm zappeln wie die Frösche Galvanis. Sie fordern etwas für ihre Nerven, das ihnen weder Rembrandt noch Jean Paul geben kann.«58 Mit dem kontemplativen Betrachter bzw. dem stillen Leser verabschiedet der Film zugleich das autonome, selbstreflexive Subjekt als Adressaten der idealistischen Ästhetik. Die suggestive Wahrnehmung des Films, der sein Publikum unterhalb des Bewußtseins trifft, entspricht nun allerdings paßgenau einer Wirklichkeitsauffassung, die das Subjekt der Wahrnehmung mit Ernst Mach als momentane »Summe seiner Empfindungen« figuriert.59 Das hat auch Robert Petsch klar erkannt: Der Film selbst wird als Modell einer Welt in Bewegung ins Spiel gebracht, der die »zusammengesetzte[n] Erscheinungen aus dem Ineinanderwirken, aus dem Zusammenspiel verschiedener Kräfte zu verstehen« hilft.60 Mit Rhythmus und Geschwindigkeit benennt Petsch zudem Brennpunkte der zeitgenössischen Kulturkritik, die zugleich eine der Medien ist: »Es ist, als ob die Bewegung der Hand an der Kurbel, als ob Rhythmus und Tempo des Apparates, der ja nicht selten mit rasendem Automobiltempo an die Gegenstände herangeschleudert wird, den ganzen Vorgang beherrschten« und ein »eigentüm-
56 Ebd., S. 644. 57 Konrad Lange hat deshalb stets die ästhetische Illusion gegen die schädliche Suggestivmacht der bewegten Bilder verteidigt (vgl. ders.: Der Kinematograph vom ethischen und ästhetischen Standpunkt, Tübingen: Schriften des Dürerbundes, Bd. 100, 1912). 58 Ludwig Benninghoff: »Film!?«, in: Der Kreis. Zeitschrift für künstlerische Kultur, 6. Jg. (1929), 6. H. S. 321-325, hier S. 325. 59 Vgl. Machs epochales Werk Die Analyse der Empfindungen. Die Suggestivmacht des Films wird gern mit seiner angeblichen Unmittelbarkeit verwechselt. Für Erwin Panofsky etwa besitzt er die »Macht, psychische Erfahrungen mitzuteilen durch ihre unmittelbare Projektion auf die Leinwand, wobei der Zuschauer sozusagen vor Augen hat, was die betreffende Person im Film innerlich wahrnimmt« (ders.: »Stil und Medium im Film«, S. 23). 60 R. Petsch: »Drama und Film«, S. 274; 275.
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liches Pathos der Bewegtheit« hervorbrächten.61 Der Film avanciert hier zum Erkenntnisinstrument in einer Welt der beschleunigten Kommunikationswege und funktionalen Ausdifferenzierung. Komplexitätssteigernd soll sich der Film auch auf die Erkenntnis von Körperbewegungen auswirken. Für Petsch vermittelt er »nicht mehr und nicht weniger als eine allgemeine körperliche, im engeren Sinne des Wortes sprachlose, also unmittelbare, sinnlich erfaßbare, höchst ausgearbeitete Bewegungsphysiognomik.«62 Diesen Begriff hat Ludwig Klages geprägt, um den Abstand zur »älteren Physiognomik« zu markieren.63 Er wird durch den Wechsel von statischen Ausdruckszeichen zu dynamischen Ausdrucksbewegungen definiert und durch den Film medientechnisch implementiert. Das zeigt sich auch darin, daß Petsch Häfkers filmästhetisches Konzept einer »Bewegung als Ausdruck« fast wörtlich aufnimmt. Der Darstellungslogik von Körperbewegungen folgend, koppelt Petsch – wie schon Wundt – Unmittelbarkeit und Sichtbarkeit miteinander; allerdings um den Preis, daß den unmittelbar sichtbaren Gebärden eine Tiefe abgehe, die für den Menschen »als ausgesprochen geistige[m] Wesen«64 typisch sei. ›Tiefe‹ identifiziert er in bester physiognomischer Tradition mit der symbolischen Einheit des Menschen, die jedoch dem Film verwehrt sei, weil »ein noch so bewegtes und ausdrucksvolles Spiel seiner Hände, seiner Gesichtsmuskeln, seiner Augen [...] doch die feinsten Regungen der Seele, die letzten Entscheidungen der Persönlichkeit, die tiefsten Beweggründe des Denkens nicht unmittelbar symbolisch zu erhellen«65 vermöge. Die gepriesene Unmittelbarkeit des Films verhindert geradezu, daß sich Oberfläche und Tiefe entsprechen können – oder richtiger: der Film macht deren Unterscheidung obsolet. Petschs Argumentation bleibt dagegen einem Verständnis von Individualität verpflichtet, das im Inkommensurablen einer verborgenen ›Seele‹ oder ›Persönlichkeit‹ wurzelt. In bester phonozentrischer Tradition haust auch bei Petsch der Geist in der Stimme: »Jede letzte Tiefe der Menschheit im Ganzen und jede ausgesprochene Wesensart braucht recht eigentlich das gesprochene Wort [...].«66 Der Ausfall gesprochener Sprache macht den Film jedoch nur für einen Diskurs ›stumm‹, der seine akustische Aufführung im Kinosaal bewußt ausblendet, um »das gespro-
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Ebd., S. 275. Ebd., S. 276. Vgl. W. Hehlmann: Geschichte, S. 225. R. Petsch: »Drama und Film«, S. 280. Ebd., S. 280f. Ebd., S. 281.
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chene Wort« und also die Stimme als Ausweis individueller Einzigartigkeit zu feiern.67 Das »Fehlen jeder seelischen Tiefe« hatte jedoch bereits Herbert Tannenbaum als Voraussetzung einer filmischen Phantastik angesehen, durch die »die Personen des Lichtbildes gänzlich ihrer irdischen Bodenständigkeit [entwachsen]: sie werden zu eigenartigen, triebhaft lebendigen, bewegten Phantomen, sie werden unheimlich phantastisch.«68 Phantome sind optische Täuschungen, Geschöpfe des triebhaften Unbewußten und mithin stumme Wiedergänger des menschlichen ›Geistes‹ – Dubletten dessen, was Petsch dem Film verweigert. Nicht umsonst bevölkern sie das Kino jener Zeit, das eine deutliche Vorliebe für Doppelgänger, Golems, Vampire und Geister hegt.69 Als unheimlich erscheinen solche figürlichen Visualisierungen des ›Geistes‹ aber, weil sie die Macht des Kinos als »Illusionsmaschine« über die Phantasie ihrer Zuschauer offenbaren – und diese Macht auch noch ausstellen.70 Neben der Oberflächlichkeit des Films macht Petsch die fehlende Sensibilität einer mediengestützten Beobachtung für die ›Austreibung‹ des Geistes verantwortlich. Zunächst argumentiert er noch ganz im Sinne des Wundtschen psychophysischen Parallelismus, wenn er unterstreicht, auch »jene geheimsten Regungen gehen mit entsprechenden Erscheinungen innerhalb des Körperlichen einher« – allerdings glaubt er, diese seien »von einer Feinheit, daß sie sozusagen nur am lebenden Objekt studiert werden können und auch da erhebliche Schulung und eigenste seelische Vertiefung des Beobachters erfordern«.71 Petsch erklärt die physische Anwesenheit des Beobachteten und die Einfühlung des Beobachters zu Voraussetzungen einer gelungenen körpersprachlichen Kommunikation. Seelenkundliches Wissen und Einfühlung sind nun keineswegs beim Kinobesucher anzutreffen, der sich vielmehr von optischen Attraktionen und melodramatischen Handlungen unterhalten lassen will. Diese Unterscheidung zwischen der Kommunikation Anwesender und der Abwesender, die mit dem massenhaften Einsatz von Kommuni67 Dieses Argument wird später auch gegen den Tonfilm angeführt. Für Friedrich Fuchs stellt dieser nicht nur einen Widerspruch »in sich« dar, weil es unmöglich sei, »die menschliche Stimme auf technischem Wege zu reproduzieren«, er verweist auch auf die Bedeutung von persona (lat. ›Maske‹ bzw. ›Persönlichkeit‹) und personare (›seine Stimme ertönen lassen‹), um seine Gleichschaltung von Stimme, Logos und Persönlichkeit zu rechtfertigen (ders.: »Grenzen des Films«, S. 94). 68 H. Tannenbaum: »Probleme des Kinodramas«, S. 60. 69 Tannenbaums Argument kommt nicht überraschend. Zeitgleich kamen Max Macks DER ANDERE mit Albert Bassermann und DER STUDENT VON PRAG von Stellan Rye mit Paul Wegener in die Kinos — Filme, die das Doppelgängermotiv entfalten. 70 Vgl. F. Kittler: »Romantik — Psychoanalyse — Film«. 71 R. Petsch: »Drama und Film«, S. 281.
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kationstechnologien zunehmend zur Regel wird, hebt die wissenschaftliche Ausdruckspsychologie auf. Sie wird sich genau die Ausforschung jener »geheimsten Regungen« vornehmen, von denen Petsch behauptete, der Film könne diese nicht sichtbar machen, und dabei vorrangig auf den Film als Speichermedium, das psychologische Experiment und die Selbstbeobachtung ihrer Probanden setzen. Der Film soll sich dabei gerade als Apparat der Erkenntnis bewähren und jene »feinsten Veränderungen im Glanze des Auges, in einem eigentümlichen Leuchten der Stirn, in einer kaum merklichen Wendung des Kopfes« sichtbar machen, von denen Petsch behauptete, er könne sie »kaum aufnehmen und rein wiedergeben«.72 Denn er unterschlägt hier die einmal gemachte Einsicht, daß die aufgezeichneten Bewegungen anschließend Bild für Bild minutiös analysiert werden können. Die »feinsten Veränderungen« der Mimik und Gestik markieren für Petsch zugleich die Grenze des schauspielerisch Möglichen, denn der »Schauspieler, der sie für die Aufnahme andeuten wollte, würde sofort einer Vergröberung verfallen, [...] er würde scheinbar nur wenig verstärkte, in Wahrheit artverschiedene Bewegungen dafür einsetzen, die eben so recht der filmischen Schicht unseres Erlebens entsprechen«.73 Die marginalen Körperbewegungen verweisen für Petsch hingegen auf die Inkommensurabilität des Individuums, die sich dem Film verschließe. Die Unterscheidbarkeit der »geringsten Anzeichen« ist jedoch Voraussetzung für die Distinktheit der mimischen und gestischen Körpersprache, über die in erster Linie das filmische Bewegungsbild informiert hat. Den epistemologischen Stellenwert solcher mimischer Details stellen Regisseure wie Fritz Lang heraus, indem sie fragen: »Haben wir vor dem Film gewußt, wieviel das Zucken eines geschlossenen Mundwinkels, das Heben oder Senken eines Augenlides, das leise sich Abwenden eines Kopfes auszudrücken vermögen?«74 Die Observation geringster Anzeichen des Affekts wird zum Testfall einer psychologisch informierten filmischen Ästhetik, die gelernt hat, seinen ›Ausdruck‹ selbst in flüchtigen Zeichen zu erkennen. Sie kann dabei auf die Affektphysiologie eines Duchenne de Boulogne zurückgreifen, der das muskuläre Zusammenspiel beim Zustandekommen von Affektbildern experimentell untersucht und fotografisch visualisiert hatte, wie auch auf Wundts psychologische Theorie der Ausdrucksbewegung. Entsprechend definiert Wsewolod Pudowkin in einem »Ausdruck und Bewegung« überschriebenen Kapitel 72 Ebd. 73 Ebd. 74 Fritz Lang: »Die mimische Kunst im Lichtspiel« (1929), in: Rolf Aurich, Wolfgang Jacobsen (Hg.): Werkstatt Film: Selbstverständnis und Visionen von Filmleuten der zwanziger Jahre, München: edition text + kritik 1998, S. 48f., hier S. 48.
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seiner Schrift Filmregie und Filmmanuskript als Aufgabe des Filmregisseurs, »[d]as Verhalten des Darstellers vor dem Apparat, die Kontrolle der Bewegungen, in denen sich der ›Ausdruck‹ veranschaulicht«, anzuleiten.75
6 . 3 P s y c ho l o g i s c he r Te s t u nd T es t l eis t ung d e s S c ha us p iel er s Den Distinktionsgewinn mimischer Nuancen, die durch den Film analysiert werden können, wissen auch die experimentelle Psychologie und ihre Ableger zu schätzen. Da man »von fremdem Seelenleben [...] nur durch die Wahrnehmung von Bewegungen« wisse, ist für Max Isserlin klar, »daß die Psychopathologie das dringlichste Interesse an der Erforschung aller Ausdrucks- und Motilitätsphänomene haben muß«.76 Isserlin macht wiederum ein Wissensdefizit zum Ausgangspunkt seiner Argumentation, das den Einsatz neuer Forschungsmethoden legitimiere: »Nicht nur wissen wir noch außerordentlich wenig von den feineren psychophysischen Mechanismen, welche Willkür- und Ausdrucksbewegungen – besonders pathologischen – zugrunde liegen, sondern selbst über allgemeine Gesichtspunkte, unter denen wir die Bearbeitung dieser Erscheinungen versuchen wollen, herrscht nichts weniger als einmütige Klarheit.«77 Dieser Mangel erzwingt für ihn geradezu den Einsatz technischer Medien zur Erforschung abnormer Bewegungserscheinungen. Seine Forderung ist auf fruchtbaren Boden gefallen. Der spätere Begründer der topologischen Psychologie,78 Kurt Lewin, teilt mit dem Gestaltpsychologen Wolfgang Köhler, dessen Assistent am Berliner Psychologischen Institut Lewin in den 1920er Jahren ist, das Interesse am Film sowohl hinsichtlich seiner wissenschaftlichen Anwendung als auch seiner Rolle in der populären Kultur. Besondere Aufmerksamkeit widmen beide Forscher den Filmen Sergej Eisensteins und seiner Montagetheorie. Wie Lewin beschäftigt sich auch Eisenstein seit Anfang der 75 Wsewolod Pudowkin: Filmregie und Filmmanuskript, Berlin: Verlag der »Lichtbildbühne« 1929, S. 124f. 76 Max Isserlin: »Über die Beurteilung von Bewegungsstörungen bei Geisteskranken«, in: Zeitschrift für die gesamte Neurologie und Psychiatrie, Originalien, 3. Bd. (1910), S. 511-532, hier S. 511. 77 Ebd. 78 Kurt Lewin (1890-1947) emigrierte 1933 in die USA. Gordon W. Allport würdigt ihn als »Inventor of ›topological‹ and ›vectorial‹ psychology«; vgl. Ders.: »The genius of Kurt Lewin«, in: Journal of Personality XVI, Nr. 1 (Sept. 1947), S. 1-10, hier S. 6. Zur Biografie Lewins vgl. Helmut E. Lück: »Der Filmemacher Kurt Lewin«, in: Gruppendynamik. Zeitschrift für angewandte Sozialpsychologie, H. 2 (Juni 1985), S. 131-141.
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1920er Jahre mit ausdruckspsychologischen Fragestellungen.79 Lewin trifft den Regisseur 1929 in Berlin und bespricht mit ihm einige seiner seit 1923 entstandenen wissenschaftlichen Filme, und Köhler will Eisenstein für einen Vortrag am Psychologischen Institut gewinnen.80 Kurt Lewin konzentrierte seine eigenen Forschungen im Gebiet der Affekt-, Willens- und Handlungstheorie zunehmend auf sichtbare Bewegungsabläufe und Ausdrucksbewegungen. Zugleich richtete er seine Experimente und Analysen an den Darstellungsmöglichkeiten des Films aus.81 In der Zeitschrift Psychologische Forschung erscheint 1926 Lewins Aufsatz Filmaufnahmen über Trieb- und Affektäußerungen psychopathischer Kinder (verglichen mit Normalen und Schwachsinnigen),82 der zu einer Serie von 20 Studien gehört, die unter dem Titel Untersuchungen zur Handlungs- und Affektpsychologie zwischen 1926 und 1930 veröffentlicht werden. Er wird eingeleitet durch grundsätzliche Überlegungen über die »Probleme und Schwierigkeiten wissenschaftlicher Filmaufnahmen von kindlichen Psychopathen«, in denen Lewin den Film als geeignetes Mittel für die Visualisierung von dynamischen psychischen Prozessen vorstellt: Der Film kommt auf dem Gebiete der Psychopathologie ebenso wie auf anderen Gebieten der Wissenschaft als Hilfsmittel der wissenschaftlichen Forschung und der Demonstration in Frage. [...] Die Möglichkeiten des Filmstreifens, einen Geschehensablauf festzuhalten, machen ihn zu einem verlockenden Hilfsmittel für die wissenschaftliche Erforschung und Demonstration auf allen Gebieten, wo charakteristische Eigentümlichkeiten nicht im einzelnen, momentanen Zustand, sondern erst im Ganzen des Geschehensablaufs zutage treten. Ermöglicht der Film doch, den flüchtigen, manchmal überraschenden Ablauf des Geschehens einer wiederholten, ruhigen Betrachtung zu unterzie79 Bereits 1922 sollte Eisenstein einen Aufsatz zum Thema Ausdrucksbewegung schreiben. Seine Überlegungen gehen 1924 in den Aufsatz Montage der Filmattraktionen ein; vgl. Bulgakowa: »Eisenstein und die deutschen Psychologen«. 80 Zu einem Vortrag ist es aller Wahrscheinlichkeit nicht gekommen. Auch, daß Eisenstein eine für den Oktober 1929 geplante Vorlesung am Berliner Institut der Psychoanalyse mit dem Titel Ausdrucksbewegung tatsächlich gehalten hat, läßt sich nicht belegen (ebd., S. 19f). 81 »Trotz bescheidener Mittel und umständlich zu handhabender Apparaturen hat Lewin in den zwanziger Jahren eine umfangreiche Aktivität auf dem sich neu anbietenden Felde der kinematographischen Aufzeichnung von Verhaltens- und Handlungsabläufen entwickelt« (Einführung zur KurtLewin-Werkausgabe, hg. von Carl-Friedrich Graumann, Bd. 6, hg. von Franz E. Weinert und Horst Gundlach, Bern: Huber/Stuttgart: Klett-Cotta 1982, S. 12f). 82 Kurt Lewin: »Filmaufnahmen über Trieb- und Affektäußerungen psychopathischer Kinder (verglichen mit Normalen und Schwachsinnigen)«, in: Kurt-Lewin-Werkausgabe, Bd. 6, S. 41-74.
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BEWEGUNGSBILD hen, eventl. im verlangsamten Tempo, und so Einzelheiten oder neue Seiten des Geschehens zu erforschen, die der einmaligen Betrachtung, die unmöglich zugleich genügend universell und speziell eingestellt sein kann, entgehen müssen.83
Erst das filmische Bewegungsbild und seine technische Manipulierbarkeit etwa in der Zeitlupe konstituieren für Lewin einen wissenschaftlich beobachtbaren Gegenstand: Die Analyse von Bewegungsabläufen macht Nuancen bzw. Unterschiede sichtbar, die jedem noch so aufmerksamen Auge in der einmaligen Betrachtung entgehen müssen. Deshalb scheint der Film »vor allem prädestiniert zur Feststellung der im engeren Sinne sichtbaren Geschehensabläufe, also der Pathologie der Bewegung, der Bewegungsstörungen und -anomalien einschließlich des Ausdrucksgeschehens. Man kann Myotonie, Tics, enzephalitische Bewegungsstörungen, allgemeine Verlangsamung oder Beschleunigung, Eckigkeit und Rundheit der Bewegung usf. feststellen und durchforschen«.84 Anomalien, Eigenheiten und Störungen des Bewegungsablaufs können erst als solche erkannt werden, wenn ein geeignetes Medium sie zur Darstellung bringt. Auch Duchenne de Boulogne hatte solche Anomalien des mimischen Apparats mittels seines Experimentalsystems – dem Verbund aus elektrophysiologischem Experiment und fotografischer Aufzeichnung – sichtbar gemacht und fixiert.85 Der Film als Visualisierungstechnik bildet die Bedingung der Möglichkeit ihrer positiven Erscheinung. Er generiert Sachverhalte, die durch ein medial vermitteltes, vergleichendes Sehen erst als pathologisch eingestuft werden können. Der Vergleich funktioniert allerdings nur auf der Basis einer angenommenen Normalität von Bewegungsmustern, von denen sich die filmisch sichtbar gemachten pathologischen unterscheiden müssen. Bewegungsstörungen sind jedoch, führt Lewin weiter aus, bei kindlichen Psychopathen nicht entscheidend: »Das Anormale liegt vielmehr in der Art der psychischen Reaktion, dem Aufbau der psychischen Spannungen, kurz in der Dynamik des psychischen Geschehens [...].«86 Lewin problematisiert daher die Rolle des Films für diese spezielle Fragestellung: »Es fragt sich, ob man somit nicht vor einer Aufgabe steht, die die Möglichkeiten des Films prinzipiell übersteigt, der ja nur Optisches zu erfassen vermag.«87 Lewin referiert hier eine gängige Position der KinoDebatte, die die Leistung des Films auf die Erfassung optischer Oberflächenreize beschränkt sehen möchte. Dieses Argument führt er jedoch nur 83 84 85 86 87
Ebd., S. 41. Ebd. Vgl. P. Löffler: »Mimische Störungen«, bes. S. 176-183. K. Lewin: »Filmaufnahmen«, S. 42. Ebd.
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an, um die ›Psychologie des Films‹ präziser zu bestimmen und gegenüber der wissenschaftlichen psychologischen Analyse, die den Film zu analytischen Zwecken einsetzt, zu positionieren: Für den Spielfilm ist die Aufgabe, Psychisches zu zeigen, allerdings durchaus geläufig. Aber dort handelt es sich um schauspielerische Leistungen, um ein Benehmen der aufgenommenen Person also, das direkt darauf abzielt, u.a. gewisse psychische Prozesse für den Zuschauer sichtbar werden zu lassen. Für die wissenschaftliche psychologische Filmaufnahme steht dagegen in Frage, wie weit die psychischen Prozesse in Situationen, wo die betreffende Person es nicht auf Darstellung anlegt, in Erscheinung treten und zwar in einer über die Möglichkeiten der gewöhnlichen Beobachtung hinausgehenden Weise.88
Während für Lewin das psychologisierende Rollenspiel in Spielfilmen legitim ist, muß die wissenschaftliche Filmaufnahme genau dieses Rollenspiel unterbinden: Wo der Schauspieler psychische Prozesse darstellt, soll der Proband im filmisch arrangierten psychologischen Test seine Affekte ungewollt und unbewußt aus einer gleichwohl herbeigeführten Situation heraus äußern. Mit dieser Unterscheidung zwischen ›künstlichem‹ Schauspiel im kommerziellen Spielfilm und ›natürlichem‹ Verhalten im psychologischen Testfilm ist die epistemologische Grundannahme jeglicher wissenschaftlicher Verwendung des Films benannt. Der Filmkamera fällt hierbei als ›erweitertem Auge‹ nicht nur die Rolle zu, psychische Prozesse in einer Präzision und Detailgenauigkeit zu erfassen, die jedem menschlichen Beobachter verborgen bleibt. Die Kamera enthüllt darüber hinaus ein ›optisch Unbewußtes‹, das durch sie allein evident wird – das macht zumindest Kurt Lewin glauben: »Zweifellos sind der filmischen Darstellung und Erforschung psychisch relevante Leistungen zugänglich, insbesondere, sofern es sich um manuelle Arbeiten handelt.«89 Manuelle Arbeiten bzw. gewöhnliche Verrichtungen, die eine gewisse Geschicklichkeit verlangen, eignen sich aus der Sicht Lewins besonders gut für die filmische Erfassung psychologisch relevanten Verhaltens, weil in den dabei auftretenden Schwierigkeiten bzw. Fehlhandlungen das Wirken psychischer Kräfte deutlich sichtbar werde.90 Filmisch untersucht wird also insbesondere der Mikrobereich des Verhaltens, der damit zugleich wissenschaftliche Relevanz beanspruchen kann. So wurde Kurt Lewins erster Auftritt auf dem Internationalen Kongreß für Psychologie 1929 in New Haven, Connecticut, vor allem deshalb zum Er88 Ebd. 89 Ebd. 90 Ebd.
