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German Pages 262 Year 2014
Thomas Brandstetter, Thomas Hübel, Anton Tantner (Hg.) Vor Google
Thomas Brandstetter, Thomas Hübel, Anton Tantner (Hg.)
Vor Google Eine Mediengeschichte der Suchmaschine im analogen Zeitalter
Publiziert mit Unterstützung des Instituts für Wissenschaft und Kunst (IWK), Wien.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2012 transcript Verlag, Bielefeld
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Inhalt
Einleitung
Thomas Brandstetter, Thomas Hübel, Anton Tantner | 7 Ordnung ist das halbe Leben. Zur Ökonomie von Benamung und Suche
Stefan Rieger | 17 »Wende sie um und um, denn alles ist in ihr.« Über das Suchen in heiligen Texten
Daniel Weidner | 41 Fragen ohne Antworten. Die Suche nach lokalen Informationen in der frühen Aufklärung
Alix Cooper | 73 Herrschaftsordnung, Datenordnung, Suchoptionen. Recherchemöglichkeiten in Staatskalendern und Staatshandbüchern des 18. Jahrhunderts
Volker Bauer | 85 Das Zeitungskomptoir als Informationsdrehscheibe. Michael Hermann Ambros und seine Grazer Anzeigenblätter
Andreas Golob | 109 Ask Jeeves. Der Diener als Informationszentrale
Markus Krajewski | 151 Suchen und Finden. Notizführung und Grammatik bei Theodor Nöldeke
Henning Trüper | 173
Vannevar Bush und die Technikutopie Memex. Visionen einer effizienten Speicherung und Verfügbarmachung von Information
Martin Schreiber | 203 Zentralität und Sichtbarkeit. Mathematik als Hierarchisierungsinstrument am Beispiel der frühen Bibliometrie
Bernhard Rieder | 223 Abbildungsverzeichnis | 253 Autorin und Autoren | 255
Einleitung T HOMAS B RANDSTETTER , T HOMAS H ÜBEL , A NTON T ANTNER
Verändert Google das Gehirn des Menschen, macht es uns gar dumm? Droht mit der »Google-Falle« das Ende jeglicher Privatsphäre? Fördert das Digitalisierungsprojekt Google Books die US-amerikanische Dominanz im Bereich der Kultur? Braucht es eine europäische Suchmaschine? – So lauteten einige der in den letzten Jahren diskutierten Fragen in Wissenschaft und Feuilleton, die nur allzu sehr verdeutlichen, in welchem Ausmaß Suchmaschinen – und das heißt in erster Linie Google – seit Ende der 1990er Jahre unseren Alltag bestimmen.1 Es verwundert nicht, dass Sachbücher die Ent-
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Carr, Nicholas: »Is Google Making Us Stupid? What the Internet is doing to our brains«, in: The Atlantic, Juli/August 2008, http://www.theatlantic.com/magazine/archive/2008/07/is-google-making-us-stupid/6868 vom 16.01.2012; Schirrmacher, Frank: Payback. Warum wir im Informationszeitalter gezwungen sind zu tun, was wir nicht tun wollen, und wie wir die Kontrolle über unser Denken zurückgewinnen, München: Blessing 2009; Schirrmacher, Frank: »Wir brauchen eine europäische Suchmaschine«, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 19.07.2011, S. 27, http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/digitales-den ken/digitales-gedaechtnis-wir-brauchen-eine-europaeische-suchmaschine-11104 800.html vom 16.01.2012; Reischl, Gerald: Die Google-Falle. Die unkontrollierte Weltmacht im Internet, Wien: Ueberreuter 2008; Jeanneney, Jean-Noël: Googles Herausforderung. Für eine europäische Bibliothek, Berlin: Wagenbach 2006.
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stehungsgeschichte von Google beleuchten,2 Informationswissenschaftler die Funktionsweise von Suchmaschinen erläutern,3 Sammelbände nach einer »Politik des Suchens« und der »Macht der Suchmaschinen« fragen4 und auch schon Romane über Suchmaschinen verfasst werden.5 Der vorliegende Band nähert sich dem Phänomen der Suchmaschinen auf historische Weise an und beschäftigt sich mit ihrer »Vorgeschichte«. Inwiefern können zum Beispiel Bibelkonkordanzen, Adressbücher, Zeitungskomptoire, Kammerdiener oder Zitationsindizes als »Vorläufer« heutiger Suchmaschinen betrachtet werden? Mit einer solchen Fragestellung soll keineswegs ein teleologisch ausgerichtetes Geschichtsverständnis vertreten werden, das eine direkte, zwangsläufige Entwicklungslinie von dem einen zum anderen Medium konstruiert, sondern vielmehr strukturelle Ähnlichkeiten zwischen den jeweiligen Medien behauptet werden. Versteht man »Vorgeschichte« bzw. »Prähistorie« als historische Epoche, so wird damit üblicherweise die Geschichte menschlicher Äußerungen vor dem Beginn schriftlicher Überlieferungen bezeichnet;6 vielleicht kann jene Epoche, die vor der durch den Computer ausgelösten medialen Revolution liegt, im Gegensatz zum damit einsetzenden »digitalen Zeitalter« als »analoges Zeitalter« bezeichnet werden.7 Von Suchmaschinen im analogen Zeitalter zu
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Battelle, John: Die Suche. Geschäftsleben und Kultur im Banne von Google & Co, Kulmbach: Börsenmedien AG 2006; Vise, David/Malseed, Mark: Die Google-Story, Hamburg: Murmann 2006; Reppesgaard, Lars: Das GoogleImperium, Hamburg: Murmann 2008.
3
Lewandowski, Dirk: Web Information Retrieval. Technologien zur Informationssuche im Internet, Frankfurt a.M.: DGI Schrift 2005.
4
Becker, Konrad/Stalder, Felix (Hg.): Deep Search. Politik des Suchens jenseits von Google, Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag 2009; Machill, Marcel/Beiler, Markus (Hg.): Die Macht der Suchmaschinen – The Power of Search Engines, Köln: Halem 2007.
5
Weyh, Florian Felix: Toggle. Roman, Berlin: Galiani 2012; Baluja, Shumeet: Silicon Jungle. Roman, Berlin: Suhrkamp 2012.
6
Vgl. z.B. Fuchs, Konrad/Raab, Heribert: Wörterbuch Geschichte, 11. Auflage, München: dtv 1998, S. 850f, Stichwort »Vorgeschichte, Urgeschichte, Prähistorie«.
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Zur Problematik der Trennung der Begriffe analog/digital: Schröter, Jens: »Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum«, in: Böhnke, Alexander/ders. (Hg.),
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sprechen, heißt, einen »kontrollierten Anachronismus«8 einzusetzen, der versucht, aus der Reibung, die sich aus der Unzeitgemäßheit eines Begriffs (der Suchmaschine) in Bezug auf eine Epoche (hier ein Zeitraum, der vom Mittelalter bis in das 20. Jahrhundert reicht) ergibt, Erkenntnis zu gewinnen.9 Ein Phantasma, das Suchmaschinen im analogen wie im digitalen Zeitalter zu dominieren scheint, ist jenes von der unmittelbaren Wunscherfüllung. Diesem zufolge sollte die Tätigkeit des Suchens am besten gar nicht stattfinden müssen; ist sie aber dennoch notwendig, soll zumindest der Aufwand an Zeit und Ressourcen so gering wie nur möglich gehalten werden. Das Suchen wird hier gewissermaßen als Störung verstanden, die es zu beseitigen gilt. Die in diesem Band versammelten Beiträge vermitteln einen Eindruck von den verschiedensten Utopien und Heilsversprechen, die mit Suchmaschinen verbunden waren.
Analog/Digital – Opposition oder Kontinuum? Zur Theorie und Geschichte einer Unterscheidung (= Medienumbrüche, Band 2), Bielefeld: transcript 2004, S. 7-30; Winkler, Hartmut: Basiswissen Medien, Frankfurt a.M.: Fischer 2008, S. 129. 8
Diesen Begriff hat die Altertumshistorikerin Nicole Loraux eingeführt; für die deutschsprachige Geschichtswissenschaft hat ihn Peter von Moos angewendet: Loraux, Nicole: »Eloge de l’anachronisme en histoire«, in: Le genre humain 27 (1993), S. 23-39; Moos, Peter von: »Das Öffentliche und das Private im Mittelalter. Für einen kontrollierten Anachronismus«, in: Melville, Gert/ders. (Hg.), Das Öffentliche und Private in der Vormoderne (= Norm und Struktur, Band 10), Köln/Weimar/Wien: Böhlau 1998, S. 3-83; vgl. auch Arni, Caroline: »Zeitlichkeit, Anachronismus und Anachronien. Gegenwart und Transformationen der Geschlechtergeschichte aus geschichtstheoretischer Perspektive«, in: L’Homme. Zeitschrift für Feministische Geschichtswissenschaft 18 (2007), H. 2, S. 53-76.
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Der Begriff der »Suchmaschine« tauchte vereinzelt schon im 19. Jahrhundert auf, zumeist in Zusammenhang mit der Suche nach Gegenständen bzw. Personen in Gewässern; vgl. die im Weblogeintrag von Jan Hodel zusammengestellten Beispiele: Hodel, Jan: »›Suchmaschinen‹ avant la lettre?« in: hist|net. Weblog zu Geschichte und Digitalen Medien, Eintrag vom 13.05.2011, http://web log.hist.net/archives/5376 vom 09.01.2012.
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Ebenso zeigen sie aber, dass diese Phantasmen an konkrete Medien gebunden waren. Die Beschreibung dieser Verfahren und Technologien erlaubt Einblick in die Art und Weise, in der etwas überhaupt erst als wissenswert konstituiert wurde. Information entsteht nicht von alleine. Als Gegenstand des Denkens und Handelns, als Gut, das gesucht und gefunden werden kann, benötigt sie materielle Träger, die ihre Speicherung und Verarbeitung ermöglichen. Man kann die Bibel, wie es jahrhundertelang gemacht wurde, meditativ rezitieren und lesen; ein Speicher signifikanter »Stellen« kann sie aber erst durch medientechnische und typographische Innovationen werden.10 Ein medienhistorischer Zugang kann somit zeigen, auf welche Weise Suchmaschinen den Umgang mit Wissen – und damit den Status und die Funktion von Wissen selbst – verändern. In der Forschung der letzten Jahre gab es verschiedentlich Versuche, vergangene, insbesondere frühneuzeitliche Informationstechnologien als Vorboten des digitalen Zeitalters zu betrachten.11 So beschäftigte sich Thomas Corns in einem Aufsatz mit dem schönen Titel The Early Modern Search Engine – erschienen in dem Sammelband The Renaissance Computer. Knowledge Technology in the First Age of Print – mit Techniken, die innerhalb von Büchern das Auffinden von Information erleichtern, wie zum Beispiel dem Titelblatt, Inhaltsverzeichnissen, Marginalien, Kapitelzusammenfassungen oder Indizes. Sein Befund lautete, dass manche frühneuzeitliche Texte bis zu einem gewissen Grad heutige Entwicklungen antizipierten und durch einen nicht-seriellen Zugang Texte besser benutzbar machten. Diese Benutzerfreundlichkeit wurde jedoch oft mit dem Preis der geringeren Interpretationsfreiheit bezahlt.12 Eine ähnliche Stoßrichtung hatte
10 Vgl. dazu Illich, Ivan: Im Weinberg des Textes. Als das Schriftbild der Moderne entstand. Ein Kommentar zu Hugos »Didascalicon«, München: C.H. Beck 2010 sowie den Beitrag von Daniel Weidner in diesem Band. 11 Für einen umfangreichen Überblick vgl. Tantner, Anton: »Suchen und finden vor Google. Eine Skizze«, in: Mitteilungen der Vereinigung österreichischer Bibliothekarinnen & Bibliothekare 64 (2011), H. 1, S. 41-68, https://fedora. phaidra.univie.ac.at/fedora/get/o:103096/bdef:Content/get 12 Corns, Thomas N.: »The Early Modern Search Engine: Indices, Title Pages, Marginalia and Contents«, in: Rhodes, Neil/Sawday, Jonathan (Hg.), The Ren-
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Helmut Zedelmaiers Bemerkung, dass Buchregister »als Suchmaschinen der frühneuzeitlichen Wissensapparate«13 betrachtet werden könnten. Michael Gieseckes Studie über den Buchdruck in der Frühen Neuzeit wiederum behandelte die Einführung dieser neuen Technik mit einem informations- und kommunikationstheoretischen Vokabular, während Markus Krajewskis Bücher ZettelWirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek sowie Der Diener. Mediengeschichte einer Figur zwischen König und Klient die Geschichte von Karteikarte bzw. Diener als Vorgeschichte des Computers beschrieben.14 Einer der Herausgeber dieses Bandes, Anton Tantner, beschäftigte sich mit den ab dem 17. Jahrhundert in den großen europäischen Städten errichteten Adressbüros, die zum einen Informationen vermittelten, zum anderen aber nur allzu oft als Kontrollinstanzen dienen sollten und sich damit in genau jenem Spannungsverhältnis befanden, das auch für Google charakteristisch ist.15 Als klassische Suchmaschinen des 19. Jahrhunderts können Zeitungsausschnittsdienste wie das 1879 in Paris gegründete Büro namens »Argus de la Presse« oder der 1896
aissance Computer. Knowledge Technology in the First Age of Print, London/New York: Routledge 2000, S. 95-105. 13 Zedelmaier, Helmut: »Facilitas inveniendi. Zur Pragmatik alphabetischer Buchregister«, in: Stammen, Theo/Weber, Wolfgang E.J. (Hg.), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien (= Colloquia Augustana, Band 18), Berlin: Akademie-Verlag 2004, S. 191-203, hier S. 193. 14 Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, 4. Auflage, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006; Krajewski, Markus: ZettelWirtschaft. Die Geburt der Kartei aus dem Geiste der Bibliothek (= Copyrights, Band 4), Berlin: Kadmos 2002; Krajewski, Markus: Der Diener. Mediengeschichte einer Figur zwischen König und Klient, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2010. 15 Tantner, Anton: Adressbüros im Europa der Frühen Neuzeit. Wien: Habilitationsschrift an der Universität Wien, 2011, http://phaidra.univie.ac.at/o:128115; die Forschung daran wurde im Rahmen des durch den FWF (Fonds zur Förderung der Wissenschaftlichen Forschung in Österreich) finanzierten Projekts »Europäische Adressbüros in der Frühen Neuzeit. P19826-G08« unterstützt; weitere Veröffentlichungen siehe unter: http://adressbueros.tantner.net/
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in Wien installierte und heute noch als Medienbeobachtungsunternehmen existierende »Observer« gelten, mit denen sich Anke te Heesen auseinandergesetzt hat.16 Zunehmend geraten auch die analogen Suchmaschinen des 20. Jahrhunderts in das Blickfeld der Forschung, darunter populäre Fernsehsendungen wie Robert Lembkes »Was bin ich?« oder Eduard Zimmermanns »Aktenzeichen XY«, die David Gugerli in einem Essay behandelt hat.17 Die neun in diesem Band versammelten Texte versuchen auf jeweils unterschiedliche Art, den im Titel gesetzten Anachronismus produktiv zu machen. So behandelt der erste, von Stefan Rieger verfasste Beitrag Utopien zur Vermeidung der Suche, also Klassifikationssysteme, bei denen sich der Ort eines Dings von selbst verstehen sollte. Ausgehend von zwei Texten Arno Schmidts stellt er am Beispiel Adalbert Stifters und Lorenz Okens eine restaurativ erhaltende und eine programmatisch erneuernde Herangehensweise an Ordnungssysteme einander gegenüber und zeigt damit, wie Ordnungsentwürfe an fragile Zeichenökonomien gebunden sind, die sich, wie am Sprachreformator Christian Wolke ersichtlich, bis zur phantasmatischen Gleichsetzung von Buchstaben und Geld steigern können. Daniel Weidner bietet einen Überblick über Strategien des Suchens in biblischen Texten. Ausgehend von einer Stelle des Neuen Testaments (der Versuchung Jesu durch den Satan) präsentiert er verschiedene Arten, Verweiszusammenhänge innerhalb des heiligen Textes herzustellen, darunter Konkordanzen, Polyglotten (mehrsprachige Bibelausgaben), Kanontafeln (diese zeigten Parallelstellen in den Evangelien an), Harmonien (die die vier Evangelien zu einem Text verbanden) und Synopsen. Damit wurde einerseits die Bibel als universaler Speicher allen Wissens konstituiert; andererseits aber begannen spätestens bei Ausgaben, in denen mehrere Textversionen nebeneinander angeordnet waren, die intratextuellen Bezüge die kanonische Geschlossenheit des Textkorpus zu unterminieren. Zudem zeigt
16 Heesen, Anke te: Der Zeitungsausschnitt. Ein Papierobjekt der Moderne, Frankfurt a.M.: Fischer 2006. 17 Gugerli, David: Suchmaschinen. Die Welt als Datenbank, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009.
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Weidner in seinem Beitrag, wie die Instrumente des Suchens das durchsuchte Wissen modifizieren und neu formatieren. Die frühneuzeitlichen Fragebogenaktionen stehen im Zentrum von Alix Coopers Beitrags, dessen Titel – Fragen ohne Antworten – ihren Befund schon vorwegnimmt: Nur zu oft blieben die von den Angehörigen wissenschaftlicher Akademien – wie unter anderem von Henry Oldenburg, Sekretär der Royal Society – an ihre Korrespondenten per Brief ausgesandten Fragelisten unbeantwortet, was unter anderem darin begründet lag, dass die Adressaten der Fragen durch deren große Anzahl und thematische Breite überfordert waren. Cooper macht jedoch auch auf einen Umstand aufmerksam, der das Einsammeln von Informationen begleitet: Die an Fragebogenaktionen beteiligten Wissenschaftler wurden zuweilen der Spionage bezichtigt. Volker Bauer befasst sich mit den frühneuzeitlichen Staatskalendern und konstatiert, dass diese im Gegensatz zu den Stadtadressbüchern mehr Repräsentationsmedien als Informationsmedien waren: Die in ihnen verzeichneten Personen wurden systematisch nach Behörden angeordnet; eine »offene Personensuche« mittels alphabetischer Register war nicht von vornherein vorgesehen. Diese systematische Anordnung entsprach zum einen der Technik der Datenerhebung, zum anderen wäre eine rein alphabetische Anordnung ein Verstoß gegen die Standesordnung gewesen. Es gab jedoch auch eine nichtintendierte Aneignung der Staatskalender, die nicht zuletzt von aufklärerischen Statistikern wie August Ludwig Schlözer oder dessen Schüler Joachim von Schwarzkopf betrieben wurde: So wertete Schwarzkopf – im Übrigen auch Verfertiger mehrerer Studien zum Genre der Staatskalender – die auch am Buchmarkt erhältlichen Staatskalender quantitativ aus und nützte die dadurch gewonnenen Angaben über das Verhältnis zwischen der arbeitenden Bevölkerung und den Staatsdienern zur Herrschaftskritik. Mit einer spezifisch frühneuzeitlichen Institution der Informationsvermittlung – dem Zeitungskomptoir – setzt sich Andreas Golob in seinem Aufsatz zu den Anzeigenblättern des Michael Hermann Ambros (1750– 1809) auseinander. Golobs Ausführungen beruhen auf einer umfassenden statistischen Auswertung des Anzeigenteils der von Ambros in Graz begründeten Grazer Bauernzeitung. Ambros beließ es nicht nur dabei, in diesem Periodikum mittels Anzeigen Waren auf Papier zu vermitteln, sondern installierte darüber hinaus noch ein allgemeines Kommissionskomptoir
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zum Verkauf von Waren, dessen Leitung einer eigenen Person übertragen wurde. Als Konkurrenten des Zeitungskomptoirs traten ein sogenanntes »Fragamt«, das auch Kreditvermittlung anbietende öffentliche Schreibkabinett, Wirts- und Kaffeehäuser sowie Handelskomptoire auf. Auch Heiratsanzeigen wurden in den Ambros’schen Publikationen veröffentlicht, was zeitgenössisch damit begründet wurde, dass auf diese Weise geheimen Kupplerinnen das Handwerk gelegt werden könnte. Ausgehend von der nach einer literarischen Figur benannten Suchmaschine AskJeeves (mittlerweile in Ask umbenannt) geht Markus Krajewski in seinem Beitrag dem Status des Dieners innerhalb einer Ökonomie der Information nach. Seine These, wonach Diener als Vermittler zwischen verschiedenen Sphären aktiv an der Produktion von Herrschaftswissen beteiligt waren und dieses gelegentlich auch subvertierten bzw. zu ihrem eigenen Vorteil nutzen konnten, untermauert er mit einer Vielzahl von historischen und literarischen Quellen. So zeigt er beispielsweise, wie sich Diener Wissen, das sie bei ihren Dienstgebern aufgeschnappt hatten, für Börsenspekulationen zu Nutze machten. Zugleich untersucht er Analogien wie Unterschiede zwischen den dienstbaren Geistern von einst und den universalen Suchmaschinen von heute. Seinen Ausführungen über die Notizen des Orientalisten Theodor Nöldeke (1836–1930) stellt Henning Trüper allgemeine Überlegungen zum Suchen und Finden voran, wobei er das Geschäftsmodell von Google mit den Verheißungen des Lukasevangeliums (»suchet, so werdet ihr finden«) kurzschließt und weiters die von David Gugerli für die Bestimmung von Suchmaschinen vorgeschlagenen vier Kriterien (Objektivierung, Adressierbarkeit, Programmierbarkeit und Simulation) näher untersucht. Im Hauptteil seines Beitrags widmet sich Trüper zwei von Nöldeke verfassten Grammatiken, einer 1880 publizierten syrischen Grammatik und einer 1897 veröffentlichten Grammatik des Arabischen, zu der Nöldeke in den folgenden Jahrzehnten etliche handschriftliche Ergänzungen anfertigte. Trüper stellt die Frage, inwiefern die Metapher der Suchmaschine genützt werden kann, um Nöldekes wissenschaftliche Schreibverfahren zu beleuchten. 1945 veröffentlichte der US-amerikanische Ingenieur Vannevar Bush in der Zeitschrift Atlantic Monthly den epochemachenden Aufsatz As We May Think, in dem er seine Utopie des Memory Extender (Memex) vorstellte: Diese Vorrichtung sollte das Medium Mikrofilm, optische Elektronik und Rechentechnik verknüpfen und hatte zum Ziel, die Informationsrecherche
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effizienter zu gestalten. Martin Schreiber rekonstruiert die von Bush erdachte Apparatur und verortet sie in ihrem zeitgenössischen Kontext. Bushs Projekt war technologisch noch im analogen Zeitalter angesiedelt, seine Überlegungen waren jedoch seiner Zeit insofern voraus, als sie nicht nur ein originelles, assoziationsbasiertes System der Wissensordnung entwarfen, das am Modell des Gedächtnisses orientiert war, sondern weil sie auch eine Fülle innovativer Ansätze zum Interface Design beinhalteten. Obwohl diese Utopie unmittelbar kaum Folgen hatte, war sie über Leser wie Douglas Engelbart mittelfristig doch eine entscheidende Inspiration für den Beginn des Personal Computing. Bernhard Rieder verweist ebenfalls auf Vannevar Bushs Memex-Utopie sowie in weiterer Folge auf Paul Otlets Mundaneum, wenn es darum geht, eine Archäologie des berühmt-berüchtigten PageRank-Algorithmus von Google zu liefern. Rieder zeigt, wie sich die Quantifizierungswerkzeuge der Bibliometrie, vor allem der maßgeblich von Eugene Garfield entwickelte Zitationsindex und dessen graphische Darstellungsmöglichkeiten, im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts verselbständigten und von wissenssoziologischen Hilfsmitteln zu universitätspolitischen Evaluierungsmethoden transformierten. Angesichts des Umstands, dass die auf mathematischen Verfahren basierenden Rankingmethoden des Öfteren unreflektiert eingesetzt werden, stellt Rieder am Schluss seines Beitrags die Forderung nach einer »Politikwissenschaft des Algorithmus«. Die Beiträge des vorliegenden Bandes gehen auf ein Symposium zurück, das vom 9. bis zum 11. Oktober 2008 in der Wienbibliothek im Wiener Rathaus stattfand und vom Institut für Wissenschaft und Kunst (IWK) in Kooperation mit der Wienbibliothek organisiert wurde. Für tatkräftige organisatorische Unterstützung sowie inhaltliche Impulse danken wir der Direktorin der Wienbibliothek Sylvia Mattl-Wurm sowie ihren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern, vor allem Anita Eichinger, Alfred Pfoser und Suzie Wong. Gefördert wurde das Symposium von der Fritz Thyssen Stiftung.
Ordnung ist das halbe Leben Zur Ökonomie von Benamung und Suche S TEFAN R IEGER »Auch jetzt noch halte ich dafür, daß die Thierclassen zunächst nichts anderes als Darstellung der Sinn=Organe sind, und daß sie darnach geordnet werden müßten. Streng genommen gibt es also nur 5 Thierclassen.«1
I. In ihrer pragmatischen Ausrichtung auf chaotische Kinderzimmer, verlegte Autoschlüssel oder unübersichtlich angefüllte Handtaschen nimmt die Redensart die kleinen Nöte unseres Alltags in den Blick. Ihr Ordnungsgedanke gilt als Ausdruck von Kleinlichkeit und unterschlägt das gehörige Maß an Phantasmatik, das zu ihr gehört. Würde es etwa eine vollständige Ordnung geben, wäre jegliche Suche überflüssig, die Dinge wären allesamt an ihrem Ort, also dort, wo sie von sich aus eben hingehören. In der Utopie einer solchen Konzeption erfolgt der Zugriff auf sie in größtmöglicher Ökonomie und wäre frei von Irr-, Ab- und Umwegen. Aber die Welt war und ist von solchen Zuständen weit entfernt. Stattdessen sind zahllose Strategien
1
Oken, Lorenz: Lehrbuch der Naturphilosophie, 3., neu bearbeitete Auflage, Zürich: Verlag von Friedrich Schultheß 1843, S. III.
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ersonnen worden, die vorgeben, den Zugriff auf Wissen zu optimieren.2 Vor allem das Suchen im Netz, das mit dem Verb googeln inzwischen nachgerade deckungsgleich ist, hat dabei mitsamt der digitalen Wissensorganisation etwas zutage fördert, was quer steht zu klassischen Ordnungsvorstellungen.3 Wie es in einer lapidaren Formulierung der Google-Erfinder heißt, war es ihr Vorsatz, »Ordnung ins Netz« zu bringen. Die Grundlage dafür bildeten allerdings nicht bestehende Taxonomien, die Ein- und Unterteilungen erlaubten, sondern Strukturen der Verlinkung, die mittels des PageRank-Verfahrens gewichtet werden. Soziometrie tritt an die Stelle von redaktioneller Autorität.4 Einer Selbstdarstellung Googles zufolge nimmt das Verfahren auf diese Weise »eine objektive Bewertung der Wichtigkeit von Websites vor. Dabei wird eine Gleichung mit über 500 Millionen Variablen und zwei Milliarden Ausdrücken berechnet. Anstatt die direkten Links zu zählen, interpretiert PageRank einen Link von Seite A auf Seite B als Votum für Seite B durch Seite A. Anschließend bewertet PageRank die Wichtigkeit einer Seite anhand der erzielten Voten.«5
Neben Objektivierungsversuchen über solche soziometrische Verfahren stehen lexikographisch-redaktionelle Verlinkungsstrukturen, wie sie etwa in der Internetenzyklopädie Wikipedia umgesetzt sind. Zwar entscheiden hier menschliche Akteure (wenngleich auch immer weniger Wissenschaftler) 6 über die Verlinkung, dennoch können die Verknüpfungen, geht man
2
Zu den nicht zuletzt gesellschaftspolitischen Effekten dieser Optimierung vgl. Gugerli, David: Suchmaschinen. Die Welt als Datenbank, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009.
3
Vgl. dazu Becker, Konrad/Stalder, Felix (Hg.): Deep Search. Politik des Su-
4
Zur Geschichte der soziometrischen Revolution vgl. Mayer, Katja: »Zur Sozio-
chens jenseits von Google, Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag 2009. metrik der Suchmaschine. Ein historischer Überblick der Methodik«, in: K. Becker/F. Stalder (Hg.), Deep Search, S. 64-83. 5
Unternehmensbezogene Information von Google, zit. nach ebd., S. 65.
6
Zu den Details der mangelnden Beteiligung von Wissenschaftlern an der Internetenzyklopädie vgl. Lutzi, Tobias: »Et tu, Minerva? Wikipedia und die Wissenschaft«, in: Forschung & Lehre 12 (2011), S. 946-947, http://www.forsch ung-und-lehre.de/wordpress/Archiv/2011/ful_12-2011.pdf vom 31.07.2012.
O RDNUNG IST
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den Hyperlinks nach, denkbar absonderlich ausfallen. So kann man ausgehend von einer Recherche über Napoleon Bonaparte bei zeitgenössischen Neoprenanzügen und deren Verwendungsmöglichkeit im Rahmen maritimer Freizeitunterhaltung landen. Die Verlinkungsstruktur bei Wikipedia bietet dazu folgenden Weg: Napoleon Bonaparte ĺ Arthur Wellesley (1st Duke of Wellington) ĺ Gummistiefel ĺ Chloropren-Kautschuk ĺ Tauchanzug. »Napoleon Bonaparte wurde 1815 vom Herzog von Wellington bei Waterloo besiegt. Der Herzog von Wellington war der Erfinder des Schnittmusters für eine in Großbritannien verbreitete Form von Gummistiefeln. Gummistiefel werden heute häufig aus Chloropren-Kautschuk (Neopren) hergestellt, welcher wiederum auch das gängigste Material für die Produktion von Tauchanzügen ist. So absurd die Assoziation des Kaisers der Franzosen mit Tauchanzügen erscheinen mag, innerhalb der Topologie Wikipedias lässt sie sich als kontingente Geschichte erzählen. Wikipedia ist ein prägnantes Beispiel für einen sich ständig dynamisch verändernden Hypertext, der doch niemals seine Sinnhaftigkeit einbüßt.«7
Was so im Zuge von Hypertextualität und der spezifischen Connectedness im Netz entsteht, sind also Narrative sui generis mit einer ihnen eigenen Sinnhaftigkeit und mit einer ihnen eigenen Flüchtigkeit. Was dort ausgehend vom Verlinkungsangebot als eine Mausklickfolge unter vielen anderen möglichen realisiert werden kann (und nicht muss), kommt in seiner Verweis- oder Assoziationsstruktur der Ideenflucht nahe, wie sie von der Psychopathologie als Symptom für bestimmte Krankheitsbilder beschrieben wird.8 In seinem wirkmächtigen Lehrbuch der Psychiatrie schildert Eugen Bleuler Assoziationssprünge, die den Verlinkungen in der Internetenzyklopädie kaum nachstehen. Seine Beispiele sind die nachstenographierte Asso-
7
Niewerth, Dennis: Das virtuelle Museum. Unveröffentlichte Masterarbeit, Bochum 2011, S. 34.
8
Zu dieser Nähe von Mnemotechnik und Psychopathologie vgl. Rieger, Stefan: »Der Wahnsinn des Merkens. Für eine Archäologie der Mnemotechnik«, in: Jörg Jochen Berns/Wolfgang Neuber (Hg.), Seelenmaschinen. Gattungstraditionen, Funktionen und Leistungsgrenzen der Mnemotechniken vom späten Mittelalter bis zum Beginn der Moderne, Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2000, S. 379403.
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ziationskette eines Patienten sowie ein Ausschnitt aus dem Brief eines Schizophrenen: »In den folgenden zwei Äußerungen fehlt eine klare Zielvorstellung, doch blieben die Kranken fast ganz innerhalb des zufälligen Themas der alten Geschichte bzw. des Orients. Die Einzelassoziationen erscheinen zufällig oder durch Klangähnlichkeiten oder andere dem Normalen fremde Beziehungen angeregt. Auch bei der Ideenflucht werden Nebenwege eingeschlagen, aber es sind Einfälle, die jedem Gesunden auch kommen könnten, ohne dass er sie benutzen würde; im schizophrenen Gedankengang sind manche Schritte dem Gesunden unverständlich oder sie erscheinen so bizarr, daß sie ihm nie in den Sinn gekommen wären. Epaminondas war einer, der namentlich zu Wasser und zu Lande mächtig war. Er hat große Flottenmanöver und offene Seeschlachten gegen Pelopidas geführt, war aber im zweiten punischen Krieg aufs Haupt geschlagen worden durch das Scheitern einer Panzerfregatte. Er ist mit Schiffen von Athen nach dem Hain Mamre gewandert, hat caledonische Trauben und Granatäpfel hingebracht und Beduinen überwunden. Die Akropolis hat er mit Kanonenbooten belagert und ließ die persische Besatzung als lebende Fackeln verbrennen. [...] (Nachstenographiert) Die Blühtezeit für Hortikulteur Zur Zeit des Neumondes steht Venuss am Augusthimmel Aegyptens und erleuchtet mit seinen Lichtstrahlen, die Kauffahrteihäfen, Suez, Kairo und Alexandria. In dieser historisch berühmten Kalifenstadt, findet sich das Museum assyrischer Denkmäler von Makedonien. Dort gedeihen neben Pisang Maiskolunen, Hafer, Klee und Gerste auch Bananen, Feigen, Citronen, Orangen und Oliven. Das Olivenöl ist eine arabische Liqueur Sauce, mit welcher, die Afghanen, Mauren und Moslemiten die Straussenzucht betreiben. [...] (›Brief‹ eines Schizophrenen.)«9
Für die betroffenen Subjekte sind derlei syntagmatische Reihen alternativlos. Keine Wahlfreiheit liegt ihnen zugrunde, sondern in ihnen manifestiert sich der abgeschlossene Kosmos einer psychischen Erkrankung.10 Mit den
9
Bleuler, Eugen: Lehrbuch der Psychiatrie, 7. Auflage, Berlin: Springer Verlag 1943, S. 44.
10 Funktionsweisen und ästhetische Qualitäten solcher Produkte gerieten auch in den Blick der Literaturwissenschaft, vgl. etwa Schäffner, Wolfgang: Die Ord-
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Syntagmen machen sich Ordnungskonzepte geltend, die als solche nur für die Betroffenen Gültigkeit haben und die in ihrer Geltung damit nicht weniger flüchtig sind als die wahllosen Rezeptionsstrukturen, die wiederum den Kontingenzen einer Hyperlink-Struktur folgen. Wenn auf der Oberfläche einer Syntax ähnliche Effekte auftreten können, wird die Frage nach der jeweiligen Ordnung selbst zunehmend virulent. Was ein wissensgeschichtlicher Rückblick auf das Suchen zutage fördern kann, sind Überlegungen über deren Ort und deren Systematik. Entwürfe mit einem zum Teil hohen utopischen Potential handeln davon, Ordnung so zu operationalisieren, dass ein Suchen nach den Dingen überflüssig wird, weil die Ordnung dem Anspruch der Evidenz unter- und sich daher schlicht von selbst versteht. Die Wörter und die Dinge sollen sich wechselseitig selbst aufklären können.11 In a priori entworfenen Plansprachen etwa ist es das vorrangige Ziel, die Dinge nach ihrer Inventarisierung in einen systematischen und in sich abgeschlossenen Zusammenhang zu bringen, den man der jeweiligen Benamung auch entnehmen kann.12 Das Selbstverständnis von Ordnung erweist sich bei den vielfältigen Bemühungen aber als äußerst fragil. Wer verantwortet sie, nach welchen Kriterien soll sie erfolgen und wie steht es um ihre Nachhaltigkeit? Ob etwa die lange Zeit gültige Lehre von den drei Naturreichen hinreichende Kriterien an die Hand gibt, Tiere, Pflanzen und Steine eindeutig voneinander zu trennen, sei dahingestellt. Pflanzenschafe, also das sogenannte Borametz, aber auch Polypen, bei deren Entdeckung im 18. Jahrhunderts man nicht wusste, ob man sie den Pflanzen oder den Tieren zuschlagen sollte, führen den prekären Status taxonomischer Bemühungen vor Augen (vgl. Abbildungen 1-2).
nung des Wahns. Zur Poetologie psychiatrischen Wissens bei Alfred Döblin (= Materialität der Zeichen, Band 13), München: Fink 1995. 11 Dazu sei hier – in unzulässiger Verkürzung – verwiesen auf: Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974. 12 Vgl. Eco, Umberto: Die Suche nach der vollkommenen Sprache, 2. Auflage, München: Beck 1994. Zum Anspruch einer vollständigen Inventarisierung vgl. Schmid, Johann Michael: Vollständiges wissenschaftliches Gedankenverzeichniß zum Behufe einer allgemeinen Schriftsprache, Dillingen: Brönner 1807.
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Abbildung 1: Borametz nach Johannes Zahn, 1696
Abbildung 2: Polyp nach Abraham Trembley, 1744
Selbst in das Naturreich der Mineralien kam Bewegung, als man flüssige und vermeintlich lebende Kristalle entdeckte und sich daran eine Auseinandersetzung entspann, in der es um den Stellenwert eigentlicher oder uneigentlicher Rede ging, genauer noch, in der die Markierung durch Gänsefüßchen über das »Leben« der Kristalle entschied (vgl. Abbildung 3).13 Betroffen ist nicht zuletzt der Status des Menschen, den man lange über die Befähigung zur Sprache von den Tieren und durch das Kriterium eines umweltoffenen Verhaltens von den mechanischen Apparaten abzusetzen suchte. Mit der Entdeckung, dass auch bestimmte Tiere über ein arbiträres Zeichensystem verfügen, ist das erste Unterscheidungsmerkmal ebenso hinfällig wie durch das zunehmend Intelligentwerden der Dinge und Apparatu-
13 Vgl. Rieger, Stefan: »Der Schein des Lebens. Flüssige Kristalle und die Unordnung im Organischen«, in: Thomas Bäumler/Benjamin Bühler/ders. (Hg.), Nicht Fisch – Nicht Fleisch. Ordnungsmodelle und ihre Störungen, Zürich/Berlin: diaphanes 2011, S. 165-183.
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Abbildung 3: Flüssige Kristalle nach Ernst Haeckel, 1925
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ren das zweite.14 Statt über die Ordnung der drei Naturreiche diskutiert das 21. Jahrhundert nun über gemischte Gesellschaften, nicht von ihresgleichen, sondern von Wesenheiten unterschiedlicher Dignität, wie in einer Studie unter dem Titel Animal and robot mixed societies: building cooperation between microrobots and cockroaches anhand von Kakerlaken und streichholzschachtelgroßen Minirobotern (sogenannten Insbots) belegt wird.15 Wo also sucht man Pflanzenschafe, Polypen oder Flüssigkristalle, wo Cyborgs und biobots, wo Kakerlaken, insbots und roachbots? Welche Register sind zuständig, um sie sowohl in der Ordnung des Seins als auch in der Ordnung der Zeichen zu verorten? Was mit der Ordnung zur Verhandlung steht, ist eben nicht nur die Frage, wie die Dinge zueinander stehen und welcher Systematik sie folgen, sondern welche Rolle dabei den Wörtern zukommt, mit denen die Dinge bezeichnet werden. Damit verknüpft sind Überlegungen über die Stabilität der Dinge, die möglicherweise überzeitliche Gültigkeit ihrer Bestimmungskriterien sowie die ihrer Benennungen. Dabei zeichnen sich zwei Extreme im Umgang mit ihnen ab, eine restaurativ erhaltende Herangehensweise und eine programmatisch erneuernde. Erstere beruft sich gerne auf eine wie auch immer ausgewiesene Natur, letztere auf den symbolischen Akt arbiträrer Setzung. Für beide gibt und gäbe es eine Vielzahl von Exponenten, die hier einigermaßen willkürlich auf zwei Beispiele reduziert werden. Beide Protagonisten entstammen jenem 19. Jahrhundert, das nicht nur im Zeichen der Restauration, sondern auch in dem sprachlicher Neuerung steht. Und beide sind auf je ihre Weise in den Fokus des Schriftstellers Arno Schmidt gelangt.
14 Zu den technischen Rahmenbedingungen dieses Smartwerdens der Dinge vgl. Heesen, Jessica: »Ubiquitous Computing als subjektzentrierte Technikversion«, in: Alfons Bora et al. (Hg.), Technik in einer fragilen Welt. Die Rolle der Technikfolgenabschätzung, Berlin: Edition Sigma 2005, S. 183-192. 15 Caprari, Gilles/Colot, Alexandre/Siegwart, Roland/Halloy, José/Deneubourg, Jean-Louis: »Animal and robot mixed societies: building cooperation between microrobots and cockroaches«, in: IEEE Robotics & Automation Magazine, 12 (2005), H. 2, S. 58-65.
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II. Wenn das Verhältnis der Wörter und Sachen zur Verhandlung ansteht, sind für Arno Schmidt die Fronten schnell geklärt. Zwei in seiner Wertschätzung höchst ambivalente Vertreter dürfen nicht zuletzt im Umgang mit Pflanzen unter Beweis stellen, wie sie es mit der Ordnung der Dinge und ihren Bezeichnungen jeweils halten. Im biedermeierlichsten Ambiente und entsprechend karikierend geht es bei Adalbert Stifter zur Sache. Damit in der sorgsam umhegten Welt seines Romans Der Nachsommer aus dem Jahr 1857 tatsächlich alles seine Ordnung hat und diese aber auch durch gar nichts gefährdet zu sein braucht, wird ein Idyll gezeichnet, das Schmidt mit aller Süffisanz auskostet: Die Rosen im Garten des Freiherrn von Risach, des nachmaligen Schwiegervaters von Heinrich Drendorf, des Helden der Erzählung, sind mit Namenszetteln versehen und diese wiederum in sorgsam beschriebene Glasröhrchen gesteckt, auf dass sie derart gehütet nicht nur gegenüber möglichen Unbilden der Witterung, sondern auch gegen etwaige Störungen in der Taxonomie gefeit seien. An abgestaubten Rosenspalieren und mit gläsernen Schutzbehältern versehen, haben die natürlichen Dinge der Welt eine Verankerung im Sein, die Schmidt auf ein Psychogramm Stifters schließen lässt. Ableitbar werden so dessen Ordnungswahn, sein Beharrungsbestreben, seine Veränderungsunfähigkeit und damit in psychologisierender Verallgemeinerung schlussendlich auch sein politischer Konservatismus und seine bürgerliche Katastrophenfeindlichkeit. In einem Radio-Essay mit dem Titel Der sanfte Unmensch. Einhundert Jahre Nachsommer lässt Schmidt verschiedene Sprecher gegen das vermeintliche Idyll um Stifters Helden Heinrich vom Leder ziehen. »B. Da erblickt Heinrich als erstes bewundernd: wie zwischen dem Leben und dem Asperhof die riesenhohe, sorgfältig gepflegte, ja abgestaubte, Rosenwand steht. Und, damit ja nichts bei Dornröschens zu wünschen übrig bliebe: A. (in gezierter Geschäftigkeit): ›An jedem Stämmchen hing der Name der Blume, auf Papier geschrieben, und in gläserner Hülle, hernieder.‹ – Worauf dann diese sinnreich eingerichtete gläserne Hülle des Breiten beschrieben wird.«16
16 Schmidt, Arno: »Der sanfte Unmensch. Einhundert Jahre Nachsommer«, in: ders., Nachrichten von Büchern und Menschen, Band 2. Zur Literatur des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M.: Fischer 1981, S. 114-136, hier S. 120.
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Und es kommt noch dicker. Eine Gleichschaltung im Zeichen der Idylle und im Zuge einer geordneten Familienzusammenführung resultiert derart eben auch in einer Mehrfach- und Doppelgängerei der Charaktere, dass der alte Risach generationenübergreifend in Heinrich nicht weniger als sein perfektes Ebenbild zu erkennen meint: »das gleiche aquarienbunte Gemütchen ; der gleiche Firnis von Bonhommie ; der gleiche Mischmasch von Pedanterie und Einseitigkeit.«17 Aber die durch die Bank humorlose Belegschaft des Nachsommers teilt nicht nur das Schicksal der Arbeitslosigkeit, sondern darüber hinaus auch noch den Hang zum gleichen Hobby: Sie alle sammeln – je nach Budget im kleinen Stil Marmorsteinchen zu Briefbeschwerern oder im großen, allumfassenden Stil eben ganze Tischplatten. Und so kann Heinrich nach der Schilderung um die sorgfältige Kultivierung der Rosennamen erfreut zur Kenntnis nehmen, dass der alte Risach dem eigenen wie auch dem väterlichen Hobby frönt: »B. Und – nach solcher Erfindung – kaum noch überraschend – : Risach sammelt auch Tischplatten! A. Allerdings in weit grandioserem Maßstabe, als Heinrichs Vater : hier ist alles erfasst : holzgeschnitzteste Plastiken ; Marmornes ; alte Schränke ; sogar eine echte griechische Statue steht im Haus. Und ganz hinten im Garten, dezent durch Bäume getarnt, hat Risach auch noch eigene Werkstätten zur Restaurierung und Neuanfertigung. B. (schneidend) : Und dazu immer die wichtigen Mienen der Kerls, die ein Ornamentchen hin= und herwenden, als hielten sie den Erdball in Händen ! : wer nicht mitmacht, ist doof ; und wird entsprechend erzogen, oder nachsichtig lächelnd übergangen : der Innenarchitekt als Weltenrichter.«18
Ganz anders, weil dezidiert anti-restaurativ und liberal, ist es um einen Grenzgänger der Taxonomie bestellt, um den Mediziner, Naturforscher und Zeitungsherausgeber Lorenz Oken (1779–1851). In seiner Naturgeschichte unternimmt er einen der vielleicht eigenwilligsten Angriffe gegen eingespielte Ordnungssysteme und vor allem gegen deren Namensgebungen (vgl. Abbildung 4). Der Begeisterung eines Schriftstellers für die Bemühungen um eine entsprechende Terminologie konnte Oken sich daher mehr
17 Ebd., S. 121. 18 Ebd., S. 120.
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Abbildung 4: Einteilung des Pflanzenreichs nach Lorenz Oken, 1843
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als sicher sein. Was Schmidt an ihm betont, ist der Versuch, die eigene Ordnung der Dinge in der Welt der Tiere, der Pflanzen und der Mineralien terminologisch abzubilden, also eine Sprache zu schaffen, die den Dingen nicht nur Namen gibt, sondern mit diesen ein System verheißt, das jeder Suche Vorschub leistet. Damit teilt er ein Anliegen, das künstlichen, a priori erzeugten Sprachen eigen ist – so auch der analytischen Sprache des englischen Geistlichen John Wilkins (1614–1672). Derlei Inventarisierungen haben Teil an Phantasmen des Anfangs, an Strategien der künstlichen Setzung von Anfängen, an einem Anfang vor dem Anfang. Das Begehren zielt auf eine Ordnung, die rein ist, die systematisch verfährt und die mit geschichtlichen Entwicklungen, deren Ungenauigkeiten und nicht zuletzt mit den verwechslungsanfälligen Mehrdeutigkeiten gewachsener Sprachen nichts zu schaffen hat.19 Am Reißbrett werden solche neuen Sprachen entworfen, und das kann aus unterschiedlichen Gründen: Zum einen kann als Grund die Bestrebung um eine schiere Sprachökonomie gelten – wie bei einem Vertreter der deutschen Terminologie namens Christian Hinrich Wolke, auf den Schmidt im Rahmen seiner Ausführungen zu Lorenz Oken neben Philipp Andreas Nemnich und Illigen namentlich verweist. Zum anderen kann es um den Versuch gehen, eine terminologische Stringenz herzustellen und damit schlussendlich eine verbesserte Wissensorganisation umzusetzen wie etwa zu Beginn des 20. Jahrhunderts im Umfeld des Wiener Kreises und namentlich bei Otto Neurath, der mit seiner bildstatistischen Methode und dem Bildesperanto auf visuelle Evidenz setzte. Was bei welchem Anliegen im Einzelfall jeweils als Motivation dient, ist gegenüber dem Anspruch einer Neuordnung zwischen den Dingen und den Wörtern zweitrangig. Oken untergräbt mit seinem Ansatz die Autorität des Schweden Carl von Linné, der mit seiner Taxonomie und ihrer binären Nomenklatur innerhalb entsprechender Bemühungen für einen Standard der Standardisierung der Natur sorgte.20 Schmidt, im Gegensatz
19 Das unterscheidet die a priori angelegten Plansprachen des 16. und 17. Jahrhunderts von a posteriori angelegten Welthilfssprachen (Volapük, Esperanto u.a.) des 19. Jahrhunderts. 20 Vgl. Müller-Wille, Staffan: Botanik und weltweiter Handel. Zur Begründung eines natürlichen Systems der Pflanzen durch Carl von Linné (1707–78) (= Studien zur Theorie der Biologie, Band 3), Berlin: Verlag für Wissenschaft und Bildung 1999.
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zu seinem Stifter-Tadel bei Lorenz Oken des Lobes übervoll, bemüht dessen Benennungsversuche und übersetzt in der Erzählung Schwänze den geschätzten Oken mitsamt der von ihm verwendeten Nomenklatur kurzerhand in Literatur. Dazu wird ein fiktiver Schriftsteller namens J. B. Lindemann in Position gebracht, der u.a. als Verfasser des folgenden Gedichtes ausgewiesen wird.21 »Ländlicher Spaziergang 1. Klöder drahlen Flappe zullen Fäsen schleipen schlinken söllen
am Teichufer
schwiedeln klinnen gullen flangen Sieve plumpen Rölsen schwieken (Nixen mummeln ?)
Unsinn! Nixen gibt es nicht.
Zasel tufen Kausche schlutten uchten flahnen Schwerdel glitzen Mocke dusen Wäppel elsen pinten lieschen
Wasser-Ober-Fläche,
Schilfe binsen Teische tageln
von Fischen gebuckelt?
(oken?) Narfen merren.
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also Froschgequarre […]«
In der Fiktion lässt Schmidt den ländlichen Spaziergänger Lindemann mit einem amerikanischen Kritiker in einen Schlagabtausch treten: Anlässlich von Lindemanns Gedicht Ländlicher Spaziergang, das schlicht aus einer Aneinanderreihung Oken’scher Neologismen besteht, darf von Seiten des ignoranten Kritikers Stadion neben Unsinn, Obszönität und Expressionismus auch noch der geistige Diebstahl dem Schreiber vorgehalten werden. Unter der Titelei Chr. M. Stadion: J. B. Lindemann ein Plagiator! wettert
21 Vgl. Czapla, Ralf Georg: Mythos, Sexus und Traumspiel. Arno Schmidts Prosazyklus »Kühe in Halbtrauer« (= Literatur- und Medienwissenschaft, Band 15), Paderborn: Igel Verlag 1993. 22 Schmidt, Arno: »Schwänze«, in: ders., Schwänze. Fünf Erzählungen, Frankfurt a.M.: Fischer 1976, S. 67-92, hier S. 85.
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der Amerikaner, dessen Name ein Anagramm Arno Schmidts ist, mit aller Vehemenz gegen den Scharlatan. Dessen Parforce-Ritt durch Okens Naturgeschichte in der Gedichtform jenes ländlichen Spaziergangs, von dem er sich eine eigens beglaubigte Abschrift besorgt und diese auf der rechten Seite mit eigenen Marginalien versehen hat, endet im Namen »des gesamten gutbürgerlichen Lesepublikums« mit heller Empörung. »Risum teneatis, amici ! Und nicht nur dieses; sondern es sei ausgesprochen, das Ungeheure : jedes einzelne der betreffenden ›Worte‹ findet sich in OKEN’s ›Naturgeschichte‹, wo es als (sinnlos verdeutschter) Gattungsname von Pflanzenoderwasweißich figurieren muß ! Oken sei’s verziehen; im Donnerton aber ruft die Volksstimme : Quousque tandem, Lindemann ? !«23
Dem folgt dann wiederum eine Rechtfertigung des massiv Attackierten in eigener wie in Okens Sache unter der Überschrift: J. B. Lindemann: Notwendige Erklärung. Dabei wird das nackte Elend der Uninformiertheit Stadions ebenso wie die Haltlosigkeit seiner Diffamierungen ersichtlich. Derart mit den Nützlichkeitserwägungen konfrontiert, geht Lindemann, der ländliche Spaziergänger, in die Offensive und legt die Karten seiner und Okens Kunst auf den Tisch. Dazu streift er auch kurz dessen Biographie und erwähnt Okens liberale Zeitschrift Isis, erschienen von 1817 bis 1848, um deren Verbot und die unrühmliche Rolle Goethes in dieser Angelegenheit eigens herauszustreichen. Durch Goethes Intrigieren bei den Weimarer Offiziellen vor die Wahl gestellt, Zeitschrift oder eine Professur in Jena aufzugeben, entschied sich Oken gegen die akademische Sicherheit und für seine liberale Zeitschrift, eine Wahl, die sich natürlich der Sympathie Schmidts sicher sein konnte. Okens Bestreben stellt einen Grenzgang taxonomischer Bestimmungen dar, der sich in der aktuellen Wahrnehmung höchst absonderlich ausnimmt – von der historischen gar nicht erst zu reden, wie sie aus folgender Einschätzung des mit ihm amtlich befassten Großherzogs Carl August von Weimar spricht: »Oken ist wieder einmal nicht richtig im Kopfe. die erfindung [sic!] der vielen neuen Sachen scheint seinem Geiste und teils Kopfe geschadet zu haben.«24
23 Ebd., S. 87. 24 Zit. nach: Zittel, Manfred: »Lorenz Oken und Goethe – die Geschichte einer heillosen Beziehung«, in: Olaf Breidbach/Hans-Joachim Fliedner/Klaus Ries
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III. Wie aber ordnet Oken seine Natur, und wie gelangt er zu seinen und damit die Dinge zu ihren Namen? Entworfen wird in seinem System ein Parallelismus zwischen Pflanze und Tier, was ihn dazu drängt, analoge Organe in beiden Reichen aufzuspüren und anhand dieser eine entsprechende Ordnung vorzunehmen. Ziel seines Lehrbuchs der Naturphilosophie sei es gewesen, »diese verschiedenen Lehren in Zusammenhang zu bringen und namentlich zu zeigen, daß die Mineral=, Pflanzen= und Thierclassen nicht willkührlich oder nach einzelnen Kennzeichen zu ordnen, sondern auf die Hauptorgane oder anatomischen Systeme zu gründen sind, woraus sich nothwendig eine vestgesetzte Zahl von Classen ergeben muß; daß ferner jede dieser Classen unten anfängt, und mithin alle einander parallel gehen.«25
Das Bemühte solcher Systematisierungsversuche liegt darin, was nicht passt, passend zu machen oder eben passend machen zu müssen. Ein Beitrag von Peter Haffner zeichnet die idée fixe dieser Passung nach. Ähnlich seiner Einteilung des Tierreichs nach dem Vorbild der fünf Sinnesorgane nimmt Oken für das Pflanzenreich dreizehn Organe an: Zellen, Adern, Drosseln, Wurzel, Stengel, Laub, Samen, Gröps, Blume, Nuss, Pflaume, Beere und Apfel. Alles zusammen würde die vollkommene Pflanze ergeben. In ihrer Vereinzelung erlauben sie eine Einteilung, der zufolge »das gesammte Pflanzenreich nichts anderes ist als eine einzige Pflanze in ihre Theile zerlegt«. »Zwei Länder bilden nach Oken das Pflanzenreich, Stocker und Bluster, die ihrerseits in zwei Gaue gegliedert sind, Marker und Stammer beziehungsweise Blüher und Fruchter; Klassen, Stufen, Ordnungen, Zünfte, Sippschaften und Sippen verfeinern die Unterteilung. Da an den herkömmlichen und noch heute gültigen Pflanzennamen, die der große Taxonome Carl von Linné eingeführt hatte, die Systematik der Ordnung nicht ablesbar ist, ersann Oken eine kombinatorische Nomenklatur, als de-
(Hg.), Lorenz Oken (1779-1851), ein politischer Naturphilosoph, Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger 2001, S. 149-182, hier S. 171. 25 L. Oken: Lehrbuch der Naturphilosophie, S. V.
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ren Ordnungszahl er die Dreizehn nahm. Aus 13 Klassen ergaben sich 13×13 Zünfte und 13×13×13 Sippen, und da die Zahl der Pflanzenorgane ebenfalls dreizehn war, ließen sich aus deren Namen sämtliche Namen kombinieren. Waren zweigliedrige Komposita für die 169 Zünfte durchaus angebracht, erschienen dreigliedrige für die 2197 Sippen aber zu schwerfällig – Wörter wie Zellendrossler oder Laubgröpser mochten angehen, Gröpslaubzeller oder Drosselzellengröpser indes widerstrebten Okens Sprachgefühl. Also prägte er für jede der 169 Zünfte ein nomen simplex, das er dem Kompositum zur Seite stellte. So wurden beispielsweise im Land der Stocker die Ader-Ader zu Schlinken und die Ader-Lauber zu Dusen, die Ader-Zeller zu Matzen und die Gröps-Aderer zu Stuppen, die Drossel-Stengler zu Schwaden und die Drossel-Lauber zu Schwideln; im Land der Bluster, nicht minder voller Wunder, treffen wir auf Gewächse wie Schraden, Schlutten und Schrallen, Grampen, Gulpen und Glahnen oder Ramseln, Rodeln und Pimpeln.«26
Man könnte Oken, von dem es heißt, dass er vor aller Regellosigkeit einen Abscheu hatte, sehr einfach auf die sich verselbstständigenden Momente von Ordnungswahn und Zwangssystematik reduzieren.27 Doch hinter psychologisierenden Ansätzen für sein Regime »ganz nach Kasernenart«28 steckt noch ein anderer Aspekt, nämlich das Bemühen, die Ordnung durch die oder in der Sprache abzubilden. Das wiederum verbindet ihn etwa mit den Versuchen anderer Eindeutschungen, ein Aspekt, auf den auch Arno Schmidt unter Nennung einiger Protagonisten auch eigens hinweist. Was einer solchen Terminologie zugrunde liegt, ist das Bemühen, Ordnung so zu organisieren, dass die Wörter und die Dinge füreinander und für ihre Ordnung transparent sind – wenn man denn gewillt ist, sich die zugrunde gelegte Systematik zu eigen zu machen, partizipiert man an ihrer Evidenz, sind doch die meisten Namen für Schmidt jedenfalls »in ihrer Bildhaftigkeit
26 Haffner, Peter: »Die fixe Idee – Lorenz Oken und die Magie der Zahl«, in: NZZ Folio, 1 (1997), S. 20-21, http://www.nzzfolio.ch/www/d80bd71b-b264-4db4afd0-277884b93470/showarticle/0996c074-7318-47c7-97d5-f1cba9483424.aspx vom 31.07.2012. 27 Zu Lorenz Okens naturphilosophischer Kosmologie vgl. Erdbeer, Robert Matthias: Die Signatur des Kosmos. Epistemische Poetik und die Genealogie der Moderne (= Studien zur deutschen Literatur, Band 190), Berlin: de Gruyter 2010. 28 P. Haffner: »Die fixe Idee«, S. 20.
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schlechthin entzückend«.29 Oken selbst beschreibt den ganzen Vorgang nach Maßgabe eines Sprachsystems, bestehend aus Wörterbuch und Grammatik, und lässt dabei die Wahl der Kriterien fast dahinter zurücktreten. Bevor er sich in die schier aberwitzige Logik seines Systems begibt und sich in ihr verliert (und Bände füllend eben nicht nur über die Ordnung der Pilze, sondern eben auch seitenlang über deren Zubereitung und Bekömmlichkeit doziert), umreißt er sein Projekt einer Pflanzensystematik und positioniert es gegen andere Vorschläge. Ziel der Klassifikation sei, so Oken, eine systematisierende Kenntnis der Pflanzen. Diese werde auf dieselbe Art erreicht, wie man eine Sprache erlernt, nach Maßgabe einzelner Wörter und nach Maßgabe eines geistigen Zusammenhangs. »Das Verzeichnis der Wörter findet man in einem Wörterbuch, ihren Zusammenhang in der Grammatik. Ebenso verhält es sich mit der Pflanzenkunde. Zuerst muss man die einzelnen Pflanzen namentlich kennen lernen, und dieses geschieht durch das sogenannte künstliche System, welches nach irgend einem willkührlich gewählten Organ geordnet ist und daher dem Wörterbuch entspricht, dessen Alphabet ebenfalls willkührlich und daher nicht selten in den verschiedenen Sprachen verschieden ist. […] Solche Verzeichnisse der Pflanzen hat es viele gegeben, indem man bald auf den Bau der Blume, bald auf den der Staubfäden oder der Frucht Rücksicht genommen hat. In frühern Zeiten hat man selbst darauf gesehen, wie die Blätter beschaffen sind, ob der Stengel holz= oder krautartig ist, ob die Pflanzen im Trocknen oder im Wasser wachsen u.s.w.«30
Neben den vielen Vorschlägen, die Pflanzen nach ihrer Verteilung in Lebensräume oder nach der Beschaffenheit ihrer Blattform zu unterscheiden, hat Linné glücklicherweise, wie Oken festhält, mit den Fortpflanzungsorganen, also mit Staubfäden und Griffeln, die wichtigsten Organe zugrundegelegt. Für die Bestimmung in der Natur oder im Herbarium sei das unverzichtbar und steht als solches nicht in Frage. Was nach Oken bei Linné fehlt, ist der geistige Zusammenhang oder das Verhältnis der Pflanzen zueinander. Weil man davon ebenso wenig einen Begriff bekommt wie von
29 A. Schmidt: »Schwänze«, S. 91. 30 Oken, Lorenz: Allgemeine Naturgeschichte für alle Stände, Dritten Bandes erste Abtheilung oder Botanik, zweyten Bandes erste Abtheilung, Stuttgart: Hoffmann 1841, S. 3f.
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der Kenntnis einzelner Wörter ein Verständnis der Sprache, ist Linnés System »kein wirkliches Gebäude der Pflanzen oder eine sinnvolle Pflanzensprache, sondern nur ein Verzeichnis der Materialien, welche man freylich kennen und beysammen haben muß, wenn man ein Gebäude aufführen oder eine Sprache reden will.«31 Der Zusammenhang der Dinge, der Oken interessiert, erschöpft sich nicht in dem, was die Wörterbücher verzeichnen. Stattdessen zielt er auf geistigen Zusammenhang und die Sinnhaftigkeit einer Pflanzensprache, wie er sie in seiner Zahlen- und Einteilungslogik umgesetzt sieht, die ihrerseits in seine Vorstellungen über eine Naturästhetik eingehen.32 Das wiederum führt zu jenen Extravaganzen der Sprache, die ihn für Arno Schmidt als Vorbild brauchbar machen. Dessen kurzer Abriss von Okens Biographie (und seiner eher abstrus anmutenden Spekulationen in den Gefilden der Naturphilosophie33) mündet in seine Schriften zur Naturgeschichte, namentlich zu der Allgemeinen Naturgeschichte für alle Stände, sowie in seine Bemühungen um eine »Deutsche Terminologie«34. »Hier nun, wie auch in früheren Veröffentlichungen schon, gab Oken eine umfangreiche neue ›Deutsche Terminologie‹ der Pflanzen- und Tierwelt, die so vorzüglich war, daß sie sich schon allein deshalb nie bei uns eingebürgert hat; obwohl die Namen, zum weitaus größten Teil, in ihrer Bildlichkeit schlechthin entzückend sind! (Angelehnt an Vorgänger wie NEMNICH / ILLIGEN / WOLCKE; die ich deshalb in mein Gedicht prompt eingearbeitet habe.) Da es sich bei solchem Versuch um eine Anregung handelt, dem denkenden – nicht nur ›Leser‹, sondern auch präsumptiven ›Fachmann‹ – unentbehrlich & anregend, habe ich mir die schalkische Freiheit genommen, die im Bande 3 b, auf den Seiten römisch III-VII vorkommenden ›Ordnungen und Zünfte‹ am Leitfaden eines ländlichen Spaziergangs vorzuführen. Und möchte ausdrücklich festgehalten wissen, daß
31 Ebd., S. 4. 32 Vgl. Heinstein, Patrick: »Objektivationen des Idealschönen. Okens Kunst- und Schönheitsbegriff zwischen organologischer Ästhetik, naturphilosophischer Spekulation und Empirie«, in: Reinhard Wegner (Hg.), Kunst – die andere Natur, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 2004, S. 51-99. 33 Vgl. L. Oken: Lehrbuch der Naturphilosophie. 34 A. Schmidt: »Schwänze«, S. 91.