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folg, weil er seinen Film Hanna setzt sich auf den Stein vorführte, der nicht wenig zu seiner wissenschaftlichen Reputation in den USA beitragen sollte.91 Dieser Film zeigt das eineinhalbjährige Mädchen bei dem Versuch, sich auf einen Stein zu setzen – eine schwierige Aufgabe, wie Lewin erläutert hat, weil es dabei den Stein aus den Augen lassen muß – und die individuelle Lösung dieses Problems durch andere, etwa gleichaltrige Probanden. Bemerkenswert an diesem Film ist, wie aus einer privaten Alltagssituation ein psychologischer Test mit filmischen Mitteln wie der Auswahl und der Montage einzelner Szenen entsteht. Eine gewöhnliche kindliche Spielsituation wird erst durch die filmische Beobachtung und ihre wissenschaftliche Aufbereitung zu einem evidenten psychischen Prozeß. Das mag die durchschlagende Wirkung dieses Films beim Fachpublikum bewirkt haben.92 Auch Sergej Eisenstein zeigte sich beim Treffen mit Lewin 1929 in Berlin gerade von diesem Film beeindruckt.93 So leicht, wie Lewin suggeriert, ist die Trennung von Spiel- und wissenschaftlichen Film indes nicht. Schon die Tatsache, daß sich der Psychologe in einem wissenschaftlichen Aufsatz bemüßigt fühlt, die »schauspielerischen Leistungen« von den in psychologischen Tests erbrachten zu unterscheiden, läßt aufmerken. Der psychologische Begriff der Leistung bleibt also keineswegs auf das Feld der wissenschaftlichen Psychologie beschränkt. Auch der Schauspieler befindet sich, wie Walter Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz behauptet hat, vor der Kamera in einer Testsituation. Sie messe und beurteile seine Leistungen bei der Darstellung von Affekten, Gefühlen oder psychologisch motivierten Handlungen.94 Einzigartig sei die »Testleistung des Filmdarstellers« etwa gegenüber einer sportlichen Leistung, weil er diese nicht vor einem Publikum erbringe, sondern »vor einer Apparatur«.95 Das hat sie mit filmisch konzipierten psychologischen Tests gemeinsam. Gleichzeitig zieht Benjamin eine Parallele zur Praxis der in Mode gekommenen Berufseig-
91 Vgl. Einführung, S. 13. 92 G.W. Allport beschreibt diese Filmvorführung als »most exciting event of the International Congress of Psychology«: »To some American psychologists this ingenious film was decisive in forcing a revision of their own theories of the nature of intelligent behavior and of learning. Other Lewinian Films from this German period are classics of the same order« (ders.: »The Genius of Kurt Lewin«, S. 8). 93 Lewin überzeugte Eisenstein auch davon, daß die Konfrontation unterschiedlicher Bewegungsimpulse eine grundsätzliche psychische Disposition darstellt (vgl. O. Bulgakowa: »Eisenstein und die deutschen Psychologen«, S. 40-43). 94 W. Benjamin: »Das Kunstwerk«, bes. S. 449-451. 95 Ebd., S 449; 450.
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nungsprüfungen, einem schon damals wichtigen Einflußgebiet der wissenschaftlichen Psychologie und ihrer Randgebiete.96 Benjamin schlägt nebenher aus diesem Argument auch medientheoretisch Kapital. Auch der Spielfilm objektiviere die Testleistung: er mache sie als Test sichtbar: »Der Film macht die Testleistung ausstellbar indem er aus der Ausstellbarkeit der Leistung selbst einen Test macht.«97 Die Filmaufzeichnung mit ihren spezifischen technischen Bedingungen – »Im Lichte der Jupiterlampen zu spielen und gleichzeitig den Bedingungen des Mikrophons zu genügen [...]«98 sowie das Agieren vor laufender Kamera – bildet für jeden Schauspieler eine Testsituation. Ausgestellt und mithin überprüfbar wird die schauspielerische Leistung auf dem entwickelten Filmstreifen. Sie besteht für Benjamin darin, »im Angesicht der Apparatur seine Menschlichkeit«99 zu bewahren. Was nichts anderes heißt, als jene Handlungen auszuführen und Emotionen dabei zu entwikkeln, die dem Filmpublikum nach Maßgabe des psychologischen Realismus als ›menschlich‹ erscheinen. Der Schauspieler vor der Kamera wird demnach in psychologischer Wahrhaftigkeit getestet. Als wahrhaftig erscheint dabei das psychologisch Wahrscheinliche. In diesem Punkt stimmen die ästhetischen Doktrien des narrativen mit den medientheoretischen Vorannahmen des wissenschaftlichen Films überein. Auch letzterer erfindet Situationen, aus denen psychische Kräfte und Prozesse »ablesbar« sein sollen. An dieser konstitutiven Rolle des Films läßt Kurt Lewin keinen Zweifel: »Filmtechnisch charakteristisch für diese Prozesse ist die angenehme Möglichkeit, die betreffende Person vor eine ›Aufgabe‹ zu stellen und dann im Film festzuhalten, ob und wie der Betreffende diese Aufgabe bewältigt.«100 Für seine Untersuchung der besonderen »Trieb- und Affektäußerungen psychopathischer Kinder« bedürfe es allerdings einer besonderen Zugangsweise, da sich das abweichende Verhalten, die »Anomalien des affektiven Geschehens«,101 nur schwer isolieren ließen: Zum einen wichen ihre psychischen Reaktionen nur selten deutlich von als normal angesehenen ab, zum anderen zeigten sich solche Anomalien kaum in momentanen Situationen, so daß eine
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Vgl. Siegfried Kracauers soziologische Studie Die Angestellten, die von physiognomischen und graphologischen Tests und umstrittenen Charakteranalysen berichtet (vgl. ders.: Die Angestellten. Aus dem neuesten Deutschland, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, S. 17-25, bes. S. 20). Bei L. Benninghoff (»Film!?«) heißt es dazu knapp: »Der Film trägt zur Auswahl und Tauglichkeitsprüfung bei« (S. 325). 97 W. Benjamin: »Das Kunstwerk«, S. 450. 98 Ebd. 99 Ebd. 100 K. Lewin: «Trieb- und Affektäußerungen«, S. 42f. 101 Ebd., S. 43.
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langfristige Beobachtung dieser zumeist habitualisierten pathologischen Verhaltensweisen erforderlich würde. Statt mit großem technischem und finanziellem Aufwand eine solche dauerhafte Beobachtung filmisch zu realisieren, wählt Lewin einen anderen Versuchsaufbau, der »zugleich den Vorzug größerer Präzision und wissenschaftlicher Fruchtbarkeit in sich tragen dürfte«.102 Dabei macht er sich die psychologische Beobachtung zunutze, daß bei psychopathischen Kindern ein scheinbar normales Benehmen auf abweichenden affektiven bzw. triebhaften Umständen beruht. D.h., daß sich die Handlungsentwicklung, die Dynamik des psychischen Prozesses, bei diesen Kindern unterscheidet. Deshalb könne »es sich bei der Darstellung der Psychopathie nur um ein vergleichendes Gegenüberstellen des normalen und des psychopathischen Kindes handeln.«103 Die Verschiedenheit des Verhaltens wird sich für Lewin nur an Situationen erweisen können, die in äußerer wie innerer Disposition »hinreichend« übereinstimmen. Zusammenfassend formuliert lautet die Aufgabe für den Experimentator folgendermaßen: »[...] innerlich und äußerlich identische Situationen bei normalen und psychopathischen Kindern zu schaffen, in denen sich ihre Verschiedenheit in Affekt und Triebhaftigkeit zeigt, d. h. Situationen, die es gestatten, den Aufbau und Abbau seelischer Spannungen, also der psychischen Dynamik zu verfolgen.«104 Medium des psychologischen Vergleichs ist der Film. Er gestattet es, das aufgenommene Material zu sondieren und so zusammenzusetzen, daß Unterschiede im Verhalten psychopathischer und normaler Kinder ›unmittelbar‹ sichtbar werden. Es handelt sich offenbar für Lewin nicht um ein Problem der psychopathologischen Analyse – hier bewegt er sich auf sicherem Terrain –, sondern um ein Problem der Darstellung psychopathologischer Symptome, denen durch die filmische Versuchsanordnung zu optischer Evidenz verholfen werden soll. Zur Darstellung der »psychischen Dynamik« erweist sich das filmische Bewegungsbild als besonders geeignet. Die »Ausstellbarkeit der Testleistung«, über die Benjamin im Zusammenhang mit der Leistung des Filmschauspielers handelte, gilt also auch als Prämisse der im wissenschaftlichen Film herbeigeführten Situation: Die filmisch verwertbare Testsituation hat die Testierbarkeit psychischen Verhaltens (in diesem Fall von psychopathischen und normalen Kindern) zum Gegenstand. Lewins Überlegungen zur Versuchsanordnung sind deshalb stets auch Überlegungen zur Theorie des Films.
102 Ebd., S. 44. 103 Ebd., S. 44f. 104 Ebd., S. 45.
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Dies wird durch seine Berücksichtung einiger unumgänglicher »filmtechnischer Umstände« klar,105 die den Test zusätzlich behindern: Lewin verwendet Filmrollen von sechs Minuten Länge. Die Filmkamera wird an einem festen Ort aufgestellt, der eine übersichtliche Darstellung der Testsituation ermöglichen soll, ohne den Standort wechseln zu müssen. Eine wichtige Rolle spielen auch die Lichtbedingungen. Lewin vermeidet künstliche Beleuchtung, weil sonst »Situationen, in denen das Gefilmtwerden nicht alles beherrscht, schwer herzustellen«106 sind. Schließlich müssen die Probanden so vor die Kamera gebracht werden, »daß die charakteristischen Bewegungen bei den Aktionen und beim Affektausdruck vom Aufnahmeapparat her in richtiger Beleuchtung und gegen einen geeigneten Hintergrund sichtbar werden. Besonderes Gewicht hat man meist auf die Sichtbarkeit der Gesichtsmimik zu legen«.107 Es gelten also für die filmwissenschaftliche Aufnahme die gleichen technischen Bedingungen und Möglichkeiten wie für den kommerziellen Film. So nimmt der Versuchsleiter Lewin auch Großaufnahmen der beteiligten Kinder auf, wohlwissend, daß diese »für den subjektiven Eindruck außerordentlich gefährlich«108 sind. Der Gesichtseindruck besitzt für Lewin per se optische Evidenz, dem sich der Wissenschaftler nicht entziehen kann, zumal man in den Gesichtern der Probanden »im Ganzen den Eindruck [habe], über die Linie des Normalen hinausgeführt zu werden.«109 Da diese Großaufnahmen bereits in der Einführung der »Filmaufnahmen über Trieb- und Affektäußerungen psychopathischer Kinder«, also vor dem experimentellen Teil, eingeschaltet werden, nimmt diese Einschätzung ein Urteil vorweg, das die Auswertung der Filme erst zu erweisen hätte. Es kommt Lewin offensichtlich bereits hier darauf an, eine Differenzierung vorzunehmen, die das Psychopathische als Abweichung vom Normalen evident zu machen hilft, obwohl er sich bewußt darüber ist, daß »der Begriff des Normalen ja einen sehr breiten Spielraum sehr heterogener Charaktertypen umfaßt«.110 Auch die Auswahl der Kinder und die Zusammenstellung des Filmmaterials sind vom Wunsch nach optischer Evidenzbildung bestimmt. Deshalb muß Lewin einräumen: »Im ganzen dürfte der Unterschied zu den psychopathischen Kindern zu groß ausgefallen sein, da einzelne der verwendeten normalen Kinder zweifellos ganz besonders ruhig und beherrscht sind [...].«111 Der fertiggestellte Film verzerrt also alle »Über105 106 107 108 109 110 111
Ebd. Ebd., S. 46. Ebd. Ebd., S. 51. Ebd. Ebd., S. 52. Ebd.
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gänge zwischen den normalen und den psychopathischen Kindern«112 und verstärkt die Verhaltensextreme zugunsten einer ›genuin‹ optischen Evidenz des psychologischen Experiments auf beiden Seiten. Zur Wahrung der wissenschaftlichen Objektivität bringt Lewin deshalb seine Integrität als Wissenschaftler ins Spiel. Die Rolle des Filmregisseurs, der seine Schauspieler anleitet und lenkt, habe deshalb vakant zu bleiben: Da alles Schauspielerische oder Gekünstelte sorgfältig zu vermeiden ist, kann man alle diese technischen Erfordernisse nicht durch diesbezügliche Instruktionen an die Versuchsperson (Vp) erfüllen. Sie sind ausschließlich durch einen geeigneten Aufbau der Gesamtsituation oder durch Maßnahmen des Versuchsleiters (Vl) während der Aufnahme zu erreichen, derart daß das gewünschte Verhalten der Vp. als ›natürliche‹ Reaktion zustande kommt.113
Um die Objektivität des gewählten Versuchsablaufes zu gewährleisten, darf der Versuchsleiter nicht in das Geschehen eingreifen. Das psychologische Experiment, die »Gesamtsituation« ist gleichwohl so gestaltet, daß der Proband auf ein »gewünschtes Verhalten« hingelenkt wird und gleichzeitig der Eindruck der Natürlichkeit des gezeigten Verhaltens entsteht. Der Aufnahmevorgang soll also möglichst ›unsichtbar‹ für die Versuchspersonen vonstatten gehen. Tatsächlich berichtet Lewin, daß es ihm » bei anderer Gelegenheit gelungen [sei], die Tatsache der Aufnahme vor der Vp. durch geeignete Maßnahmen zu verbergen«.114 Doch so sehr Lewin sich auch bemüht, »alles Schauspielerische oder Gekünstelte« zu vermeiden, seine Probanden wissen um die Anwesenheit der Kamera, schauen mitunter in sie hinein und richten ihr Verhalten an ihr aus. Deshalb nimmt Lewin auch die Testsituation aus größerer Entfernung auf und verwickelt seine Versuchspersonen in »genügend intensive Geschehensabläufe«.115 Gelingt es durch diese Maßnahmen nicht, die Aufnahmesituation zu verschleiern, interpretiert Lewin die Beeinflussung der Probanden durch die laufende Kamera als charakterlich bedingt: »Wo einzelne Kinder in solchen Situationen trotzdem relativ stark vom Kinofeld beherrscht werden, bedeutet diese Tatsache zugleich ein Charakteristikum des betreffenden Kindes.«116 Diese Interpretation ist jedoch mehr als einseitig. Sie unterschlägt, daß durch ein solches Bewußtwerden der Testsituation diese als Test ›ausgestellt‹ wird. Das jedoch kann Lewin nicht zugeben, weil das Ausgestelltwerden der angestrebten ›natürlichen‹
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Reaktion der Probanden und dem damit verbundenen Objektivitätsanspruch zuwiderläuft. Kurt Lewin gelingt es also letztlich nicht, den Anspruch wissenschaftlicher Objektivität vom Bann wirkungsästhetischer Überlegungen und filmtheoretischer Vorannahmen zu lösen. Eine ›saubere‹ Trennung zwischen dem fiktionalen ›Als ob‹ des Spielfilms und der ›Authentizität‹ psychologischer Testsituationen läßt sich nicht aufrechterhalten, weil »jeder Test produziert, was er angeblich nur reproduziert«117 – ganz (ungewollt) zutreffend ist deshalb die Rede vom »Filmemacher Kurt Lewin«118. Zwischen wissenschaftlichem und populärem Film kommt es vielmehr in der Frage der Darsteller- bzw. Probandenführung, den Konsequenzen von Einstellung, Beleuchtung, (szenischem) Raum, in der Problematik von Schnitt und Montage zu Gemeinsamkeiten. Umgekehrt haben ja auch psychologische Testsituationen und Experimente Filmregisseure fasziniert. So hat etwa Wsewolod Pudowkin gezielt versucht, unbewußte Reaktionen seiner Darsteller zu provozieren und für seine Darstellungszwecke zu manipulieren: Der Filmdarsteller wurde auch hier zu einer Testperson in einem psychologischen Experiment.
6 . 4 De r F i l m s c ha us p iel er Der Filmschauspieler ist der Schauspieler katexochen. (Oskar Diehl)
Auch die ästhetische Debatte um die filmische Darstellung von Bewegung rückt immer wieder den Agenten dieser Bewegung – den Schauspieler – in den Mittelpunkt der Argumentation. Ihm kommt eine Schlüsselrolle in den ausdruckstheoretischen und mithin medientheoretischen Auseinandersetzungen zu. Denn die darstellungslogische Differenz zwischen Theater und Kino wird in der Debatte um den ›stummen‹ Film vorrangig an den Unterschieden des Spiels auf der Bühne und vor der Kamera festgemacht. Die mediale Differenz – Präsenz auf der Bühne gegen Repräsenz auf dem Filmbild, dreidimensionaler Bühnenraum statt zweidimensionalem Filmbild, Farbe statt Schwarz-Weiß-Kontrast – soll, so lautet ihr Hauptargument, zu Differenzen im Spiel der Akteure zwingen: »Von der Schauspielkunst scheint mir die Darstellung im Kino grundverschieden«, befindet Joseph August Lux stellvertretend für das Gros der
117 F. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, S. 218. 118 So lautet der Titel des bereits zitierten Aufsatzes von Lück, der allerdings nicht auf die manipulativen Aspekte der Filme Lewins eingeht.
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Kinotheoretiker seiner Zeit.119 Im Kino gelte deshalb ein »ganz neuer Stil der Schauspielkunst [...], der sich von dem der Schaubühne wesentlich unterscheidet«.120 Diese Schlußfolgerung teilt auch Emilie Altenloh, die 1914 eine frühe soziologische Untersuchung zum Thema vorgelegt hat: »Bühne und Kino stellen an die Fähigkeiten des Schauspielers ganz verschiedene Anforderungen. [...] Im Fabrikatelier wird der Darsteller immer die Gegenüberstellung mit dem Publikum vermissen, das er zu gewinnen hat und dessen Beispiel ihn anspornt.« Gegen diesen Mangel an Präsenz bei der filmischen Aufnahme setzt Altenloh jedoch als Trumpf die spezifisch filmischen Effekte der Bewegungsdarstellung: »Dagegen sind gerade der kinematographischen Vorführung Ausdrucksmöglichkeiten an die Hand gegeben, die nur durch sie allein zu höchster Vollendung gebracht werden können; ich möchte es Ausdrucksplastik nennen – Sprache der Bewegung, und zwar nicht nur des Gesichtsausdrucks, der ja auch im Lichtbild viel genauer gesehen wird, sondern auch des ganzen Körpers.«121 Mit »Ausdrucksplastik« benennt Altenloh exakt jene »Sprache der Bewegung« des Filmbildes, die Hermann Häfker im Terminus »Bewegung als Ausdruck« gefaßt hat: die filmisch erfaßte Ausdrucksbewegung. Solche Grenzziehungen blenden jedoch systematisch aus, daß zunächst theatrale Darstellungskodes das Schauspielen im Film beherrschten und nicht wenige Filmschauspieler von der Bühne kamen.122 Die Abgrenzung hat also vor allem strategische Gründe: An der Figur des Schauspielers entzündet sich eine Debatte um die medialen Kodes der Darstellung von Körperbewegungen; an ihm werden medientheoretische Argumente geschärft. Und dazu gehören in erster Linie die neuen, alten Freiheiten, die der Schauspieler im Film angeblich genießt: »[...] der Schauspieler kann sich produzieren, aus dem Stegreif spielen. Er wird an den Anfang seiner Kunst, auf den Körper zurückgeführt«.123 Der Filmschauspieler läßt als Stegreifspieler, der Rollenstudium durch Improvisation ersetzt, den Mimus des antiken Theaters wieder aufleben.124 Nicht 119 J.A. Lux: »Das Kinodrama«, S. 121. 120 H. Tannenbaum: Kino und Theater, S. 19. 121 Emilie Altenloh: Zur Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Jena: Eugen Diederichs 1914, S. 32. 122 Vgl. Roberta E. Pearson: Eloquent Gestures: the Transformation of Performance Style in the Griffith Biograph Films, Berkeley: Univ. of California Press 1992, die den Übergang vom »histrionic code« des Theaters zum »versimilar code« des Films beschreibt; Frank Kessler: »Lesbare Körper«, in: KINtop 7 (1998), S. 15-28. 123 Herbert Jhering: »Der Schauspieler im Film«, in: ders.: Von Reinhardt bis Brecht. Vier Jahrzehnte Theater und Film, Berlin: Aufbau-Verlag 1958, Bd. 1, S. 378-414, hier S. 378. 124 »Der Film haftet noch mit starken Wurzeln in jenem Mutterboden mimischer Darstellung«, aus dem die Mimesis, »die Neigung zu stilisierender
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umsonst sprechen Kinotheoretiker wie Rudolf Leonhard von einer »Restitution des Schauspielers« im Film.125 Sie verdankt sich der Einsicht in die medialen Effekte seines Spiels vor der Kamera.126 Als Maßstab für die Unterscheidung der Schauspieltechniken wird denn auch die unterschiedliche Sichtbarkeit der körpersprachlichen Mittel definiert: »Der darstellende Künstler des Theaters ist Sprecher und Agierer zugleich. Durch die Sprache zusammen mit der körperlichen Bewegung schafft er in einem künstlerischen Prozeß seine Gestalten.«127 Während die Sprache »in jeden Winkel« dringe, blieben die »Nuancen in Mimik und Geste [...] nur in kurzer Entfernung von der Bühne erkennbar und wirksam«.128 Wegen ihrer begrenzten Sichtbarkeit könnten Mimik und Gestik für die Wirkungsästhetik des Theaters keine so große Rolle spielen wie für den Film, der sie besonders in der Großaufnahme hervorhebt. Deshalb entfalte der Kinoschauspieler sein »einziges Instrument, sein einziges Ausdrucksmittel« – den Körper – »rein als Gegenstand der Optik ohne jede akustische Funktion«.129 Die überlegene Optik des Films wird gegen die Kopplung visueller und akustischer »Instrumente« im Theater ausgespielt. Der Film kann so für einen Purismus der Darstellung einstehen, unter dessen Maßgabe seine vermeintliche Stummheit130 in ein ästhetisches Surplus umgemünzt wird. In diesem Sinne argumentiert auch Hermann Häfker: »Die Aufgabe des Kinoschauspielers ist es, den Reichtum der körperlichen Gebärdensprache und ihre Schönheit zu zeigen.«131 Die Nobilitierung körpersprachlicher Mittel zur »Urmitteilung durch Gebärde« (Carl Hauptmann) erweist sich somit als Diskurseffekt der einseitigen Implementie-
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Umgestaltung der Wirklichkeit«, als auch der Wunsch nach dem Rollenspiel der Alterität, »die Sehnsucht nach dem ›Anders-Sein‹«, entstammen (R. Petsch: »Drama und Film«, S. 269). R. Leonhard: »Soziologie des Films«, S. 110; s.o. Kap. 2.3 »Neuer Mimus durch die Kamera«. Zu den medialen Differenzen des Schauspielens vgl. Knut Hickethier: »Das Zucken im Mundwinkel. Schauspielen in den Medien«, in: TheaterZeitSchrift 2 (1982), S. 15-31. Die Argumente behalten ihre Schlagkräftigkeit auch noch in späteren Debatten, wo der »Fernsehschauspieler« in Konkurrenz zum »Filmschauspieler« tritt. H. Tannenbaum: Kino und Theater, S. 19. Ebd. Ebd. Die Separierung der Sinne kennzeichnet auch andere medientechnischen Innovationen der Zeit wie Phonograph und Grammophon. Die technischen Probleme einer Synchronisierung von Bild und Ton wurden frühzeitig erkannt. Zur Entwicklungsgeschichte des Tonfilms vgl. Wolfgang MühlBenninghaus: Das Ringen um den Tonfilm. Strategien der Elektro- und der Filmindustrie in den 20er und 30er Jahren, Düsseldorf: Droste 1999. Hermann Häfker: »Der Weg zur Kinodramatik«, in: Bild und Film. Zeitschrift für Lichtbildnerei und Kinematographie, 3. Jg. (1913/14), H. 1, S. 1-4, hier S. 2.
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rung einer Medientechnik in den kulturellen Diskurs, die zur Konzentration auf die sichtbaren Körperbewegungen geradezu zwingt. An diesem Befund hegt die institutionalisierte Filmtheorie bis heute keinen Zweifel: »Der Film hat damit zu einer Verfeinerung und Kultivierung des Schauspielens beigetragen, hat eine Genauigkeit des Ausdrucks und eine Differenzierung der mimischen und gestischen Artikulation herausgefordert und damit das mediale Körperbild des Menschen perfektioniert.«132 Diese Prämisse stellt zugleich die Voraussetzung für die forcierte Disziplinierung des Filmschauspielers dar. Tannenbaum stellt die Forderung auf, er müsse »sich seines Körpers in ganz anderer, viel differenzierterer Weise bedienen und bedienen können«, um »alle Regungen der Seele, alle Affekte durch seine Körperlichkeit zum Ausdruck zu bringen. Er muß die feinen und feinsten Reflexe, die die Seele und ihre Stimmungen in Miene und Geste hervorruft, durch bewußte suggestive Körperkunst dartun«.133 Der Hinweis auf die Konsequenzen der ›Stummheit‹ des Films auf die Darstellungsmittel des Filmschauspielers fehlt in keiner Filmtheorie der Zeit, und keine unterläßt es, daraus für den Filmschauspieler Kapital zu schlagen. Noch zwanzig Jahre später wiederholt der promovierte Psychologe Rudolf Arnheim Tannenbaums Argumente: »Dem Film stehen als Darstellungsmaterial nur Körper und körperliche Vorgänge zur Verfügung, aber mit diesen lassen sich seelische Vorgänge darstellen. Da ist vor allem die Mimik des menschlichen Gesichts und die Pantomimik des Körpers und der Gliedmaßen – in ihnen drückt sich auf die direkteste und gewohnteste Art menschliches Denken und Fühlen aus.«134 Diese Argumentation erweckt bewußt den Eindruck, erst die technisch bedingte Stummheit des Films habe den Körper zum Sprechen gebracht. Die genaue Kenntnis der körpersprachlichen Mittel stellt aus filmtheoretischer Sicht das künstlerische Kapital des Filmschauspielers dar. Geht man zudem wie Tannenbaum davon aus, daß die sprachliche Darbietung des Schauspielers »reproduktiv«, seine körperliche hingegen als »Verkörperung selbstschöpferisch« sei, »dann ist der Schauspieler des Kinos in viel weitreicherem Sinne ein produktiver Künstler, als der des Theaters. Mit dem Erfordernis, Innerlichkeiten durch Mimik und Geste natürlich und deutlich zu Geltung und Wirkung zu bringen, ist ihm auch
132 Knut Hickethier: »Schauspielen und Montage. Eine Einleitung«, in: ders. (Hg.): Schauspielen und Montage: Schauspielkunst im Film; zweites Symposion, St. Augustin: Gardez!-Verlag 1999, S. 7-14, hier S. 11. 133 H. Tannenbaum: Kino und Theater, S. 19f. 134 Rudolf Arnheim: Film als Kunst (1932), Frankfurt a.M.: Fischer 1979, S. 172f.
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die Möglichkeit hierzu gegeben«.135 Für Tannenbaum muß der Filmschauspieler die filmischen Wirkungen seiner Körperbewegungen nur gut genug kennen, um kreativ zu sein. Das heißt nichts anderes, als daß sie operabel sein müssen. Davon profitiert dann auch der Bühnenschauspieler. Aus diesem Grund lasse sich auch eine Rückwirkung des Films auf das Theater beobachten: Es ist ja auch bekannt genug, wie viel der Schauspielerstand der Gegenwart dem Kino verdankt. [...] Auch rein ästhetisch hat mindestens [...] die schauspielerische Mimik, durch das stumme Spiel eine ganz außerordentliche Verfeinerung und Vertiefung erfahren, trotzdem z.b. das Mienenspiel des Bühnenschauspielers geradezu wesensverschieden von demjenigen des Filmkünstlers ist.136
Diese »Verfeinerung und Vertiefung« des Mienenspiels wird durch den bewußten Einsatz filmästhetischer Mittel wie Einstellung, Beleuchtung und vor allem Großaufnahme unterstützt: »Die Kinotechnik vermag dadurch, daß sie im Bilde Ausschnitte der Wirklichkeit in beliebiger Größe gibt und [...] Menschen und Dinge beliebig herausgreift und vereinzelt zeigt, die Aufmerksamkeit des Zuschauers auf den Schauspieler zu lenken [...].«137 Als medientechnische Ursache dieser Aufmerksamkeitskonzentration macht Tannenbaum die Fokussierung mimischer und gestischer Details durch die Großaufnahme aus. Die frühe Filmtheorie konzentriert sich in ihrer Auseinandersetzung mit dem filmischen Bewegungsbild vorrangig auf deren Bildeffekte und psychologische Wirkung, während etwa Eisensteins spätere Montagetheorie die narrativen Funktionen von Schnitt und Montage hervorhebt. Tannenbaum kommt deshalb das Verdienst zu, lange vor Balázs, der als der »erste Theoretiker der Großaufnahme«138 gilt, deren Bedeutung für die filmische Konstruktion des Gesichts erkannt zu haben. Die Großaufnahme stiftet die Sichtbarkeit jeder noch so kleinen mimischen oder
135 H. Tannenbaum: Kino und Theater, S. 20. Georg Simmels Philosophie des Schauspielers blendet hingegen die kulturellen und medialen Bedingungen der Darstellung kategorisch aus. Nur so »scheint die Darbietung des Schauspielers gänzlich aus seiner Produktivität und Individualität hervorzugehen« (ders.: »Zur Philosophie des Schauspielers«, in: ders.: Aufsätze und Abhandlungen 1901-1908, Bd. II, hg. von Ottheim Rammstedt [= Gesamtausgabe, Bd. 8], Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1993, S. 424-432, hier S. 432). Während die filmische Aufnahme diese Produktivität steigert, verzichtet sie im Gegenzug auf seine Individualität. 136 R. Petsch: »Drama und Film«, S. 267. 137 H. Tannenbaum: Kino und Theater, S. 20. 138 A. Kaes: »Das bewegte Gesicht«, S.161. Kaes bezieht sich auf Balázs’ Schrift Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films von 1924.
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gestischen Nuance: »Im scharfen, konzentrierten Kinobild treten auch noch die leisesten Anzeichen, durch die sich die subtilen Regungen der Seele in Antlitz und Bewegung kundgeben, deutlich in die Erscheinung.«139 Die hypertrophe Sichtbarkeit mimischer und gestischer Nuancen in der Großaufnahme zwingt den Filmschauspieler dazu, die körperlichen Effekte dieser subtilen Regungen zu studieren und bewußt einzusetzen. Eine filmgerechte Körpersprache ist demnach eine Frage von Übung und Kalkül. Damit entscheide sich für den Kinoschauspieler die »alte Streitfrage, ob der Schauspieler die Affekte, die er darstellt, selber mitempfinden, [...] oder ob er bewußt und selbst seelisch ungerührt nur die Zeichen, die Aeußerungen der Affekte geben solle, [...] unbedingt in letzterem Sinne«.140 Tannenbaum macht neben der exponierten Sichtbarkeit der Mimik und Gestik, die ihren zeichenhaften Einsatz verlange, vor allem die spezielle Aufnahmesituation des Films für diese Entscheidung verantwortlich: Sich in eine innere Erregung hineinzuspielen, fiele auch dem Kinoschauspieler sehr schwer, da aus technischen Gründen die ganze Handlung in einzelnen Teilen und zu verschiedenen Zeiten gestellt werden muß. Andererseits wirkt der Umstand ernüchternd, daß der Darsteller statt wie im Theater ein gespannt lauschendes Publikum vor sich zu haben, [...] vor einem knatternden Apparat zu agieren hat.141
Diesen entscheidenden Unterschied der Aufnahmesituation vor laufender Kamera hat Walter Benjamin in seinem Kunstwerk-Aufsatz zur Testsituation des Schauspielers erklärt und als disziplinierende Kontrollmacht der Kamera herausgestellt.142 Der vermeintliche Naturalismus der filmischen Realitätskonstruktion scheint damit in eklatantem Widerspruch zur Künstlichkeit des Mienenspiels und der gestischen Darstellung des Filmschauspielers zu stehen. Durch Studium und Übung sollen aber die erlernten Bewegungen dem Schauspieler in Fleisch und Blut übergehen. Wundts psychologische Theorie der Ausdrucksbewegung, die den gesetzmäßigen Übergang von willkürlichen zu unwillkürlichen Bewegungen vorsieht, stellt ihre wissenschaftliche Grundlage dar. Durch Gewöhnung und Training sollen die Körperbewegungen den Status einer »zweiten Natur« erreichen. Dazu 139 H. Tannenbaum: Kino und Theater, S. 20. 140 Ebd. Vgl. auch W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 452: »Der Schauspieler, der auf der Bühne agiert, versetzt sich in eine Rolle. Dem Filmschauspieler ist das sehr oft versagt.« 141 H. Tannenbaum: Kino und Theater, S. 20f. 142 W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 448-450; 488-491; s.o. Kap. 6.3 Psychologischer Test und Testleistung des Schauspielers.
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gehört auch, daß die Aufnahmesituation auf das Spiel des Filmschauspielers zurückwirkt – deshalb setzt Tannenbaum die Entwicklung von Kameratechnik und Schauspieltechnik ineins: »Hieraus ergibt sich die Notwendigkeit einer hochentwickelten Technik, die es dem Schauspieler ermöglicht, mit voller Bewußtheit und sicherer Beherrschung des ganzen Muskelapparates suggestiv eindringliche und seelisch fundierte Körperkunst zu treiben.«143 Diese Produktionsbedingungen machen für ihn zudem eine »spezielle Ausbildung« in eigens dafür eingerichteten Schulen für »Kinoschauspielkunst« erforderlich.144 Die Erlernbarkeit einer filmgerechten Mimik und Gestik propagieren deshalb vor allem Lehrbücher, die angehende Filmschauspieler unterrichten sollen.145 Ziel dieser Ausbildung ist eine natürlich wirkende Körpersprache als Pendant zur filmischen Realitätskonstruktion. Was im Film ›natürlich‹ wirken soll, verdankt sich einem ausdrucksästhetischem Reduktionismus: »Im Kinodrama haben alle körperlichen Ausdrucksmöglichkeiten, die Wucht des Temperaments, die dahinstürmende Kraft der Bewegung, die Starrheit des Schrecks, kurz der ganze Wechsel von Stimmungen und Ausdrucksmöglichkeiten keine solche Gelegenheit zur Entfaltung wie auf der Bühne; sie müssen reduziert werden, umgesetzt in Gebärde und Mimik, kurz: stilisiert.«146 Der Reduktion der Darstellungsmittel fallen all jene Elemente zum Opfer, die sich nicht in lesbare Ausdrucksbewegungen transformieren lassen – wie etwa Grimassen: »Unter Mimik ist nicht Gesichterschneiden zu verstehen, keine Grimasse, kein Verzerren der Muskeln – es ist unglaublich, wie grosz die Einfachheit des Ausdrucks sein musz, und wie gerade die stärkste Wirkung in den leisesten Zügen beruht.«147 Diese Präferenz für die »leisesten Züge« entspricht der Bevorzugung mimischer Details, die bereits die Fotografie sichtbar gemacht hatte. Die exponierte Sichtbarkeit dieser Details besonders in der Großaufnahme diszipliniert den Schauspieler, der nun jede seiner Regungen kontrollieren muss. Sie kontrolliert aber auch den Zuschauer, der mehr denn je seine Aufmerksamkeit zu konzentrieren hat, um der ›stummen‹ Filmhandlung zu folgen. Das weiß auch Oskar Kalbus, wissenschaftlicher Referent in der Kulturabteilung der Ufa, nur zu gut: »Umgekehrt erlebt der Zuschauer viel mehr als im Theater, vom Worte nicht abgelenkt, im Film das Spiel des Schauspielers, die Ausdrucksskala seines ganzen Körpers,
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H. Tannenbaum: Kino und Theater, S. 21. Ebd., S. 23. S.u. Kap. 7.3 Mimische Standards. J.A. Lux: »Das Kinodrama«, S. 121. Ebd.
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die subtile Sprache der Augen und jede einzelne Geste als mimisches Instrument.«148 Die im Diskurs über den ›stummen‹ Film immer wieder strategisch behauptete Trennung von Auge und Ohr soll der Wirkmacht der Bilder Tür und Tor öffnen und Schauspieler wie Zuschauer disziplinieren. Der kinematographische Apparat wird so in der Kino-Debatte zur Kontrollmacht aufgebaut.149 Die Überzeugung, daß die Großaufnahme die Aufmerksamkeit des Kinopublikums konzentriert und lenkt, hat erstmals Hugo Münsterberg 1916 in seiner psychologischen Studie über Das Lichtspiel systematisch dargelegt. Durch die Verknüpfung von psychologischen und medientechnischen Termini implementiert er für Friedrich Kittler Bewußtseinsprozesse in die Filmtheorie.150 »Kinomäßig« nennt auch Robert Petsch eine »stark sinnliche Darstellung, die mehr unsere Nerven als unsere Seele schwingen läßt«.151 Nicht von ungefähr hat Oskar Kalbus »die subtile Sprache der Augen« herausgestellt, wird doch gerade ihnen in der Kino-Debatte eine suggestive Kraft attestiert und werden Filmregisseure nicht müde, die hypnotische Wirkung weit aufgerissener Augen auf das Kinopublikum zu feiern, die sie selbst inszeniert haben.152 Deshalb entscheidet für den Regisseur Max Mack, der ein Lehrbuch für angehende Filmschauspieler mit dem bezeichnenden Titel Wie komme ich zum Film verfaßt hat, auch die »Durchseelung« des Gesichts durch das Auge »über die Qualität eines Filmschauspielers«, denn ein »großes sprechendes Auge« sei die »Vorbedingung für jede kinematographische Laufbahn.”153 Oskar Diehl spricht in seinem Lehrbuch Mimik im Film ebenfalls Klartext: »Mit Rücksicht auf die vielen Gesichtsausdrücke, in welchen ein größeres Auge mitspricht, ist die Fähigkeit, das Auge weiter zu öffnen, als es für gewöhnlich geschieht, von großer Bedeutung.”154 Mit dem weit geöffneten Auge beschreiben die Filmlehrbücher nicht nur ein mimisches Phänomen, das durch seine filmische Aufzeichnung besonders zur Geltung kommt, sie treffen auch den Nerv seiner filmisch gesteigerten Wirkung. Denn in keinem Lexikon der Mimik fehlt der 148 Oskar Kalbus: »Die Stummheit des Filmbildes« (1920) in: Kümmel/Löffler (Hg.): Medientheorie, S. 134-137, hier S. 136. 149 Walter Benjamin sieht nur den Schauspieler der Kontrolle durch das unsichtbare Publikum unterworfen (vgl. ders.: Das Kunstwerk, S. 451). 150 Vgl. F. Kittler: »Romantik — Psychoanalyse — Film«, S. 134; zu Münsterberg vgl. F. Kittler: Grammophon, Film, Typewriter, bes. S. 237-246. 151 R. Petsch: »Drama und Film«, S. 268. 152 Vgl. Heide Schlüpmann: Unheimlichkeit des Blicks. Das Drama des frühen deutschen Kinos, Basel: Stroemfeld/Roter Stern 1990. 153 Max Mack: Wie komme ich zum Film?, Berlin: Verlag von Reinhold Kühn 1919, S. 51. 154 O. Diehl: Mimik im Film, S. 16.
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Hinweis darauf, daß ein geöffnetes Auge das Aufmerksamkeitssymptom schlechthin sei, steigerbar etwa bei Erstaunen und Entsetzen.155 Wer immer über die Bedeutung von Blickformen und der Beweglichkeit des Auges schreibt, benennt Eckdaten einer mimischen Expressivität im ›stummen‹ Film und die Bedingungen ihrer medialen Wirkung.
155 Vgl. C.M. Giessler: »Der Blick des Menschen als Ausdruck seines Seelenlebens«, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1. Abt., 61. Bd. (1913), S. 181-211, bes. S. 183. Giessler ist weit entfernt von Überlegungen zu den Effekten massenmedialer Kommunikation.
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7. M I M IS C H E E X P RE S S I V IT Ä T
IM
› S T UM M E N ‹ F I L M
Die Bilder sind stumm, aber wir haben gelernt zu sehen. (Alfred Baeumler)
Die Beobachtung der Übersetzungsvorgänge beim Schauspielen vor der Kamera, der minutiösen Übergänge und Details des Mienenspiels, nimmt in der Filmkritik der Ära des ›stummen‹ Films eine wichtige Position ein. Auch in der Filmtheorie dieser Zeit werden Fragen der ästhetischen Darstellung von Bewegung im Begriff des Intervalls zentral. Dziga Vertov stellt dies in programmatischer Knappheit heraus: »Der Stoff – die Elemente der Bewegungskunst – sind die Intervalle (die Übergänge von einer Bewegung zur anderen) und keinesfalls die Bewegung selbst.«1 Die inflationäre Beschäftigung mit Bewegungsphänomenen ist Effekt einer medientechnisch aufgerüsteten Beobachtungskultur, durch die solche visuelle Phänomene als epistemische Objekte erkennbar geworden sind. Auf diesen Umstand weist Walter Benjamin hin, wenn er den modernen Beobachter erst durch das kameragestützte Sehen vom »OptischUnbewußten« körperlicher Prozesse wie z.B. vom Gang »im Sekundenbruchteil des Ausschreitens« erfahren läßt.2 Durch diese zeitliche Indexikalisierung wird die Beobachtung selbst als Prozeß gefaßt. Sie richtet sich vorrangig auf die flüchtigen Momente der Bewegung von Körpern im Raum. Der Theater- und Filmkritiker Herbert Jhering etwa bringt in einer Artikelserie mit dem Titel Der Schauspieler im Film, die in loser Folge zwischen 1919 und 1921 im Berliner Börsencourier erschienen ist, mit dem »erneuerten Körpergefühl« und der »rhythmischen Intensität« von Körperbewegungen zwei Parameter in Anschlag, die dieser Beobachtungskultur geschuldet sind.3 Visuelle Evidenz erlangen Mimik und Gestik im Film vor allem durch ihre Exposition in der Großaufnahme. Nuanciertes Mienenspiel und kleine Gesten werden dadurch zum bestimmenden Faktor des narra1
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Dziga Vertov: »Wir. Variante eines Manifests«, in: Franz-Josef Albersmeier (Hg.): Texte zur Theorie des Films, Stuttgart: Reclam 1995, S. 19-23, hier S. 21. W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 461. H. Jhering: »Schauspieler im Film«, S. 378.
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tiven Kinos, in dem psychologisch motivierte Charaktere in dramatischen Konflikten agieren. Der Film lanciert darüber hinaus eine besondere Form mimischer Expressivität, die ›Ausdruck‹ paradigmatisch als Bewegung faßt.4 Im Zuge der visuellen Exposition und psychologischen Interpretation von Mimik werden insbesondere Nuancen, Intensität, Verlaufsform und Rhythmus von Gesichtsbewegungen erfaßt und Gegenstand sowohl der ästhetischen wie der wissenschaftlichen Diskussion, denn »Großaufnahmen erlauben es, Affekte im unmerklichen Übergang zu studieren«.5 Die sukzessive Verschiebung mimischer und gestischer Details, die sich in Großaufnahmen beobachten lassen, rückt die Zeit des Affekts in den Horizont des kulturellen Diskurses. Affektübergänge finden in der Gestalt von ausführlichen mimischen und gestischen Protokollen Eingang in Filmkritik und –theorie sowie in Form von Versuchsreihen, Analysen und Theoriebildungen Eingang in die wissenschaftliche Psychologie. Der Austausch zwischen diesen Diskursen erfolgt in beiden Richtungen: Der ästhetische Diskurs gruppiert seine Aussagen um Begriffe aus den Humanwissenschaften, und der wissenschaftliche übernimmt Annahmen über den ästhetischen Status des Films in seine Argumentation. Diese Diskursbewegungen sollen im Folgenden am Beispiel des Schlüsselbegriffs ›Ausdrucksbewegung‹ und seiner Facetten rekonstruiert werden.
7 . 1 Mi m is c he I n t en s it ä t Daß sich mit dem ›stummen‹ Film eine spezifische »Kinomimik« etabliert habe, die der Mediatisierung des Menschen, der Visualisierung seiner Bewegungen und Affekte geschuldet sei, bildet eine Grundüberzeugung vieler Filmtheoretiker der ersten Stunde. Diese spezielle Mimik wird als Effekt der Bedingungen und Möglichkeiten der filmischen Erfassung des Menschen betrachtet. Deshalb dürfe sie – und das betont Hermann Häfker bereits 1908 in Abhebung vom vorherrschenden Darstellungsstil des zeitgenössischen Theaters – keineswegs »naturalistisch« sein: Für den Kino-Schauspieler ist die Mimik Selbstzweck. Was er darstellen will, sind nicht seelische Vorgänge, sondern das Reich der Glieder- und Mienenbe-
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S.o. Kap 6. Ausdrucksbewegung und kinematographisches Bewegungsbild; Lotar Holland: »Der Rhythmus im Film«, in: Filmtechnik, 3. Jg. (1927), S. 118-119. A. Kaes: »Das bewegte Gesicht«, S. 161.
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wegung im Meere menschlicher Lebensäußerungen. [...] Also für den Filmschauspieler ist das stilisierte Gebärdenspiel Zweck, und die seelischen Vorgänge sind ihm – die Mittel dazu. Es ist demnach gerade umgekehrt wie auf der Raumbühne, und diese Umkehrung erst macht das Kinoschauspiel.6
Häfker kehrt das kausale Verhältnis von Ursache und Wirkung um, das als Erblast des influxus animae für die Affekt-Ausdrucksbeziehung auf der Bühne des Naturalismus und in den naturalistischen Schauspieltheorien noch immer Gültigkeit beansprucht. Mit der Umkehrung der MittelZweck-Relation spitzt Häfker das Darstellungsparadox des Schauspielers bezogen auf die Bedingungen der filmischen Wirkung zu: Im Film zählen allein die sichtbaren Körperbewegungen, deren psychologische Deutung dem Filmzuschauer obliegt: Ausdruck erweist sich hier – in der mediatisierten Darstellung von Affekten – einmal mehr als Projektion seines Eindrucks. Mimische Expressivität kann für Häfker deshalb nur aus dem Zusammenspiel verschiedener filmischer Effekte entstehen. Die Darstellung sichtbarer »Glieder- und Mienenbewegungen« erklärt er dementsprechend zum alleinigen Zweck des Schauspielens im Film. Um aber deren emotionale Wirkung zu steigern, müsse das »Kino-Mimodrama« der Zukunft wie die Oper ein Gesamtkunstwerk werden und »Lichtbild, Illusionsgeräusche, Musik, Vortrag, Raumkunst« vereinen.7 Häfkers Adelung des Films zum Gesamtkunstwerk macht klar, daß die Fokussierung der frühen Filmtheorie auf die vermeintliche Stummheit des kinematographischen Bewegungsbildes selbst ein diskursiver Effekt ist – er soll der Rede von einer visuellen Kultur zu Evidenz verhelfen –, denn der ›stumme‹ Film war niemals so stumm, wie seine Verfechter glauben machen wollten.8 Zugleich verpflichtet Häfker den Spielfilm auf die Darstellung und psychologische Lesbarkeit von Affekten; er visioniert eine Zukunft des Films, in dem »das Kinoschauspiel [...] nur ein Melodrama sein« kann.9 Diese Privilegierung des Melodramas interpretiert Tom Gunning in seiner Studie über David W. Griffith als entscheidende Wende des frühen fiktionalen Films von der Komödie zum Drama, die parallel zum Übergang vom Attraktions- zum Narrationskino stattfand: »As a popular form, melodrama had evolved an empathetic approach to both character
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H. Häfker: »Der Weg zur Kinodramatik«, S. 2. Ebd., S. 3. Vgl. W. Mühl-Benninghaus: Das Ringen um den Tonfilm; Corinna Müller: Vom Stummfilm zum Tonfilm, München: Fink 2003, die verschiedene Techniken akustischer Rahmung aufführt (bes. S. 85-107). H. Häfker: »Der Weg zur Kinodramatik«, S. 4.