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ich der Okenschen Namengebung mit nichten Gewalt angetan; vielmehr die Teichflora dem Teich, die Pilznamen den Pilzen, gelassen habe.) – «35
Wie einschlägig oder unbekannt auch immer, in Okens Ordnungs- und Ordnungsversprachlichungsbemühen wird das Problem aller Taxonomie deutlich, ein Problem, das Goethe angelegentlich eigener Beschäftigungen auf das Paradoxon vom natürlichen System zuspitzt und ein solches vehement in Abrede stellt – ganz im Gegensatz zu Oken, der für seine natürliche Ordnung auch wissenschaftsgeschichtlich fündig wird und Autoren wie den französischen Botaniker Bernard de Jussieu eigens dazu bemüht.36 Will man sich nicht auf das reizvolle Referieren der vielfältigen Ansätze und Vorschläge zurückziehen, so sind Taxonomien vor allem eines – Grenzgänger der Plausibilitätserzeugung. Als solche sind sie nicht nur für die Wissenschaften von den fraglichen Gegenständen von Interesse, sondern sie geben Auskunft über die zugrundeliegende Episteme, müssen sie doch Kriterien angeben, mittels derer Ordnungen begründet oder plausibilisiert werden. So weit, so nahe liegend – schwierig wird die Frage, wie man zu entsprechenden Kriterien gelangt und wer diese zu verantworten hat. Sind sie einer womöglich göttlichen Natur geschuldet und brauchen als solche nur entdeckt oder gefunden werden? Sind sie so unveränderlich, wie es Linné annimmt, oder unterliegen sie einer zeitlichen Dynamik, deren Spuren wie beim französischen Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon in Fossilien gespeichert sind und das Feld der Paläontologie erschließen – ein Bereich, der für Linné ohne größere Bedeutung ist? Oder handelt es sich einfach nur um subjektive Konstruktionen, von Menschenköpfen in die Welt gesetzt?
IV. Natürlichkeit und Arbitrarität bereiten den Spielen der Ordnung eine Bühne. Und es sind beileibe nicht nur Spiele, die in der selbstgenügsamen Be-
35 Ebd., S. 91f. 36 Vgl. Goethe, Johann Wolfgang von: »Probleme«, in: ders., Werke. Hamburger Ausgabe, Band 13 (= Naturwissenschaftliche Schriften, Band 1), München: dtv 1982, S. 35-37, hier S. 35.
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langlosigkeit fachwissenschaftlicher Ausdifferenzierung lediglich ihre disziplinären Sachwalter angingen und beschäftigten. Vielmehr stehen mit den Ordnungsbegründungen die Episteme, also die Ordnungen des Wissens selbst zur Disposition, wie Foucault am Beispiel der Ähnlichkeit für das Zeitalter der Renaissance und der Repräsentation für das klassische Zeitalter ausgeführt hat. Damit erreicht der Hang zur Ordnung Dimensionen, die sich nicht in der Ordnungsliebe erschöpfen, sondern die weltanschaulich, ideologisch, charakterologisch und schlussendlich auch politisch hochgradig bestimmt und besetzt sind. Ob die Natur in prästabilisierter Harmonie und Wohleingerichtetheit ihres Beschrifters harrt (wie bei Stifter und seinen Rosen) oder ob sie einem arbiträren Code und dessen Willfährigkeiten gehorcht – damit einher gehen Fragen, die Konflikte wie die von Darwinismus versus Kreationismus eröffnen. Foucault hat im Vorwort von Les Mots et les Choses auf den erstaunlichen Text von Jorge Luis Borges über die analytische Sprache des Bischofs und ersten Sekretärs der Royal Society John Wilkins verwiesen, dem das Buch gar seine Entstehung verdanke. In diesem Zusammenhang kommt er auf jene vielzitierte chinesische Enzyklopädie zu sprechen, die auf ihre Weise eine Ordnung vor Augen stellt und deren Tiere sich wie folgt gruppieren: »a) Tiere, die dem Kaiser gehören, b) einbalsamierte Tiere, c) gezähmte, d) Milchschweine, e) Sirenen, f) Fabeltiere […].«37 Dieses Borges-Zitat sollte seinem Projekt als Subtext immer eingeschrieben bleiben – nicht zuletzt in jener ironischen Brechung, mit der Borges die Frage aufwirft, warum etwa die sexuelle Organisation eines Lebewesens oder die Zahl und Form seiner Gliedmaßen, nicht aber die Wahl des Pinsels, mit dem es gemalt wird, für seine Bestimmung maßgeblich sein soll. Wenn oder weil Ordnungen nicht evident sind, wovon ihre Utopisten so gerne träumen, unterliegen sie der Dynamik des Vertrautwerdens, bedürfen sie der Zeit, um zu gänzlicher Ablehnung oder zu allgemeiner Akzeptanz zu finden. Als Linné seinen Versuch unternahm, die Zuordnungen einzelner Erscheinungsformen unter übergeordnete Einteilungen und damit unter einen Hut zu bringen, erhob er ausgerechnet die Geschlechtlichkeit der Pflanzen zum Differenzkriterium. Sein System, das die Welt in Reiche,
37 Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1974, S. 17.
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Abbildung 5: 24-teilige Ordnung nach Carl von Linné, 1736
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Gattungen, Arten und Familien einteilt, während Oken von Ordnungen und Zünften redet, greift auf die Blüte zurück (vgl. Abbildung 5). Dieser Einteilung liegt die sogenannte Blütenformel als probate Bestimmungshilfe zugrunde. Ihr Schematismus sollte folgenreich sein und eine Systematik begründen, die trotz neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse aus Evolutionsbiologie, Genetik, Paläontologie und anderen Wissenssparten ihre Geltung weitgehend behaupten konnte. Natürlich sind bei Linné die Hinter- oder Vordergründigkeiten seiner zwischen Menschen- und Pflanzenwelt changierenden Sexualmoral gesehen und gewertet worden,38 natürlich ist auf Ungereimtheiten und auf Inkonsequenzen hingewiesen worden – deren vielleicht schönste nach einer Bemerkung Friedrich Kittlers darin bestehen dürfte, dass Foucault bei seiner Beschäftigung mit dem alten Schweden sich so überhaupt nicht über die Übereinstimmung des Blumenreichs mit der Zahl des Alphabets wunderte.39 Wie sehr Linné das Reich der Buchstaben erreicht hat, zeigt die 6-mal-4-Anordnung der Griffel und Staubfäden. Die Pflanzenwelt, dieses Naturreich mit der größten Streubreite an Variationen, tritt im Zeichen des Alphabets in Konkurrenz mit der kulturellen Ordnung schlechthin. Die Verpflichtung der Natur auf kulturtechnische Gegebenheiten wie das Alphabet hat Foucault, so Kittler, nicht gesehen – nicht sehen können oder wollen. Die Wirkmacht des Alphabets ruft förmlich nach Autoren wie dem Jesuitenpater und barocken Universalgelehrten Athanasius Kircher (16021680), der die Anordnungen des Alphabets berechnet und der mit seinen Bemühungen jenen des John Wilkins und seiner analytischen Sprache nahe kommt, in dessen Umfeld wiederum Borges seine chinesische Enzyklopädie ansiedelt. Was bei so viel Engagement bleibt, ist einmal mehr eine Wette. Deren Einsatz ist allerdings nicht, wie bei Foucault, der Mensch selbst. Zur Wette steht vielmehr ein Gedankenspiel, das auf intrikate Weise die
38 Vgl. Schiebinger, Londa: »Das private Leben der Pflanzen: Geschlechterpolitik bei Carl von Linné und Erasmus Darwin«, in: Barbara Orland/Elvira Schleich (Hg.), Das Geschlecht der Natur. Feministische Beiträge zur Geschichte und Theorie der Naturwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1995, S. 245-269. 39 Vgl. Friedrich Kittlers Vortrag Ontologie der Medien, gehalten am 7. November 2007 anlässlich der Eröffnung des bkm (Bochumer Kolloquium Medienwissenschaft), abrufbar unter: http://www.kolloquium-medienwissenschaft.de/?page_ id=491 (ab Minute 20,30).
O RDNUNG IST
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Ökonomie der Zeichen mit der Ordnung der Dinge verschränkt: Was wäre wohl passiert, wenn bestimmten Autoren wie Christian Hinrich Wolke und seinen uns merkwürdig anmutenden Bemühungen zum Wohl des deutschen Kommunikationswesens mehr Erfolg beschieden gewesen wäre.40 Wolke stellt in seinen Arbeiten zur deutschen Sprache fest, dass die Deutschen völlig über ihre Verhältnisse leben – und verspricht Verbesserung: Anleit zur deutschen Gesamtsprache oder zur Erkennung und Berichtigung einiger (zu wenigst 20) tausend Sprachfehler in der hochdeutschen Mundart; nebst dem Mittel, die zahllosen, – in jedem Jahre den Deutschschreibenden 10 000 Jahre Arbeit oder die Unkosten von 5 000 000 verursachenden – Schreibfehler zu vermeiden und zu ersparen.41 Man kann bereits hier die Tragweite seines gesamtem Unterfangens unschwer erahnen: Wolke stellt Mängel fest – z.B. nicht signifikante Buchstaben, Doppelbuchstaben, die man durch ein Kürzel schreiben könnte – und rechnet dann ökonomisch hoch, was derlei Verschwendung die Deutschen jährlich kostet. Dazu geht er so sehr ins Detail, dass er selbst über die Tintenverschwendung, die Verschwendung von Schreibarbeitszeit sowie die Mehrbelastung der geplagten Postpferde sinniert. Selbstredend gibt es Abhilfe, Wolke findet jedoch sehr zu seinem Leidwesen kaum Gehör. Aber zurück zur Wette. Hätte sich Wolke mit seinen Bestrebungen durchsetzen können und hätte er etwa mit seinem erbitterten Feldzug gegen das elende Dehnzeichen »H« Erfolg gehabt und es kurzerhand aus dem Alphabet getilgt, so stünde eine andere Ordnung der Dinge zum Einsatz, eine Ordnung, die nicht mit 24 Elementen, sondern mit lediglich 23 auszukommen hätte. Ob unter den Bedingungen einer derart veränderten Buchstabensollstärke das natürliche System der Pflanzen immer noch 24 und nicht 23 Unterordnungen haben würde, bleibt als Wetteinsatz offen.
40 Darunter befindet sich auch eine Pasigraphie unter dem Titel Erklärung wie die wechselseitige Gedanken-Mittheilung aller cultivirten Völker des Erdkreises oder Die Pasiphrasie möglich und ausüblich sei, ohne Erlernung irgend einer neuen besondern oder einer allgemeinen Wort- Schrift- oder Zeichen-Sprache, Dessau: Crusius 1797. Zu den Details dieser Bemühungen vgl. Rieger, Stefan: »Die Polizei der Zeichen. Vom Nutzen und Nachteil der Arabeske für den Klartext«, in: Gabriele Rippl/Susi Kotzinger (Hg.), Zeichen zwischen Klartext und Arabeske, Amsterdam/Atlanta: Rodopi 1994, S. 143-160. 41 Dresden: Selbstverlag 1812.
»Wende sie um und um, denn alles ist in ihr.« Über das Suchen in heiligen Texten D ANIEL W EIDNER
In der Bibel wurde eigentlich immer schon gesucht. Zwar gibt es so gut wie keine Quellen, wie das konkret geschah, dafür aber Geschichten des Suchens und Versuchens wie die folgende: »Jesus aber, voll des heiligen Geistes, kam wieder von dem Jordan und ward vom Geist in die Wüste geführt und ward vierzig Tage lang vom Teufel versucht. Und er aß nichts in diesen Tagen; und da sie ein Ende hatten, hungerte ihn darnach. Der Teufel aber sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so sprich zu dem Stein, dass er Brot werde. Und Jesus antwortete und sprach zu ihm: Es steht geschrieben: ›Der Mensch lebt nicht allein vom Brot, sondern von einem jeglichen Wort Gottes.‹ Und der Teufel führte ihn auf einen hohen Berg und zeigte ihm alle Reiche der ganzen Welt in einem Augenblick und sprach zu ihm: Alle diese Macht will ich dir geben und ihre Herrlichkeit; denn sie ist mir übergeben, und ich gebe sie, welchem ich will. So du nun mich willst anbeten, so soll es alles dein sein. Jesus antwortete ihm und sprach: Es steht geschrieben: ›Du sollst Gott, deinen HERRN, anbeten und ihm allein dienen.‹ Und er führte ihn nach Jerusalem und stellte ihn auf die Zinne des Tempels und sprach zu ihm: Bist du Gottes Sohn, so wirf dich von hier hinunter; denn es steht geschrieben: ›Er wird seinen Engeln deinetwegen befehlen, dass sie dich bewahren. Und sie werden dich auf den Händen tragen, damit du deinen Fuß nicht an einen Stein stößt.‹ Jesus antwortete und sprach zu ihm: Es ist gesagt: ›Du sollst den Herrn,
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deinen Gott, nicht versuchen.‹ Und da der Teufel alle Versuchung vollendet hatte, wich er von ihm eine Zeitlang.« (Lk 4,1-13)
Die Geschichte zeigt, dass es von existenzieller Bedeutung für Leib und Seele sein kann, die richtige Bibelstelle zu finden. Denn die Entgegnungen, durch die Jesus hier der Versuchung widerstehen kann, sind Zitate aus der hebräischen Bibel, und nicht einfach irgendwelche. Seine erste Antwort etwa »Der Mensch lebt nicht vom Brot allein« zitiert Deuteronomium 8,3 und ruft damit den Kontext dieser Stelle auf, der nicht nur an die Speisung des in der Wüste umherziehenden Volkes Israel durch Manna erinnert, sondern präzise auch an eine Versuchung: »Und gedenke alles des Weges, durch den dich der HERR, dein Gott, geleitet hat diese vierzig Jahre in der Wüste, auf dass er dich demütigte und versuchte, dass kund würde, was in deinem Herzen wäre, ob du seine Gebote halten würdest oder nicht. Er demütigte dich und ließ dich hungern und speiste dich mit Manna, das du und deine Väter nie gekannt hattet; auf dass er dir kundtäte, dass der Mensch nicht lebt vom Brot allein, sondern von allem, was aus dem Mund des HERRN geht.« (Dt 8,2-3)
Indem Jesus gerade diesen Spruch zitiert, zeigt er, dass er seine Situation ganz anders deutet als der Satan: Der Hunger des Erlösers ist kein Zeichen von Machtlosigkeit, sondern eine Prüfung seines Gehorsams. Ein gutes Zitat sagt mehr als sein unmittelbarer Gehalt; unter ihm verbirgt sich eine komplexe Deutung. Diese wiederum beruht auf einer Beziehung zwischen der Geschichte Israels und der Geschichte Jesu, die man als figurale oder typologische Beziehung bezeichnet: Die Versuchung entspricht der Wüstenwanderung und einigen anderen Episoden, etwa dem Aufenthalt Elias in der Wüste oder der Versuchung Adams und Evas. Die Heilige Schrift erklärt sich durch eine ganze Fülle von solchen Entsprechungen gewissermaßen permanent selbst, indem jede Stelle potentiell auf alle möglichen anderen Stellen verweist. Auf diesem Prinzip der maximalen internen Verweisungen beruht die religiöse Hermeneutik, und aus ihm speist sich auch der Titel dieses Beitrags, ein Zitat aus der rabbinischen Überlieferung, Traktat Avot 5,22 der Mischnah, über die Tora: »Wende sie um und um, alles ist in ihr.« Je mehr sich in der Schrift finden lässt, um so mehr lässt sich in ihr auch suchen.
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Jesus ist nicht der einzige Suchende in unserer Geschichte. Wie wichtig der Rekurs auf die Schrift ist, zeigt die dritte Versuchung, die nach der Logik der Erzählung die schwerste sein muss. Und das liegt nicht nur darin, dass es hier um Leib und Leben geht – wichtiger ist, dass der Satan den Heiland hier nicht mit Brot oder mit Herrschaft versucht, sondern mit dem, was geschrieben steht, also mit eben jenem »Wort«, auf das sich Jesus selbst in seiner ersten Antwort bezogen hatte: Der Satan zitiert selbst die Bibel, nämlich Psalm 91,11f.: »Denn er hat seinen Engeln befohlen über dir, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen, dass sie dich auf Händen tragen und du deinen Fuß nicht an einen Stein stoßest. Der Satan hat sich gewissermaßen angepasst, er verwendet jetzt dieselben Mittel, mit denen seine vorigen Versuchungen zurückgewiesen worden sind. Die Antwort auf diese Versuchung muss dann auch auf einer anderen Ebene stattfinden: Indem nämlich Jesus jetzt – wieder durch ein Zitat, diesmal von Deuteronomium 6,16 – die Versuchung als solche zurückweist, gleichzeitig aber, und darin liegt die Ambivalenz wie die Brisanz der Antwort, sich selbst als Gott enthüllt. Denn es bleibt offen – und es ist die Ambiguität, die potentiell in jedem Zitat schlummert –, an wen diese Aussage gerichtet ist, ob Jesus hier sich selbst ermahnt, Gott nicht zu versuchen oder als Herr den Satan ermahnt, nun einmal mit dem Versuchen aufzuhören. Damit hätte er dann auch die Frage nach der Gottessohnschaft beantwortet, mit der der Satan die Reihe seiner Versuchungen eröffnet – »wenn Du Gottes Sohn bist« – und der der Heiland hier nun nicht länger ausweichen kann. Wie es auch immer um die theologischen Implikationen dieses kleinen Dramas steht – woher wissen die beiden Kontrahenten eigentlich, auf welche Stellen sie zurückgreifen müssen? Wenn die typologische Interpretation auf Entsprechungen beruht, gilt es solche zu finden – und genau das ist, formal betrachtet, das Suchen in Textkorpora: Man sucht nach Äquivalenzen bzw. nach dem Auftauchen von bestimmten Mustern in der Zeichenmenge. Diese Form der Suche ist nicht nur tief in der Schriftkultur verankert, sie ist vielleicht bis in die Neuzeit hinein die typische Form der Suche nach Wissen, das immer als etwas gedacht wird, das an den Text gebunden ist, und zwar primär und prinzipiell an den Text heiliger Schriften. Wenn spätestens seit Augustinus die Welt als »Buch der Natur« betrachtet wird, so verweist das nicht nur allgemein auf das Buch Gottes, sondern dieses stellt im präzisen Sinne das Modell dar, insofern nach Augustinus jenes Buch der Natur mit dem göttlichen Buch ebenso übereinstimmt wie das Al-
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te Testament mit dem Neuen.1 Entsprechungen kann es freilich in sehr verschiedenem Sinne geben, und es gehört geradezu essentiell zur Typologie, die Form der Übereinstimmung offen zu lassen.2 Dementsprechend kann es auch ganz verschiedene Arten geben, nach solchen Übereinstimmungen zu suchen und dementsprechend auch ganz verschiedene Hilfsmittel. Unsere Geschichte spricht zwar nicht von solchen Hilfsmitteln und es mag schwer vorstellbar sein, dass Jesus auf seinen Wüstenwanderungen auch nur eine Bibel bei sich hat: Wie jede mediale Urszene verschweigt auch diese ihre eigenen medialen Bedingungen. Auch wenn aus den großen Interpretationstraditionen wie der Patristik und dem rabbinischen Judentum keine eigentlichen Hilfsmittel zur Suche des Textes überliefert sind – sie scheinen überwiegend auf der entwickelten Mnemonik der Textgelehrten zu beruhen3 –, ist zumindest nicht auszuschließen, dass Jesus, der Satan oder Lukas sich eines sogenannten Testimonienbuches bedient haben, in dem die wichtigsten messianisch zu deutenden Stellen der hebräischen Bibel gesammelt und topisch geordnet werden. Unter dem Stichwort »Brot« würde Jesus hier also Deuteronomium 8,3 finden, unter dem von »Stein« fände der Satan seinen Psalm. Eine solche Sammlung, die manche Forscher für die älteste christliche Literaturgattung überhaupt halten,4 wäre gewissermaßen eine einfache Suchmaschine. Sie stünde am Anfang einer Reihe von Hilfsmitteln, die zur Durchsuchung des biblischen Textes entwickelt wurden. Denn weil die Bibel als formativer Text der europäischen Kultur bis in die Neu-
1
Vgl. dazu Blumenberg, Hans: Die Lesbarkeit der Welt, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1981, S. 22-35, sowie Weidner, Daniel: »Logiken der Lektüre. Schriftprinzip und Kulturwissenschaft«, in: Uwe Wirth (Hg.), Logiken und Praktiken der Kulturforschung, Berlin: Kadmos 2008, S. 57-73.
2
Daher gerät die Typologie dann auch in dem Moment in die Krise, als die Hermeneutik ein Zeichen entweder wörtlich oder allegorisch verstehen will. Vgl. dazu Frei, Hans W.: The Eclipse of Biblical Narrative. A Study in Eighteenth and Nineteenth Century Hermeneutics, New Haven/London: Yale University Press 1974.
3
Vgl. dazu Carr, David M.: Writing on the Tablet of the Heart. Origins of Scrip-
4
Vgl. die Zusammenfassung der Diskussion in Plümacher, Eckhard: Artikel »Bi-
ture and Literature, New York: Oxford University Press 2005. bel II. Die Heiligen Schriften des Judentums im Urchristentum«, in: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 6, Berlin: de Gruyter 1993, S. 8-22, bes. S. 15f.
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zeit hinein einen zentralen epistemischen Ort hatte – eben den Ort jenes Buches, von dem aus man auch das »Buch der Natur« entziffern könne –, sind an ihr historisch schon sehr früh Instrumente zur Suche entwickelt worden, die nicht nur für die Vorgeschichte modernen Suchens interessant sind, sondern auch auf paradigmatische Weise zeigen, wie die Instrumente der Suche das Wissen selbst prägen: in diesem Sinne das besondere geistliche Wissen der Schrift, das in ihrer Durchsuchbarkeit immer wieder aktualisiert, ja erst eigentlich konstituiert wird. Denn zur Heiligen Schrift wird die Schrift gerade in dem Maße, in dem man sie in jeder Situation – in der Wüste, zur Widerlegung der Schrift etc. – verwenden kann, und das kann man eben besonders gut, wenn man schnell das Richtige in ihr findet. Das soll im Folgenden an einigen der wichtigsten und charakteristischsten Suchinstrumente gezeigt werden: den Konkordanzen, den Polyglotten, den Kanontafeln, Harmonien und Synopsen.
K ONKORDANZEN Wenn man vor zwanzig Jahren – wie Jesus in der Wüste – nach »Brot« in der Bibel suchte, hätte man wohl zur Konkordanz gegriffen, dem elementarsten Hilfsmittel zum Bibelstudium, in dem das Vorkommen einzelner Worte verzeichnet wird. Bibelkonkordanzen werden schon früh erstellt, wenn auch lange nach dem Verfassen der Texte: Die erste Konkordanz der Vulgata entsteht Mitte des 13. Jahrhunderts unter der Leitung des Dominikaners Hugo von St. Charo und wird dann mehrfach erweitert und überarbeitet. Im 15. Jahrhundert wird sie noch einmal auf die dictiones indeclinabiles beschränkt und schließlich 1496 das erste Mal gedruckt. Die sprachliche Basis der Vulgata wird jedoch bald problematisch: Mitte des 15. Jahrhunderts erstellt Isaak Nathan ben Kalonymus auch eine Konkordanz des hebräischen Textes als Hilfsmittel für jüdisch-christliche Disputationen. Sie wird 1523 in Venedig und dann noch einmal von Reuchlin 1556 in Basel gedruckt. Eine griechische Konkordanz wird in der Ostkirche bereits im 14. Jahrhundert erstellt, bleibt aber im Westen unbekannt. 5
5
Vgl. dazu »Zur Geschichte der Bibelkonkordanzen«, in: Große Konkordanz zur Lutherbibel, Stuttgart: Calwer Verlag 1989, S. VII-IX, sowie Hieke, Thomas:
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1546 veröffentlicht Sixtus Birken eine Konkordanz des griechischen Neuen Testaments (vgl. Abbildung 1). In seiner Widmung erklärt er, dass die lateinischen Konkordanzen trotz ihres großen Nutzens nicht mehr ausreichten, weil die verschiedenen Übersetzungen voneinander abwichen; er habe daher die große Mühe der Sammlung und die noch größere der Anordnung auf sich genommen, um die verschiedenen widerstreitenden Ansichten miteinander zu versöhnen. Auffällig ist, dass diese Konkordanz nur Kapitelangaben enthält, deren Ungenauigkeit nicht nur unpraktisch ist, um die zitierte Stelle – oft nur eine Redewendung – zu finden. Der Verweis auf die Kapitel entspricht auch nicht wirklich der Exegesepraxis, bei der der Vers im Mittelpunkt steht, wie schon unsere Suchgeschichte zeigte, deren Pointe ja darin bestand, dass einzelne Verse aus dem Zusammenhang gelöst werden. »Verse« sind aber so wenig eine natürliche Einheit des biblischen Textes wie die Kapitel – beide Einteilungen werden erst nachträglich für den bereits kanonisierten Text entwickelt. Bereits im Hochmittelalter, also zeitgleich mit der ersten Konkordanz, werden die Kapitel der biblischen Bücher unterteilt und nummeriert; 1484 werden diese Kapitel erstmals mit Buchstaben in Unterabschnitte unterteilt, die dann jeweils fünf bis zehn Verse enthalten. 1528 tauchen dann das erste Mal Versnummern in einem französischen Druck auf.6 Es dauert eine Weile, bis sich diese Erfindung durchsetzt: Zunächst erscheint keine weitere Ausgabe mit Versnummern, und auch Luther übernimmt sie nicht in seine Ausgaben. Sein Korrektor Christoph Walter verhindert noch bis ins Jahr 1586, dass sie in Ausgaben der Luther-Bibel aufgenommen wird. Der Schlüssel für den endgültigen Triumph ist die Genfer Bibel, die der Verleger Robert Estienne 1551 (NT) bzw. 1553 (Vollbibel) erstmals mit Versnummerierung herausgibt. Die Legende besagt, dass manche Versabteilungen deshalb so wenig passend seien, weil Estienne sie auf dem Pferd, nach dem Rhythmus eines leichten Trabes vorgenommen habe. Wie dem auch sei, der Verleger ist eine in mehrfacher Hinsicht paradigmatische Gestalt: Er ist Drucker, und seine Ausgaben sind in Layout und Typographie be-
Artikel »Konkordanz«, in: Religion in Geschichte und Gegenwart, hg. von Hans Dieter Betz et al., 4. Auflage, Bd. 4, Tübingen: Mohr 2001, Sp. 1599. 6
Vgl. dazu Black, M.H.: »The printed Bible«, in: The Cambridge History of the Bible, Bd. 3, hg. von S.L. Greenslade, Cambridge: Cambridge University Press 1963, S. 408-475.
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Abbildung 1: Konkordanz zum Neuen Testament von Sixtus Birken, 1546
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stimmend für den Bibeldruck. Und er reitet nicht zur Freude, sondern ist 1550 auf der Flucht von Paris nach Genf, um der Verfolgung als Protestant zu entgehen und zu einem der wichtigsten protestantischen Drucker zu werden. In typischer Weise spielen bei dieser Neugestaltung der Bibel also medien- und religionsgeschichtliche Faktoren zusammen: die Entwicklung der Drucktechnik und die reformatorischen Kontroversen um die Schrift. Erst der Druck macht eine Normierung des Textes möglich – zugleich aber auch notwendig. Denn zumindest im Falle des Neuen Testaments weichen nicht nur die Übersetzungen, sondern auch die verschiedenen Handschriften des Textes nicht unwesentlich voneinander ab, oft gerade in der Reihenfolge der Verse. Deren Nummerierung setzt daher eine Stabilität des Textes voraus; umgekehrt lässt sich diese Stabilität auch erst erzeugen, wenn es möglich ist, verschiedene Varianten des Textes durch die perfekte Adressierbarkeit jeden Verses systematisch zu vergleichen. Erreicht wird die neue Form des Textes in den verbreiteten Ausgaben zunächst des Erasmus, dann Estiennes und später in Elzeviers Veröffentlichung des sogenannten textus receptus: also derjenigen Ausgabe, die sich in der protestantischen Kirche bis ins 19. Jahrhundert als die verbindliche durchsetzt. Das protestantische Schriftprinzip, also die Forderung, alle Wissensansprüche und Handlungsgründe aus dem Bibeltext abzuleiten, verändert auch den Umgang mit diesem; und hier erweist sich die Versnummerierung als höchst effizientes Hilfsmittel. Denn erst jetzt kann die theologische Reflexion ständig auf die Schrift verweisen, ohne dass dadurch der Gang der Argumentation unterbrochen werden muss: Während etwa die erste Ausgabe von Melanchthons Loci von 1521 noch relativ spärlich die Bibel zitierte, werden in späteren Ausgaben in Marginalnoten mehr und mehr Stellen nachgetragen, auf die sich die Argumentation explizit oder implizit beziehen könnte. Diese Form bestimmt bis heute die Form theologischer Argumentation, die immer mit Reihen von Sigeln durchschossen ist: Schreibt man etwa »Same«, kann man durch eine ergänzende Klammer (Gen 3,13; Gal 4,4; 1 Joh 3,8; Hebr 2,14; Röm 16,20) eine Reihe von Paradigmen dieses Wortes angeben. Die höchst effiziente Form der Textadressierung über Versangaben dringt bald auch selbst in Gestalt der Parallelstellen in die Bibel ein; noch heute ist es vollkommen übliche Praxis, dass selbst in reinen Textbibeln ohne Anmerkungen oder Erklärungen diese Verweise angegeben sind, als hätten sie im »ursprünglichen« Text gestanden. Für eine oberflächliche Lektüre ersparen
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solche Querverweise dann auch den Gebrauch der Konkordanz – der Text hat sozusagen seine Suchmaschine in sich integriert.
P OLYGLOTTEN Die Konkordanz sucht nach der Rekurrenz bestimmter Worte – eine einfache und wenig komplexe Suche. Aber es gibt auch andere, weniger leicht zu findende und darzustellende Rekurrenzen im biblischen Text. Schon bei der Entstehung der Konkordanzen des 16. Jahrhunderts war deutlich, dass die Mehrsprachigkeit der Bibel eine entscheidende Rolle spielte. Tatsächlich ist die Heterogenität der christlichen Bibel wesentlich auch eine sprachliche: Sie ist halb hebräisch, halb griechisch und im Kontext der Westkirche dann auch insgesamt noch einmal in einer anderen Sprache kanonisiert, sei es das Latein der Vulgata oder die Volkssprachen in den klassischen Übersetzungen. Ein Hilfsmittel, um nach sprachlichen Äquivalenzen zu suchen, ist die Polyglottenbibel. Deren erste, die Biblia polyglotta complutensa, entsteht seit 1500 unter der Leitung des spanischen Kardinals und späteren Generalinquisitors Francisco Ximenes de Cisneros und stellt einen der ersten Höhepunkte humanistischer Bibelkritik dar (vgl. Abbildung 2).7 Ein ganzer Stab von Mitarbeitern, Philologen, Theologen, Setzern arbeitet an dem Projekt, dessen erster Band 1514 erscheint und das erst 1522 abgeschlossen werden kann. Wohl angeregt durch die HexaplaHandschrift des Origenes, in der das hebräische Original neben fünf verschiedenen Übersetzungen ins Griechische gestanden haben soll, wird hier die Vulgata in der Mitte, der hebräische Urtext jeweils auf der äußeren Kolumne, die Septuaginta auf der inneren Kolumne gedruckt; den Fuß der Seite bildet der Targum Onkelos, eine aramäische Paraphrase des Alten Testaments mit lateinischer Übersetzung, übrigens alle noch ohne Versnummerierung. Die Übersetzungen stehen dabei nicht einfach nebeneinander, sondern sind durch verschiedene Hilfsmittel verknüpft, etwa durch eine lateinische Interlinear-Übersetzung der Septuaginta und durch ein kompliziertes Verweissystem für den hebräischen Text: Weil dieser bekanntlich von rechts
7
Vgl. Bentley, Jerry H.: Humanists and Holy Writ – New Testament Scholarship in the Renaissance, Princeton: Princeton University Press 1983, S. 70-111.
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nach links geschrieben ist, kann hier keine lesbare Interlinear-Übersetzung angefertigt werden. Stattdessen wird jedes hebräische Wort mit einem kleinen Buchstaben versehen, der auf das entsprechende Wort im Vulgata-Text sowie auf die am äußeren Rand notierten Wortwurzeln verweist. Auch der des Hebräischen Unkundige kann also ein wenig Hebräisch mitlesen, er kann die Satzstruktur nachvollziehen und könnte auch die entsprechenden Worte im Wörterbuch nachschlagen. Eine ausgefeilte Drucktechnik, ein Verbund verschiedener Zeichensysteme und ein komplexes Layout ermöglichen es so, eine Fülle von Wissen darstellbar und benutzbar zu machen, und eröffnen eine Vielfalt von möglichen Lektüren. Sie machen zugleich deutlich, dass die »Bibel«, in welcher der frühneuzeitliche Gelehrte sucht, nicht einfach ein bestimmter Text ist, sondern eine Gruppe sehr verschiedener Texte, deren Bezug zueinander immer neues Wissen generiert, das aber seinerseits auch der Ordnung bedarf. Diese Ordnung wird in der Complutensa auch durch Layout und Aufbau getroffen, welche ganz die Vulgata in den Mittelpunkt stellen. Nicht nur ist offensichtlich Latein die Benutzersprache der Polyglotte, die anderen Texte werden auch gelegentlich nach der Vulgata korrigiert. So wird im Neuen Testament das sogenannte Komma Johanneum, das einzige Zeugnis der Trinität in 1 Joh 5,7, aus der Vulgata in den griechischen Text rückübersetzt – ein Verfahren, das bekanntlich auch Erasmus in seiner Ausgabe des griechischen Neuen Testaments anwandte. Auch die Anordnung der Texte hat durchaus eine Bedeutung: Im Vorwort wird die Ausgabe mit Christus verglichen, der am Kreuz von zwei Übeltätern flankiert wird, offensichtlich in Anspielung auf die ungläubigen Juden und die schismatische griechische Kirche. Für den Benutzer bildet die Vulgata die stabile Mitte, auf die alles zuläuft, während die anderen Texte von recto nach verso ihre Positionen wechseln. Die Polyglotte ist damit eine anschauliche Darstellung einer bestimmten Textordnung; dass auf ihre visuelle Qualität viel Wert gelegt wurde, zeigt nicht nur der eigens hierfür gestochene griechische Font, sondern auch das Bemühen, die Vulgata-Kolumne immer mit kleinen Kreisen aufzufüllen. So wird ein Wissens-, Erfahrungs- und Anschauungsraum konstruiert, ein Tableau, das eine bestimmte ideologische Tendenz mit ästhetischer Prägnanz darstellt und damit eine bestimmte Leserichtung nahelegt – aber natürlich auch immer die Möglichkeit anderer, nicht geplanter Lektüren eröffnet, die sich etwa auf die Nichtübereinstimmung der verschiedenen Übersetzungen konzentriert.
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Abbildung 2: Biblia Complutensa Polyglotta, 1514-1517 (auf dieser Seite: Gen 24,50-62)
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K ANONTAFELN Die typologische Beziehung verschiedener Texte und das Nebeneinander verschiedener Sprachen sind nicht die einzigen internen Rekurrenzen, die sich im Text der Bibel finden lassen. Ein moderner Exeget würde angesichts der Versuchungsgeschichte im ersten Schritt wohl nicht ins Alte Testament zurückblättern, sondern nachsehen, wie sie von den anderen Evangelisten behandelt wird: Markus erwähnt nur mit zwei Versen, dass Jesus vierzig Tage in der Wüste war und vom Satan versucht wurde; Matthäus erzählt die Geschichte ähnlich, vertauscht aber die Reihenfolge der letzten beiden Versuchungen; bei Johannes kommt sie nicht vor. Wie bei den verschiedenen Sprachen sehen wir, dass der Heilige Text sich durch eine Verbindung mehrerer Texte auszeichnet, die zugleich ähnlich und doch different sind. Im Fall der Evangelien hat diese Verbindung – das sogenannte synoptische Problem – nicht nur eine ganze Reihe von Theorien, sondern auch die wohl interessantesten Hilfsmittel und Suchmaschinen hervorgebracht, welche die jeweiligen »Parallelstellen« der anderen Evangelien finden. Den mittelalterlichen Evangelienhandschriften sind oft die sogenannten Kanontafeln vorangestellt, die Eusebius von Cäsarea Anfang des vierten Jahrhunderts entwickelt hatte (vgl. Abbildung 3).8 Dazu hatte er jedes Evangelium in unterschiedlich lange Abschnitte eingeteilt, deren Nummer zusammen mit einem Verweis auf eine bestimmte Kanontafel an den Rand des Textes geschrieben wurde. Schlägt man diese Tafel auf, so findet man eine Tabelle mit den parallelen Stellen der anderen Evangelien oder erfährt, dass es sich hier um »Sondergut« handelt, das nur ein Evangelist bringt. So gehört zum Beispiel das Gleichnis vom Senfkorn nach Matthäus 13,31f
8
Die Kanontafeln sind leicht zugänglich in: Novum Testamentum Graece, hg. von Eberhard Nestle, Erwin Nestle und Kurt Aland, 26. Aufl., Stuttgart: Württembergische Bibelanstalt 1979, S. 73*ff. Zu ihrer Geschichte vgl. Soden, Hermann von: Die Schriften des Neuen Testaments, Bd. 1.1, Göttingen: Vandenhoeck und Ruprecht 1902, S. 388-485. Zur künstlerischen Gestalt und ihrer Relation zu christlichen Bildprogrammen vgl. Kemp, Wolfgang: Christliche Kunst: ihre Anfänge, ihre Strukturen, München/Paris/London: Schirmer-Mosel 1994, S. 137ff.
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Abbildung 3: Kanontafel, wahrscheinlich Aachen 9. Jahrhundert
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zum Abschnitt 137 dieses Evangeliums und verweist auf die Kanontafel zwei, in der die dreifachen Parallelen stehen; neben der 137 bei Matthäus steht hier die 44 bei Markus (verweist auf Mk 4,30-32) und die 167 bei Lukas (Lk 13,18f). Die Kanontafeln beschreiben also das spannungsreiche Verhältnis zwischen der Analogie der verschiedenen Evangelien und der Linearität in jedem einzelnen und verdeutlichen damit das Gewebehafte des Textes. In einem überlieferten Brief kommentiert Eusebius dabei sein Verfahren als Verbesserung des nicht überlieferten Werkes seines Vorgängers Ammonius von Alexandria: »Entlang des Evangeliums nach Matthäus ordnete er die entsprechenden Perikopen der anderen Evangelien. Aber das hatte den unvermeidlichen Nachteil, die Folge [anakoluthia] der anderen drei Evangelien zu zerstören, wenn man den Text kontinuierlich liest. Damit Du aber – bei Schonung des ganzen Körpers und Zusammenhanges auch der übrigen Evangelien – die Stellen bei jedem Evangelisten erkennen kannst, an denen die Wahrheitsliebe sie über das gleiche berichten ließ, habe ich, unter Rückgriff auf das Material des genannten Mannes, aber nach einer anderen Methode die hier unten folgenden Tafeln [kanones], zehn an der Zahl, für dich entworfen.«9
Ammonius hatte den Text neu konfiguriert; die Kanontafeln ermöglichen es dagegen, außerhalb des Textes die verschiedenen Stellen aufeinander zu beziehen, Text und Suchinstrument sind also getrennt. Anders als etwa Zwischenüberschriften bezieht sich Eusebius’ Nummerierung nicht auf den Inhalt des Textes, sondern sie stellt rein funktionale Indizes dar, die – über den Umweg eines Modells, der Tabellen – auf die anderen Abschnitte verweisen. Die Kanontafeln selbst sind daher »das erste Modell, die früheste Repräsentation eines Textes überhaupt«.10 Sie sind funktional bestens an-
9
Eusebius an Carpinianus, zit. nach: Novum Testamentum Graece, S. 73*. Alle Übersetzungen fremdsprachiger Zitate stammen vom Verfasser, D.W.
10 W. Kemp: Christliche Kunst, S. 137. Die Kanontafeln »hierarchisieren nicht und sie qualifizieren nicht, sie sagen nichts über den Inhalt, die Substanz dieses Buches aus, und sie geben keinen Schlüssel zu seinem tieferen Verständnis. Sie sind vielmehr das Monument einer Auffassung, welche die Bibel primär als ›selfglossing book‹ begreift, als ein Textsystem, das ›sich selbst genügt‹ (Tertul-
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gepasst für die Selbstauslegung der Schrift und für das Medium, für das sich das Christentum früh und vehement entschieden hatte: den Codex, für den es – im Unterschied zur Schriftrolle – wesentlich ist, dass man in ihm hin und her blättern kann. Aber über diese reine Funktionalität hinaus haben die Tafeln auch ein ästhetisches Moment. Indem sie den Evangelienhandschriften vorausgeschickt werden, veranschaulichen sie, dass es sich um einen besonderen Text handelt, der eine spezielle innere Ordnung hat. Vor allem werden die Tabellen in aller Regel künstlerisch gestaltet, oft mit architektonischen Motiven, die auf den Jerusalemer Tempel anspielen. Das drückt nicht nur die Einheit und Ausgewogenheit der Schrift aus und betont ihren sakramentalen Charakter, sondern ist auch anschließbar an andere Bildprogramme, so dass etwa innerhalb der Kanontafeln typologische Szenen aus dem Alten oder Neuen Testament abgebildet sein können. Die Schrift wird also zugleich erschlossen und repräsentiert, weil gerade ihre Erschließbarkeit zu ihrer zentralen epistemischen Bedeutung beiträgt.
H ARMONIEN Ein anderes Hilfsmittel, welches dasselbe Problem bearbeitet, aber gerade nicht diagrammatisch, sondern eher synthetisch vorgeht, sind die sogenannten Evangelienharmonien, die alle vier Evangelien zu einem Text verbinden. Die wohl bekannteste ist Andreas Osianders Harmoniae Evangelicae libri quatuor aus dem Jahr 1537, die als konsequente, vielleicht allzu konsequente Umsetzung des protestantischen Schriftprinzips betrachtet werden kann (vgl. Abbildung 4).11 Osiander produziert ein Monotesseron, das heißt einen durchgängigen griechischen Text nebst dessen lateinischer Überset-
lian), wenn es denn in seinen systematischen Qualitäten erkannt worden ist.« Ebd., S. 138. 11 Die Vorrede, die Übersichtstafel (Elenchus) und Teile der Anmerkungen sind veröffentlicht in Osiander, Andreas: Gesamtausgabe, Bd. 6, hg. von Gerhard Müller, Gütersloh: Mohn 1985, S. 229ff. Vgl. auch dazu und allgemein zur Harmonie: Wünsch, Dietrich: Evangelienharmonien im Reformationszeitalter – Ein Beitrag zur Geschichte der Leben-Jesu-Darstellungen, Berlin/New York: de Gruyter 1983.
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Abbildung 4: Andreas Osiander: Harmoniae Evangelicae libri quatuor, 1537
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zung auf der jeweils gegenüberliegenden Seite; eine Erzählung der Taten und Worte Christi, die sozusagen komplett aus den Evangelien zusammengesetzt wird. Dabei weist bei jedem Wort oder jeder Wendung ein kleines Zeichen darauf hin, aus welchem Evangelium – oder, eventuell, bei exakten Parallelen: aus welchen Evangelien – die jeweilige Wendung stammt. Am Rand sind mit weiteren Sigeln solche Parallelen angegeben, die nur minimal variieren und daher nicht in den Text der Harmonie aufgenommen werden. Aber das sind nur sehr wenige, denn weil es in den heiligen Schriften nicht nur nichts Widersprüchliches, sondern auch nichts Nebensächliches geben kann, sind selbst die geringsten Abweichungen bedeutungstragend. Daher werden parallele Erzählungen, die nur minimale Differenzen haben oder auch nur in den verschiedenen Evangelien an verschiedenen Stellen der Geschichte positioniert sind, »dissimuliert«, d.h. sie werden auf verschiedene Ereignisse bezogen. Es gibt eben drei Tempelreinigungen, zwei Sturmstillungen, vier Blindenheilungen etc. zwei Mal wird der Knecht des Centurios geheilt, zwei Mal fahren die Dämonen in die Schweineherde usw. Die Heilung von Petrus’ Schwiegermutter taucht zwar bei Osiander nur ein einziges Mal auf – wird allerdings auf Grund der leicht abweichenden Berichte umständlich und pleonastisch erzählt –, dagegen referieren Matthäus’ Bergpredigt und Lukas’ Feldrede bei aller Ähnlichkeit auf zwei Ereignisse, die fast ein Jahr auseinanderliegen. Denn Osiander geht davon aus, dass die Evangelisten nicht nur treu berichtet haben, sondern dass grundsätzlich auch die Abfolge ihrer Berichte – die inzwischen zum Fachterminus gewordene Akoluthie des Eusebius – korrekt sei, dass aber jeder von ihnen etwas ausgelassen habe. Es komme daher darauf an, in den Erzählungen eines Evangeliums die Narbe (»cicatrix«) im Text zu finden und in diese die entsprechenden Stellen der anderen Evangelien einzufügen, ohne allerdings dabei die Reihenfolge zu verletzen. Wie das konkret geschieht, kann man an dem Verzeichnis (dem Elenchus, vgl. Abbildungen 5 und 6) sehen, das Osiander seiner Edition voranstellt und das die vier Evangelien parallel darstellt: Nach den parallelen Berichten der Taufe wird der Johannesprolog eingeschaltet, dann – wieder parallel – die Versuchungsgeschichte, dann wieder mit Johannes die erste Jüngerberufung, die Hochzeit zu Kanaan, eine erste Tempelreinigung, die Gespräche mit Nikodemus und der Samaritanerin – um dann, endlich bei der Predigt in Galiläa anzukommen, die bei den Synoptikern unmittelbar auf die Versu-
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Abbildungen 5 und 6: Andreas Osiander: Harmoniae Evangelicae libri quatuor (Elenchus), 1537
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chungsgeschichte folgt; den Anschluss stellt dabei der diagonal gesetzte Halbsatz »und Jesus kehrte in der Kraft des Geistes nach Galiläa zurück« (Lk 4,14) her. Die Harmonie schiebt alle Evangelien ineinander und versucht, die Komplexität einer Schrift, die aus vier Texten zu besteht, zu entflechten. Dabei zeigt sie nicht nur, dass noch dieser entzerrte Text durch eine Fülle von Suchinstrumenten strukturiert wird, die es erlauben, im neu konstituierten Text die originalen Evangelien zu finden – die man, mit ein wenig Übung, aus Osianders Harmonie vom Blatt lesen kann. Sie zeigt auch das prinzipielle Problem, dass ein Text, dem man alles zutraut, aus Erzählungen besteht, deren Ordnung offensichtlich problematisch ist. Das zwingt zu weiteren Verarbeitungen des Textes, die ihrerseits wieder Suchmaschinen produzieren.
S YNOPSEN
DER
E VANGELIEN
Johann Jacob Griesbachs Synopsis evangelicorum, 1774 als Beigabe zu einer kritischen Ausgabe des Neuen Testaments veröffentlicht (vgl. Abbildung 7), sieht auf den ersten Blick ähnlich wie Osianders Elenchus aus. Er schließt das insgesamt eigenständigere Johannesevangelium aus und beschränkt sich auf die – von nun an so genannten – synoptischen Evangelien; beigefügt wird ein textkritischer Apparat, die Form ist ebenfalls tabellarisch. Aber die Abfolge der Perikopen ist nicht mehr als Darstellung einer Geschichte gemeint, ausdrücklich weist Griesbach in der Vorrede den Leser darauf hin, dass es sich hier nicht um eine Harmonie handelt: »Sosehr ich auch weiß, wie viel Mühe gelehrte Männer zur Herstellung einer Harmonie verwendet haben, die den postulierten Regeln entspricht, so glaube ich doch, dass nicht nur ein geringer, sofern fast überhaupt kein Nutzen aus ihr gezogen werden kann, den nicht meine Synopse – trotz ihrer geringen Sorgfalt – auch darbietet; ich bezweifle vielmehr auch sehr, ob man überhaupt eine harmonistische Erzählung aus den Büchern des Evangelisten komponieren kann, die in der chronologischen Reihenfolge der Perikopen ausreichend mit der Wirklichkeit übereinstimmt, und die auf sicheren Fundamenten aufgebaut ist. Was wenn keiner der Evangelisten irgendwo der zeitlichen Reihenfolge genau gefolgt ist? Und wenn nicht genügend Beweise
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vorhanden sind, aus denen zu erheben wäre, wer und an welcher Stelle er von der chronologischen Ordnung abweicht? Und zu dieser Häresie bekenne ich mich.«12
Allerdings erweist es sich als gar nicht so einfach, die einander entsprechenden Texte parallel zu drucken – wie leicht einsehbar, gibt es natürlich ganz verschiedene Möglichkeiten der Ordnung: gemäß Matthäus, Markus oder Lukas. Griesbach folgt meist der Abfolge von Markus und der ähnlichen von Lukas; Matthäus wird »versetzt«, seine Perikopen erscheinen also nicht in der ursprünglichen Reihenfolge; darüber hinaus wird am Anfang und am Ende jedes Abschnittes angemerkt, in welchem anderen Abschnitt der anschließende Text der jeweiligen Evangelien zu finden ist. So wird die Heilung der Schwiegermutter hier gemäß Lukas vor der Bergpredigt eingeordnet und beim Matthäus-Text durch eine geschweifte Klammer angedeutet, dass er in einen anderen Zusammenhang gehört. Das ist auch deshalb wichtig, weil auch bei Griesbach jeder Evangelientext einmal und nur einmal vorkommt – ein Verfahren, das sich schon aus ökonomischen Gründen empfiehlt, weil sonst die Synopse über die Maßen anschwellen müsste, zumal konsequenterweise ja auch der textkritische Apparat wiederholt werden müsste. Wird ausnahmsweise ein Text ein zweites Mal gedruckt, wird das durch einen Kasten markiert, so etwa Stellen aus der lukanischen Feldrede als Parallelen zur Bergpredigt. Auch hier ist also der Bibeltext einmal ganz vorhanden, aber nicht mehr harmonisiert und in keine eindeutige Lesefolge gebracht. Dass damit immer auch implizite Vorannahmen verbunden sind, zeigt gerade der Vergleich mit Osiander: Abweichungen der Evangelien voneinander verweisen jetzt nicht mehr auf ähnliche Ereignisse, sondern auf ähnliche Berichte. Indem die Synopse die parallelen Perikopen der verschiedenen Evangelien nebeneinanderstellt, betont sie stärker deren Unterschiede und Ähnlichkeiten als die narrative Verkettung im jeweiligen Evangelium; es ist ja auch nicht mehr ohne Sprünge möglich, ein Evangelium durchgängig zu lesen. Ganz anders als Osiander scheint die Synopse zu suggerieren, es handle sich um verschiedene Berichte derselben Ereignisse, und legt damit von vornherein
12 Griesbach, Johann Jakob: Synopsis evangelicorum Matthei, Marci et Lucae, 3. Auflage, Halle: Curt 1809, S. IX. Zu Griesbach vgl. den Band: Orchard, Bernard/Longstaff, Thomas (Hg.): J.J. Griesbach. Synoptic and text-critical studies 1776-1976, Cambridge: Cambridge University Press 1978.
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die Frage nach diesen Ereignissen nahe – also die Frage nach dem »Leben Jesu« –, die Griesbach ja anfänglich gerade als unerkennbar aus der Arbeit am Evangelienvergleich ausgeschlossen hatte. Tatsächlich trifft dabei auch die Synopse permanent Entscheidungen, etwa wenn sie die abweichenden Berichte der Heilung der Schwiegermutter nebeneinander abdruckt – später oft noch unter einer zusammenfassenden Überschrift –, dagegen der Bergpredigt bei Matthäus nicht die lukanische Feldrede insgesamt gegenüberstellt, sondern nur einzelne, teils »versetzte«, teils nur als lokale Parallele (im Kasten) aufgefasste Stellen: Das suggeriert, es gäbe eine Schwiegermutter, aber zwei große Reden über das Vaterunser.
Abbildung 7: Johann Jakob Griesbach: Synopsis evangelicorum Matthei, Marci et Lucae, 1774 Die Frage, die durch die Synopse aber vor allem nahe gelegt wird, ist die nach einer historischen und literarischen Verwandtschaft der verschiedenen Texte. Theorien über die Geschichte der Evangelien haben um 1800 Konjunktur: Neben der Annahme eines (verlorenen) Urevangeliums, einer
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mündlichen Tradition oder einer Fülle von Vorlagen entstehen auch sogenannte Benutzungshypothesen. Schon Augustinus hatte vermutet, dass das Markusevangelium ein bloßer Auszug aus dem Matthäusevangelium sei. Auch Griesbach geht davon aus, dass Markus sekundär ist, nimmt aber anders als Augustinus an, »dass Markus beim Schreiben seines Buches nicht nur Matthäus, sondern auch Lukas vor Augen hatte [ante oculos positum habuisse], und dass er ihnen entnahm, was er von den Taten, Reden und Schicksalen des Erlösers der Nachwelt überlieferte und zwar so, dass er [...], wo er in die Fußstapfen des Matthäus tritt, Lukas doch nicht aus den Augen verliert, sondern mit Matthäus vergleicht, und umgekehrt.« 13
Markus habe also sein Evangelium aus den beiden anderen zusammengefügt, was sich bis in einzelne Formulierungen des Textes hinein verfolgen lasse: Sein Satz »Am Abend aber, als die Sonne untergegangen war« (Mk 1,32 ) stamme zur ersten Hälfte aus Matthäus (8,16), zur zweiten aus Lukas (4,40). Freilich lässt sich dieses Argument leicht umkehren, und wenig später wird Karl Lachmann die bis heute weitgehend akzeptierte Theorie der Markuspriorität aufstellen, nach der Matthäus und Lukas die – hebraisierenden – Pleonasmen des Markus jeweils verschieden aufgelöst haben. Gerade diese Diskussionen zeigen, wie sehr hier die Instrumente der Suche das durchsuchte Wissen modifizieren. In ihnen projiziert sich die Synopse gewissermaßen selbst in den Gegenstand, denn Griesbach nimmt ja an, Markus habe selbst philologisch gearbeitet, indem er – wie ein Philologe beim Kollationieren – verschiedene Texte zusammenfasst. Diese Annahme legt nahe, dass die Synopse nur sichtbar macht, was in den Texten selbst schon angelegt ist: deren Struktur und Genese. Indem sie diese aber nicht eindeutig sichtbar macht, indem es nicht nur viele Synopsen gibt – je nachdem, wo man die Schwiegermutter hinstellt –, sondern eine Synopse auch verschiedene Deutungen ermöglicht – man kann sie auf verschiedene
13 Griesbach, Johann Jakob: Commentatio qua Marci evangelium totum e Matthaei et Lucae commentariis decerptum esse monstratur, zuerst Jena 1789, hier zitiert nach: ders.: Opuscula academica, Bd. 2, hg. von Johann Phillip Gabler, Jena: Frommann 1825, S. 358-434, hier S. 365. Generell über die synoptische Diskussion der Zeit informiert: Schmithals, Walter: Einleitung in die drei ersten Evangelien, Berlin/New York: de Gruyter 1985.
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Arten lesen und verschiedene historische und philologische Konsequenzen ziehen –, bleibt die Synopse ein wichtiges Instrument für die Exegese. Noch heute sind Synopsen ein wichtiges Anschauungsobjekt für die Beziehungen zwischen den Evangelien und für die Textgenese; auch wenn der Stoff oft anders angeordnet wird, die Zahl der (auch außerkanonischen) Parallelen zugenommen hat und mit allen Mitteln der Drucktechnik versucht wird, die parallelen Worte genau nebeneinander zu stellen, unterscheiden sie sich prinzipiell nicht von der Griesbach’schen.14
S YNOPSEN DER E RZÄHLUNGEN
ALTTESTAMENTLICHEN
Das Prinzip der Synopse lässt sich aber nicht nur auf den Vergleich verschiedener Texte anwenden. Auch ein einzelner Text wird durch interne Rekurrenzen und Äquivalenzen gegliedert und kann als Tabelle, Synopse oder Diagramm abgebildet werden. Zu den seltsamsten Hilfsmitteln und Suchinstrumenten der Bibelwissenschaft gehören die Synopsen des Alten Testaments, welche dessen postulierte Quellen darstellen sollen. Hier wird also ein existierender Text in Teile zerlegt, die dann zueinander so rekonfiguriert werden, dass bestimmte Äquivalenzen sichtbar werden. Es war zuerst der französische Arzt Jean Astruc, der 1753 die Theorie aufstellte, Moses habe bei der Abfassung des Buches Genesis auf ältere Urkunden zurückgegriffen. Man könnte vermuten, dass der spezifisch »anatomische« Zugang zum Text mit Astrucs Profession zu tun hat; er ist aber wohl eher Erbe der frühneuzeitlichen Hermeneutik, der es stets um die rechte »Teilung« des Textes ging.15 Astruc geht davon aus, dass Moses in der Genesis
14 Zur weiteren Geschichte der Synopse vgl. Greeven, Heinrich: »The Gospel Synopsis from 1776 to the Present Day«, in: B. Orchard/T. Longstaff (Hg.), J.J. Griesbach. Synoptic and text-critical studies, S. 22-49. 15 Astruc spricht mehrfach vom »corps de la genese« (vgl. Astruc, Jean: Conjectures sur la Genèse, hg. von Pierre Gibert, Paris: Noêsis 1999, S. 398 passim). Zur Tradition der Textanatomie vgl. auch Danneberg, Lutz: Die Anatomie des Text-Körpers und Natur-Körpers: Das Lesen im liber naturalis und supernaturalis(= Säkularisierung in den Wissenschaften seit der Frühen Neuzeit, Band 3), Berlin/New York: de Gruyter 2003.
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Dinge erzähle, die er nicht selbst erlebt habe, und dass seine Erzählung voller Sprünge und Wiederholungen sei: »Ich nehme daher an, dass Moses alte Dokumente [mémoires] über die Geschichte seiner Vorfahren seit der Schöpfung der Welt in den Händen hatte; dass er, um nichts von diesen Dokumenten auszulassen, sie in Stücke [morceaux] unterteilt habe gemäß der in ihnen erzählten Ereignisse; dass er diese Stücke als ganze eines nach dem anderen in den Text eingefügt habe und dass aus dieser Zusammenstellung das Buch der Genesis entstanden sei.«16
Symptom dieser Textproduktion ist vor allem der unterschiedliche Gebrauch des Gottesnamens: Man kann in der Genesis Passagen voneinander unterscheiden, die Gott mit Elohim und andere die ihn mit Jahwe bezeichnen, etwa die beiden Schöpfungsgeschichten. Astruc nimmt an, dass diese Passagen jeweils zu verschiedenen Dokumenten gehören: zur Urkunde A, welche den Gottesnahmen Elohim benutzt, zur Urkunde B, die von Jehova spricht, sowie zu einer Reihe weiterer, kleinerer Urkunden, die dann im Buch parallel nebeneinander abgedruckt werden. Durch diese Umschreibung können die erwähnten Textprobleme gelöst werden: Wenn etwa die Geschichte von Isaaks Heirat mit Rebekka in der Genesis zweimal erzählt wird: einmal breit vor Abrahams Tod (Gen 24), einmal als Notiz von wenigen Zeilen danach (Gen 25,19ff), so zerlegt Astruc sie in zwei Stränge (vgl. Abbildung 8): Einerseits die Geschichte vom Tod Saras, von der zweiten Heirat und vom Tode Abrahams (A), andererseits die der Hochzeit Isaaks und die vom Verkauf des Erstgeburtsrechts (B); die Aufzählung der Nachkommenschaft Ismaels wird gänzlich als »Sondergut« ausgeschlossen (D). Der Tod Abrahams kann jetzt zeitlich nach die Hochzeit Isaaks gestellt werden, ohne dass dabei der Zusammenhang der Erzählung von B unterbrochen werden würde. Einmal auf diese Weise »entflochten«, können alle Ereignisse in ordentlichen Abfolgen erzählt werden und alle narrativen Anschlüsse stimmig sein. Interessanterweise nimmt Astruc dabei an, dass Mose selbst den Text auf diese Weise synoptisch geschrieben habe und dass erst seine Abschreiber, weil sie den Sinn dieser Anordnung nicht verstanden, den Text in die lineare Form gebracht haben und daher für dessen Unordnung verantwortlich sind:
16 J. Astruc: Conjectures, S. 137.
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»Durch diese Anordnung hat Moses erstens wenigstens im Wesentlichen alle authentischen Dokumente bewahrt. [...] Er hat die Dokumente zweitens in einer bequemen Weise angeordnet, die auf den ersten Blick erkennen lässt, was jedes Dokument [...] im Besonderen enthält. Er hat drittens mit dieser Ordnung erreicht, dass die Wiederholungen, die sich unvermeidlicherweise in verschiedenen Erzählungen derselben Fakten finden, nichts Schockierendes mehr haben [...]. Wir wären glücklich und hätten uns viele Mühen erspart, wenn die Genesis bis zu uns in dieser Form gekommen wäre. Aber schon seit Langem haben die Kopisten alles beim Umschreiben anders geordnet.«17
In der Lektüre muss dieser Faden wieder in ein Gewebe aufgelöst werden und Astrucs Buch ist das richtige Hilfsmittel dazu – sein größter Teil besteht im Abdruck des biblischen Textes in der ursprünglichen Form, d.h. in drei Kolumnen. Wie bei Osiander muss der biblische Text also erst transformiert werden, bevor er angemessen gelesen werden kann, nur geschieht diese Transformation in genau spiegelbildlicher Weise: Wurde dort ein Text aus vieren gemacht, so wird hier einer in drei verwandelt. Die Astruc’sche Synopse ermöglicht dabei nicht nur zu sehen, wo sich der biblische Text wiederholt bzw. wo es – ganz wie in der Synopse der Evangelien –, Parallelen zwischen den jeweiligen Erzählungen gibt; er ermöglicht auch eine Fülle von Lektüremöglichkeiten, denn den nun aus seiner narrativen Linearität gelösten, »geöffneten« Text kann man natürlich in alle möglichen Richtungen lesen. Die von Astruc begründete »Quellenscheidung« wird im 19. Jahrhundert zum Steckenpferd der alttestamentlichen Kritik. Zwar wird Astrucs Annahme, Mose habe den Text selbst räumlich geschrieben, bald ebenso aufgegeben wie die mosaische Autorschaft – die verschiedenen »Quellen« werden vielmehr bald genau wie bei den Evangelien in eine historische Abfolge gebracht. Wie in der synoptischen Frage tut das freilich jeder Exeget auf seine Weise, wie auch bald jeder anspruchsvolle Exeget seine eigene Aufteilung des biblischen Textes nach verschiedenen Quellen vornimmt – so dass sich schließlich Heinrich Holzinger genötigt sieht, die Aufteilungen
17 J. Astruc: Conjectures, S. 488f. Astruc verweist auch auf Maimonides’ Bericht, dass die Juden den heiligen Text in Kolumnen schreiben würden (ebd., S. 498), offensichtlich ohne je eine Tora-Rolle gesehen zu haben.