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and action designed to fully involve audience members.«10 Attraktiv wurde das Melodrama für die Entwicklung einer eigenständigen Filmform, weil es über ein ausgeprägtes System von Gesten, Stellungen und Handlungsmustern sowie in gesetzten Pausen, spannungssteigernden Unterbrechungen und statischen Posen über eine effektive Dramaturgie der Aufmerksamkeitslenkung verfügte, um Psyche und Motivation seiner Akteure glaubhaft vermitteln zu können. Häfkers Votum für das »KinoMimodrama« läßt sich in diese Phase der Herausbildung filmischer Narrations- und Darstellungsformen einordnen, für die Griffith BiographFilme exemplarisch einstehen.11 Weil der ›stumme‹ Film für Häfker und das Gros der Kinotheoretiker seiner Zeit seine Dramatik vor allem im körpersprachlichen Handeln seiner Akteure entfaltet, macht er anpassungsfähige Subjekte erforderlich, die den Anforderungen an eine mediale mimische Expressivität genügen. Auf diese disziplinierende Funktion weist Häfker ausdrücklich hin, wenn er schreibt, im Kinodrama interessiere »keineswegs eine aparte, menschliche Individualität«, sondern »die Handlung, die Mimik der agierenden Personen und die rein optische Erscheinung des Bildes auf der Leinwand, die szenische Anordnung also, in der sich Handlung und Mimik abspielen«.12 Die optische Wirkung des Darstellers auf dem Zelluloid wird zum entscheidenden Auswahlkriterium für seine Eignung für den Film – deshalb können auch Laien erfolgreiche Filmdarsteller werden.13 Nur sie entscheidet, wer zum Star wird und wer nicht. Das Schauspielen im Film bildet zudem Regeln aus, die – in letzter Konsequenz – die Typifizierung seiner Darsteller und Darstellungsformen befördern.14 Dessen Individua10 T. Gunning: Griffith, S. 106. Gunning setzt diese Wende zwischen 1908 und 1912 an. Häfkers ›späte‹ Apologie des Melodramas steht einerseits für die besondere Affinität der deutschsprachigen Kinodebatte zur Idee einer Universalsprache der Mimik und Gestik und andererseits für die Hartnäckigkeit melodramatischer Posen im ›stummen‹ Film, die sich besonders bei der Darstellung extremer Affekte behaupten konnten (vgl. R.E. Pearson: Eloquent Gestures, S. 50). 11 Vgl. ebd., S. 106f; R.E. Pearson: Eloquent Gestures, bes. S. 38-51. 12 H. Tannenbaum: »Probleme des Kinodramas«, S. 60. 13 Regisseure wie Wsewolod Pudowkin haben ihre Vorliebe für Laien mit dem Argument begründet, der Film fordere Typen und nicht Individuen. Vgl. zur Unterscheidung von Schauspieler und Darsteller Knut Hickethier: »Der Schauspieler als Produzent. Überlegungen zur Theorie des medialen Schauspielens«, in: Heinz B. Heller (Hg.): Der Körper im Bild: Schauspielen — Darstellen — Erscheinen, Marburg: Schüren 1999, S. 9-29, hier S. 17-19. 14 Vgl. exemplarisch Richard DeCordova: »The Emergence of Star System in America«, in: Wide Angel 4 (Fall 1985), S. 4-13; Richard Dyer: Stars, London: British Film Institute 1979; Sabine Lenk: »Stars der ersten Stunde. Eine Studie zur Frühzeit des Kinos«, in: Montage/av 1 (1998), S. 11-32;
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lität wird etwa zugunsten der Forderung nach einer »ganz besonderen Art mimischer Begabung« zurückgestellt, wie sie das filmische Bewegungsbild verlange.15 Hinter dieser Forderung verbirgt sich ein kommunikationstheoretisches und wirkungsästhetisches Axiom: Durch die Typifizierung der Darstellung und Standardisierung von Ausdrucksbewegungen sollen schauspielerischer ›Ausdruck‹ und sein ›Eindruck‹ beim Kinopublikum zur Deckung gebracht und das Verständnis von Mimik und Gestik im Film gewährleistet werden. Ein solches Talent, durch Mimik und Gestik zu kommunizieren, besitzt für Herbert Tannenbaum »heute vielleicht allein die bedeutende Schauspielerin Asta Nielsen«.16 Über deren außergewöhnliche mimische Fertigkeiten besteht unter den Filmkritikern und Filmtheoretikern der Stummfilmära große Einmütigkeit. Nicht erst Béla Balazs hat sie in zahlreichen Filmkritiken beschrieben und der Schauspielerin in seiner Filmtheorie Der sichtbare Mensch ein Denkmal gesetzt.17 Ihr nuanciertes Mienenspiel steht geradezu paradigmatisch für eine spezifische »Kinomimik«, die mit der Visualität des filmischen Bewegungsbildes auf besondere Weise korreliert: Sie bringt nämlich mit ihrer Medialität zugleich ihren kommunikativen Zweck zum Verschwinden und nährt – wie Herbert Tannenbaum betont – den Glauben, Affekte »unmittelbar erleben« zu können: Ihre Gesten lassen niemals die Empfindung wach werden, es handle sich hier um traditionelle, ganz allgemein bewuszt angenommene Zeichen zum Zwekke der Kundbarmachung eines Willens oder eines innern Zustandes [...]. Vielmehr scheinen bei ihr Geste und Mimik der konsequente, innerlich bedingte Ausflusz seelischer Regungen zu sein. Ihr Körper musz einfach so, wie er es tut, auf alle Affekte reagieren. So erleben wir in der Körperkunst Asta Nielsens die Affekte unmittelbar.18
Die Illusion einer Unmittelbarkeit, die das Spiel der Asta Nielsen dem Kinopublikum verheißt, kassiert die beiden grundlegenden Voraussetzungen des Schauspielens im Film: daß die von ihr gezeigten Affekte überhaupt gespielt sind und daß diese erst durch die filmische Aufzeichnung und Wiedergabe sichtbar und mithin auch ›erlebbar‹ werden. Tannenbaum rückt das mimische und gestische Spiel Asta Nielsens jedoch in
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James Naremore: Acting in the Cinema, Berkeley/Los Angeles/London: Univ. of California Press 1990. H. Tannenbaum: »Probleme des Kinodramas«, S. 62. Ebd. Vgl. B. Balázs: Der sichtbare Mensch, S. 162ff. Er widmet neben Asta Nielsen nur noch Charlie Chaplin ein solches Porträt. H. Tannenbaum: »Probleme des Kinodramas«, S. 62.
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die Nähe eines körperlichen Automatismus, der alle ihre Bewegungen unter Ausschluß des Bewußtseins zu erzwingen scheint. Dieser Automatismus läßt auch die spezifischen Bedingungen des Schauspielens im Film vergessen. Zugleich macht Tannenbaum in seiner Begeisterung für die »Körperkunst« der Asta Nielsen glauben, Affekt und Ausdruck entsprächen sich im filmischen Bewegungsbild auf eine ganz natürliche Weise – der Film leistet also der (Re-)Naturalisierung der Mimik und Gestik Vorschub. Dem aufmerksamen Beobachter und Kinotheoretiker Tannenbaum entgeht natürlich nicht, daß diese Unmittelbarkeit des Affekteindrucks gleichwohl ein medialer Effekt ist, der durch den Illusionismus der filmischen Realitätskonstruktion bedingt ist. Der Eindruck der Unmittelbarkeit des Affekts, den das Spiel Asta Nielsens vor der Kamera erzeugt, gehorcht den medialen Bedingungen der filmischen Wirkung. Dazu gehört in erster Linie eine Kameraführung und Beleuchtung, die das bewegliche Mienenspiel auf ihrem Gesicht zu inszenieren weiß.19 Darüber hinaus attestiert Tannenbaum der Schauspielerin eine besondere Affinität zum Gefilmtwerden. Ihr scheinbar willenloser Körper und der »knatternde Apparat« gehen eine Allianz ein: Unter seiner Herrschaft scheint der Affekt selbst zu sprechen. Das Spielen vor der Kamera wird so zu einem psychologischen Experiment: Das Knattern des Apparats schaltet das Bewußtsein aus, hypnotisiert den Schauspieler gewissermaßen und steigert damit seine Autosuggestibilität. Wodurch kommt diese erstaunliche Wirkung Asta Nielsens auf die Theoretiker des ›stummen‹ Films zustande? Zunächst einmal durch ihre Fähigkeit, Wechsel und Übergänge der Affekte durch eine nuancierte Mimik zu gestalten – also Affekte als subtile Ausdrucksbewegungen und nicht als Pose oder Grimasse zu zeigen.20 Solche gröberen Ausdrucksmittel vermochten in der Ära des Cinema of Attractions zu überzeugen; sobald jedoch Filme mit psychologisch motivierten Charakteren und Handlungen entstehen, gewährleistet nur ein verfeinertes Mienenspiel deren Verständnis. Diese Überzeugung bringt Joseph August Lux bereits 1913/14 zum Ausdruck. Das Spiel der Asta Nielsen bringe »immer wie19 Die besonderen visuellen Effekte des filmischen Bewegungsbildes wurden wahlweise als »Photogénie« (Louis Delluc) oder »Physiognomie« (Béla Balázs) definiert; vgl. Frank Kessler: »Photogénie und Physiognomie«, in: Campe/Schneider: Geschichten der Physiognomik, S. 515-534. 20 Herbert Jhering bringt das melodramatische Posieren im frühen Film mit Starkult und Fotografie in Verbindung (vgl. ders.: »Schauspieler im Film«, S. 382). Zum Einfluß der Fotografie auf den Starkult vgl. Knut Hickethier: »Theatervirtuosinnen und Leinwandmimen. Zum Entstehen des Stars im deutschen Film«, in: Corinna Müller/Harro Segeberg (Hg.): Die Modellierung des Kinofilms. Zur Geschichte des Kinoprogramms zwischen Kurzfilm und Langfilm 1905/06-1918, München: Fink 1998, S. 333-357.
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der eindringlich zu Bewusztsein«, daß »gerade die stärkste Wirkung in den leisesten Zeichen beruht«.21 Der sparsame, aber kontinuierliche Einsatz von Mimik und Gestik kennzeichnet den »verisimilar code« und wird bereits in dieser Phase der Kinodebatte gegen ihre einmütig kritisierte Übertreibung und Vergröberung ins Spiel gebracht.22 Auch Jhering erkennt Asta Nielsens Talent im Bewegungsfluß ihrer Mienen und Gesten – in der »Übersetzung von Bewegungsmelodien«: Für ihn spielt sie »aus dem Körper und legt die Gesten wie auf Töne und Taktgruppen fest. [...] Sie gibt Variationen eines mimischen Themas. Sie formuliert die Gebärde und leitet sie weiter. Sie bleibt im Fluß«.23 Seine Beschreibung erklärt genau, worin das Besondere der schauspielerischen Leistung Asta Nielsens für die filmkritische Zunft liegt: Sie reiht nicht ausdrucksstarke melodramatische Posen aneinander, sondern gestaltet einen Bewegungsfluß mittels Rhythmus und Variation und erfüllt damit die darstellungstheoretische Vorgabe Hermann Häfkers, der im Film die Möglichkeit zu einer »Bewegung als Ausdruck« gesehen hatte. Ihr Spiel genügt damit auch jenen epistemologischen Voraussetzungen des Affektausdrucks, die mit einer Psychologie der Ausdrucksbewegung formuliert wurden. Mimische Expressivität im ›stummen‹ Film erweist sich als Resultat einer psychologisierten Kultur der Bewegung, die ›Ausdruck‹ in signifikanten Körperbewegungen zu erkennen und an ihrer chronofotografischen bzw. filmischen Aufzeichnung zu analysieren gelernt hat. Schließlich verwendet auch Jhering mit dem Terminus »Bewegungsmelodie« explizit einen Begriff der zeitgenössischen Biologie, den Jakob von Uexküll geprägt hatte, um den spezifischen Zusammenhalt der Aktionsformen von Organismen zu bestimmen.24 Seine Adaption ist ein Beleg für die Verschränkung des ästhetischen und des wissenschaftlichen Diskurses hinsichtlich der Ausdrucksproblematik und für die Hegemonie des Bewegungsbegriffs. Doch auch die Wahrnehmung des beschriebenen Bewegungsstils mußte vom Kinopublikum erst eingeübt werden. So beklagt Jhering in 21 J.A. Lux: »Das Kinodrama«, S. 121. 22 Im Gegensatz zu den abgesetzten Posen des »histrionic code« beruht der »verisimilar code« auf der Distinktheit bedeutender Details und der psychologischen Lesbarkeit scheinbar nebensächlicher Gesten (vgl. R.E. Pearson: Eloquent Gestures, S. 50); Zum Vorwurf der Übertreibung und Vergröberung s.u. Kap. 7.3 Mimische Standards. 23 H. Jhering: »Der Schauspieler im Film«, S. 385. 24 Zu Jakob von Uexküll (1864-1944) vgl. Ch.G. Alesch: Geschichte der psychologischen Ästhetik, S. 439-443. In Gestaltpsychologie und Phänomenologie gelangt von Uexkülls Begriff zu einiger Prominenz — etwa in J.J. Buijtendijks und H. Plessners Aufsatz Die Deutung des mimischen Ausdrucks von 1925.
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seiner Artikelserie die negativen Auswirkungen der geforderten Stilisierung von Mienen und Gesten: »Nur das Filmpublikum verwechselt noch immer Pose mit Spiel. Es unterliegt dem Zauber des photographierten Ganges, der photographierten Geste, des photographierten Gesichts [...]. Die Linse des photographischen Apparates ersetzt dem großen Filmpublikum die schauspielerische Leistung des Darstellers.«25 Nicht von ungefähr beschreibt er die Wirkung des fotografisch visualisierten Körpers als »Zauber«. Die Fragmentierung des Körpers durch die filmische Einstellung macht ihn zum magischen Objekt und leitet eine Fetischisierung von Gang, Geste und Gesicht ein.26 Jherings Kritik kann nicht verhehlen, daß erst die fotografische Erfassung des Köpers seine Aufschlüsselung in Bewegungsfiguren ausgelöst hat. Für ihn schmälert jedoch die filmische Illusion die individuelle Leistung des Schauspielers, die sie doch zuallererst ermöglicht. Als sein Anwalt bemüht er sich daher, die medialen Voraussetzungen und Effekte des Schauspielens im Film herunterzuspielen. Gleichzeitig bettet er die Entwicklung des technischen Mediums in einen breiten kulturellen Zusammenhang ein: »Der Film hat nicht deshalb eine Zukunft, weil er technisch fortschreitet. Sondern weil seine Forderungen sich mit den malerischen, architektonischen, mimischen Forderungen der Zeit berühren. Weil es den neuen Schauspieler gibt, gibt es den Film.«27 Mit dieser paradox anmutenden Formulierung erinnert Jhering nicht nur daran, daß die Ausbildung des filmischen Bewegungsstils Vorläufer im psychologisierenden Rollenspiel des naturalistischen Theaters und Parallelen in gymnastischen Reformbewegungen hat. Er erinnert auch daran, daß das filmische Bewegungsbild seinen durchschlagenden kulturellen Erfolg dem Bewegungsimperativ der Zeit verdankt. Zugleich weist Jhering dem Film die Rolle eines Katalysators für andere Diskurse zu, verkennt aber die spezifisch filmischen Möglichkeiten einer Rhythmisierung und Dynamisierung der Bewegung, wie sie etwa Sergej Eisenstein in seiner Montagetheorie entwickelt hat. Deshalb bleibt gegen die Intention Jherings festzuhalten, daß gerade der fotografierte Gang, die fotografierte Geste oder das fotografierte Gesicht die 25 H. Jhering: »Der Schauspieler im Film«, S. 382f. 26 Eine »magische Besetzung« erfahren auch Requisiten, die so zu (animierten) Akteuren werden. Balazs spricht von einer »lebendigen Physiognomie« aller Dinge, und für Musil liegt die »Mystik des Films« im »symbolischen Gesicht der Dinge« (B. Balázs: Der sichtbare Mensch, S. 87; R. Musil: »Anmerkungen zu neuer Ästhetik«, in: ders.: Gesammelte Werke. Prosa und Stücke, Kleine Prosa, Aphorismen, Autobiographisches, Essays und Reden, Kritik, hg. von Adolf Frisé, Hamburg: Rowohlt 1978, S. 1137-1154, hier S. 1143; vgl. auch H. Münsterberg: Lichtspiel, S. 54; R. Arnheim: Film als Kunst, S. 177. 27 H. Jhering: »Der Schauspieler im Film«, S. 378f.
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Aufmerksamkeit für den Nuancenreichtum der körpersprachlichen Darstellung des Schauspielers geschärft haben, bevor der Film vor allem seine rhythmischen Qualitäten in den Fokus rückt. In diesem Sinne argumentiert auch Anton Kaes, der die investigative Rolle des ›stummen‹ Films hervorhebt: »Das Aufkommen des Films hat das Interesse an Mimik und Physiognomik verstärkt, während der Film im Laufe der zwanziger Jahre ein zunehmend nuanciertes mimisches Verständnis beim Publikum voraussetzte.«28 Kaes stellt die Entwicklung einer mimischen Expressivität im ›stummen‹ Film in den Kontext eines erstarkten Interesses an Mimik und Physiognomik, das wiederum auf die Spielfilmproduktion selbst und seine diskursive Verhandlung zurückgewirkt habe. Eine solche Wechselwirkung zeichnet sich bereits in den Artikeln Jherings ab. Er verwendet in seiner Argumentation zahlreiche Begriffe und Konzepte aus anderen Diskursbereichen – wie den bereits erwähnten einer »Bewegungsmelodie« aus der zeitgenössischen Biologie. Daß solche Begriffe im kulturellen Diskurs verfügbar waren und zwischen unterschiedlichen Diskursen zirkulierten, macht die Unsicherheit, aber auch Anschlußfähigkeit eines Wissens um den Menschen und seiner Zeichen am Körper deutlich. Das beweist auch Jherings Adaption eines prominenten Begriffspaars aus der Psychologie, um ein ausdrucksvolles Mienenspiel von einer Grimasse zu unterscheiden. Grimassen stellen die Extreme und in letzter Konsequenz die Grenze dessen dar, was als ›Ausdruck‹ bezeichnet und damit auch psychologisch gedeutet werden kann. Sie bilden deshalb einen wichtigen Prüfstein jeder ausdruckstheoretischen Theoriebildung. Als Unterscheidungskriterium benennt Jhering verschiedene Grade der Intensität des Affektausdrucks. Der stärkste Gesichtsausdruck werde erst dadurch zur Grimasse, »daß seine Spannung nachläßt«.29 Mit ›Spannung‹ und seinem Gegenbegriff ›Entspannung‹ bzw. ›Lösung‹ übernimmt er ein psychologisches Begriffspaar, mit dem gewöhnlich der Muskeltonus bezeichnet wird. Sie werden jedoch von Jhering ihrer physiologischen Grundlage beraubt und auf die Konzentration des Schauspielers und die Beweglichkeit seines Mienenspiels übertragen: »Spannung ist eine Seelen-, keine Muskelangelegenheit«.30 Als Grimasse kann in dieser Perspektive nur ein unkonzentriertes Mienenspiel erscheinen – ein Mienen28 A. Kaes: »Das bewegte Gesicht«, S. 165. 29 H. Jhering: »Der Schauspieler im Film«, S. 398. 30 Ebd. Dagegen beschreibt die physiologische Psychologie Konzentration in der Nachfolge Duchenne de Boulognes als Muskelspannung bei intensiver Aufmerksamkeit; vgl. C.M. Giessler: »Mimische Gesichtsmuskelbewegungen vom regulatorischen Standpunkte aus«, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 1. Abt., 60. Bd. (1912), S. 241-266, bes. S. 243.
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spiel, das ohne bewußte Anspannung der Gesichtsmuskulatur zustande kommt. Dagegen erzeugen für Jhering erst Konzentration und Beweglichkeit jene Intensität, die mimische Expressivität im ›stummen‹ Film auszeichnet: »Spannung des Ausdrucks ist im Film alles. Diese Spannung heißt bei Werner Krauss Konzentration, bei Fritz Kortner Beweglichkeit des Gesichtsausdrucks.«31 Auch in der Psychologie Wilhelm Wundts fungierte die Intensität eines Affekts als Unterscheidungskriterium. Für ihn bezeichnete die Grimasse eine ausdruckslose Intensität des Affekts. Zugleich hatte er mit seinem affektpsychologischen Koordinatensystem, das den Affekt aus den Werten der drei Kategorienpaare Lust/Unlust, Erregung/Hemmung und eben Spannung/Lösung quantitativ bestimmen sollte, ein eingängiges Bild affektiver Prozesse entworfen, dessen Modellfunktion auf andere Diskurse wirkte.32 Mit der Einführung dieser psychologischen Begrifflichkeit erklärt Jhering nicht nur das Schauspielen zum psychischen Prozeß und den Schauspieler zu dessen Exponenten, er partizipiert auch an der Logik dieses psychophysischen Modells. Denn die Leistung des Schauspielers bemißt Jhering allein an der Intensität seiner Affektdarstellung: »Krauss übersetzt alles innere Geschehen restlos in Körperintensität.«33 Ihm geht es nicht um eine grammatisierbare Körpersprache, um ein kodifiziertes Arsenal von Mienen und Gesten, das die Verständigung mit dem Publikum gewährleisten soll, sondern die psychische Intensität ist ihm an sich schon eine ›Sprache‹ der Affekte – nicht umsonst ist Spannung das physiologische Korrelat der Aufmerksamkeit: »Diese Intensität ist ein neues, verborgenes Verständigungsmittel [...]: eine neue Sprache wie der Film überhaupt.«34 Die Affektintensität ist eine physiologische Größe und seit Mareys Spygmograph meßbar – als Puls-, Atem- oder Herztätigkeit. Solche Daten aber als Sprache zu qualifizieren bedarf einiger Übersetzung – zumal Intensität für Jhering die »Diskretion einer neuen Schauspielkunst«35 sein soll. Sie gelingt durch eine Transposition ins Visuelle, die er am Beispiel von Paul Wegeners Darstellung in STEUERMANN HOLK vornimmt. Bei Wegener sei »alles ›Sprechen‹ in die Gesichtsmuskeln übersetzt, [...] alle Übergänge ins Spiel der Nerven und der Antlitzfläche verlegt«.36 Nerven und Antlitzfläche bilden schon deshalb eine »starke Organisati31 H. Jhering: »Der Schauspieler im Film«, S. 387. 32 Zu Wundts Kategorien vgl. Gustav Kafka: »Grundsätzliches zur Ausdruckstheorie«, in: Acta psychologica, vol. III (1937), S. 273-314, bes. S. 288f. 33 H. Jhering: »Schauspieler im Film«, S. 388. 34 Ebd. Auch Sergej Eisenstein beschreibt ›Spannung‹ in physiologischen Termini (ders.: »Ein dialektischer Zugang zur Filmform«, in: ders.: Vom Theater zum Film, Zürich: Die Arche 1960, S. 35-54, bes. S. 37). 35 H. Jhering: »Der Schauspieler im Film«, S. 393. 36 Ebd., S. 386.
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on«,37 weil sie über die Gesichtsmuskulatur untrennbar miteinander verbunden sind, also ein Verhältnis der Kontiguität begründen. Entscheidend ist aber, daß sie die Bedeutung psychischer Prozesse allein auf der Ebene sichtbarer Evidenzen generieren können.38 Implizit geht Jhering von der Möglichkeit einer visuellen Sprache der Affekte aus, die über einen mimischen Kanal psychische Intensitäten kommuniziert. Distinktheit erlangt sie allein durch die Nuanciertheit und Steigerbarkeit mimischer Prozesse. Zu diesem Modell einer psychischen Bahnung gibt Jhering ein weiteres Beispiel: Die Spielweise von Werner Krauss nimmt er als Beleg dafür, »daß im Film allein eine körperlich intensive, expressive Schauspielkunst bannt und hypnotisiert./Das Heraufholen der Gebärde aus dem Leibe, das Fortleiten der Bewegung bis in die Fingerspitzen ist alles«.39 Er signifiziert den ganzen Körper als Resonanzraum der Gebärde und entwickelt eine Schauspielertheorie, die sich weniger mit den Bedingungen und Möglichkeiten des Schauspielens im Film als mit seinen allgemeinen psychophysischen Gesetzmäßigkeiten auseinandersetzt: Seine Rede vom »Fortleiten der Bewegung bis in die Fingerspitzen« folgt Wundts Modell eines Parallelismus physischer und psychischer Prozesse. Deshalb steht seine Argumentation auch im Kontext zeitgenössischer ausdruckspsychologischer Forschung, wenn er behauptet, der Schauspieler habe seine Darstellungsweise im Film »aus dem Gefühl für den mimischen Rhythmus«40 heraus entwickelt. Sie zielt auf eine psychologisch begründete Wirkungsästhetik des Films ab, wenn er die hypnotische Wirkung der mimischen und gestischen Expressivität des Filmschauspielers hervorhebt. Im Unterschied zu Filmtheoretikern wie Béla Balázs, die ein Gebärdenlexikon durch den Film nicht nur als möglich, sondern auch als not-
37 Vgl. Gilles Deleuze/Félix Guattari: »Das Jahr Null: Die Erschaffung des Gesichts«, in: dies.: Tausend Plateaus. Kapitalismus und Schizophrenie, Berlin: Merve 1992, S. 229-262. 38 Das psychophysische Modell Spannung/Entspannung gelangt vor allem in der Psychotherapie zum Einsatz, um Störungen des emotionalen Gleichgewichts zu behandeln; vgl. Hugo Schwerdtner: »Die Ausdrucksbewegungen im Dienste der Psychopathologie. Vorläufige Mitteilungen über eine neue Behandlungsart der Psychoneurosen«, in: Medizinische Klinik. Wochenschrift für praktische Ärzte, 23. Jg. (1926), S. 293-294. Zu Schwerdtner und der Bildlichkeit von Spannung/Lösung vgl. S. Rieger: Ästhetik des Menschen, S. 234-245. 39 H. Jhering: »Schauspieler im Film«, S. 380. 40 Ebd., S. 379. Neben Wilhelm Wundt gelten Melchior Palágyi und Ludwig Klages, der 1934 eine Schrift mit dem Titel Vom Wesen des Rhythmus verfaßt hat, als entscheidende Stichwortgeber für die deutschen Rhythmus- und Ausdruckstanzbewegungen (vgl. G. Brandstetter: Tanz-Lektüren, S. 300).
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wendige Kompensation der Übergängigkeit mimischer Nuancen angesehen haben,41 stellt Jherings Konzept mit der Prozeßhaftigkeit einer Sprache der Affekte auch die Möglichkeit eines solchen Lexikons in Frage. Wenn allein die Grade von Intensität und Spannung einen Affekt in seinem Ausdruck zu qualifizieren vermögen, dann kann es keine semantisch eindeutigen Zuschreibungen an bestimmte mimische oder gestische Ausdrucksformen geben.42 Genau an diesem Punkt setzt die experimentelle Ausdruckspsychologie an. Dort setzt sich seit den 1920er Jahren die Erkenntnis durch, daß es keine eindeutigen Affektbilder geben könne, weil einerseits der Ausdruck vom Eindruck des jeweiligen Gegenübers abhänge und daher nur bedingt objektivierbar sei und andererseits Mienen und Gesten in variablen situativen Kontexten gebraucht würden.43 Die fotografische Evidenz, die Duchennes Affektbilder beansprucht hatten, wird durch die Ausdruckspsychologie im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts insofern relativiert, als nicht nur die Kontexte und Kommunikationsverhältnisse, sondern auch die Bewegungsformen eine Reformulierung des ausdruckstheoretischen Rahmens erforderlich machen.