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Abbildung 8: Quellenscheidung in der Genesis nach Jean Astruc: Conjectures sur la Genèse, 1753 der einzelnen Forscher nebeneinander zu stellen (vgl. Abbildung 9). Diese Tabelle ist eine Art Diagramm zweiter Ordnung, das es erlaubt, für jede Bibelstelle gleich eine Reihe verschiedener Aufteilungen zu finden – eine Meta-Suchmaschine, die das Wissen der Kritik sichtbar und erschließbar zu machen versucht. Die »analytische« Synopse der Quellen insbesondere im Pentateuch gehört jedenfalls seitdem zum Handwerkszeug des Theologen wie die Synopse der Evangelien. Eine jüngere, immer noch gern benutzte
Abbildung 9: Quellenscheidung von Genesis bis Josua nach Heinrich Holzinger, 1893
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Form ist die erstmals 1922 erschienene Hexateuch-Synopse von Otto Eissfeldt (vgl. Abbildung 10). Das Layout der Seite ist von vornherein historisiert: Je weiter man nach rechts sieht, desto weiter entfernt man sich von der ursprünglichen, einfachen Laienquelle (ganz links) und kommt zu den
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Abbildung 10: Synoptische Übersicht über den Hexateuch nach Otto Eissfeldt, 1922
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späten rationalisierenden Schichten der Priesterschrift (ganz rechts). So erlaubt es die Synopse nicht nur, Wiederholungen zu finden – man kann sich auch darauf beschränken, nur den (behaupteten!) ältesten Text in der linken Spalte lesen oder man kann von links nach rechts den Prozess der Bibelwerdung selbst nachvollziehen. Am Prozess der Bibelwerdung, und zwar an der Konstitution einer bestimmten Form von Bibel, ist diese Synopse ganz unmittelbar beteiligt. Die leitende Metapher für den Text ist jetzt nicht mehr der Körper oder das Gewebe, geschweige denn die Musik wie in Osianders Harmonie, sondern das Mosaik: »Übernommenes und Hinzugefügtes möchte sie [die Synopse] zu anschaulicher Klarheit bringen und schon dadurch in seiner Richtigkeit zu begründen versuchen. Denn die Möglichkeit, das Hexateuch-Problem in einer klaren Lösung zur Anschauung zu bringen, birgt in der Tat starke Beweiskraft in sich. Der Hexateuch, besonders etwa die Kapitel Ex 3-4; 19-34 gleichen ja einem Durcheinander von Mosaiksteinen, die Teilchen mehrerer Bilder sind. Gelingt es, die Steinchen so zu ordnen, daß drei, vier Bilder von überzeugender Klarheit herauskommen, so trägt diese Ordnung die Gewähr ihrer Richtigkeit in sich selbst. Die Spalten der hier gebotenen Hexateuch-Synopse möchten den so wiederhergestellten Bildern gleichen.«18
Diese Metaphorik ist in zweierlei Hinsicht höchst aufschlussreich: Erstens macht sie noch einmal deutlich, dass die Quellenscheidung eigentlich keiner klar definierten Methode folgt, sondern auf einer bildlichen Evidenz beruht: Man kann sie nicht beweisen, sondern nur zeigen; wenn man sie richtig sieht, ist sie unmittelbar einleuchtend.19 Zweitens drückt gerade diese
18 Eissfeldt, Otto: Hexateuch-Synopse. Die Erzählungen der fünf Bücher Mose und des Buches Josua mit dem Anfange des Richterbuches, in ihre vier Quellen zerlegt und in deutscher Übersetzung dargeboten samt einer in Einleitung und Anmerkungen gegebenen Begründung, Leipzig: Heinrichs 1922, S. 5. 19 Sie muss daher auch »schön« sein, wie Eissfeldt schon über das Werk seines Lehrers Smend geschrieben hatte: »Gleicht die unmittelbar vor ihm gegebene Lösung der Hexateuchfrage einem durch allerlei Anbauten und Überbauten bis zur Unübersehbarkeit entstellten Grundbau, so mutet Smends Buch wie ein in seiner Gliederung klar erkennbarer gotischer Dom an, von strengen Formen und von herber Schönheit.« O. Eissfeldt: Hexateuch-Synopse, S. 4. Solche Wertun-
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Metaphorik eine wichtige Implikation der Quellenscheidung aus: dass nämlich die den Text radikal auflösenden Verfahren doch auch eine substantielle Grundlage haben, dass sie letztlich auf »echte Stücke« zurückgreifen, die, wenn auch aus dem Zusammenhang gerissen und falsch gemischt, so doch authentische Spuren sind. Es ist nicht einfach irgendein Hörensagen oder freie Phantasie, die die Texte produziert hat, sondern sie enthalten uralte Bruchstücke echter Schriften. Die Synopse ist daher auch hier nicht nur ein Verfahren, um nach den Texten der jeweiligen Quelle zu suchen und sich ihre Parallelen vor Augen zu führen – sie produziert auch Echtes, sie macht die Schrift, die sie beschreibt. Die Instrumente der kritischen Exegese sind nicht nur Hilfsmittel zum Auffinden von Stellen, sondern sie produzieren auch ein bestimmtes Wissen, das sie dann selbst in der Schrift wiederfinden können. Zumindest in einer Textkultur, das machen die vorliegenden Beispiele deutlich, sind die Instrumente der Suche von dem, was sie suchen, nicht zu trennen. Die verschiedenen »Suchmaschinen«, die für den biblischen Text entwickelt werden, sind nicht nur historisch wichtige Vorläufer späterer Formen der Suche, und zwar insbesondere dann, wenn sie wie die Kanontafeln und Synopsen nicht einfach nach bestimmten Vorkommnissen im Text, sondern nach strukturellen Äquivalenzen suchen. Sie zeigen aber vor allem, dass die Suche und ihre Werkzeuge epistemisch produktiv ist: Sie dienen nicht einfach der Erschließung von Wissensbeständen, sondern transformieren diese Bestände, indem sie jene Bestände neu formatieren und Beziehungen erscheinen lassen, an denen das Wissen sich dann herauskristallisiert. Das Wissen, das dabei entsteht, beruht nicht einfach auf der Funktionalität der Instrumente, sondern impliziert immer auch eine Erfahrung des Benutzers, eine bestimmte Such-»Ästhetik«. Das »Vor-Augen-Haben« des Textes in der Konkordanz oder in der Synopse hat eine besondere Qualität
gen sind natürlich immer umkehrbar; Volz urteilt über Eissfeldts Synopse, »daß sie gerade das Gegenteil von dem beweist, was sie beweisen will, denn die kümmerlichen Brocken von Erzählungen, die meist in den Spalten stehen, beweisen eben, daß nicht vier ursprüngliche Erzählungen bestanden, und daß diese ganze Synopse des Pentateuch das künstliche Gebilde heutiger Gelehrsamkeit ist.« Volz, Paul: »Besprechung von Eissfeldts Hexateuch-Synopse«. In: Theologische Literaturzeitung 48 (1923), Sp. 389-391, hier Sp. 390.
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und Evidenz, die sich nicht auf ein exaktes Wissen bringen lässt. Es ist daher nicht nur interessant, wie komplexe Formen der Abbildungen von Beziehungen auch auf dem Papier, im Medium des Drucks möglich sind, sondern diese Abbildung selbst hat eine zentrale Aussage für das Wissen, das hier als durchsuchbar dargestellt wird. Es ist wohl kein Zufall, dass gerade die Form des Diagramms in diesen Suchinstrumenten eine zentrale Schlüsselrolle spielt, weil es zugleich Struktur und Ähnlichkeit darstellen kann. Damit haben die Hilfsmittel für die Suche in der Bibel auch immer eine Rückwirkung auf deren Status. Indem der Text der Bibel mit anderen Texten umgeben wird, von denen hier nur einige wenige erwähnt wurden – natürlich gibt es auch Lexika aller Art, Enzyklopädien, Kommentare, Auslegungsreihen, die dem Benutzer alles Mögliche zu finden geben –, wird er für immer mehr Wissen geöffnet, bleibt aber selbst auch dessen Mittelpunkt. Er wird aufgebrochen, denn es gibt nun verschiedene Texte, je nachdem ob man den Text theologisch, narrativ oder kritisch – und nach welcher kritischen Schule? – liest, er erscheint anders, je nachdem, mit welchen Instrumenten wir in ihm suchen. Aber noch in seiner atomisierten Form, noch als Haufen von Bruchstücken dient er doch auch als Medium dieser verschiedenen Wissensfelder. Denn jede Suche, jedes Zitat, ja auch und gerade jede Erwähnung eines Verses – von Gen 1,1 bis Offb 22,21 – aktualisiert doch immer wieder die Bibel als solche, als Buch der Bücher und damit auch als Modell aller Bücher. Denn sie vollziehen immer wieder die privilegierte Handhabbarkeit der Schrift, die sie schon damals, in der Wüste, zum richtigen Mittel sowohl der Versuchung als auch ihrer Abwehr machte.
Fragen ohne Antworten Die Suche nach lokalen Informationen in der frühen Aufklärung A LIX C OOPER
In diesem Aufsatz möchte ich eine Art vormoderner Suchmaschine diskutieren, nämlich die Frageliste oder den Fragenkatalog. Während der frühen Neuzeit begannen viele universell Gebildete und virtuosi aus verschiedenen europäischen Ländern, Listen von Fragen zu verfassen und diese weithin zu verschicken. Durch diese Fragelisten, die in bestimmten Aspekten modernen Fragebögen sehr ähnelten, versuchten sie, Informationen über verschiedene Themen zu erfassen. Das war keine leichte Aufgabe, denn sie konnten natürlich nicht, wie wir heute, einfach Schlüsselwörter in eine Suchmaschine eingeben. Stattdessen mussten sie ohne geeignete mechanische Geräte ihre Fragen selbst formulieren, niederschreiben und an Menschen – nicht Maschinen – richten. In verschiedenen Sprachen hatten diese Fragen verschiedene Namen. Auf Latein, zum Beispiel, hieß eine solche Frage »Quaestio«; auf Englisch »Query«. Beide Wörter haben denselben Ursprung, nämlich die lateinische Wurzel »quaer-«, was »suchen« bedeutet. Indem die Gelehrten der frühen Neuzeit Fragen verfassten und verschickten, waren sie selbst auf der Suche – nicht nur nach besonderen Daten, sondern auch nach einer neuen Art von Wissen. In diesem Aufsatz werde ich die Art und Weise untersuchen, wie man sich – während der sogenannten wissenschaftlichen Revolution – durch das Verfassen von Fragelisten darum bemühte, die Entwicklung der Naturwissenschaften zu beeinflussen. Anhand von Beispielen aus englisch-
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und deutschsprachigen Ländern wird der Aufsatz erkunden, wie Naturforscher während des späten 17. und frühen 18. Jahrhunderts Fragen und Fragenkataloge nutzten, um lokale Informationen über die Naturgeschichte bestimmter Gegenden zu sammeln. Wie ich zeigen werde, versuchten Naturforscher durch diese Fragenkataloge das Anhäufen von Informationen fast zu ›automatisieren‹; ihre Versuche scheiterten aber in den meisten Fällen. Die Geschichte von Fragen und Fragestellungen reicht bekanntermaßen weit in die Vergangenheit zurück und ist nicht nur eng mit dem Sprechen, sondern auch mit dem Schreiben verknüpft. Um nur ein Beispiel aus der Antike zu nennen: Wollte man das Orakel von Delphi konsultieren, konnte man die jeweilige Frage aufschreiben lassen und sie dem Orakel vorlegen; die Antwort wurde dann von einem Priester interpretiert. Hier lässt sich – neben den magischen Kräften, die beteiligt waren, wenn man eine Frage aufschrieb – auch eines von vielen Fragemodellen bemerken, das in abgewandelter Form im Grunde bis heute benutzt wird; es gab aber auch viele andere Vorbilder. Wie Justin Stagl gezeigt hat, entwickelten sich schon früh zahlreiche Frage-Genres: in Mesopotamien z.B. die staatliche Befragung in Bezug auf Steuerinformationen, in Griechenland der sokratische Dialog und im mittelalterlichen Europa die Inquisition. In der frühen Neuzeit sind die unterschiedlichen Methoden der Befragung noch weiter entwickelt worden. Dafür weitere Beispiele anzuführen würde den Rahmen dieses Beitrages sprengen. Von besonderer Wichtigkeit war aber nach Stagl das um 1570 feststellbare Auftauchen eines neuen Genres, das ebenfalls auf Fragen basierte und als Apodemik bezeichnet wurde; dabei handelte es sich um Bücher über die Reisekunst. Jedes Werk enthielt Anweisungen für den Reisenden, welche Besonderheiten eines Landes er beachten sollte – oder anders gesagt, sämtliche Fragen, die er während seiner Reise anderen Personen stellen sollte. In diesen Werken können wir die Anfänge der Staatenkunde und Statistik erkennen.1
1
Vgl. Stagl, Justin: »Vom Dialog zum Fragebogen. Miszellen zur Geschichte der Umfrage«, in: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 31 (1979), S. 587-610. Vgl. auch ders.: A History of Curiosity. The Theory of Travel 1550-1800, Chur: Harwood Academic Publishers 1995; Rassem, Mohammed/Stagl, Justin (Hg.): Geschichte der Staatsbeschreibung. Ausgewählte Quellentexte 1456-1813, Berlin: Akademie-Verlag 1994.
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Während des späten 17. Jahrhunderts fand jedoch schließlich noch eine andere Art von Fragen Verbreitung, nämlich die Frageliste oder der Fragenkatalog, und darauf möchte ich mich hier konzentrieren. Das Besondere an diesen Fragen war, dass sie nicht den Staat, sondern vielmehr die Natur betrafen, und zwar vor allem die lokale Natur – u.a. die Mineralien, Pflanzen und die Tierwelt bestimmter Orte. Schon in der scholastischen Philosophie des Mittelalters gab es viele Sammlungen von Fragen über die Natur; im Mittelpunkt dieser aristotelischen Werke standen allerdings stets Fragen, die die Natur im ganz allgemeinen Sinn behandelten. Wenn scholastische Philosophen beispielsweise eine Frage über das Wachstum von Bäumen stellten, interessierten sie sich für das, was für alle Bäume zutraf. Bestimmte Bäume, die nur in bestimmten Gegenden zu finden waren und deshalb nicht zum universellen Wissen über Bäume beitragen konnten, fanden kaum das Interesse dieser Philosophen. Im 17. Jahrhundert aber fing man an, Informationen über die natürlichen Gegebenheiten spezifischer Orten zu suchen und entsprechende Fragelisten zu verfassen. Werfen wir also einen Blick auf ein Zentrum derartigen Frageverhaltens, um einen Eindruck von dieser Praxis zu gewinnen. Im London der 1660er Jahre saß ein Mann an seinem Schreibtisch und arbeitete bis spät in die Nacht. Er schickte eine Frageliste nach der anderen über den Kanal und nach Übersee an Menschen, von denen er die meisten persönlich nie kennengelernt hatte. Dieser Mann war der gebürtige Deutsche Henry Oldenburg, der aus Bremen stammte und nach den Wirren des Dreißigjährigen Krieges nach London übersiedelt war. Dort hatte er sich seinem Landsmann Samuel Hartlib in dessen utopischen Bemühungen angeschlossen, das englische Wissenschafts- und Geistesleben, das während des englischen Bürgerkrieges aufgeblüht war, zu erneuern. Zur gleichen Zeit hatte er begonnen, einen umfänglichen Briefwechsel mit Gelehrten auf dem Kontinent in Gang zu bringen, der sich letztlich über fast ganz Europa erstreckte. Nach der Gründung der »Royal Society of London for the Improvement of Natural Knowledge« (im Jahre 1660) setzte er seine Tätigkeit als selbsternannter »Intelligencer« fort, indem er sich unter Berufung auf seine europäischen Kontakte im Jahre 1662 als Sekretär der Royal So-
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ciety anstellen ließ. In der Folge wurde er bald Herausgeber ihrer Zeitschrift Philosophical Transactions.2 Als Herausgeber dieser Zeitschrift veröffentlichte Oldenburg in ihr zahlreiche Briefe und Berichte aus ganz Europa. Vieles aber, das er druckte, stammte direkt von einer kleinen Gruppe der Royal-Society-Gründer, mit denen er in engem Kontakt stand. In den ersten Monaten nach der Gründung der neuen Gesellschaft hatte sich diese versammelt und Fragelisten verfasst, die sie allen Mitgliedern schicken wollte. Diese Gruppe stützte sich auf die Gedanken des englischen Philosophen Francis Bacon, der sämtliche Daten der Welt sammeln wollte, damit daraus eine wahre Philosophie entwickelt werden könnte. Mit Hilfe der Zeitschrift konnte endlich ein Schritt gesetzt werden, um alle Mitglieder der Royal Society zu erreichen. Am 2. April 1666 veröffentliche Oldenburg in den Philosophical Transactions einen Aufsatz – im Grunde eher eine Ansammlung von Fragekategorien – mit dem Titel General Heads for a Natural History of a Countrey, Great or Small (Allgemeine Kategorien für eine Naturgeschichte eines Landes, sei es groß oder klein).3 Der Autor war der berühmte englische Chemiker Robert Boyle, der sein ganzes Haus in ein großes Laboratorium umgewandelt hatte. Das Vorwort war »for the direction of Inquirers« (»zur Orientierung der Fragesteller«) von Oldenburg verfasst worden. Er erklärte darin den Lesern, dass »das Schreiben einer guten Naturgeschichte« notwendig sei, weil man darauf »endlich eine solide und nützliche Philosophie aufbauen könnte«. Um das zu ermöglichen, habe Boyle seine »Articles of inquisition« verfasst, damit jedes Mitglied der Royal Society die richtigen Fragen stellen könne. Egal wo sich ein Mitglied befand – in London, einem kleinen Dorf im Norden Englands oder auch in einer weit entfernten Kolonie –, konnte es zur Entwicklung einer neueren und besse-
2
Hall, Marie Boas: Henry Oldenburg. Shaping the Royal Society, Oxford: Ox-
3
Boyle, Robert: »General Heads for the Natural History of a Countrey, Great or
ford University Press 2002. Small«, in: Philosophical Transactions 11 (April 1666), S. 186-189, später ergänzt und veröffentlicht als: General Heads for the Natural History of a Country, Great or Small; Drawn out for the Use of Travellers and Navigators, London: John Taylor 1692. Vgl. Hunter, Michael: »Robert Boyle and the Early Royal Society: A Reciprocal Exchange in the Making of Baconian Science«, in: British Journal for the History of Science 40 (2007), S. 1-23.
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ren Naturwissenschaft beitragen, indem es diese Fragen beantwortete und die gewünschten Daten über seine Umgebung an die Royal Society schickte. Man versuchte eine Art kollektiven Empirizismus oder eine »coordinated observation« (Lorraine Daston) einzurichten.4 Schon im vorangehenden Jahrhundert hatten Naturhistoriker einander europaweit gelegentlich Fragelisten zu Pflanzen, Tieren, Mineralien und anderen Phänomenen ihrer jeweiligen Regionen zugeschickt. Freilich hatte das Schreiben der Briefe, die diese Fragen enthielten, viel Zeit in Anspruch genommen. Und jeder einzelne Brief war nur an einen bestimmten Empfänger gerichtet, auch wenn er häufig de facto mehr als einen Leser gehabt haben dürfte.5 Durch das Drucken von Boyles General Heads in den Philosophical Transactions versuchten Boyle und Oldenburg, die naturwissenschaftliche Fragestellung – und dabei auch die naturwissenschaftliche Forschung – gewissermaßen zu ›automatisieren‹. Indem sie standardisierte Listen von Fragen druckten und sodann an alle Mitglieder verschickten, konstruierten sie eine Art von Mechanismus, der die Arbeit der Royal Society nicht nur erleichtern, sondern auch nachhaltig verändern konnte. Die Entwicklung verlief jedoch nicht so, wie Boyle und Oldenburg es erhofft hatten. Obwohl Oldenburg beziehungsweise die Philosophical Transactions zahlreiche Berichte erhielten, lieferten nur wenige von diesen Antworten auf die Fragen, die Boyle eigentlich gestellt hatte. Und noch weniger Berichte wurden aus dem Ausland eingeschickt, ganz entgegen Oldenburgs ursprünglichem Wunsch. So begann er damit – zunächst behutsam, dann etwas offensiver –, Briefe zu schreiben, in denen er ausländischen Gelehrten Fragen nach dem Vorbild Boyles stellte. Es konnte zu dieser Zeit jedoch durchaus gefährlich sein, Nachrichten aus anderen Ländern einzuholen; mehr als einmal geriet Oldenburg in den Verdacht der Spionage.6 Dennoch nutzte Oldenburg während der 1660er und 1670er Jahre seine Funktion als »Chef-Korrespondent« der Royal Society, um wiederholt An-
4
Vgl. Daston, Lorraine: »The Empire of Observation, 1600-1800«, in: Lorraine Daston/Elizabeth Lunbeck (Hg.), Histories of Scientific Observation, Chicago: University of Chicago Press 2011, S. 81-113, hier S. 89-90.
5
Vgl. Ogilvie, Brian: The Science of Describing. Natural History in Renaissance Europe, Chicago, IL: University of Chicago Press 2011.
6
Vgl. McKie, Douglas: »The Arrest and Imprisonment of Henry Oldenburg«, in: Notes and Records of the Royal Society of London 6 (1948), S. 28-47.
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fragen über andere Orte zu stellen. Vielleicht würden Gelehrte nur auf eine individuell zugeschnittene Frageliste antworten, dachte er, die speziell auf das jeweilige Land abgestimmt war. Wenn wir Oldenburgs Bemühungen um Antworten auf seine Fragen sowie auch seine äußerst spärlichen Erfolge bei diesen Versuchen betrachten, können wir einige der Konflikte und Spannungen erkennen, die Fragestellungen zu dieser Zeit begleiteten. Oldenburgs Korrespondenz mit dem berühmten Astronomen Hevelius, der in der Hafenstadt Danzig (heute GdaĔsk) im fernen West-Preußen (dem heutigen Polen) lebte, verrät die Methodik, mit der er Erkundigungen für seine Fragelisten einholte. Gleichzeitig erhellt sie einige der Gründe seiner Briefpartner dafür, warum diese seinen Bitten nur zögerlich Folge leisteten. Anstatt in ihrer Muttersprache (nämlich Deutsch) zu korrespondieren, verfasste Oldenburg seine Briefe an Hevelius in Latein, der internationalen Wissenschaftssprache. Diese Briefe beschränkten sich jedoch nicht auf astronomische Themen, für die sich Hevelius, der soeben ein Observatorium auf seinem Dach konstruiert hatte, vorrangig interessierte;7 vielmehr waren sie mit großzügig eingestreuten Fragen zur Naturgeschichte Preußens versehen. Noch bevor Oldenburg erstmals Kontakt mit Hevelius aufnahm, lassen sich seine Gedanken in einem Brief verfolgen, den er am 27. Januar 1666 an Boyle schrieb: »Unser Plan ist es zu sammeln, was sich im Ausland befindet, indem wir unsere Korrespondenz überallhin nach Kräften erweitern.«8 Etwa einen Monat später berichtete Oldenburg Boyle, dass er vorhabe, »in wenigen Tagen an Hevelius zu schreiben, um ihn dazu zu gewinnen, uns einen Bericht über die Herstellung von Pottasche sowie über die Steinsalz-Minen in Polen zu geben oder zu beschaffen. Sollte Ihnen noch etwas anderes einfallen, wonach es in Preußen, Polen, Livland zu erkundigen sich lohnt, bitte ich Sie, es mich wissen zu
7
Vgl. Shapin, Steven: A Social History of Truth: Civility and Science in Seventeenth-Century England, Chicago, IL: University of Chicago Press 1994, S. 272308.
8
»[…] we intend to collect what is abroad, by enlarging our Correspondencies every where, we can.« Hall, Rupert A./Hall, Marie Boas (Hg.): The Correspondence of Henry Oldenburg, Bd. 3: 1666-67, Madison/London: University of Wisconsin Press 1966, S. 32.
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lassen, und ich werde es weiterleiten. Einige Fragen über Bernstein wären für jene Regionen nicht verkehrt.«9
Oldenburg hoffte demnach, dass Hevelius sich als Korrespondent der Royal Society zur Verfügung stellen würde, und zwar nicht nur in Bezug auf die Naturgeschichte Preußens, sondern auch der angrenzenden baltischen Regionen. Er betrachtete es als die Pflicht eines jeden virtuoso oder Mitglieds der Wissenschaftsgemeinschaft, einen Beitrag zur Sammlung naturhistorischen Wissens zu leisten – sei es aus eigener Forschung oder durch das Einholen von Informationen bei anderen Personen. Folglich formulierte Oldenburg in seinem Brief an Hevelius vom 30. März 1666 Fragen, die ihm seit längerer Zeit durch den Kopf gegangen waren. »Hier ist die Liste derer, die Mitglieder unserer wissenschaftlichen Gemeinschaft sind [d.h. der Royal Society]. […] Und da diese sich sämtlich zuvörderst auf dem Gebiet der Naturgeschichte betätigen und zu diesem Zwecke überall damit befasst sind, jene Dinge aufzuspüren, mit denen die Natur die verschiedenen Regionen bereichert, vertrauen wir darauf, dass auch Sie etwas dazu beisteuern. Zu diesem Zwecke finden Sie beiliegende Fragelisten. Wir möchten Sie aufrichtig darum bitten, die entsprechenden Antworten entweder selbst zu geben oder sie aber bei Freunden einzuholen, mit denen Sie gegebenenfalls in Preußen, Polen, Schweden oder dem Moskauer Staat in brieflichem Kontakt stehen.«10
9
»I intend, within a few dayes, to write to Hevelius, and to engage him to give or procure us an Account of ye way of making Potashes, and of ye SalgemmaeMines in Poland. If any thing else come in yr mind, worthy to be inquired after in Borussia, Poland, Liefland, I pray, send it to me, and I shall diligently recommend it. Some Enquiries about Amber would not be amisse for those parts.« Ebd., S. 47.
10 »Here is your list of those who are citizens of our scientific community [i.e. members of the Royal Society]. […] And as they are first of all engaged upon natural history, and to that end are busy in seeking out in all parts those things with which Nature enriches different regions, we trust you to add your contribution. For this purpose, you see the annexed queries; we earnestly beg you either to prepare answers to these yourself or to procure them from friends with whom,
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Anhand der Fragelisten, die er vorlegte, wird erkennbar, dass Oldenburg versuchte, Hevelius’ Bemühungen auf Gegenstände zu lenken, die in London auf ein besonderes Interesse stießen. Gleichzeitig wird aber auch deutlich, dass Oldenburg in seinem Brief die Forschungsfelder, für die Hevelius verantwortlich gemacht werden sollte, beträchtlich ausweitete, indem er nicht nur Polen, sondern auch den »Moskauer Staat«, also das Russische Reich, einbezog. Oldenburg forderte also Informationen in einem Ausmaß, das Hevelius’ Möglichkeiten bei Weitem überstieg und auch von jedem anderen Bewohner des Baltikums nicht hätte bewältigt werden können. Mehrere Monate später antwortete Hevelius, dass er von einer astronomischen Kontroverse derart in Anspruch genommen sei, dass er sich naturgeschichtlichen Fragen kaum widmen könne. Im letzten Absatz seines Antwortschreibens erklärte er jedoch, dass er an dem Problem arbeiten wolle und dass er bereits einige Freunde von Oldenburgs Fragelisten in Kenntnis gesetzt hätte.11 Dieser anfängliche Schriftverkehr gab das Muster für die verbleibende Korrespondenz zwischen Oldenburg und Hevelius vor. Wiederholt drängte Oldenburg Hevelius, ihm Antworten auf seine Fragen zu senden, während er ihm in einem Brief vom 24. August 1666 hoffnungsvoll mitteilte, dass »wir inzwischen sehr glücklich sind, dass Sie mit Ihrem Beitrag zur Vorbereitung einer Naturgeschichte derart fortgeschritten sind.«12 Mehrere Wochen später fügte er besorgt hinzu: »Vergessen Sie bitte derweil nicht die Punkte, die ich Ihnen anempfohlen habe bezüglich der Naturgeschichte, gewissen physikalischen Belangen sowie der Beschaffung eines literarischen Schriftwechsels aus Ihren nördlichen Breiten.«13
perhaps, you correspond in Borussia, Poland, Sweden, and Muscovy.« Ebd., S. 73, 76. 11 Brief vom 23.06.1666; ebd., S. 170, 172. 12 »[M]eanwhile, we are very glad that you are so far forward in making your contribution towards preparing a Natural History.« Brief vom 24.08.1666, ebd., S. 216, 219. 13 »[M]eanwhile you will not forget those points I commended to you, concerning Natural History, certain matters in physics, and the procurement of a literary correspondence in your northern clime.« Ebd., S. 223, 224.
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Hevelius’ Antworten an Oldenburg lassen ein gewisses Schuldgefühl bezüglich seines verspäteten Reagierens auf die Fragen der Royal Society erkennen. In einem Brief vom 19. Oktober 1666 unternahm er einen knappen Versuch, die Fragen zu behandeln, indem er einen Absatz anfügte, der ausschließlich Antworten enthielt. Dennoch wich er im Großen und Ganzen seiner Aufgabe aus, indem er behauptete, er habe die Fragelisten an Bekannte weitergereicht. Insbesondere äußerte er Bedauern über sein mangelndes Wissen, was Bernstein betraf, betonte jedoch, dass er sich auf eine Reise nach Königsberg freue, wo er mehr über jene Kostbarkeit des Baltikums in Erfahrung zu bringen hoffe.14 Oldenburg war indes kaum von Hevelius’ Antworten befriedigt. Man kann dies dem sanften Tadel entnehmen, den sein Brief an Hevelius vom 27. Februar 1667 enthält: »Die sowohl von Ihnen als auch von einigen Ihrer Freunde eingereichten Antworten auf einige unserer Fragen sind treffend und präzise; wir wünschen uns sehr, dass auch die restlichen Fragen mit derselben Ernsthaftigkeit behandelt werden. Dieses Jahr war das Wetter dafür äußerst geeignet, und so haben wir keinen Zweifel, dass sich Ihre Freunde – auf Ihre Bitten hin – mit aller Macht den noch ausstehenden Fragen widmen werden.«15
Ein halbes Jahr später, am. 11. Oktober 1667, schrieb Oldenburg erneut an Hevelius und äußerte seine Verwunderung darüber, inzwischen noch immer keine weitere Antwort erhalten zu haben. »Schon naht der Winter, jene Jahreszeit also, um erfinderische Köpfe überall in Ihren Breiten dazu anzuhalten, sich – mittels sorgfältiger Beobachtung und Experimenten – um Antworten auf unsere verbleibenden Fragen zu den Themen Gold,
14 Ebd., S. 248f., 255. 15 »The answers to some of our questions returned both by yourself and some of your friends are apt and acute; we greatly wish that the remainder may be satisfied in the same sincere manner. This year’s weather has been most fit for so doing; and we have no doubt but that your friends will, at your request, apply themselves with all their might to the outstanding ones.« Ebd., S. 350, 353.
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Bernstein und Pottasche sowie ihren jeweiligen Verarbeitungsverfahren zu bemühen.«16
An diesem Punkt bricht Oldenburgs Schriftverkehr mit Hevelius ab, und es ist nicht belegt, ob Oldenburg je in den Besitz der begehrten Informationen zur baltischen Naturgeschichte gelangt ist. Offenkundig war Hevelius, was dies anging, kein zufriedenstellender Briefpartner. Ob dies in Hevelius’ Verdacht begründet lag, dass Oldenburgs Fragelisten an Spionage grenzten, oder ob er schlicht und einfach mit seinen eigenen astronomischen Forschungen beschäftigt war, lässt sich heute nicht mehr entscheiden. Zweifellos jedoch ist es Oldenburg nicht gelungen, bei Hevelius ein nachhaltiges Interesse an der Naturgeschichte seiner Region zu wecken – geschweige denn, ihn dazu zu bewegen, ein solches in größerem Umfange und mit Engagement zu verfolgen beziehungsweise es einem größeren Kreis von Gelehrten zugänglich zu machen. Ähnliche Probleme traten mit vielen anderen Korrespondenten von Oldenburg auf. Wie oft er auch Fragen schickte oder Fragen über diese Fragen stellte, er bekam nur unbefriedigende Antworten – wenn er überhaupt welche erhielt; die Suche nach Wissen blieb häufig erfolglos. Ähnliches geschah – um noch ein abschließendes Beispiel aus dem deutschsprachigen Raum zu nennen – im Umkreis von Johann Jakob Scheuchzer, einem Schweizer Arzt aus Zürich. Heute kennt man ihn – wenn überhaupt – als den Verfasser einer üppig bebilderten Physica Sacra und ähnlicher Werke der Physikotheologie.17 Am Anfang seiner Karriere stand jedoch eine Frageliste: 1699 hatte Scheuchzer gerade seinen Doktor der Medizin erworben, als er von seinen Auslandsstudien nach Zürich zurückkehrte und eine als Charta Invitatoria betitelte Frageliste zur schweize-
16 »Winter now approaches, which is the season for urging ingenious men everywhere in your parts to strive after replies to the rest of our questions about gold, amber, and potashes and the way of preparing them, based on careful observation and experiment.« Ebd., S. 515, 516. 17 Eine gute Analyse von Scheuchzers Werken findet sich in: Kempe, Michael: Wissenschaft, Theologie, Aufklärung. Johann Jakob Scheuchzer (1672-1733) und die Sintfluttheorie, Epfendorf: Bibliotheca Academica 2003.
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rischen Naturgeschichte verfasste und drucken ließ.18 In dieser Liste, die 186 nummerierte Fragen enthielt, stellte er Fragen über eine ganze Reihe von naturhistorischen Themen, z.B. den exakten Längen- und Breitengrad der Schweiz, ihre Geographie, insbesondere ihre Gletscher, ihre Mineralien, Pflanzen und Tiere sowie Fragen über die schmackhaftesten Käsesorten. Welche Antworten Scheuchzer auch immer auf seine Fragen bekommen haben mag – es ist unzweifelhaft, dass einige deutschsprachige Leser aus gebildeten Schichten von Scheuchzers Vorbild dazu inspiriert wurden, anderen Menschen Fragen zur Naturgeschichte ihrer eigenen Territorien zu stellen.19 Diese Leser waren über die deutschsprachigen Länder verstreut, darunter Urban Gottfried Bucher aus Dresden, Peter Wolfart aus Hessen sowie Johann Jockusch aus Mansfeld. Sie alle riefen ihr jeweiliges Umfeld dazu auf, ihnen bei der Sammlung naturhistorischer Daten behilflich zu sein. Letztendlich jedoch scheiterten alle diese Pläne, weil zu wenige Menschen tatsächlich bereit waren, die ihnen gestellten Fragen zu beantworten.20 Der Fragebogen blieb somit oftmals leer. Ziehen wir ein Fazit: Fragelisten gewannen in gelehrten Kreisen in der frühen Neuzeit und besonders zu Beginn der Aufklärung zunehmend an Beliebtheit. Wissenschaftler – insbesondere auf naturwissenschaftlichem Gebiet – nutzten sie, um Wissen über Phänomene und Gegebenheiten zu erlangen, das ihnen auf anderem Wege unzugänglich geblieben wäre. In einigen Fällen versuchten sie das Verfahren sogar zu ›automatisieren‹, indem sie Fragelisten drucken ließen, sei es in Zeitschriften oder als separate Bögen, die an tatsächliche oder potentielle Briefschreiber verteilt werden sollten. Sämtliche Indizien scheinen darauf hinzudeuten, dass diese Versuche, den Befragungsprozess zu ›automatisieren‹, fehlschlugen. Angesichts der Tatsache, dass den damaligen Naturforschern keine Möglichkeiten zur Verfügung standen, den Befragungsprozess zu kontrollieren – etwa in Form von staatlicher Macht – blieb ein Großteil der Fragen unbeantwortet. Der Weg bis zur heutigen Suchmaschine war noch weit.
18 Vgl. Scheuchzer, Johann Jakob: Charta Invitatoria, Quaestionibus, quae Historiam Helvetiae Naturalem concernunt, praefixa, Zürich 1699. 19 Vgl. Cooper, Alix: Inventing the Indigenous. Local Knowledge and Natural History in Early Modern Europe, Cambridge: Cambridge University Press 2007, S. 131-151. 20 Ebd.
Herrschaftsordnung, Datenordnung, Suchoptionen Recherchemöglichkeiten in Staatskalendern und Staatshandbüchern des 18. Jahrhunderts V OLKER B AUER
Ein Großteil der typographischen Suchmaschinen des 18. Jahrhunderts diente der Suche nach Personen.1 Dies trifft etwa auf die Gelehrtenlexika,2 aber auch auf die Zedlersche Enzyklopädie3 und natürlich die reichhaltige
1
Tatsächlich war neben der Personensuche allenfalls die Literaturrecherche von vergleichbarer Bedeutung; die präziseste, komplexeste und umfassendste, Bibliographie und Citation Index kombinierende Suchmaschine auf letzterem Gebiet war wohl Ersch, Johann Samuel: Allgemeines Repertorium der Literatur für die Jahre 1785 bis 1800, 8 Bde., Jena: Expedition der allgemeinen Literatur-Zeitung/Weimar: Industrie-Comptoir 1793-1807 (Neudruck: Bern: Herbert Lang 1969-1970); dazu Näheres bei Habel, Thomas: »Gelehrte Journale« der Aufklärung. Zur Entstehung, Entwicklung und Erschließung deutschsprachiger Rezensionszeitschriften des 18. Jahrhunderts, Bremen: edition lumière 2007, S. 327331.
2
Dazu etwa Schneider, Ulrich Johannes (Hg.): Jöchers 60.000. Ein Mann, eine Mission, ein Lexikon (= Schriften aus der Universitätsbibliothek Leipzig, Band 11), Leipzig: Universitätsverlag 2008.
3
Vgl. Dorn, Nico/Oetjens, Lena/Schneider, Ulrich Johannes: »Die sachliche Erschließung von Zedlers ›Universal-Lexicon‹. Einblicke in die Lexikographie des
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Adressbuchliteratur der Zeit zu.4 Dieser sind im Grunde auch die Hof- und Staatskalender (in der Forschung auch Amtskalender genannt) zuzurechnen.5 Bei ihnen handelt es sich um eine Kombination aus einer Liste der höfischen, administrativen und gegebenenfalls militärischen Amtsträger zumeist eines Herrschaftsgebietes einerseits und einem gleichsam das Trägermedium bildenden Kalender andererseits. Beiden Elementen ist gemeinsam, dass sie nicht zum linearen Lesen, sondern zur punktuellen, kurzfristigen Konsultation gedacht sind und insofern Einzelinformationen bereitstellen. Die Kalenderförmigkeit der Gattung wird freilich – abgesehen von der dadurch bedingten jährlichen Periodizität – im Folgenden keine Rolle spielen, obwohl gerade die erstaunliche Leistungsfähigkeit des frühneuzeitlichen Kalenders als Datenspeicher eine eingehendere Betrachtung verdiente.6 Die Nichtberücksichtigung dieses Aspekts ermöglicht aber die Einbeziehung auch jener Amtsverzeichnisse, die keinen Kalenderteil besaßen und von den Zeitgenossen meist Staatshandbücher genannt wurden. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen werden die Behördenverzeichnisse stehen, welche das Hof-, Verwaltungs- und Militärpersonal jener Landesherrschaften auflisten, in denen und für die eine einschlägige Serie herausgegeben wurde. Das Untersuchungsgebiet beschränkt sich auf das Alte Reich. Nachdem zunächst (1.) Entstehung, Verbreitung und die Hauptmerkmale der Hof- und Staatskalender insgesamt umrissen werden, behan-
18. Jahrhunderts«, in: Das achtzehnte Jahrhundert 32 (2008), S. 96-123, hier S. 99 und 103f. 4
Vgl. als Überblick Shaw, Gareth/Coles, Tim: A Guide to European Town Directories, Bd. 1: Germany, Austria, Switzerland and Scandinavia, Aldershot: Ashgate 1997.
5
Zu Bibliographie und Gattungsgeschichte Bauer, Volker: Repertorium territorialer Amtskalender und Amtshandbücher im Alten Reich. Adreß-, Hof-, Staatskalender und Staatshandbücher des 18. Jahrhunderts, 4 Bde. (= Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bände 103, 123, 147, 196), Frankfurt a.M.: Klostermann 1997-2005.
6
Dazu die Beobachtungen bei Bauer, Volker: »Hof- und Staatskalender des 18. Jahrhunderts als Datenspeicher. Information, Wissen, Erschließung«, in: Frank Grunert/Anette Syndikus (Hg.), Erschließen und Speichern von Wissen in der Frühen Neuzeit. Formen und Funktionen, Berlin: Akademie-Verlag (voraussichtlich) 2012.
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delt der nächste Abschnitt (2.) die Erhebung, Verarbeitung, Ordnung und Erschließung der darin überlieferten Personaldaten, indem er sie als Datensätze einer Datenbank versteht. Danach geht es (3.) um die über die einzelnen Kalenderserien hinausgehende Sekundärspeicherung der einzelnen Datensätze in Sammlungen, Bibliographien und Kompilationen, welche deren Weiterverarbeitung etwa im Hinblick auf quantitative Fragestellungen erlaubt, bevor (4.) ein kurzes Resümee die Rolle des Buchmarktes als Datenumschlagsort skizziert. Der Ertrag dieses Vorgehens liegt vor allem darin, auf den ursprünglichen Konnex zwischen der Herrschaftsordnung in den jeweiligen politischen Einheiten und der Datenordnung in den dazugehörigen Hof- und Staatskalendern aufmerksam zu machen und die nachträgliche staatenkundliche Umfunktionalisierung der Gattung aufzuzeigen.
1. T ERRITORIALE AMTSVERZEICHNISSE ALS E LEMENT DER H ERRSCHAFTSREPRÄSENTATION Im Jahre 1692 erschien die erste Ausgabe des Wiener Hof- und Ehrenkalenders, der damit die älteste Amtskalenderserie im Alten Reich darstellt.7 Allerdings besaß diese Reihe endgültig erst ab 1715 ein regelrechtes Behördenverzeichnis, während sie bis dahin eine Publikation zum Gebrauch am Kaiserhof darstellte und deshalb die dortigen Galatage enthielt. Die Entwicklung vom Kalender mit hofspezifischen Informationen zum Staatskalender war jedoch nur ein möglicher Weg der Entstehung. Die meisten einschlägigen Serien wurden von vornherein als Amtsverzeichnis, also mit dem Ziel der Publikation von Personallisten, konzipiert. Dies gilt etwa für die zweitälteste, gleichfalls in Wien beheimatete Reihe (Kaiserlicher, Königlicher und Erzherzoglicher Staats- und Standeskalender ab 1701) ebenso wie für das kursächsische Jetztlebende Dresden (1702), den Berliner Adresskalender (1704) und das Jetztlebende Nürnberg (1705/06). Eine dritte Gründungsmöglichkeit bestand darin, einen bereits etablierten Volkskalender durch die Integration von Behördenverzeichnissen zum Staatskalender umzuwandeln. Das geschah insbesondere seit den 1760er Jahren, als auch
7
Sämtliche Jahrgänge der territorialen Serien sind verzeichnet in V. Bauer: Repertorium, Bd. 1-3. Die im folgenden Fließtext genannten Serien werden nach den dortigen Kurztiteln zitiert.
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zahlreiche kleinere Territorien bis hinunter zu den Reichsgrafschaften auf diese Weise einen Amtskalender hervorbrachten, so etwa den Osnabrückischen Stiftskalender oder den Schaumburg-Lippischen Kalender, die seit 1761 bzw. 1767 über Personallisten verfügten. Auf diese drei Arten entstanden, stets auf Initiative der jeweiligen Herrschaftsträger, vom späten 17. Jahrhundert bis zum Ende des Alten Reiches 1806 in insgesamt 74 Territorien 110 Amtsverzeichnisserien mit 3.038 überlieferten Jahrgängen.8 Die klassische Definition der Gattung findet man bei dem führenden Experten des 18. Jahrhunderts. In seiner Monographie Ueber Staats- und Adress-Calender von 1792 bestimmte Joachim von Schwarzkopf (1766– 1806) als deren Kern ein »unter öffentlicher Aufsicht« erstelltes, »systematisch geordnetes Nahmensverzeichniss von Persohnen, welche gegen den Staat in besonderer Verpflichtung stehen«.9 Entscheidend ist also zum einen der inhaltliche Aspekt, d.h. das Vorhandensein von Personallisten, und zum anderen der offizielle Charakter der betreffenden Serien. Die Amtlichkeit der Hof- und Staatskalender ergab sich jedoch nicht allein aus dem abstrakten Anspruch auf autorisierte Informationen, sondern verdankte sich ganz konkreten obrigkeitlichen Eingriffen, welche in vielfältiger Weise Entstehung, Anfertigung, Druck, Verlag und Absatz der Publikationen steuerten.10 Beide Charakteristika des Amtsverzeichniswesens, die bisweilen über Hunderte von Seiten laufende, sorgfältig strukturierte Inventarisierung des Herrschaftsapparats eines Territoriums ebenso wie die angestrebte, faktische oder von den Rezipienten auch nur unterstellte amtliche Verbindlichkeit der enthaltenen Informationen, machten das Genre zu einem Element der Herrschaftsrepräsentation. Die Herausgabe eines Staatskalenders dokumentierte den Anspruch einer Landesherrschaft, als Mitglied im Kollegium der Reichsstände anerkannt und so auch als Wettbewerber um höfisches Prestige innerhalb der europäischen Fürstengesellschaft ernst genommen zu werden. Die Verbreitung einschlägiger Reihen im Alten Reich wurde also von der wachsenden Notwendigkeit angetrieben, über ein solches offizielles oder doch offiziöses Organ zu verfügen. Folgerichtig waren es zunächst
8
Dazu im Einzelnen V. Bauer: Repertorium, Bd. 3, S. 15-25 und Bd. 4, S. 14.
9
Schwarzkopf, Joachim von: Ueber Staats- und Adress-Calender. Ein Beytrag zur Staatenkunde, Berlin: Heinrich August Rottmann 1792, S. 24f.
10 V. Bauer: Repertorium, bes. Bd. 1, S. 23-35.
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auch die bedeutenderen Territorien, die einen eigenen Staatskalender hervorbrachten, bis im Jahr 1760 in Trier als letztem Kurfürstentum so eine Reihe eingerichtet wurde. Die spätesten Gründungen betrafen dann überwiegend Zwergstaaten wie Anhalt-Bernburg und Hohenlohe (1801) sowie Liechtenstein und Lippe (1803), so dass schließlich das Fehlen eines Amtsverzeichnisses erklärungsbedürftig wurde, etwa im Herzogtum Braunschweig-Wolfenbüttel seit der Mitte des 18. Jahrhunderts.11 Der Erfolg dieser Nachschlagewerke zeigt sich überdies auch in der Tatsache, dass sie sich auf weiteren politischen Ebenen etablieren konnten, und zwar als subterritoriale Provinzialkalender einerseits und als reichische, territoriumsübergreifende Amtsverzeichnisse andererseits.12 Voraussetzung für die Instrumentalisierung der Hof- und Staatskalender für die politische Repräsentation fürstlicher Herrschaft aber war eine ganz zentrale Eigenschaft, die schon in Schwarzkopfs Definition vorkam: nämlich ihre systematische Ordnung.
2. G ESTEUERTE S UCHE : S TAATSKALENDER UND S TAATSHANDBÜCHER ALS D ATENBANKEN Innerhalb der einzelnen Staatskalender oder Staatshandbücher sind die Behördenverzeichnisse meist deutlich abgesetzt. Sie werden häufig durch ein Zwischentitelblatt eingeleitet und können im Gegensatz zu den anderen, in der Regel unpaginierten Rubriken (z.B. Kalenderteil, astrologische Praktik) eine Seitenzählung aufweisen. Äußerlich erscheinen sie als schier endlose, aber dennoch durch Zwischenüberschriften, Typenwahl und Schriftauszeichnungen minutiös untergliederte Listen von Amtsträgern. Sie lassen
11 Dazu Bauer, Volker: »›Noch Etwas über die Nichtexistenz eines Wolfenbüttelschen StaatsKalenders‹. Ein Erklärungsversuch«, in: Peter Albrecht/Holger Böning (Hg.), Historische Presse und ihre Leser. Studien zu Zeitungen und Zeitschriften, Intelligenzblättern und Kalendern in Nordwestdeutschland (= Presse und Geschichte – Neue Beiträge, Band 14), Bremen: edition lumière 2005, S. 265-280. 12 Zu den Provinzialkalendern V. Bauer: Repertorium, Bd. 1, S. 4 und Bd. 3, S. 4f; zur Reichsebene ebd., Bd. 4.
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sich als typographische Datenbanken analysieren,13 die in einigen Fällen mehrere tausend Datensätze enthalten. Jeder einzelne Datensatz koppelt zwei Elemente aneinander, erstens die Amtsbezeichnung und zweitens den Namen des Amtsinhabers, und es existiert jeweils nur eine individuelle Kombination beider Bestandteile, auch wenn diese selbst mehrmals vorhanden sein können. Der duale Charakter der Datensätze erlaubt zwei Alternativen zur Ordnung des Datenmaterials: Zum einen kann es nach den Amtsbezeichnungen arrangiert werden, und dann liegt es nahe, in gedruckter Form die interne Organisationsstruktur der Ämter, Funktionen, Instanzenzüge und Geschäftsverteilungen abzubilden. Zum anderen kann es anhand der Namen sortiert werden, und dies impliziert eine alphabetische Reihenfolge. Im Falle der Staatskalender ist jedoch fast durchgängig die erste, von den Zeitgenossen »systematische Ordnung« genannte Option gewählt worden, und tatsächlich markiert diese Methode klar die Grenze zum ansonsten eng verwandten Genre der vor allem auf die Gewerbetreibenden zielenden Stadtadressbücher, welche sich meist der »alphabetischen Ordnung« bedienten14 (und nur vereinzelt schon die topographische Ordnung der Straßen und Häuser zugrundelegten15). Zwei Gründe waren ausschlaggebend für die Bevorzugung des systematischen Zugriffs: Dieser sei, so etwa die Vorrede zum Staatshandbuch des Schwäbischen Kreises von 1793, »leerreicher und anständiger« als die alphabetische Sequenz. Das erste Argument geht direkt auf Schwarzkopf zurück,16 der postuliert, eine systematische Ordnung sei sachgerechter als ein alphabetischer Aufbau, da sie dem »Hauptzweck« der Staatskalender entspreche, neben der »Kenntniß des Personale der herrschaftlichen Bedien-
13 Hierzu und zum Folgenden auch Bauer, Volker: »›Prachtliebe‹ und ›Publicität‹. Thüringische Hof- und Staatskalender des 18. Jahrhunderts«, in: Konrad Scheurmann/Jördis Frank (Hg.), Neu entdeckt. Thüringen – Land der Residenzen, Bd. 3: Essays, Mainz: Philipp von Zabern 2004, S. 134-145, hier S. 136f. 14 Diese Begriffe werden einander gegenübergestellt im Staats= und Addresshandbuch des Schwäbischen Reichskreises auf das Jar 1793, Ulm: Stettinische Buchhandlung 1793, S. V. 15 So ab 1799 in Berlin laut Peter Gebhardt: Die Anfänge des Berliner Adreßbuches. Ein bibliographischer Versuch, Berlin 1930, S. 4-6. 16 Addresshandbuch des Schwäbischen Kreises 1793, S. V.
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ten« auch die »des Mechanismus der Landesverwaltung« zu vermitteln.17 Die administrativen Zuständigkeiten und funktionalen Zusammenhänge aber bleiben nur bei einer systematischen Darstellung intakt und erkennbar. Das Anstandsargument belegt, dass die Adels- und Fürstengesellschaft bis weit ins 18. Jahrhundert hinein auf einem spezifischen Decorum bestand, welches auch den Auftritt der einzelnen sozialen Gruppen in Druckwerken regulierte.18 Eine alphabetische Aufzählung nivellierte Rang, Titel und Privilegien und wurde als Verstoß gegen das Gebot der Standesgemäßheit wahrgenommen. Damit ist auch erklärbar, wieso die Entscheidung für eines der beiden Strukturierungsprinzipien durchaus drastische Konsequenzen haben konnte. Denn das frühzeitige Ende der braunschweig-wolfenbüttelschen Amtsverzeichnisse mag z.B. wenigstens teilweise darauf zurückführen sein, dass die 1721 gewählte Gliederung der aufgeführten Staatsdiener »nach dero Range« im Jahr 1725 durch die weniger attraktive oder gar als anstößig empfundene »Alphabetische Ordnung« abgelöst wurde.19 Die Staatskalender verzeichneten also das Personal ihres jeweiligen Territoriums in einer Weise, die systematisch insofern war, als sie dessen Verwaltungsaufbau nachvollzog. Da dieser selbst jedoch höchst unsystematisch – weil historisch gewachsen und in schwer durchschaubarer Manier von unterschiedlichen Herrschaftsträgern und Herrschaftsrechten durchzogen – war, wurde es dem Benutzer dieser Publikationen nicht leicht gemacht. Suchte er einen bestimmten Namen, so musste er den entsprechenden Datensatz an unbekannter Stelle recherchieren. Dies dürfte insbesondere für auswärtige, mit den lokalen Verhältnissen nicht vertraute Auskunftssuchende zutreffen, die jedoch ausdrücklich zur Zielgruppe der Amtsverzeichnisse zählten.20
17 Schwarzkopf, Joachim von: »Ueber Staats-Kalender«, in: Neues Hannoverisches Magazin (1791), 2. und 3. Stück, Sp. 17-48, hier Sp. 26f. 18 Vgl. z.B. Bauer, Volker: »Höfische Gesellschaft und höfische Öffentlichkeit im Alten Reich. Überlegungen zur Mediengeschichte des Fürstenhofs im 17. und 18. Jahrhundert«, in: Jahrbuch für Kommunikationsgeschichte 5 (2003), S. 2968, hier S. 50f. 19 Vgl. V. Bauer: »Nichtexistenz eines Wolfenbüttelschen StaatsKalenders«, S. 270 und 276f. 20 Vgl. V. Bauer: Repertorium, Bd. 1, S. 71f.; J. v. Schwarzkopf: Ueber Staatsund Adress-Calender, S. 23; ders.: »Ueber Staats-Kalender«, Sp. 26 und 44; vgl.
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Die Komplexität der Behördenverzeichnisse ließ sich freilich durch Erschließungsinstrumente mildern,21 zu deren Erstellung die einzelnen Datensätze zunächst adressiert und danach indexiert wurden. Die Adressierung22 eines Amtsinhabers bestand in seiner eindeutigen und beschreibbaren Lokalisierung innerhalb jener Blattlagen, welche das Personalverzeichnis enthielten, und dazu wurde dessen Paginierung eingesetzt. Das geschah freilich nicht längst bei allen Staatskalendern und Staatshandbüchern. Zwar waren schon die ersten Jahrgänge des Wiener Staats- und Standeskalenders (1701) und des Jetztlebenden königlichen Dresdens (1702) mit Seitenzahlen ausgestattet, doch gab es noch zu Beginn des 19. Jahrhunderts Serien ohne dieses Hilfsmittel (z.B. den bis 1802 erschienenen Augsburger Kirchen- und Hofkalender). Bemerkenswerterweise war deren Anteil gerade unter jenen Publikationen, die im Quartformat herausgegeben wurden, besonders groß. In jenen Fällen, wo die Datensätze adressiert waren, ergab sich die Möglichkeit, sie im nächsten Schritt zu indexieren, und dazu eröffneten sich auf Grund ihrer dualen Struktur (Amtsbezeichnung/Amtsinhaber) zweierlei Wege. Zum einen konnte ein Inhaltsverzeichnis erstellt werden, welches freilich die angedeuteten Suchprobleme nur zum Teil aus der Welt schaffte, da es ja lediglich den intransparenten Aufbau des Behördenverzeichnisses in kleinerem Maßstab reproduzierte. Dennoch finden sich Inhaltsverzeichnisse vergleichsweise zahlreich in den einschlägigen Serien.
als Beispiel auch: Adreß Calender/Der […] Haupt= und Residentz=Städte Berlin […], Berlin 1704, Vorbericht. 21 Dazu ausführlicher V. Bauer: »Hof- und Staatskalender des 18. Jahrhunderts als Datenspeicher«. 22 Vgl. die knappen Hinweise bei Giesecke, Michael: Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie zur Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1991, S. 420-424; vgl. zur buchstäblichen Adressierung als Teil der Herrschaftspraxis Tantner, Anton: Ordnung der Häuser, Beschreibung der Seelen. Hausnummerierung und Seelenkonskription in der Habsburgermonarchie (= Wiener Schriften zur Geschichte der Neuzeit, Band 4), Innsbruck/Wien/Bozen: StudienVerlag 2007, z.B. S. 6166.
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Zum anderen kam es zur Einführung von Personenregistern,23 deren große Leistung darin bestand, die einzelnen Datensätze über die Amtsinhaber und ihre Namen greifbar zu machen und insofern die Grundentscheidung für die systematische Ordnung der Staatskalender zu kompensieren – ein Vorteil, der den Zeitgenossen durchaus geläufig war.24 Allerdings bedeutete ein sorgfältig gearbeitetes Personenregister einen erheblichen Aufwand, und daher zählte es nicht zu den Standards im Amtsverzeichniswesen, in das es bereits 1706 über den Berliner Adreßkalender Eingang gefunden hatte. Das Fehlen jeglicher Adressierungs- und Indexierungsverfahren betraf also durchaus einen beträchtlichen Prozentsatz der Serien und Jahrgänge, und so war der Staatskalendernutzer häufig genug auf seine Erfahrung mit der Gattung oder seine Kenntnis der jeweiligen Verwaltungsstruktur angewiesen. Erleichtert wurde ihm die Recherche allerdings durch die spätestens in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts sich durchsetzende Konvention, die sich auf fürstliche Herrschaftsgebiete beziehenden Publikationen in drei Teile mit fester Reihenfolge zu gliedern und erst den Hof-, dann den Zivil- und schließlich den Militäretat aufzuführen. Doch blieb es wohl auch für einen routinierten Verwender gerade der umfangreicheren Behördenverzeichnisse schwierig, unter den Tausenden von Staatsdienern jene Position oder Person herauszusuchen, die ihn interessierte. Daher muss man erneut die Frage stellen, warum die Amtskalender und Amtshandbücher dennoch fast ausnahmslos die systematische Datenordnung bevorzugten.25 Die erste Antwort ist praktischer Natur: Die Datensystematik entsprach der Technik der Datenerhebung. Die Herausgeber oder Verleger der Staatskalender erhielten ihr Datenmaterial unmittelbar von den erfassten Behörden selbst, die zur Mitarbeit bei der Erstellung eines Staatskalenders verpflichtet wurden. Ihre Lieferungen von Personallisten gehörten zu den un-
23 Zu alphabetischen Registern vgl. Zedelmaier, Helmut: »Facilitas inveniendi. Zur Pragmatik alphabetischer Buchregister«, in: Theo Stammen/Wolfgang E.J. Weber (Hg.), Wissenssicherung, Wissensordnung und Wissensverarbeitung. Das europäische Modell der Enzyklopädien (Colloquia Augustana, Band 18), Berlin: Akademie-Verlag 2004, S. 191-203. 24 Vgl. J. v. Schwarzkopf: »Ueber Staats-Kalender«, Sp. 35; ders.: Ueber Staatsund Adress-Calender, S. 45; Addresshandbuch des Schwäbischen Kreises 1793, S. V. 25 Vgl. V. Bauer: Repertorium, Bd. 1, S. 81-85.
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abdingbaren Voraussetzungen des Amtsverzeichniswesens und garantierten von Anbeginn den erdrückenden obrigkeitlichen Einfluss auf die einzelnen Druckwerke.26 Der Beitrag der Verwaltungsinstitutionen war entweder ein expliziter Bestandteil der entsprechenden Verlagsprivilegien oder wurde in eigenständigen Verordnungen fixiert. Der Herausgeber des MecklenburgSchwerinschen Staatskalenders Friedrich August Rudloff etwa bekam 1775 zugesichert, dass »von jedem [Departement] das Verzeichnis der dazu gehörigen oder unter denselben stehenden Personen, vollständig an [das] RegierungsCollegium eingesandt werden mußte; und daß nunmero järlich das Verzeichniß der seit dem abgewichnen Jare vorgefallenen Veränderungen an [das] RegierungsCollegium eingesandt werden muß: worauf sodann von daher die sämmtlichen Verzeichnisse dem ehemaligen SteuerRat, jetzigen HofRat und Legat.Secret. Rudloff, zugehen, und wenn dieser das Schema des StatsVerzeichnisses, nach dem ihm gegebenen Plane, wie die Departements auf einander folgen sollten, verfertiget hat, daß sodann jemand bei der Regierung nachsiehet, ob das Schema dem Plan gemäß, in dem Schemate aber ein jedes Departement mit seinen UnterBehörden vollständig, sei.«27
Das konkrete Verfahren der alljährlichen Aktualisierung der Personallisten stützte sich im Allgemeinen auf die bereits vorliegende Amtsverzeichnisausgabe, die sozusagen als Formular für die neue Auflage diente.28 Dies belegen die in vielen Staatsarchiven bis heute überlieferten Revisionsexemplare der lokalen Serien mit ihren handschriftlichen Ergänzungen. Der Berliner Adreßkalender wurde zu diesem Zweck in einzelne mit leeren Blättern durchschossene »Hefte« zerlegt, die dann zur Korrektur an die einzelnen Behörden gingen. Der jeweilige Leiter hatte die Richtigkeit der Änderungen durch seine Unterschrift zu testieren, bevor er die Verzeichnisse an die
26 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 25 und 28. 27 »An Ihro Kaiserl. Allerhöchste Maj. alleruntertänigster Bericht, und allersubmisseste Bitte [...] in Sachen Meklenburg Herzogtümer, LandRäte und Deputirte von der Ritter= und Landschaft zum Engeren Ausschuß contra gedachten Herzog Friedrich zu Meklenburg=Schwerin, und dessen nachgesetzte Regirung, die angeblich einseitige Interpretation der §§. 334 und 336 des LandesVergleichs betreffend«, in: Stats=Anzeigen 4 (1783), S. 459-503, hier S. 475. 28 Vgl. auch J. v. Schwarzkopf: Ueber Staats- und Adress-Calender, S. 17f.
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verantwortliche Akademie der Wissenschaften zurücksandte.29 Die Instruktionen für die Anfertigung der Personallisten erfolgten also top-down, der Datenfluss verlief dagegen bottom-up. Die Gliederung der Personalinformationen anhand der administrativen Strukturen ist direkt auf die Organisation ihrer Erhebung zurückzuführen. Eine weitere Datenverarbeitung über die Sammlung, Bündelung und Weiterleitung der aktualisierten Verzeichnisse hinaus – etwa die Erstellung eines Registers – fand in dieser Phase nicht mehr statt und war daher Sache des Herausgebers oder Verlegers. Der zweite Grund für die Dominanz des systematischen Arrangements liegt in der hauptsächlichen Funktion der gedruckten Amtsverzeichnisse. Denn dass die Benutzerfreundlichkeit kein ausschlaggebendes Kriterium für die Gestaltung der Behördenverzeichnisse war, lässt nur den Schluss zu, der möglichst leichte und effiziente Zugriff auf die gespeicherten Daten sei mitnichten der Hauptzweck der Staatskalender gewesen. Vielmehr dienten sie in erster Linie dazu, ein möglichst komplettes und getreues gedrucktes Abbild der jeweiligen fürstenstaatlichen Herrschaftsordnung herzustellen. Dazu war eine alphabetische Staatsdienerliste nicht in der Lage, wohl aber eine systematische Darstellung, welche das hierarchische Gefälle innerhalb der Beamtenschaft nachzeichnete, in dem Herrschernähe, Hofrang und Anciennität die wichtigsten Kriterien für die Abfolge der Behörden und ihrer Angehörigen ausmachten.30 Damit erweist sich die systematische als zeremonielle Ordnung, und tatsächlich wurden die Staatskalender stets auch als Rangordnung rezipiert. Diese Lesart wurde durch die Typographie der Personallisten unterstützt, denn die Verwendung unterschiedlicher Fonts, Schriftgrößen und Auszeichnungen akzentuierte ganz bewusst die Rangunterschiede zwischen den einzelnen Bediensteten in augenscheinlicher Form.31 Letztlich waren die sich in seiner zeremoniellen Behandlung ausdrückende Stellung eines Amtsträgers innerhalb der fürstenstaatlichen Hierarchie und dessen Position innerhalb eines territorialen Amtsverzeichnisses kongruent und konvertierbar, wie folgender Bericht aus den 1780er Jahren beweist:
29 Vgl. Haß, Martin: »Die preußischen Adreßkalender und Staatshandbücher als historisch-statistische Quellen«, in: Forschungen zur Brandenburgischen und Preußischen Geschichte 20 (1907), S. 133-193 und S. 305-346, hier S. 183-185. 30 Vgl. V. Bauer: »›Prachtliebe‹ und ›Publicität‹«, S. 137f. 31 Vgl. V. Bauer: Repertorium, Bd. 1, S. 55-62.
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»Damit man wisse, wie der Zuschnitt des gewöhnlichen Etiketts in meiner Gegend gewesen ist, so kann ich nicht umhin anzumerken, daß, als ich als Rector zu Segeberg mit einem Controleur, der Bedienter gewesen war, einmal von einem angesehenen Staatsbeamten zugleich zu Tisch gebeten war, er mir gerne, einen höheren Platz angewiesen hätte, ihn aber doch dem Controleur, weil er im Staatskalender stünde, glaubte geben zu müssen.«32
Amtskalender und Amtshandbücher waren also nicht nur und nicht einmal primär Informationsmedien, welche der Verarbeitung von Personensuchanfragen dienen sollten, sondern Repräsentationsmedien, welche einen doppelten Zweck erfüllten: Zum einen verorteten sie jeden einzelnen Staatsdiener im Rahmen einer hierarchischen Ordnung, und zum anderen demonstrierten sie Landeshoheit und Macht der betreffenden Herrschaftseinheit innerhalb der dezentralen und kompetitiven Fürstengesellschaft und höfischen Öffentlichkeit des Reiches oder gar Europas.33 Die systematische Strukturierung der Personaldatenbanken ist also nicht nur allein in den Modalitäten der Datenerhebung angelegt, sondern der eigentlichen Funktion der Amtsverzeichnisse, nämlich der Herrschaftsrepräsentation, geschuldet. Ein drittes Motiv für die Bevorzugung dieser Datenordnung hängt eng damit zusammen. Dabei handelt es sich um die Benutzersteuerung, die eben nur bestimmte Suchmöglichkeiten unterstützen und andere erschweren soll. Denn wenn selbst ein Autor, der die systematische Ordnung favorisiert, die Überlegenheit des Alphabets »bei Nachsuchungen« einräumt,34 wird man das Festhalten an der Systematik auch als Versuch interpretieren müssen, die freie Personensuche einzuschränken. Ein Seitenblick auf das verwandte Genre der städtischen Adressbücher bestätigt diese Vermutung. Im Jahre 1791 brachte der Hamburger Verleger eines alphabetisch aufgebauten Adressbuchs auf den Punkt, worin sich dieses von einem Staatskalender unterscheide: »Der Zweck des ersten ist eine Anweisung wo man jedem [sic!]
32 Ehlers, Martin: Winke für gute Fürsten, Prinzenerzieher und Volksfreunde, Teil 2, Kiel/Hamburg: Bohnsche Buchhandlung 1787, S. 459. 33 Dazu auch V. Bauer: Repertorium, Bd. 3, S. 30f. 34 Vgl. Addresshandbuch des Schwäbischen Kreises 1793, S. V.
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finden kann, und der des letztern, wo ein jeder in der Rang-Ordnung […] zu suchen ist.« 35 Wer ein Adressbuch konsultierte, konnte also damit rechnen, dass sämtliche namentlich bekannte Personen mit demselben Aufwand auffindbar waren, da die individuellen Datensätze einem einheitlichen, leicht anwendbaren Gliederungsprinzip unterworfen und damit grundsätzlich gleichgewichtig waren. Wer dagegen zu einem Staatskalender griff, musste sich im Klaren sein, dass er zunächst auf die örtlichen Rangverhältnisse aufmerksam gemacht werden sollte, innerhalb derer der Datensatz zu der von ihm zu recherchierenden Person von sekundärer Bedeutung war. Denn es ging nicht darum, über den Namen einen bestimmten Amtsträger schnell und einfach lokalisierbar zu machen, sondern darum, dessen Amtsbezeichnung innerhalb der Behördenhierarchien zu fixieren. Die systematische Datenordnung war also von vornherein darauf angelegt, eine spezifische Form der Verwendung der Staatskalender zu privilegieren, die als »höfisch-zeremonieller Gebrauch«36 bezeichnet werden kann und eine offene Personensuche gar nicht vorsah. Der geringe Verbreitungsgrad von Namensregistern erscheint als logische Konsequenz dieser Zweckbestimmung. Die Gattung war vor allem für solche Abfragen programmiert worden, welche ihren Beitrag zur Repräsentation und damit zur Stabilisierung von Herrschaft nicht in Frage stellte – zumal angesichts des Überbietungswettbewerbs zwischen den Fürstenstaaten gerade nicht die Durchsuchbarkeit, sondern im Gegenteil die demonstrative Unüberschaubarkeit der Personallisten angestrebt sein mochte.37
35 Zit. nach Böning, Holger/Moepps, Emmy: Hamburg. Kommentierte Bibliographie der Zeitungen, Zeitschriften, Intelligenzblätter, Kalender und Almanache sowie biographische Hinweise zu Herausgebern, Verlegern und Druckern periodischer Schriften (= Deutsche Presse. Biobibliographische Handbücher zur Geschichte der deutschsprachigen periodischen Presse von den Anfängen bis 1815, Band 1), 3 Bde., Stuttgart/Bad Cannstatt: Frommann-Holzboog 1996, Bd. 2, Nr. 615, Sp. 1360f. 36 V. Bauer: Repertorium, Bd. 1, S. 55. 37 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 87.
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3. S EKUNDÄRSPEICHERUNG UND H ERRSCHAFTSKRITIK : D IE G ATTUNG ALS M ETASUCHMASCHINE Aber dieser Befund ergibt nur das halbe Bild. Zwar schienen Datenbankstruktur und Repräsentationsfunktion der territorialen Staatskalender nur bestimmte, bei ihrer Gründung intendierte Recherchewege zuzulassen, doch führten die medialen Rahmenbedingungen zu einer Entgrenzung der Suchmöglichkeiten, die letztlich herrschaftskritische Verwendungsweisen erlaubte. Denn obwohl der obrigkeitliche Einfluss auf das Amtsverzeichniswesen nicht zuletzt darauf beruhte, dass ein beträchtlicher Prozentsatz der gedruckten Exemplare häufig von den Herrschaftsinstitutionen selbst abgenommen wurde, waren wenigstens Teilauflagen der allermeisten Serien bzw. Jahrgänge auf dem Buchmarkt erhältlich.38 Sie standen daher einer Käuferschaft zur Verfügung, deren Erkenntnisinteressen und Nutzungsabsichten kaum antizipierbar waren und den ursprünglichen Motiven der Staatskalendergründung zuwiderlaufen konnten. In der Praxis lief dies auf die Überwindung der in der Kalenderförmigkeit der Gattung wurzelnden Periodizität hinaus. Der einzelne Jahrgang, der gewissermaßen als typographischer Datenspeicher erster Ordnung gelten kann, schüttelte durch sekundäre Speichervorgänge seine Ephemerität – Schwarzkopf sprach von »der kurzen Lebenszeit der Staatscalender«, die letztendlich zur »Makulatur«39 würden – ab und blieb auf Dauer greifbar. Solche Sekundärspeicherungen territorialer Amtskalender und Amtshandbücher traten in drei Spielarten auf: als Sammlung, als Bibliographie und als Kompilation.40 Der springende Punkt dieser Überlieferungspraktiken liegt darin, dass sie sämtlich eben nicht eine einzelne Ausgabe betrafen, sondern stets unterschiedliche Staatskalenderserien und -jahrgänge umfassten. Und diese Pluralität generierte sozusagen zwanglos ein vergleichendes
38 Vgl. ebd., Bd. 1, S. 29f. 39 J. v. Schwarzkopf: Ueber Staats- und Adress-Calender, S. 22; ders.: »Ueber Staats-Kalender«, Sp. 20. 40 Auch hierzu V. Bauer: »Hof- und Staatskalender des 18. Jahrhunderts als Datenspeicher«.
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Vorgehen, das wiederum neue Fragestellungen und Suchrichtungen hervortrieb. Den wichtigsten Sammlungsort von Staatskalendern stellten die obrigkeitlichen Archive selbst dar. Sie erhielten ihre heimischen Reihen meist auf Grund von Vereinbarungen, die dem jeweiligen Verleger als Gegenleistung für die Privilegienerteilung und die Materiallieferung durch die Behörden die Abgabe von Pflichtexemplaren an letztere auferlegten.41 Sie bildeten den Grundstock einer Kollektion, die häufig durch die etwa durch direkten Tausch erworbenen Publikationen aus anderen Territorien ergänzt und im landesherrlichen Archiv verwahrt wurde.42 Damit schloss sich der Datenkreis: Die Personaldaten, welche vom Verwaltungsapparat selbst erhoben und dann von den Amtsverzeichnisredakteuren zu typographischen Datenbanken weiterverarbeitet worden waren, kehrten in die administrative Sphäre zurück, wo sie nun als Auskunft beispielsweise in juristischen Fragen konsultiert wurden.43 Dieser interne Dienstgebrauch entsprach freilich der bei ihrer Einführung ausschlaggebenden obrigkeitlichen Zweckbindung. Anders lagen dagegen die Dinge bei den gelehrten Privatsammlungen, wie sie in staatenkundlicher Absicht der Göttinger Professor August Wilhelm Schlözer (1735–1809) und sein Schüler Joachim von Schwarzkopf angelegt hatten.44 Ihre Bedeutung bestand darin, dass sie durch das Vorhandensein unterschiedlicher Amtsverzeichnisserien ausreichend Datenmaterial für synchrone und diachrone Vergleiche der Personalausstattung unterschiedlicher Territorien und Regentschaften vorhielten. Die Datensätze konnten für quantitative Untersuchungen weiterverarbeitet werden, indem sie ausgezählt und die Ergebnisse miteinander abgeglichen wurden. Eine
41 Beispiele in V. Bauer: Repertorium, Bd. 1, S. 30. 42 Vgl. etwa Fleischmann, Peter: Die Bibliothek des Staatsarchivs Nürnberg, in: Bibliotheksforum Bayern 25 (1997), H. 2 (Bibliotheken in Archiven), S. 175193, hier S. 181. 43 Vgl. V. Bauer: Repertorium, Bd. 1, S. 31. 44 Schwarzkopfs Sammlung ist verzeichnet in J. v. Schwarzkopf: »Systematisch geordnetes Verzeichniss der vom MinisterResidenten Joach. von Schwarzkopf in Frankfurt am Main gesammelten Staats- und AdressKalender«, in: Allgemeiner Litterarischer Anzeiger (1799), Nr. 156-158, Sp. 1545-1572; Nr. 156, Sp. 1546 erwähnt Schlözers Kollektion.
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solche Durchforstung der Staatskalender nach Zahlenmaterial und dessen anschließende Auswertung waren freilich den obrigkeitlich erwünschten Abfragen diametral entgegengesetzt. Die Bibliographie als zweite Form der Sekundärspeicherung ist im hiesigen Kontext nur insofern von Belang, als sie als Datenbank der Datenbanken den Zugriff der Zeitgenossen auf die verfügbare Amtsverzeichnisliteratur erleichterte. Sie war damit ein wichtiges Hilfsmittel bei dem Aufbau einer eigenen Kollektion, wobei erneut Schwarzkopf den engen Zusammenhang von bibliographischer und Sammlungstätigkeit exemplifiziert. Seine Staatskalenderverzeichnisse45 trugen als Buchsuchmaschinen jedoch allenfalls mittelbar zu den erweiterten Möglichkeiten der Personenrecherche bei. Direkt taten dies hingegen die überterritorialen Amtsverzeichnisse,46 welche das Behördenpersonal mehrerer Herrschaftseinheiten zwischen zwei Buchdeckeln aufführten und sich dabei im Kern der Daten bedienten, die bereits durch territoriale Serien publiziert vorlagen. Es handelt sich dabei also um Datenübertragung von einem Druckmedium ins andere, und daher müssen diese Publikationen ebenfalls als Speicher zweiter Ordnung, als Kompilationen angesehen werden,47 obwohl sie durchaus auch Staatsdiener aus Ländern enthielten, die keine eigene Reihe hervorgebracht hatten. Dadurch wuchs das im Druck vorliegende, über den Buchmarkt zugängliche Datenmaterial noch einmal gewaltig an, was eine komparativ angelegte und argumentierende Staatenkunde weiter begünstigte. Insgesamt lassen sich für das Reich 18 überstaatliche und überterritoriale Serien mit 204 Ausgaben ermitteln, in denen das Personal unterschiedlicher politischer Ebenen
45 Dazu zählen J. v. Schwarzkopf: Ueber Staats- und Adress-Calender, S. 81-400; ders.: »Systematisch geordnetes Verzeichniss«; ders.: »Raisonnierendes Verzeichniss aller derjenigen Staats- und Adresskalender, welche in dem Joach. von Schwarzkopf’ischen Werke, Berlin Rottmann 1792. gr. 8. nicht angeführt sind«, in: Allgemeiner Litterarischer Anzeiger (1799), Nr. 159-164, Sp. 1577-1631. 46 Sämtliche Jahrgänge sind verzeichnet in V. Bauer: Repertorium, Bd. 4. Die im folgenden Fließtext genannten Serien werden nach den dortigen Kurztiteln zitiert. 47 Vgl. J. v. Schwarzkopf: Ueber Staats- und Adress-Calender, S. 84f; ders.; »Ueber Staats-Kalender«, Sp. 22; außerdem V. Bauer: Repertorium, Bd. 4, S. 912.
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und Einheiten aufgelistet wurde.48 Ein längerfristiger Erfolg war allerdings nur vier Reihen beschieden: Zum einen den beiden die europäischen Mächte und die Reichsglieder umfassenden, extrem dickleibigen Publikationen aus den Großverlagen Gleditsch in Leipzig (Jährliches oder Europäisches Genealogisches Handbuch 1725-1800) und Varrentrapp in Frankfurt a.M. (Reich- und Staatshandbuch 1743-1805), zum anderen den Amtsverzeichnissen des schwäbischen und des niederrheinisch-westfälischen Reichskreises (1749-1799 bzw. 1758-1794).49 Obwohl einige dieser überterritorialen Amtsverzeichnisse fast 1.400 Seiten umfassen, konnten sie die Dienerschaften mehrerer hundert Herrschaftsgebiete überhaupt nur berücksichtigen, indem sie sehr sparsam mit dem Platz zwischen ihren Buchdeckeln umgingen. Notwendig war daher eine strikte Selektion der erfassten Datensätze, die anhand von Rangkriterien erfolgte. Einerseits gab es politische Einheiten, deren Verwaltungspersonal in der Regel überhaupt nicht genannt wurde; dies trifft etwa auf die Reichsgrafschaften zu. Andererseits wurden bei den übrigen Territorien und Ländern lediglich die oberen Chargen aufgeführt. Und anschließend wurden die auf diese Weise als überlieferungswürdig qualifizierten Daten »concentrirt50, d.h. inhaltlich und typographisch verdichtet. So verschlang etwa der Abschnitt über die »Landes=Regierung und würkliche Geheimte Räthe« Kurhannovers im dortigen territorialen Staatskalender von 1776 zwei Seiten, um die insgesamt 47 zugehörigen Personen bis zum Kanzleiboten aufzuzählen und deren korrekte Anreden mitzuliefern. Die Datensätze, also die jeweiligen Amtsträger, wurden durch Zeilenumbrüche voneinander getrennt. Im Reichs- und Staatshandbuch desselben Jahrs genügten dagegen ganze acht Zeilen für diese Behörde, da unterhalb der »Würklichen Geheimten Secretarien« niemand mehr aufgenommen wurde und Steuerungszeichen und Anreden wegfielen. Etwas großzügiger verfuhr man im Europäischen Genealogischen Handbuch, das an Zeilenumbrüchen und Leerzeilen festhielt und so inklusive letzterer 16 Zeilen aufwandte.51
48 Die Zahlenangaben in V. Bauer, Repertorium, Bd. 4, S. 20 (Tabelle 2). 49 Ebd., Bd. 4, v.a. S. 24-26, 28-30, 33-36. 50 J. v. Schwarzkopf: Ueber Staats- und Adress-Calender, S. 85. 51 Vgl. V. Bauer: Repertorium, Bd. 4, S. 60f. und 62f. (Abbildungen).
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Diese Ausführungen zur Datenkompression zeigen schon, dass innerhalb der einzelstaatlichen Abschnitte der systematische Zuschnitt der territorialen Amtskalender, die ja ohnehin die wichtigsten Informationsquellen bildeten, beibehalten wurde. Damit war allerdings die Frage der Anordnung der einzelnen politischen Einheiten, meist Fürstentümer, noch nicht entschieden, denn auch hier gab es die Alternative von systematischer und alphabetischer Reihenfolge. Signifikant ist, dass zwar auch auf dieser Ebene der systematische Ansatz – der faktisch auf eine Gliederung nach fürstlichem bzw. reichsverfassungsrechtlichem Rang hinausläuft – gegenüber dem Alphabet favorisiert wurde, dass aber letzteres immerhin bei einem Drittel aller einschlägigen Publikationen den Aufbau steuerte.52 Offensichtlich besaß bei den überterritorialen Amtsverzeichnissen eine schnelle Durchsuchbarkeit des Datenmaterials höhere Priorität als bei den in erster Linie der Herrschaftsrepräsentation dienenden partikularen Serien. Diese Annahme wird auch durch die zur Verfügung gestellten Erschließungsinstrumente gestützt. Kam ein hoher Anteil der territorialen Staatskalender und Staatshandbücher ohne Paginierung aus, so verfügten ihre buchförmigen überterritorialen Pendants (also unter Ausschluss der tabellarischen Einblattdrucke) zu 98% über eine Seitenzählung. Eine solche fehlte u.a. im Jahrgang 1787 des Europäischen Staats- und Adressbuchs von Paul Tilger, doch konnte sich die Ausgabe diesen Luxus leisten, verwendete sie doch eine äußerst elegante und überdies effizientere Form der Datenadressierung: Grundsätzlich wurden die darin verzeichneten Herrschaftseinheiten und Reichsinstitutionen in alphabetischer Folge abgedruckt und jede von ihnen wurde mit einer Ordnungszahl versehen. Durchnummeriert wurden auch die jeweils dazugehörigen Behördenverzeichnisse, so dass jeder einzelne Amtsträger durch eine doppelte Ordnungszahl eindeutig lokalisierbar war. Diese konnte zudem über ein dreiteiliges Namensregister nachgeschlagen werden. Damit nicht genug: Gleichzeitig war der Jahrgang noch mit einem Inhaltsverzeichnis ausgestattet, welches ebenfalls auf den zugewiesenen Nummern fußte und die behandelten Länder und Einrichtungen in eine Rangordnung brachte und somit ein systematisches Arrangement nachlieferte. Nur nebenbei sei bemerkt, dass es sich beim Jahrgang 1778 umgekehrt verhielt: Er war systematisch aufgebaut und besaß dafür ein alphabetisches Register.
52 Vgl. ebd., Bd. 4, S. 64.
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Tilgers Publikationen waren jedoch keine absolute Ausnahme: Generell war die Indexierung durch Inhaltsverzeichnisse und Register bei den überregionalen Amtsverzeichniskompilationen weiter verbreitet als bei den territorialen Serien. Sie waren dort freilich wegen der höheren Komplexität auch nötiger, denn während bei diesen zwei Ebenen zu unterscheiden waren, die der einzelnen Datensätze einerseits und die der Indexierungen andererseits, kam bei jenen eine dritte Ebene hinzu, nämlich die des Eintrags einer politischen oder institutionellen Einheit (z.B. Kurhannover oder der Reichstag), die mehrere Datensätze bündelte. Insofern stellt sich die Frage der Erschließungstiefe der Inhaltsverzeichnisse und insbesondere der Register. Tatsächlich agierten diese fast stets auf der mittleren Ebene der Einträge, so dass man über sie auf die einzelnen Territorien und Reichseinrichtungen zugreifen konnte, aber nicht auf den einzelnen Personaldatensatz. Dies war nur sehr gelegentlich möglich, so bei dem gerade vorgestellten Jahrgang 1787 der Serie Tilgers und bei den 32 Ausgaben des Amtsverzeichnisses für den schwäbischen Reichskreis, die über umfangreiche, mehrere tausend Personen nachweisende Namensregister verfügten. 53 Trotz dieser wohl aus wirtschaftlichen Gründen zwingenden Einschränkung des alphabetischen Zugangs wird man daran festhalten können, dass die überterritorialen, kompilatorischen Werke vor allem als Informationsmedien gedacht waren, welche eine möglichst große Datenmenge in möglichst benutzerfreundlicher Manier zugänglich machen sollten. Tatsächlich sind diese Publikationen sehr viel mehr auf Publikumswirksamkeit und Attraktivität angewiesen als ihre territorialen Gegenstücke. Waren diese entweder in landesherrlicher Eigenregie oder zumindest unter entsprechender Subventionierung hergestellt und vertrieben worden, so wurden die überregionalen Amtsverzeichnisse ausnahmslos von »Privat=Unternehmen«54 verlegt, die vom Erfolg dieser Produkte auf dem Buchmarkt abhängig waren.55 Diesem Unterschied entsprang eine weitere Differenz, welche die Darstellungsökonomie betraf. Während die Repräsentationslogik der partikularen Serien zu einem verschwenderischen Umgang mit dem Platz auf
53 Vgl. ebd., Bd. 4, S. 68-72. 54 So die Formulierung in Allgemeiner Reichs= und Regensburgischer ComitialCalender, Regensburg: Conrad Neubauer 1805, Titelblatt des Amtsteils (»Namens=Verzeichniß«). 55 Dazu V. Bauer: Repertorium, Bd. 4, S. 15-18.
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dem Papier aufforderte, um einen umso üppigeren Bestand an Herrschaftspersonal vorzeigen zu können,56 standen die Verleger der überterritorialen Werke eher vor dem gegenteiligen Problem, das Übermaß an Personaldaten typographisch zu bändigen, um ein handhab- und bezahlbares Nachschlagewerk zum Verkauf zu stellen. Und tatsächlich wurde ihr Angebot nicht zuletzt von Gelehrten dankbar angenommen. Ludwig Gottfried Mogen (1724–1773), Professor der Geschichte an der Universität Gießen, kündigte für das Sommersemester 1762 ein Privatissimum »Genealogico-Heraldicum-Statisticum« an, dessen Material aus dem aktuellen Jahrgang des Reichs- und Staatshandbuchs stammte. Er hatte diese Publikation ganz bewusst deshalb ausgewählt, weil sie den – im Endeffekt wohl recht schlichten – Vergleich zwischen verschiedenen Herrschaftstypen erlaubte: Das »höchste weltliche und das höchste geistliche hauß« (Kaisertum und Papsttum) wurden einander ebenso gegenübergestellt wie »aus den minder=wichtigen häußern, ebenfalls ein weltliches und ein geistliches« (Titularreichsgrafen Althann und Kloster Arnsburg).57 Sehr viel intensiver und subtiler war der Gebrauch, den 30 Jahre später Joachim von Schwarzkopf von den Staatskalendern machte. Er entwickelte ein veritables staatenkundliches Untersuchungsprogramm, das auf quantitative Fragestellungen zielte und dabei durchaus politische Brisanz besaß. So nennt er selbst als zentrale Aufgabe die »Berechnung des Zahlverhältnisses des Beamtenstandes zu dem arbeitenden«, was er mithilfe des dortigen Amtskalenders anhand der Landgrafschaft Hessen-Kassel durchexerzierte. Er kam auf eine Erwerbsbevölkerung von 210.000 Personen, welche 17.300 öffentliche Bediente zu erhalten haben – Schwarzkopfs Resümee: »Dem Anschein nach ist hier ein Missverhältnis.«58 Weitere Erhebungen beziehen sich u.a. auf die Anteile adliger und bürgerlicher Staatsdiener und auf das
56 Vgl. dazu etwa die Bemerkung in J. v. Schwarzkopf: Ueber Staats- und AdressCalender, S. 359. 57 Mogen, Ludwig Gottfried: D. Ludwig Gottfried Mogen, ordentlicher geschichtslehrer zu Giesen und gräflich=leiningischer hofrath, verkündiget ein Collegium Genealogico-Heraldico-Statisticum, welches er, über das Varrentrappische Genealogisch=Schematische Reichs= und Staats=Handbuch vor das Jahr 1762, in dem bevorstehenden sommer=halb=jahr, zu halten gesonnen ist, Gießen: Johann Jacob Braun 1762, S. 4-8, hier S. 4. 58 J. v. Schwarzkopf: Ueber Staats- und Adress-Calender, S. 70 und 67.
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unterschiedliche zahlenmäßige Gewicht der »Hauptclassen einer jeden Dienerschaft« (Zivilverwaltung, Geistlichkeit, Militär) in den verschiedenen Territorialverwaltungen. Dazu führt der Autor aus: »Zu allen diesen erwähnten allgemeinen Angaben würde man vielleicht auch ohne Staatscalender gelangen können; aber nicht so leicht zu den feinern statistischen Schätzungen, welche in das Innerste einer jeden Verfassung greifen.«59 Als einschlägiges Beispiel nennt er das quantitative Verhältnis von Vorgesetzten und Untergebenen, wobei er neben einigen Reichsständen auch Russland, Frankreich und Holland einbezieht.60 Das aus der Auswertung der Amtsverzeichnisse gewonnene Datenmaterial nutzte Schwarzkopf zu weitreichenden Schlussfolgerungen, etwa über den Entwicklungsstand der analysierten Länder (»Bey einer überhäuften Dienerschaft [...] ist gewöhnlich wenig Industrie«) oder die Qualität des landesherrlichen Regiments (»Das Zahlverhältnis der Staatsbeamten giebt Fingerzeige, ob der Fürst stille oder prachtliebend war, und im letztern Fall, von welcher Art Prachtliebe er beseelt wurde, ob Marstall oder Hof, Jagd oder Militär [...] sein Steckenpferd waren«).61 Eine komparative, auszählende und das Ergebnis bewertende Verwendung der Staatskalender, ihr »statistisch-staatswissenschaftlicher Gebrauch«,62 führte mithin zur offenen Herrschaftskritik, etwa dort, wo der allzu üppige »Unterhalt« zahlreicher Prinzen »zur drückenden Last«63 erklärt wird. Schwarzkopf bediente sich also der Staatskalender als einer gewaltigen Suchmaschine. Auch er profitierte vom überwiegend systematischen Aufbau der territorialen Publikationen, interessierten ihn doch weniger einzelne Personen, sondern sozusagen aggregierte Datensätze, die sich auf distinkte Gruppen von Staatsdienern beziehen. Indem er sie auszählte und das Ergebnis mit anderen Kennziffern abglich, gewann er ihnen Erkenntnismöglichkeiten ab, die von den obrigkeitlichen Initiatoren des Amtsverzeichniswesens nicht vorgesehen und nicht vorhergesehen waren. Erleichtert würde ein solches Vorgehen durch ein einheitliches, kompatibles Dateiformat, welches Retrieval-Probleme innerhalb des recht heterogenen Genres mini-
59 Ebd., S. 74. 60 Vgl. ebd., S. 74-76. 61 Vgl. ebd., S. 59 und 55f. 62 V. Bauer: Repertorium, Bd. 1, S. 62-70. 63 J. v. Schwarzkopf: Ueber Staats- und Adress-Calender, S. 69.
106 | V OLKER B AUER
miert hätte, und ebendies ist der Grund für Schwarzkopfs Bestrebungen zur Normierung der Staatskalender, etwa was die monierten sprachlichen »Provinzialismen«64 im Bereich der Amtsbenennungen angeht. Denn die Metasuchmaschinenfunktion im Sinne der von ihm propagierten staatswissenschaftlichen Nutzung ist – und das ist hier entscheidend – an die Gattung gebunden, weil ein statistischer Vergleich auf der Ebene einer einzelnen Ausgabe weitgehend sinnlos und auf der Ebene einer Serie allenfalls begrenzt (und zwar in diachroner Hinsicht) aussagekräftig ist. Indem Sammlungen, Kompilationen und indirekt auch Bibliographien den Zugriff auf den Gesamtbestand der Amtsverzeichnisse und der in ihnen gespeicherten Datensätze freigeben, ermöglichen sie Recherchen, Suchoptionen und »Berechnungen«, die »sich ins Unendliche vervielfältigen«.65
4. D ATENSCHUTZ UND B UCHMARKT Die herrschaftskritische Nutzung der Personaldaten konnte nur erfolgen, weil sie über den Buchmarkt frei verfügbar und frei kombinierbar waren. Insofern beruhte sie auf der Grundsatzentscheidung der fürstenstaatlichen Eliten, die anfänglich nur für den Dienstgebrauch gefertigten, in chirographischer Form vorliegenden Behördenlisten typographisch aufzubereiten und damit einer marktförmigen Verbreitung zuzuführen. Zwar wurde dieser mediale Übergang von einem Datenfilterungsprozess begleitet, in dessen Verlauf die zuvor zentralen Informationen zu Besoldung und Versorgung der einzelnen Hof- und Staatsdiener entfielen,66
64 J. v. Schwarzkopf: »Ueber Staats-Kalender«, Sp. 35-37; vgl. auch ders.: Ueber Staats- und Adress-Calender, S. 388. 65 J. v. Schwarzkopf: Ueber Staats- und Adress-Calender, S. 78. 66 Vgl. Sienell, Stefan: »Die Wiener Hofstaaten zur Zeit Leopolds I.«, in: Klaus Malettke/Chantal Grell (Hg.), Hofgesellschaft und Höflinge an europäischen Fürstenhöfen in der Frühen Neuzeit (15.-18. Jh.). Société de cour et courtisans dans l’Europe de l’époque moderne (XVe-XVIIIe siècle) (= Forschungen zur Geschichte der Neuzeit. Marburger Beiträge, Band 1), Münster: Lit Verlag 2001, S. 89-111, hier S. 92-95; allgemein auch Noflatscher, Heinz: »›Ordonnances de l’hôtel‹, Hofstaatsverzeichnisse, Hof- und Staatskalender«, in: Josef Pauser/Martin Scheutz/Thomas Winkelbauer (Hg.), Quellenkunde der Habsbur-
H ERRSCHAFTSORDNUNG , D ATENORDNUNG , S UCHOPTIONEN | 107
doch blieb deren Verzeichnung in Druckwerken offensichtlich auch ohne Gehaltsangaben67 brisant genug. Denn damit wurde ganz bewusst mit der traditionellen Arkanpraxis gebrochen und vormaliges Herrschafts- und Verwaltungswissen öffentlich gemacht. Waren die Personaldaten bisher lediglich für interne Staatszwecke vorgehalten worden, so konnten sie nun von jedem Amtsverzeichniskäufer zur Kenntnis genommen und weiterverarbeitet werden. Das Unerhörte dieser Entwicklung ist etwa spürbar auf dem wohl nicht nur als bloße Werbebotschaft zu verstehenden Zwischentitel zum ersten vollwertigen Behördenverzeichnis des Wiener »Hof- und Ehrenkalenders« von 1703, wo dieses als »Auffzeichnung / Der geheimbesten Ministern / Reichs=Ständen / Staathaltern und Generals=Persohnen«68 etikettiert wird. Die Aufhebung dieses arkanen Schleiers musste freilich durch die Obrigkeiten selbst veranlasst werden. Unautorisierte Amtsverzeichnisunternehmen hatten dagegen kaum eine Chance und waren dementsprechend sehr selten. Den damit verbundenen Schwierigkeiten begegnete beispielsweise der Erfurter Professor Wilhelm Stieghan (1757–1798), als er in den späten 1790er Jahren einen Provinzialamtskalender speziell für die thüringischen Territorien des Erzstifts Mainz herausgab. Da es sich um ein völlig privates Unternehmen handelte, musste er feststellen, dass einige Behördenmitglieder nicht bereit waren, ihm »ohne vorherbeigebrachte Obrigkeitliche Einwilligung« das benötigte amtliche Datenmaterial auszuhändigen, und zwar – so heißt es nicht unironisch – aus »Gewissenhaftigkeit in Vermeidung des Hochverraths«.69 Doch stellt diese Erfahrung eine krasse Ausnahme dar. Ein rein privates Amtsverzeichnisgeschäft war nämlich allenfalls auf überterritorialer Ebene möglich, weil die zu diesem Zweck zu kompilierenden Datensätze ohnehin
germonarchie (16.-18. Jahrhundert). Ein exemplarisches Handbuch (= Mitteilungen des Instituts für Österreichische Geschichtsforschung, Ergänzungsband 44), Wien/München: Oldenbourg 2004, S. 59-75. 67 Dazu J. v. Schwarzkopf: Ueber Staats- und Adress-Calender, S. 36; ders.: »Ueber Staats-Kalender«, Sp. 31. 68 Käyserlicher Hof= und Ehren=Calender […], Wien: Fachnerisches Buchgewölb 1703. 69 Stieghan, Wilhelm: Neuer Taschenkalender für Geschäftsmänner und Reisende im Erfurter Gebiet auf das Jahr 1795, Erfurt: Siering 1795, S. VI.
108 | V OLKER B AUER
durch territoriale Titel bereits druck- und warenförmig zur Verfügung standen. Anders als letztere, die in den meisten Herrschaftsgebieten sowieso eine Monopolstellung innehatten,70 standen die reichs- oder europaweiten Serien überdies in einem harten Wettbewerb, insbesondere die beiden erwähnten, erfolgreichsten Reihen aus den Verlagen Gleditsch und Varrentrapp. Sie mussten sich gegenseitig überbieten, und so steigerten sie unablässig nicht nur die Zuverlässigkeit, sondern auch die Vollständigkeit der in ihnen enthaltenen Daten.71 Ihre Titelblätter warben mit dem Abdruck immer neuer Personalkategorien, so dass das Publikum schließlich eine flächendeckende Auskunft erwartete und Materialverweigerungen der Herrschaftsträger mit Unverständnis quittierte.72 Der vielfach attackierte, auf der territorialen Ebene verhängte Datenschutz, dem Informationen zu Umfang und Gliederung des Herrschaftspersonals ursprünglich unterlagen, konnte aber weiterhin nur von den Obrigkeiten selbst aufgehoben werden. Und genau dies geschah zunehmend – mit dem Ziel der Herrschaftsrepräsentation. Doch war mit dieser Politik ein schwerwiegender Kontrollverlust verbunden, denn wie bei allen über den Buchmarkt angebotenen Druckwerken war auch der Gebrauch der Amtsverzeichnisse nicht mehr auf erwünschte Rezeptionsformen zu beschränken: War diese Büchse der Pandora einmal geöffnet, so war der Verzicht der Nutzer auf das Durchspielen sämtlicher potentieller Suchoperationen nicht durchsetzbar.73
70 Vgl. dazu auch die Tabelle in V. Bauer: Repertorium, Bd. 3, S. 16. 71 Vgl. z.B. ebd., Bd. 4, S. 25 und 28f. 72 Vgl. z.B. die Rezension der Jahrgänge 1794 des »Europäischen Genealogischen Handbuchs« und des »Reichs- und Staatshandbuchs«, in: Allgemeine LiteraturZeitung (1794), Bd. 3, Nr. 314, Sp. 793-797, hier Sp. 796. 73 Vgl. auch V. Bauer: »Höfische Gesellschaft und höfische Öffentlichkeit im Alten Reich«, bes. S. 55f.
Das Zeitungskomptoir als Informationsdrehscheibe Michael Hermann Ambros und seine Grazer Anzeigenblätter A NDREAS G OLOB
E INLEITUNG Dass im Folgenden die »Sattelzeit« um 1800 im Mittelpunkt stehen darf, kann vor allem mit der Informationsfülle, die jene Zeitspanne erzeugte und die es möglichst rasch, effizient und säuberlich kategorisiert zu kommunizieren galt, gerechtfertigt werden. Durch die beginnende Auflösung althergebrachter sozioökonomischer Bindungen vor allem im ländlichen Raum, politische Umwälzungen, Kriege und deren ökonomische und finanzielle Folgen, den Wettstreit säkularisierender und religiös beharrender Tendenzen, die Expansion von Wissensbeständen, das Schwanken zwischen Modernisierung und Bewahrung im Allgemeinen entstand eine Situation, die durch zunehmende »Unübersichtlichkeit«1 gekennzeichnet war. Für die in der steiermärkischen Provinzmetropole angesiedelte Grazer Bauernzeitung
1
Vgl. v.a. Habermas, Jürgen: »Die Krise des Wohlfahrtsstaates und die Erschöpfung utopischer Energien«, in: Jürgen Habermas, Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1985, S. 141-163, hier insb. S. 141-147.
110 | A NDREAS G OLOB
als Untersuchungsobjekt2 spricht vor allem die Mitteilungsfreudigkeit ihres Redakteurs Michael Hermann Ambros. Seine regelmäßigen Notizen an die Leserschaft, meist quasi als Postskripta am Ende des teils noch unpaginierten Zeitungsblattes formuliert, lassen in beeindruckender Dichte und Tiefe hinter die Kulissen einer Zeitungsunternehmung des 18. Jahrhunderts blicken. Die Umstände, unter denen Informationen gesammelt und weitergereicht wurden, können auf dieser Grundlage skizziert werden. Bevor die Ambros-Zeitungen in weiterer Folge im Mittelpunkt stehen können, ist zur Klärung des Umfelds noch ein Parforce-Ritt durch die Grazer Medienlandschaft unerlässlich.3 Diese glich zwischen den Josephini-
2
Bio-bibliographisch zuvor schon sehr gründlich und grundlegend: Caspart, Heinrich K.: Michael Hermann Ambros. Ein österreichischer Journalist zwischen Aufklärung und Reaktion. Ein Beitrag zur österreichischen Mediengeschichte, 2 Bände (= Dissertationen der Universität Wien, Band 221, 1 und 2), Wien: Verband der wissenschaftlichen Gesellschaften Österreichs 1991. Zum Umfeld: Sabine Doering-Manteuffel/Josef Manþal/Wolfgang Wüst (Hg.): Pressewesen der Aufklärung. Periodische Schriften im Alten Reich (= Colloquia Augustana, Band 15), Berlin: Akademie Verlag 2001. Die Grazer Bauernzeitung, die auch als Bauernzeitung (1792 bis Juni 1795), Biedermann (zweites Halbjahr 1795) und Steyrischer Biedermann (erste Jahreshälfte 1796) geführt wurde, wird hier als GBAZ abgekürzt. Der Erhaltungsgrad erstreckt sich auf die Jahrgänge 1791 und 1792, sowie auf die Zeitspannen von Januar 1794 bis Juni 1795 und von Oktober 1795 bis Juni 1796. Sofern nicht anders angegeben, befanden sich die zitierten Stellen in den Anhängen. [Z] steht für Passagen aus dem Zeitungsblatt, [B] verweist auf eine Beilage. Texte, die eine Redaktionstätigkeit vermuten lassen, werden Michael Hermann Ambros als verantwortlichem Redakteur zugeschrieben. Kurztitel können auf Grund der sehr ähnlichen Titel größtenteils nicht genutzt werden. Ambros’ Eigenwilligkeit in der Vernachlässigung von Doppelkonsonanten wird in den wörtlichen Zitaten nicht weiter angemerkt.
3
Allgemein zur Medienlandschaft und zum Buchhandel: Golob, Andreas: Grundlagen der Lesekultur zwischen Josephinischem Aufschwung und Franziszeischer Kontraktion. Literaturvermittlung, Buchhandel und Leihbibliotheken im Spiegel der Grazer Medienlandschaft zwischen 1787 und 1811, 2 Bände. Unveröffentlichte Dissertation, Graz 2004. Zur Medienlandschaft: Golob, Andreas: »Dynamisierung und Erstarrung in der Steiermärkischen Presselandschaft«, in: Ha-
D AS Z EITUNGSKOMPTOIR ALS I NFORMATIONSDREHSCHEIBE | 111
schen Reformen und den wirtschaftlichen Schwierigkeiten sowie den Repressionen der Revolutionskriege einer Berg- beziehungsweise Talfahrt. Nach dem Ende des Druckermonopols der Widmanstetter am Beginn der 1780er war die Möglichkeit zur Errichtung von konkurrenzierenden Druckereien gegeben und wurde sogleich vom Drucker Andreas Leykam genützt. 1785 initiierte dieser auch eine eigene Zeitung, die Grätzer Zeitung, die ab nun Widmanstetters Grätzer Merkur gegenüberstand. Die auffällige Verbindung zwischen Druckereien und der periodischen Presse bewährte sich in weiterer Folge auf Grund naheliegender Vorteile: Die im Abonnement abgegebenen Zeitungen lieferten den Druckern kalkulierbare Einnahmen,4 die durch Inseratverkäufe aufgefettet werden konnten. Das ereignisreiche Tagesgeschehen und der Bildungsanspruch der Aufklärung beziehungsweise nicht zuletzt das Geschäft mit dem Informationsbedürfnis zogen weitere Gründungen nach sich. Stakkatoartig seien genannt: Die Grazer Bauernzeitung 1786; die Zeitung für Damen und andere Frauenzimmer 1792; die Grätzer Bürgerzeitung, ebenfalls 1792 – ein wahrer Zeitungsboom für eine Stadt von etwa 35.000 Einwohnerinnen und Einwohnern.5 Durch Fusionen und Einstellungen blieben 1797 jedoch wieder nur die beiden ersten Konkurrenten übrig, und 1806 war quantitativ wieder der Status von 1780 erreicht. Qualitativ hingegen erwiesen sich die Entwicklungen als nachhaltiger. So blieben etwa die polyhistorisch angelegten Anhänge, die sich zur Zeit des Aufschwungs etablieren konnten, der Zeitungslandschaft erhalten.
rald Heppner/Nikolaus Reisinger (Hg.), Steiermark. Wandel einer Landschaft im langen 18. Jahrhundert (= Schriftenreihe der Österreichischen Gesellschaft zur Erforschung des 18. Jahrhunderts, Band 12), Wien/Köln/Weimar: Böhlau 2006, S. 411-431. 4
Nicht selten musste der Redakteur an die Zahlung der ausstehenden Beträge erinnern, z.B.: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Einige erinerungen [sic!] an Gönner dieser Blätter«, in: GBAZ vom 05.07.1792 [Z], S. 216, N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Nachricht«, in: GBAZ vom 12.07.1792 [Z], S. 232.
5
Vgl. Reismann, Bernhard A.: »Wirtschafts- und Sozialgeschichte der Stadt Graz 1500 bis 1800«, in: Walter Brunner im Auftrag des Kulturamtes der Stadt Graz (Hg.), Geschichte der Stadt Graz, Bd. 2: Wirtschaft – Gesellschaft – Alltag, Graz: Eigenverlag der Stadt Graz 2003, S. 51-158, hier S. 55.
112 | A NDREAS G OLOB
ALLGEMEINBILDUNG UND U NTERHALTUNG Die Beilagen bieten auch schon einen direkten Anknüpfungspunkt für die Hinwendung zur Bauernzeitung, die hinsichtlich multidisziplinärer Materien eigene, ambitionierte Wege ging. Der 1791 terminologisch noch wenig differenzierte »Anhang« vereinte laut Eigendefinition6 »Litteratur«, Ökonomisches, Historiographisches, Nachrichten über Innovationen, »Beiträge zur Erhaltung der Gesundheit« oder mit Esprit vorgetragene Moralkritik, kurzum, Unterhaltung wurde mit Bildung verbunden (vgl. Diagramm 1). Naturkunde Länder- und Völkerkunde Rezensionen
Gesundheit (Moralisierende) Belletristik Wirtschaft Geschichte/Zeitgeschichte/Tagesgeschehen
214 194 98 74 47 39 8
0
75
150
225
300
Diagramm 1: Polyhistorische Beiträge (n = 674) Als Grundlage dieses »freiwillige[n] Geschenk[s]«7 dienten neben »Litteraturzeitungen« in bemerkenswerter Weise auch »Aufsäze und Beiträge des
6
Sofern nicht anders angegeben: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Die – so betitelte Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 17.02.1791 [B].
7
Ambros, Michael [Hermann]: »An Gönner dieses Blattes«, in: GBAZ vom 13.10.1791 [Z]. Hier bezog sich der Begriff »Anhang« insbesondere auf die allgemein bildenden Materien.
D AS Z EITUNGSKOMPTOIR ALS I NFORMATIONSDREHSCHEIBE | 113
… Zeitungskollegiums«. Darunter verstand Ambros »Gönner und Freunde« aus der Habsburgermonarchie, unter denen sich »wohl auch ein Paar Frauenzimmer«8 befanden. Überhaupt lud er »jeden Freund der schönen Wissenschaften, der Philosophie und Moral, der Menschengeschichte, der Naturgeschichte und Naturlehre, der Kunstgeschichte, der Geographie, der Statistik, der Völkerkunde, der Litteratur, der Oekonomie etc.«9 zur Mitarbeit ein. Als Lohn winkten Gratisausgaben der Zeitung oder Honorare.10 Um Transparenz zu schaffen, war bereits vorgesehen, dass die Verfasserinnen und Verfasser ihre Namen oder ihre Initialen unter die Artikel setzen sollten.11 Die meisten bevorzugten jedoch die übliche Anonymität. Für Verbesserungsvorschläge von außen war Ambros nicht nur offen, er unterstützte sie auch mit versprochenen Sachremunerationen.12 Gleiches galt für die Mundpropaganda zugunsten der Zeitung im Allgemeinen.13 Wirkung zeigte
8
Im Original als Klammerbemerkung. Die feste Form des »Kollegiums« wollte Ambros anscheinend wahren, als er einen Beiträger verwarnte, der seine Schriften auch an andere Zeitungskomptoire einsandte, vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerungen von Seite des Verlegers der Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 30.01.1792 [B]. Vgl. terminologisch auch noch: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerungen von Seite des Verlegers der Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 16.02.1792 [B]: »Bruderschaft der Bauernzeitung«.
9
Ambros, Michael [Hermann]: »An Gönner dieses Blattes«, in: GBAZ vom 13.10.1791 [Z].
10 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerungen von Seite des Verlegers der Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 13.02.1792 [B]. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerungen von Seite des Verlegers der Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 16.02.1792 [B]. Ambros, Michael [Hermann]: »An Gönner dieses Blattes«, in: GBAZ 13.10.1791 [Z]. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die Liebhaber dieses Blattes«, in: GBAZ vom 25.06.1792 [Z], S. 200. 11 Vgl. Ambros, Michael [Hermann]: »An Gönner dieses Blattes«, in: GBAZ vom 13.10.1791 [Z]. 12 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Illuminanten werden gesucht«, in: GBAZ vom 14.11.1791. 13 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die neuen Liebhaber dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 03.01.1791 [Z]. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An Liebhaber dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 24.10.1791 [Z]. Ambros, Michael Herman[n]: »Die sogenante Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 24.12.1792
114 | A NDREAS G OLOB
diese Vorgehensweise, als Beiträger aus den ungarischen Erbländern die Einrichtung einer »Bergbau-Rubrik« vorschlugen.14 Um aktiv und persönlich für Beiträge werben zu können, versprach Ambros letztlich Post(land)karten für die Mitteilung von Privatadressen potentieller Autorinnen und Autoren.15 Im Visier hatte er dabei Wohltätige, Geistliche, Beamte, Gebildete, Talentierte aller Art, Frauen und Männer. Diese Bemühungen deuten auf die Bedeutung der in den Redakteursnotizen auch tatsächlich belegbaren Interaktion von Leserschaft und Redaktion hin. Die Anhänge wurden so in gewisser Weise zu einem populärwissenschaftlichen Mitmachkompendium. Die letzte Instanz blieb allerdings stets der Redakteur, der die Auswahl traf und die Endredaktion16 übernahm. Ein Register für die allgemein bildenden Materien wurde zwar für 1792 angekündigt,17 erschien aber offensichtlich nicht. Dadurch blieb die ›Suchfunktion‹ naturgemäß unterentwickelt.
[B]: »Wem diese Ankündigung zur Hand kömt, wird gebeten, solche wieder einem andern Lekturfreund, oder Zeitungsliebhaber zu übergeben.« Schließlich noch Ambros, Michael [Hermann]: »Nachricht an die Herren Pränumeranten dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 30.06.1796 [Z], S. 413. 14 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerungen«, in: GBAZ vom 22. 12.1791 [Z]. 15 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerungen«, in: GBAZ vom 05. 01.1792 [Z], S. 16. Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerungen von Seite des Verlegers der Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 02.02.1792, S. 76f. zu einer positiven Antwort aus dem Banat; am Ende dieser Nachricht enthüllte der Redakteur, dass er konkret ein Kompendium plane, für das er Auskünfte bei kompetenten Personen einzuholen gedachte. Vgl. zu einer Zuschrift aus Žalec/Sachsenfeld: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerungen von Seite des Verlegers der Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 16.02.1792 [B]. 16 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerungen von Seite des Verlegers der Bauernzeitung«, in: GBAZ 30.01.1792 [B]. 17 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerungen«, in: GBAZ vom 19.12. 1791 [Z].
D AS Z EITUNGSKOMPTOIR ALS I NFORMATIONSDREHSCHEIBE | 115
Terminologisch kristallisierte sich für diese allgemein bildenden Beiträge schon Ende 1791 die Bezeichnung »Intelligenzblat«18 heraus. Zu ihrer Abtrennung von den Zeitungsblättern kam es jedoch erst 1794.19 Zu dieser Zeit bestanden die Beiträge allerdings fast ausschließlich aus einer Sammlung von Baltasar Graciáns Maximen und aus Auszügen aus der Neuwieder Zeitung.20 Dieser einförmige Inhalt dürfte wohl der Grund sein, warum diese Intelligenzblätter nicht mehr erhalten sind.21
I NFORMATIONSÜBERMITTLUNG Abseits dieser Materien sollen in der Folge insbesondere die Anzeigen22 im Mittelpunkt des Interesses stehen (vgl. Diagramm 2). Offizielle Verlautbarungen der staatlichen Instanzen in Wien und Innerösterreich gaben über gesetzliche Rahmenbedingungen Auskunft (vgl. Diagramm 3). Zusammen mit den Lottozahlen (vgl. Diagramm 4), den Totenlisten sowie den Frem-
18 Ebd.: »im Anhang, oder eigentlichen Intelligenzblat«. Andererseits firmierte das Anzeigen- und Intelligenzblatt noch 1794 als »Zeitung«, vgl. die Inhaltsangabe am Beginn der GBAZ vom 17.03.1794. 19 Zuletzt vereint in der GBAZ vom 14.07.1794. 20 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die Liebhaber der Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 25.12.1794 [B]. Zudem enthalten die Beiträge eine Sammlung von Lehren zur römisch-antiken »Staatsklugheit«, die wie Baltasar Graciáns Maximen zweisprachig gehalten waren und daher den Spracherwerb förderten. Zusammen mit angekündigten Beiträgen aus Wirtschaft, Gesundheit, Geschichte und Politik sollte sich daraus insgesamt nach wie vor eine »kleine, aber auserlesene Hausbibliothek« ergeben. 21 Ihr tatsächliches Erscheinen lässt sich nur an Notizen am Ende der Zeitungsblätter festmachen. 22 Die Anzeigen wurden nach ihrer Anzahl und nicht nach ihrer Länge ausgewertet. Dieser Ansatz ergab sich aus der unterschiedlichen Zahl der Absätze und der Leerstellen; nicht zuletzt spielten die ausgreifenden Floskeln im Amtsdeutsch eine entscheidende Rolle. Der Faktor der Wiederholung wurde ebenfalls nicht berücksichtigt. Eine die Länge berücksichtigende Auswertung der allgemeinbildenden Beiträge wäre hingegen noch erhellend.
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1795/96
50 33 250 33 22
1794/95
132 94 520 54 46
Privatanzeigen
Verordnungen
55
1792
94
Kommerzielle Anzeigen
Unterhaltung, Glücksspiel
194 27
Herrschaftliche Mitteilungen
Herrschaftliche Mitteilungen
90
Unterhaltung, Glücksspiel
Kommerzielle Anzeigen
92
Verordnungen
Privatanzeigen
1791
174 267 48 69
0
100
200
300
400
500
600
Diagramm 2: Häufigkeit der Anzeigenkategorien
1795/96
Steiermark
Innerösterreich
Wiener Hof 50,00
18,18 31,82
1794/95
58,70 13,04 28,26
1792
16,67 14,44 68,89
1791
4,35 73,91 21,74
0
10
20
30
40
50
60
70
Diagramm 3: Verordnungen in Prozent (n: siehe Diagramm 2)
80
1792 1794/95 1795/96
D AS Z EITUNGSKOMPTOIR ALS I NFORMATIONSDREHSCHEIBE | 117
19 33 32 54 22
Davon Lotto
27
Gesamt
1791
29 48
0
20
40
60
80
Diagramm 4: Häufigkeit von Anzeigen zu Unterhaltung, Glücksspiel
Verlautbarungen
Konkurse, Schulden
Ausschreibungen
Erbschaftseinberufungen
(Gerichtliche) Versteigerungen
1795/96
17,60 9,60 6,80 13,20 52,80
1794/95
7,88 9,42 8,85 14,04 59,81 14,43
1792
5,15 7,73 12,89 59,79 1,50
1791
8,61 19,10 20,97 49,81
0
20
40
60
80
Diagramm 5: Herrschaftliche Mitteilungen in Prozent (n: siehe Diagramm 2)
118 | A NDREAS G OLOB
Buchdruck
Handel und Dienstleistungen
Buchhandel
1795/96
0,00 30,30 69,70
1794/95
2,13 45,74 52,13
1792
2,13 74,47 23,40
1791
11,49 76,44 12,07
0
20
40
60
80
100
Diagramm 6: Kommerzielle Anzeigen in Prozent (n: siehe Diagramm 2)
Sonstige
Verkaufsanzeigen
Stellenmarkt
Mietgeschäfte
1795/96
22,00 14,00 10,00 54,00
1794/95
6,06 18,18 13,64 62,12
1792
20,00 7,27 14,55 58,18 4,35
1791
16,30 4,35 75,00
0
20
40
60
Diagramm 7: Privatanzeigen in Prozent (n: siehe Diagramm 2)
80
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denverzeichnissen für Graz von 1791 und 1792 dienten sie dem allgemeinen Informationsbedürfnis. Den klaren quantitativen Schwerpunkt bilden jedoch stets Ankündigungen der Magistrate, Staatsgüterverwaltungen und Herrschaften (vgl. Diagramm 5). Sie verlautbarten vorwiegend gerichtliche Versteigerungen, Erben- und Gläubigereinberufungen sowie Ausschreibungen von Stellen und Kommissionen. Kommerzielle Anzeigen blieben dagegen stets in der Minderheit (vgl. Diagramm 6). Auch ohne die beigelegten Anzeigen23 lagen die Buchhändler 1791 und 1792 hier klar voran. Der starke Rückgang dürfte mit der Zensur selbst dieser ephemeren Nachrichten24 zusammenhängen. Schließlich waren auch private Verkaufsanzeigen und Dienstgesuche regelmäßig vertreten (vgl. Diagramm 7). Den Inhalt der Anzeigen bestimmte primär die Angebotsseite. Die Anzeigenblätter glichen daher eher einer ›Fundgrube‹ als einer gezielt einsetzbaren ›Suchmaschine‹. Andererseits wurde auch Ambros selbst aktiv. Als besondere Innovation betrachtete er – zu Recht – die sogenannte »Glüksrubrik dem Wohl der Menschheit gewiedmet«.25 Im letzten Quartal 1791 eingeführt, vereinigte sie vor allem Erbfälle, aber auch Ausschreibungen von anderen Einkunftsquellen. »[Ü]ber 50«26 Presseorgane der Habsburgermonarchie und darüber
23 Vgl. zur Trennung explizit: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: Ohne Titel, in: GBAZ vom 22.01.1795 [Z], S. 48: eine »in einem besonders gedrukten Quartblatt beigelegt gewesene Anzeige«. 24 Vgl. N.N.: »Allgemeine Verordnung in Censurs Angelegenheiten«, in: GBAZ vom 11.05.1795. 25 Zur Ankündigung: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An Liebhaber dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 24.10.1791 [Z]. 26 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Glüksrubrik dem Wohl der Menschheit gewidmet«, in: GBAZ vom 24.10.1791. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die Liebhaber der Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 25.12.1794 [B]: »46 der gangbarsten in- und ausländischen Zeitungen«. Zusätzlich zu den in der Auflistung genannten Zeitungen (s.u.) fanden sich die folgenden Hinweise: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erbschaftseinberufungen und andere Glükesbotschaften«, in: GBAZ vom 09.02.1792, S. 95: »Aus den ungarischen Staats und gelehrten Nachrichten«. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Glüksanzeigen verschiedener Gattung«, in: GBAZ vom 08.05.1794: Notizie Universali, Gazzetta Universale (Firenze/Florenz). N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Glüksan-
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hinaus dienten angeblich als Quellen für dieses »Geschenk«. Wenig später folgten bereits vage Andeutungen über erfolgreiche Abonnentinnen und Abonnenten sowie euphorische Vorsätze, ab 1792 alle europäischen »Hauptzeitungen« heranzuziehen.27 In weiterer Folge standen diese Bestrebungen naturgemäß im Zentrum von Pränumerationsankündigungen. In der Anzeige für 179228 suggerierte Ambros die Wahrscheinlichkeit, kleinere Beträge von »30 – 40 – 50 … Gulden« zu erzielen, oder auch substanzielle Vermögen an sich zu bringen. Da die systematische Benachrichtigung nun den Zufall ersetzte und die essentiellen Informationen »ganz leicht durch die algemein verbreitete Grazer Bauernzeitung« praktisch »zu Jedermanns [!] Wissenschaft gelangen« konnten, sah er Potential für »viele Tausende«. In der gleichen Nachricht stellte er einen Vergleich an zwischen dem Geschäft mit der Hoffnung und »eine[r] unterhaltende[n] Art von Glüksspiel«, die in Form eines Gemeinschaftsabonnements auch auf »kleine Gesell-
zeigen verschiedener Gattung«, in: GBAZ vom 22.05.1794: »Laibacher Z[eitung]«. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Glüksanzeigen verschiedener Gattung«, in: GBAZ vom 23.06.1794: »A[llgemeines] I[nner] Oe[sterreichisches] Z[eitungsblatt]«. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Glücksanzeigen verschiedener Gattung«, in: GBAZ vom 17.12.1795: Erlanger Zeitung. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erbschafts-Einberufungen«, in: GBAZ vom 24.03.1796: »Oberdeutsche Staatsz[eitung]« Vgl. auch noch N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Einberufungen zu Erbschaften«, in: GBAZ vom 22.05.1794: Demnach diente die Bekanntmachung der »Quelle« vor allem der Arbeitsersparnis für das Komptoir, weil so unnötige Rückfragen und Korrespondenzkosten vermieden werden könnten. 27 Bei N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Glüksrubrik dem Wohl der Menschheit gewidmet«, in: GBAZ vom 03.11.1791. Vgl. noch N.N. [Ambros, Michael Hermann]: Ohne Titel, in: GBAZ vom 04.12.1794 [Z], S. 776: »sehr oft« Erfolgsmeldungen. 28 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An Liebhaber der Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 12.12.1791 [B]. Ein Gulden (Untereinheit: sechzig Kreuzer) dürfte in seiner heutigen Kaufkraft wohl – ungeachtet beträchtlicher regionaler Differenzen – mit 25 Euro anzusetzen sein. Vgl. noch N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die Liebhaber der Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 25.12.1794 [B]. Unter Pränumeration wurde die gängige Praxis des Abonnements durch Vorauszahlung verstanden.
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schaften, ganze Handwerkszünfte in Städten und Märkten, und ganze Gemeinden auf dem Lande« ausgeweitet werden könne. Dabei sollte die Abgabenpflicht für einzelne Begünstigte bestehen. Einen »Durchschnit« von 1040 Meldungen per annum, den Ambros mit eben so vielen profitierenden »Familien« gleichsetzte,29 verfehlte er jedoch stets bei Weitem. Ob Ambros die generelle Nützlichkeit der eingerückten Nachrichten überinterpretierte, sei dahingestellt. In Anbetracht der kriegsbedingten Migrationsströme sind die Entfernungen der Adressatinnen und Adressaten einerseits und der einberufenden Instanzen andererseits zumindest nicht unplausibel. Das »Glück« wurde Anfang 1792 als Motiv jedenfalls kurzfristig so dominant, dass der ganze Anhang in Steyrischer Lust- und Glükesbote beziehungsweise Steyrischer Glüks- und Unglüksbote30 umbenannt wurde. Die Glüksrubrik wurde im Laufe des Jahres zum Glükstopf.31
S ELBSTEINSCHÄTZUNG Am Zenit dieser inhaltlichen Vielfalt konstatierte der Herausgeber schließlich die Abdeckung aller erdenklicher Interessen, die das Zeitungspublikum bis dato geäußert hatte. Eigentlich, so meinte er, handle es sich bei seinen Blättern um eine Summe von Zeitungstypen.32 Entsprechend den Rubriken umfassten sie demnach zugleich eine »Staatszeitung«, eine »ökonomische Zeitung«, eine »Frauenzimmer-Zeitung«, 33 eine »Litteratur-Zeitung«, eine »Schrift zum Nuzen und Vergnügen beiderlei Geschlechtes«, also so etwas wie eine moralische Wochenschrift, ein »vaterländisches Intelligenzblat«
29 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Der Glükstopf«, in: GBAZ vom 11. 06.1792, S. 161. 30 Ab der GBAZ vom 02.02.1792 bis zum Verbot der Zeitung. 31 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Der Glükstopf«, in: GBAZ vom 11.06.1792, S. 161. 32 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An Liebhaber der Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 12.12.1791 [B]. 33 In der Tat enthielt das Printmedium 1791 und 1792 nicht weniger als 31 ausdrücklich an Frauen gerichtete Rubriken, die belletristisch-moralistische (43), gesundheitliche (4), (zeit)historische (4), ökonomische (1) und länderkundliche (1) Themen aufgriffen.
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und nicht zuletzt ein »algemeines Intelligenzblat von ganz neuer Art«. Das hohe Selbstbewusstsein des Redakteurs spiegelte sich zudem in seinen Ankündigungen wider. So setzte Ambros auf Kontinuität, weil er ohnedies nichts Verbesserungswürdiges an seiner Zeitung finden konnte, und gebrauchte »keine Büklinge und Krazfüsse« zu deren Empfehlung, denn schließlich sprach seine Leistung für sich selbst.34 Dennoch steigerten zahlreiche »Geschenke«35 die Attraktivität eines Abonnements. 1791 und 1792 stand eine Postkarte der Habsburgermonarchie im Mittelpunkt, die durch ein mit Reiseinformationen, beispielsweise über Gaststätten, ausgestattetes Postbüchel sowie eine Entfernungstabelle ergänzt wurde. Diese Produkte Ambros’schen Druckerfleißes erlebten mehrere Aktualisierungen beziehungsweise Überarbeitungen. Eine projektierte Kriegskarte, wohl zum letzten Türkenkrieg, war zwar nicht realisiert worden, jedoch veranschaulichten diverse Kriegskarten und dazu passende Entfernungstabellen die Entwicklung der Koalitionskriege in Frankreich, in Italien, in den Niederlanden sowie am Rhein und an der französischspanischen Grenze. Das Zeitgeschehen überholte jedoch zuweilen die Produktion, weshalb etwa die Ausgabe von Karten zum Kriegsschauplatz in der Vendée und zu vormals umkämpften Festungen auf Grund fehlender Aktualität eingestellt wurde. Weitere letztlich ephemere Versatzstücke der visuellen Wirklichkeitskonstruktion galten dem Scharlatan Giuseppe Balsamo alias Alessandro Graf von Cagliostro und dessen Gattin, über deren Leben auch eine Biographie erschien, Grigori Alexandrowitsch Potjomkin, dem polnischen Revolutionär Tadeusz KoĞciuszko sowie einer Veranschaulichung eines französischen Telegraphen. Eine teils Erstausgaben umfassende »Ablieferung der Bögen von interessanten [gemeinnützigen] Werken«, für deren Herausgabe eine »Gesellschaft erfahrner Litteratoren« als Kuratorium verantwortlich zeichnen sollte, wurde zwar ab Mitte 1794 angekündigt, kam aber wohl nie richtig in Gang.