7 . 2 Mi m is c he M ehr d eut i gk ei t Die experimentelle Psychologie ist neben der Debatte um den ›stummen‹ Film der diskursive Ort, an dem die erkannte Mehrdeutigkeit von Mimik und Gestik verhandelt wird. Genauer gesagt: Der Einsatz des Films bestimmt Methodik und Richtung psychologischer Untersuchungen, als deren Ergebnis die semantische Mehrdeutigkeit steht. Bereits 1919 hat der experimentierfreudige russische Regisseur Lew Kuleschow einen legendären Versuch gewagt, der die Vieldeutigkeit einer einzelnen Geste be41 Béla Balázs schlägt ein solches »Lexikon der Gebärdensprache mit Hilfe der Kinematographie« als Brücke zu einem von der Psychologie erst noch zu findenden »Gesetz der Mienen- und Gebärdenassoziation« vor (ders.: »Dramaturgische Fragmente. Das unsichtbare Antlitz«, in: Filmtechnik, 3. Jg. [1927], Nr. 2, S. 24-25, hier S. 25; s.a. B. Balázs: Der sichtbare Mensch, S. 27f). 42 Roberta E. Pearson sieht die Lexikalisierbarkeit als ein wesentliches Distinktionsmerkmal von »histrionic« und »verisimilar code« an: »The histrionic code is characterized by its limited lexicon and digital nature, while the verisimilar code has no lexicon and is analogic« (dies.: Eloquent Gestures, S. 37). Ihre Charakterisierung ist allerdings allein schon deshalb nicht haltbar, weil auch der »verisimilar code« auf der Wiedererkennbarkeit von Bewegungsmustern als Grundlage ihrer Lesbarkeit beruht. Zur Lexikalisierbarkeit filmischer Bewegungsformen s.u. Kap. 7.3 Mimische Standards. 43 Vgl. Carney Landis: »The Interpretation of Facial Expression in Emotion«, in: Journal of Psychology 2 (1929), S. 59-72; K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 214-217.
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weisen sollte: Er schnitt eine Großaufnahme eines blickenden Gesichts in drei unterschiedliche szenische Kontexte ein. Die Zuschauer dieser drei Szenen sollen dem gleichen identischen Gesichtsausdruck jeweils andere Bedeutungen unterlegt haben.44 Durch solche Experimente belehrt, ordnet auch die wissenschaftliche Psychologie ihr Forschungsprogramm neu. Diese Neuordnung stellt Karl Bühler in seiner Ausdruckstheorie vor: »Die modernen Hilfsmittel (wie Filmaufnahmen) gestatten und fordern kategorisch eine methodische Erweiterung des Unternehmens und dabei werden sich schon wie von selbst einige sachliche Differenzierungen der Symptome herausstellen. Durchgreifend aber wird ein umfassend neuer Plan in diesen Dingen beherrscht und getragen sein müssen von einer vertieften semantologischen Axiomatik.«45 Bühler stellt in seiner 1933 veröffentlichten Abhandlung die Programmatik einer experimentellen Ausdruckstheorie vor und fordert dort eine »wohlfundierte Synsemantik« der »fruchtbaren Momente des mimischen Geschehens«, nicht ohne sich dabei auf aktuelle Forschungsergebnisse u.a. des von ihm geleiteten Wiener Psychologischen Instituts zu berufen.46 Explizit verweist er auf die Studien seiner Mitarbeiterin Auguste Flach, die die Mehrdeutigkeit von Gesten experimentell untersucht hat. In ihren 1928 veröffentlichten Untersuchungen zur »Psychologie der Ausdrucksbewegungen« stellt sie die Frage, worin »das Wesentliche am Ausdruckssinn einer Gebärde« bestehe.47 Flach kommt zu dem Ergebnis, daß das »Bewegungsbild, die sichtbare Geste für sich allein, [...] noch keineswegs der Ausdruck einer Gemütsbewegung« sei, weil »das Bild in Bezug auf den Ausdruck gar nicht eindeutig ist, und zwar weder für den Erlebenden, noch für den Beschauer.«48 Mit dieser Einschätzung richtet sie sich gegen eine charakterologische Ausdruckstheorie, wie sie prominent Ludwig Klages mit seiner Auffassung einer je individuellen Bewegungsgestalt vertreten hat.49
44 Pudowkin überliefert dieses Experiment in seiner Schrift Filmmanuskript und Filmregie (1928). Ob es tatsächlich funktioniert hat, ist allerdings zweifelhaft (vgl. K. Hickethier: »Der Schauspieler als Produzent«, S. 24). 45 K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 88. 46 Ebd., S. 214. Eine solche »Synsemantik« müsse die »im Ausdruckslexikon isoliert [...] kodifizierten fruchtbaren Momente des mimischen Geschehens« aufheben, um ihrer kontextgetragenen »pathognomischen und physiognomischen Valenz« gerecht zu werden (ebd.). Zum Konzept der Synsemantik vgl. K. Bühler: Sprachtheorie, S. 20. 47 Auguste Flach: »Die Psychologie der Ausdrucksbewegung«, in: Archiv für die gesamte Psychologie 65 (1928), S. 435-534, hier S. 460. 48 Ebd. 49 Ludwig Klages: Ausdrucksbewegung und Gestaltungskraft. Grundlegung der Wissenschaft vom Ausdruck (1917), 2. wesentlich erw. Aufl., Leipzig: Engelmann 1921; vgl. W. Hehlmann: Geschichte, S. 225.
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Gegen eine solche Verengung des Begriffs und damit implizit gegen Klages bringt Flach vor, daß auch diese Bewegungsgestalten erst in ihrem zeitlichen Verlauf und ihrer kontextuellen Einbettung verständlich werden. Die semantische Mehrdeutigkeit resultiert für sie nicht nur aus dem zwangsläufig subjektiven Urteil des Adressaten einer körpersprachlichen Mitteilung, sondern gleichfalls aus einer Uneindeutigkeit auf Senderseite. Sie verfolgt damit eine konsequent kommunikationstheoretische Auffassung der Affekt-Ausdrucksbeziehung, die Wilhelm Wundt in seiner Völkerpsychologie entworfen hatte. Die experimentelle Ausdruckspsychologie entfernt sich mit der Untersuchung des semantischen Umfeldes von Ausdrucksbewegungen deutlich von lexikografischen Unternehmungen, die die Ausdrucksforschung des 19. Jahrhunderts gekennzeichnet hatten.50 Die Mehrdeutigkeit der Geste selbst entsteht aus einem semantischen Überschuß, welcher Gesten im Unterschied zur konventionellen Sprache in zeitgenössischer Lesart auszeichnet. Uneindeutig sind Gesten aber vor allem dann, wenn sie als symbolhafte Posen eingesetzt werden. Flach erläutert diesen Zusammenhang am Beispiel der Bitte: »Also das Symbol allein, die Geste der erhobenen Hand, mit dem Handteller nach oben ist vieldeutig. Eindeutig und überzeugend wird sie erst durch die Dynamik der Bewegung.«51 Diese Disqualifizierung der statischen Geste, der Pose, markiert die epistemologische Verschiebung, die mit der wissenschaftlichen Untersuchung von Körperbewegungen im 19. Jahrhundert eingesetzt und in der psychologischen Bestimmung der Ausdrucksbewegung einen Höhepunkt ihrer Diskursivierung erreicht hat: die Ablösung der statischen Ausdruckszeichen durch die dynamischen sowie der Pose durch die Ausdrucksbewegung. Damit verabschiedet die experimentelle Psychologie ausdruckstheoretische Annahmen, die seit dem 18. Jahrhundert über den Symbolwert von Mimik und Gestik vertreten wurden. Johann Jakob Engel etwa hatte solche universalen symbolischen Ausdrucksformen angenommen und durch sie eine zeichentheoretische Relation begründet, die in den ›natürlichen‹ Zeichen der Affekte zugleich ihre wesentlichen sehen wollte. Doch nicht nur das Paradigma einer allgemeinen menschlichen ›Natur‹ als dessen Voraussetzung dankt im 19. Jahrhundert ab. Mit der Kategorie des Verhaltens benennt Auguste Flach zugleich eine zeitgenössische psychologische Strömung, die im 20. Jahrhundert im Verbund mit Ethnologie und Soziologie bestimmend wird: die Verhaltensforschung.52
50 Vgl. E. Kris: »Das Lachen als mimischer Vorgang«, S. 147. 51 A. Flach: »Die Psychologie der Ausdrucksbewegung«, S. 461. 52 Henry Hughes: Die Mimik des Menschen auf Grund voluntaristischer Psychologie, Frankfurt a.M.: Verlag von Johannes Volkelt 1900.
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Flach argumentiert mit der Bedeutungsabhängigkeit der Gesten vom Bewegungsverlauf indirekt auch gegen Pathosformeln, wie sie Aby Warburg in der Kunst der Renaissance und in der Moderne entdeckt hatte.53 Während Warburg von der kulturellen Überlieferung verfestigter Ausdrucksmuster ausgeht, ist für Flach »das Wesentliche für den Ausdruck gar nicht im Symbol gelegen [...], sondern im dynamischen Verlauf«.54 Ausdruckssymbole hätten sich vom dynamischen Verlauf gelöst und seien so zu bloßen Zeichen geworden.55 Außerdem könnten umgekehrt verschiedene Affektbilder den gleichen Sinn haben: Das mache ihre syntagmatische Einbettung im Sinne Bühlers notwendig, auch wenn zwischen dynamischem Ablauf und Bild »eine gewisse Gebundenheit«56 bestehe. Nicht nur im Titel ihrer veröffentlichten Forschungsergebnisse benennt Flach mit der Ausdrucksbewegung eine zentrale Kategorie Wundts. Sie bezieht sich auch auf dessen Parallelismus-These, wenn sie behauptet, daß »Seelisches und Körperliches gleichzeitig da ist und zusammenwirkt, einander gegenseitig hervorruft und stützt, ineinander verwoben und verschränkt ist« und »Körperliches als Körperliches niemals gegenständlich wird«.57 Deshalb beharrt sie auch auf dem Grundsatz, daß körperliche Vorgänge »immer im Zusammenhang mit dem Sinn«58 stünden. Ihre Unterstellung, es gäbe keine unsinnigen Körperbewegungen, folgt Wundts Auffassung der Ausdrucksbewegung als Mitteilungsform und klammert Grenzphänomene wie die Grimasse zugunsten einer systematisierbaren Affekt-Ausdrucksbeziehung aus. Dies läßt sich an Flachs Schlußfolgerungen ablesen. Die Änderung des dynamischen Ablaufes zeige sich insbesondere in den Nuancen einer körpersprachlichen Handlung und bedinge eine Änderung des Verhaltens, wie auch umgekehrt eine Verhaltensänderung eine Abweichung in der Mimik und Gestik hervorbringe. Dadurch werde jeder charakteristische Moment eines mimischen und gestischen Vorgangs evident, werde »jede Besonderheit in der motorischen Gestaltung von Sinn und Bedeu-
53 Warburg führt in seinem Mnemosyne-Atlas den Nachweis, daß sich der Bedeutungsgehalt symbolischer Gesten, der sogenannten Pathosformeln, im Verlauf ihrer Überlieferung wandeln, ja sogar in sein Gegenteil kippen kann. (vgl. Fritz Saxl: »Die Ausdrucksgebärden in der bildenden Kunst«, in: Bericht über den 12. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Psychologie in Hamburg vom 12.-16.4.1931, Jena 1932, S. 13-25). Die Wahrscheinlichkeit solcher semantischen Inversionen wird durch Flachs Befund, die statische Geste sei vieldeutig, sogar bestätigt. 54 A. Flach: »Die Psychologie der Ausdrucksbewegung«, S. 461. 55 Ebd., S. 476. 56 Ebd., S. 473. 57 Ebd., S. 462f. 58 Ebd., S. 463.
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tung getragen«.59 Die wissenschaftliche Psychologie bestätigt damit experimentell ein Wahrnehmungsdispositiv des Films: die psychologisch zu verwertende Distinktheit mimischer und gestischer Nuancen sogenannter Ausdrucksbewegungen, die nur in zeitlichen Sequenzen beobachtbar sind. Die Summe distinkter Nuancen läßt sich als dynamischer Verlauf oder eben als Bewegungsgestalt anschreiben. Nicht umsonst liebäugelt die experimentelle Psychologie in mehr als einer Hinsicht mit dem Film – einerseits, indem sie ihn als Aufzeichnungsverfahren bevorzugt, andererseits, indem sie schauspielerische Darstellungen in kommerziellen Filmen als wissenschaftliche Belege verwendet und damit Ausdrucksbewegungen, die in erster Linie der Verständigung mit dem Kinopublikum dienen, zu wissenschaftlichen Sachbeständen erklärt. Eine solche systematische Gleichsetzung schauspielerischen Kalküls mit den Laborbedingungen exakter Wissenschaft vollzieht Philipp Lersch in seiner Abhandlung Gesicht und Seele. Dort behandelt er mit dem »verhängten Blick« ein Phänomen, das bereits Theodor Piderit ausführlich als »versteckter Blick« beschrieben hatte und dessen Deutung für Karl Bühler zum Testfall der von ihm geforderten Synsemantik wird.60 Lerschs Darstellung verwendet neben Abbildungen eigener Probanden auch Fotografien zeitgenössischer Filmstars wie Albert Bassermann und Greta Garbo (vgl. Abb. 14).61 Um die psychodiagnostische Lesbarkeit der Mimik zu schärfen, hat Lersch sein Filmmaterial zudem in Einzelbilder aufgegliedert und von den Gesichtern nur die mimisch relevanten Partien übernommen, während die physiognomisch deutbaren Partien wie Nase oder Stirn herausgeschnitten wurden. Diese fragmentierten Gesichter hat er wiederum einzeln kommentiert und wie Duchenne in Tableaus zusammengefaßt.62 Seinen psychodiagnostischen Deutungen dienen die aus Fotografien von Filmstars, aus dem Schauspielunterricht sowie aus medizinischer Fachliteratur kompilierten Tableaus als Vergleichsmaß.
59 Ebd., S. 491. 60 K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 84-89, 207-213; s.o. Kap. 4.5 Momentbilder des Ausdrucks. 61 Vgl. Ph. Lersch: Gesicht und Seele, Abbildungen 1 und 4 auf Tafel X. 62 Diese Bearbeitung des Filmmaterials stellt einen entscheidenden Schritt zur Schematisierung des mimischen Gesichts dar. Bereits Duchenne hatte mit Teilabdeckungen des Gesichts gearbeitet, um die Unterscheidbarkeit von Affektmimiken für seine Rezipienten zu steigern. Lerschs Psychodiagnostik soll jedoch die Charakteranalyse unterstützen. Deshalb privilegiert er bei der Darstellung seiner Untersuchungsergebnisse Einzelbilder.
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Abbildung 14: Philipp Lersch: Gesicht und Seele (1932): Tafel X
Karl Bühler hat dieses Nebeneinander von Filmschauspielern und anonymen Probanden in Lerschs Argumentation bemerkt und zuungunsten des psychologischen Experiments argumentiert, daß die Probanden im Unterschied zu den Schauspielern »kaum je in Versuchung kamen, einen lebenden Partner damit anzusprechen« und damit unter Laborbedingungen »unretuschierte Bilder« erzeugt würden, ohne sie auf ihre Tauglichkeit für die Kommunikation zu prüfen.63 Der Vorteil der populären, konventionalisierten und damit streng genommen wissenschaftlich nicht verwertbaren Fotografien von Schauspielermimiken liegt für Bühler eindeutig in ihrer Kontext- und Handlungsbezogenheit. Bühler vertritt hier die auf Wundt zurückgehende Auffassung, affektive Mimiken würden
63 K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 209.
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erst durch ihre Kundgabe an andere zu Ausdrucksbewegungen.64 Lerschs psychodiagnostische Experimente verlassen hingegen den Boden der Synsemantik, um statt dessen Charakteranalyse zu betreiben. Bühlers Vergleich von psychologischem Experiment und mimischer Interaktion im Spielfilm ist noch in einer weiteren Hinsicht beredt. Er gibt zu erkennen, daß die psychologische Forschung bei der Analyse des dynamischen Verlaufs von Ausdrucksbewegungen vom filmischen Bewegungsbild ausgeht und sich die Vorstellung einer mimischen Expressivität zu eigen macht, die in der Debatte um den ›stummen‹ Film geprägt wurde. Bühler wählt als Beispiel die Ausdruckssymptome des in unterschiedlichem Grad geöffneten Auges, von denen Lerschs Interpretation des »verhängten Auges« ausgeht. Damit folgt er wirkungsästhetischen Überlegungen der Kinodebatte, die dem Auge den Hauptanteil am Erfolg mimischer Expressivität im ›stummen‹ Film übertragen hatte: »Die modernen Filmschauspieler praktizieren in ihren sentimentalen Großbildern dies Auf und Zu in vielen Melodien und von wechselnden, habituell sehr verschiedenen Normalstellungen aus; expressiv ist weit mehr die Bewegung selbst als ihr Enderfolg.«65 Bühler verwendet hier nicht nur erneut das biologische Modell einer Bewegungsmelodie, um den Bewegungsverlauf des Augenöffnens bzw. Augenschließens zu charakterisieren. Er erteilt auch dem Erstarren einer solchen Bewegung des Auges in einer Pose, eine deutliche Absage und bestätigt damit eine Beobachtung, die der Kinotheoretiker Hermann Häfker über die bezeichnenden Gebärden bereits 25 Jahre zuvor gemacht hat.66 Die Ausdruckspsychologie dieser Zeit profitiert nicht nur von wirkungsästhetischen Überlegungen der Kinodebatte, die sich insbesondere am Dis-positiv der filmischen Großaufnahme und ihrer psychologisch begründeten Aufmerksamkeitssteuerung entzündet hatten. Sie setzt auch bewußt den Film als Erkenntnismittel ein. So behauptet Bühler, daß etwa durch filmische Aufnahmen »das ungelöste Problem der faktisch ungemein wichtigen Sukzessionsgestalten des Blickweges« überhaupt erst beschrieben und angegangen werden könnte: LERSCH ist mit seinen Filmaufnahmen technisch auf dem Wege; ich könnte mir eine andere Auswertung der Aufnahmen oder neue Experimente mit den
64 S.o. Kap. 5.3 Ausdrucksbewegung und Universalsprache. Asta Nielsens Spiel hat B. Balázs treffend als »mimischen Dialog« beschrieben, »der ohne Worte einen lebendigen Kontakt mit dem Partner schafft« (ders.: Der sichtbare Mensch, S. 163). 65 K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 208f (meine Hervorhebung, P.L.). 66 »Viele bezeichnende Gebärden beginnen langsam, um nach allmählicher Steigerung plötzlich hastig auszugehen; der letzte Teil ist kinematographisch unwirksam« (H. Häfker: Kulturbedeutung, S. 3).
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vorhandenen Filmstreifen denken, um zu einer befriedigenden Beschreibung dieser Gestalten zu gelangen. Daß es lohnend wäre, bedarf keines Wortes; denn kaum etwas anderes kann so mit subtilem Ausdruck geladen sein wie das seismographisch feinbewegte und wechselvolle Spiel des auf den Dingenden [sic!] bald ruhenden und dann wieder über sie hinstreifenden oder sie absuchenden Blickes. [...] es muß eine kleine Welt uns praktisch vertrauter Bewegungsgestalten des Blickes geben und die moderne Untersuchungstechnik soll sich die Aufgabe stellen, sie zu erschließen.67
Im Zentrum von Bühlers Argumentation steht die Annahme von »Sukzessionsgestalten«, also von zeitlich veränderlichen mimischen und gestischen Bewegungsformen, die der Film erschließen soll. Diese hatte Auguste Flach in ihrem Aufsatz Die Psychologie der Ausdrucksbewegung definiert. Sie geht dort vom charakteristischen Verlauf einer Bewegung aus und faßt deren Dynamik nach Wundts ausdruckspsychologischem Modell als Verhältnis von Spannung und Entspannung. Adäquat lasse sich die »körperliche Motilität«68 in einem Spannungsbogen darstellen. Das filmische Bewegungsbild fungiert dabei als mediales Modell – gegen das Einzelbild der Momentphotographie setzt Flach die Sukzession der Bewegung im Film.69 Sie bezeichnet »die jeweilige Eigenart eines dynamischen Verlaufs als Bewegungsgestalt«70 und definiert sie entsprechend zum filmischen Bewegungsbild: Die Bewegungsgestalt sei eine »Sukzessionsgestalt«71 – eine in der Zeit ablaufende Form. Der Sinn der Ausdrucksbewegung hängt in dieser Perspektive ab von ihrem dynamischen Verlauf: Denn unsere Versuche zeigen, daß das Bild nicht von ausschlaggebender Bedeutung ist. Das ersehen wir auch daraus, daß es eine Anzahl von Ausdrucksbewegungen gibt, denen kein bestimmtes Bild zugeordnet ist, so die Enttäuschung, der Schreck, die Freude, der Zorn, die Wut, die Traurigkeit, die Müdigkeit usw. Ihnen ist eine ganz bestimmte Dynamik eigen, welche ihren Ausdruck charakterisiert, welche aber in verschiedene Bilder eingehen kann.72
Diese Verschiedenheit der Affektbilder wird durch die Konstruktion einer »Sukzessionsgestalt« aufgefangen, in die auch zufällige Bewegungs67 K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 206. 68 A. Flach: »Die Psychologie der Ausdrucksbewegung«, S. 498. 69 Flach zitiert H. Krukenberg (Der Gesichtsausdruck des Menschen), der im Geist der Momentfotografie die Evidenz einer Bewegungsdarstellung durch Ruhepunkte der Bewegung gewährleistet sah (ebd., S. 471); s.o. Kap. 4.5 Momentbilder des Ausdrucks. 70 Ebd., S. 472. 71 Ebd. 72 Ebd., S. 473.
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nuancen eingehen. Letztlich sind es auch hier die Nuancen, die einen Distinktionsgewinn bringen. Diesen Nuancen ist auch Béla Balázs auf der Spur, wenn er die »unsichtbaren« – d.h. unmerklichen – Veränderungen des Gesichtsausdrucks am Beispiel des Mienenspiels der Asta Nielsen analysiert und behauptet, die »vielfältige und komplizierte Wandlung wird deutlich wahrnehmbar, ohne daß die geringste Veränderung in den Gebärden selbst festzustellen wäre.«73 Balázs vermutet »subtile Unterschiede im Ausdruck, die mit dem bloßen Auge nicht wahrnehmbar« seien und »doch entscheidend auf uns wirken«.74 Diese unbewußte Wirkung entfalten solche Nuancen jedoch nicht allein, wie Balázs glaubt, durch ein assoziatives Erfassen des »Unausgesprochenen«, sondern durch ihre Einbettung in einen Bewegungsverlauf, ihre Stellung innerhalb einer veränderlichen Sukzessionsgestalt. Flach erteilt damit indirekt auch der Utopie eines Gebärdenlexikons eine Absage, die Balázs stellvertretend für viele Anhänger einer visuellen Kultur des Films vertreten hatte. Eine Lexikalisierung von Ausdrucksbewegungen sei allein schon deshalb unmöglich, weil dadurch die jeweilige Situationsgebundenheit mimischer Nuancen mißachtet würde. Allein die Erfassung des dynamischen Verlaufs einer Miene oder Geste in einer Sukzessionsgestalt kompensiere ihre grundsätzliche semantische Mehrdeutigkeit. Statt semantischer Eindeutigkeit auf der lexikalischen Ebene sucht Flach eine solche auf der Ebene von Zeichenprozessen: »Das Bewegungsbild ist vieldeutig und wechselnd erfüllbar. Für den Ausdruckssinn entscheidend wird der dynamische Ablauf.«75 Eine Zeichenlehre der flüchtigen Bewegungen ließe sich für Flach nur durch eine Prozessualisierung der Signifikation selbst erzielen, für die ihr Begriff ›Sukzessionsgestalt‹ paradigmatisch einsteht. Flachs Forschungsergebnisse sind bereits kurze Zeit nach ihrer Veröffentlichung mehrfach rezipiert worden.76 Auch in der Filmtheorie der Zeit sind die Forschungsergebnisse der experimentellen Psychologie nicht ohne Widerhall geblieben. Rudolf Arnheim, der 1928 eine Dissertation über Experimentell-Psychologische Untersuchungen zum Ausdrucksproblem vorgelegt hat und über die psychologische Forschung bestens orientiert ist, beobachtet 1932 in seiner Schrift Film als Kunst, daß die »‹natürliche Mimik‹ des täglichen Lebens [...] höchst uneindeutig, ungradlinig, unverständlich, individuell und dazu bei vielen Menschen außerordentlich sparsam, monoton, auf ganz wenige Muskelbewegungen beschränkt« sei und »nicht im geringsten charakteristisch für den seeli73 74 75 76
B. Balázs: »Dramaturgische Fragmente«, S. 25. Ebd. A. Flach: »Psychologie«, S. 475 Neben K. Bühler sind Ph. Lersch (Gesicht und Seele, S. 94) und G. Kafka (»Grundsätzliches zur Ausdruckspsychologie«, S. 276) zu nennen.