34 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Die – so betitelte Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 17.02.1791 [B]. Andererseits fehlten auch Momente der kritischen Selbstreflexion nicht. 35 Ausführliche Quellenverweise bei: Golob, Andreas: »Informationswege nach und aus Graz«, in: Historisches Jahrbuch der Stadt Graz 41 (2011), S. 215-236.
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G ESCHÄFTSFELDERWEITERUNG R ISIKODIVERSIFIZIERUNG
ALS
Die inhaltliche Vielfalt entsprach andererseits auch einer Vielfalt der Nebengeschäfte, die Ambros forcierte. Die Konkurrenz dürfte wohl der Grund für die Diversifizierung gewesen sein. So eröffnete Ambros im Frühjahr 1791 eine eigene Buchdruckerei.36 Abgesehen vom Druck der Zeitung37 und ihrer Werbegeschenke blieb deren Wirkungskreis jedoch beschränkt. Wie andere Druckereien auch, offerierte Ambros im Wesentlichen Kalender und Formulare.38 »Liebhaber der Kunst, der Litteratur, der Geschichte und anderer nuzbarer Gegenstände« wurden zwar recht bald zur Einsendung von unterhaltenden und belehrenden Schriften »aus allen Fächern der Wissenschaften und Künste« aufgerufen.39 Von dieser »beste[n] Gelegenheit« für die Anfertigung von Druckexemplaren, die auch außerhalb der Intelligenzblätter verbreitet werden sollten, ging allerdings offensichtlich wenig Anreiz aus. Obwohl Ambros versprach, Sonderdrucke40 beziehungsweise ungenannte andere Kompensationsmöglichkeiten einzuführen, verstummten seine diesbezüglichen Avancen, ohne mitteilenswerte Erfolge zu zeitigen. Immerhin erwarb er sich durch den Druck von Post- und Kriegskarten im Lauf der Zeit eine gewisse Expertise im Kartendruck.41 In seiner Kernkompetenz als Zeitungsverleger erweiterte Ambros sein kleines Medi-
36 Erstmals: Ambros, Michael [Hermann]: »An das Publikum«, in: GBAZ vom 21.04.1791. 37 Vgl. zur selbstständigen Produktion der Bauernzeitung in der »eigenen« Druckerei: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An unsre Titl. Herren Leser«, in: GBAZ vom 22.08.1791 [Z]. Im Jahr 1795 scheint allerdings wieder Franz Georg Schröckenfuchs auf, vgl. etwa die Bauernzeitung Nr. 27. 38 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Tabellen-Ankündigung«, in: GBAZ vom 11.08.1791 [B]. 39 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Der Verleger dieser Zeitung an seine titl. Herren Leser«, in: GBAZ vom 16.06.1791. 40 Zu einem konkreten Fall: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Einige Erinnerungen von Seite des Verlegers dieser Blätter an verschiedene seiner Herren Pränumeranten«, in: GBAZ vom 04.05.1795 [Z], S. 279. 41 Vgl. Ambros, Michael Hermann: »Die Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 29.01.1795 [B].
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enimperium 1795 auch noch um das Gratzer Frauenjournal.42 Allerdings zeichnete er hier offiziell nicht für den Inhalt verantwortlich, sondern sorgte lediglich für die Infrastruktur.43 Abseits dieser quasi handwerklichen Betätigung agierte Ambros außerdem als sozusagen direkter Kommunikations-, Informations- und Logistikdienstleister. Im Spätsommer 1791 nahmen diese Aktivitäten offensichtlich bereits ein beträchtliches Ausmaß an, denn Ambros teilte seiner Kundschaft mit, dass das »Kommissionsgeschäft einem eigenen dazu aufgestellten Individuum übertragen«44 worden sei. In erster Linie dachte er zu diesem Zeitpunkt noch an Bücherbestellungen. Diese wurden unter der Voraussetzung bearbeitet, dass ein Fünftel des Preises zusätzlich zur Abdeckung der Versandkosten angewiesen werden musste.45 Außerdem durfte der Wert des Buches die Lieferkosten nicht unterschreiten.46 Die Trennung des Zeitungsversands von diesem eigentlich inoffiziellen Buchhandelsgeschäft wurde
42 Zur ersten Anzeige: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Vorläufige Anzeige in Betref des Grazer Damen-Journals«, in: GBAZ vom 08.12.1794 [Z], S. 784. 43 Vgl. v.a. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die Liebhaberinen und Liebhaber des Grazer Damen-Journals«, in: GBAZ vom 18.12.1794 [Z], S. 808. Zu »3 gelehrten Frauen« kamen demnach »noch 6 andere erudite Mitverfasserinen«, um breitere Interessensgebiete abdecken zu können, sowie »eine Sekretärin«. 44 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Nachricht an die Herren Pränumeranten«, in: GBAZ vom 08.09.1791 [Z]. Vgl. auch N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerungen von Seite des Verlegers der Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 30.01.1792 [B]: »der Kommissionen so viele«, »[u]iberhäufte Geschäfte«. 45 Vgl. zu den grundsätzlichen Bestimmungen v.a.: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An das Publikum«, in: GBAZ vom 06.10.1791. Vgl. zu einer logistisch besonders aufwändigen Bestellung: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Einige Erinnerungen von Seite des Verlegers auf verschiedene Veranlassungen«, in: GBAZ vom 12.05.1794: Es handelte sich um eine Bücherlieferung an einen Kaufmann in Bratislava/Pressburg, die in Teplice/Töplitz in Auftrag gegeben worden war. Das Komptoir diente also quasi als Relaisstation. 46 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Einige Erinnerungen von Seite des Verlegers dieser Zeitung auf verschiedene Veranlassungen«, in: GBAZ vom 17. 04.1794.
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betont.47 Am Ende des Jahres 1791 sprach der Verleger bereits vom Service eines »algemeine[n] Kommissionskomptoir[s]«48 nicht nur für Bücherbestellungen, sondern überaus speziell auch zum Tausch und Kauf beziehungsweise Verkauf von Postämtern und Gaststätten. Die angedeuteten Präzedenzfälle zu dieser außerordentlichen Tätigkeit schlugen sich jedoch nicht direkt in Annoncen nieder. Verkaufsannoncen, in der Mehrzahl für Immobilien, bildeten überhaupt einen Schwerpunkt (vgl. Diagramm 8). Am häufigsten handelte es sich jedoch um die Vermittlung von Arbeits- oder Versorgungsstellen. Hauptsächlich lief auch die Heiratsvermittlung, die Ambros 1794 aufzog, über das Komptoir.49 Abgesehen von den Gratisanzeigen wurden die einlaufenden Briefe der Suchenden nämlich auch kostenlos sowie diskret weitergesandt, und zudem konnte das Komptoir auch »mündlich« kontaktiert werden.50 Die Nutzung dieser neuen Möglichkeit verteidigte Ambros als philanthropische Bemühung gegenüber unlauteren profitorientierten Kuppeleien, indem er diesen Machenschaften »das erlaubte wohlfeile Mittel der Publizität«51 gegenüberstellte. Die Notwendigkeit dieser Apologie des »wohlthätige[n] Institut[s]« ergab sich aus – nun mehr größtenteils abgelegten – »schädliche[n] Vorurtheil[en]«, wonach lediglich weniger intime Materien wie Immobilien, Kredite, Vieh und Stellen
47 Allgemein und ausdrücklich v.a.: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An Liebhaber dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 24.10.1791 [Z]. Vgl. auch noch: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Einige Erinnerungen von Seite des Verlegers dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 26.03.1795 [Z], S. 192. 48 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An Liebhaber der Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 12.12.1791 [B]. 49 Vom Standpunkt der Sozialgeschichte der Medizin: Golob, Andreas: »Publizität und Kommerzialisierung von Gesundheit und Krankheit im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts. Das Beispiel der Grazer Bauernzeitung«, in: Virus – Beiträge zur Sozialgeschichte der Medizin 9 (2010), S. 43-68, hier S. 64f. 50 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Heurats-Anträge und Gegen-Anträge«, in: GBAZ vom 30.01.1794. Armen »Anbiether[n] und Anbietherinen« wurden auch teilweise die Portokosten erlassen. 51 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Heurats-Anträge und Gegen-Anträge«, in: GBAZ vom 17.03.1794.
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Verkaufsannoncen Stellenmarkt
Mietgeschäfte Geldgeschäfte
Heiratsvermittlung
Fundbüro
Personensuche Suche nach einem Dieb – »Hausausspiel« – Vertrieb einer Kropftinktur (je einmal)
3 3 4 7 7 33 33 15
0
10
20
30
40
Diagramm 8: »Algemeines Kommissionskomptoir« (n = 105) mithilfe von Anzeigen vermittelt würden.52 Steuernd versuchte der Redakteur einzugreifen, indem er nach ledigen oder verwitweten Frauen, die in der Praxis meistens von Mittelsmännern vertreten wurden, suchte, um die positive Resonanz für seine Innovation weiterhin aufrecht zu erhalten.53 Aus Reaktionen der Werbenden stach die Meinung eines Suchenden hervor, der seine Bequemlichkeit bekannte, indem er gestand »weder Zeit noch Lust … [zu haben] … selbst Bekanntschaften zu suchen«.54 Eine Antragstellerin erhoffte sich explizit eine »größere Auswahl«55 in der virtuellen
52 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Heurats-Anträge und Gegen-Anträge«, in: GBAZ vom 13.03.1794. 53 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Heurats-Anträge und Gegen-Anträge«, in: GBAZ vom 24.03.1794. 54 N.N.: »Heurats-Anträge und Gegen-Anträge«, in: GBAZ vom 14.04.1794. 55 N.N.: »Heurats-Anträge und Gegen-Anträge«, in: GBAZ vom 27.01.1794. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Heurats-Anträge und Gegen-Anträge«, in: GBAZ vom 13.03.1794: Böhmen, Mähren, Ungarn; später auch Galizien: N.N.: »Heurats-Anträge und Gegen-Anträge«, in: GBAZ vom 20.03.1794 – Dieser
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Welt der Anzeigenblätter, und in der Tat war die geographische Streuung durchaus bemerkenswert. Schließlich kamen Mietgeschäfte, Geldgeschäfte, drei allgemeine Personensuchen sowie die Ausforschung eines Diebes vor. Ebenso kursorisch übernahm das Komptoir die Agenden eines Fundbüros. In einem Fall fungierte Ambros auch als Kommissionär eines Lotteriespiels, in dem es um ein Haus in einer Wiener Vorstadt ging, und für eine Kropftinktur56 übernahm er sogar offiziell den Vertrieb für Innerösterreich und den habsburgischen Südosten. Die Konkurrenz in dieser Vermittlungstätigkeit trat nicht nur in der Form anderer Zeitungskomptoire57 auf. In den frühen 1790ern fanden in sich in der Bauernzeitung auch drei Hinweise auf das Grazer Frag- und Kundschaftsamt.58 Eine spezielle Anzeige desselben blieb aber singulär59
Antrag war offensichtlich sogar erfolgreich, vgl.: N.N.: »Heuraths-Anträge und Gegen-Anträge«, in: GBAZ vom 28.08.1794; N.N. [Bruderhofer]: »HeuratsAnträge und Gegen-Anträge«, in: GBAZ vom 31.07.1794: Niederösterreich. 56 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Für die Menschheit äußerst wichtige Nachricht«, in: GBAZ vom 13.01.1794. Später auch allgemein zu »angränzende[n] Provinzen«, s. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Die Urlische Kropflatwerge«, in: GBAZ vom 08.09.1794. Exemplarisch zu einer Bestellung aus Timiúoara/Temeswar: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Einige Erinnerungen von Seite des Verlegers dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 26.03.1795 [Z], S. 192. Zur Abgabe der Kommission: Ambros, Michael Hermann: »Nachricht«, in: GBAZ vom 18.04.1796. Vgl. zu einer früheren Anfrage bezüglich einer Tinktur: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An das Publikum«, in: GBAZ vom 06.10.1791 [Z]. 57 Vgl. Exemplarisch (1791) zur Konkurrenz als Kommunikationsinstanzen: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Vaterländische Intelligenznachrichten«, in: GBAZ vom 27.10.1791: Leykam in Graz und Joseph Ignaz von Kleinmayr in Ljubljana/Laibach. Vgl. in weiterer Folge dieselbe Rubrik: GBAZ vom 03.11. 1791: Ignaz Merk in Ljubljana/Laibach; GBAZ vom 07.11.1791: Buda/Ofen. 58 Vgl. N.N.: »Gemauertes Stökl samt Küchengärten zu verkaufen«, in: GBAZ vom 17.02.1791 [Z]. Herrschaft Pirkwießen: »Eine Mauthmahlmühle in Bestand zu verlassen«, in: GBAZ vom 21.02.1791. N.N.: »Weine zu verkaufen«, in: GBAZ vom 12.05.1791 [B]. 59 Vgl. Frag- und Kundschaftsamt Graz: »Fragamts-Nachrichten«, in: GBAZ vom 24.03.1791. Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Vaterländische Intelli-
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und kolportierte verschiedenste Posten, von einem Billard- und Leuchterverkauf in einem Kaffeehaus über Blumen bis hin zu Gemüse und Obst. Außerdem etablierte sich das so genannte »öffentliche Schreibkabinet« als Nachrichtenumschlagplatz. Es fiel vorwiegend mit der Vermittlung von Krediten60 auf. Marginal blieben hingegen die Beteiligung an der Verlosung eines »Rautenring[s]«61 oder ein Stellengesuch.62 Andere, wenngleich informelle Informationsquellen sprudelten schließlich in Gasthäusern und in Kaffeehäusern. Insbesondere die Letztgenannten63 waren auch als Orte
genznachrichten«, in: GBAZ vom 10.11.1791 (Dienstgesuch); N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Vaterländische Intelligenznachrichten«, in: GBAZ vom 24.11.1791 (Kreditvermittlung). 60 Vgl. N.N.: »Kapital wird gesucht«, in: GBAZ vom 15.08.1791; N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Vaterländische Intelligenznachrichten«, in: GBAZ vom 05.12.1791 [B]. Vgl. durchaus noch später: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Bekanntmachungen in Auszügen aus andern Blättern«, in: GBAZ vom 17.11. 1794 (Hofverkauf); N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Bekanntmachungen in Auszügen aus andern Blättern«, in: GBAZ vom 24.11.1794 (Stellenvermittlung und abermals Wertpapierhandel); N.N.: »Kapital wird vergeben«, in: GBAZ vom 19.01.1795; N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Bekanntmachungen in Auszügen aus andern Landesblättern«, in: GBAZ vom 23.12.1795 (Verkauf einer Immobilie); N.N.: »Haus und Garten zu verkaufen«, in: GBAZ vom 04.01. 1796. 61 N.N.: »Rautenring-Ausspielung«, in: GBAZ vom 27.10.1791 [B]. Mit der Angabe des Inhabers der Institution: Anton Dorasill. 62 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Vaterländische Intelligenznachrichten«, in: GBAZ vom 10.11.1791. 63 Vgl. N.N.: »Haus-Verkauf bei Franz Xaveri Achmayer«, in: GBAZ vom 10.01. 1791 (Verkauf eines Kaffeehauses, Auskünfte auch bei einem Buchdrucker und bei einem Kaufmann). Kölbel, Franz: »Feuerwerk zu Graz«, in: GBAZ vom 23.06.1791 [B] (Kartenvorverkauf) – vgl. Enslen, Karl: »Eine Luftjagd zu Graz«, in: GBAZ vom 07.07.1791 [B], Gebrüder Melber und Pleiner: »Ankündigung grosser elektrischer und physikalischer Experimenten [sic!]«, in: GBAZ vom 20.12.1792 [B] (auch in einem Gasthaus; der genaue Termin sollte am Land mithilfe der Bauernzeitung angekündigt werden), N.N.: Ohne Titel, in: GBAZ vom 30.03.1795 [Z], S. 200 (zudem in einem Tabakgewölbe), Kölbel, Franz: »Feuerwerks-Nachricht«, in: GBAZ vom 09.06.1796 [Z], S. 358 (detto).
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des Zeitungslesens64 greifbar. Die Bauernzeitung lag 1793 beziehungsweise 1794 nachweislich neben anderen in- und ausländischen Zeitungen in zwei Grazer Kaffeehäusern auf.65 Die Blätter konnten nicht nur vor Ort rezipiert werden, sondern durften auch entlehnt werden, zudem wurden sie sogar gegen ermäßigte Preise abgestoßen. Die Kaffeehäuser trugen so insgesamt Außerordentliches zur sozialen Ausweitung der Zeitungslektüre bei. Handelskomptoire konnten schließlich in Ausnahmefällen ebenfalls Nachrichten verbreiten helfen beziehungsweise als Ansprechpartner66 dienen. Ambros riet etwa, Zeitungsgelder aus entfernten Orten über den Zahlungsverkehr des allgemeinen Handels zu erledigen, der »fast überal«67 greifbar war.
ANZEIGENBLÄTTER
UND STAATLICHE
AUTORITÄT
Die Beziehungen der Ambros-Zeitungen zur obrigkeitlichen Autorität gestalteten sich vielschichtig. Prinzipiell erlangten die Anzeigenblätter nie den Status eines offiziellen Amtsblattes. Diese Stellung blieb dem Konkurrenten Leykam mit seiner Grätzer Zeitung vorbehalten. Andererseits verbreiteten die Beilagen der Bauernzeitung sehr wohl, teils aus Eigeninitiati-
Vgl. auch N.N.: »Ein Mensch wird [als Reisebegleiter] gesucht«, in: GBAZ vom 07.04.1796, N.N.: »Wohnung zu verlassen«, in: GBAZ vom 11.04.1796. 64 Vgl. insgesamt: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Die – so betitelte Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 17.02.1791 [B]: Demnach fand sich die Bauernzeitung »in allen ansehnlichen Kaffe- Gast- Herrschaft- und Privathäusern«. 65 Vgl. N.N.: »Nachricht«, in: Grätzer Zeitung vom 06.09.1793, Lukas Martinelli: »Nachricht«, in: Grätzer Zeitung vom 17.07.1794. 66 Vgl. N.N.: »Wiesen und Feldbau zu verkaufen«, in: GBAZ vom 28.04.1791 [B], Kölbel, Franz: »Feuerwerk zu Graz«, in: GBAZ vom 23.06.1791 [B] (Kartenvorverkauf). 67 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Beantwortung einiger Anfragen, wie pro 792 die Pränumerazionen für die Grazer Bauernzeitung aus den ungarschen Erblanden bei gegenwärtiger Verfügung sicher eingeschikt werden sollen«, in: GBAZ vom 21.11.1791 [Z], vgl. hiezu v.a. auch N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Die Urlische Kropflatwerge«, in: GBAZ vom 08.09.1794 (zum Bezug des Medikaments über Jahrmarktbesucher).
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ve,68 Patente und Kurrenden von staatlichen Instanzen auf Kreis-, Landesund Staatsebene. Auch die Grundherrschaften sowie die Magistrate bedienten sich, wie oben angedeutet, ihrer öffentlichen Präsenz. Die Einberufung zur Lehenbestätigung69 durch einen adeligen Grundherren verband in diesem Zusammenhang eindrucksvoll die Anachronismen mittelalterlicher Strukturen mit dem neuen Medium der Zeitungskundmachung. Gleiches galt für die Einberufung zu den böhmischen Huldigungsfeierlichkeiten im Jahre 179170 oder die Einberufung des Steiermärkischen Landtages zur Absegnung eines Kriegsdarlehens, die offensichtlich nur Ambros und Leykam71 verbreiteten. Andererseits war Ambros selbst überzeugt, durch seine Bestrebungen konkrete regulatorische Macht ausüben zu können. Hierher gehört vor allem die Beobachtung der Märkte. Ende 1791 stellte der Redakteur seinen Plan zur Bekämpfung unverhältnismäßig steigender Marktpreise vor.72 Die regelmäßigen Meldungen aus Umschlagplätzen wie Wiener Neustadt, Sopron/Ödenburg, GyĘr/Raab, KĘszeg/Güns, Vácz/Waizen, Pest und Karlovac/Karlstadt sollten demnach einen »Hauptschlag für Getraidwucherer« bedeuten. Wiederum verließ sich der Herausgeber der Bauernzeitung nicht nur auf gedruckte Informationen, sondern setzte auch auf »gute patriotische Freunde«, die mit Sachleistungen remuneriert werden sollten. So könnten
68 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An das bekantmachende Publikum«, in: GBAZ vom 12.12.1791 [B]. 69 Vgl. Stubenberg, Dismas von/Löw, Leopold Xavier: »Convoc[ation] der herrlich von Stubenbergischen Lehensvasallen«, in: GBAZ vom 19.06.1794, vgl. allgemein auch: Gubernium Steiermark: »Kurrende«, in: GBAZ vom 11.09. 1794. 70 Vgl. Gubernium Innerösterreich: »Gubernial-Nachricht«, in: GBAZ vom 27.06. 1791[B]. 71 Vgl. Landtagsausschuss Steiermark: »Kurrende«, in: GBAZ vom 27.11.1794: neben den üblichen Verlautbarungswegen explizit mit »zweien hierländigen Zeitungen« zur schnelleren Informationsübermittlung. 72 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Ein Hauptschlag für Getraidwucherer«, in: GBAZ vom 07.11.1791, vgl. auch N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An Liebhaber der Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 12.12.1791 [B]: »Donnerschlag für alle Getraidwucherer« zugunsten aller im Produktionsund Verarbeitungsprozess Eingebundener.
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willkürliche, »gewissenlose« Gerüchte der Preistreiber nicht mehr zu ungerechtfertigten Preissprüngen führen. Als Zielgruppe der »eigene[n] Rubrik« nannte Ambros neben der allgemeinen Öffentlichkeit insbesondere Bäcker, Brauer, Müller und Wirte. Die Funktion des Blattes als »algemeine Verrätherin der Getraidwucherer« würde nicht zuletzt »etliche hundert« neue Leserinnen und Leser aus allen Ländern der Habsburgermonarchie anziehen. Seinen Anspruch konnte er jedoch nur kurzfristig erfüllen. Immerhin langten bis Mitte Juli 1792 regelmäßige Informationen aus Innerösterreich, Niederösterreich, Böhmen, Mähren und den ungarischen Erbländern ein.73 Einen zweiten Weg beschritt der Redakteur mit seiner öffentlich kommunizierten Wohltätigkeit. Als Dank an die Steiermark, dem »Entstehungsort und Vaterlande«, sagte er 1791 großzügige Unterstützungen zu. So sollte die gesamte lokal akquirierte Halbjahrespränumeration für 1792 der Stadt Leoben zukommen. Aus diesem Betrag würde ein Drittel für die kommunale Armenversorgung eingesetzt werden, während der Rest für die Einkleidung armer Schülerinnen und Schüler gewidmet werden sollte. Mit den Erträgen neu hinzugekommener Abonnementsbeträge in den Städten
73 Vgl. v.a. zu zusätzlichen Handelsgütern und Handelsorten: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erbländische Getraidpreise«, in: GBAZ vom 14.11.1791: Lwiw/Lemberg. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erbländische Getraidpreise«, in: GBAZ vom 21.11.1791: Hülsenfrüchte, Wein, Heu, Tierprodukte. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erbländische Getraidpreise«, in: GBAZ vom 12.12.1791: auch Getreideprodukte; NB. Probleme mit der Maßkonkordanz. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erbländische Getraid- und andere Preise«, in: GBAZ vom 19.12.1791: Stroh, Holz und Kerzen; Lienz/Osttirol. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erbländische Getraid- und andere Preise«, in: GBAZ vom 12.01.1792, S. 29f.: Oberösterreich. NB. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Einige ausländische Getraidpreise«, in: GBAZ vom 26.01.1792, S. 62: Salzburg, München, Traunstein. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erbländische Getraid- und andere Preise«, in: GBAZ vom 06.02.1792, S. 86f., hier S. 87: Seife, Braunkohle; NB. eine Bemerkung gegen die »gewinsichtigen Kornjuden«. Vereinzelte, regional begrenzte Meldungen fanden sich auch noch 1794: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Marktpreis in Laibach [Ljubljana]«, in: GBAZ vom 02.01.1794, N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Marktpreise in Klagenfurt«, in: GBAZ vom 09.01.1794, N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Marktpreis in Graz«, in: GBAZ vom 20.01.1794.
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Maribor/Marburg an der Drau, Ptuj/Pettau und Celje/Cilli würde die gleiche Wohltat geleistet werden.74 Der »Mutterstadt« Graz verehrte Ambros ab 1792 überdies den Gegenwert von acht Jahresabonnements, der jedes Jahr an andere benachteiligte Personen gehen sollte. Zudem wurde der 25-fache Erlös einer Postkarte für die Armenanstalten versprochen. Nicht zuletzt wollte Ambros mit dieser Tat auch seine Verlegerkollegen anspornen.75 Als medientechnisch besonders interessant erwies sich letztlich die Herausgabe eines Büchleins zur finanziellen Aufbauhilfe nach einem Stadtbrand in Bruck an der Mur. Die so genannte Abendmusse zum Nuzen und Vergnügen für beide Geschlechter vereinte nämlich ökonomische, diätetische, geographische, historiographische, naturhistorische, belletristische und moralisierende Originalbeiträge aus den Anhängen des Jahres 1791.76 Damit wurden – laut Ambros auf Anregung »eines österreichischen Buchhändlers« – medial gesehen Zeitungsaufsätze in die dauerhaftere Form des Buchs überführt. Die Transparenz der Zeitung, die auch Instanzen des öffentlichen Wohlfahrtswesens für sich nutzten, konnte wiederum durch die öffentliche Auflistung der Gaben in der Zeitung nachvollzogen werden.77 Die kriegerischen Umstände veranlassten den gebürtigen Tiroler Ambros letztendlich 1796 zur Sammlung von Feuerwaffen für die Tiroler Landesverteidigung, die als Geschenke, Leihgaben oder gegen moderate Preise im Komptoir abgegeben werden sollten.78 Er vertraute dabei auf jene »Stey-
74 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: Ohne Titel, in: GBAZ vom 05.12.1791 [Z]. NB., dass nicht nur die Lehrer, sondern auch die Postbeamten [!] das Präsentationsrecht bei der Auswahl der Einzelbegünstigten hatten. 75 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Mein Dank«, in: GBAZ vom 15.12. 1791 [Z]. Zu diesen und weiteren Aktionen zur Hilfeleistung an Bedürftigen und Kranken bereits: A. Golob: »Publizität und Kommerzialisierung«, S. 57f. 76 Vgl. Ambros, Michael [Hermann]: »An das mitleidige Publikum«, in: GBAZ vom 06.09.1792 [Z], S. 359f. 77 Vgl. die Details bei A. Golob: »Publizität und Kommerzialisierung«, S. 56, 58f. 78 Vgl. Ambros, Michael [Hermann]: »Aufruf im Namen der biedern Tyroler an alle jene Steyermärkischen Biedermänner, welche brauchbare Stutzen mit gezogenen Röhren und andere brauchbare Schießgewehre besitzen, und insbesondere an die löblichen Steyerischen Bürger-Chöre und Schützen-Gesellschaften. (Mit hoher Bewilligung der hochlöbl. Landesstelle.)«, in: GBAZ vom 16.06.1796 [Z], S. 384. Ursprünglich hätte der »erste Transport mit der Extrapost« erst mit
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ermärkischen Biedermänner«, die begriffen, dass Tirol als »Schutzmauer« auch für die eigene »Heumat« dem Feind trotzte. Die öffentlichen Nachrichten dienten zur transparenten Abwicklung dieser behördlich abgesicherten Aktion. Allen diesen Verdiensten zum Trotz erlebte die Beziehung zu den Behörden mit dem Verbot der Bauernzeitung zwischen Februar und Mai 1792 einen Tiefststand. Zeitgenössische Gerüchte und auch die historiographische Beweisführung führten vor allem Anschuldigungen der Konkurrenz ins Treffen. In der Tat mangelte es nicht an unlauteren Strategien der Mitwerberschaft, und auch nicht an kriminellen Machenschaften bis hin zur Datenspionage, wie Ambros selbst zur Genüge bezeugte.79 Einen Anlass dürfte Ambros jedoch auch selbst geliefert haben, indem er – bezeichnenderweise kurz vor dem Verbot – eine genaue Hintergrundberichterstattung über das revolutionäre Paris aus Originalquellen ankündigte. Einer anderen, gelinderen beziehungsweise subtileren Steuerungsmaßnahme, dem Zeitungsstempel, widmete sich Ambros anlässlich dessen (kurzweiliger) Aufhebung.80 Er pries die Erleichterung allgemein als Möglichkeit, »Künste und Wissenschaften« verstärkt zu berücksichtigen. Außerdem wurden eine Ausweitung der »Korrespondenzen« sowie der gedruckten Quellengrundlage angekündigt und Prämien für besonders gelungene Artikel versprochen. Nicht zuletzt sollte die selbst in der schwierigen Lage treue Leserschaft mit mehr Materialien zu Bildung und Unterhaltung belohnt werden. Außerdem hielt sich Ambros zugute, trotz des Stempels nie seine Preise erhöht zu ha-
»60 oder 80« Stück abgehen sollen, vgl. zur Versendung von lediglich zweieinhalb Dutzend mit der fahrenden Post jedoch: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Graz«, in: GBAZ vom 23.06.1796 [Z], S. 396f.; hier auch die versprochene Liste – danach noch: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Fortsetzung des Verzeichnisses der eingelieferten Schießgewehre zur Vertheidigung Tyrols«, in: GBAZ vom 27.06.1796 [Z], S. 404 und GBAZ vom 30.06.1796 [Z], S. 412. 79 Vgl. A. Golob: »Informationswege«. 80 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An unsre Leser«, in: GBAZ vom 19.09.1791 [Z]. Der verpflichtende Zeitungsstempel brachte dem Staat Stempelgebühren ein, verteuerte die Produktion und letztendlich zumeist auch die Verkaufspreise. Als fiskalisches Mittel der Zensur wandte er sich sowohl gegen unseriöse Billigprodukte als auch gegen eine allzu weite Verbreitung seriöser Presseprodukte, die durch die Maßnahme teurer wurden.
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ben. Schließlich konnte Ambros nun als »spekulirende[r] Verleger«, wie er sich selbst bezeichnete, die Arbeit an den Zeitungsgeschenken forcieren.81
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Zu den Postinstanzen pflegte Ambros regen Kontakt. Eine Sondersituation ergab sich schon daraus, dass das Komptoir zeitweise in unmittelbarer Nähe des Grazer Oberpostamts lag.82 Der Verleger der Bauernzeitung war sich des Wertes der Post für die Verbreitung der Zeitung natürlich bewusst. So tat er Einiges, um den Partnern dienlich zu sein beziehungsweise um die Postmeister selbst als Abonnenten zu gewinnen. Eine Vereinfachung der Amtsgeschäfte, die Ambros explizit empfahl, bestand etwa in Sammelbestellungen unter der Postamtsadresse.83 Verzeichnisse nicht zustellbarer
81 Ambros, Michael [Hermann]: »Die Postkarte«, in: GBAZ vom 12.12.1791. 82 Zwischenzeitlich lagen renovierungsbedingt allerdings ›nur‹ ein Kaffeehaus beziehungsweise ein Gasthaus in unmittelbarer Nähe: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinerung«, in: GBAZ vom 30.08.1792 [Z], S. 344 bzw. Ambros, Michael [Hermann]: »An das mitleidige Publikum«, in: GBAZ vom 06.09.1792 [Z], S. 360. Zur Rückkehr: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: Ohne Titel, in: GBAZ vom 27.03.1794 [Z], S. 200: »in der Postamtsgasse im ersten Stok des Langischen Hauses, der Briefabgabe gerade gegenüber«; N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Nachricht«, in: GBAZ vom 31.03.1794 [Z], S. 208: »der k. k. Postwagen-Expedition oder auch der Postbriefabgabe gerade gegenüber«. 83 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Einige besondere Erinnerungen an die Liebhaber der Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 01.12.1791 [Z]. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die titl. Herren Pränumeranten«, in: GBAZ vom 06.11.1794 [Z], S. 712: Ausführlicher als in den übrigen Ermahnungen ging Ambros hier auch auf den Arbeitsprozess der Post ein. Demnach wurden die Anschriften nach der Einreichung nur mehr »durch ein Oblat oder etwas Kleister« zum »Bestellungsbrief« hinzugefügt, was eine gewisse Routine im Zeitungsgeschäft erahnen lässt. Am Ende dieses Jahres wurde auf Grund neuer Regelungen für die Steiermark die Bestellung nur mehr ausschließlich beim »nächstgelegenen« Postamt und nicht mehr beim Grazer Oberpostamt aufgenommen, vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die Liebhaber dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 27.11.1794 [Z], S. 760. Allerdings erwies sich diese Be-
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Briefe in der Bauernzeitung halfen außerdem dem Grazer Oberpostamt bei der Optimierung der Dienstleistungen.84 Bei der ersten Anzeige setzte Ambros noch expansionsambitioniert hinzu: »Auch jedes andere k. k. Oberpost- und Postamt kan sich dieser unsrer Willfährigkeit bedienen.«85 Ein besonderes Service bot Ambros als Vermittler von Poststationen, das Ende 1791 anlief,86 sich jedoch nicht direkt in den Anzeigenblättern niederschlug. Kurz stellte der Verleger auch eine Feuerversicherung für Postämter zur Debatte. Zur Bestellung der Zeitung zum Eigengebrauch der Postinstanzen wurde im Zuge dieser Initiative nicht zuletzt geraten, »weil sie [die Zeitung] ihnen [den Postinstanzen] wegen ihrer algemeinen Verbreitung zur wechselseitigen Kommunikazion die schönste Gelegenheit darbietet, und gleichsam der Zentralpunkt ihrer Gesinnungen und Vorschläge ist.«87 Schließlich profitierten die Postämter finanziell von den Ambrosblättern, denn schon die Korrespondenzen und die Bedienung der Abonnentinnen und Abonnenten warfen wohl beträchtliche Einkünfte ab. Absatzzuwachs belohnte Ambros zudem fallweise mit zusätzlichen Geschenken.88 Den Postinstanzen außerhalb der Steiermark versprach der Redakteur im zwei-
stellmodalität als nachteilig, weil neue Abonnentinnen und Abonnenten, denen Geschenke früherer Pränumerationszyklen nachgeliefert wurden, bei diesem Modus extra erhoben werden mussten, vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Einige Erinnerungen von Seite des Verlegers«, in: GBAZ vom 31.07.1794 [Z], S. 488. 84 Vgl. A. Golob: »Informationswege«. 85 N.N. [Oberpostamt Graz]: »Unanbringliche Briefe«, in: GBAZ vom 19.01.1792, S. 47. 86 Zu einer konkreten Anfrage bereits N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Nachricht«, in: GBAZ vom 26.09.1791 [B]. NB. zur ersten Aufforderung zur Meldung von zur Disposition stehenden Postämtern: Ambros, Michael [Hermann]: »An Gönner dieses Blattes«, in: GBAZ vom 13.10.1791 [Z]. 87 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die Liebhaber dieses Blattes«, in: GBAZ vom 25.06.1792 [Z], S. 200. 88 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die neuen Liebhaber dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 03.01.1791 [Z]. Vgl. zu Zuwendungen selbst für die normale Verbreitungstätigkeit: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An Liebhaber dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 24.10.1791 [Z].
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ten Quartal 1796, ihnen jedes sechste Blatt gratis zur Verfügung zu stellen.89 Die Post spielte jedoch nicht nur die wesentliche Rolle in der überregionalen Verbreitung. Die prestigeträchtige Ambros’sche Postkarte verdankte ihre Genauigkeit beispielsweise hauptsächlich der Mithilfe der Postmeister.90 Das Ergebnis der Zusammenarbeit wurde auch gleich als Remuneration angeboten. Explizit erbat Ambros öffentlich Auskünfte der Postinstanzen in Varaždin/Warasdin, KĘszeg/Güns, Osijek/Esseg, Petrovaradin/Peterwardein, Timiúoara/Temeswar, Košice/Kaschau, Bratislava/Pressburg, Brno/Brünn, Opava/Troppau, Lwiw/Lemberg, Linz, Praha/Prag, Ljubljana/Laibach, Nova Gorica/Gorizia/Görz, Klagenfurt, Innsbruck, Bolzano/ Bozen.91 Dabei interessierte er sich insbesondere für neue Kurse und den Serviceumfang der einzelnen Ämter. Detailfragen gingen später nach Lwiw/Lemberg, Kroatien und Székesfehérvár/Stuhlweißenburg.92 Quasi in letzter Sekunde wurden letztendlich noch(mals) Buda/Ofen, Timiúoara/Temeswar, Zemun/Semlin und Varaždin/Warasdin kontaktiert.93 Abschließend erfolgte noch eine Endkontrolle durch das Grazer Oberpostamt.94 Der Wert für die Post selbst wurde extra betont. Abgesehen vom Nutzen für das
89 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An Liebhaber dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 30.05.1796 [Z], S. 344. 90 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An meine Titl. Herren Pränumeranten«, in: GBAZ vom 03.02.1791. Außerdem wurden auch die »Gönner« beauftragt, ein Schwerpunkt lag auf den wenig bekannten ungarischen Erbländern. 91 Vgl. Ambros, Michael [Hermann]: »An meine Leser«, in: GBAZ vom 19.05. 1791. Vgl. später zu einem pauschalen Appell zur Mitarbeit am Postbüchel: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An unsre Leser«, in: GBAZ vom 03.11. 1791 [Z]: Eine in dieser Mitteilung in Aussicht gestellte Veröffentlichung der Beiträgerschaft zur Postkarte dürfte nicht ausgeführt worden sein. 92 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Einige Erinnerungen vom Verleger dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 18.07.1791. 93 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Die Postkarte«, in: GBAZ vom 05.12. 1791 [Z]. 94 Vgl. Ambros, Michael [Hermann]: »Die Postkarte«, in: GBAZ vom 12.12.1791.
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allgemeine Publikum zeigte sich nämlich ein spezieller Wert für Militärs, zivile Beamte und eben auch für sämtliche Postinstanzen.95 Ambros’ zahlreiche Anmerkungen zu Postgepflogenheiten spiegelten schließlich ein überaus komplexes System wider. So konnte die Zeitungskundschaft zunächst zwischen zwei Tarifen wählen. Während die billigere Bezugsmethode über das Grazer Oberpostamt pro Halbjahr vier Gulden kostete, wurde für eine Versendung unter »Postamts-Sigill« ein halber Gulden mehr berappt.96 Überdies wurde eine Geldabgabe für Bestellung und Abgabe fällig.97 Die Einhebung dieser »mäßige[n] Erkennt[l]ichkeit« ge-
95 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Die – so betitelte Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 17.02.1791 [B]. 96 Zum ersten Mal: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die Liebhaber dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 20.01.1791 [Z]. Vgl. zur Möglichkeit eines Quartalsabonnements zu den jeweils halben Preisen: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die Liebhaber dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 28.03.1791. Die Selbstabholung in Graz kam auf drei bzw. eineinhalb Gulden, vgl. die Preispaletten bei: Ambros, Michael [Hermann]: »An meine lesenden Gönner«, in: GBAZ vom 21.05.1792 [Z], S. 120 und N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die Liebhaber dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 29.11.1792 [Z], S. 552. NB. die Einschränkung, wonach zu Jahresbeginn und zur Jahresmitte nur halbjährig bestellt werden konnte: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Nachricht«, in: GBAZ vom 24.05.1792, S. 122. An den Postämtern waren Quartalsbestellungen nur ab dem zweiten und dem letzten Vierteljahr möglich, vgl.: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Nachricht an das Publikum«, in: GBAZ vom 24.09.1792 [Z], S. 400 und die Angaben auf den Titelblättern im Jahr 1794. Auch die unversiegelte Variante wurde »unter Couvert« geliefert: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Nachricht«, in: GBAZ vom 27.12.1792 [Z], S. 616. 97 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die titl. Herren Pränumeranten der Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 06.06.1791 [Z]. Selbst bei einem Gratisabonnement, wie es für Beiträgerinnen und Beiträger vorgesehen war, musste diese Aufmerksamkeit entrichtet werden: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Ein Hauptschlag für Getraidwucherer«, in: GBAZ vom 07.11.1791. Vgl. zur anerkannten Rechtmäßigkeit der Abgabe: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerungen von Seite des Verlegers«, in: GBAZ vom 23.06.1794 [Z], S. 400.
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staltete sich anscheinend recht willkürlich.98 Ein Gulden pro Halbjahr galt vorerst als Maximum. Innerösterreichische und ungarische Stellen verlangten auf Grund der guten Beziehungen zum Komptoir geringere Beträge. Genauere Angaben aus dem Jahr 1794 sprachen in den »meisten« Fällen von einem halben Gulden für sechs Monate an Postämtern, während die Oberpostämter für den gleichen Zeitraum maximal das Doppelte forderten.99 Offensichtlich korrelierte der Betrag nicht zuletzt mit dem Gesamtertrag der jeweiligen Zeitung für die bestellende Instanz. Eine besondere Ausnahme stellten schließlich die höheren Taxen des Wiener Obersthofpostamts dar. Ambros fand hier allerdings einen Ausweg, indem er eine Ausnahmegenehmigung exklusiv für seine Zeitung erwirkte. Diese konnte demnach auch dann günstiger in Graz bestellt werden, wenn die Auslieferung über Wien erfolgte.100 So ersparte er einem Teil seiner Abonnentinnen und Abonnenten bis zu einem Gulden pro Halbjahr. Die Einsendung der »Zeitungsgelder« bildete schließlich eine »Ausnahme« im internen Postverkehr,101 indem sie nicht unbedingt mit dem Postwagen102 erfolgen muss-
98
Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An Liebhaber dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 24.10.1791 [Z].
99
Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die titl. Herren Pränumeranten«, in: GBAZ vom 03.11.1794 [Z], S. 704. Teilweise waltete aber nach wie vor Nachsicht, vgl.: Ambros, Michael Hermann: »Die Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 29.01.1795 [B].
100 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerung an sämtliche löbl. Postämter und Liebhaber der Bauernzeitung, welche selbe an [sic!] bequemsten über Wien erhalten«, in: GBAZ vom 16.06.1791. Vgl. zur zitierten offiziellen Bestätigung der Wiener Post: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: Ohne Titel, in: GBAZ vom 23.06.1791. Auch 1792 noch gültig: Ambros, Michael [Hermann]: »An meine lesenden Gönner«, in: GBAZ vom 21.05.1792 [Z], S. 120, Ambros, Michael Herman[n]: »Die sogenante Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 24.12.1792 [B]. Vgl. zu gleichen Preisen in Wien und Graz: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An Liebhaber dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 29.12.1794 [Z], S. 832, N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An Liebhaber des Steyrischen Biedermanns«, in: GBAZ vom 17.12.1795 [Z], S. 802. 101 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Auf einige Anfragen«, in: GBAZ vom 17.11.1791.
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te. Hinweise auf die lange Tradition dieses Brauchs zeugten nicht zuletzt von der engen Verbindung zwischen Zeitungen und Postinstanzen. Abschließend muss jedoch eingeräumt werden, dass die Postdienste nicht immer reibungslos abliefen, teilweise auch auf Grund unleserlicher und/oder unzureichender Adressen.103 Angesichts von Auslieferungsproblemen beauftragte Ambros Anfang 1794 sogar »unter der Hand«104 Beamte, um Probleme aufzudecken und um die Zustellung zu optimieren. Wenig später berichtete der Redakteur selbst von Pannen in Wien,105 Linz,106 und Praha/Prag.107 Andererseits boten die Anzeigenblätter auch einem steiri-
102 Vgl. v.a.: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Beantwortung einiger Anfragen, wie pro 792 die Pränumerazionen für die Grazer Bauernzeitung aus den ungarschen Erblanden bei gegenwärtiger Verfügung sicher eingeschikt werden sollen«, in: GBAZ vom 21.11.1791 [Z]. 103 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die titl. Herren Pränumeranten«, in: GBAZ vom 06.11.1794 [Z], S. 712. 104 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Nachricht an das Publikum«, in: GBAZ vom 02.01.1794 [Z], S. 8. Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Nacherinnerung«, in: GBAZ vom 05.01.1795 [Z], S. 8: »Entdekungs-Anstalten«. Im Einzelfall: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Einige Erinnerungen von Seite des Verlegers«, in: GBAZ vom 31.07.1794 [Z], S. 488. Vgl. zu Beschwerden der Abonnentenschaft unter derselben Rubrik: GBAZ vom 17.04.1794, GBAZ vom 12.05.1794, GBAZ vom 26.03.1795 [Z], S. 192, GBAZ vom 04.05.1795 [Z], S. 280. 105 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerung«, in: GBAZ von 09.01. 1794 [Z], S. 24. 106 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Nachricht«, in: GBAZ vom 16.01. 1794 [Z], S. 40; hier scheiterte auch der zweite Versuch, vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Einige Erinnerungen von Seite des Verlegers«, in: GBAZ vom 13.02.1794 – dieser Nachricht zufolge zeichneten Verluste am Postweg auch verantwortlich dafür, dass die Entfernungstabellen vorzeitig vergriffen waren. 107 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Nachricht«, in: GBAZ vom 16.01. 1794 [Z], S. 40.
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schen Postmeister die Gelegenheit, seine Unschuld bei Unregelmäßigkeiten zu beteuern.108 Abgesehen von den Poststationen müssen auch noch lokale, teils von den Kommunen finanzierte Botensysteme »in der Stadt Graz, und auf dem Lande« erwähnt werden.109 Für das Umland der Stadt ergab sich dadurch die kostengünstigste Bezugsvariante von einem Gulden für drei Monate beziehungsweise von zwei Gulden für das Halbjahr.110 Allerdings wurde die Zeitung bei dieser Option nur einmal pro Woche geliefert.111 Auch diese Vertriebsmodalität funktionierte naturgemäß nicht immer reibungslos und gab zu Reklamationen Anlass.112 In direkter Konkurrenz zu diesen Kanälen etablierte sich 1796 die etwas teurere Dienstleistung der regionalen Grazer
108 Vgl. Lebitsch, Gotfried: »Nachricht«, in: GBAZ vom 19.05.1794. Vgl. allgemein zu Kundmachungen (bezüglich) der Postinstanzen z.B. auch: Gubernium Steiermark: »Kundmachung«, in: GBAZ vom 25.12.1794: zur Änderung der steirischen Posttarife; Postwagens-Expedition Graz: »Postwagens-Nachricht«, in: GBAZ vom 25.06.1795; N.N. [Postwagenexpedition Graz]: »Nachricht«, in: GBAZ vom 21.04.1796: Bestimmungen im Fall einer Überbelegung der Wiener Postkutsche nach Klagenfurt an der Zwischenstation in Bruck an der Mur; N.N. [Gubernium Steiermark]: »Nachricht«, in: GBAZ vom 23.06.1796: Inlandstarife für Westgalizien. 109 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Nachricht«, in: GBAZ vom 24.05. 1792, S. 122. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die titl. Herren Pränumeranten dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 21.05.1795 [Z], S. 320. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Nachricht«, in: GBAZ vom 31.12.1795 [Z], S. 834. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An Liebhaber dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 30.05.1796 [Z], S. 344. Zur Anzeige eines Boten: N.N.: »Anzeige vom Bothen zu St. Georgen an der Stifing«, in: GBAZ vom 14.07.1794. 110 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Nachricht an das Publikum«, in: GBAZ vom 02.01.1794 [Z], S. 8. 111 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Nachricht«, in: GBAZ vom 21.12. 1795 [Z], S. 810. 112 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Einige Erinnerungen von Seite des Verlegers dieser Blätter an verschiedene seiner Herren Pränumeranten«, in: GBAZ vom 04.05.1795 [Z], S. 280.
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»kleinen Post«,113 die beide wöchentlichen Ausgaben zeitgerecht zustellte. Die stadtinterne direkte Abholung114 am Komptoir an Montagen und Donnerstagen lag preislich sogar noch etwas höher. Wie am Komptoir,115 so konnte bei dieser Variante auch vierteljährlich abonniert werden. Für diese unmittelbare Kundschaft reduzierte Ambros den Preis für das zweite – und zugleich letzte – Quartal 1796 sogar noch einmal.116 Der Bezug über die Boten machte dadurch nur mehr einen Dreiviertel Gulden aus, während die Grazer Abonnenten nur einen Gulden zu berappen hatten.
D IE ANZEIGENBLÄTTER ALS REGIONALE I NFORMATIONSMEDIEN Die regionale Ausdehnung der Anzeigenblätter überschritt weit den Kontext der Stadt Graz, und auch mit der Steiermark gab sich Ambros nicht zufrieden. Vordergründig strebte er nach der quantitativen und qualitativen Marktführerschaft in Innerösterreich, also im Wesentlichen in Steiermark, Kärnten und Krain. Anlässlich der Einrichtung der ambitionierten »Vaterländische[n] Intelligenznachrichten« postulierte der Verleger: »So wird nun die Bauernzeitung auch in Hinsicht der Beilagen, zwar nicht die stärkste an der Bogenzal, welches zu nichts dienet, wohl aber an der Menge das vaterländische Publikum interessirender Bekanntmachungen, in ganz Inneröster-
113 Erstmals: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: Ohne Titel, in: GBAZ vom 24.03.1796 [Z], S. 192. Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: Ohne Titel, in: GBAZ vom 28.04.1796: Für die Auslieferung im Kuvert von Juli bis September wurden ein Gulden und zwanzig Kreuzer veranschlagt. 114 Zu den genauen Bezugsmodalitäten: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerungen«, in: GBAZ vom 07.07.1794 [Z], S. 432: »Diese Zeitung erscheint in Graz Mondtags und Donnerstags, und kann an diesen Tagen von 9 Uhr morgens angefangen zu jeder Stund im Komptoir abgeholt werden.« 115 Vgl. als ersten Hinweis auf dieses Quartalsabonnement: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die Liebhaber dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 29.09.1791 [Z]. 116 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: Ohne Titel, in: GBAZ vom 21.04. 1796 [Z], S. 256.
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reich die reichhaltigste Zeitung seyn.«117 Wenig später behauptete Ambros eine Zunahme der Einschaltungen aus Innerösterreich und konstatierte daher die angestrebte Position als führendes Verbreitungsmedium in diesem Raum.118 Für beflissene Inserentinnen und Inserenten, die eine möglichst große Öffentlichkeit erreichen wollten beziehungsweise mussten, wurde die Inanspruchnahme des Blattes damit zu einer »wahre[n] Gewissenssache«.119 Der Erfolg ging zu diesem Zeitpunkt bereits so weit, dass ein eigener »Korrespondenzführer und Komptoirskassier« mit der Bearbeitung der Inserate beauftragt werden musste. So wurde wohl auch die nur zweimalige, fristgerechte Wiederholung der Anzeigen möglich. Die explizite Kritik, dass die Konkurrenz Manches »6 – 10 – bis 15mal« einrücke, trifft für spätere Jahrgänge der Ambrosanzeigenblätter selbst zu, und dieser Umstand kann als Niedergangssymptom gewertet werden. Im Jahr 1794 markierte die Benennung des Anzeigenblattes als Allgemeines Innerösterreichisches Kundschaftsblatt120 jedoch noch den Zenit der Bemühungen um die Identifikation mit diesem Raum. Die Einschaltungen aus Krain und Kärnten blieben allerdings auch 1794 marginal.121 Frühere Auszüge aus innerösterrei-
117 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Vaterländische Intelligenznachrichten«, in: GBAZ vom 27.10.1791. Vgl. zum Konzept der Rubrik, die bis 1792 Bestandteil der Anzeigenblätter blieb: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An Liebhaber dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 24.10.1791 [Z]. 118 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An das bekantmachende Publikum«, in: GBAZ vom 12.12.1791 [B]. 119 Vgl. in diesem Zusammenhang vonseiten der Kundschaft schon: Magistrat Gleisdorf: »Lizitazion«, in: GBAZ vom 04.04.1791 [B]: Hier rechtfertigte sich die Verwaltungsbehörde, Alles für die Bekanntmachung einer Tagsatzung getan zu haben, indem eine Anzeige in der Grazer Bauernzeitung geschaltet worden war. Vgl. später: Magistrat Szombathely/Steinamanger: »Citations-Edict«, in: GBAZ vom 13.01.1794: Suche ausdrücklich »durch dieses öffentliche Blatt«; N.N.: »Heurats-Anträge und Gegen-Anträge«, in: GBAZ vom 17.03.1794: Versuche auf Grund der Reputation der Anzeigenblätter. 120 Ab 1795 Innerösterreichisches Kundschaftsblatt. NB. die ältere Bezeichnung »Beilage« im Titel. 121 Für die nicht-steirischen Gebiete Innerösterreichs lauteten die Zahlen der geschalteten Inserate wie folgt: 1791: 22 – 1792: 8 – 1794: 8 – 1795: 4 – 1796: 3.
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chischen122 Anzeigenblättern beschränkten sich ebenfalls auf die expansivste Phase um den Jahreswechsel 1791/1792. Ein weiterer vorrangiger benachbarter Absatzmarkt etablierte sich im historischen Ungarn. Wie die erste erhaltene Ankündigung aus dem Jahr 1791 postulierte, sollte die Bauernzeitung quasi eine »ungarsche Provinzialzeitung«123 verkörpern. Allerdings schlug sich auch dieser Schwerpunkt kaum zahlenmäßig nieder.124 Zusätzlich zu diesen erweiterten Kernmärkten fasste die Bauernzeitung das Habsburgerreich ins Auge. Das Interesse des deutschen Sprachraums125 auch außerhalb der Monarchie und gar das »Bürgerrecht in Europa«126 hatten sich vor allem die Zeitungsnachrichten verdient. Schon auf Grund der geostrategischen Lage der Stadt Graz, aber noch mehr durch ein dichtes Korrespondentennetzwerk wartete Ambros nämlich tatsächlich mit ebenso aktuellen wie authentischen Meldungen aus dem Süden und Südosten des Kontinents auf. Im Bereich der Anzeigen können insbesondere die exzerpierten Erbschaftseinberufungen
122 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Vaterländische Intelligenznachrichten«, in: GBAZ vom 27.10.1791. Die folgenden Belege fanden sich unter der gleichnamigen Rubrik. Nach GBAZ vom 31.10.1791 zuweilen »auch aus entferntern Zeitungen«, sofern für Innerösterreich einschlägig, hier: »Oesterreich«, Mähren, Siebenbürgen; vgl. z.B. GBAZ vom 17.11.1791: ungarische Erbländer; GBAZ vom 02.01.1792, S. 8: Galizien. Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An das bekantmachende Publikum«, in: GBAZ vom 12.12.1791 [B]: pauschal aus böhmischen, mährischen und ungarischen Blättern. 123 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Die – so betitelte Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 17.02.1791 [B]. Vgl. auch N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerungen von Seite des Verlegers«, in: GBAZ vom 23.06.1794 [Z], S. 400: Hier wurde der vergleichsweise seltene Erscheinungsmodus u.a. mit den Postgepflogenheiten im Hauptabsatzgebiet Ungarn gerechtfertigt. 124 Vgl. Auch die Anzeigen aus den ungarischen Erbländern (Ungarn, Slowakei, Banat, Siebenbürgen, Kroatien) hielten sich in engen Grenzen: 1791: 10 – 1792: 4 – 1794: 23 – 1795: 13 – 1796: 9. 125 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An Liebhaber der Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 12.12.1791 [B]: »Burgerrecht in Deutschland«. 126 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Die – so betitelte Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 17.02.1791 [B].
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Quellen aus der Habsburgermonarchie Brünner Zeitung Prager Zeitung Wiener Zeitung Prager Oberpostamtszeitung Grätzer Zeitung Wiener Diarium Klagenfurter Zeitung Preßburger Zeitung Ofner Zeitung (Buda) Lemberger Zeitung Prager Staats- und gelehrte Nachrichten Deutschsprachige Zeitungen außerhalb der Habsburgermonarchie Frankfurter Zeitung Frankfurter Oberpostamtszeitung Hamburger Zeitung Schlesische Zeitung Schwäbischer Merkur Berliner Zeitung Augsburger Zeitung Frankfurter Staats-Ristretto Augsburger Moyische Zeitung Mannheimer Zeitung Salzburger Intelligenzblatt Basler Zeitung Bayreuther Zeitung Hamburger Korrespondent Kölner Zeitung Regensburger Staats-Relation Zürcher Zeitung
104 71 67 26 15 14 12 3 1 1 1
52 45 45 14 11 5 4 4 3 3 2 1 1 1 1 1 1
Tabelle 1: Zeitungen als Quellen der exzerpierten Erbschaftseinberufungen 1794 bis 1796
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zur Prüfung der Vernetzungsleistung herangezogen werden. Sie waren ja jenes Alleinstellungsmerkmal, das die überregionale Marktführerschaft begründete. Um synergetisch gleichzeitig zu untersuchen, welche Kundschaftsblätter Ambros regelmäßig verwendete, bot sich die Analyse der Anzeigen von 1794 bis 1796 an. Insgesamt zeigte sich hier durchaus eine Vernetzung innerhalb der Habsburgermonarchie127 und überdies mit Zentren des deutschen Sprachraums. Die Bauernzeitung war daher zumindest in diesem speziellen Bereich in der Tat so etwas wie eine ›Meta-Fundgrube‹ (vgl. Tabelle 1). Das Herzogtum Steiermark stellte schließlich sozusagen das engste Territorium dar, das beherrscht werden sollte. Um hier die Vorherrschaft zu erreichen, offerierte Ambros erstmals in der Steiermark Gratisanzeigen128 für alle exklusiven Erstveröffentlichungen in seiner Zeitung, vor allem zum Vorteil ärmerer Inserentinnen und Inserenten, wie er als »nuzbarer Staatsbürger« argumentierte. Zur Untermauerung der Vorzüge der Anzeigenblätter als erstrangige, weit reichende Verbreitungsmöglichkeit wurde ein Zertifikat des Grazer Oberpostamts zitiert, wonach die Bauernzeitung auf Grund ihrer Abonnentenzahl und ihrer Geschäftsausgaben die »ersprießlichste Landeszeitung« sei. Allerdings dürfte dieser Initiative wenig erfolgreich gewesen sein. Spätestens im Jahr 1794 wurden für die dreimalige Einschaltung einer kurzen Anzeige 34 Kreuzer fällig, während für längere Annoncen beziehungsweise Edikte 51 Kreuzer veranschlagt wurden.129 Im
127 Unter Einschluss der Gebiete, die im Zuge der letzten polnischen Teilung an die Monarchie fielen: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: Ohne Titel, in: GBAZ vom 24.03.1796 [Z], S. 192. 128 Vgl. Ambros, Michael [Hermann]: »Nachricht an das Steyermärkische Publikum«, in: GBAZ vom 29.10.1792, S. 461. Vgl. zur expliziten Ausweitung auf Buchhändlerverlagsnachrichten mit einer Kapazität für 448 Titel per annum: Ambros, Michael [Hermann]: »Nachricht an das Steyermärkische Publikum«, in: GBAZ vom 01.11.1792, S. 467 – in dieser Mitteilung kam auch der Einbezug der Herzogtümer Krain und Kärnten zur Sprache, wo allerdings nur Armenanstalten, Magistratsedikte zugunsten Armer und Spendenaufrufe in den Genuss der Vergünstigung kommen sollten. 129 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Einige Erinnerungen von Seite des Verlegers dieser Zeitung auf verschiedene Veranlassungen«, in: GBAZ vom 17.04.1794. Zahlungen von Ämtern konnten auch gesammelt werden. Ein Ab-
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gleichen Jahr erneuerte Ambros gegen Jahresende seine Bestrebungen, Auszüge aus den anderen Zeitungen des Landes zu exzerpieren. Wohl auf Grund dieser Dienstleistung bekräftigte er zum Jahreswechsel 1794/1795 selbstsicher: »[D]as allgemeine Innerösterreichische Kundschaftsblatt wird ein Inbegrif sämmtlicher in Steyermark erscheinenden öffentlichen Kundmachungen seyn, so daß man in diesem allein alles finden wird, was man in andern hierländigen Zeitungs-Beilagen einzeln würde aufsuchen müssen.«130 Dieses Unterfangen wurde im Biedermann im Großen und Ganzen bis zur Einstellung tatsächlich durchgehalten. Als letztes Vertretungspostulat kann schließlich noch jene Veränderung angesehen werden, in deren Folge der Biedermann »zum Steyrischen Biedermann nationalisirt«131 wurde. Das Anzeigenblatt nahm diesen Schritt vorweg und fungierte bereits seit dem ersten Namenswechsel als Steyermärkisches Kundschaftsblatt. Das gewonnene »Zutrauen der Nation« leitete Ambros aus der regen Beschickung der Kundschaftsblätter ab.132 Mitte 1796 trat letztendlich Leykams Grätzer Zeitung mit ihren bereits Ende 1794 eingerichteten Steyermärkischen Intelligenz-Blättern133 die Nachfolge an. Wohl mit Recht konnte dieser Verleger nun von sich behaupten, nach der »Vereinigung« der Grätzer Zeitung mit dem Biedermann und der Grätzer Bürgerzeitung die »herrschende Landes-Zeitung«134 zu drucken. Sowohl Ambros als auch Leykam
druck ging als Beweis der Veröffentlichung an die Inserentinnen und Inserenten, vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An das bekantmachende Publikum«, in: GBAZ vom 12.12.1791 [B]. 130 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An die Liebhaber dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 27.11.1794 [Z], S. 760. 131 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An Liebhaber des Steyrischen Biedermanns«, in: GBAZ vom 17.12.1795 [Z], S. 802. Zur ersten Notiz zur Namensänderung in Biedermann, die »ausser einem anpassendern Titel« Kontinuität suggerierte: N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Das neue Gratzer Frauenjournal Deutschlands und Hungariens Töchtern gewidmet von einer Gesellschaft erudi[r]ter und munterer Frauen«, in: GBAZ vom 18.06.1795 [B]. 132 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: Ohne Titel, in: GBAZ vom 24.03.1796 [Z], S. 192. 133 Bei Grätzer Zeitung vom 21.10.1794. 134 Ambros, Michael [Hermann]: »Nachricht an die Herren Pränumeranten dieser Zeitung«, in: GBAZ vom 30.06.1796 [Z], S. 413.