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schen Zustand des Betreffenden«.77 Arnheim kommt zu dem Ergebnis, daß die Alltagsmimik »überhaupt ohne einen bestimmten Ausdruck« und nur deshalb verständlich sei, »weil sie Teil einer Gesamtsituation ist«.78 Er wiederholt damit die Ergebnisse der experimentellen Untersuchungen Auguste Flachs, die im dynamischen Verlauf einer Ausdrucksbewegung kontextuelle Faktoren berücksichtigt hatte. Arnheims Feststellung einer Uneindeutigkeit in der alltäglichen mimischen Kommunikation schärft sich an Beobachtungen, die er über die mimische Expressivität im ›stummen‹ Film angestellt hat. Denn charakteristisch in seinem Sinne und also eindeutig habe die Mimik im Film zu sein: Da aber in einem guten Kunstwerk alles deutlich sein muß, [...] braucht man für den Film eindeutige Mimik./Dem Filmschauspieler muß es also gegeben sein, ›reine‹ Mimik und Gestik zu liefern. Sein Gesicht etwa muß so beschaffen sein und er muß es so anzuwenden wissen, daß der geforderte Ausdruck vollkommen scharf und bis in alle Details eindeutig herauskommt. Daß ein Schauspieler nicht gut ist, nicht wirkt, beruht sehr häufig darin, daß er keine reine Mimik zu realisieren versteht, daß nicht jeder Muskel bis ins Letzte sich dem Gesetz des Ganzen einfügt.79
Arnheims Forderung nach einer ›reinen‹ Mimik impliziert gerade nicht den Verzicht auf mimische Details und Nuancen dynamischer Bewegungen, sie entspricht vielmehr Jherings Auffassung einer Intensivierung mimischer Ausdrucksbewegungen durch Konzentration und Beweglichkeit, zu deren Voraussetzung die Körperspannung gehört. Seine entscheidende Frage lautet daher: Wie kann die Mehrdeutigkeit von Ausdrucksbewegungen im Film operationalisiert werden – das heißt: Wie können psychische Prozesse eindeutig lesbar gemacht werden? Sie stellt sich angesichts einer am Film selbst gewonnenen Einsicht: Die Uneindeutigkeit starrer Posen und die psychologische Unlesbarkeit von Grimassen, die die wissenschaftliche Ausdruckspsychologie experimentell nachzuweisen suchte, zwingen den wirkungsästhetischen Diskurs wie die filmische Praxis zu Überlegungen hinsichtlich einer Standardisierung der mimischen und gestischen Ausdrucksbewegungen, um deren Verständlichkeit beim Kinopublikum zu garantieren. Dieser Aufgabe stellen sich vorrangig Lehrbücher für Filmschauspieler und Filmschulen, die an der Ausbildung mimischer Standards maßgeblich mitwirken.
77 R. Arnheim: Film als Kunst, S. 173. 78 Ebd. 79 Ebd., S. 174.
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7 . 3 Mi m is c he S t a n d a r d s Die Notwendigkeit einer filmgerechten Stilisierung der Mimik hatte Hermann Häfker bereits 1908 betont, zu einem Zeitpunkt, als sich der Narrationsfilm gerade erst als Genre auszubilden begann. In dieser Phase der Kinodebatte wurde jedoch häufig die Armut von Mimik und Gestik hinsichtlich ihrer Darstellungsmöglichkeiten komplexer Gefühle beklagt. Emilie Altenloh stellt in ihrer Soziologie des Kinos die entscheidenden Fragen: »Ist es möglich, die künstlerischen Qualitäten eines Dramas durch den Film auszudrücken? Kann ohne das Mittel der Sprache, die alle Affekte und Gefühle über die groben Umrisse hinaus differenziert, ein literarisches Kunstwerk vermittelt werden? Ist das Ausdrucksmittel des Kinos, die Gebärde, nuanciert genug, um des Wortes zu entbehren?«80 Sie bringt Drama und Film, Sprache und Gebärde explizit in ein Konkurrenzverhältnis. Wie die Sprache ist die Gebärde für sie in erster Linie ein Kommunikationsmittel, dem die Vermittlung von Affekten und Gefühlen obliegt. Altenloh setzt jedoch voraus, daß allein die Sprache, »alle Affekte und Gefühle [...] differenziert«.81 Entsprechend dieser Voraussetzung fallen auch ihre Antworten aus: Für die filmische Darstellung von Affekten hält sie Mimik und Gestik für ausreichend differenziert und verständlich, weil etwa »bei plötzlichem Schreck, bei überwältigendem Schmerz« auch in der Wirklichkeit die Sprache versage und die Gebärde als deren Fortsetzung fungiere; gerade für diese elementaren psychischen Zustände seien zudem »in ganz starkem Maße aber durch den Kinematographen bestimmte typische Bewegungen fixiert worden, die, sicherlich nicht zuletzt durch die häufige Wiederholung, allgemein verstanden werden.«82 Altenloh resümiert hier die Mediengeschichte der Bewegungsdarstellung seit ihrer chronofotografischen Aufzeichnung und hebt explizit den epistemologischen Impuls des frühen Films hervor, der durch die Aufzeichnung von Bewegungsvorgängen und deren Präsentation als Publikumsattraktion die Verständlichkeit und Wiedererkennbarkeit auch mimischer und gestischer Bewegungsmuster gesteigert hat. Die Wiederholbarkeit von Mienen und Gesten garantiert jedoch noch nicht ausreichend deren Verständlichkeit. Deshalb müssten für Altenloh »auch diese Bewegungen stark übertrieben werden«, um allgemein verstanden zu werden, wodurch »notwendigerweise die Psychologie der handelnden Personen vergröbert« werde.83 Diese Vergröberung erklärt sie zum direkten Effekt einer Übertreibung der Bewegungen, die Affekte
80 81 82 83
E. Altenloh: Soziologie des Kinos, S. 26. Ebd. Ebd. Ebd. S. 26f.
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anzeigen sollen – und nicht etwa umgekehrt. Häfkers Annahme, wonach »seelische Vorgänge« nicht Zweck, sondern Mittel der Bewegungsdarstellung im Film – dem »Reich der Glieder- und Mienenbewegung« – seien, findet hier eine indirekte Bestätigung. Deshalb läuft auch Altenlohs Argument, wonach allein die Sprache über die notwendige Distinktheit verfüge, Affekte und Gefühle zu differenzieren, ins Leere, denn Körperbewegungen wird über den psychophysischen Parallelismus per se eine funktionslogische Verbindung zu Affekten und Gefühlen unterstellt. Die Übertreibung der Mimik und Gestik stellt vielmehr eine Markierung ihrer kommunikativen Funktion im frühen Film dar. Sie erscheint ja Altenloh als unumgänglich, weil die Körperbewegungen allgemein verstanden werden sollen. Das macht sich insbesondere bei der Darstellung psychologisch lesbarer Ausdrucksbewegungen bemerkbar – wenn also die Bewegungen psychische Zustände oder Prozesse wiedergeben sollen. Deren Intensität wird zum Maßstab ihrer Lesbarkeit. Deshalb versagten Mimik und Gestik auch bei der Darstellung wenig expressiver Vorgänge, »da es doch keine einheitliche und festgelegte Gebärdensprache gibt, die bis in die feinsten Nuancen entwickelt wäre«.84 Altenloh fordert damit implizit vom Film die Darstellung mimischer und gestischer Übergänge – mit einem Wort: kodifizierbarer Ausdrucksbewegungen. Deren Nuancierheit steht auch hier für den Grad der Differenziertheit der »Mienensprache« – sie steht und fällt mit der Kodifizierbarkeit ihrer distinkten Nuancen. Nur so könne für Altenloh ein filmisches Drama entstehen: »Ein Drama ist aber ohne die Übergänge, ohne die innere Umarbeitung der äußeren Handlung nicht möglich. [...] Es ist unmöglich deshalb, weil aller Fortschritt der Handlung heute nur psychologische Entwicklung ist [...]. Der Film kann davon höchstens die groben Umrisse geben, er kann blitzartig für den Gang der Handlungen typische Szenen aufdecken.«85 Die Blitzartigkeit, mit der der Film seine Handlung in Gang setzt, rückt ihn selbst in die Nähe des Affekts, als dessen Kennzeichen ja seine Plötzlichkeit ausgemacht wird. Die Wiedergabe von Affekten soll dem Film gerade deshalb liegen, weil dabei ohnehin die Sprache versage. Filmische Dramen operieren mit der psychischen Überwältigung ihres Publikums durch plötzlichen Szenenwechsel und durch auf Höhepunkte konzentrierte Handlungen und benutzen damit primär einen psychischen Kanal, der auf Sprache nicht angewiesen ist. Ungewollt charakterisiert Altenloh damit auch die psychologische Wirkung des Filmdramas als eine primär affektive, die statt einer psychologischen Entwicklung ›Pri84 Ebd., S. 27. 85 Ebd., S. 28.
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märaffekte‹ wie Überraschung und Erschrecken auf das Publikum überträgt. Die Notwendigkeit einer Kodifizierung mimischer Nuancen wird in einem fotografischen Experiment von Wilhelm Scheffer besonders deutlich. In einer Beilage des Berliner Tageblatts veröffentlicht er im Erscheinungsjahr von Altenlohs Soziologie des Kinos einen Artikel mit dem Titel Mimische Studien mit Reißzeug und Kamera, die mit Fotografien des Schauspielers Albert Bassermann von Hans Böhm illustriert sind. Diese Fotografien zeigen in Nahsicht typische Affektbilder, die Bassermann mimt. Ihnen sind jeweils ein abstraktes Gesichtsschema nach dem bekannten Muster »Punkt-Punkt-Komma-Strich« sowie Beschreibungen möglicher Situationen zugeordnet, in denen diese Affektmimiken auftreten können und die ihre Entzifferung unterstützen.86 Auffällig ist, daß Scheffer auf diese Weise die Fotografien nicht nur kontextualisiert, sondern sie auch zeitlich indiziert, wenn er etwa über die mimischen Anzeichen der Erwartung schreibt, die nach unten gerichteten Augen »stellen einen Moment dar, in dem die Handlung bereits psychologisch vorbereitet ist«.87 Scheffers Interpretation der Affektbilder folgt dem Dispositiv des fruchtbaren Moments, den Duchenne de Boulogne experimentell zu bestimmten gesucht hatte, sowie der Diskursivierung fruchtbarer Momente des Ausdrucksgeschehens – der sogenannten »Initialsymptome von Handlungen« –, die Karl Bühler bereits bei Theodor Piderit am Werk sah.88 In Scheffers Mimischen Studien werden fotografische Erfassung und psychologische Theoriebildung des fruchtbaren Moments enggeführt. Auch Hermann Bahrs Forderung nach einer »neuen Psychologie«, die »die Vorbereitungen der Gefühle, bevor sie sich noch ins Bewußtsein hinein entschieden haben«,89 zu zeigen hätte, finden sich in Scheffers Beobachtung von handlungsvorbereitenden Mimiken berücksichtigt. Seine Mimischen Studien können deshalb als ausdruckstheoretisches Resümee der ersten deutschsprachigen Kinodebatte angesehen werden, die 1914 mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges eine Zäsur erfährt. Auch Scheffer ist es um Eindeutigkeit und damit Kodifizierbarkeit solcher transitorischen Affektzeichen zu tun. Für die fotografische Visualisierung läßt er sie deshalb im ersten Teil seines ausdruckstheoreti86 Zur Erfolgsgeschichte dieses mimischen Schemas vgl. C. Schmölders: Das Vorurteil im Leibe, S. 129-132. 87 Wilhelm Scheffer: »Mimische Studien mit Reißzeug und Kamera«, in: Der Welt-Spiegel. Halb-Wochenschrift des Berliner Tageblatts 10 (1914), S. 2f., hier S. 2. 88 K. Bühler: Ausdruckstheorie, S. 73; s.o. 4.4 Strategien der Visualisierung. 89 H. Bahr: Zur Überwindung des Naturalismus, S. 58; s.o. Kap. 2.2 Psychologisierung des Ausdrucks.
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schen Experiments vom erfolgreichen Bühnenschauspieler Albert Bassermann mimen (vgl. Abb. 15). Scheffer sucht wie Duchenne zu beweisen, daß »die einfache mimische Nachahmung der Schemata zu recht lebhaften Gesichtsausdrücken [führt], die die besagten Stimmungen deutlich ausdrücken, ohne daß der Darsteller irgendeine Absicht hatte, Stimmungen wiederzugeben«.90
Abbildung 15: Wilhelm Scheffer: Mimische Studien (1914)
Erst im zweiten Schritt geht er den umgekehrten Weg: Bassermann werden vor der fotografischen Aufnahme »die entsprechenden Stimmungen eindringlich suggeriert«, anschließend werden die Fotografien der beiden Versuchsreihen miteinander verglichen. Scheffer kann nur graduelle Unterschiede zwischen einer vom influxus physicus und einer vom influxus animae getragenen Affektmimik auf den beiden Fotoserien feststellen. Für das Affektbild macht es also kaum einen Unterschied, ob der Affekt nur ›simuliert‹ ist. Evidenz stellt sich in jedem Fall ein.
90 W. Scheffer: »Mimische Studien«, S. 3.
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Mit Albert Bassermann verfügte Scheffer zudem über ein populäres Modell, das 1913 in der Verfilmung von Paul Lindaus Roman Der Andere durch Max Mack erstmals vor der Kamera gestanden hatte. Scheffers Mimische Studien beziehen also auch Position zur Frage mimischer Standards im Film. Der Theaterkritiker und Dramaturg Julius Bab hebt denn auch in seiner Bassermann-Biografie »die Kraft der Bassermannschen Gebärden, de[n] hohe[n] Ausdruck seines Mienenspiels« im Film hervor und bescheinigt dem Schauspieler, »Intelligenz und Geschick genug« zu besitzen, »um sich äußerlich den speziellen Erfordernissen dieser Technik anzupassen«.91 Davon, dass Bassermanns Mienenspiel von einer Intensität sei, die sich ins Gedächtnis einbrennt, gibt er ein schlagendes Beispiel: »[...] der Augenblick, wo Bassermann den entscheidenden Brief erhält, völlig erstarrt und dann mit abgestorbenem Gesicht in einen Stuhl sinkt, den wird man nicht leicht vergessen.«92 Die von Bab beschriebene Szene eignet sich besonders gut, um die kommunikative Rolle mimischer Expressivität im ›stummen‹ Film zu beleuchten. Sie kann als geradezu topische Wendung, als konventioneller Spannungsmoment der filmischen Handlung angesehen werden, in der die Gebärde – im Sinne Altenlohs – den Affekt darstellt und die Sprache ersetzt. Die sichtbare mimische Reaktion auf einen Brief, dessen Wortlaut der Filmzuschauer im Augenblick seiner Lektüre durch den Empfänger nicht kennt,93 verlagert das Verstehen allein auf die Ebene von Ausdrucksbewegungen. Solche Szenen werden im narrativen Film bewußt als emotionale Höhepunkte inszeniert: Ein sich steigernder mimischer Ausdruck mündet dabei im Falle Bassermanns schließlich in ein ausdrucksloses Gesicht. Eine solche Dramaturgie rechnet mit Intensität und Wiedererkennbarkeit gesteigerter Affekte als wirkungsästhetische Parameter der mimischen Kommunikation, die eine allgemeine Verständlichkeit der Affektmimiken auf der Basis ihrer Stilisierung ermöglichen sollen.94 Deshalb schreibt Julius Bab noch 1929, an der Wende zum ›Tonfilm‹, »die wahre Filmkunst« liege »für die mitwirkenden Schauspieler in phantastischen Verkürzungen, in der Fähigkeit, grotesk oder monumental zu stilisieren«.95 91 Julius Bab: Albert Bassermann. Weg und Werk eines deutschen Schauspielers um die Wende des 20. Jahrhunderts, Leipzig: Erich Weibezahl Verlag 1929, S. 175. 92 Ebd., S. 176. 93 Meistens werden Briefe oder Zeitungsausschnitte in Großeinstellung bzw. als Zwischentitel nachgereicht (vgl. H. Münsterberg: Lichtspiel, S. 53). 94 Mimik und Gestik lenken zudem die Aufmerksamkeit: »Vor allem bringt jede Geste, jedes Mienenspiel Ordnung und Rhythmus in die Mannigfaltigkeit der Eindrücke und organisiert sie für unser Bewußtsein.« (ebd., S. 52). 95 J. Bab: Albert Bassermann, S. 177.
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Scheffer wiederum bestimmt in seinen Mimischen Studien Eindeutigkeit als Präzision der affektiven Mimik, die das fotografische Bild sichtbar macht und damit beglaubigen soll. Er bedient sich der seriellen Fotografie ausdrücklich als bedeutungsstiftendem Verfahren: Die fotografische Reihenbildung macht nicht nur die Unterschiede der Einzelbilder beobachtbar, sie beglaubigt auch durch die Visualisierung mimischer Abweichungen die Wahrheit jedes einzelnen Affektbildes, das durch seine Serienumgebung eindeutig identifizierbar wird. Diese Repräsentationsform stellt Scheffer in eine Linie mit mimischen Schemata, die die Distinktheit mimischer Nuancen feststellten. Rodolphe Toepffer z.B. führte durch seine zu Bilderreihen zusammengefaßten schematisierten Zeichnungen den Nachweis, daß sich Affektmimiken durch geringfügige Variationen der beweglichen Teile des Gesichts darstellen und durch eine »vergleichende Betrachtung der Unterschiede oder der Nuancen«96 erschließen lassen. An einer Hervorhebung mimischer Unterschiede ist auch Scheffers fotografische Bilderserie interessiert, die von einfachen schematischen Zeichnungen des Gesichts sekundiert werden. Die Schematisierung der Darstellung soll dabei ausdrücklich die Charakteristika der einzelnen Affekte hervorheben, die seine Fotografien zu sehen geben: »ein Bild und noch mehr eine Karikatur« ist für Scheffer deshalb »nicht eine dokumentarische Wiedergabe aller Details, sondern nichts weiter als eine Schematisierung der wichtigsten durchschnittlichen Züge oder Linien des Abgebildeten«.97 Zum ›Bild‹ werden die Fotografien Albert Bassermanns streng genommen also nur durch ihre Anordnung zur Serie, durch diesen Schematismus der Repräsentation, der die wesentlichen Charakteristika und Unterschiede der Affektmimiken herauspräpariert. Darin sind sie auch Piderits Gesichtsschemata vergleichbar. Im Unterschied zu Piderit vertraut Scheffer jedoch der Evidenz der fotografischen Visualisierung, deren Nuanciertheit der Eindeutigkeit des Affektausdrucks nicht zuwiderlaufe. Diese wird im Gegenteil noch durch den medaillonhaften Zuschnitt der Fotografien verstärkt, die das Gesichtsschema »PunktPunkt-Komma-Strich« aufnehmen. Durch die serielle Anordnung der mimischen Schemata und Fotografien wird die Verbindung zu einer topologischen Wissensordnung bewahrt, wie sie die fotografischen Tableaus in der Nachfolge Duchennes entfaltet haben. Scheffers Schematisierung stellt eine Komplexitätsreduktion dar mit dem Ziel, ein statistisches Mittel zu finden, das als eindeutige Miene si96 Rodolphe Toeppfer: Essay zur Physiognomonie (1845), Siegen: Machwerk Verlag 1982, S. 29. Toeppfer bezeichnete sein Projekt als »Literatur in Bildern«, die »durch den Reichtum an Details« bestechen sollte (ebd., S. 7). 97 W. Scheffer: »Mimische Studien mit Reißzeug und Kamera«, S. 2.
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gnifiziert werden kann: »Die wesentlichen Teile sind Mund, Nase und Augen. Die subtilere Struktur, die in Augenbrauen, Stirnfalten, Mundfalten, Lippen usw. liegt, soll vernachlässigt werden.«98 Der Reichtum an mimischen Nuancen, den die Beobachtungskultur des 19. Jahrhunderts entdeckt und als unwillkürliche Preisgabe verborgen gehaltener Affekte lesbar gemacht hatte, wird in Scheffers Aufsatz durch ein »rohes Bild des Gesichts«99 ersetzt, das die beklagte Vergröberung der Mimik in der Frühzeit des ›stummen‹ Films spiegelt und zugleich den Anforderungen einer massenmedial vermittelten visuellen Kommunikation gehorcht, die auf eindeutige und allgemeinverständliche Affektbilder angewiesen ist. Die Schematisierung erweist sich als zunächst notwendige Komplexitätsreduktion, um die Idee einer mimischen und gestischen Universalsprache im Massenmedium Film durchzusetzen.100 Die Möglichkeiten mimischer Expressivität im Film haben sich jedoch im Verlauf der 1920er Jahre weiterentwickelt und differenziert. Aus der Perspektive dieser elaborierten Mimik mußten die auf Eindeutigkeit setzenden Posen aus der Frühzeit des Spielfilms als starke Vergröberung erscheinen. Diesen Entwicklungsweg hat Ernst Bloch in seinen Beobachtungen zum »Neuen Mimus durch die Kamera« nachgezeichnet: Der Grobheit und Armut aus den Anfängen des Spielfilms stellt er einen »bislang unbekannten Schatz deutlichster Gebärden«101 entgegen, die der ›stumme‹ Film hervorgebracht habe. Die Deutlichkeit der Gebärden ist auch für Bloch das entscheidende Kriterium mimischer Expressivität im ›stummen‹ Film. Dies konnte nur durch eine Standardisierung der ausdifferenzierten Mimik und Gestik, eine Kodifizierung von Ausdrucksbewegungen im Film erreicht werden. Maßgaben für eine einheitliche, wirkungsorientierte Mimik und Gestik im Film haben vor allem Lehrbücher und Lehrpläne für angehende Filmschauspieler entwickelt. Fibeln mit Anleitungen für die kodifizierte körpersprachliche Darstellung wurden verstärkt seit dem 18. Jahrhundert für Schauspieler und Redner verfaßt.102 Von diesen unterscheiden sich
98 99 100
101 102
Ebd. Dagegen hatte Toeppfer »Auge und Braue in Form und Stellung« als wichtige Ausdrucksmerkmale angesehen (R. Toepffer: Essay, S. 61). Ebd. Auch Egon Brunswik und Lotte Reiter verwenden ein solches Gesichtsschema, denn bei »der Wahl etwa einer Photographie wären zu viele variationsfähige Einzelzüge vorhanden gewesen« (dies.: »Eindruckscharakter schematisierter Gesichter«, in: Zeitschrift für Psychologie und Physiologie der Sinnesorgane, 142. Bd. (1938), 1. Abt., S. 67-134, hier S. 72). E. Bloch: »Neuer Mimus«, S. 471; s.o. Kap. 2.3 »Neuer Mimus durch die Kamera«. Vgl. Dene Barnett: The Art of Gesture. The practices and principles of 18th century acting, Heidelberg: Carl Winter 1987.
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die speziellen Lehrbücher für Filmdarsteller jedoch erheblich, denn sie gehen von den spezifisch filmischen Bedingungen körpersprachlicher Kommunikation aus und tragen damit dem medialen Wandel Rechnung. So definiert Oskar Diehl »die Aufgabe eines Lehrbuches für die Filmschauspielkunst« als Unterweisung, um »beim Schüler die höchste Wandelbarkeit in den mimischen Ausdrucksmitteln zu erzielen«.103 Im Unterschied zur bisherigen Schauspielerausbildung, deren »Hauptaufgabe die Behandlung der Sprache von jeher war und heute noch ist«, stünde in der Filmschauspielkunst »die Sprache des Gesichts« im Vordergrund.104 Wie schon Hermann Häfker oder Herbert Tannenbaum hebt auch Diehl auf »das rein Visuelle« als Grundvoraussetzung mimischer Expressivität im ›stummen‹ Film ab.105 Gebärde und Miene ersetzen für ihn ausdrücklich die Sprache und ›sprechen‹ allein durch ihre Sichtbarkeit. Zugleich verschweigt er nicht, daß ›Ausdruck‹ ein medialer Effekt der filmischen Erfassung des mimisch und gestisch agierenden Schauspielers ist und mithin apparativ erzeugt und durch filmische Verfahren gesteigert wird: »Aller Ausdruck ist Ausdruck des bewegten Wandbildes«,106 heißt es lapidar. Neben der »höchsten Wandelbarkeit« in der Mimik strebt der Unterricht die »schärfste Differenzierung der Einzelausdrücke« an – eine Kodifizierung der distinkten mimischen Nuancen, um auf deren Basis eine differenzierte Mienensprache für den Film zu begründen. Um solches zu erreichen, müsse der Filmschauspieler über »eine bis ins kleinste funktionierende Gesichtsmuskulatur« verfügen, die im Unterricht »systematisch durchgearbeitet« werde, um sie zu »großen Ausdrücken« zu befähigen.107 Die physiologische Beweglichkeit der Gesichtsmuskulatur stellt für Diehl in bester Duchennescher Tradition die Voraussetzung eines ausdrucksstarken Spiels im ›stummen‹ Film dar, der auf visuelle Effekte angewiesen ist. Auf diesen Umstand hat auch Herbert Jhering in seiner Artikelserie über den Filmschauspieler hingewiesen. Die Durcharbeitung des mimischen Instrumentariums stellt für ihn eine Operationalisierung des Affektausdrucks in Aussicht, die dessen optische Evidenz gewährleisten soll. Diehl spricht Klartext, wenn er konstatiert: »Ohne physisches Vermögen ist eine Mimik undenkbar.«108 Sein »Leitfaden für den praktischen Unterricht« glaubt die mimischen Nuancen als Voraussetzung ihrer Kodifizierbarkeit durch ein gymnastisches Programm differenzieren zu können, das den Filmschauspieler zugleich zur Kontrolle jeder Muskelbewegung befähigen soll. Eine Mie103 104 105 106 107 108
O. Diehl: Mimik im Film, unpag. (Vorwort). Ebd. Ebd., S. 2f. Ebd., S. 3. Ebd., S. 10. Ebd., S. 12.
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nensprache wäre für ihn in jedem Fall physiologisch zu begründen. Deshalb streift Diehl die psychologischen Begleitumstände des Affektausdrucks auch nur. Vielmehr käme es im Unterricht nur darauf an, die distinkten mimischen Effekte zu studieren und zu steigern, um »den Ausdrucksreichtum der Gesichtsmimik zu erweitern«.109 Gemäß dieser Vorgabe beginnt auch der Unterricht mit gymnastischen Übungen der einzelnen Gesichtsorgane sowie ihrer Kombinationen und Steigerungsmöglichkeiten, um »die Wandelbarkeit der Physiognomie durch Training der Einzelmuskulatur zu steigern«.110 Auf dieses gymnastische Training folgen Übungen, durch die der Zusammenhang von Mimik und Affekt restituiert werden soll. Auch hier steht die »Steigerungsfähigkeit«111 des Affektausdrucks im Vordergrund. Steigerbar soll er insbesondere durch »Bewegungsrhythmus« und »freie Geste« werden, also ausdrücklich durch Bewegungsparameter und wiedergewonnene Freiheitsgrade: »Beim Filmschauspieler wird dies alles in gesteigertem Maße Aufgabe.«112 Diehls Propädeutik sieht wie Jhering in der Steigerung der schauspielerischen Ausdrucksfähigkeiten ein Erfordernis des Medienwandels vom Theater zum Film und eine Vorbedingung für die Ausbildung einer filmgerechten Körpersprache. Die fotografischen Abbildungen im Text stellen diese Steigerungsmöglichkeiten der affektiven Mimik heraus, indem sie die Stadien von Ausdrucksbewegungen als Folge von Momentbildern evident machen. In Text und Bild setzt Oskar Diehl den Filmschauspieler als gesteigertes Subjekt ein. Durch seine trainierte Gesichtsmuskulatur soll er in der Lage sein, jede Affektmimik in ihren distinkten Zügen darzustellen und dadurch den Erfordernissen der filmischen Repräsentation wie einer visuellen Mienensprache zu genügen. Darin übertreffe er den Bühnenschauspieler – nicht umsonst ist der Filmschauspieler für ihn »der Schauspieler katexochen«.113 Mimische Expressivität im Film gründet daher in erster Linie auf den visuellen Effekten einer gesteigerten Beweglichkeit der Gesichtsmuskulatur. Diehls Lehrbuch probt darüber hinaus auf der Grundlage der distinkten Affektmimik den Übergang zu mimischen und gestischen Bewegungsformen. Rhythmus und Improvisation stehen im nur wenige Jahre später veröffentlichten Lehrplan des Regisseurs Dyk Rudenski bereits an erster Stelle. Rudenski unterrichtete an der Moskauer Filmschule, dem 1919 gegründeten Staatlichen Kinotechnikum, an dem auch Kuleschow und Vertov wirkten. Dort arbeitete er das Programm eines viersemestrigen 109 110 111 112 113
Ebd. Ebd., Ebd., Ebd., Ebd.,
S. S. S. S.
23. 25. 28f. 5.
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Unterrichts aus, der – wie ein Rezensent seines 1927 in deutscher Sprache erschienenen Lehrbuchs berichtet – »zum vollkommenen Bewegungsausdruck des menschlichen Körpers, zur rein visuell wahrnehmbaren und deshalb rein filmischen Ausdrucksform in der körperlichen Bewegung des Filmdarstellers«114 befähigen sollte. Sein wissenschaftlich fundiertes Unterrichtsprogramm bezeichnete Rudenski als »Gestologie«.115 Auf dessen Basis sollten spezifische Bewegungsformen für den Film gemäß wissenschaftlicher Erkenntnisse wie praktischer Erfahrung gelehrt werden. Die ausführliche Rezension dieses Arbeitsbuches durch Lotar Holland in der Fachzeitschrift Filmtechnik weist nicht nur auf das gesteigerte Interesse an einer Kodifizierung von Mimik und Gestik im Film hin. Sie unterstreicht auch den Diskurszusammenhang von filmischer Körperästhetik und psychologischer Forschung. Denn auf dem Lehrplan standen im ersten Semester Übungen zur »Gymnastik der Aufmerksamkeit«, zur »Präzision in der Linienführung der Bewegung«, zu »Übergangsstellungen«, Bewegungsradien und den »Bewegungsmöglichkeiten der Augen« (vgl. Abb. 17) sowie Übungen zur »Psychologie der Spannung und Entspannung«.116 An erster Stelle sollten also die psychophysischen Grundlagen von Körperbewegungen vermittelt werden, die die experimentelle Psychologie namentlich im Begriff der Ausdrucksbewegung parallel untersucht hat. Rudenskis Unterrichtsprogramm macht das Zirkulieren ausdruckstheoretischer Topoi zwischen filmästhetischem und wissenschaftlichem Diskurs offenbar – mehr noch: es implementiert das in Diskursfiguren wie »Spannung/Entspannung« oder »Übergangsstellungen« – Flachs »Sukzessionsgestalten« – abgelegte Wissen um die psychophysische Beschaffenheit von Ausdrucksbewegungen in der Institution Filmschule. Wie Diehl gesteht auch Rudenski im Aufbau seines Unterrichtsprogramms den äußeren Bewegungsformen Priorität vor ihrer psychologischen Interpretation zu. Erst im zweiten Semester kommen die Einführung in die Semiotik der Affektdarstellung, die »Ästhetik der Beziehung von der Form zum Gefühl und vom Gefühl zur Form«, und weitere Übungen zur »Psychologie der Bewegung« sowie schließlich von Meyerholds Biomechanik inspirierte Übungen zu »Rhythmus, Takt, Tempo« und Studien zum »Taylorismus (Ökonomie) in der Bewegungslehre«
114 Lotar Holland: »Gestologie. Ein russischer Lehrplan zur Ausbildung von Filmkünstlern«, in: Filmtechnik, 3. Jg. (1927), Nr. 3, S. 38-39, hier S. 38. 115 Vgl. Dyk Rudenski: Gestologie und Filmspielerei, Vorwort von Franz Blei, Berlin: Hoboken-Presse 1927. 116 L. Holland: »Gestologie«, S. 38.
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hinzu.117 Die Vermittlung psychologischer Komponenten der Bewegungsdarstellung ist also eingebettet in deutlich physiologisch ausgerichtete Unterrichtseinheiten. Erst im vierten und letzten Semester wendet sich Rudenskis Propädeutik der Praxis von Rollenstudium und Filmaufnahme zu. Zugleich sollte den Studenten die Einsicht vermittelt werden, Gestologie sei als »Wissensgebiet an den Universitäten für Psychiatrie, reine Philosophie und Kunst« unerläßlich.118 Lotar Holland rechtfertigt seine minutiöse Darstellung mit dem Hinweis darauf, daß »diese Anschauung eines auf Bewegungsformen aufgebauten Lehrplanes vollkommen von dem noch gänzlich unter dem Eindruck der Bühnenschulen stehenden Lehrplan unserer Filmschulen generell abweicht« – Rudenski habe dagegen »einen kinomäßigen Weg beschritten« und den Ausdruck von der Verpflichtung auf fremde Kunstgattungen befreit.119 Rudenskis Gestologie beruht auf Distinkheit und Kodifizierbarkeit von Körper- als Ausdrucksbewegungen. Darin beerbt er François Delsartes Ausdruckssystem, das in der Körperkultur des 20. Jahrhunderts vielfach rezipiert wurde.120 Sein Studienplan integriert Beobachtungen der körpersprachlichen Wirkung, die am Film gewonnen wurden und die die experimentelle Ausdruckspsychologie z.B. in den Untersuchungen Auguste Flachs zur selben Zeit wissenschaftlich zu beweisen suchte. Rudenski verwendet zum besseren Verständnis seiner theoretischen Ausführungen bewußt fotografische Serien, um – anderes als Scheffer – »so wenig als möglich schematisch« zu wirken: es komme ihm nicht auf die einzelne Aufnahme an, sondern auf »die tausend Nuancen, die zwischen ihnen liegen«.121 Die Bilderfolgen, die er in sein Lehrbuch aufnimmt, folgen einem chronofotografischen Darstellungsideal von Bewegung, das sie dezidiert als permanente Veränderung erfaßbar machen soll. Diese Fotoserien, die den Text durchgehend begleiten, sollen verdeutlichen, daß in der Gestologie die Übergänge zwischen einzelnen mimischen und gestischen Ausdrucksformen für die Signifikation einer Geste entscheidend sind – Übergänge, die zwischen den einzelnen fotografischen Aufnahmen einer Serie liegen und damit als latente Bedeutungsoptionen unsichtbar bleiben. 117 Ebd. Meyerholds Biomechanik gründete auf Bechterevs Reflexiologie; vgl. Jörg Bochow: Das Theater Meyerholds und die Biomechanik, Berlin: Alexander Verlag 1997; G. Brandstetter: Tanz-Lektüren, S. 292-302. 118 L. Holland: »Gestologie«, S. 38f. 119 Ebd., S. 39. 120 Zu F. Delsarte s.o. Kap. 4.4 Strategien der Visualisierung. Roberta E. Pearson rechnet Delsartes Ausdruckssystem allerdings dem »histrionic code« zu und diskutiert seinen Einfluß auf den Darstellungsstil in Griffiths Biograph-Filmen (dies.: Eloquent Gestures, S. 22f). 121 D. Rudenski: Gestologie, S. 20.
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Abbildung 16: Dyk Rudenski: Vom Entsetzen zur Unschlüssigkeit (1927)
Darin unterscheidet sich Rudenskis Lehre strikt von klassifikatorischen Systemen wie dem Delsartes oder von Scheffers Tableaus. Vergleicht man seine Bildstrecken mit dessen Mimischen Studien, dann wird der unterschiedliche Zugriff auf das epistemische Objekt ›Mimik‹ deutlich: Während Scheffer semantisch eindeutige Affektmimiken in ›starren‹ Einzelbildern ablichtet, fokussiert Rudenski Zwischenstadien von mimischen Bewegungen, ohne sie selbst ganz zeigen zu können. Darin lassen seine Bilderfolgen auch die Affekttableaus Duchennes und sogar Lerschs hinter sich, die auf die optische Evidenz der Fotografie vertrauen. Rudenski geht es dabei auch um einen entscheidenden Medienunterschied, um das, was fotografisch nicht sichtbar gemacht werden könne. Er erläutert dies an einer vierteiligen Bildfolge, die »sozusagen in Kurzschrift den langen Weg vom Entsetzen bis zur Unschlüssigkeit«122 visualisieren soll (vgl. Abb. 16). Die fotografische Serie verkürzt die Übergänge »vom Negativen zum Positiven« um die »standphotomäßigen [sic!] nicht faßbaren Schätze des Ausdrucks«.123 Rudenski spielt hier – ohne den Film explizit zu nennen – auf die filmästhetische Debatte seiner Zeit an, die die Bewegungsdarstellung als besondere Leistung des Films gewürdigt hat. Die Verkürzung des Nuancenreichtums der mimischen Übergänge durch die fotografische Bilderserie tut jedoch ihrer Evidenz als Illustration der gestologischen Methodik keinen Abbruch. Die Serie stellt vielmehr eine Synthese dessen dar, was Rudenski ausdruckstheoretisch verdeutlichen wollte und nur durch das filmische Bewegungsbild visualisieren kann. Hier gelangt auch das Medium (Lehr-)Buch an die Grenze sei122 Ebd. 123 Ebd., S. 20f.
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ner Darstellbarkeit. Die zahllosen Übergänge mimischer und gestischer Ausdrucksbewegungen lassen sich nicht durch Einzelbilder visualisieren und zwischen die Deckel eines Buches pressen.
Abbildung 17: Dyk Rudenski: Bewegungsmöglichkeiten der Augen (1927)
Rudenskis Unterrichtsprogramm ist wie bereits Diehls Propädeutik auf eine Standardisierung der spezifischen Mimik und Gestik im Film ausgerichtet. Nicht nur die in ihren Lehrbüchern vorgestellten Unterrichtsprogramme verfolgen dieses Ziel. Auch ihre Bildpolitik – die ausgewählten Illustrationen und Bilderfolgen – untersteht dieser ausdruckstheoretischen Doktrin. Sie ist auf die Nachahmung der mimischen und gestischen Verlaufsformen abonniert. Folgerichtig arbeitete bereits Wsewolod Meyerhold mit Fotoserien und Lehrfilmen, um das biomechanische Unterrichtsprogramm an seine Schauspielschüler zu vermitteln. Die Effekte dieser Standardisierung mimischer Expressivität lassen sich wiederum im Diskurs hinsichtlich des ›stummen‹ Films selbst beobachten. Die »engen Grenzen« der Stilisierung und Standardisierung der Mimik benennt Rudolf Arnheim in seiner Schrift Film als Kunst: Bald, führt er aus, sei »der Punkt erreicht, wo die glättende Formung des
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mimischen Ausdrucks umschlägt in krasse Unnatur.«124 Ein solches Umschlagen zeige sich insbesondere im Spielfilm, der zu einer realistischen Darstellung von Emotionen verpflichtet sei. Dort habe sich bei dem Durchschnitt der Filmschauspieler [...] eine Mimik und eine Gestik herausgebildet, an die man sich als Zuschauer leicht gewöhnt, eben weil sie in gewissem Sinne so ›filmisch‹ ist, und die trotzdem als unkünstlerisch abgelehnt werden muß. Zumal sie gleichzeitig als unlauterer Kunstgriff dient, um jeden beliebigen seelischen Vorgang zu äußerem Ausdruck zu bringen. [...] Die Mimik wird nicht nur peinlich vergröbert, sondern es wird auch einfach jede Gemütsbewegung, jeder seelische Vorgang durch Übersetzung ins Mimische augenfällig gemacht, ohne Rücksicht darauf, daß sich keineswegs alles, was ein Mensch denkt oder fühlt, auf seinem Gesicht oder in seinen Gebärden deutlich macht.125
Bei Arnheim taucht am Ende der Ära des ›stummen‹ Films wieder der Vorwurf der Vergröberung auf, den Emilie Altenloh fast zwanzig Jahre zuvor gegen eine psychologisch nicht hinreichend differenzierte Mimik und Gestik ins Feld geführt hatte. Doch die Vergröberung, von der Arnheim spricht, ist nicht wie bei Altenloh Resultat eines generellen Unvermögens der stummen Gebärde gegenüber der gesprochenen Sprache, sondern einer Abstraktion der Zeichengebung, die beide einander gleichstellt. Er beklagt also, daß die vermeintlich ursprünglich ›natürliche‹ Körpersprache zu sehr Sprache geworden sei: »Es hat sich da eine Zeichensprache herausgebildet, die schon fast ebenso abstrakt ist, als wenn man statt dessen etwa in einem Zwischentitel sagte: ›Erwin ist über diese Nachricht außerordentlich bestürzt.‹«126 Arnheim kritisiert die Stilisierung und Standardisierung der mimischen und gestischen Darstellung im Film, nachdem sie an Filmschulen institutionalisiert wurde. Er gibt damit zu bedenken, daß die Beziehung zwischen Affekt und Ausdruck durch die jeweiligen Medien definiert wird, in denen diese Beziehung verhandelt wird. Für Arnheim übertreibt also der Film die Sichtbarmachung der Affekte – seine »Übersetzung ins Mimische« – und leistet damit einer Standardisierung Vorschub. Dagegen propagiert Arnheim ein Ideal des filmischen Schauspielens, das der Übertreibung und Vergröberung ihr Gegenteil – nämlich Untertreibung und Verfeinerung des mimischen und gestischen Ausdrucks – entgegensetzt: »Aber inzwischen haben gute Schauspieler und gute Regisseure gezeigt, daß die größten Wirkungen fast immer erzielt werden, 124 R. Arnheim: Film als Kunst, S. 175 125 Ebd., S. 175f. 126 Ebd., S. 176.
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indem man so wenig wie möglich ›spielt‹. Die großen Schauspieler arbeiten mit einem ganz geringen Aufwand an Muskelspiel, sie wirken schon durch ihr bloßes Dasein.«127 Arnheim nimmt in seiner Kritik am Overacting die Präferenz für die »leisesten Züge« auf, die am Spiel Asta Nielsens so bewundert wurde. Zugleich betont er, daß die Wirkung des Filmschauspielers nicht allein auf seinen darstellerischen Fähigkeiten beruht. Diese Wirkung sucht er statt in Prägnanz und Eindeutigkeit des Affektausdrucks in der Person des Schauspielers selbst zu begründen. Dabei entgeht ihm jedoch, daß diese Personalisierung selbst wiederum Effekt der Standardisierung des Affektausdrucks im Film ist. Schon Hermann Häfker hatte ja die Stilisierung des Affektausdrucks und die Typifizierung des Filmschauspielers in einem Atemzug als Voraussetzungen einer allgemeinverständlichen Körpersprache im Film genannt. Auf diesen Zusammenhang weist auch Ernst Jünger in seiner Abhandlung Der Arbeiter hin. Jünger glaubt, daß der Personenkult des Filmschauspielers »dem maskenhaften Charakter einer ganzen Zeit« entspreche, da dessen »Aufgabe in der Repräsentation des Typus«, nicht des Individuums liege und man daher »von ihm nicht Einmaligkeit, sondern Eindeutigkeit« verlangen kann.128 Personalisierung ist also immer typifizierend, und umgekehrt fordert diese Typifizierung nach Eindeutigkeit und Wiedererkennbarkeit auch in der schauspielerischen Darstellung. Die Personalisierung bringt den Filmschauspieler auch in Frontstellung zum traditionellen Mimen, als dessen Vorbild der antike Mimus angesehen werden muß: »Der typische Filmschauspieler spielt nur sich selbst. Er steht im Gegensatze zum Typ des Mimen.«129 Der Mime fungiert in Benjamins Argumentation als Gegenpart zum Filmschauspieler vor allem wegen seines ausgeprägten Rollenspiels und seiner ursprünglichen Bedeutung als »Nachahmer«. Benjamin hebt also den verwandlungsfähigen Schauspieler als Darsteller, der die Affektzeichen kühl einzusetzen weiß, vom modernen Filmstar, dem Darsteller seiner selbst, ab. Er macht zwei unterschiedliche Auffassungen von ›Typus‹ geltend, um das moderne Starwesen von der Anonymität des antiken Mimus zu unterscheiden. Den Filmstar betrachtet er als öffentliche Person, der die Aufmerksamkeit eines Massenpublikums auf sich zieht. Der antike Mimus stand hingegen als persona non grata stets außerhalb der Gemeinschaft. Rollenspiel und soziale Rolle rechtfertigen seine Absetzung vom Filmstar. Dennoch stehen beide für die Notwendigkeit von Personalisierung ein, denn auch der antike Mimus war ein Schauspielertypus. Beim
127 Ebd. S. 176f. 128 Ernst Jünger: Der Arbeiter. Herrschaft und Gestalt (1932), Stuttgart: Klett-Cotta 1982, S. 134. 129 W. Benjamin: Das Kunstwerk, S. 454.
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Filmschauspieler ist die Typifizierung aufgrund der Anforderungen moderner Massenmedien notwendig geworden. Blochs Formel »Neuer Mimus durch die Kamera« erweist sich vor diesem Hintergrund als Kommentar zur Personalisierung und Typifizierung in einer massenmedial organisierten Gesellschaft, wo der Schauspieler das gesteigerte Subjekt vertritt. Mit den Ausbildungsprogrammen für Filmschauspieler hat die Psychologisierung der Ausdrucksbewegung die Ebene der Institutionalisierung erreicht. Die Debatte um Personalisierung und Starkult ist bereits einer ihrer Effekte. Nicht umsonst hatte Oskar Diehl die Herausgabe seines 1922 erschienenen Lehrbuchs Mimik im Film im Vorwort durch die »Gründungen eigener Filmschauspielschulen« legitimiert, die ein solches Unterrichtswerk »als dringlich notwendig erscheinen« ließen.130 In seiner Einleitung zu Rudenskis Gestologie bemerkt Franz Blei gar eine gewisse Übertreibung des pädagogischen Impetus‹ im analphabetischen Rußland, wo »der Anschauungsunterricht durch den Film«131 vielfach das Schulbuch ersetzt habe. Auch er fordert die Gründung von Filmschulen, denn der Film sei in erster Linie ein pädagogisches Instrument, ein ausgezeichnetes »Agitationsmittel«.132 Aus seiner Massenwirkung leitet er auch die soziale Bedeutung des Films ab, der seine Wirkung wie seine Kunstwürdigkeit durch eine ausgearbeitete Theorie des mimischen und gestischen Ausdrucks nur steigern könne. Seine Relevanz als Kunstform und seine massenpsychologische Wirkung werden von einer Ausdruckstheorie abhängig gemacht, die eine Verknüpfung dieser beiden Aspekte leistet. Zur Kunst für die Massen wird der Film also durch eine Generalisierung der Affekt-Ausdrucksbeziehung zur Anthropologie des »sichtbaren Menschen«, der im Leinwanddouble sein Gegenüber erkennt.133 Im Kino erfährt er sich als Subjekt und Objekt der Erkenntnis, als exzentrisch und involviert zugleich. Béla Balázs hat deshalb mehr als »das Filmgeheimnis« Asta Nielsens aufgedeckt, wenn er schreibt, ihr Mienenspiel imitiere »während des Gesprächs die Mienen des anderen« und trage »den ganzen Dialog in ihrem Gesicht«.134 Das tut auch der Zuschauer, wenn er das Mienenspiel der Darsteller mimetisch verfolgt; auch er wird in dieser anthropozentrischen Perspektive zum Nachahmer von Mienen und Ge130 131 132 133
O. Diehl: Mimik im Film, unpag. (Vorwort). D. Rudenski: Gestologie, S. 10. Ebd. Für Gertrud Koch bleibt Balázs »immer einer anthropologisch zentrierten Ästhetik verpflichtet« und insistiert »auf dem Ausdruckscharakter vor dem Zeichencharakter des Bildes« (dies.: »Die Physiognomie der Dinge. Zur frühen Filmtheorie von Béla Balázs«, in: Frauen und Film, H. 38 [1986], S. 73-82, hier S. 81). 134 B. Balázs: Der sichtbare Mensch› S. 163, 164.