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betonten in ihren diesbezüglichen Mitteilungen die »Vortheile« für die Inserentinnen und Inserenten sowie für die Abonnentinnen und Abonnenten, die nun von der Konsultation mehrerer Anzeigenblätter Abstand nehmen konnten.135 Konkrete Absatzzahlen blieb Ambros naturgemäß schuldig, allerdings kamen doch ungefähre Angaben vor. Ende 1791 prahlte er, »weit über ein halbes Tausend nach Ungarn, und ein anderes halbes Tausend nach und über Wien«136 zu liefern. Für Innerösterreich erhob der Redakteur noch im gleichen Jahr den quantitativen Führungsanspruch.137 Als »Innerösterreichs einzige Hauptzeitung« wurde die Bauernzeitung demnach fünfmal so oft versandt wie die innerösterreichische Nummer Zwei und etwa doppelt so oft wie alle übrigen einheimischen Zeitungen zusammen. An gleicher Stelle wurde mit der Deckung der offiziellen Zahlen des Grazer Oberpostamts und des Wiener Obersthofpostamts die Verbreitung in der Habsburgermonarchie demonstriert. So verbreitete Ambros mehr als fünfhundert Exemplare in die ungarischen Erbländer im Vergleich zu 30/15/3/0 der anderen regionalen Blätter. »[G]ute 200 Stük« gingen nach [Nieder-]»Oesterreich«, während die Bilanz der Konkurrenz 10/6/3/0 betrug. Böhmen, Mähren, Schlesien und Galizien »etc.« rangierten bei einer Größenordnung von circa dreihundert, hingegen exportierten die Mitwerber dorthin »fast ganz und gar keine« Presseerzeugnisse. Ähnlich fiel das Resultat in Oberösterreich, Tirol und den übrigen Gebieten aus. Als äußerste Grenzen seines Wirkungskreises zitierte der Verleger »Carlobago [Karlobag], Novi [Novi Sad?], Gradiska [Gradisca], Verpoglie [Vrpolje], Mitrowiz [Mitrovica], Semlin [Zemun], Oraviza [OraviĠa], Saska [Sáska], Dognacska [Dognecea], Kronstadt [Braúov], Bistriz [wohl BistriĠa], Sireth [Siret], Czernoviz [Tscherniwzi], Lemberg [Lwiw], Brody etc. … Bukurest [Bucureúti], … [das Fürstentum] Moldau … [das] Reich, … Mailand [Milano], Florenz [Fi-
135 Allgemein Ambros, Michael Hermann: »Nachricht vom Verleger des Steyrischen Biedermanns«, in: GBAZ vom 27.06.1796 [Z], S. 404-406, hier S. 405 bzw. deutlich: N.N. [Andreas Leykam]: »Nachricht des Verlegers der GrätzerZeitung«, in: Ebd., S. 406. 136 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Die Postkarte«, in: GBAZ vom 05. 12.1791 [Z]. 137 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An das bekantmachende Publikum«, in: GBAZ vom 12.12.1791 [B].
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renze] und Neapel [Napoli] etc.«. Zudem führte er Eingaben aus der Schweiz, Augsburg, Regensburg und Stuttgart ins Feld und führte Buchanfragen aus entlegenen Gebieten der Monarchie auf die mitgelieferten Verzeichnisse der Grazer Buchhändler zurück. Anhaltspunkte lieferten auch jene Zahlen, die Ambros bei der Verschickung einzelner Kontingente der Postkarte angab.138 1795 bewegte sich der Absatz laut Oberpostamt nach wie vor »um einige hundert Exemplare« über der Summe der drei weiteren Landeszeitungen der Steiermark.139 Pauschal schätzte Ambros die Situation wohl schließlich am Ende dieses Jahres richtig ein, als er spekulierte, dass »abwechselnd [!] viele tausend Pränumeranten«140 seine Zeitung über die Jahre abonniert hätten. Hinsichtlich der sozialen Reichweite141 brüstete sich Ambros einerseits des Interesses des Adels, andererseits wurden schon durch den Namen des Blattes die »gemeinen Staatsbürger« angesprochen. Insgesamt wurde jedoch pauschal die »Unterhaltung aller Gattungen von Lesern und Leserinnen« anvisiert. Somit waren dezidiert auch Frauen eingebunden.
138 Vgl. N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Postkarte«, in: GBAZ vom 02.01. 1792, S. 8 (»bei 400«). N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerungen«, in: GBAZ vom 05.01.1792 [Z], S. 16 (»300 Stük«). N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerungen«, in: GBAZ vom 09.01.1792 [Z], S. 24 (»bei 400«, Postämter Wien und Praha/Prag somit erledigt, in weiterer Folge »mehrere Stüke unter einem Couvert«). N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Erinnerungen«, in: GBAZ vom 12.01.1792 [Z], S. 32 (»bei 300«, zuletzt an die Postinstanzen in Kenty (Kenti), Friesach, TĜeboĖ/Wittingau, Opava/Troppau, Laxenburg, Jihlava/Iglau, Buda/Ofen, Pest, Triest(e), Lwiw/Lemberg, Linz, Innsbruck, Ljubljana/Laibach, Bratislava/Preßburg, Olomouc/Olmütz, Regensburg, Firenze/Florenz, Napoli/Neapel). N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An meine Leser«, in: GBAZ vom 31.05.1792, S. 140 (vierzig). 139 Ambros, Michael Hermann: »Die Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 29. 01.1795 [B]. 140 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »An Liebhaber des Steyrischen Biedermanns«, in: GBAZ vom 17.12.1795 [Z], S. 802. 141 N.N. [Ambros, Michael Hermann]: »Die – so betitelte Grazer Bauernzeitung«, in: GBAZ vom 17.02.1791 [B].
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R ESÜMEE Michael Hermann Ambros stellte sich – größtenteils bestenfalls kurzfristig in Ansätzen erfolgreich – mit hehrer idealistischer Ambition und praktischer kommerzieller Rücksicht der Aufgabe, mit den ihm zur Verfügung stehenden analogen Mitteln seiner Leserschaft die Informationsfülle der Zeit zu präsentieren. Die polyhistorische Wissensvermittlung der Anhänge zeigte sich dabei potentiell am nachhaltigsten, indem der Fortbestand der gesammelten Materien in gebundener Form zumindest angeregt wurde. Eine Suchmöglichkeit blieb durch das Fehlen des versprochenen Registers jedoch aus, immerhin erleichterten jedoch Rubriken die Orientierung in diesem umfassenden Bauchladen. Hinter diesen Beiträgen stand allem Anschein nach eine aktive Community, terminologisch und kommunikationstechnisch gesehen handelte es sich hier geradezu um so etwas wie ein virtuelles ›Freundschaftsnetzwerk‹. Interessant ist zudem das Verhältnis zur Beiträger- und Leserschaft im Allgemeinen, das durch Begriffe wie »Gönnerschaft« und »Freundschaft« ausgedrückt wurde und insgesamt eine verschworene Gemeinschaft suggerierte. Diese Begrifflichkeit erinnerte einerseits noch an ›ältere‹, persönliche Bindungen, andererseits jedoch auch an zeitgenössische Ideen der »Empathie« (Adam Smith) und verband sich so mit der kommerziellen Natur des Mediums, die sich begrifflich wohl am deutlichsten im Terminus »Komptoir« manifestierte. Die eingerückten Anzeigen boten nur am Abend des Bestehens der Zeitung, ab dem zweiten Quartal 1794, eine Strukturierung durch die Nummerierung der Anzahl der Einrückung. Auch hier dominierte (und genügte wohl) die Einteilung in Rubriken als Ordnungssystem der nicht zuletzt ephemeren Informationen. Ambros’ Bestrebungen zielten darauf ab, seine Anzeigenblätter zu einer Quintessenz in diesem Segment, also quasi zu Metaanzeigenblättern, zu vervollkommnen. Das Reservoir für dieses angesichts der Umstände utopische Unterfangen ging idealiter weit über die Steiermark hinaus, blieb realiter jedoch überwiegend auf sie beschränkt. Die Terminologie, die Ambros zudem mit seiner Betonung des Glückserlebnisses schuf, offenbarte geradezu Google’sche Kreativität und Vision.142
142 Vgl. etwa den Idealismus (und seine Grenzen) bei: Vise, David A./Malseed, Mark: The Google Story. For Google’s 10th Birthday Updated Edition, New York, NY: Bantam Dell 2008, S. 263, 267f.
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Im Kontext des 18. Jahrhunderts erinnerte diese Diktion an das »Streben nach Glück«, wie es etwa in der Verfassung der Vereinigten Staaten reflektiert wurde. Hinter allen Bestrebungen zeigte sich zudem der stets vor neuen Ideen sprühende Geist eines Unternehmers, der sich weit über die bisherige – in der Steiermark über weite Strecken sogar monopolistische – Informationsübermittlung erhob und dies angesichts des lokalen Zeitungsbooms und seiner Glanz- und Schattenseiten auch tun musste, um gegen die Konkurrenz bestehen zu können.
Ask Jeeves Der Diener als Informationszentrale M ARKUS K RAJEWSKI »If there’s something you’d like to try Ask me – I won’t say ›no‹ – how could I?« THE SMITHS: ASK, 1986
1. ASK J EEVES . Z UR P OETIK
VON
S UCHMASCHINEN
Stellen Sie sich vor, es ist 1923. Sie sind ein wohlhabender englischer Junggeselle namens Bertie Wooster aus den besseren Kreisen der Londoner Oberschicht. Ein ansehnliches Vermögen sichert ohne weiteres Zutun oder lästige Interventionen bequem Ihren Lebensunterhalt. Gemeinsam mit Ihrem Diener Jeeves, Ihrem gentleman’s personal gentleman, bewohnen Sie eine geräumige Stadtwohnung in Westminster; es fehlt an nichts, und Sie haben die Freiheit, abgesehen von gelegentlichen familiären oder gesellschaftlichen Verpflichtungen, Ihre Tage mit Müßiggang zu verbringen, zu denen Ihnen Jeeves kraft seiner eigentümlichen Art verhilft. Stellen Sie sich vor, es ist 1996 – der Internet-Hype beginnt sich gerade erst zu entwickeln – und Sie stehen in der Verlegenheit, für die treffliche Idee einer Suchmaschine, die Sie bereits als Konzept ausgearbeitet und für die Sie sogar schon Risikokapital aufgetrieben haben, einen Namen zu finden. Die zentrale Idee Ihrer Suchmaschine besteht darin, dass man die Anfrage in natürlicher, das heißt gesprochener Sprache an Sie richten kann, ein besonderer Vorzug gegenüber der bis dato üblichen Stichworteingabe,
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welche unweigerlich die Suchtechnik und damit einhergehend die Metaphorik eines Lexikons evozieren würde. Sie benötigen dagegen so etwas wie die Figur eines virtuellen Gesprächspartners, möglichst allwissend, von dem man annehmen kann, dass er alle Arten von Fragen souverän zu beantworten weiß. Sie erinnern sich einer heiteren Lektüre Ihrerseits, in der ein höchst selbstständiger Diener namens Reginald Jeeves seinem Herrn nicht nur hinreichende Auskunft zu allen Lebensfragen zu geben versteht, sondern dieser Diener in seiner klassisch dezenten Art zudem über die große Kunst der Antizipation und weisen Vorausschau verfügt. Dieser Kammerdiener soll Ihren Besuchern Rede und Antwort stehen. Sie taufen Ihr Unternehmen und die entsprechende Webseite kurzerhand auf den Namen AskJeeves. Ihre Wahl scheint gut getroffen. Die Internetnutzer nehmen Ihren Service wahr, die Suchmaschine wird nachgefragt und Sie haben das Glück, eine nahezu beispiellose Erfolgsgeschichte zu verzeichnen, von der hier nur die wichtigsten Eckdaten genannt werden sollen: Innerhalb von nur zwei Jahren verhundertfacht sich der Jahresumsatz, die Firma wird millionenschwer, geht an die Börse und erzielt zu ihren besten Zeiten einen Wert von 190 US$ pro Aktie. Die Besucherzahlen der Webseite nehmen weiter zu. Jeeves hat alle Hände voll zu tun, die Anfragen zu beantworten. 14 Millionen Zugriffe verschiedener Nutzer im Monat lässt sie zu einem virtuellen Ort werden, der unter den meistbesuchten Webseiten auf Platz 17 rangiert. Das Logo findet sich in einem beispiellosen Werbefeldzug sogar auf Äpfeln und Bananen wieder. Mit anderen Worten, die Geschäfte laufen gut. Dann kommt das Jahr 2000 und auf die beispiellose Erfolgsgeschichte folgt ein einzigartiger Börsencrash. Ihre Zahlen bewegen sich weiterhin im Millionenbereich, sind von ungeahnter Höhe, allerdings nun mit einem Minus vor der Ziffer. Und zu allem Übel tritt ein neuer Konkurrent namens Google auf, dem es zudem gelingt, seinen Firmennamen gleich zum Verb zu machen. Die Erfolgsgeschichte von AskJeeves nimmt sich fortan bescheidener aus, zumal infolge der geplatzten Dot.Com-Blase an der Börse der Kurs der Aktie von 190 US$ auf 85 Cent sinkt. Zwar gelingt es der Firma als eine der wenigen von zahllosen Internetunternehmen, überhaupt zu überleben. Doch die anfänglichen Expansionsentwicklungen gehören nunmehr der Vergangenheit an. Auch eine allmähliche Erholung lässt das Unternehmen bis dato nicht mehr zu den drei Platzhirschen Google, dem ebenfalls nach einem literarischen Vorbild aus Gullivers Reisen benannten Yahoo und
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dem höchst unpoetischen Microsoft Suchdienst MSN aufschließen. Es gilt Konsequenzen zu ziehen. Die Führungsetage wird rasch einige Male ausgewechselt, Teile des Unternehmens werden ver-, andere neu hinzugekauft. Man fährt einen behutsamen Konsolidierungskurs. Und schließlich vollzieht man 2005 einen tiefen Einschnitt in der bisherigen Firmenpolitik: am 23. September 2005 wird verlautbart, dass der neue Besitzer der Firma, Barry Diller verfügt habe, den Namen des Unternehmens dahingehend zu ändern, die Ikone der Firma, den signifikanten Eigennamen Jeeves samt seines immer wieder erneuerten Logos (vgl. Abbildung 1) kurzerhand aus der Corporate Identity des Unternehmens zu tilgen.1
Abbildung 1: AskJeeves’ Logos im Wandel der Zeiten Dieser Schritt sei notwendig geworden, da angeblich immer wieder literarisch ignorante Benutzer bei der Pressestelle nachgefragt hätten, was es mit Jeeves eigentlich auf sich habe. Hätten sie nur ihre Frage an den virtuellen Jeeves selbst gerichtet, er wäre ihnen sicher weder eine Antwort noch den
1
Wenngleich man ihm bei Ask.com noch eine kleine Gedenkseite eingeräumt hat, wo man auf seine Aktivitäten im Ruhestand verweist: http://sp.uk.ask.com/ en/docs/about/jeeveshasretired.html sowie einen Blog-Eintrag, den man seiner Verabschiedung gewidmet hat: http://blog.ask.com/2006/02/thanks_jeeves.html
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Hinweis auf die Geschichten von P.G. Wodehouse schuldig geblieben. Darüber hinaus habe sich jedoch das Leistungsspektrum der Suchmaschine mittlerweile derart erweitert (Toolbar, Bildsuche etc.), dass eine in natürlicher Sprache erfolgende Kommunikation mit einem wenngleich freundlichen und nahezu allwissenden Butler2 keineswegs mehr den angemessenen Kontext und die entsprechende Bildwelt für das Benutzer-Interface darstelle.3 Böse Zungen behaupten indes, dass die Entfernung von Jeeves einem eher persönlichen Konkurrenzverhältnis entspringe, und zwar infolge der optischen Ähnlichkeit des neuen Besitzers Barry Diller mit der hausgemachten Ikonifizierung von Wodehouse’s literarischer Figur (vgl. Abbildung 2).
Abbildung 2: Barry Diller und Reginald Jeeves Es mag bereits als ein Anachronismus erscheinen, in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts einen Kammerdiener zur Ikone einer globalen Suchmaschine zu erheben, stand der valet de chambre als Funktionsmodus einer Dienstleistungsgesellschaft doch seinerseits längst auf einer Schwundstufe, die spätestens seit dem Ersten Weltkrieg und dem Untergang nicht nur von Stefan Zweigs Welt von gestern überwunden zu sein schien. Vor diesem Hintergrund mag der interne System- und Namenswechsel bei Ask.com nur als folgerichtig einzustufen sein, insbesondere wenn er jenen Übergang von
2
Der Jeeves nie gewesen ist, sondern ein valet; aber diese feine Unterscheidung hat man bei Ask.com nicht gesehen.
3
http://news.bbc.co.uk/2/hi/technology/4275988.stm
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den humanoiden Medien zu den Dingen, wie es das 19. Jahrhundert mit seiner Delegation klassischer Dienstleistungen von Butler und Kammerdiener an technische Gerätschaften kennzeichnet, einmal mehr im Virtuellen dupliziert. Möge der wissbegierige Internet-Nutzer doch fortan seine Anfrage nicht mehr an eine schimärenhafte Avatarsgestalt in komischer Kleidung richten, sondern getreu dem Paradigma des Do-it-yourself mit Hilfe von Toolbars und anderen virtuellen Werkzeugkisten mögliche Antworten auf seine Fragen selbst finden. Mit jenem Systemwechsel 2006 wird die freundliche Suggestion eines humanoiden Aufwärters im Virtuellen als ein Restbestand jener Welt von gestern zugunsten des inzwischen allerorten unvermeidlichen self service entfernt. Doch selbst wenn sich dieser Wechsel hier innerhalb der Dingwelt selbst abspielt, so lässt sich ein solcher Schritt unschwer symptomatisch lesen, das heißt als eine letztlich zu tilgende Reminiszenz an eine Figur, die mit der schönen neuen, ökonomisch geprägten Computerwelt von heute nichts mehr gemein haben darf. An dieser Zäsur sei für einen Moment innegehalten, um aus medienhistorischer Perspektive einige Fragen anzuschließen, die möglichst weit über die vermeintlich absichtsvolle, vielleicht jedoch nur arbiträre Zuschreibung und Abschaffung einer Suchmaschinenikone hinausgehen. Wenn man also davon ausgeht, dass die Beweggründe eines Unternehmens, eine literarische Dienerfigur zum Aushängeschild zu erheben, keineswegs einer plötzlichen Nostalgie oder sentimentalen Erinnerungen an gelungene Abendlektüren zu verdanken sind, sondern vielmehr systemischen Umständen folgten, so bleibt zu fragen, worin die Analogie zwischen einem Kammerdiener und einer Suchmaschine genau besteht und nicht zuletzt, welche Gründe für eine etwaige Aufgabe dieser Metaphorik schließlich sprechen. Im Folgenden gilt es daher, eine kleine Geschichte des Dieners als Informationszentrale zu entwerfen.4
4
Für eine Genealogie des Dieners vom Barock bis heute vgl. Markus Krajewski: Der Diener. Mediengeschichte einer Figur zwischen König und Klient, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2010. Der vorliegende Text ist ein auf das Thema der Suchmaschine fokussierter und überarbeiteter Auszug aus diesem Buch.
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2. D ER H ERR
DER
D INGE : D ER D IENER
Es mag auf den ersten Blick eigenartig anmuten, den Diener als Informationszentrale zu bezeichnen. Geht man doch klassischerweise davon aus, die Subalternen, besonders prominent in ihrer Funktion als Boten, in erster Linie als Zuträger des Wissens, als sekundäre Instanzen oder als Handlanger in nachgeordneten Positionen einzustufen. Schließlich scheinen die Fäden stets an oberster Stelle, also etwa beim König am Hofe oder im Falle einer kleinen Einheit, der Familie, beim Hausvorstand, dem pater familias, zusammenzulaufen. Wissen und die Verfügungsgewalt darüber verleihen Autorität und sind nicht von ungefähr das vorrangige Herrschaftsinstrument des Patriarchen wie des Souveräns gleichermaßen. Inwieweit sich jedoch an den entscheidenden Schaltstellen tatsächlich die Subalternen befinden, wie sie dort die Produktion des Herrschaftswissens nicht nur mitbetreiben, sondern regelrecht steuern und ihrerseits souverän darüber verfügen, bleibt allzu häufig missachtet oder wird gar unterschlagen. Anhand von drei Aspekten sei daher dargelegt, und zwar sowohl strukturell als auch mit historischen Beispielen unterfüttert, wie dem Diener bereits im Rahmen seiner klassischen Funktionen eine eminente Bedeutung zukommt, die ihn alle Arten von Informationen sammeln und beobachten, sortieren und analysieren, differenzieren und gewichten, systematisieren und aufbereiten sowie schließlich streuen oder gezielt verteilen lässt. Nicht von ungefähr scheinen gentlemen’s personal gentlemen wie Jeeves nie um eine Antwort verlegen, und ihnen kommt infolgedessen ein großer Anteil an der Handlungsmacht zu. Mit anderen Worten, es geht darum, das Wissen der Dienerschaft als eine primäre Herrschaftstechnik zu beschreiben. Die drei Aspekte, die den Diener zu einem privilegierten Sachwalter und Steuermann des Wissens gleichermaßen machen, sind allen voran seine Funktion als Scharnier oder Mittler zwischen verschiedenen Sphären. Sodann verfügt er über eine spezifische Logik der Ökonomie, die seine Dienstleistungen trägt. Und schließlich spielt seine Institutionalisierung in Form von ausgewiesenen Orten eine wichtige Rolle, die sich zu privilegierten Anlaufstellen für die Informationsdistribution verfestigen. Dass Diener, im Gegensatz zu Fabrikarbeitern oder Tagelöhnern auf dem Land, bevorzugt mit der Produktion von Immaterialitäten befasst sind, ihre Haupttätigkeit also weniger in der Produktion von Artefakten als in der Informations-
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verarbeitung besteht, wird spätestens um die Jahrhundertwende 1900 auch öffentlich verhandelt. »Die Tatsache, daß die Dienstboten keine materiellen Güter produzieren, die unmittelbar in den Verkehr treten, hat viele dazu veranlaßt, sie nicht zu dem produktiven Teil der Bevölkerung zu zählen«.5
Wie sehr jedoch das Geschäft der Informationsverarbeitung und damit verbunden ihre Akteure ebenso produktiv und wirksam werden wie die mühsame Verfertigung von Hardware beim Werkeln, sei nun zunächst anhand der Vermittlungs-Funktion des Dieners nachgezeichnet. 2.1 Mittler und Vermittler Die Sphären, zwischen denen der Diener vermittelnd wirkt, sind vielgestaltig. Allen ist jedoch gemein, dass sie bis ins 20. Jahrhundert um den Komplex des Hauses (ȠۤțȠȢ) im Sinne der antiken Ƞ۞țȠȞȠȝȓĮ organisiert sind.6 Innerhalb dieser Hausgemeinschaft kommt den Subalternen erstens die Funktion einer strukturellen Kopplung zu. Das heißt, privilegierte Subalterne wie der Butler oder Kammerdiener vermitteln zwischen den verschiedenen Hierarchiestufen, indem sie als Bindeglied zwischen oben und unten eintreten, um somit den Betrieb im Souterrain, der für den reibungslosen Ablauf des Haushalts Sorge trägt, mit dem davon unbeschwerten Leben upstairs, in den Salons und Repräsentationsgemächern, in Kommunikation zu halten. Zweitens leisten Diener spatiale Vermittlungsarbeit, indem sie entlegene Orte in Verbindung bringen und zugleich den Raum dazwischen möglichst minimieren. Ganz profan gesprochen: Nicht jeder Diener ist ein Bote, aber nahezu jeder Bote ist ein Diener, insofern er sich – einerlei ob als valet de chambre oder kleiner Laufbursche – in den Dienst der Sache stellt, eine Botschaft zu übertragen.
5
Ross, Lisa: Weibliche Dienstboten und Dienstbotenhaltung in England, Tübingen: J.C.B. Mohr 1912, S. 4.
6
Vgl. Brunner, Otto: »Das ›ganze Haus‹ und die alteuropäische ›Ökonomik‹«, in: ders., Neue Wege der Sozialgeschichte. Vorträge und Aufsätze, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1956, S. 33-61.
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Diese strukturelle Scharnierstellung und die damit verbundene räumlich-informationelle Vermittlungsleistung seien nun etwas genauer in den Blick genommen: Allen voran findet dieser Übersetzungsprozess seine Ausprägung, indem der Diener wie eine Laufmarke (Cursor) zwischen den ständisch streng voneinander getrennten Sphären verkehrt. Er dient als Bindeglied der Schichten, indem er das niedere mit dem höheren Milieu verknüpft, etwa durch vornehme Verhaltensmodi oder bestimmte Informationen, die er aus den Salons ins Souterrain zur weiteren Verbreitung trägt. Der Domestike befindet sich daher stets auf zwei Ebenen zugleich, insofern er als Angehöriger des gewöhnlichen Volks bei den herrschaftlichen Familien lebt und auf diese Weise vom Habitus der ›besseren Kreise‹ profitiert: »Die Dienstboten konnten Vorstellungen auf sich wirken und Gewohnheiten auf sich abfärben lassen, die sonst für beinahe alle gemeinen Leute eine unbegriffene äußere Größe bleiben und darum auch ihren eigentümlichen herrschaftlichen Charakter behielten.«7
Zugleich aber tragen die Dienstboten, wenngleich wohldosiert und zumeist nur auf Nachfrage, das ›reale Leben‹ in die gepflegte Atmosphäre der Salons hinein: »they bring the wild into the house, or household (oikos)«, wie Bruce Robbins in seiner beachtenswerten Studie The servant’s hand bemerkt.8 Sie verknüpfen also die ungezügelte Welt des gemeinen Volkes draußen über die Zwischenstation im Souterrain des »ganzen Hauses« mit den geregelten Zugängen in die Hinterzimmer der Macht, den verschwiegenen Besprechungsräumen der Höheren, wo sie mit unbedingter Diskretion und nichtsdestoweniger geschärfter Wahrnehmung den Mächtigen aufzuwarten wissen. Mit ihrer Praktik, die entlegenen Sphären virtuos miteinander zu verbinden, entwickeln die Subalternen eine außergewöhnliche Fähigkeit, sich gleichsam wechselwarm verschiedenen Umgebungen anzupassen. Mit einem Wort: Sie sind amphibische Wesen.
7
Engelsing, Rolf: »Dienstbotenlektüre im 18. und 19. Jahrhundert«, in: ders., Zur Sozialgeschichte deutscher Mittel- und Unterschichten, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht 1973, S. 180-224, hier S. 183.
8
Robbins, Bruce: The servant’s hand. English fiction from below, New York: Columbia University Press 1986, S. 174.
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Im Zuge, in dem sich um 1800 die bürgerliche Kleinfamilie als Antwort auf das »ganze Haus« formiert und das Gesinde von dieser nunmehr reduzierten Gemeinschaft der Kernfamilie fortan ausgeschlossen bleibt, entsteht mit der räumlichen Trennung von Kontor und Wohnung, von Werkstatt und Haus, von Labor und Residenz am Vorabend der elektrifizierten Telekommunikation nicht zuletzt wieder ein Bedarf an humanoiden Kommunikationsverbindungen, der durch eine klassische Funktion der Subalternen, den Boten oder Laufburschen bedient wird. Mit Blick auf die Frage nach dem Umfang und den Grenzen, die das Wissen der Diener bestimmt, zeigt sich der Domestike hier einmal mehr in einem Zwischenbereich situiert. Insofern das Speichern der Information nicht dem Brief oder versiegelten Schriftstücken anvertraut ist, steht der Diener erneut an der obersten Position desjenigen, der weiß. Auch wenn der Bote in fremdem Auftrag handelt und seinen Bericht schließlich in Stellvertretung erstattet, das heißt mit der Stimme des Absenders spricht, so schränkt diese telematische Übersetzungsleistung zwischen Sender und Empfänger das Wissen des Übertragenden keineswegs ein. Im Gegenteil: der Bote besitzt, trotz seiner fremdbestimmten Handlungsform, eine umfassende Einflussmöglichkeit auf die zu überbringende Botschaft. »Gerade weil die Kommunizierenden füreinander unerreichbar sind, wird die Frage von Belang, ob der Bote seinen heteronomen Status und die darin angelegte Neutralität wahrt, oder ob er sich doch als Souverän und Manipulator ›seiner‹ Nachrichten ›geriert‹, mithin weglässt, verzerrt, oder erfindet.«9
Dem Boten kommt demnach eine Verfügungsgewalt über die Nachricht und damit eine Souveränität über das Wissen selbst zu. Das umfassendere Wissen des Bedienten bleibt jedoch keineswegs auf die realgeschichtlichen Domestiken beschränkt. Auch der Diener als literarische Figur verfügt traditionell über einen privilegierten Kenntnisstand, der ihm dazu verhilft, Geheimnisse aufzudecken oder Intrigen zu spinnen, um auf diese Weise den Plot voranzutreiben oder Spannung zu generieren. Daher kann es nicht verwundern, wenn es in der Literatur, einerlei ob in Romanen wie Gil Blas oder in dramatischen Texten wie Figaro, zum Topos
9
Krämer, Sybille: Medium, Bote, Übertragung. Kleine Metaphysik der Medialität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2008, S. 115f.
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des Dieners gehört, durch ihren Erfindungsreichtum gleichsam den Motor der Narration darzustellen: Die oftmals entscheidenden Informationen, die den Verlauf der Geschichte steuern, kommen von den Subalternen. Gleich einem servus ex machina nehmen die zwischen ephemer und ostentativ gezeichneten Dienerfiguren so richtungsweisende Dinge vor wie Indiskretionen zu begehen, ungefragte Botschaften zuzustellen, Beileid auszusprechen, Vorhersagen zu wagen oder Erkennungen (etwa von Odysseus’ Narbe) durchzuführen. Kurzum, das Geschäft, entscheidende Informationen zu versammeln, zu manipulieren und zu verteilen, wird von den Bedienten ausgeübt, denn sie besitzen ein spezifisches inside knowledge der Akteure, das weit über das (Selbst-)Bild der vermeintlichen Protagonisten hinausreicht.10 Hinzu kommt, dass die Diener im Drama traditionell zwischen Bühne und Parkett, zwischen dem Spiel und seinen Zuschauern vermittelnd auftreten. Indem sie die vierte Wand des Bühnenkastens durchbrechen, stellen sie in ihrer Kommentatorfunktion des Bühnengeschehens eine Schnittstelle zum Publikum bereit, um die Besucher an ihrem (über-)geordneten Wissen teilhaben zu lassen.11 Ein weiterer Effekt, der mit dem privilegierten Kenntnisstand des Dieners in seiner literarischen Gestalt einher geht, zeigt sich darin, dass für gewöhnlich dieses Wissen ein prekäres ist, weil es keineswegs nur zum Wohle aller Beteiligten ausgespielt werden kann. So sieht sich der Domestike einem beständigen Spionageverdacht ausgesetzt, der weit über die Kontexte der Literatur hinausreicht. Der Verdacht liegt allen voran im bevorzugten Funktionsmodus des Dieners begründet: Seine unscheinbare Erscheinungsweise, die ihn dem Paradox von körperlicher Anwesenheit bei gleichzeitig geforderter geistiger Teilnahmslosigkeit unterwirft, verhindert
10 Vgl. dazu auch B. Robbins: The servant’s hand, S. 92. 11 Das Publikum besteht im Übrigen selbst im Hoftheater keineswegs nur aus der feinen Gesellschaft. Noch im 19. Jahrhundert ist es Sitte, sich im Theater gelegentlich durch seinen Dienstboten, manchmal auch über den ersten Akt hinaus, vertreten zu lassen. Sobald der Herr dann höchstselbst eintrifft, weicht der Diener auf die Galerie aus, die sich damit allmählich als eigener Zuschauerraum etabliert, vgl. dazu B. Robbins: The servant’s hand, S. 104. Vornehme Dienstboten lesen ungeachtet dessen freilich ohnehin Romane und Dramen, an deren Distribution an ihre Herrschaften sie nicht unschuldig sind – und nicht etwa umgekehrt, vgl. dazu R. Engelsing: »Dienstbotenlektüre«, S. 216.
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freilich nicht eine geschärfte Aufmerksamkeit für das, was eigentlich nicht für seine Augen und Ohren bestimmt ist. Im Gegenteil, seine so geräuschlose wie diskrete Art versetzt ihn vielmehr in die Lage, die Gespräche und Situationen von anderen unbemerkt zu beobachten, zu analysieren und gegebenenfalls weiter zu verwerten. Dieser Verhaltensmodus prädestiniert den Diener dazu, seinerseits initiativ und zum Agenten zu werden, um sein beiläufig gewonnenes Wissen zum eigenen Vorteil auszunutzen, also diesen Informationsvorsprung gewinnbringend einzusetzen oder weiterzutragen. Es kann daher nicht verwundern, dass sich manche Herrschaften oder auch Fürsten durch ihre Subalternen überwacht fühlen,12 eine Tendenz, die sich um 1800 zu einer regelrechten Paranoia auswächst, nicht zuletzt befördert durch die Lektüre von Romanen, in denen Diener die entscheidenden Wendungen vollziehen. Um ihrer Angst davor zu begegnen, von den eigenen Angestellten ausgespäht und -gehorcht zu werden, delegieren manche Herren ihren Servicewunsch daher vertrauensvoll an technische Medien. Statt sich weiterhin unter dem beständigen Verdacht des Geheimnisverrats von untreuen Bedienten aufwarten zu lassen, zieht man es seitdem gelegentlich vor, sich selbst technischer Gerätschaften wie des dumbwaiter, des stummen Dieners, zu bedienen (vgl. Abbildung 3).13 Mit diesem Vertrauensverlust in humanoide Medien geht eine neue Schweigsamkeit im Dialog von Herr und Diener einher. Die Sprache, die sich an die Diener richtet, wird knapp. Der zuvor noch gepflegte höfische Kanzleistil in den Formulierungen weicht kurzen Befehlen, was zu tun sei. Anhand der Kommandos lässt es sich zeigen: Kommunikation wird zur Maschinensprache. Und William Thackeray brüstet sich 1850 gar: »We never speak a word to the servant who waits on us for twenty years.«14 Nach seiner Hochphase im 18. Jahrhundert scheint die Kommunikation zwischen Herrschaft und Dienerschaft zum Erliegen gekommen zu sein: »In the Vic-
12 Da Vinha, Mathieu: Les valets de chambre du Roi au XVIIe siècle, http://www. cafeshistoriques.com/docs/ValetsLouisXIV.doc, S. 7. 13 Tatsächlich fällt die Hochzeit des Dienerromans mit der historischen Entwicklung des stummen Dieners zusammen, vgl. B. Robbins: The servant’s hand, S. 109. 14 Thackeray, William Makepeace: Contributions to »Punch« etc. (= The works of William Makepeace Thackeray in thirteen volumes, Band 6), New York: Harper & Brothers 1898, S. 603.
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Abbildung 3: Zwei stumme Diener, erstarrt torian household, there is an impression of increased silence«, konstatiert der Literarhistoriker Bruce Robbins,15 und es bleibt zu fragen, was dieses Schweigen verursacht. Etwas schiebt sich zwischen die alte MenschMensch-Schnittstelle. Der eben erwähnte Übergang vom mithorchenden zum stummen Diener deutet es bereits an: Das 19. Jahrhundert ist die Zeit, in der die verschiedensten Serviceleistungen auf breiter Ebene an technische Medien übertragen werden, die in ihrer telematischen, indirekten, mittelbaren Kommunikationsmöglichkeit das persönliche Gespräch zugunsten einer entpersonalisierten Verständigung ersetzen. In diesem allmählichen, nichtsdestoweniger umfassenden Ablöseprozess mag nicht zuletzt ein Grund liegen, warum sich das Unternehmen AskJeeves dazu entschieden hat, die Metaphorik des Dieners letztlich aufzugeben. Sie mögen sich inzwischen vielleicht fragen, warum diese Funktionsbestimmungen verschiedener Facetten aus dem Dienstbereich der Domestiken überhaupt von Belang sind. Und vermutlich ahnen Sie auch längst, dass mit der Diskussion verschiedener Facetten des Dieners, die ihn zum Zentrum der Informationsgewinnung und -verteilung erheben, untergründig bereits ein Vergleich mit einigen Aspekten erfolgt ist, die sich im Leistungsspektrum einer Suchmaschine befinden. Damit lässt sich zum einen demonstrie-
15 Vgl. B. Robbins: The servant’s hand, S. 78.
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Abbildung 4: Kürzlich war er wieder da … Spuren eines Bot ren, wie umfassend das Wissen der Suchmaschinen ebenso wie der Domestiken zu veranschlagen ist. Und zum anderen dient diese implizite Gegenüberstellung freilich dazu, Jeeves auf die Spur zu kommen, also die Frage nach der Plausibilität der Metapher zu verfolgen. Das privilegierte Wissen der Domestiken speist sich zum einen aus ihrer Tätigkeit als Boten, aber auch als literarische Erzähler und als Wechselgänger zwischen den Hierarchien, nicht zu vergessen ihre Wirksamkeit als Spione. All diese Facetten, das Sammeln von Informationen, die Übertragung und Bündelung sowie schließlich auch die Weiterverarbeitung legen es nahe, im Diener einen Akteur zu sehen, der strukturanalog zu jenen Agenten operiert, die für Google auf Datenreise gehen: Vom Boten zum Bot ist es nur ein kleiner, signifikanter Schritt. Und es sind diese virtuellen Agenten wie GoogleBot, Web-
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crawler oder Teoma, der search bot von AskJeeves, die das Internet regelmäßig durchlaufen, stets auf die Suche nach neuen Informationen programmiert, die sie als Zuträger ihrerseits gewinnbringend weiterverarbeiten (vgl. Abbildung 4). Und auch ein weiterer Aspekt innerhalb eines umfassenderen historischen Prozesses ist bereits zur Sprache gekommen. Mit der Übertragung der klassischen Dienstfunktionen an technische Medien konfiguriert sich im Laufe des 19. Jahrhunderts ein Setting, auf dessen Basis die uns heute vertrauten Suchmaschinen entstehen. Der Bote wandert in den Kanal, zunächst der Telegraphie, dann der Telephonleitungen, aus denen schließlich die Datenkabel von heute werden. Mit der Delegation des Service an die Dinge wird der Diener zu einer medientechnischen Figur des Wissens, von dessen Nachfahren die heutigen search bots zeugen. 2.2 Ökonomie der Dienstbarkeit In seiner Mittlerstellung, in seinem Walten im Dazwischen befindet sich der Diener in einer denkbar günstigen Position, die es erlaubt, eine spezifische Logik der Ökonomie zu entwickeln. Während er etwa bei Tisch aufwartet oder geduldig hinter den Stühlen harrt, als sei er nicht vorhanden, steht der Domestike stumm an der Quelle, die er mit geschärfter Aufmerksamkeit ohne weiteres Zutun abschöpfen kann. Systematisch vermag er die Gespräche mitzuhören, die er noch beim Abräumen des Geschirrs gelegentlich in ökonomisch oder strategisch wertvolle Informationen zu überführen versteht. Der Verdacht des spionierenden Aushorchens, den die Herrschaften gegenüber ihren Angestellten entwickeln mögen, kommt letztlich nicht von ungefähr. Schon prominente Kritiker der Domestiken wie Daniel Defoe haben den Diener als Überträger von Kapital aus der höheren in die niederen Klassen charakterisiert, und Kapital ist hier zugleich als Informationsreichtum zu verstehen: Der Bediente weiß über die Geschäfte seines Herrn bestens Bescheid und kann dieses Wissens für sich und seine Unternehmungen nutzen.16 So gelangen nämlich nicht nur kalte Speisereste zurück ins Souterrain, sondern auch heiße Tipps die Börse betreffend, die von
16 Vgl. dazu Sherman, Sandra: »Servants and Semiotics: Reversible Signs, Capital Instability, and Defoe’s Logic of the Market«, in: English Literary History 63 (1995), S. 551-573, hier S. 551.
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rangniederen Domestiken, noch während die Tischgesellschaft zum Dessert übergeht, bereits außer Haus und an die Orte der Spekulation getragen werden. Die Nachricht ist damit längst selbst zu einer Ware geworden, die beiläufig erlangte Informationen in Werte überführt, sei es in Form von direkt erzielten Kursgewinnen oder einer Weitergabe des Wissens an Dritte. Auch wenn diese Ökonomie auf den ersten Blick wie eine Zweitverwertung erscheint, in der Terminologie des Marktes spricht man im frühen 20. Jahrhundert auch von »Dienstmädchenhausse«,17 so führt sie doch zu Effekten, die das sekundäre Wissen der Diener verselbstständigt und die Informationen – ganz wie Googles und AskJeeves’ Suchagenten – letztlich zu primären wandelt. Auch wenn der Domestike, der sich durch Börsenspekulation den Status des Kapitalisten verdient, nicht den Regelfall darstellen dürfte, so zeitigt die massierte Aktivität von Kleinanlegern an der Börse durchaus Wirkungen. Die Wirtschaftsgeschichte kennt verschiedene Gelegenheiten, zu denen durch erhöhte Nachfrage von Aktien, auch mit geringeren Beträgen, über die Dienstboten verfügen, Börsenblasen verstärkt und auch zum Platzen gebracht worden sind.18 Es ist der Moment kurz vor dem Zerplatzen der Blase, den man in der Finanzwelt überheblicherweise als »Dienstmädchenhausse« bezeichnet. Unbestritten ist allerdings, dass mit den Domestiken, die das neu gewonnene Herrschaftswissen auch mittelfristig gewinnbringend investieren, eine Modifikation der stets prekären Herr-Diener-Relation verbunden ist. Denn mit den Börsenaktivitäten von Dienern, wie Daniel Defoe in seinem Essay The Compleat English Tradesman von 1725 analysiert, wird die Frage nach Kapital und Besitztum neu ausgehandelt, und das heißt im Erfolgsfall auch, dass sich die Besitz- und Machtverhältnisse innerhalb der Relation von Herr und Diener umkehren können. Defoe ver-
17 Dazu instruktiv Orland, Barbara: »Dienstmädchenhausse«, in: Barbara Duden/ Karen Hagemann/Regina Schulte/Ulrike Weckel (Hg.), Geschichte in Geschichten. Ein historisches Lesebuch, Frankfurt a.M.: Campus 2003, S. 241-250. 18 Vgl. Turner, Ernest Sackville: What the butler saw. Two hundred and fifty years of the servant problem, London: Michael Joseph 1962, S. 14. Inwieweit das Abhorchen sensitiver Wirtschaftsdaten und damit mittelbar auch das Ge-Horchen der Diener auf Kauf- und Verkaufsweisungen allerdings zu einem Grundbestandteil einer Börsenblase zählt, muss einstweilen Gegenstand weiterer Forschungen bleiben.
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gleicht die Subalternen am Markt sogar in einer exklusiven semiotischen Einsicht mit den von ihren ursprünglichen Besitzern befreiten und daher ungehemmt zirkulierenden Geldwechseln selbst, indem er beide, Diener wie Geldwechsel, als frei flottierende Signifikanten begreift.19 Der Diener, so Defoe, leite aus dem Vorbild eines nicht mehr an einen Besitzer gebundenen Wertes wie eines Geldwechsels seinerseits eine nicht mehr allzu enge Bindung an seinen Herrn ab, dessen Besitzanspruch er – wie im Topos des Marktes vorgeführt – auf sich selbst übergehen sieht. Der Effekt besteht letztlich darin, dass durch das Herrschaftswissen über den Markt und seiner Handhabung dem Diener eine spezifische Souveränität zukommt, die ihn vom Dienstverhältnis emanzipiert. Diese Ablösung aus dem klassischen Besitzverhältnis, die mit der Erfindung des Papiergelds um 1700 und ihrer aufgelösten Referenz zu einem festen Eigentümer zusammenfällt, redefiniert die Relation von Herr und Diener, deren Grenze brüchig und destabilisiert wird;20 zumindest in einer Richtung: nach oben. Nur folgerichtig fürchtet Defoe bereits, dass ein allzu eifriger Diener den Herrn aus den eigenen Geschäften drängt: »the diligent servant endangers his master; the greater reputation the servant gets in his business, the more care the master has upon him, lest he gets within him and worms him out of his business.«21
In letzter Konsequenz droht die Übernahme der Geschäfte durch den Diener,22 der durch die folgsame Pflichterfüllung ganz nebenbei zum souveränen Akteur wird, weil sein akkumuliertes Wissen selbst dynamisch, effektvoll und gewinnbringend wirksam werden kann.
19 Vgl. dazu den herausragenden Text von S. Sherman »Servants and Semiotics«, S. 553f. 20 Ebd., S. 556. 21 Defoe, Daniel: The Mercantile Library or, Complete English Tradesman: Directing him in the several Parts and Progressions of Trade. From his First Entring upon Business, to his Leaving off, Dublin: J. and A. Kelburn 1766, S. 80. 22 Gelegentlich ereignet sich auch die Übernahme der ökonomischen Geschäfte im Sinne des ȠۤțȠȢ oder ganzen Hauses. Wenn der Diener den Haushalt oder das Haus längst wie ein Herr zu führen weiß, übernimmt ihn die Witwe gerne nach dem Tod des einstigen Patriarchen, vgl. B. Robbins, The servant’s hand.
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Die Strategie, Wissen in Besitz zu verwandeln, ist eine dezidierte Herrschaftstechnik. Und dies gilt natürlich auch für unsere Analogie: Wenn der Diener mehr weiß als der Herr und dem Subalternen die Insider-Informationen eignen, spätestens dann stellt sich die Frage, wer hier wen beherrscht. Im Fall von Google oder AskJeeves ist diese Frage freilich längst geklärt, denn niemand würde vermutlich behaupten, bei der Eingabe in die Maske einer Suchmaschine noch Herr der Lage zu sein. Wenn es um die Informationsanalyse, -aufbereitung und -zuteilung geht, ist die Verfügungsgewalt längst an den Herrn der Dinge übergegangen, und das ist ohne Zweifel der Diener.23 2.3 Institutionalisierung der Informationen Die größte Abweichung innerhalb der bislang diskutierten Strukturanalogie von Domestiken und Suchmaschinen wie Google oder AskJeeves besteht in der Differenz zwischen zerstreutem Wissen und seiner Zentralisierung. Was nützt der allwissende Diener, wenn man nicht weiß, wo man ihn antreffen kann? Oder, wie kann man vom Kollektivwissen der Subalternen profitieren, wenn es sich nicht versammelt und gebündelt an vorbestimmten Orten auswählen und abrufen lässt? Abschließend bleibt daher zu fragen, was diese Orte sind und wie sich in ihnen das Wissen der Diener institutionalisiert präsentiert. Sucht man diese Orte zunächst im Inneren des »ganzen Hauses«, so wird man gemäß der hier entwickelten These, dass der Diener über die eigentliche Herrschaftstechnik des Wissens verfügt, weniger das Herrenzimmer betreten als die Küche im Untergeschoß, wo keineswegs nur gekocht wird. Vielmehr zeigen sich Herd und Gesindetisch hier als Umschlagplatz der Informationen, wo die Nachrichten von oben wie von draußen einlaufen und diskutiert werden. Eine geeignete Größe vorausgesetzt, dienen demselben Zweck auch die Foyers der bürgerlichen Palais, wo sich die Diener ver-
23 Das Ausgeliefertsein an die search bots und Agenten scheint grenzenlos und man kann sicher davon ausgehen, dass einem die Suchmaschine nie vorbehaltlos alles mitteilt, egal wer eine Anfrage an sie stellt – Stichwort Premiumdienste. So gibt es neben den akkumulierten Daten nicht nur Metadaten, sondern aggregierte Spezialinformationen, die man zum Stückpreis loswerden könnte. Das heißt dann Marktmacht.
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schiedener Herrschaften ebenso zusammenfinden wie bei Hofe in den Vorzimmern der Macht. Hier, wo mit einem glücklichen Begriff von Carl Schmitt die »Indirekten« residieren, läuft der Korridor aus, den man auf dem Weg zur Macht beschreiten muss.24 Und selbstverständlich finden dort, in den ersten und zweiten Antikammern, auch jene Verbindungslinien der Spionage zusammen, über deren klandestine Verwicklungen allen voran die Kammerdiener als Kommandanten der Geheimpolizei, so etwa unter Ludwig XIV., gebieten.25 Verlässt man diese eher exklusiven Zirkel, um sich an öffentlichere Orte zu begeben, führt eigentlich kein Weg an der Barbierstube vorbei, die nicht nur in der Literatur zum Topos der Indiskretion, zum clearing-house of information geworden ist,26 bevor man sich schließlich auf beliebigen Vor- oder Hauptplätzen einfindet, an denen man, so in Wien noch bis vor einiger Zeit am Westbahnhof möglich, einen Dienstmann für allerlei Zwecke mieten kann, der nicht nur über die perfekte Ortskenntnis verfügt, sondern allerhand andere Serviceleistungen anzubieten oder zu vermitteln weiß.27 Die Funktion des sogenannten Dienstmänner-Instituts wird 1862 von einem gewissen Dr. Folkmann ins Leben gerufen, der damit eine Art outsourcing von Dienstleistungen verfolgt, die zuvor vor allem den festangestellten Subalternen im Haushalt zukamen. Folkmann etabliert ein Gewerbe von »Stellvertreter[n] für verhinderte Dienstboten«28 und zugleich für Wien eine Institution, die sich in die europäische Tradition des »Gesinde-Vermiethungs-Comptoirs« einschreibt29 (vgl. Abbildung 5). In all diesen kleinen und großen Institutionen verdichten sich die Informationen, die unterschiedlichste Boten und Diener aus vielfältigen Quellen zusammentragen und buchstäblich abrufbar halten, zu regionalen Zentren.
24 Schmitt, Carl: Gespräch über die Macht und den Zugang zum Machthaber, Stuttgart: Klett-Cotta 2008, S. 22f. 25 Vgl. M. Da Vinha: Les valets de chambre du Roi, S. 6. 26 B. Robbins: The servant’s hand, S. 140. 27 Vgl. dazu Keller, Fritz: »Hallo Dienstmann! Eine sozialhistorische Skizze«, in: Wiener Geschichtsblätter 62 (2007), H. 4, S. 1-16. 28 Ebd., S. 1. 29 Vgl. Lange, Anselm: Elektrische Tischklingeln. Einst riefen sie »dienstbare Geister«, Kornwestheim: Minner-Verlag 1987, S. 18ff.
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Abbildung 5: Zentrale Informations-Agentur:»Gesinde-VermiethungsComptoir« in Berlin
3. V OM K AMMERDIENER ZUM P ERSONAL D IGITAL A SSISTANT Wenn die bisher angeführten Argumente helfen konnten, die strukturelle Analogie zwischen den umfassend informierten Domestiken von einst und den universalen Suchmaschinen von heute zu plausibilisieren, um damit zu zeigen, dass sich hinter der Bezeichnung eines virtuellen Suchdienstes wie AskJeeves weit mehr als lediglich eine arbiträre Zuschreibung verbirgt und die Metapher des Dieners als Informationszentrale in ihren Wirkmechanismen vielmehr auf konzise historische Parallelen verweist, so ließe sich gleichwohl noch einwenden, dass es dennoch zunächst nichts weiter als ei-
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ne Analogie ist. Denn neben den verschiedenen Entsprechungen zwischen dienstbaren Subjekten und elektronifizierten Suchmaschinen dürfen freilich auch die Diskontinuitäten nicht unerwähnt bleiben. Der vielleicht größte Unterschied zwischen beiden besteht in der räumlichen Reichweite der jeweiligen Dienste: Google oder AskJeeves sind Orte, die trotz ihrer virtuellen Einheit und gleichbleibenden Webadressen über keine feste Lokalisierbarkeit verfügen,30 um zugleich in ihrer Serviceleistung nichts weniger als global zu agieren. Dieses Merkmal ist den Dienern nicht gegeben, ihre Reichweite bleibt lokal fixiert oder regional beschränkt, wenngleich sich ihr summiertes Wissen mit Hilfe der entsprechenden Medien theoretisch ebenso zu einem globalen Netzwerk verschalten ließe. Erste Versuche wie Dienstbotenvereine, -vermittlungen, -gewerkschaften oder Zeitschriften für das Dienstpersonal lassen sich als entsprechende Indikatoren einer solchen Internationalen verstehen. Der hier entwickelten Analogie liegt jedoch noch weit mehr als nur eine strukturelle Entsprechung zugrunde: Denn sie markiert zugleich den Beginn einer medientechnischen Entwicklung, deren Linien auch über die Suchmaschinen selbst hinausführen und die zum Abschluss noch skizziert sei: Wenn im viktorianischen Zeitalter der Dialog zwischen Herrn und Diener verstummt und sich die Botendienste und Nachrichtenübertragungen in die technischen Medien der Telegraphie und Telephonie verlagern, die eine Conditio sine qua non des Internet sind, dann ist damit der erste Schritt markiert, der Dienstleistungen entsubjektiviert und an das unseren Blicken weitestgehend entzogene Telekommunikationsgeschehen delegiert. In diesen virtualisierten Sphären wimmelt es jedoch gleichermaßen von Dienern, die längst schon in Form von internet-, ftp-, mail- und web-Servern in einen ununterbrochenen Dialog miteinander getreten sind. Die medientechnische Entwicklung verleiht der Analogie also über einen Umweg der Fernkommunikation ein stabiles Fundament, und zwar durch die Verlagerung des Kammerdieners oder Personal Domestic Assistant in den Kanal, von wo er
30 Die realen Orte der Suchmaschinen sind schließlich keineswegs zentralisiert, sondern ebenso dispers und verteilt wie die verschiedenen Dienstsubjekte ehedem an unterschiedlichen Orten zerstreut anzutreffen waren. Vgl. zu den Rechenzentren und sogenannten Serverfarmen der Suchmaschinen etwa Patalong, Frank: Suchmaschinen vor Google. Am Anfang war die Liste, in: Spiegel online vom 13.09.2008, http://www.spiegel.de/netzwelt/web/0,1518,577644,00.html
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nach einigen Metamorphosen wiederum zurückkehrt als Personal Digital Assistant, um sich in Form der Brombeere oder des iPhone, des Kindle oder des Sub-NoteBooks in die weltweiten Server-Netze und Suchmaschinen einzuschalten. Deren Schnittstelle nach außen mag noch für eine Zeit mit einer Figur wie Wodehouse’s Jeeves ausgestattet werden, um als kleine Reminiszenz an ihre Vorgeschichte zu erinnern. Gleichwohl vollzieht sich derzeit ein zweiter Schritt, nämlich die Re-Subjektivierung der virtuellen Service-Objekte in eine umfassende, auf persönliche Belange fein abgestimmte Dienstbarkeit, deren kompakte Form uns in den Personal Digital Assistants entgegentritt. Das Wissen, das aus diesen Geräten zu ziehen ist, umfasst die klassischen Suchdienste ebenso wie den Zugriff auf die tieferliegenden Inhalte unserer Kultur, also nicht zuletzt auf die herkömmlichen Medien des Wissens, das Universum der Texte, ebenfalls in seiner elektronifizierten Form. Die nahezu allwissenden Domestiken, die in den reichlich vorhandenen Phasen ihrer Untätigkeit Fachliteratur oder wie Humboldts Kammerdiener Schiller studierten31 oder aber wie Jeeves die Angewohnheit haben, »vor dem Zubettgehen noch ein paar Seiten in einem weiterbildenden Buch zu lesen«,32 sind längst zurückgekehrt und verschaltet mit den zahlreichen Nebendiensten der großen Suchmaschinen wie GoogleScholar, GoogleBookSearch, GoogleMaps oder Froogle. Es besteht also keinerlei Notwendigkeit für einen Abgesang auf den Diener, und schon gar nicht die Notwendigkeit, das Bild und den Namen eines gentleman’s personal gentleman oder Kammerdieners aus der Benutzerschnittstelle einer Suchmaschine zu verbannen. Denn die PDAs, ob domestic oder digital, sind sowohl die Vergangenheit als auch die Zukunft unserer wohl informierten Dienstleistungsgesellschaft.
31 Dazu R. Engelsing, »Dienstbotenlektüre«, S. 107. Zum Bildungshorizont qualifizierter Diener insgesamt vgl. ebd., S. 105, und zu ihrer Eigenschaft als wandelnde Lexika vgl. B. Robbins: The servant’s hand. 32 Wodehouse, Pelham G.: Der unvergleichliche Jeeves, Reinbek bei Hamburg: Rowohlt 1995, S. 97.
Suchen und Finden Notizführung und Grammatik bei Theodor Nöldeke H ENNING T RÜPER
1. S UCHET , SO WERDET IHR FINDEN : Z WEI V ORBEMERKUNGEN Die folgenden Überlegungen gelten einer spezifischen Variante von wissenschaftlichem Papierkram: der Arbeit mit Notizzetteln in den grammatikalischen Forschungen eines Orientalisten im 19. Jahrhundert. Ausgelotet werden soll die Frage, inwieweit die hier betroffenen wissenschaftlichen Schreibverfahren durch die Metapher der Suchmaschine erhellt werden können. Allerdings wird sich die Erklärungsrichtung gelegentlich auch umkehren, so dass sich vielleicht am Ende Suchmaschine und Grammatik eher gegenseitig bespiegeln, also in einer Art wechselseitiger Unbegrifflichkeit ironisieren – kaum vermeidbarer Effekt dieses im Grunde allegoretischen Projekts. Dass die untersuchten Schreibverfahren »vor Google« stehen, scheint dabei im Übrigen nicht unbedingt ausgemacht. Denn zweifelsohne bestehen in den dunkleren, nicht von schimmernden Monitoren beleuchteten Ecken der Arbeitszimmer und akademischen Büros entsprechende Zettelwirtschaften auch weiterhin. Aber das »vor« ist wohl auch als epochale Markierung zu denken, die im Folgenden, wo angemessen, ernstgenommen werden soll. Die Untersuchung beginnt mit einer kleinen sprachlichen Irritation, die sich durch das sprichwörtliche Bibelzitat aus dem Lukasevangelium illust-
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rieren lässt.1 Denn keineswegs gilt ja im Allgemeinen, dass wer sucht, auch finden müsse. Noch nicht einmal gilt, dass wer findet, auch gesucht hätte. Die beiden gewohnheitsmäßig zusammengeschirrten Verben unterscheiden sich in ihrer Ergebnisorientierung, ihrer teleologischen Verfassung. Anders als beim Finden muss beim Suchen nicht unmittelbar etwas herauskommen. Die Suche ist, wo nicht blind, so doch kurzsichtig. Sie folgt meist einer Frage, ohne dass das durchsuchte Material notwendigerweise die Antwort bereithält; aber die Frage kann auch so ungenau sein, dass das Suchen als ziellos angesehen werden kann. Das Suchen trägt so gesehen einige Züge, wie sie etwa in der neueren Wissenschaftsgeschichte dem Experimentieren zugeschrieben werden. Es ist in offener und variabler Weise zielorientiert. Das Finden dagegen wird durch das Erreichen eines Ziels überhaupt erst konstituiert. Wie dieses Ziel erreicht wird – ob rein zufällig oder als Folge beschwerlicher Bemühung –, ist gleichgültig. Die theologische Pointe der Passage des Lukasevangeliums liegt natürlich gerade in der Verbindung des Unverbundenen, die durch das Versprechen künftiger Gnade geleistet wird. Diese Verbindung weist in beide Richtungen, da dem Suchen ein Finden nach- und dem Finden ein Suchen vorangestellt wird. Das Geschäftsmodell von Google ist allem Anschein nach dem Versprechen des Evangeliums nicht unähnlich, denn auch Google verspricht die erfolgreiche Suche und stellt das Suchen (mit Google) dem Finden voran. Ferner beansprucht auch Google in seinem Bereich ein allsehendes Auge und Allgegenwart. Haben wir also die Frechheit zu behaupten: Die theologische Travestie gehört zur Suchmaschine. Denn eine Suchmaschine, die nie etwas findet, sollte zwar der Semantik des Verbums »suchen« nach denkbar sein, wird aber durch den Gebrauch des Bildes von der »Suchmaschine« nicht abgedeckt. Wenig verwunderlich, denn von Maschinen erwarten wir, dass sie ein Ergebnis produzieren. Die Enttäuschung der Google-Suche mit null Treffern soll – dem Geschäftsversprechen zufolge – einfach der anomale, unwahrscheinlich seltene Schadensfall sein beziehungsweise der Bedienungsfehler des Nutzers. Auch beim Jüngsten Gericht
1
Lk 11,9-10 (zitiert nach dem Text der Luther-Bibel von 1912): »Und ich sage euch auch: Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan./ Denn wer da bittet, der nimmt; und wer da sucht, der findet; und wer da anklopft, dem wird aufgetan.«
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wird die Garantie ausgesprochen, es könne keine Justizirrtümer geben. Jegliches verfehlte Ergebnis fällt auf den Weltnutzer selbst zurück. Nicht, dass nun auch die Suchmaschine einer jener Hebekräne sein soll, an denen eine unmotiviert Versöhnung stiftende Gottheit auf die Bühne gehievt wird. Wichtig scheint jedoch, dass im Verhältnis von Suchen und Finden ein Versöhnungsbedürfnis ausgemacht werden kann. Wenn man, um die Rede von der »Suchmaschine« zu verstehen, auf das moralischtheologische Instrumentarium verzichten möchte, stellt sich die Frage, worauf man sonst zurückgreifen kann. Es bleibt das Instrumentarium – vielleicht besser: das Spielgerät – der Säkularisierung. Die geschichtsphilosophische Säkularisierungsthese, wie sie klassisch in Karl Löwiths Meaning in History formuliert wurde,2 hat vor allem ein wirksames Mittel im Angebot: die Einfassung des Unverbundenen in einen gemeinsamen zeitlichen Zusammenhang, dem das Gnadenversprechen und mithin die eschatologische Dimension fehlt. Die Einheit des zeitlichen Zusammenhangs wird durch eine übergreifende teleologische Orientierung gestiftet; durch das Gesamtziel wird der Vorgang als Einheit konstituiert. Die säkularisierende Verzeitlichung des Gnadenversprechens ist also eigentlich vor allem die Herstellung einer Einheit. Aus dieser Perspektive wäre es verwunderlich, wenn »Geschichte« sich aus einem losen Plural (von unverbundenen Episoden innerhalb eines eschatologischen Gesamtrahmens) nicht in einen Kollektivsingular umgeprägt hätte.3 Es stellt sich die Frage, ob im Rahmen des Bilds von der Suchmaschine eine solche Möglichkeit besteht. David Gugerli hat – und damit komme ich zur zweiten Vorbemerkung – für die Bestimmung von »Suchmaschinen« vier Kriterien vorgeschlagen. Ers-
2
Löwith, Karl: Meaning in History. The Theological Implications of the Philosophy of History, Chicago: University of Chicago Press 1949; überarbeitete deutsche Übersetzung: Weltgeschichte und Heilsgeschehen. Die theologischen Voraussetzungen der Geschichtsphilosophie (= Sämtliche Schriften, Band 2), Stuttgart: Metzler 1983.
3
So Koselleck, Reinhart/Meier, Christian/Engels, Odilo/Günther, Horst: »Geschichte«, in: Reinhart Koselleck/Werner Conze/Otto Brunner (Hg.), Geschichtliche Grundbegriffe. Historisches Lexikon zur politisch-sozialen Sprache in Deutschland, Bd. 2, Stuttgart: Klett-Cotta 1975, S. 593-717.