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bärden, zum Schauspieler seiner selbst. Die Rede von der Ausdrucksbewegung kann so zum Schlagwort einer Kultur der visuellen Evidenz werden, die ihre ›Akteure‹ auf und vor der Leinwand von der gesprochenen Sprache emanzipieren und zugleich ihr Bild disziplinieren will. Die Rezeption von Carl-Theodor Dreyers Film LA PASSION DE JEANNE D ’ ARC (F 1927) zeigt auf exemplarische Weise die Diskursmacht, die mimische Expressivität in der Ära des ›stummen‹ Films eingenommen hat. An ihr lassen sich aber auch die Grenzen dieses Konzepts innerhalb des Diskursgeflechts aufzeigen, das sich um den Begriff ›Ausdrucksbewegung‹ gebildet hat. Dreyer hat seinen Film über den Prozeß und die Verurteilung der französischen Volksheldin zum großen Teil in Großaufnahmen gedreht. Dies machte den Film zur Sensation, führte er doch das Gesicht der Hauptdarstellerin, Maria Falconetti, in beispielloser Exponiertheit vor. Die nahgerückte Kamera verzeichnet jede mimische Regung, jede Nuance ihres Mienenspiels angefangen vom gerichtlichen Verhör, über die peinliche Befragung bis zur Hinrichtung in minutiöser Unerbittlichkeit (vgl. Abb. 18).135 Die Darstellung des Verhörs erfolgt fast ausschließlich über mimische Aktionen – Béla Balázs lobte den Film gerade wegen seiner »mimischen Dialoge von der Dauer eines ausführlichen Gesprächs«.136 Die Affekte sieht Balázs einzig im Mienenspiel verkörpert, das die Großaufnahme sichtbar macht. Dadurch koppelt er die »innere Dramatik«137 des Films ausschließlich an die mimische Expressivität seiner Darsteller. Ein Publikumserfolg ist Dreyers Film trotz alledem nicht geworden – im Gegenteil. Das mag auch daran gelegen haben, daß er die Filmhandlung drastisch reduziert hat und sich auf das Drama der Affekte verlassen hat. Dreyer komponierte jede Einstellung wie ein Einzelbild und suchte in jedem dieser Einzelbilder, ein Maximum an affektiver Intensität zu erreichen. Deshalb markiert Eisensteins Kritik an Dreyers Film zugleich die Grenze der Affektbildes im filmischen Darstellungsmodus: »Sehr interessant und sehr schön, aber kein Film. Eher eine Ab-
135 Vgl. Paul Renner: »Johanna von Orléans im Film«, in: Die Form. Zeitschrift für gestaltende Arbeit, 4. Jg. (1929), S. 90: »Auf der Leinwand ist oft nichts als ein menschlicher Kopf, der sich langsam von links nach rechts wendet, ein Kopf ohne Schminke und Perücke: wer nicht ganz ohne Phantasie ist, muß sich die Form und den Ausdruck dieses Kopfes für immer einprägen«; vgl. zu Dreyer David Bordwell: The Films of CarlTheodor Dreyer, Berkeley: Univ. of California Press 1981. 136 Béla Balazs: Der Geist des Films (1931), eingeleitet von Hartmut Bitomsky, Frankfurt a.M.: makol verlag 1972, S. 14. 137 Ebd.
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folge von wunderbaren Photographien.«138 Eisenstein bemängelt, daß Dreyer die exponierten Gesichter nicht genug in die filmische Narration eingebettet hat. Auf diese Weise können sie nicht jene aufmerksamkeitslenkende Funktion durchhalten, die ihnen im Spielfilm für gewöhnlich zukommt: Die Sensation, die seine Akkumulation von Gesichtern in Großaufnahme auslöste, durchkreuzt ihre Funktionalisierung zum Spannungselement des Films.
Abbildung 18: Maria Falconetti in LA PASSION DE JEANNE D’ARC (F 1927)
Dreyers Gebrauch der expressiven Mimik und der extremen Einstellung führt also in gewisser Weise wieder zu einer fotografischen Auffassung des Affektbildes; sein Film ist eine Galerie von Affektbildern. Und die gilt es, im Zeichen eines Narrationskinos zurückzuweisen, das Aus138 zit. in: Hans Schmid: »Carl Theodor Dreyer: Kino der fünften Dimension«, in: Michael Farin u.a.: Carl Th. Dreyers JEANNE D’ARC, München: Institut Français de Munich 1996, S. 7-22, hier S. 15.
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drucksbewegungen exklusiv zur Plausibilisierung psychischer Prozesse zeigt. Eisensteins Kritik wird also erst vor dem Horizont einer Justierung ausdruckspsychologischer und filmtheoretischer Fragestellungen in diesem Begriff verständlich. Die Mediengeschichte der Mimik kann deshalb an diesem Punkt, an dem die fotografische und filmische Konstruktion von Affektbildern reflektiert werden, innehalten und mit einem Ausblick auf die Konturen ausdruckstheoretischer Debatten der Folgezeit schließen.
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N A C HW O R T : M I M IS C H E E X P RE S S I V IT Ä T » F A C I AL E N G E S EL L S C H AF T «
IN DER
Es gehört zur Ironie der Geschichte technischer Medien und ihrer epistemischen Verankerung, daß sie von ihrer eigenen Vergangenheit überrollt werden. Seit den ersten kinematographischen Experimenten gehörte die synchrone Aufnahme und Wiedergabe von Bild und Ton zum erklärten Ziel seiner Erfinder.1 Darüber können die auf Sichtbarkeit und Signifikanz von Körperbewegungen beruhenden Theorien des ›stummen‹ Films nicht hinwegtäuschen – so verband schon Georges Demenÿ auf experimenteller Ebene kinematographische und akustische Aufzeichnung. Und auch ihre avanciertesten Vertreter wie Hermann Häfker träumten von einem filmischen Gesamtkunstwerk – dem Melodrama, das sich an der Oper orientieren und jede Form von Geräusch integrieren sollte. Vor diesem Hintergrund muß die sogenannte »Kino-Debatte« als eine recht kurze Episode in der Mediengeschichte des Films erscheinen, die, spätestens, als die ersten Tonfilme in die deutschen Kinos kamen, beendet war. An der Wende zum Tonfilm ziehen viele Zeitschriften und Fachblätter jedoch ein Resümee der Debatte um den ›stummen‹ Film, die einer solchen Einschätzung zuwiderläuft. Denn auch wenn der Tonfilm mit der ›Stummheit‹ der körpersprachlichen Darstellung die Privilegierung der Mimik und Gestik aufheben wird, so bedeutet diese Aufhebung doch auch ihre Fortschreibung auf einer neuen Stufe. Deshalb bemühen sich viele Theoretiker und Praktiker des Films, die Erkenntnisse der Ausdruckspsychologie, die Erfahrungen der Kinodebatte und der filmischen Praxis für den Tonfilm fruchtbar zu machen. So wartet der FilmKurier des Jahres 1929 in einer Sondernummer mit zahlreichen Standpunkten zur Lage der Filmkunst auf. Verschiedene Artikel nehmen noch einmal die wesentlichen Topoi der ausdruckspsychologischen und filmästhetischen Diskussion auf, wenn sie die »Körperschulung« zur Voraussetzung der schauspielerischen Darstellung im Film erklären, den spar1
Vgl. Tom Gunning: »Doing for the Eye what the Phonograph does for the Ear«, in: Richard Abel/Rick Altman (Hg.): The Sound of Early Cinema, Bloomington/Indianapolis: Indiana Univ. Press 2001, S. 13-31.
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samen Einsatz der körpersprachlichen Mittel fordern oder vor dem »Sprechfilm« als bloßen »Theaterersatz« warnen.2 In diesen Artikeln spiegelt sich die Popularisierung ausdruckstheoretischen Wissens durch die Kinodebatte der Ära des ›stummen‹ Films. Parallel zur Durchsetzung des Tonfilms vollzieht sich eine folgenschwere Weichenstellung auf institutioneller Ebene, die das Schicksal der Ausdruckspsychologie in Deutschland besiegelt. Karl Bühler wird als Jude 1938 aus Amt und Würden vertrieben und verliert seine Wiener Professur. Vor ihm sind bereits seit 1933 führende Ausdrucksforscher wie Kurt Lewin nach Amerika emigriert. Bühler zumindest wird dort jedoch nicht wieder jenes Renommee erreichen, das er in der deutschsprachigen Forschungslandschaft hatte, zumal die Verhaltensforschung, zu deren wichtigen Anregern neben Lewin auch Schüler Bühlers gehören, an amerikanischen Universitäten und Forschungseinrichtungen größeres Gewicht erlangt hat. Die Verhaltensforschung konzentriert sich auf die Entwicklung sprachbasierter Fragebögen und Tests und löst damit die Privilegierung von Körperbewegungen als evidenzstiftenden Untersuchungsgegenstand ab.3 Bühlers Ausdruckstheorie ist im Jahr der Machtergreifung Hitlers erschienen. Diese zufällige Koinzidenz macht auf symptomatische Weise den ›blinden‹ Fleck seiner historisch-systematischen Darstellung offenkundig. Denn nicht erst nach 1933 wurden unter nationalsozialistischer Herrschaft in Deutschland charakterologische und rassentheoretische Forschungsprogramme gefördert. Und auch ein anerkannter Ausdruckspsychologe wie Philipp Lersch widmete sich nun vollends der Offizierseignungsprüfung.4 Rassenhygiene und Euthanasie bilden gewissermaßen die Kehrseite der ausdruckspsychologischen Forschungen in der Weimarer Republik, deren Wurzeln weit in die Geschichte der Vermessung des Menschen zurückreichen. Erst in der Nachkriegszeit flammt die ästhetische Diskussion über Bedingungen und Möglichkeiten des Schauspielens im Film, begleitet von der nun massenhaften Verbreitung des Fernsehens und unter dem 2
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Vgl. Martin Gleisner: »Körperschulung tut not!«, in: Film-Kurier, 9. Jg. (1929), Nr. 94 (20.4.1929); Fritz Rasp: »Die Sparsamkeit der Geste«, in: Film-Kurier, 9. Jg. (1929), Sondernummer (1.6.1929); Charlie Chaplin: »Meine Stellung gegen den Sprechfilm«, in: Film-Kurier, 9. Jg. (1929), Nr. 177 (27.7.1929). Obwohl der Niedergang der Ausdruckspsychologie bereits in den 1940er Jahren einsetzt, wurde sie an deutschen Universitäten erst 1973 »offiziell als akademische Disziplin abgeschafft« (S. Frey: Macht des Bildes, S. 51). Zu dieser gesellschaftspolitischen und institutionellen Entwicklung vgl. die faktenreichen Studie von Ulfried Geuter: Die Professionalisierung der deutschen Psychologie im Nationalsozialismus, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1988.
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NACHWORT
Banner eines ›neuen‹ Realismus, wieder auf. Als einer der ersten macht Alexandre Astruc 1948 »eine erstaunliche Wandlung des Gesichts« aus – der Film selbst habe sich »ein neues Gesicht« zugelegt und sei dabei, »ein Ausdrucksmittel« zu werden.5 Er nimmt die Vorstellung einer kinematographischen Universalsprache, die bereits die Debatte um den ›stummen‹ Film popularisiert hatte, wieder auf und glaubt gleichzeitig an ein Kino der Imagination, in dem sich die Gedanken direkt – ohne Umweg über Bildassoziationen – auf dem Filmstreifen einschreiben. Dieses Kino kann er nicht ohne eine dynamische Konzeption des bewegten Bildes denken, in der jeder »Gedanke wie jedes Gefühl eine Beziehung zwischen einem Menschen und einem anderen Menschen oder gewissen Objekten [ist], die Teile seiner Welt sind«.6 Wie sollten diese Beziehungen anders als universale Ausdrucksbewegungen von Subjekten und Objekten verstanden werden? Auch Siegfried Kracauers Theorie des Films greift alle wesentlichen Argumente der Kinodebatte um den ›stummen‹ Film auf: die Differenz zwischen Bühnen- und Filmschauspieler, die suggestive Wirkung seiner Darstellung auf das Kinopublikum, die investigative Rolle der Großaufnahme, die »den Zuschauer dazu einlädt, auf kleinste Veränderungen im Aussehen und Verhalten eines Charakters zu achten«, die psychologische Deutung beiläufiger Mienen und Gebärden, die Testierbarkeit der physischen Erscheinung des Schauspielers und seiner psychischen Leistung sowie nicht zuletzt die Besonderheit seines Subjektstatus‹, die sich aus der Typifizierung und aus der »Auflösung der Ganzheit des Schauspielers« ergibt.7 Kracauer knüpft hier nahtlos an die Debatte über den ›stummen‹ Film und deren Verständnis mimischer Expressivität an. Das im Begriff ›Ausdrucksbewegung‹ namhaft gemachte Verhältnis von Affekt und Bewegung steht außerdem im Zentrum eines prominenten Theorieentwurfs, der sich dem Film gewissermaßen von der Seite (philosophischen Fragens) nähert. Gilles Deleuze entwickelt eine Theorie des filmischen Affektbildes an zentraler Stelle seines 1983 veröffentlichten ersten Kino-Buches über Das Bewegungs-Bild. Dort setzt er sich mit Bergsons Inthronisierung eines ›inneren‹ Kinematographen auseinander und stellt »eine Beziehung des Affekts zur Bewegung im allgemeinen« fest.8 Auch Deleuze faßt den Affekt explizit als Ausdrucksbe5
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Alexandre Astruc: »Die Geburt einer neuen Avantgarde: die Kamera als Federhalter«, in: Christa Blümlinger/Constantin Wulff (Hg.): Schreiben Bilder Sprechen. Texte zum essayistischen Film, Wien: Sonderzahl 1992, S. 199-204, hier S. 199. Ebd., S. 202. S. Kracauer: Theorie des Films, S. 135-145, Zitate S. 136; 140. G. Deleuze: Bewegungs-Bild, S. 97. Zu Deleuze’ Theorie des Kinos vgl. Mirjam Schaub: Gilles Deleuze im Kino: Das Sichtbare und das Sagbare
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wegung auf, der das filmische Bewegungsbild entspricht. Für ihn liegt der Affekt zwischen zwei Bewegungsimpulsen: »[...] gerade hier, im Affekt, hört die Bewegung auf, bloße Verlagerung zu sein und wird Ausdrucksbewegung.« 9 Zum Affekt gehört auch für Deleuze die Bewegung, dennoch ist er faßbar in einem Bild, das sich im Zwischen zweier Bewegungsstadien situiert, von dem die Ausdrucksbewegung eine Vorstellung gibt. Dieses Affektbild identifiziert er mit dem Gesicht: »Es ist nicht verwunderlich, daß in dem Bild, das wir sind, das Gesicht in seiner relativen Unbeweglichkeit und mit seinen rezeptiven Organen diese Ausdrucksbewegungen an den Tag bringt, während sie am übrigen Körper zumeist verborgen bleiben.«10 In diese logische Kette reiht Deleuze nun auch noch die Großaufnahme ein: »Ein Affektbild ist eine Großaufnahme, und eine Großaufnahme ist ein Gesicht.«11 Das Gesicht definiert er in bester ausdruckstheoretischer Tradition als bevorzugte Einschreibfläche und als privilegierten Träger von Ausdrucksbewegungen. Damit sind die Weichen für eine weitere Diskursivierung affektiver Gesichter in Bewegung gestellt. Die Einsicht in den vehementen Einfluß von Massenmedien auf die gesellschaftliche Kommunikation hat in letzter Zeit das Schlagwort von einer »facialen Gesellschaft«12 als Selbstbeschreibungsmodell einer Mediengesellschaft aufgebracht, in der »die Gesichtshaftigkeit als allgemeinstes Schema der Massenkommunikation«13 fungiert. Das Adressierungspotential medial vermittelter Affektmimiken bei der Kommunikation Abwesender kann nicht hoch genug eingeschätzt werden, aktivieren sie doch ein psychisches Potential, das vorrangig in der Face-to-face-Kommunikation zum Einsatz kommt. Der Erfolg solcher Affektbilder in der gesellschaftlichen Massenkommunikation ist nicht wenig der Herausbildung eines medialen Konzepts mimischer Expressivität geschuldet, dessen Mediengeschichte hier rekonstruiert wurde.
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sowie Gilles Deleuze im Wunderland: Zeit- als Ereignisphilosophie, München: Fink 2003. Ebd. Ebd. Ebd., S. 123. Vgl. Gerburg Treusch-Dieter/Thomas Macho (Hg.): Medium Gesicht. Die faciale Gesellschaft, Ästhetik & Kommunikation, H. 94/95, 25. Jg. (Dez. 1996); bes. Thomas Macho: »GesichtsVerluste. Faciale Bilderfluten und postindustrieller Animismus« (ebd., S.25-28). Hermann Kappelhoff: »Bühne der Empfindungen, Leinwand der Emotionen - das bürgerliche Gesicht«, in: Helga Gläser/Bernhard Groß/Hermann Kappelhoff (Hg.): Blick - Macht - Gesicht, Berlin: Vorwerk 2001, S. 9-41, hier S. 10.
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9. L I T ER A T U R -
UND
A B B IL D U N G SV E R Z E IC H N I S
9 . 1 Q u el l e n Altenloh, Emilie: Zur Soziologie des Kino. Die Kino-Unternehmung und die sozialen Schichten ihrer Besucher, Jena: Eugen Diederichs 1914. Arnheim, Rudolf: Experimentell-Psychologische Untersuchungen zum Ausdrucksproblem, Diss. Berlin 1928. ders.: Film als Kunst (1932), Frankfurt a.M.: Fischer 1979. Astruc, Alexandre: »Die Geburt einer neuen Avantgarde: die Kamera als Federhalter« (1948), in: Christa Blümlinger/Constantin Wulff (Hg.): Schreiben Bilder Sprechen. Texte zum essayistischen Film, Wien: Sonderzahl 1992, S. 199-204. Bab, Julius: »Film und Kunst« (1925), in: Kümmel/Löffler (Hg.): Medientheorie (2002), S. 163-177. ders.: Albert Bassermann. Weg und Werk eines deutschen Schauspielers um die Wende des 20. Jahrhunderts, Leipzig: Erich Weibezahl Verlag 1929. ders.: Das Theater im Lichte der Soziologie, unveränderter Nachdruck der Ausgabe von 1931 mit einem Geleitwort von Alphons Silbermann, Stuttgart: Ferdinand Encke Verlag 1974. Bahr, Hermann: Zur Überwindung des Naturalismus. Theoretische Schriften 1887-1904, ausgewählt und erläutert von Gotthart Wunberg, Stuttgart u.a.: Kohlhammer 1968. ders.: »Die Duse« in: Bianca Segantini/Francesco von Mendelsohn (Hg.): Eleonora Duse. Bildnisse und Worte, Berlin: Rudolf Kaemmerer Verlag 1926. Balázs, Béla: Der sichtbare Mensch oder Die Kultur des Films, Wien/ Leipzig: Deutsch-Österreichischer Verlag 1924. ders.: »Dramaturgische Fragmente. Das unsichtbare Antlitz«, in: Filmtechnik, 3. Jg. (1927), Nr. 2, S. 24-25. ders.: Der Geist des Films (1931), eingeleitet von Hartmut Bitomsky, Frankfurt a.M.: makol verlag 1972. Balzac, Honoré de: Theorie des Gehens (1833), Lana/Wien/Zürich: Edition Howeg 1997. 271
AFFEKTBILDER
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Abb. 6: Duchenne de Boulogne: Synoptische Tafel VII (1862), in: R.A. Cuthbertson: Duchenne de Boulogne (1990), S. 219. Abb. 7: Theodor Piderit: Der prüfende Zug (1867), in: Th. Piderit: Mimik und Physiognomik (1925), Figur 25-27. Abb. 8: Heinrich Rudolph: Erstaunen, Entsetzen, Angst (1903), in: O. Zybok: Von Angesicht zu Angesicht (2000), S. 207. Abb. 9: Fritz Möller: Mimik des Mundes (1900), in: Grote/Götze/ Steuber: Selbstinszenierungen (2001), Tafel 62-64. Abb. 10: Theodor Piderit: Schläfrig gesenkte Augendeckel, Aufgerissene Augen (1867), in: Th. Piderit: Mimik und Physiognomik (1925), Figur 10, 11. Abb. 11: Philipp Lersch: Gesicht und Seele (1932): Tafel IV. Abb. 12: Georges Demenÿ: »Vive la France« (1891), in: M. Braun: Picturing Time (1992), S. 178f. Abb. 13: Fritz Möller: Mimisches Alphabet (1900), in: Grote/Götze/ Steuber: Selbstinszenierungen (2001), Buchstabe k – p. Abb. 14: Phillip Lersch: Gesicht und Seele (1932): Tafel X. Abb. 15: Wilhelm Scheffer: Mimische Studien mit Reißzeug und Kamera (1914). Abb. 16: Dyk Rudenski: Vom Entsetzen zur Unschlüssigkeit, in: D. Rudenski: Gestologie (1927), S. 19. Abb. 17: Dyk Rudenski: Bewegungsmöglichkeiten der Augen, in: D. Rudenski: Gestologie (1927), S. 27. Abb. 18: Maria Falconetti in La Passion de Jeanne d’Arc (1927), in: M. Farin e.a.: Carl Th. Dreyers JEANNE D’ARC (1996), S. 89.
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Die Neuerscheinungen dieser Reihe:
Friedrich Jaeger, Jürgen Straub (Hg.) Was ist der Mensch? Perspektiven einer kulturwissenschaftlichen Anthropologie Dezember 2004, ca. 320 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-266-X
Martin Warnke, Wolfgang Coy, Georg Christoph Tholen (Hg.) HyperKult II Zur Ortsbestimmung analoger und digitaler Medien November 2004, ca. 350 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 27,00 €, ISBN: 3-89942-274-0
Alexander Kochinka Emotionstheorien Begriffliche Arbeit am Gefühl Oktober 2004, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-235-X
Petra Löffler Affektbilder Eine Mediengeschichte der Mimik Oktober 2004, 296 Seiten, kart., zahlr. Abb., 29,90 €, ISBN: 3-89942-267-8
Franck Hofmann, Jens E. Sennewald, Stavros Lazaris (Hg.) Raum – Dynamik / dynamisme d’espace Beiträge zu einer Praxis des Raums / contributions aux pratiques de l’espace Oktober 2004, 356 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-251-1
Marion Picker Der konservative Charakter Walter Benjamin und die Politik der Dichter Oktober 2004, 184 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-249-X
Susanne Stemmler Topografien des Blicks Eine Phänomenologie literarischer Orientalismen des 19. Jahrhunderts in Frankreich Oktober 2004, ca. 300 Seiten, kart., ca. 28,00 €, ISBN: 3-89942-281-3
Manfred Riepe Intensivstation Sehnsucht Blühende Geheimnisse im Kino Pedro Almodóvars. Psychoanalytische Streifzüge am Rande des Nervenzusammenbruchs Oktober 2004, ca. 240 Seiten, kart., zahlr. Abb., ca. 25,00 €, ISBN: 3-89942-269-4
Leseproben und weitere Informationen finden Sie unter: www.transcript-verlag.de
Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Georg Mein, Markus Rieger-Ladich (Hg.) Soziale Räume und kulturelle Praktiken Über den strategischen Gebrauch von Medien September 2004, 322 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-216-3
Hartmut Seitz Lebendige Erinnerungen Die Konstitution und Vermittlung lebensgeschichtlicher Erfahrung in autobiographischen Erzählungen September 2004, ca. 300 Seiten, kart., ca. 29,80 €, ISBN: 3-89942-248-1
Marc Fabian Erdl Die Legende von der Politischen Korrektheit Zur Erfolgsgeschichte eines importierten Mythos
Nicole Gronemeyer Optische Magie Zur Geschichte der visuellen Medien in der Frühen Neuzeit
September 2004, 414 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-238-4
September 2004, 242 Seiten, kart., ca. 25,80 €, ISBN: 3-89942-240-6
Dirk Michael Becker Botho Strauß: Dissipation Die Auflösung von Wort und Objekt
Andreas Becker Perspektiven einer anderen Natur Zur Geschichte und Theorie der filmischen Zeitraffung und Zeitdehnung
September 2004, 238 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-232-5
Jörn Ahrens Ödipus Politik des Schicksals September 2004, 114 Seiten, kart., 12,80 €, ISBN: 3-89942-252-X
Juli 2004, 370 Seiten, kart., zahlr. Abb., 28,80 €, ISBN: 3-89942-239-2
Christine Rospert Poetik einer Sprache der Toten Studien zum Schreiben von Nelly Sachs Mai 2004, 414 Seiten, kart., 28,80 €, ISBN: 3-89942-215-5
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Die Neuerscheinungen dieser Reihe: Landesverband der Kunstschulen Niedersachsen (Hg.) bilden mit kunst
Stephan May Faust trifft Auge Mythologie und Ästhetik des amerikanischen Boxfilms
April 2004, 350 Seiten, kart., 22,80 €, ISBN: 3-89942-207-4
Februar 2004, 416 Seiten, kart., 26,80 €, ISBN: 3-89942-191-4
Stefan Kramer Vom Eigenen und Fremden Fernsehen und kulturelles Selbstverständnis in der Volksrepublik China
Kerstin Kratochwill, Almut Steinlein (Hg.) Kino der Lüge
April 2004, 576 Seiten, kart., 29,80 €, ISBN: 3-89942-208-2
Hans-Joachim Lenger Marx zufolge Die unmögliche Revolution April 2004, 418 Seiten, kart., 27,80 €, ISBN: 3-89942-211-2
Februar 2004, 196 Seiten, kart., 23,80 €, ISBN: 3-89942-180-9
Jens Schröter Das Netz und die Virtuelle Realität Zur Selbstprogrammierung der Gesellschaft durch die universelle Maschine Februar 2004, 328 Seiten, kart., zahlr. Abb., 27,80 €, ISBN: 3-89942-176-0
Peter Widmer Angst Erläuterungen zu Lacans Seminar X April 2004, 176 Seiten, kart., 18,80 €, ISBN: 3-89942-214-7
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