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tens nennt er die Voraussetzung objektivierbarer Ziele der Suchprozedur.4 Die Rede von Suchmaschinen setzt voraus, dass eine Art ontologischer Aktivität – d.h. die Setzung von Arten von Gegenständen und von Individuen, die diesen Arten angehören – entweder vorgängig stattgefunden hat oder während des Suchprozesses stattfindet. Man könnte daher sagen, dass eine Suchmaschine eine partikulare Gegenständlichkeit benötigt, die einen Raum für sich bildet; jedenfalls dann, wenn man davon ausgeht, dass das durchsuchbare Material nicht »die Welt« insgesamt sein kann. Gugerlis zweites Kriterium stellt dies im Übrigen sicher: Das durchsuchte Material muss einen konkreten Raum von »Adressen« bilden, eine Ordnung, in der die Objekte beschriftet und als solche lesbar sind. Die Vorstellung einer totalen Adressierung der Welt, also von allem und jedem, das in irgendeinem Zusammenhang als Gegenstand gelten könnte, scheint wenig sinnvoll. Die ontologische Aktivität muss daher darauf zielen, eine partikulare und außerdem geordnete Einheit zu bilden. Allerdings ist fraglich, was Ordnung hier genau heißen kann; welcher Grad an Adressierung auch in diesem Bereich nötig ist; ob man mit Hilfe von Adressen auch Dinge in einer Umgebung finden kann, die im Einzelnen nicht adressiert ist. Gugerlis Beispiel der Rasterfahndung legt immerhin diese Möglichkeit nahe, insofern sich die Suchziele, bestimmte Angaben über z.B. Mietverhältnisse, in andere übersetzen lassen, z.B. Angaben über Personen, die dann von anderen Personen aufgesucht werden sollten – eine Handlungsanweisung, die sich durch einen Wechsel des Leseverfahrens (von der Textlektüre zum Augenschein) und – damit verbunden – durch hohe Ungenauigkeit auszeichnet. Drittens benötigen Suchmaschinen ein »Programm, von dem sie nicht abweichen können«,5 das aber zugleich ergebnisoffen in dem Sinn ist, dass die von ihm erzielten Ergebnisse nicht von vornherein feststehen. Ob überhaupt Ergebnisse erzielt werden müssen, bleibt fraglich; in diese Lücke tritt das oben bereits skizzierte Versprechen, das sich in ungewisser Weise mit dem Programm der Suchmaschine verbindet. Als viertes Kriterium schlägt Gugerli eine viel weniger genau zu bestimmende »Nähe zum Spiel und zur Simulation«6 vor. Hier wäre es von Bedeutung zu klären, wie der Begriff
4
Gugerli, David: Suchmaschinen: Die Welt als Datenbank, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 15f.
5
Ebd., S. 15.
6
Ebd., S. 16.
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des Programms zu dem der Regel steht. Die Spielregel konstituiert das Spiel (mindestens die Art von Spiel, die sich durch Regeln beschreiben lässt),7 aber das heißt nicht, dass im Spielverlauf das Regelwerk auch genau befolgt wird. Wenn zum Beispiel, wie im italienischen Calciopoli-Skandal von 2006, die Schiedsrichter bestochen sind, wird damit das Spiel noch lange nicht zum Verschwinden gebracht. Auch gewisse sattsam bekannte Computer-Betriebssysteme sind zwar berüchtigt für ihre Fehlbarkeit; dennoch scheint es plausibel zu behaupten, dass Software anders funktioniert als Regelsysteme, gleich wie produktiv sie bei der Herstellung ihrer eigenen Gegenstände sein mögen. Software kennt schließlich keine schiedsrichterliche Funktion. So wird die Unsicherheit darüber, was legitimerweise als »Programm« einer Suchmaschine bezeichnet werden kann (im Fall Googles ohnehin Geschäftsgeheimnis), auch durch das vierte Kriterium eher nicht ausgeräumt. Die Nähe zum Spiel spricht die ontologische Produktivität an, die schon das erste Kriterium voraussetzt. Spiel schafft, wie bereits Johan Huizinga konstatierte, einen eigenen, partikularen Zeitraum.8 Dieser Raum wird konstituiert einerseits durch die Klassen von Gegenständen, Subjekten, Handlungen und Ereignissen, die generisch zum Spiel gehören; und andererseits durch das Beziehungsgeflecht, in das die einzelnen Exemplare dieser Klassen im konkreten Spiel eintreten. Dieser Vorgang, recht eigentlich der der Adressierung, der auch einer der Produktion von Individuen ist, erzeugt eine an den ontologischen Bestand gebundene, partikulare Temporalität. Ein Schachspiel zum Beispiel findet zwar während der Zeit statt, die wir mit der Uhr messen; aber nicht alle Ereignisse, die in dieser kleinen Periode der Uhrzeit stattfinden, gehören der Spielzeit an, auch dann nicht, wenn sie sich am selben Ort ereignen. Wenn sich etwa währenddessen eine Stubenfliege auf dem Brett niederlässt, ist das kein Ereignis, das zum Spiel gehört oder in der Spielzeit stattfindet. Allenfalls über den Umweg als Störung des
7
Unter Rückgriff auf John R. Searles bekannte Unterscheidung konstitutiver und regulativer Regeln in: Speech Acts. An Essay in the Philosophy of Language, Cambridge: Cambridge University Press 1969, S. 33-41. Auch Johan Huizinga kommt im Hinblick auf die Spielregel einer solchen Position bemerkenswert nahe. Vgl. Homo Ludens. Vom Ursprung der Kultur im Spiel, Hamburg: Rowohlt 1956, S. 20.
8
Vgl. J. Huizinga: Homo Ludens, S. 18.
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Spiels könnte der Besuch der Fliege auch in die Spielzeit eingehen. Die Bewegungen von Mikroben auf den Händen der Schachspieler und den von ihnen berührten Figuren blieben auch dann aus der Spielzeit ausgeschlossen, wenn man sie im Einzelnen nachzuvollziehen, zu adressieren vermöchte. Gugerlis Kriterien 1 und 4 zusammengenommen legen nahe, dass eine Suchmaschine in einer partikularen Temporalität operieren müsste. Zugleich müsste diese Temporalität aber als partikularer Bereich irgendwie zustande gekommen sein, und dieses Zustandekommen könnte nicht ohne Weiteres in ihr selbst lokalisiert werden. Der entscheidende Punkt wäre zunächst einmal der, dass die Suchmaschine eine Vorgeschichte benötigt, die außerhalb ihres Operationsbereichs liegt. Der Begriff der Vorgeschichte ist perspektivisch, vom Nachträglichen her gedacht. Von hier aus erscheint das Vorgängige als teleologisch auf dies Nachträgliche gerichtet. Die Vorgeschichte erscheint im Nachhinein als das Versprechen einer zielhaften Entwicklung von ehedem bis jetzt. Diese Entwicklung setzt einen temporalen Verlauf voraus; oder mindestens, dass der temporale Verlauf zwischen dem Vorgängigen und dem Nachträglichen aus der Perspektive des Nachträglichen nicht anders als kontinuierlich gedacht werden kann. Damit ist zugleich gesagt, dass der fragliche temporale Verlauf aus der Perspektive des Vorgängigen heraus nicht als kontinuierlich erscheinen kann, weil sich von hier aus das Nachträgliche nur als unbestimmbare, mögliche Zukunft auffassen lässt. Die Vorgeschichte ist also durch einen epistemologischen Bruch abgetrennt. Dieser Bruch ist konstitutiv für die zeitlichen Verhältnisse. Die geschichtliche Zeit kann keine vorgeschichtlichen Ereignisse enthalten; das wäre gegen die Spielregel. Das Versprechen der Suchmaschine ist in gewisser Weise ähnlich dem geschichtsphilosophischen Versprechen: von derselben Brüchigkeit und derselben verwirrenden, sowohl gebrochenen als auch ungebrochenen Temporalität geprägt.
2. N ÖLDEKE
UND DIE ARABISCHE
G RAMMATIK
Die nachfolgenden Betrachtungen werden sich im Wesentlichen auf ein Werk des Orientalisten Theodor Nöldeke stützen, sein Buch Zur Gramma-
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tik des classischen Arabisch aus dem Jahr 1897,9 eine Sammlung grammatikalischer Detailprobleme von einer derartigen philologischen Trockenheit, dass jeder Lesefluss sofort zum Versiegen kommt. An diesem Beispiel soll das Bild von der Suchmaschine weiter konturiert werden. Zunächst einige Bemerkungen über den Autor:10 Geboren in Harburg 1836 als Sohn eines Gymnasialprofessors, gestorben 1930 in Karlsruhe, zählt Theodor Nöldeke zu den bedeutendsten Gelehrten in der Geschichte der arabischen Studien in Europa. Als sein Hauptwerk gilt seine Geschichte des Qorâns,11 ein Jugendwerk, in dem er 1860 die Grundlagen einer textkritischen Behandlung des Korans legte und – nach dem Vorbild der philologischen Historisierung des Alten Testaments – in Grundlinien Textstufen und eine historische Abfolge der einzelnen Suren festzulegen versuchte. Allerdings hatte sich Nöldeke dieses Themas im Wesentlichen als Reaktion auf eine entsprechende Preisfrage der Pariser Académie des Inscriptions et Belles-Lettres angenommen.12 Charakteristisch desinteressiert an religiösen Problemen, kehrte er der Philologie der Heiligen Schrift des Islam im Folgenden weitgehend den Rücken. Seine Werkbiographie ist zerklüftet; er bearbeitete die verschiedensten Probleme in einer schwindelerregenden Zahl von Sprachen. 1864 als Professor für Orientalische Philologie an die Theologische Fakultät der Universität Kiel berufen, musste er anfangs sogar
9
Nöldeke, Theodor: Zur Grammatik des classischen Arabisch. Im Anhang: die handschriftlichen Ergänzungen in dem Handexemplar Theodor Nöldekes, bearbeitet und mit Zusätzen versehen von Anton Spitaler, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1963 (teilw. Nachdruck der Ausgabe Wien 1897).
10 Eine eigenständige Biographie ist Nöldeke nicht gewidmet worden. Einen biographischen Überblick bieten Littmann, Enno: »Theodor Nöldeke 1836-1930«, in: Ein Jahrhundert Orientalistik. Lebensbilder aus der Feder von Enno Littmann, hg. von Rudi Paret, Anton Schall, Wiesbaden: Harrassowitz 1955, S. 5262; Sellheim, Rudolf: »Theodor Nöldeke (1836-1930). Begründer der modernen Orientalistik«, in: Die Welt des Orients 37 (2007), S. 135-144; vgl. ferner auch Marchand, Suzanne: German Orientalism in the Age of Empire. Religion, Race, and Scholarship, Cambridge: Cambridge University Press 2009, S. 174-178. 11 Göttingen: Dieterichsche Buchhandlung 1860. 12 Nöldeke gewann gemeinsam mit Aloys Sprenger und Michele Amari; das Thema beschäftigte ihn bereits seit seiner Dissertation (Göttingen 1856 bei Heinrich Ewald).
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Sanskrit unterrichten. Hebräische Studien trieb er zeitlebens; turkologische nur wenige Jahre. Viele Jahre hindurch beschäftigte ihn dagegen die persische Literatur. Zur Erholung las er die altgriechischen Klassiker. Spätestens seit seiner Berufung nach Straßburg 1872 (wo er bis zu seiner Emeritierung 1906 lehrte und bis 1920 wohnte) bildeten das Zentrum seiner Arbeit die semitischen Sprachen (neben dem Arabischen v.a. Hebräisch, Aramäisch, die diversen semitischen Sprachen Äthiopiens und eine Reihe kleinerer historischer Sprachen oder Dialekte mit ganz variablem Überlieferungsstand, etwa Phönizisch, Altsyrisch, Mandäisch, Nabatäisch und Sabäisch). Nöldekes durchgängiges Interesse galt vor allem den poetischen Formen in diesen Sprachen, etwa der Metrik; den in ihnen verfassten älteren Geschichtswerken; der Epigraphik; und schließlich Grammatik und Lexik. Eine eigenständige Grammatik des Arabischen hat Nöldeke nie geschrieben. Die vorhandenen Standardwerke, insbesondere die von Heinrich Leberecht Fleischer (1801–1888) und William Wright (1830–1889), hatten aus seiner Sicht das »Gebäude« der arabischen Grammatik stabil genug aufgebaut.13 Doch unterschied sich die Arbeitsweise dieser Autoren von der Nöldekes nicht in besonderem Maß. Auch Fleischer veröffentlichte seine Ergebnisse als fragmentierte Einzeluntersuchungen, und ebenso wie Wright schrieb er dabei ein älteres Standardwerk um. Fleischers Beiträge unternahmen eine äußerst gründliche Detailkorrektur der grammatikalischen Ar-
13 Fleischer, Heinrich Leberecht: Kleinere Schriften, gesammelt, durchgesehen und vermehrt, Bde. 1-2: Beiträge zur arabischen Sprachkunde [1863-1876], Leipzig: Hirzel 1885-88; Caspari, Carl Paul: A Grammar of the Arabic Language. Translated from the German and edited with numerous additions and corrections by William Wright, 2 Bde., Cambridge: Cambridge University Press 185962 (und öfter). Wrights Grundlage war Caspari, Carl Paul: Grammatica arabica in usum scholarum academicarum, Leipzig: Fritzsch 1844-48; übersetzte und überarbeitete 4. Auflage: ders., Arabische Grammatik, bearbeitet von August Müller, Halle: Buchhandlung des Waisenhauses 1876. Zu Fleischer vgl. Mangold, Sabine: Eine »weltbürgerliche Wissenschaft«. Die deutsche Orientalistik im 19. Jahrhundert, Stuttgart: Steiner 2004; Schorsch, Ismar: »Converging Cognates: The Intersection of Jewish and Islamic Studies in Nineteenth Century Germany«, in: Leo Baeck Institute Yearbook 55 (2010), S. 1-34. Zu Wright vgl. jetzt Maier, Bernhard: Semitic Studies in Victorian Britain. A Portrait of William Wright Through his Letters, Würzburg: Ergon 2011.
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beiten seines Lehrers Silvestre de Sacy (1758–1838), während Wright so weit ging, sein durch zahllose Abweichungen im Grunde eigenständiges Werk nach wie vor als Übersetzung der Grammatik des in Norwegen tätigen Fleischer-Schülers und Theologen Carl Paul Caspari (1814–1892) herauszubringen, von der er ursprünglich ausgegangen war. Diese Grammatik wurde nach Wrights Tod ebenfalls weiter überarbeitet, unter anderem von seinem Lehrstuhlnachfolger William Robertson Smith (1846–1894). Die Arbeit an der arabischen Grammatik erzeugte auf diese Weise nach und nach ein paneuropäisches Palimpsest, in das sich auch Nöldekes grammatikalische Arbeit einfügte. Nöldeke stellte fortlaufend umfangreiche Belegsammlungen her, die Evidenzen für kleine sprachhistorische und grammatikalische Argumente festhielten. 1896 publizierte er diese Sammlung. Doch endete die Sammeltätigkeit nicht mit der Publikation. Nöldeke besaß ein Handexemplar des Bandes, in das er über die verbleibenden Jahrzehnte seines Lebens hin Randnotizen eintrug oder Notizzettel einlegte. Zu einer Überarbeitung und Neuauflage kam es jedoch nicht. Erst 1963 wurde der Band von Anton Spitaler (1910–2003) neu herausgegeben, ergänzt um einen Anhang, in dem ausgewählte und von Spitaler wiederum annotierte und ergänzte Notizen Nöldekes enthalten sind. Bemerkenswert ist an diesem Werk die Schichtung von Kommentaren (nebenbei bemerkt ein extrem traditionsgemäßes Verfahren älterer Grammatiker, auch der arabischen). Schon der Text der Erstpublikation ist tatsächlich ein Kommentar, der nur grob nach Themen geordnet eine schier endlose Menge an Einzelbeobachtungen enthält, die vor allem als ergänzender, zum Teil jedoch auch als korrigierender Eingriff in den grammatikalischen Wissensbestand gedacht sind. Hierin folgt die Arbeit ganz dem Vorbild Fleischers. Eine zweite Schicht bildet dann der Selbstkommentar des Kommentators; und eine dritte Schicht zeichnet sich schließlich in den Erläuterungen und Korrekturen Spitalers ab. Kommentierende Notizen bilden in Nöldekes Arbeitspraxis insgesamt die dominante Form der Notizführung, wenn man seinen eigenen Ausführungen in einem Brief an seinen Leidener Kollegen Michael Jan de Goeje (1836–1909) folgen will: »Es ist allerdings schade, daß kaum zu erwarten ist, daß was unsereiner in seinen Exemplaren orientalischer Texte notiert, später der Wissenschaft recht zu Gut komme. Wenn ich reich wäre, so vermachte ich alle meine derartig behandelten Texte
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und erst recht meine Lexika einer Bibliothek – entweder der hiesigen [in Straßburg] oder der der D[eutschen] M[orgenländischen] G[esellschaft], aber das darf ich leider nicht thun. Ich habe fast gar keine Collectaneen als solche, die als Rand- oder Interlinearbemerkungen in gedruckten Büchern stehn.«14
Im Zeitalter vor seiner technischen Reproduzierbarkeit wurde der »interlineare« Text von Schwierigkeiten eigener Art heimgesucht. Das Verschenken der alten Exemplare und das Anschaffen neuer waren undenkbar. Die biographische Investition war kaum zu ermessen. 1918 blieb Nöldeke zum Schutz seiner Bibliothek in Straßburg, während die Universitätskollegen sich absetzten oder ausgewiesen wurden. Dem über achtzigjährigen Emeritus bereiteten die französischen Behörden keine Schwierigkeiten. Allerdings hatte er keinerlei Einkommen mehr, da seine Pension nicht transferiert werden konnte. Er lebte in den bescheidensten materiellen Verhältnissen und fast völliger Isolation. Dennoch übersiedelte er erst zwei Jahre später zu einem seiner Söhne nach Karlsruhe, als sichergestellt war, dass er seine Bücher mitnehmen konnte. Die Sicherung bzw. Speicherung des Kommentarkorpus war wichtiger als eine reichliche Ernährung. Der Kommentar wird oft als eine »offene« Textform beschrieben, die inhaltlich weder Anfang noch Ende hat.15 Diese Bestimmung lässt sich unter anderem so verstehen, dass dem Kommentar nur in einzelnen Fragmenten eine Leserichtung vorgeschrieben ist, nicht jedoch im Ganzen. Anfang und Ende eines Kommentars in Buchform zum Beispiel sind zwar physisch gegeben, aber textsemantisch bedeutungslos. Ferner benötigt der Kommentar ein Referenzobjekt. So verweist Nöldekes Selbstkommentar zu seinem Buch Zur Grammatik des classischen Arabisch banalerweise auf Stellen seines eigenen Buchtextes von 1897. Weniger banal ist die Frage, worauf nun aber eigentlich dieser Buchtext genau verweist, der sich auch einer Kommentarform bedient (»Zur...«), aber nicht auf einen spezifischen und einheitlichen Referenztext bezogen werden kann.
14 Nöldeke an de Goeje am 06.07.1899, Bibliotheek Universiteit Leiden, BPL 2389, Mappe Nöldeke 1897-1899. 15 Vgl. Krajewski, Markus/Vismann, Cornelia: »Kommentar, Code und Kodifikation«, in: Zeitschrift für Ideengeschichte 3 (2009), H. 1, S. 5-17; vgl. auch Vismann, Cornelia: Akten. Medientechnik und Recht, Frankfurt a.M.: Fischer 2000.
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3. P HILOLOGISCHE ADRESSIERUNG , G RAMMATIK UND G EDÄCHTNIS
ERSTER
T EIL :
Die in Nöldekes Buchtext offensichtlich vorhandenen Verweise betreffen zunächst ein umfangreiches Korpus an Literatur, die entweder Belege zur Grammatik des klassischen Arabisch enthält oder aber Aspekte dieser Grammatik diskutiert. Ein Beispiel: »Wie sehr die Regel, dass der Elativ nur von Verben der 1. Classe zu bilden sei, der Einschränkung bedarf, hat Fleischer, Beitr. 233 ff. eingehend gezeigt. Seine Beispiele liessen sich leicht noch vermehren. Vrgl. auch Wright § 235.«16 Der erste Adressat der kommentierenden Arbeit ist das Korpus der anderen philologischen Autoritäten, in diesem Fall die verstorbenen Fleischer und Wright, mit denen Nöldeke jahrzehntelang befreundet gewesen war. Die Adressierung des grammatikalischen Materials ist nicht unabhängig von der Autorität dieser Gelehrten, deren Auswahl von Details und Beispielen ebenso wie ihre Gliederungs- und Darstellungsentscheidungen durch das Siegel ihrer Namen der Aufmerksamkeit und Auseinandersetzung wert wurden. Die Autorität schafft eine gleichmäßige Vertrauenswürdigkeit der Komponenten des von den Philologen verarbeiteten grammatikalischen Materials. Nöldeke bemühte sich nicht, diese Autoren in ein System zu integrieren, dessen Autorschaft ihm selbst zugeschrieben werden sollte. Im Gegenteil war die grammatikalische Arbeit in Nöldekes Sinn kollaborativ und zugleich fragmentierend. Die Fragmente verschiedener Autorschaft sollen sich zu einem Ganzen zusammenfügen. Die Unvollkommenheit der eigenen Arbeit wurde vielfach betont: »Ich habe über diese Sache einige Beobachtungen gemacht, die aber weit davon entfernt sind, sie zu erschöpfen.«17 Und etwas weiter unten: »Was hier gegeben, ist, das wiederhole ich, durchaus nicht erschöpfend. Hoffentlich widmet einmal ein urtheilsfähiger Gelehrter diesem Gegenstande eine eingehende Untersuchung.«18 Der »Gegenstand« ist an dieser Stelle die Nöldeke zufolge häufig vorkommende, aber irreguläre Weglassung einer Silbe bei Passivpartizipien. Die Zitate be-
16 T. Nöldeke: Zur Grammatik, S. 16. Es geht an dieser Stelle bei Fleischer um abgeleitete Adjektive, daher die Rede von »Verben«. 17 T. Nöldeke: Zur Grammatik, S. 20. 18 Ebd., S. 22.
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legen die zeittypische Betonung von Mangel und Unvollkommenheit der wissenschaftlichen Literatur und der gelehrten Autorschaft.19 Doch das Referenzobjekt von Nöldekes kommentierenden Bemerkungen ist nicht einfach die philologische Fachliteratur. Mindestens der methodologischen Präsentation nach ist dieses Referenzobjekt sogar primär die arabische Grammatik selbst. Wohlgemerkt: Grammatik als reale Struktur, nicht als eine strukturierende Analyse unter anderen einer gegebenen Sprache. Aber diese beiden Aspekte des Begriffs waren (und sind) in der Praxis nicht voneinander zu trennen. Die Grammatik des Arabischen ist unter anderem deswegen ein dankbares Objekt gelehrter Diskussion, weil sie über eine sehr umfangreiche und weit zurückreichende Tradition grammatikalischer Literatur erschlossen ist, verfasst sowohl in arabischer als auch in anderen Sprachen, darunter zahlreichen europäischen.20 Von dieser Tradition ist Nöldekes Diskussion abhängig. Die ältere grammatikalische Literatur des Arabischen zeichnet sich durch eigenständige Kategorienbildung aus; nicht sehr viel später nimmt sie jedoch auch Einflüsse aus der griechischen und lateinischen Philosophie auf. Eine »reine«, vollkommen autochthone und überdies ohne normative Absichten geschriebene Grammatik besteht nicht. Dem seinerseits sehr alten Gründungsmythos der arabischen Grammatiker zufolge entstand ihr Feld aus dem Bedürfnis, in der rapiden Expansion des 7. bis 8. Jahrhunderts (europäischer Zeitrechnung) die Reinheit der koranischen Sprache aufrechtzuerhalten. Ob sich die Sprache in einem Zustand vor-grammatikalischer Unschuld neu beschreiben lassen könnte, scheint kaum eine sinnvolle Frage. Jedenfalls war die europäische Forschung: erstens Studium arabischer Textdenkmäler und zwar möglichst weit zurückreichender, des Korans und der vorislamischen, ursprünglich mündlich tradierten, aber schon von den
19 Zur Geschichte der gelehrten Autorschaft vgl. insbes. Clark, William: Academic Charisma and the Birth of the Research University, Chicago/London: University of Chicago Press 2006; zu den epistemischen Tugenden im Zusammenhang mit den Objektivitätsidealen des 19. Jahrhunderts vgl. Daston, Lorraine/Galison, Peter: Objectivity, New York: Zone Books 2007. 20 Als Einführungen vgl. Bohas, Georges/Guillaume, Jean-Patrick/Kouloughli, Djamel Eddin: The Arabic Linguistic Tradition, London/New York: Routledge 1990; Versteegh, Kees: Landmarks in Linguistic Thought III: The Arabic Linguistic Tradition, London/New York: Routledge 1997.
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alten arabischen Grammatikern kanonisierten arabischen Poesie; zweitens Studium mehr oder weniger normativer Grammatiker aus der traditionellen arabischen Gelehrsamkeit; und drittens Studium europäischer Auseinandersetzungen mit beidem. Die durch die europäische Antikenrezeption zementierten grammatikalischen Kategorien wurden teilweise übertragen (aber niemals vollständig, da man sich für bestimmte Phänomene auch der arabischen Terminologie bediente). Implizit war die Grammatik der Semitisten immer auch vergleichend, da sie selbst dort auf verschiedene Sprachen und Sprachfamilien zugriff, wo dies nicht zu ihrer Programmatik gehörte. Ferner blieb sie von einem Gemisch von Traditionen bestimmt, die sich auch schon Jahrhunderte zuvor vermischt hatten. Das Referenzobjekt der arabischen Grammatik war für die Philologen des 19. Jahrhunderts ein schwer zu durchdringendes Dickicht. Sie behalfen sich dadurch, dass sie die unterschiedlichen Traditionen in eine Position permanenter Verhandlung darüber brachten, welcher Art Dokumentation die höchste Autorität zukomme. Die unterschiedlichen Traditionen wurden nivelliert. Denn gelegentlich insistierten die europäischen Orientalisten, dass ihre Kenntnisse genauer seien als die der arabischen Gelehrten von ehedem (die zeitgenössischen Gelehrten der Arabophonie blieben weitgehend im toten Winkel der europäischen Philologen).21 Oder sie argumentierten, wie die alten arabischen Autoren es ebenfalls häufig taten, dass die älteren oder als älter überlieferten Textdokumente grammatikalische Fehler enthielten. Oder aber sie korrigierten die Irrtümer der eigenen europäischen Tradition. Als Konsequenz aus dieser Situation wurden die »mittelalterlichen« arabischen Grammatiker behandelt wie Kollegen: »Die Kûfischen Grammatiker erlauben wenigstens [eine spezifische syntaktische Figur, die elativische Funktion erfüllt,] s. Košut, Fünf Streitfragen der Baৢrenser und Kûfenser 12, aber die Baৢrier verwerfen auch das. Und doch gibt ihr Meister, Sîbawaih, 2, 269 eine Reihe solcher Fälle, die er freilich in wunderlicher Weise wegerklärt.«22
21 William Wright allerdings nennt im Vorwort der zweiten Auflage seiner Grammatik (London: Williams and Norgate 1874) mehrere zeitgenössische arabische Werke, die er benutzt habe. Auch andere zeitgenössische Arabisten, allen voran Ignaz Goldziher, verfolgten die Arbeiten arabischsprachiger Gelehrter ihrer Zeit. 22 T. Nöldeke: Zur Grammatik, S. 17.
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Kollegen sind fehlbare Autoritäten. Das grammatikalische Schreiben Nöldekes, dessen Ziel die Korrektur ist, basiert auf einer Fehlersuche. Die im Zitat greifbare Freude an der Verbesserung des »wunderlichen« Verschweigens eines anomalen grammatikalischen Phänomens ist das Signal des Findens; die Trefferliste der Suchmaschine. Und die Suchmaschine ist nur dann operationsfähig, wenn sie ein gleichmäßig adressiertes Material durchlaufen kann. Die Inklusion der Sprachgelehrten von Kufa und Basra, grammatikalischer Schulen des 8. und 9. Jahrhunderts, in die Sphäre der Kollegialität ließe sich funktional als primär technische Voraussetzung der Suchprozedur erklären. Temporalität ist ein wichtiges Element der Adressierung. Wenn Nöldeke etwa in einer Passage wenige Seiten weiter ein aus seiner Sicht korrektes Räsonnement Sibawayhis (ca. 760 bis ca. 797) anerkennt, greift er auf eine Formel zurück, die auch bei der Beurteilung der Arbeit älterer europäischer Gelehrter zum Einsatz kommen könnte: »Dagegen führt schon Sîbawaih a.a.O. mehrere Ausnahmen von der Regel an...« usw.23 Das »schon« an dieser Stelle ist bezeichnend, insofern es einen kontinuierlichen Verlauf des Wissenswachstums suggeriert. Diese optimistische Haltung konnte allerdings auch einer skeptischeren weichen: »Der Trost, daß schon die alten Philologen das Meiste nicht wirklich verstanden haben, was wir nicht verstehn, ist kein großer Trost.«24 Beide Passagen sind Anzeichen dafür, dass es üblich war, die arabischen Gelehrten der Gedächtnisgemeinschaft der Philologie zuzuschlagen; und auch dafür, dass diese Gedächtnisgemeinschaft eine Funktion der Adressierung eines durchsuchbaren Korpus an Informationen war. Diese spezifische Historisierung der Wissenschaft basierte auf einer partikularen Temporalität, die mit bestimmten anderen Formen von Historisierung nicht kompatibel ist. Zum Beispiel thematisierte Nöldeke allenfalls nebenbei – in Form bedauerlicher religiöser Perspektivstörungen, die man auch von europäischen, insbesondere katholischen Gelehrten kannte – das theologische Interesse der alten arabischen Grammatiker, obwohl zum Beispiel deren etymologische Arbeit stark an der Reinhaltung der Sprache der göttlichen Offenbarung orientiert war.
23 Ebd., S. 20. 24 Nöldeke an de Goeje am 11.06.1898, UB Leiden, BPL 2389, Mappe Nöldeke 1897-1899.
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Die Temporalität der gelehrten Gedächtnisgemeinschaft war für die Konstitution des Gegenstands der philologischen Grammatik unerlässlich. Es gab in der Sprachwissenschaft des 19. Jahrhunderts kaum Bemühungen, kontroverse Grammatiken derselben Sprache zu verfassen – nicht weil die Ordnung der grammatikalischen Darstellung systematisch festgefügt gewesen wäre, sondern weil sie traditional festgefügt war. Diese Fügung wurde in Handbüchern vollzogen, die insofern eine wichtige Rolle für das System der grammatikalischen Forschung spielten. Anders als in den Naturwissenschaften fasste das grammatikalische Handbuch jedoch keinen systematischen Theoriekomplex zusammen. Vielmehr durchlief es eine Serie mehr oder weniger kontingenter und untereinander nur partiell verbundener Phänomene, die entlang eines groben, traditionell etablierten Parcours von Kategorien – etwa: Wortarten, Flexionsformen, syntaktische Funktionen – angeordnet wurden. Es war dieser Parcours, der es ermöglichte, dass Nöldekes einzelne, notizartige Anmerkungen einigermaßen genau bestimmte Bezugspunkte hatten. Diese waren die Gemeinplätze der Grammatik, und deren gemeinschaftlicher Charakter wurde durch die Handbücher aufrechterhalten. Der beständige Rückgang auf den tradierten Parcours verpflichtete andererseits die Philologen auch zur Traditionspflege. Hierin unterschied sich die Arbeit zu textuell seit langer Zeit dokumentierten und untersuchten Sprachen wie dem Arabischen grundlegend von der linguistischen Arbeit über solche Sprachen, die als Forschungsgegenstand nicht durch Tradition und die entsprechende Temporalität ko-konstituiert wurden. Zugleich bedeutet dies: Wenn die Assoziation zwischen Grammatik und Suchmaschine Bestand haben soll, dann sollte die Suchmaschine als systemhafter Zusammenhang des Mechanismus mit seinen Nutzern konzeptualisiert werden. Und auch die Geschichtlichkeit der Nutzerschaft, der in diesem Fall die philologische Gedächtnisgemeinschaft sowie die gelehrte Autorschaft entsprechen, sollte einkalkuliert werden. Schließlich ist Google sogar bemüht, sich dem Verhalten seiner Nutzer anzupassen und diese zu individualisieren. Ähnliches gilt für die epistemische Arbeit an der Grammatik im 19. Jahrhundert; auch sie inkorporiert ihre Nutzer, sowohl als Referenzobjekte wie als Autoren. Doch inkorporiert sie damit auch ein Gewirr historischer Umstände, die nicht von ihr abhängen.
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4. P HILOLOGISCHE ADRESSIERUNG , ZWEITER T EIL : G RAMMATIK UND S PRACHGESCHICHTE Neben der Zeitlichkeit der gelehrten Gedächtnisgemeinschaft etablierte die grammatikalische Arbeit des 19. Jahrhunderts eine weitere partikulare Temporalität: die der Sprachgeschichte. Foucaults klassische Überlegungen zu diesem Punkt laufen darauf hinaus, dass die einzelne Sprache als Einheit durch ihre je eigene Geschichte konstituiert ist.25 Diese Geschichte ist weitgehend unverfügbar, folgt ihren eigenen Rhythmen und trifft nur gelegentlich und in den gröbsten Strukturen mit der Geschichte menschlichen Strebens und Leidens zusammen. Die Sprachgeschichte setzt sich ab von anderen Modellen der Historisierung wie etwa dem der staatszentrierten Historie derselben Periode.26 Als Beispiel für sprachhistorisches Räsonnement hier eine kleine Konjektur Nöldekes über die Form der arabischen Wortbildung anhand von Wurzelkonsonanten, den sogenannten Radikalen: »Könnten wir die Entwicklung der semitischen Sprachen in den Jahrtausenden der Schriftlosigkeit beobachten, so würden wir gewiss sehn, wie eine Menge von Nomina mit zwei Radicalen zur vollen oder doch halben Dreiradicaligkeit übergegangen ist.«27 Angedeutet ist hier ein autonomer und anonymer sprachhistorischer Prozess, eine zur Gänze kontingente und keineswegs zielgerichtete Bewegung. Nöldeke bezeichnete sich in Briefen gern als Anhänger Darwins.28
25 Vgl. Foucault, Michel: Die Ordnung der Dinge. Eine Archäologie der Humanwissenschaften, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1971, hier bes. S. 342-366. 26 Die Unterschiede und auch die Friktionen zwischen verschiedenen historischen Zeiten sind bei Foucault zugestandenermaßen nicht thematisch. 27 T. Nöldeke: Zur Grammatik, S. 15. 28 So z.B. in einem Brief an de Goeje vom 09.06.1902, UB Leiden, BPL 2389, Mappe Nöldeke 1900-1902: »Daß M[ax] M[üller] von Darwin nichts wissen wollte, ist charakteristisch. Ich ken[n]e wenig große Män[n]er, die ich so verehre wie Darwin.« In der zeitgenössischen Sprachwissenschaft, geprägt von August Schleicher und den Junggrammatikern, schloss die Hinwendung zu phonetischen Problemen die Orientierung an den Naturwissenschaften und die Ausprägung einer Form von Darwinismus mit ein. Bei den Philologen, insbesondere denen fortgeschrittenen Alters, war diese Haltung jedoch weniger verbreitet, wie das Beispiel Max Müllers zeigt, der prominent gegen Darwin polemisiert hatte.
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Zweifelsohne bestehen Überschneidungen zwischen den Beschreibungsmustern für zeitliche Verläufe, die sich in Linguistik und Biologie des 19. Jahrhunderts entwickelten. Die Sprachgeschichte stellt die Identität einer Sprache mit sich selbst über eine zeitliche Dauer hinweg sicher. Die Sprachen gleichen den Spezies; wenn die Varianz überhandnimmt, entstehen neue durch Filiation.29 Die Grammatik garantiert als Grundbestand relativ stabiler morphologischer und syntaktischer Formen und als empirisch beherrschbarer genealogischer Zusammenhang die Identität der sich historisch wandelnden Sprachen mit sich selbst. Die Sprachgeschichte tat sich allerdings, anders als die Evolutionsbiologie, schwer mit der Inklusion äußerer Beweger. Sprachhistorische Veränderungen wurden kaum je auf außersprachliche Umstände und Veränderungen zurückgeführt. Einen dem Selektionsdruck vergleichbaren Zusammenhang von Sprache und Umwelt formulierte man nicht ernsthaft. In einer seiner späteren Notizen erwägt Nöldeke ein Problem, das sich mit solchen Überlegungen berührt: »Die Ursache der [fehlenden] Fem.-Endung bei তƗmil [schwanger], ৬Ɨliq [geschieden] etc. sieht G. Meloni, Saggio di filologia semitica 247 darin, daß das Weib in solchen Zuständen, in denen es besonders schwach und schonungs- oder schutzbedürftig ist, durch Vortäuschung männlichen Geschlechts vor den bösen dämonischen Mächten bewahrt werden soll. Das kann richtig sein.«30
Bezeichnend ist hier der zögerliche Nachsatz. Einerseits fand Nöldeke den Gedanken des früh verstorbenen italienischen Kollegen offenbar interessant; andererseits kannte er kein Kriterium, anhand dessen es möglich gewesen wäre, eine Spekulation über die Transformation kultureller Bedeutungen in grammatikalische Phänomene zu bestätigen. 1897 hatte er in der entsprechenden Anmerkung noch geschrieben:
Nöldekes Darwinismus war aber kaum Ergebnis seiner Rezeption der Junggrammatiker, sondern hatte eher mit seiner explizit areligiösen Haltung zu tun. 29 Bei den Sprachen ist das klassische, freilich dehnbare Kriterium die Fähigkeit von Gruppen von Sprechern, sich in ihrer Muttersprache gegenseitig zu verständigen. 30 T. Nöldeke: Zur Grammatik, S. 132, Notiz Nr. 5 zu S. 20. Das zititerte Werk ist: Meloni, Gerardo: Saggi di filologia semitica. A cura degli amici, con dieci tavole in autografia, Rom: Casa Editrice Italiana 1913.
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»Der Grund der Erscheinung, dass bei so vielen weiblichen Adjectiven die Femininendung fehlt, ist noch völlig dunkel. Bei den Wörtern weiblich sexueller Bedeutung könnte das allerdings damit zusammenhängen, dass die semitischen Substantiva, welche ausschliesslich natürliche Feminina bezeichneten, ursprünglich alle ohne Femininendung gewesen zu sein scheinen [es folgen einige hebräische Beispiele], da diese wohl nur an Wörter gehängt wurde, die ohne sie männlich waren.«31
Die unveränderliche Natur der geschlechtlichen Verhältnisse war in den Augen Nöldekes eine legitime Kandidatin für einen Übergriff der Semantik in den Bereich der Morphologie, anders als ein kultureller und daher kontingenter Code wie der von Meloni angesprochene. Das Modell linguistischer Historisierung, dem Nöldeke folgte, war also nicht völlig selbstgenügsam; im Gegenteil neigte es zum Ausfransen an den ontologischen Rändern, zur Inkorporierung von Gegenständen, die ihrer Art nach im Zentrum sprachgeschichtlicher Überlegungen keinen Raum hatten. Wo Nöldeke zum Beispiel über die Morphologie der arabischen Fallbildung sprach, unternahm er keine Exkursionen in die Gefilde der natürlichen oder kulturellen Ordnungen und Unordnungen der Dinge. Für die philologische Adressierung in Nöldekes grammatikalischer Arbeit bedeutete die Ungenauigkeit des Gegenstandsbereichs, die durch die Eigenheiten der sprachhistorischen Temporalisierung entstand, einen Störfall, eine Blindstelle, an der über Korrektheit oder Unkorrektheit einer Erklärung nicht mehr entschieden werden konnte. Noch an einer weiteren Stelle misslingt die Schaffung eines begrenzten Gegenstandsbereichs durch sprachhistorische Temporalisierung. Die philologische Suchbewegung vollzieht sich in der Praxis immer in mehreren Grammatiken zur gleichen Zeit. Die im letzten Zitat ausgelassenen hebräischen Vergleichsbegriffe weisen schon darauf hin, wobei man hier vielleicht von einer Erweiterung des arabischen Sprachbestands anhand einer gedachten genealogischen Linie ausgehen könnte. Doch die Sprachvergleichung beschränkte sich nicht auf Verwandtes.32 So bemerkt Nöldeke in einer Fußnote:
31 T. Nöldeke: Zur Grammatik, S. 20, Anm. 1. 32 Oder: üblicherweise für verwandt Gehaltenes. Denn ob die semitischen und indoeuropäischen Sprachen auf irgendeiner Ebene miteinander verwandt sind, war im 19. Jahrhundert eine offene, wenn auch zunehmend marginalisierte Frage,
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»Barth, Nominalbildung 2, 256. 268 u.s.w. (vrgl. 1, 149) meint, die Identität der Participien und Abstracta sei nur scheinbar, hier seien je zwei ganz verschiedene Bildungen lautlich zusammengeflossen. Doch denke ich, er hat diese Ansicht inzwischen aufgegeben. Die Erscheinung ist nicht wesentlich anders, als wenn das Griechische, namentlich in der älteren Prosa, der noch nicht genug Abstracta zu Gebote stehn, das Neutrum des Part. oder Adjectivs fürs Abstractum verwendet, so z.B. įȚ IJોȢ ʌȠȜȚIJİĮȢ IJઁ țȡȣʌIJંȞ ›weil sie die Staatssachen geheim halten‹ Thuc. 5,68 [es folgen weitere vier altgriechische Beispiele, davon drei aus dem Thukydides]. So noch manches selbst bei Plutarch. Vrgl. lat. lƝtum, ›Tod‹, Part. pass. von *lƝre, dem Simplex von dƝlƝre.«33
Im Raum steht hier – zwischen Nöldeke und seinem Schüler Jakob Barth (1851–1914) – ein nach Meinung Nöldekes bereits beseitigter Detailkonflikt über die Gründe für die Identität bestimmter Partizipien mit abstrakten Substantiven. Nöldeke rekurriert einmal mehr auf gegebene Notwendigkeiten. Wenn etwa in der älteren griechischen Sprache »noch nicht genug« abstrakte Ausdrücke verfügbar sind, antwortet auf diese Mangelerscheinung in einer der universal gegebenen Funktionen der Sprache-als-solcher als natürliche Lösung der Gebrauch von Adjektiven oder Partizipien (selbstverständlich im Neutrum, das nebenbei bemerkt im Arabischen nicht existiert). Das Lateinische entwickelt ähnliche Erscheinungen; warum sollte man also das Phänomen im Arabischen anders als durch Rückgriff auf eine solche sprachhistorische Ökonomie erklären? Nöldeke benutzt – einmal mehr in traditionsgemäßer Selbstverständlichkeit – den Sprachvergleich, um ein zumindest in bestimmten Grundzügen bindendes Universalschema sprachhistorischer Entwicklungsgänge zu postulieren, das aber nur durch die konkreten Referenzsprachen angedeutet wird. Ohne diese Referenzsprachen kann es nicht funktionieren. Die Eigenschaft des Arabischen, die sowohl Barths als auch Nöldekes Aufmerksamkeit erregt hat, ist als solche
vgl. z.B. S. Marchand: German Orientalism, S. 124-130 – und entsprechende Diskussionen finden in der Nachfolge des dänischen Linguisten Holger Pedersen (1867-1953) und seines Postulats einer »nostratischen« Großfamilie eurasischer und afrikanischer Sprachfamilien auch weiterhin statt. 33 T. Nöldeke: Zur Grammatik, S. 18, Anm. 4. Das Zitat bezieht sich auf Barth, Jakob: Nominalbildung in den semitischen Sprachen, 2. Auflage, Leipzig: Hinrichs 1894.
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nicht deswegen erkennbar, weil etwa die wiederholte Durchsuchung der arabischen Textdokumente eine bestimmte Ähnlichkeit in bestimmten Wörtern zutage gefördert hätte. Die Eigenschaft ist nur eine solche, weil auch andere Sprachen zugleich mitgedacht sind und hinter diesen ein weiteres abstraktes Schema angedeutet werden kann, innerhalb dessen die Vorstellung einer schrittweisen Entwicklung »abstrakter« Ausdrücke überhaupt erst sinnvoll wird. Dass aber das grundsätzliche Schema nur angedeutet wird, ist charakteristisch. Die sprachgeschichtliche Analyse stellt Kontinuität her, indem sie die Hilfskonstruktionen, die ihr über die Diskontinuitäten und das nicht Erkennbare hinweghelfen, beschweigt. Es ist kein Zufall, dass die Blindstellen durch das sprachhistorische Temporalisierungsmuster dort entstehen, wo die sprachhistorische Betrachtung semantische Phänomene in den Blick nimmt – wie eben die Zuordnung grammatikalischer zu physischer Geschlechtlichkeit; oder die Erklärung grammatikalischer Eigenschaften abstrakter Termini. Die Philologien des 19. Jahrhunderts legten sich vergleichsweise wenig Rechenschaft darüber ab, wie das Zustandekommen sprachlicher Bedeutung und deren Wandel zu konzeptualisieren sei. Vielmehr operierte die philologische Sprachbetrachtung unter der Annahme, dass Bedeutung ohnehin gegeben sei, teils willkürlich, teils aber auch abhängig von (allerdings nicht immer auch bekannten oder einfach zu begreifenden) strukturellen Eigenschaften der Wirklichkeit. Semantik (im eben skizzierten Sinn)34 war damit Teil jenes bei Nöldeke nur impliziten Bereichs der Sprachlichkeit überhaupt, den de Saussure wenig später langage nannte im Gegensatz zur langue, der einzelnen Sprache. Doch damit wird dem Bereich des Vorausgesetzten nur ein eleganter Name verliehen. Grammatik bleibt suchmaschinenartig. Sie verfügt über die Semantik als Vorgeschichte. Das vorgeschichtlich Entstandene wurde durch eine partikulare Temporalität als einheitlicher und nivellierter, gleichmäßig strukturierter Gegenstandsbereich erfasst. Die Texte, die die philologischen Grammatiker studierten, wurden als Repräsentation dieses Gegenstandsbereichs gelesen und auf Anomalien und Widersprüche hin überprüft. Diese wurden festgehalten oder nach Möglichkeit bereinigt. Das
34 Andere sozusagen kombinatorische Aspekte der linguistischen Semantik, etwa die Erzeugung von Bedeutungen durch Derivation, Entstehung von Komposita oder Binnendifferenzierung in semantischen Feldern, sind hier ausgeklammert.
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Vorgeschichtliche konnte dagegen nicht adressiert werden. Das spezifische Regime der Historizität,35 unter dem die sprachhistorische Betrachtung stand, unterschied zwischen Historie und Prähistorie. Es benötigte also einen epochalen Bruch, der in einem unauflösbaren Wechselverhältnis mit einem epistemologischen Bruch stand. Die sprachhistorische Adressierung, die zugleich grundlegend war für die Rede vom Arabischen als einer Sprache, als langue, enthielt daher unausweichlich epistemische Blindstellen. Ob im Übrigen eine Semantik denkbar wäre, die nicht in diesem Sinn vorgeschichtlichen Charakter hätte, steht dahin.
5. N OTIZ
UND F LIESSTEXT IN DER PHILOLOGISCHEN G RAMMATIK
Die philologische Arbeit an der Grammatik war im Wesentlichen kommentierender Natur. Ihr Medium war eher die Notizführung als das grammatikalische Handbuch, das vor allem – wie oben gesehen – eine Funktion bei der traditionalen Vorgabe der grammatikalischen Anordnung erfüllte. Die eigentliche epistemische Arbeit jedoch galt dem Detail. Was in den Suchbewegungen der Philologie gefunden wurde, addierte sich nicht zu Handbüchern, sondern zu Zettelsammlungen wie der Nöldekes.36 Obwohl es gerade den berühmtesten Fachgelehrten zeitlebens nicht gelang, ihre grammatikalischen Forschungen abzuschließen, bestand im Allgemeinen die Erwartung, dass die Erfassung der Grammatik des Arabischen sich vollenden lassen werde, ja, dass diese Vollendung bereits weit fortgeschritten sei. Als der Fleischer-Schüler August Müller (1848–1892)
35 Der Begriff nach Hartog, François: Régimes d’historicité, Paris: Seuil 2003. 36 Der Kontrast zwischen der Grammatik Wrights und zeitgenössischen, ausschließlich didaktisch orientierten Werken wie z.B. Socin, Albert: Arabische Grammatik. Paradigmen, Litteratur, Chrestomathie und Glossar, Karlsruhe: Reuther 1885 (ab der 5. Auflage: Berlin: Reuther 1904, bearb. von Carl Brockelmann) demonstriert diese Einschätzung. Socin entschlägt sich, um ein reines Lehrbuch zu schreiben, aller Einfügung eigenständiger Forschungen und verzichtet auf die Details, die Wright, Fleischer und Nöldeke so wichtig waren. Strukturell ist sein Handbuch jedoch genau in der gleichen Weise in Paragraphen organisiert wie dasjenige Wrights.
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die Grammatik Casparis auf Deutsch neu herausgab, stützte er sich seinerseits auf Wright. Den Dankbezeigungen im Vorwort fügte er folgende Bestimmung der eigenen Position hinzu: »Dass mein Streben, mich auch einem Buche wie dem Wrights gegenüber nicht unkritisch zu erweisen, höchstens auf dem Gebiete grammatischer Mikroskopie sich bewegen und dabei nur in vereinzelten Fällen minimale Resultate erzielen konnte, brauche ich nicht auseinanderzusetzen.«37 Die philologisch-mikroskopischen Suchbewegungen waren also keineswegs als unabschließbar gedacht; vielmehr hatten sie ein Ziel, und zwar eines, das in Reichweite lag. Diese normativ-methodologische Auffassung der Arbeit an der Grammatik entspricht typologisch dem Modell eines kodifizierten Korpus verstetigter Kommentare, wie es – wohl das bekannteste Beispiel – im Römischen Recht angelegt war. Nöldeke dagegen war in methodologischer Hinsicht skeptischer als Müller. Seine Kurzgefasste syrische Grammatik beginnt mit ähnlichen Bescheidenheitsfloskeln: »Dies Buch macht keinen Anspruch darauf, eine einigermaassen vollständige syrische Grammatik zu sein. Zwar hätte ich mit dem mir zu Gebote stehenden Material manchen Abschnitt viel reicher ausstatten können, aber zu einer in allen Theilen auf Vollständigkeit ausgehnden Behandlung der sprachlichen Erscheinungen wären ganz andre handschriftliche Studien nöthig gewesen, als mir möglich waren. Auch practische Rücksichten geboten eine starke Beschränkung. Hoffentlich ist es mir aber gelungen, auch innerhalb enger Gränzen etwas brauchbares zu Stande zu bringen.«38
Untypisch für Philologenvorworte ist hier jedoch der beinahe wegwerfende Ton des letzten Satzes, der auch den Rest der »Vorrede« prägt. Nöldeke betont Grenzen, Nutzwert und zugleich Vorläufigkeit seiner Arbeit. Zwar ist das Ziel einer »auf Vollständigkeit ausgehnden« Darstellung nicht aufgegeben, befindet sich jedoch in einer mindestens für Nöldeke selbst nicht er-
37 C.P. Caspari: Arabische Grammatik, S. IV. 38 Nöldeke, Theodor: Kurzgefasste syrische Grammatik, Leipzig: T.O. Weigel 1880, S. VII (Hervorhebung im Original). Das Altsyrische ist eine Variante des Aramäischen mit reicher spätantiker Schriftkultur; der moderne Abkömmling dieser Sprache ist nicht Gegenstand von Nöldekes Grammatik.
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reichbaren Distanz. Die Kodifizierung der Grammatik ist damit auf unbestimmte Zeit aufgeschoben. Typisch für grammatikalische Handbücher ist ferner eine weitere Einschränkung, die Nöldeke ausführlich zu begründen nicht für nötig hält: »Verweisungen auf meine Quellen musste ich in der Laut- und Formenlehre fast gänzlich vermeiden. Auch habe ich die Schriften neuerer Gelehrter nicht citiert. Ein kurzes Lehrbuch kann nicht wohl notorische Thatsachen von eignen und fremden Funden scheiden.«39 Solche Abweisungen einer souveränen Autorschaft ziehen sich durch die allermeisten Vorworte des Genres. Sie bekräftigen auch die Autorschaft des philologischen Kollektivs und damit der Gedächtnisgemeinschaft. Nöldeke allerdings spart sich den Bescheidenheitstopos nicht für sein eigenes Werk allein auf, sondern weitet ihn in schnoddrig-ökumenischer Großzügigkeit auch auf die Elaborate aller seiner Kollegen aus. Offenbar hat er kein besonderes Interesse am Aufgehen der mangelhaften individuellen in einer weniger mangelhaften kollektiven Autorschaft, das die Vision einer kodifizierten Grammatik anstrebt. Nöldeke empfindet das grammatikalische Handbuch als nachrangig gegenüber der eigentlichen wissenschaftlichen Arbeit am grammatikalischen Detail. Denn keineswegs behauptet er, die individuelle Zuordnung grammatikalischer »Funde« und ihre Trennung von den allgemein bekannten »Tatsachen« sei unmöglich. Das Handbuch jedoch unterdrückt durch seine Kürze und seinen didaktischen Zweck die gelehrte Autorschaft; der Autor wird bestenfalls (mit Müller) zum Mikroskopisten und schlimmstenfalls zum bloß sekundären Kompilator.40 »Funde« zählen hier nicht. Doch geht es in der gelehrten grammatikalischen Arbeit in erster Linie um das Finden – und damit auch um den Finder. Die Notizsammlungen sind auch deswegen vorrangig, weil sich in ihnen in privilegierter Weise die individuelle grammatikalische Autorschaft manifestiert. Es ist nach diesen Überlegungen kaum überraschend, dass die Übersetzung von Notizen in Fließtext in Arbeiten wie den Fleischer’schen Beiträ-
39 Ebd., S. X. 40 Symptomatisch das nachträgliche, in Klammern nebenher gegebene und nicht wirklich zutreffende Urteil: »Wright did not base his data on original textual research« bei Owens, Jonathan: The Foundations of Grammar. An Introduction to Medieval Arabic Grammatical Theory, Amsterdam/Philadelphia: John Benjamins 1988, S. 3.
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gen und Nöldekes Zur Grammatik einerseits und den Handbüchern Wrights oder Müllers andererseits kaum Unterschiede zeitigt. Besonders Wrights Grammar ist hier ein interessantes Beispiel, insofern er die von Caspari vorgegebene Struktur vor allen Dingen mit einer schier endlosen Zahl von Detailbeobachtungen anfüllte. Deren Gliederung vollzog sich jenseits der vorgegebenen traditionellen »Systematik« in einer numerisch markierten losen Reihung, die sich kaum von den gleichfalls nur lose gefügten Absätzen Nöldekes unterscheidet. In der Kurzgefassten syrischen Grammatik folgte Nöldeke dem Vorbild Wrights und gliederte den Text in nummerierte Paragraphen (nebenbei: wird in diesem Format eigentlich die Nähe zum Rechtstext gesucht?). Die einzelnen Paragraphen weisen zwar eine weitere interne Hierarchisierung auf und gehören, wie oben skizziert, in eine traditionell vorgegebene Anordnung. Unerlässlich für die Darstellung sowohl der allgemeineren als auch spezielleren Probleme war jedoch die Fülle von Beispielen und Varianten, die allein mit Hilfe einer Notizsammlung generiert werden konnte. Beispiele sind in Nöldekes grammatikalischem Fließtext ubiquitär: »§ 291. Die transitive Construction vom Passiv eines doppelt transitiven Verbums ist, abgesehn von den § 280 behandelten Participien [zwei Beispiele] sehr selten und wohl ganz auf gewisse Verba beschränkt. Beispiele: [es folgen sieben Beispiele]. § 292. Man muss sich hier überhaupt vor Augen halten, dass dem Syrischen, abgesehen von dem Personalpronomen, mit einem klaren Zeichen des Objectverhältnisses auch der klare Begriff desselben fehlt, dass es sich hier im Grunde immer nur um adverbiale Zusätze zum Verbum, sei es mit, sei es ohne die Präp. [la- vor konsonantischem, l- vor vokalischem Anlaut, v.a. als Präfix, laut § 247 Präposition der Richtung auf etwas hin, ›räumlich und dativisch in mannigfacher Anwendung‹] handelt. Diese Präp. ist [als Ausdruck eines Objektverhältnisses] von ihren sonstigen Anwendungen u.A. dadurch geschieden, dass sie bei der Umsetzung in’s Passiv verschwinden muss. [Es folgen zwei Beispielsätze, die im Aktiv und Passiv gegeben werden, um das Verschwinden des Objektpräfixes einerseits, die nicht-vorhandene Differenzierung zwischen Dativ- und Akkusativobjekt andererseits zu illustrieren.] Aber bei vielen unzweifelhaft transitiven Verben ist die Passivkonstruktion gar nicht
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üblich, und bei manchen Verben zeigt sich ein Schwanken zwischen [la-] als Objectzeichen und als Dativpräposition.«41
Die beiden Paragraphen schließen einen Abschnitt über die »Rection des Verbums« ab, also über die syntaktische Abhängigkeit anderer Wörter von Verben, z.B. als Objekte. § 291 illustriert das massive Gewicht der Beispiele, die das postulierte Phänomen nicht nur illustrieren, sondern es als (unvollständige) Liste der Fälle seines Auftretens sogar konstituieren. § 292 unternimmt dann einen Versuch, die in Nöldekes Augen »schwankenden« Formen zusammenzufassen, die im Syrischen für den Ausdruck der syntaktischen Objektfunktion bestehen. Bemerkenswert ist hier, dass Nöldeke die Eigenheiten dieser Sprache als Mangel beschreibt. Dieser Mangel besteht im Syrischen nicht gegenüber den anderen semitischen Sprachen, die häufig nur über drei Kasus, traditionell mit Nominativ, Genitiv und Akkusativ gleichgesetzt, verfügen. Vielmehr legt Nöldeke implizit als Normgrammatik die lateinische Grammatik zugrunde, die bekanntlich über klar differenzierte Fallbildung mit Dativ und Akkusativ verfügt. Aus diesem Grund fasst er das la-Präfix auch primär als Präposition auf, also als gegenüber dem Substantiv, mit dem es sich verbindet, ganz eigenständige Wortart, und erst sekundär als Flexionsmorphem. Die beiden Paragraphen repräsentieren unterschiedliche epistemologische Aspekte grammatikalischer Analyse. § 291 arbeitet mit einem Begriff aus der lateinischen Ausgangsgrammatik, der Transitivität, folgt aber ansonsten den im syrischen Textmaterial gefundenen Beispielen. Der Paragraph betreibt Kasuistik, und zwar in einem solchen Sinn, dass das allgemein formulierte Phänomen aus der gegebenen, gleichwohl nicht abgeschlossenen Liste von Fällen besteht.42 Einfacher gesagt, versucht Nöldeke, ein grammatikalisches Phänomen als Ausnahme zu bestimmen, gebunden allein an bestimmte Wörter, aber im Zusammenhang mit diesen regelhaft. In einer solchen Betrachtung ist der »Fall« irreduzibel, weil das Problem nur im Zusammenhang mit einzelnen Wörtern, nicht jedoch für die jeweili-
41 T. Nöldeke: Kurzgefasste syrische Grammatik, S. 204f. »Doppelt transitiv« meint Verben, die zwei Objekte erfordern. 42 Zum Problem der Epistemologie der Kasuistik vgl. Passeron, Jean-Claude/Revel, Jacques (Hg.): Penser par cas, Paris: Edition de l’Ecole des hautes études en sciences sociales 2005.
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ge Sprache insgesamt formuliert werden kann. § 292 dagegen sucht nach einer auf die gesamte syrische Sprache anwendbaren Begründung für einen Mangel an Regelhaftigkeit in der Rektion, die in fehlender Ausbildung bestimmter, im System der Sprache überhaupt vorgezeichneter grammatikalischer Formen gefunden wird. Auch hier werden Beispiele verwendet und variiert, um das Argument zu formulieren. Doch haben die Beispiele einen anderen Charakter: Sie sind austauschbar und dienen dazu (oder spiegeln zumindest vor), das Argument durch Konkretion verständlicher zu machen. Allerdings ließe sich auch für den zweiten Fall wohl argumentieren, dass Nöldekes Argument von den Beispielen her gedacht ist. Insgesamt ist die verknappte Darstellungsform, im Zitat durch die Auslassung der Beispiele (bedingt durch Mangel an sprachlicher Kompetenz) noch verstärkt, dem Verständnis nicht gerade zuträglich. Der sehr zähflüssige und vielfach stockende Fließtext ist genetisch abhängig von der Konkretion der Beispiele, an denen die Betrachtungen aufgehängt werden. Diese Aufhängung erfordert geradezu den Rückgriff auf eine Notizsammlung. Die Kürze der Betrachtungen im Fließtext wiederum deutet darauf hin, dass das begrenzte Format der Notizzettel für die Textgestaltung leitend blieb. Dem Gegenstand zumindest war durch die enorme Verknappung nicht immer geholfen, zumal der Zwang zur Kürze die ausufernden kasuistischen Beispiellisten aussparen musste. So blieb der grammatikalische Fließtext auch epistemologisch abhängig vom Suchen und Finden des Details in den Notizen. Bestand in anderen Praktiken der Notizführung zwischen Zetteln und publizierbarem Fließtext ein Hiatus, der komplizierte Vermittlungen erzwingen konnte,43 war für die Grammatiker der Übergang kaum merklich. So weist die philologisch-grammatikalische Schreibpraxis einen erstaunlich einheitlichen Charakter auf.44
43 Das Problem dieses Übergangs habe ich näher zu bestimmen versucht in: »Unordnungssysteme. Zur Praxis der Notizführung bei Johan Huizinga«, in: zeitenblicke 10 (2011), H. 1, http://www.zeitenblicke.de/2011/1/Trueper/index_ html; URN: urn:nbn:de:0009-9-30517 44 Das Problem des epistemischen Gehalts der Schreibhandlungen, wie es z.B. Christoph Hoffmann als Forschungsproblem umrissen hat, bleibt im Licht der hier vorgestellten Überlegungen für das grammatikalische Material allerdings offen, vgl. Hoffmann, Christoph: Schreiben als Verfahren der Forschung, in: Michael Gamper (Hg.), Experiment und Literatur. Themen, Methoden, Theo-
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6. U NZUVERLÄSSIGE G EGENSTANDSBEREICHE Bei anderen Gelehrten, in anderen disziplinären Zusammenhängen und wissenschaftlichen Unternehmungen belegt die Notizführung ein Auseinandertreten von Suchen und Finden. Die Notizen enden in Sackgassen; viele werden nie verwendet. Der Fließtext, der immer aus Ergebnissen, aus Funden besteht, stützt sich nie allein und selten auch nur überwiegend auf die Zettelsammlungen. Nicht so bei den Grammatikern: Hier ist die Notizsammlung ihrer Form nach bereits Präfiguration des späteren Textkompilats. Zwischen Notizen und Fließtext besteht Kontinuität. Beide Schreibszenen – die Notizführung und das Abfassen von Fließtext – können als Teil eines einheitlichen Prozesses betrachtet werden, sozusagen eines gemeinsamen Geschichtsraums. Die Schreibszenen, die Textformen, der Autor sind Teil eines ontologischen Kontinuums. Sie gehören demselben Gegenstandsbereich an, der durch dieselben Temporalisierungsmuster vereinheitlicht wird; oder, um das oben eingeführte Bild wieder aufzunehmen: ein einheitliches Spiel ist. Dass aber diese Temporalisierungsmuster im Plural auftreten (oder mindestens im Dual, wie hier zwischen Gedächtnis und Sprachgeschichte changierend), deutet darauf hin, dass das Kontinuum prekär ist; dass es sich über Nicht-Kontinuierliches kontinuierlich hinwegsetzen muss; dass ein doppeltes Spiel gespielt wird. Dies Nicht-Kontinuierliche ließ sich im Fall der philologischen Grammatik am Hereinragen der Semantik in die grammatikalische Beschäftigung mit Morphologie und Syntax festmachen. Oder wiederum den anfänglichen Bemerkungen zum metaphorischen Gehalt der Suchmaschine folgend: das Nicht-Kontinuierliche zeigt sich in den Spuren der Vorgeschichte, die im ontologischen Kontinuum des Geschichtlichen noch sichtbar sind. Unter der Metaphorik der Suchmaschine betrachtet, erweist sich die philologische Arbeit an der Grammatik als erstens komplexe und zweitens unzuverlässige Operation, die einen Gegenstandsbereich setzt, abgrenzt, nivelliert und in potentiell endloser Wiederholung durchläuft. Komplex ist diese Operation, weil sie auf diskursiven, praktischen und materiellen Vo-
rien, Göttingen: Wallstein 2010, S. 181-207; vgl. auch Hoffmann, Christoph (Hg.): Daten sichern. Schreiben und Verfahren der Aufzeichnung, Zürich/Berlin: diaphanes 2008.
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raussetzungen beruht; ferner, weil sie vielfältige verstetigte Folgephänomene zeitigt, wie sie etwa in der Gedächtnisgemeinschaft der Gelehrten oder dem Regime der sprachgeschichtlichen Historizität aufscheinen. Beide temporalen Organisationsmuster lassen sich als Funktionen der philologischen Grammatik ansehen. Unzuverlässig ist diese Operation, weil ihr Gegenstandsbereich instabil ist. Dies zeigt sich in den unterschiedlichen partikularen Temporalitäten, im Rekurs auf andere Grammatiken als die des jeweils betrachteten sprachhistorischen Zusammenhangs; und schließlich im Auftreten von Blindstellen in Form von grammatikalischen Phänomenen, die nicht mit im grammatikalischen Gegenstandsbereich verortet werden können. Das Auftreten solcher Blindstellen ist allem Anschein nach unvermeidbar. Möglicherweise lässt es sich durch den kasuistischen Anteil erklären, den die philologische Grammatik aufweist, und möglicherweise ist es auch dieser kasuistische Anteil, der die Assoziation zwischen Grammatik und Suchmaschine allererst heuristisch attraktiv macht. Denn schließlich gibt die versteckte Instabilität der Grammatik auch Anlass zu einem ebenso versteckten Versprechen: etwa, dass sie dennoch beim Erlernen schwieriger Sprachen gute Dienste leisten werde. So hofft auch Nöldeke am Ende nur, »etwas Brauchbares zu Stande zu bringen«, also das Versprechen der Grammatik mindestens für eine kleine Weile zu halten. Im Fall Nöldekes hat dieses ziemlich brüchige Versprechen nicht wenig zu tun mit der unter den Philologen des 19. Jahrhunderts so beliebten »Skepsis«, der Epoché, dem Vorläufigen, der Zurückhaltung des Urteils, dem eigentümlichen Pathos des Fragmentarischen und der »unendlichen Approximation«.45 Ob sich unter diesem Zeichen die Fragerichtung wohl auch umkehren und die Philologie als Metapher für die Suchmaschine und ihre Nutzer eintreten könnte; ob dann wohl Nietzsches Losung »Wir Philologen« – im Guten wie im Schlechten – auch unseren so ungeheuer heutigen Alltag am Computer noch zu treffen vermöchte? Schließlich, wo fänden sich umfangreichere Textmengen, massenhaftere Fälschungen, Palimp-
45 In der vielzitierten Formulierung bei Boeckh, August: Encyclopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften, hg. von Ernst Bartuschek, Leipzig: Teubner 1877, S. 16. Vgl. auch den instruktiven Aufsatz von Benne, Christian: »Philologie und Skepsis«, in: J.P. Schwindt (Hg.), Was ist eine philologische Frage? Beiträge zur Erkundung einer theoretischen Einstellung, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 192-210.
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seste und verderbte Textstellen als »im Netz«? Zwar verhält sich wohl die formalsprachlich operierende Informatik in vielerlei Hinsicht anders als die Grammatik natürlicher Sprachen, wie sie im 19. Jahrhundert betrieben wurde. Aber aus der Perspektive der Suchmaschine, die in natürlicher Sprache bedient wird, um Ergebnisse in natürlicher Sprache zu erzielen, ist ihre Programmierung – und überhaupt das Design ihrer verborgenen formalen Sprache – nichts anderes als Vorgeschichte; und zwar auch nur eine von mehreren, denn auch das Netz nimmt Semantik und Sprachgeschichte – sowohl der natürlichen als auch der Programmiersprachen – als vorgegeben hin. Im Sog der Metapher ließe sich die Programmierung als die größtmögliche Blindstelle ansehen, die einer Hermeneutik des Verdachts überhaupt nur unterkommen könnte; und das Ausmaß an gewissermaßen institutionalisierter Ignoranz, das die Operationalität des »Nutzers« der Suchmaschine ermöglichte, gliche in manchem der akademischen Zurichtung der Philologen des 19. Jahrhunderts. Gleich ob diese Überlegung plausibel ist oder nicht, zeigt sie doch wohl eines: dass nämlich die Metaphern, mit deren Hilfe wir uns Rechenschaft über das Wissen – seinen Erwerb, seine Ordnung, seine Rechtfertigung – ablegen, in Bewegung geraten können und vielleicht auch sollten. Welche Rolle dabei der Historisierung des Wissens zukommt, ist ebenso offen wie die Frage, welche Inhalte eine solche Historisierung hervorheben sollte: »vor Google« als abgetane Epoche oder als Vorgeschichte?
Vannevar Bush und die Technikutopie Memex Visionen einer effizienten Speicherung und Verfügbarmachung von Information M ARTIN S CHREIBER
»There is a growing mountain of research.«1 Mit dieser Einschätzung beginnt der amerikanische Ingenieur Vannevar Bush seinen Aufsatz As We May Think, der im Juni 1945 in der Ausgabe 176 des Magazins Atlantic Monthly erschien. Ausgehend vom Problem eines zunehmend rascher wachsenden und kaum mehr überschaubaren Bestandes an wissenschaftlicher Literatur kam Bush zu dem Schluss, dass die damaligen Möglichkeiten zur Übertragung, Speicherung und Ordnung von Information unzureichend seien. Um dieser Herausforderung zu begegnen, präsentierte er den Memory Extender (Memex): ein fiktives System zur Erweiterung des persönlichen Gedächtnisses seiner Benutzer, das die Bibliothek und die Kartei eines Wissenschaftlers ersetzen sollte. Obwohl der Artikel nach seiner Veröffentlichung einige publizistische Aufmerksamkeit erregte, gab es in der Folgezeit keine Versuche zur tatsächlichen Konstruktion eines Memex. Dennoch wurden – vor allem seit Beginn der 1960er Jahre – von Bush formulierte Ideen und Konzepte über
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Bush, Vannevar: »As We May Think«, in: The Atlantic Monthly 176 (1945), S. 101-108, hier S. 101.
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die Organisation von Information sowie den Gebrauch des Memex wieder aufgegriffen. Sie beeinflussten die Entwicklung von Hard- und Software in den folgenden Jahren und Jahrzehnten nicht unerheblich. Der folgende Beitrag will Bushs Utopie von der Erfassung, Speicherung und Verfügbarmachung von Wissen näher beleuchten. Vannevar Bush, der am Tufts College in Medford, Massachusetts, Ingenieurwesen studiert hatte, wurde im Januar 1916 von der Harvard University und dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) der Doktorgrad verliehen. Am MIT war Bush ab 1919 als Forscher, ab 1923 als Professor für Elektrotechnik beschäftigt.2 Seit Anfang der 1920er Jahre befasste er sich mit der Entwicklung effizienter Rechentechnik, vor allem mit Apparaturen zur Lösung komplexer Differenzialgleichungen, darunter der sogenannte Differential Analyzer, der noch während des Zweiten Weltkriegs die leistungsfähigste im Einsatz befindliche Rechenmaschine war.3 1939 wurde Bush vom amerikanischen Präsidenten Franklin D. Roosevelt mit der Leitung des National Defense Research Committee (NDRC) betraut und 1941 zum Direktor des neu ins Leben gerufenen Office of Scientific Research and Development (O.S.R.D.) berufen. Das O.S.R.D. koordinierte während des Zweiten Weltkriegs die Forschungsprogramme des amerikanischen Militärs, zu denen auch das Manhattan Project zählte.4 In den Jahren beim O.S.R.D. erregte Bush mit seinem Aufsatz Science –
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Vgl. Wildes, Karl L./Lindgren, Nilo A.: A Century of Electrical Engineering and Computer Science at MIT, 1882-1982, Cambridge, MA: MIT Press 1985, S. 82-85; Gleiser, Molly: »Analog Inventor«, in: Datamation 26 (1980), H. 2, S. 141-143. In Bezug auf eine ausführliche biographische Darstellung vgl. Zachary, G. Pascal: Endless Frontier: Vannevar Bush, Engineer of the American Century, New York: Free Press 1997.
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Vgl. Bush, Vannevar/Caldwell, Samuel H.: »A New Type of Differential Analyzer«, in: Journal of the Franklin Institute 240 (1945), H. 4, S. 255-326; vgl. hierzu außerdem die Einschätzung bei Karl L. Wildes/Nilo A. Lindgren: A Century of Electrical Engineering, S. 90-92.
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Vgl. G.P. Zachary: Endless Frontier, S. 89-117; Friedewald, Michael: Der Computer als Werkzeug und Medium. Die geistigen und technischen Wurzeln des Personal Computers, Berlin: Verlag für Geschichte der Naturwissenschaften und der Technik 1999, S. 36-39.
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The Endless Frontier (1945)5 erhebliche Aufmerksamkeit, in dem er wichtige Leitlinien für die politische und administrative Struktur der amerikanischen Forschung in der Nachkriegszeit skizzierte. Im selben Jahr veröffentlichte Bush As We May Think – und auch dieser Aufsatz ist vor dem Hintergrund sowohl seiner Tätigkeit als Entwickler von Rechenmaschinen als auch seiner Aktivitäten im Bereich der Wissenschaftspolitik zu verstehen. In den 1930er Jahren hatte sich der Typus des selbstständigen Erfinders, für den prototypisch Thomas A. Edison stand, weitgehend überlebt.6 Entwurf und Konstruktion – die beiden wesentlichen Arbeitsschritte bei der Entstehung eines technischen Artefakts – lagen nicht mehr in einer Hand, so dass der schriftlich niedergelegte Entwurf, insbesondere die Konstruktionszeichnung, zum Mittler zwischen Idee und Ausführung werden musste. Ein Ingenieur musste nun vor allem die Fähigkeit besitzen, sich die Funktionsweise eines technischen Artefakts vorzustellen und diese Idee in einen Konstruktionsplan umzusetzen.7 Für Vannevar Bush besaß dieser Prozess, der ja per se noch nichts mit der Realisierung einer technischen Apparatur zu tun hat, eine große Nähe zu künstlerischen Aktivitäten. Der klassische Ingenieur hatte für ihn sehr viel mehr mit einem Künstler gemein als mit einem (Natur-)Wissenschaftler.8 Bush zählte mit seinen hohen Ansprüchen an den Ingenieurberuf, mit seiner konservativen Grundhaltung und seiner Rolle als Mitglied der USAdministration zu den prominentesten Vertretern der Technokratie. Leitbild dieser hauptsächlich in den USA beheimateten Bewegung war die Ausrichtung aller politischen und wirtschaftlichen Entscheidungen an wissenschaftlich-technischen Argumenten und Sachzwängen, um damit letztendlich dem Wohl der gesamten Bevölkerung zu dienen, wie es Bush in einem
5 6
http://www.nsf.gov/od/lpa/nsf50/vbush1945.htm Vgl. zu dieser Entwicklung generell: Hughes, Thomas P.: American Genesis: A Century of Invention and Technological Enthusiasm, 1870-1970, New York: Viking 1989, S. 138-183.
7
Vgl. zu diesem neuen Typus des Ingenieurs: König, Wolfgang: Künstler und Strichezieher: Konstruktions- und Technikkulturen im deutschen, britischen, amerikanischen und französischen Maschinenbau zwischen 1850 und 1930, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 1999, insbesondere S. 180-192.
8
Vgl. Segal, Howard P.: »The Third Culture: C.P. Snow Revisited«, in: IEEE Technology and Society Datamation 25 (1996), H. 4, S. 29-32.
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Vortrag von 1937 durch ein Zitat von Arthur D. Little auf den Punkt brachte: »The late Arthur D. Little in an essay […] defined the ›fifth estate‹ as: ›those having the simplicity to wonder, the ability to question, the power to generalize, the capacity to apply. It is, in short, the company of thinkers, workers, expounders, and practitioners upon which the world is absolutely dependent for the preservation and advancement of that organized knowledge which we call science. […] It is they who bring the power and the fruits of knowledge to the multitude who are content to go through life without thinking and without questioning.«9
Seine besondere Qualifikation machte den Ingenieur nach Ansicht der Technokraten also zum Mitglied einer Gruppe von Experten, die zur Mitgestaltung sozialer Prozesse verpflichtet war. Aus dieser gesamtgesellschaftlichen Verantwortung leitete Bush nicht nur einen gleichsam naturgegebenen Vorrang der Technik über Wirtschaft und Politik ab, sondern verlangte von der technokratischen Elite auch, die Wirkungen der von ihr geschaffenen Technik einschätzen und gegenüber der Öffentlichkeit verantworten zu können. Neben den elitären Anspruch an den »Ingenieursstand« trat bei Bush eine ausgeprägte antizentralistische Haltung, die sich darin äußerte, dass er – außer in Fragen von nationalem Interesse wie der Verteidigung – jedwede Zentralisierung von Forschung ablehnte. Stattdessen sollte eine, von der Basis ausgehende, dezentrale Koordinierung erfolgen, die Bush während seiner Zeit am MIT als besonders effektiv zu schätzen gelernt hatte.10 Die Frage, wie man einer derart organisierten Wissenschaft geeignete Hilfsmittel zur Verfügung stellen könnte, hatte Bush bereits während der 1930er Jahre beschäftigt. Ein Ergebnis dieser Überlegungen war die Konzeption des Memex.
9
Bush, Vannevar: »The Engineer and his Relation to Government«, in: Electrical Engineering 56 (1937), H. 8, S. 928-936, hier S. 930.
10 Vgl. Bush, Vannevar: »The American Tradition of Opportunity«, in: Electrical Engineering 63 (1944), H. 3, S. 82-84; vgl. hierzu außerdem die Einschätzung von Reingold, Nathan: »Vannevar Bush’s New Deal for Research: or The Triumph of the Old Order«, in: Historical Studies in the Physical and Biological Sciences 17 (1987), S. 299-344, hier S. 301f.
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Zu Beginn der 1930er Jahre begann Bush als Vizepräsident des MIT seine Karriere als Wissenschaftsfunktionär, zudem hatte er sich bereits als einer der führenden Köpfe im Bereich der Analogrechnerentwicklung profiliert. In jener Zeit finden sich auch die Ursprünge des Memex-Konzepts: 1933 formulierte Bush in seinem Essay The Inscrutable ’Thirties11 erstmals die Problematik, dass die Menge des zugänglichen Wissens viel zu schnell zunahm, als dass ein aufmerksamer Leser der Fachliteratur sie einigermaßen vollständig erfassen konnte. Mitte der 1950er Jahre brachte Bush diese Problematik in einem kurzen Beitrag in der Zeitschrift Mechanical Review wie folgt auf den Punkt: »We are making enormous strides in the development of methods for creating a record of what we learn […]. We are also making strides in developing means for the transmission of ideas from one to another or from a central point to great audiences. But in one exceedingly important phase of the whole problem we are making little progress indeed. This is the phase of finding in the record the information that we need.«12
In den folgenden Jahren versuchte Bush, dieses Problem aus der Perspektive des Ingenieurs anzugehen und den Zugriff auf – vor allem das in Bibliotheken verfügbare – Wissen unter Einsatz geeigneter technischer Hilfsmittel effektiver zu machen. Hierzu griff er auf eine im angloamerikanischen Raum verbreitete Form der Auseinandersetzung mit den zukünftigen Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik zurück: die technische Utopie, die eine bessere Zukunft prognostiziert und aktuelle Entwicklungen in die Zukunft extrapoliert, um der technischen Entwicklung kreative Impulse zu geben.13
11 Bush, Vannevar: »The Inscrutable ’Thirties: Reflection Upon a Preposterous Decade« [1933], in: Nyce, James M./Kahn, Paul (Hg.), From Memex to Hypertext: Vannevar Bush and the Mind’s Machine, Boston: Academic Press 1991, S. 67-79. 12 Bush, Vannevar: »Communications – Where Do We Go from Here?«, in: Mechanical Engineering 77 (1955), H. 4, S. 302-304, hier S. 303. 13 Vgl. hierzu ausführlich Schröter, Jens: Das Netz und die Virtuelle Realität. Zur Selbstprogrammierung der Gesellschaft durch die universelle Maschine, Bielefeld: transcript 2004, S. 21-27.
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Bushs Essay The Inscrutable ’Thirties stellt einen satirisch anmutenden Rückblick auf die Probleme und Fehlentwicklungen der 1930er Jahre aus einer nicht näher bestimmten Zukunft dar. Im Mittelpunkt stehen die sozioökonomischen und ökologischen Probleme, die durch die industrielle Massenproduktion und den zunehmenden Individualverkehr hervorgerufen wurden. Diese könnten nach Bush nur mit den Möglichkeiten von Wissenschaft und Technik überwunden werden. Daneben beschrieb Bush einen repräsentativen Tagesablauf eines Wissenschaftlers an einer Universität der Ostküste, wobei er einen besonderen Schwerpunkt auf dessen Recherchen in der Bibliothek legte. Anschaulich vermittelte er die Frustration, die mit der Suche nach bestimmten Informationen beinahe unweigerlich verbunden ist.14 Bush rechtfertigte die Veröffentlichung seiner Essays als Fortsetzung der Wissenschaft mit anderen Mitteln. Das eigentliche Problem, so Bush in einer durchaus elitären Haltung, liege darin begründet, dass die breite Öffentlichkeit nicht genug vom Stand der Technik verstehe und daher das Mögliche nicht vom Unmöglichen zu unterscheiden wisse. Daher sei es geboten, ihr – ausgehend vom aktuellen Forschungsstand – potentielle künftige Entwicklungen nahezubringen. Es ist vor diesem Hintergrund nur wenig verwunderlich, dass die in The Inscrutable ’Thirties beschriebene fiktive Maschine große Ähnlichkeit mit zwei Apparaturen aufweist, die unter der Leitung Bushs zwischen 1935 und 1942 am MIT entstanden: dem Navy Comparator und dem Rapid Selector.15 Gegen Mitte der 1930er Jahre – nach der Fertigstellung des Differential Analyzer – ist eine gewisse Neuorientierung von Bushs Forschung zu verzeichnen. In diese Zeit fällt der Beginn der Entwicklungsarbeiten am so genannten Navy Comparator, dessen Aufgabe es sein sollte, Übereinstimmungen von zwei codierten Nachrichten zu ermitteln und damit deren Dechiffrierung zu vereinfachen. Die Botschaften sollten in Form von Lochstreifen vorliegen und mit Hilfe von Photozellen verglichen werden. Obwohl die U.S. Navy das Projekt unterstützte, verzögerte sich die Entwicklung aus technischen und personellen Gründen. Nachdem Bush das noch mit Mängeln behaftete Gerät im Frühjahr 1938 dennoch an die Navy über-
14 Vgl. V. Bush: »The Inscrutable ’Thirties«, S. 73-75. 15 Vgl. zu beiden Apparaturen ausführlich die Darstellung in: M. Friedewald: Der Computer als Werkzeug und Medium, S. 46-51.
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geben hatte, wurde es bereits nach kurzer Zeit wieder außer Betrieb genommen.16 Dennoch verfolgte Bush seine anspruchsvollen Pläne zur Verbindung von Mikrofilmspeicher, optischer Elektronik und Rechentechnik weiter. Das Ergebnis dieser Bemühungen war ein neuer Entwurf, der unter dem Namen Rapid Selector bekannt wurde. Dieser war als Hilfsmittel zur Verwaltung von großen Datenbeständen und zur Unterstützung wissenschaftlicher Arbeit konzipiert. Bushs Entwurf sah vor, dass die zu speichernden Dokumente stark verkleinert und auf einer Hälfte eines Mikrofilmstreifens gespeichert werden sollten. Die verbleibende andere Hälfte sollte zur Speicherung der Associations verwendet werden – Codebuchstaben, mit deren Hilfe das Dokument wie durch Schlagworte beschrieben werden sollte. An einer Leseeinheit sollten lange Rollen Mikrofilm mit Dokumenten und Codes mit hoher Geschwindigkeit vorbeigeführt werden; immer wenn zwei Codes vollständig übereinstimmten, sollte eine Kopiereinrichtung aktiviert werden, welche die gesuchten Dokumente mit Hilfe eines Stroboskopblitzes zur weiteren Nutzung reproduzierte.17 Letztendlich war der Rapid Selector – im Gegensatz zum Navy Comparator – zwar funktionstüchtig, erreichte aber bei Weitem nicht die angestrebte Verarbeitungsgeschwindigkeit. Letztlich wurde er umfunktioniert und während des Zweiten Weltkriegs im Bereich der Dechiffrierung eingesetzt.18 Mit Beginn des Krieges wurde auch die Projektgruppe aufgelöst, die mit der Entwicklung des Rapid Selector betraut war, was das Aus für den zweiten Anlauf zur Realisierung von Bushs ›Informationsmaschine‹ bedeutete. Doch noch während der Arbeiten am Rapid Selector unternahm Bush 1939 mit dem Aufsatz Mechanization and the Record einen dritten Versuch, der nach dem Zweiten Weltkrieg ein breiteres Publikum erreichen sollte. Die zunächst ins Auge gefasste Veröffentlichung von Mechanization and the Record im Fortune Magazine scheiterte vor allem daran, dass sich
16 Vgl. Burke, Colin: »A Practical View of Memex: The Career of the Rapid Selector«, in: J.M. Nyce/P. Kahn, From Memex to Hypertext, S. 145-164, hier S. 147-149. 17 Das Stroboskop wurde von Harald Edgerton entwickelt, der zusammen mit Bush am MIT arbeitete. Vgl. ebd., S. 149-153; K.L. Wildes/N.A. Lindgren: A Century of Electrical Engineering, S. 138-140. 18 Vgl. C. Burke: »A Practical View of Memex«, S. 155f.
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Bush weigerte, den anspruchsvollen Aufsatz zu kürzen und für ein breiteres Publikum zu überarbeiten.19 Gleichwohl zögerte er, den Text in einer kleineren Zeitschrift zu publizieren, weil er einen möglichst großen Teil der interessierten Bevölkerung zu erreichen suchte.20 Im Jahr 1945 wurde der Aufsatz unter dem Titel As We May Think schließlich doch veröffentlicht, zunächst im Juli im Atlantic Monthly, einer kleineren, aber recht anspruchsvollen Zeitschrift.21 Im September desselben Jahres publizierte außerdem das Magazin Life eine illustrierte und gekürzte Version des Aufsatzes, die zusätzlich mit einigen Kommentaren des Herausgebers versehen ist.22 So war es Bush schließlich doch gelungen, Anspruch und Öffentlichkeitswirksamkeit miteinander zu vereinen. An den Anfang seines Aufsatzes stellte Bush wiederum eine Schilderung der kaum mehr zu bewältigenden Informationsflut und knüpfte damit unmittelbar an The Inscrutable ’Thirties an. Die Fehlentwicklungen im Bereich der Informationsorganisation sah er vor allem darin begründet, dass die Methoden zur Übertragung, Speicherung und Ordnung des Wissens überholt und inadäquat seien: »Professionally our methods of transmitting and reviewing the results of research are generations old and by now are totally inadequate for their purpose.«23 Die von Bush in As We May Think vorgestellte ›Suchmaschine‹ wurde nie gebaut. Da es auch in der Folgezeit keine ernsthaften Anstrengungen zu ihrer Konstruktion gab, blieb sie eine Fiktion, wenngleich diese aus heutiger Sicht geradezu visionär erscheinen muss. Selbst die von Bush beschriebenen Komponenten waren 1945 nicht verfügbar; es handelte sich um gedankliche Weiterentwicklungen von Forschungsergebnissen und existie-
19 Dabei war bereits die später veröffentlichte, endgültige Fassung mit acht Seiten für eine Publikumszeitschrift wie Life relativ umfangreich. Vgl. Friedewald, M.: Der Computer als Werkzeug und Medium, S. 51f. 20 Vgl. Nyce, James M./Kahn, Paul: »A Machine for the Mind: Vannevar Bush’s Memex«, in: dies. (Hg.), From Memex to Hypertext, S. 39-66, hier S. 55f. 21 Vgl. Bush, Vannevar: »As We May Think«, in: The Atlantic Monthly 176 (1945), S. 101-108. 22 Vgl. Bush, Vannevar: »As We May Think. A Top U.S. Scientist Foresees a Possible Future World in which Man-Made Machines Will Start to Think«, in: Life 19 (1945), H. 11, S. 112-124. 23 Ebd., S. 112.
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renden Technologien. Bush wurde der eklektische Charakter seines Aufsatzes stellenweise vorgeworfen, nicht zuletzt von Michael Buckland, der insbesondere auf den Entwicklungsstand im Bereich der Mikrofilmtechnik während der 1930er Jahre verwiesen hat.24 Andererseits machte Bush kein Geheimnis daraus, dass er Ideen anderer aufgriff – seine Originalität besteht vielmehr in der Entwicklung neuer Ansätze aus der Kombination vorhandener Verfahren und Mechanismen. Bushs Konzept zur Bewältigung der Informationsflut betrifft zunächst nur den Schreibtisch des Einzelnen: Der Memex war als Gerät für die individuelle Nutzung konzipiert, das die Bibliothek und die Kartei eines Wissenschaftlers ersetzen und die seine Arbeit schneller, leichter und effizienter machen sollte. Damit erklärt sich auch der Name Memory Extender. Auf einer der Illustrationen, die Alfred D. Crimi zusammen mit Bush für die Life-Variante des Aufsatzes erstellt hat, ist sein Aufbau dargestellt (vgl. Abbildung 1): Auf einem Schreibtisch sind zwei Bildschirme montiert, auf denen die gewünschten Informationen dargestellt werden. Auf der rechten Seite befindet sich eine Schalttafel zur Bedienung, auf der linken Seite eine Vorrichtung zum Einlesen von Papierdokumenten. Außer diesen Vorrichtungen zur Ein- und Ausgabe bleibt der Memex für seine Benutzer eine ›black box‹, die Technik ist im Inneren verborgen. Das Konzept des Memex unterscheidet sich damit fundamental von den Rechenmaschinen der Nachkriegszeit, bei denen die Mensch-Maschine-Schnittstelle noch kein Thema war.25 Zur Speicherung von Dokumenten sollte nach Bushs Vorstellungen Mikrofilmtechnik zum Einsatz kommen – diese hatte er bereits für den Rapid Selector verwendet und sie galt 1945 immer noch als zukunftsträchtiges Speichermedium. Bush nahm an, dass sich die Auflösung der Filme in absehbarer Zeit deutlich – mindestens um einen Faktor von 100 – verbessern ließe, womit die Speicherung großer Informationsmengen vergleichsweise unproblematisch wäre: »The Encyclopaedia Britannica could be reducted to
24 Vgl. Buckland, Michael K.: »Emanuel Goldberg, Electronic Document Retrieval and Vannevar Bush’s Memex«, in: Journal of the American Society for Information Science 43 (1992), H. 4, S. 284-294. 25 Vgl. hierzu ausführlich: Friedewald, M.: Der Computer als Werkzeug und Medium, S. 52-54 und S. 71.
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Abbildung 1: Aufbau des Memex the volume of a matchbox. A library of a million volumes could be compressed into one end of a desk.«26 Anlass zu einer solch positiven Einschätzung der Mikrofilmtechnik gaben Entwicklungen der 1920er und 1930er Jahre. Bereits 1925 war es möglich, den kompletten Text der Bibel auf knapp 20 cm2 Film zu speichern.27 Solche Fortschritte ließen es machbar erscheinen, jedermann einen einfachen Zugriff auf große Wissensbestände zu ermöglichen. In der entsprechenden Passage von As We May Think wies Bush aber gleichzeitig darauf hin, dass zur Realisierung dieser Vision effiziente Kompression und Speicherung alleine nicht genügten.28 Die folgenden Abschnitte des Textes befassen sich daher eingehend mit unterschiedlichen Ein- und Ausgabetechniken.
26 V. Bush: »As We May Think«, in: Life 19 (1945), H. 11, S. 118. 27 Vgl. M.K. Buckland: »Emanuel Goldberg«, S. 265f. 28 Vgl. V. Bush: »As We May Think«, in: Life 19 (1945), H. 11, S. 118.
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Abbildung 2: Wissenschaftler mit »Zyklopenkamera« Während der Arbeit – so die Vorstellung Bushs – sollte der Nutzer des Memex mit Hilfe einer Mikrofilmkamera Photographien aufnehmen können. Diese Kamera sollte auf der Stirn getragen werden, weshalb sie der Herausgeber des Life-Magazins in einem seiner Kommentare zum Text als »the cyclops camera«29 bezeichnete (vgl. Abbildung 2). Die Bedienung dieser Kamera sollte sich dabei auf die Auswahl des Bildausschnitts und die Betätigung des Auslösers beschränken. Der Sucher ist dabei in eine Brille integriert, der Auslöser wird am Ärmel von Jacke oder Hemd befestigt. Alle weiteren Funktionen sollten entfallen und automatisch durchgeführt werden. In seinen Vorstellungen war Bush vor allem von Miniaturisierungsbestrebungen im Kamerabau der 1930er Jahre beeinflusst. Zur Entwicklung der aufgenommenen Bilder hoffte Bush auf ein Verfahren der »dry photography«30, das es ermöglichen sollte, aufgenommene Photos sofort betrachten zu können. Auch Bush merkte in seinem Text an, dass die Möglichkeit zur Einund Ausgabe von Bildinformationen zwar sehr nützlich sein mag, in schriftlicher Form vorliegende Informationen allerdings die bei Weitem
29 Ebd., S. 113. 30 Ebd.
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Abbildung 3: »Supersecretary of the coming age« größte Datenbasis des Memex darstellen. Bei den zur Entstehungszeit des Aufsatzes gebräuchlichen Datenverarbeitungsmaschinen mussten diese erst umständlich, zum Beispiel mit Hilfe eines Lochkartenstanzers, in eine maschinenlesbare Form gebracht werden. Bush schwebte vor, bereits existierende Ansätze zur Sprachanalyse und -synthese zu kombinieren, um eine Kommunikation in natürlicher Sprache zwischen dem Memex und seinem Nutzer zu realisieren. Hierbei hatte er Verfahren im Sinn, die in den Bell Laboratories während der 1930er Jahre entwickelt worden waren, um die Verständlichkeit von Telefongesprächen zu verbessern. Zum einen handelte es sich um den Voder, ein elektronisches Verfahren zur Erzeugung von
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Sprache aus einem mittels Tastatur eingegebenen Text.31 Zum anderen weckten erste Verfahren zur Analyse von gesprochener Sprache bei Bush die Hoffnung, dass in absehbarer Zeit die Umsetzung von gesprochener in geschriebene Sprache möglich sein würde. Beide Ansätze sollten in einem Gerät kombiniert werden, das der Herausgeber des Life-Magazins als »supersecretary of the coming age«32 bezeichnete (vgl. Abbildung 3). Dieser »Supersekretär« ist ein Zusatzgerät zum Memex und sollte eine sehr einfache Dateneingabe möglich machen. Aus heutiger Sicht kann man festhalten, dass Bushs Vorstellungen über die künftigen Möglichkeiten im Bereich der Sprachanalyse und -synthese deutlich zu optimistisch waren. Als Eingabemöglichkeit für gedruckte Text- und Bildvorlagen sah Bush auf der linken Seite der Memex-Apparatur eine transparente Glasfläche vor, auf die papierne Vorlagen gelegt und dann auf Mikrofilm abphotographiert werden konnten. Bush hoffte zukünftig auch auf eine maschinelle Erkennung des photographierten Textes zurückgreifen zu können und baute wiederum auf Fortschritte bei der Entwicklung von Photozellen.33 Die Entwicklungen in diesem Bereich befanden sich allerdings zur Entstehungszeit von As We May Think noch in ihren Anfängen. Die Ausgabe der gespeicherten Informationen war auf Grund der zugrunde liegenden analogen Speichertechnologie vergleichsweise unproblematisch. Mit Hilfe geeigneter optischer Vorrichtungen sollten die durch den Benutzer abgerufenen Daten auf die beiden Bildschirme des Memex projiziert werden. Im Gegensatz dazu stellte nach Auffassung Bushs das Auffinden der gewünschten Information ein deutlich größeres Problem dar – denn der Speicher des Memex konnte im Laufe der Zeit enorm anwachsen, was die Suche zu einer ausgesprochen komplexen Angelegenheit machte: »There may be millions of fine thoughts […] but if the scholar can get at only one a week by diligent search, his syntheses are not likely to keep up with the current scene.«34
31 Vgl. Millman, Sidney (Hg.): A History of Engineering and Science in the Bell System: 2. Communication Sciences (1925-1980), Indianapolis: AT&T Bell Laboratories 1984, S. 99-101. 32 V. Bush: »As We May Think«, in: Life 19 (1945), H. 11, S. 114. 33 Vgl. ebd., S. 116. 34 Ebd., S. 118.
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Abbildung 4: Memex während der Nutzung Um dieser Problematik zu begegnen, sah Bush eine neuartige Methode der Speicherung vor, für die das menschliche Denken als Vorbild diente. Diese zentrale Überlegung gab auch dem gesamten Aufsatz seinen Titel As We May Think. Die Idee einer assoziativen Datenorganisation, die an das menschliche Gedächtnis angelehnt ist, resultierte aber nicht aus einer Vorliebe Bushs für anthropomorphe Technik, sondern eher aus seiner Unzufriedenheit mit existierenden Verfahren zur Datenselektion über Indizierung. Bereits Bushs Erläuterungen zu einer möglichen Realisierung dieses Speicherungskonzeptes lassen allerdings erahnen, dass er letztendlich doch auf die bewährten Konzepte angewiesen sein würde. Deutlich wird dies in
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der Passage, in der Bush erläutert, wie ein Benutzer einen Gedankenpfad (»trail«) in den Memex eingibt.35 Der Benutzer sollte die Möglichkeit haben, sich auf den beiden Bildschirmen des Memex zwei Informationsquellen anzeigen zu lassen, beispielsweise die Seiten einer Enzyklopädie (vgl. Abbildung 4). Die beiden dargestellten Inhalte können inhaltlich voneinander vollkommen unabhängig sein. Die angezeigten Seiten kann der Benutzer nun einem Gedankenpfad zuordnen und außerdem zu ihnen Kommentare eingeben. Ein solcher Pfad kann nach seiner Eingabe auf Grund der Eigenschaften der zugrunde liegenden Mikrofilmtechnik nicht wieder gelöscht werden. Dies mag zunächst problematisch erscheinen – da aber beliebig viele Pfade angelegt werden können, wird hierdurch das Konzept der assoziativen Speicherung nicht wesentlich eingeschränkt. Die eigentliche logische Verbindung zwischen den angezeigten Dokumenten sollte aber durch die Eingabe eines bestimmten Codes über die Tastatur auf der rechten Seite des Memex vorgenommen werden: »When the user is building a trail, he names it, inserts the name in his code book and taps it out on the keyboard. Before him are the two items to be joined, projected on adjacent viewing positions. At the bottom of each there are a number of blank code spaces and a pointer is set to indicate one of these on each item. The user taps a single key and the items are permanently joined.«36
Mit Hilfe des Codes sollte es möglich sein, die Art und die Wichtigkeit der Assoziation zwischen den verbundenen Dokumenten zu beschreiben. Bush hätte also bei der technischen Realisierung der assoziativen Speicherung auf die Verfahren der Indizierung zurückgreifen müssen, die er selbst kritisiert hatte. Andererseits nahm er damit ein wichtiges Verfahren aus der Computer- und Softwaretechnik vorweg, nämlich die Trennung von Funktionalität und technischer Implementierung. Bush sah die Möglichkeit zur Weitergabe von einmal gespeicherten Pfaden ausdrücklich vor; da diese – im Gegensatz zu menschlichen Erinnerungen – erhalten bleiben, sollte ein Austausch auch nach längerer Zeit noch möglich sein. Durch diesen Informationsfluss sollte nach Bushs Vor-
35 Vgl. ebd., S. 121-123. 36 Ebd., S. 123.
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stellungen eine Art Netzwerk entstehen, ein Konzept, das zugleich ein Ausdruck der amerikanischen Vorliebe für dezentrale Lösungen ist. So bahnte sich bei Bush bereits eine Vorstellung an, die von Ted Nelson zwanzig Jahre später in seinen Konzepten Hypertext und Hypermedia in den Bereich digitaler Rechner übertragen werden sollte: nämlich die Vision, das gesamte Wissen der Menschheit müsse in einer assoziativ organisierten Weltenzyklopädie gespeichert werden.37 So spricht Bush am Ende seines Essays von einem »world’s record«38, der alles verfügbare Wissen umfassen soll. Neben der Verwendung des Memex im Bereich der Wissenschaft skizzierte Bush in seinem Essay aber noch weitere, neuartige Einsatzmöglichkeiten: Im Bereich der Justiz könnten Nachschlagewerke mit Gesetzestexten, deren Auslegungen und Präzedenzfällen angelegt werden. Medizinische Lexika könnten Ärzte bei ihren Diagnosen und bei der Auswahl geeigneter Therapien und Medikamente unterstützen – insbesondere dann, wenn es sich um seltene Krankheitsbilder handelt. In Bezug auf den Wissenschaftsbetrieb hoffte Bush auf den Abbau von Barrieren zwischen den einzelnen Spezialdisziplinen und damit auf eine größere Offenheit und Interdisziplinarität. Dazu sollte der einfache Zugriff auf Informationen anderer Fächer durch die assoziative Datenorganisation beitragen.39 Bei der Lektüre drängt sich allerdings der Eindruck auf, Bush verkenne, dass Interdisziplinarität auch die Bereitschaft voraussetzt, sich auf die Methodik einer fremden Disziplin einzulassen. Man könnte im Gegenteil sogar argumentieren, dass durch die Zugänglichkeit einer riesigen Menge von Fachwissen eher eine weitere Spezialisierung befördert wird. As We May Think wird heute unbestritten als Vannevar Bushs wichtigste Veröffentlichung betrachtet – für ihn selbst besaß der Entwurf des Memex jedoch nach 1945 nicht mehr höchste Priorität. Bush war zu dieser Zeit hauptsächlich im Bereich der Wissenschaftspolitik tätig, erst gegen Ende der 1950er Jahre wandte er sich wieder verstärkt der Problematik der Informationsverarbeitung zu. Zu diesem Zeitpunkt kristallisierte sich zunehmend deutlicher heraus, dass künftig der Digitalcomputer die entscheidende
37 Vgl. Nelson, Theodor H.: »As We Will Think« [1972], in: J.M. Nyce/P. Kahn, From Memex to Hypertext, S. 245-260. 38 V. Bush: »As We May Think«, in: Life 19 (1945), H. 11, S. 124. 39 Vgl. ebd.
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Rolle in diesem Bereich spielen würde.40 Zwischen 1959 und 1970 entstanden drei weitere Texte, die sich mit dem Informationsproblem und der Idee des Memex befassten.41 Sie stießen allerdings auf eine wesentlich geringere Resonanz als As We May Think. Grundsätzlich hielt Bush an seinem Konzept der informationsverarbeitenden Maschine für den persönlichen Gebrauch fest, Möglichkeiten einer Realisierung der Apparatur traten jedoch immer mehr in den Hintergrund. Auch wenn Bush vermutete, dass die Digitaltechnik hierzu das geeignete Mittel sein könnte, lag ihm die Beschäftigung mit digitalen Rechnern fern. Er versuchte weiterhin ein realisierbares analoges Design zu entwerfen, wie es Mitchell Waldrop auf den Punkt bringt: »Doggedly, and without success, the Best Apparatus Man in America [so hatte Norbert Wiener Vannevar Bush einmal bezeichnet, M.S.] kept on trying to come up with a workable analog design for his Memex until his death, in 1974. And until the end, his colleagues used to hear him grubling about the ›damn digital computer‹.«42
Mit Ausnahme des – in seiner Funktionalität doch recht beschränkten – Rapid Selector gelang es Bush zu Lebzeiten nicht, einen seiner Entwürfe in die Realität umzusetzen. Zwar wurde der Rapid Selector, dessen Technik auch beim Memex zum Einsatz kommen sollte, nach 1945 weiterentwickelt und während der 1950er Jahre im amerikanischen Bibliothekswesen eingesetzt. Ein großer Erfolg war aber auch diesen Maschinen nicht beschieden. Sie wurden nur für kurze Zeit eingesetzt und spätestens in den frühen 1960er Jahren gegen leistungsfähigere Hardware ausgetauscht.43 Gewissermaßen eine Weiterführung dieser auf den Einsatz in Bibliotheken konzentrierten Entwicklungstätigkeit stellte zwischen 1965 und
40 Vgl. J.M. Nyce/P. Kahn: »The Idea of a Machine: The Later Memex Essays«, in: dies. (Hg.), From Memex to Hypertext, S. 113-144, hier S. 119. 41 Es handelt sich um die Aufsätze Memex II (1959), Memex Revisited (1967) und Pieces of the action (1970). Nachdrucke finden sich in J.M. Nyce/P. Kahn, From Memex to Hypertext, S. 165-231. 42 Waldrop, M. Mitchell: The Dream Machine: J.C.R. Licklider and the Revolution that Made Computing Personal, New York: Viking 2001, S. 31. 43 Vgl. M. Friedewald: Der Computer als Werkzeug und Medium, S. 69f.; C. Burke: A Practical View of Memex, S. 159-161.
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1973 das Projekt Intrex am MIT dar. Es beruhte auf Vorarbeiten von Joseph Licklider und befasste sich mit der Konzeption und Entwicklung einer digitalen Modellbibliothek.44 Diese sollte allen Mitgliedern der »online intellectual community« offen zugänglich sein und durch elektronische Publikationen regelmäßig erweitert werden. Bei der Informationsdarstellung diente die assoziative Struktur von Bushs Gedankenpfaden als Vorbild.45 Bereits 1965 entstand hier ein frühes Modell des elektronischen Publizierens, das auf einem hypertextähnlichen Konzept basierte. Mittelfristig hatte Bushs Essay aber noch weiter gehende Wirkungen: Die Vision des Memory Extender mit ihren verschiedenen Komponenten und auch die damit verknüpften utopischen Züge dienten immer wieder als Leitbild für verschiedene Entwicklungen im Bereich der Computertechnik.46 Zwischen 1945 und 1991 wurde der Text von As We May Think mindestens zehn Mal publiziert und in den unterschiedlichsten Zusammenhängen zitiert. Linda C. Smith hat in ihrer Analyse des Memex als »Image of Potentiality«47 nachgewiesen, dass sich nahezu alle für die weitere Entwicklung des Hypertextes, der Datennetze und der Personalcomputer relevanten Wissenschaftler an zentralen Stellen auf Bush beziehen. Einer der prominentesten unter ihnen ist Douglas Engelbart, der Bushs Aufsatz las, als er 1945 in Südostasien auf seine Demobilisierung wartete. Er griff fünfzehn Jahre später zentrale Gedanken Bushs auf und entwickelte sie am Stanford Research Institute in Menlo Park weiter.48 George P. Landow hat
44 Vgl. Licklider, Joseph C.R.: Libraries of the Future, Cambridge/MA: MIT Press 1965; Burke, Colin: »A Rough Road to the Information Highway. Project Intrex: A View from the CLR Archives«, in: Information Processing & Management 32 (1996), H. 1, S. 19-32. 45 Vgl. einen Brief von Douglas Engelbart an Vannevar Bush vom 24.05.1962. Vgl. hierzu M. Friedewald: Der Computer als Werkzeug und Medium, S. 70. 46 Ein Überblick zum »Vermächtnis« der Memex-Konzeption findet sich bei: Houston, Ronald D./Harmon, Glynn: »Vannevar Bush and Memex«, in: Annual Review of Information Science and Technology 41 (2007), S. 55-92. 47 Smith, Linda C.: »Memex as an Image of Potentiality Revisited«, in: J.M. Nyce/ P. Kahn, From Memex to Hypertext, S. 261-286. 48 Vgl. Engelbart, Douglas C.: »Special Considerations of the Individual as a User, Generator, and Retriever of Information«, in: American Documentation 12 (1961), S. 121-125; ders.: »A Conceptual Framework for the Augmentation of
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den Einfluss von Bushs Ideen auf die ›Kultur des Denkens‹ treffend zusammengefasst: »Perhaps most interesting to one considering the relation of Bush’s ideas to contemporary critical and cultural theory is that this engineer began by rejecting some of the fundamental assumptions of the information technology that had increasingly dominated – and some would say largely created – Western thought since Gutenberg. Moreover, Bush wished to replace the essentially linear fixed methods that had produced the triumphs of capitalism and industrialism with what are essentially poetic machines – machines that work according to analogy and association, machines that capture the anarchic brilliance of human imagination. Bush, we perceive, assumed that science and poetry work in essentially the same way. «49
Geblieben von Bushs utopischem Entwurf sind vor allem seine Ideen von den Möglichkeiten einer informationsverarbeitenden Maschine und seine Einschätzung der Bedeutung eines effizienten Zugriffs auf Information. Im Einzelnen sind vor allem drei Aspekte hervorzuheben: •
•
•
der Versuch, durch assoziative Speicherung Informationen nach dem Muster des menschlichen Denkens zu organisieren und damit den Zugriff zu verbessern; die Idee einer persönlichen ›Suchmaschine‹, die jedem die Möglichkeit zur Erledigung alltäglicher Aufgaben im Bereich der Informationsorganisation und Recherche am eigenen Schreibtisch bietet; die Transformation der informationsverarbeitenden Maschine in eine ›black box‹ mit intuitiv zu bedienender Mensch-Maschine-Schnittstelle, die eine effiziente Suche im gespeicherten Datenbestand ermöglicht.
Insbesondere ist festzuhalten, dass As We May Think die zentrale Bedeutung der Speicherung, Organisation und Verwaltung von Information stets
Man’s Intellect«, in: Howerton, P.W./Weeks, D.C. (Hg.), Vistas in Information Handling: I. The Augmentation of Man’s Intellect by Machine, Washington, DC: Spartan Books 1963, S. 1-29. 49 Landow, George P.: Hypertext: The Convergence of Comtemporary Critical Theory and Technology, Baltimore: John Hopkins University Press 1992, S. 17f.
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unterstreicht und damit ein Gegenbild zu der 1945 verbreiteten Vorstellung des Computers als reinem Rechenautomaten formuliert. Durch seine mitreißende Rhetorik und die wissenschaftliche Reputation Bushs erlangte der Aufsatz eine weit reichende stimulierende Wirkung und kam, wie Robert Fairthorne bereits 1958 feststellte, zur rechten Zeit »to open people’s eyes and purses«50.
50 Fairthorne, Robert: »Automatic Retrieval of Recorded Information«, in: The Computer Journal 1 (1958), H. 1, S. 36-41, hier S. 36.
Zentralität und Sichtbarkeit Mathematik als Hierarchisierungsinstrument am Beispiel der frühen Bibliometrie B ERNHARD R IEDER
1. E INLEITUNG Seitdem Computer zielstrebig in jede Pore gegenwärtiger Gesellschaften eindringen, wächst das Interesse am systematisierten Umgang mit Information. Die Stichwortsuche im World Wide Web (WWW), die Verwaltung von Bookmarks und Dokumenten oder das Navigieren in Online-Enzyklopädien, Datenbanken und Webshops haben Praktiken der computergestützten Auffindung und Organisation von Information zu alltäglichen Aufgaben und die damit verbundenen Kompetenzen zu elementaren Kulturtechniken werden lassen. Und obwohl Bibliothekskataloge, Nachschlagewerke und Archive aller Art seit Langem ähnliche Problematiken mit sich bringen, hat wohl erst das Internet für die notwendige Erfahrungsdichte gesorgt, um eine breite gesellschaftliche Sichtbarkeit zu bewirken. Diese neue Aufmerksamkeit lässt sich nicht nur für die breite Öffentlichkeit diagnostizieren, sondern ebenso für die Wissenschaft, wo verschiedene Disziplinen den technischen und konzeptionellen Umgang mit Information zum Thema gemacht haben. Der klassische Untersuchungsgegenstand der Bibliotheks- und später Informationswissenschaft – die sich im deutschen Sprachraum allerdings nie ganz als eigenständige universitäre Disziplinen etablieren konnten – findet sich immer öfter im Fokus der Medienwissenschaft, der Geschichtsforschung oder der Philosophie. Dabei ist
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es bemerkenswert, dass der historisch-konzeptionelle Lesekopf in den Geistes-, Kultur- und Sozialwissenschaften in der Regel entweder bis hin zur »Erfindung« des Computers oder aber, wie etwa im Fall der in den letzten Jahren sehr aktiven Science and Technology Studies, in der Gegenwart angesetzt wird. Mit wenigen Ausnahmen beginnt auch für die »interne« Historiographie der Informatik und der Informationswissenschaft die Geschichte der digitalen Informationsverwaltung erst in den späten 60er und 70er Jahren, wobei sich das Interesse zumeist auf konkret technische Objekte wie etwa Speichermedien, Programmiersprachen, Datenbanken oder Netzwerke richtet; abstraktere konzeptionelle Fragen konzentrieren sich auf den Bereich mathematischer Grundüberlegungen wie der Berechenbarkeitstheorie oder der Informationstheorie. Ein Loch klafft zwischen der Phase der frühen Systematisierung und Mechanisierung des Umgangs mit Information, die bis hin zu den ersten Computern reicht, und der Gegenwart, deren Beginn meist mit der Erfindung des Mikroprozessors und der damit verbundenen explosionsartigen Verbreitung digitaler Technologie angesetzt wird. Dabei sind aber gerade die 50er, 60er und 70er Jahre zentral für die Entwicklung und Stabilisierung vieler grundlegender Methoden und Paradigmen, welche die Informatik und Informationswissenschaft bis heute dominieren. Denn mit der geglückten Konstruktion einer universellen symbolverarbeitenden Maschine1 war es keineswegs getan. In den Jahrzehnten nach 1945 lässt sich deshalb nicht nur die Transformation von fehleranfälligen technischen Experimenten in relativ verlässliche Industrieprodukte beobachten, sondern vor allem die Entstehung und Emanzipation einer Softwareebene, die immer unabhängiger von den Widrigkeiten der Hardware ihren eigenen Gegenstandsbereich definiert. Während die 30er und 40er Jahre von Fragen der prinzipiellen Berechenbarkeit symbolischer Systeme und ihrer mechanischen Umsetzung dominiert waren, verschiebt sich nun das Interesse auf die schlussendlich alles andere als banale Frage, was sich denn nun alles mit diesen Maschinen machen ließe und wie dabei am
1
Computer sind universelle Turing-Maschinen, die jede beliebige korrekt formulierte Befehlskette ausführen können. Als direkte Konsequenz sind sie ohne Software unbrauchbar, können aber eben auch Millionen unterschiedlicher Programme, von der Textverarbeitung bis zum Videospiel, mit der gleichen Hardware ausführen.
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besten vorzugehen sei. Die neuen Programmiersprachen der »dritten Generation«, wie FORTRAN oder COBOL, erleichtern das Programmieren außerordentlich und eröffnen einen Möglichkeitsraum, in dem der Computer viel mehr sein wird als eine schnelle Rechenmaschine. Für den Bereich der Informationsverwaltung ist diese Periode ebenfalls von hoher Wichtigkeit, weil es nun nicht mehr genügt, manuelle Verfahren zu mechanisieren – womit sich Firmen wie IBM ein lukratives Geschäft aufgebaut hatten –, sondern die Frage virulent wird, wie spezifisch für das Computerzeitalter entwickelte Konzepte und Methoden aussehen könnten. Dabei geht es zwar zunächst immer noch um Lochkarten, Mikrofilme und Sortiertechniken, analog zur Informatik verschiebt sich aber auch hier das Interesse zu konzeptionellen Fragenstellungen, zu Fragen der Software eben. In dieser Scharnierzeit treffen die Denkweisen des analogen Zeitalters auf eine Technologie, die sich zwar aus einer klassisch-industriellen Maschinenlogik entwickelt, sich aber dennoch fundamental von dieser unterscheidet. Im folgenden Text soll gezeigt werden, wie im Bereich der frühen Bibliometrie, also der Anwendung von Zählverfahren auf Publikationen aller Art, eine Vorstellung vom Umgang mit Information entsteht, die dem Wechsel der technischen Möglichkeiten ein konzeptionelles Pendant zur Seite stellt. Es handelt sich dabei um die Zitationsanalyse, ein Verfahren, das heute nicht nur die Messung wissenschaftlicher Produktivität dominiert, sondern auch in modernen Suchmaschinen wie Google oder Bing mitbestimmt, welche Seite an erster und welche an letzter Stelle einer Ergebnisliste steht. Allgemeiner gesprochen geht es um die Anwendung von Mathematik als Hierarchisierungsinstrument, um die Entwicklung einer Produktionsform für Ordnung, die sich anschickt, das junge 21. Jahrhundert maßgeblich mitzugestalten.
2. ASSOZIATION UND K LASSIFIKATION Die relevanten Themen der Gegenwart strukturieren unseren Blick auf die Vergangenheit. Das wachsende Interesse für die systematische und v.a. digitale Handhabung von Information ist, wie schon erwähnt, dem sich seit Mitte der 90er Jahre explosionsartig verbreitenden Internet zuzuschreiben. Da die gesellschaftliche Wahrnehmung des Internets von einer spezifischen Anwendung – dem WWW – beherrscht wird, ist es nicht weiter verwunder-
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lich, dass dem Konzept des Hypertexts große Aufmerksamkeit geschenkt wird: Bis heute ist die historische Herleitung der digitalen »Medien« geprägt durch die Fahndung nach den Vorläufern des Hyperlinks. Ein spezifischer Text, Vannevar Bushs As We May Think,2 spielt dabei in der Regel eine wesentliche Rolle,3 und diese privilegierte Position zwingt uns gewissermaßen, unser Argument an dieser Stelle beginnen zu lassen. 2.1 Der Memex In den Untersuchungen zur Vorgeschichte des Internets wird kein Text so oft genannt wie der 1945 in The Atlantic Monthly erschienene Essay, der dem amerikanischen Ingenieur und Technokraten den Titel des »Erfinders«4 von Hyperlink und Hypertext einbringen sollte – auch wenn diese Begriffe erst 1967 von Ted Nelson eingeführt werden. Während seiner Tätigkeit als Wissenschaftsadministrator – u.a. als Direktor des Office of Scientific Research and Development, welches bis 1943 das Manhattan Project betreute – diagnostiziert Bush, dass es für Wissenschaftler angesichts der hohen Publikationsdichte kaum mehr möglich sei, sich Überblick über mehr als ein Spezialfeld zu verschaffen, weswegen fortwährend wichtige Entdeckungen in der Masse untergehen würden. Für den Pionier im Bereich der analogen Computer schien eine technische Lösung für die Probleme der modernen Wissenschaft Erfolg versprechend, und der zitierte Artikel beschreibt eine – nie gebaute – Maschine, den Memory Extender, kurz Memex. Dabei handelte es sich um eine Art Bibliotheksterminal mit Funktionen zur Annotation und Verknüpfung von auf Mikrofilm gespeicherten Quellen. Wissenschaftler könnten Verbindungsketten – sogenannte
2
Bush, Vannevar: »As We May Think«, in: The Atlantic Monthly 176 (1945), S.
3
Vgl. Nyce, James M./Kahn, Paul (Hg.): Vannevar Bush and the Mind’s Ma-
101-108. chine, Boston: Academic Press 1992; Buckland, Michael: »Overview of the History of Science Information Systems«, in: Mary Ellen Bowden/Trudi Bellardo Hahn/Robert V. Williams (Hg.), Proceedings of the 1998 Conference on the History and Heritage of Science Information Systems, Medford, NJ: Information Today 1999, S. 3-7. 4
Zachary, G. Pascal: »The Godfather«, in: Wired 5 (1997), H. 11, http://www. wired.com/wired/archive/5.11/es_bush.html
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»trails of association« – von einem Dokument zum nächsten legen und diese Ketten untereinander austauschen; die entstehenden Textnetzwerke würden die »Künstlichkeit« bestehender Methoden der Indizierung durchbrechen und zu einer »natürlichen«, d.h. der Funktionsweise des Gehirns entsprechenden, Form der Informationsorganisation und -suche führen. Dabei ist es wohl nicht die technisch-konzeptionelle Dimension von Bushs Idee, der zentrale Wichtigkeit zukommt: »[Bush] is best known in the field of information retrieval, even though his systems hardly worked, his ideas were not new, he did not really understand what he was talking about, and he chose not to acknowledge the priority of others.«5
Diese Einschätzung von einem der wenigen informationswissenschaftlich gebildeten Historiker und einem ehemaligen Präsidenten der American Society for Information Science & Technology (ASIS&T) muss im Lichte der mythischen Stellung des Memex und seines Erfinders gesehen werden, die in vielerlei Hinsicht wichtigere Beiträge überschattet. Und tatsächlich, der Memex ist keine Maschine zur Informationssuche, sondern ein Werkzeug zur Unterstützung einer Aktivität, die wir heute wohl »persönliches Informationsmanagement« nennen würden. Was in kleinem Rahmen ein nützliches und durch die Mikrofilm-Speicherung ausgesprochen praktisches Werkzeug gewesen wäre, würde durch die fehlenden Such- und Ordnungskonzepte doch schnell an seine Grenzen stoßen. Wie Buckland betont, sei die Bedeutung Bushs für die Entwicklung der Informationstechnik vielleicht weniger in den Details seiner Ausführungen als vielmehr im Renommee seiner Person als »engineer of the American century«6 zu suchen. Bushs Text entwirft ein evokatives Bild, in dem Informationstechnik personalisiert und domestiziert als Medium erscheint; aber wenn sich spätere Pioniere wie Douglas Engelbart, J.C.R. Licklider und Ted Nelson explizit auf den Memex beziehen, dann nicht zuletzt, um vom Prestige seines berühmten Erfinders zu profitieren. Im Kontext dieses Beitrags ist es v.a. wichtig darauf hinzuweisen, dass Bushs Beitrag das Konzept der »Assoziation«, also der flexiblen Verknüpfung von Ideen oder Dokumenten, als mögliches Such- und Ordnungsprinzip legitimiert.
5
M. Buckland: »Overview«, S. 4.
6
Ebd., S. 4.
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Bevor wir uns der Zitationsanalyse zuwenden, ist es nötig, kurz die Arbeit des Belgiers Paul Otlet ins Auge zu fassen. Dieser nimmt einerseits viele Ideen Bushs vorweg und bringt andererseits die Logik der Klassifizierung auf ihren Höhepunkt. 2.2 Das Mundaneum Als Herausgeber des Sommaire périodique des revues de droit, einer Übersicht über den Inhalt der in Belgien erscheinenden juristischen Zeitschriften, beginnt der studierte Jurist und Anwalt Paul Otlet Anfang der 1890er Jahre, sich intensiv mit Fragen der Bibliographie, also der »Buchkunde«, auseinanderzusetzen. Gemeinsam mit seinem Freund und Kollegen Henri Lafontaine wird 1895 das Office international de bibliographie gegründet und ein utopisches Projekt beschlossen, das darauf abzielt, alle jemals publizierten Bücher zu katalogisieren, was zu dem Zeitpunkt auf gut acht Millionen Titel gekommen wäre.7 Die Frage der Systematik war angesichts des ambitionierten Unternehmens besonders sensibel. Historisch gesehen war die Entwicklung des Bibliothekskatalogs erst relativ spät in Bewegung gekommen, das Zettelkastensystem als flexibler Speicher etwa wurde erst nach der Französischen Revolution erfunden. Auf der Ebene der Klassifikation war die Arbeit Diderots und d’Alemberts an der Encyclopédie wegweisend, aber als Ausgangspunkt für Otlet kam nur die damals am europäischen Kontinent noch wenig bekannte Dewey Decimal Classification (DCC) des amerikanischen Bibliothekars und Aufklärers Melvil Dewey in Frage. Die Organisation dieser Wissenssystematik folgt einer rigiden Baumstruktur, in der sich die zehn Kernbereiche menschlichen Wissens in Blöcken von jeweils zehn Untergruppen immer tiefer verzweigen. In ihrer geometrischen Perfektion liegt aber auch die Schwäche der DCC, und Otlet und Lafontaine antizipieren genügend Probleme, um die Erstellung einer modifizierten und erweiterten Form, publiziert als Classification Décimale Universelle (CDU), zu rechtfertigen. Diese auch heute noch häufig verwendete Systematik ist internationaler in ihrer kulturellen Perspektive und
7
Vgl. Levie, Françoise: L’homme qui voulait classer le monde, Bruxelles: Les Impressions Nouvelles 2006.
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erweitert die DCC um eine facettenbasierte8 Komponente, die es ermöglicht, jedes Werk z.B. mit Informationen zu Sprache, Ort und Form zu kennzeichnen. Darüber hinaus bietet die CDU die Möglichkeit, Querverbindungen zwischen Kategorien herzustellen und Werke an mehreren Stellen im Baum zu platzieren. Die CDU wird 1907 erstmals veröffentlicht, aber schon ab 1895 wird an dem »totalen« Katalog, dem Repertoire Bibliographique Universel (RBU), gearbeitet. Erst 1919 wird das Vorhaben durch die Unterstützung der belgischen Regierung auf finanziell einigermaßen sichere Beine gestellt, und mit dem Palais Mondial (ab 1924 Mundaneum) entsteht mit Hilfe des RBU und einigen geschulten Mitarbeitern die »perfekte analoge Suchmaschine«9, die in ihrer Hochzeit per Post 1500 bibliographische Anfragen pro Jahr bearbeitet und dabei auf einen Katalog zurückgreifen kann, der bei seiner Schließung 1934 15 Millionen Indexkarten beinhaltet. Otlet war seiner Zeit in vielerlei Hinsicht voraus, und die Beständigkeit der CDU belegt dies. Für den Historiker W. Boyd Rayward, dessen Arbeit10 Otlet auch außerhalb der Bibliothekswissenschaft bekannt gemacht hat, ist der Belgier der eigentliche Erfinder des Hypertexts und der 1934 erscheinende Traité de documentation könne ohne Einschränkungen als einer der Gründungstexte der Informationswissenschaft bezeichnet werden. Und obwohl das Mundaneum, das RBU und die CDU klar von der Möglichkeit einer universellen Ordnung des Wissens ausgehen, entwickelt Otlet eine Methodik, die dem Vorwurf der Perspektivität mit einem System zur Weiterentwicklung der CDU entgegentritt, das an den wissenschaftlichen peerreview oder heutige Folksonomien erinnert.
8
Die Facettenklassifikation basiert auf einer polyhierarchischen Logik, in der mehrere Klassenbäume parallel durchlaufen werden können. Im Fall der UDC erlaubt diese Erweiterung eine Suche z.B. nach allen Lehrbüchern (Zusatzbaum »Form«) zum Thema Landwirtschaft (Dezimalklassifikation 630), die auf Deutsch (Zusatzbaum »Sprache«) erschienen sind.
9
Wright, Alex: »The Web that Time Forgot«, in: New York Times vom 17.06. 2008,
http://www.nytimes.com/2008/06/17/science/17mund.html?pagewanted
=all 10 Rayward, W. Boyd: The Universe of Information. The Work of Paul Otlet for Documentation and International Organisation, Moskau: VINITI for International Federation for Documentation 1975.
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Während Otlet versucht, die klassische Logik der Klassifikation für das Informationszeitalter »fit« zu machen, ist die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg immer stärker von einer philosophisch-fundamentalen Kritik an universalistischen Konzeptionen des Wissens gekennzeichnet.11 Diese theoretischen Zweifel werden von praktischen Versuchen begleitet, andere Methoden der Wissenserschließung zu denken und umzusetzen – nicht zuletzt, um dem immer schneller werdenden Publikationsausstoß Rechnung zu tragen. Genau an dieser Stelle setzt die Zitationsanalyse an.
3. D ER S CIENCE C ITATION I NDEX Die Zitationsanalyse steht einerseits an einem Wendepunkt, was den Vorstellungshorizont für Wissensordnungen anbelangt; andererseits ist sie mit einer Maschine konfrontiert, die den praktischen und intellektuellen Möglichkeitsraum gleichzeitig orientiert und erweitert. Der Computer macht es nicht nur möglich, große Informationsmengen zu speichern, sondern diese auch mit komplizierten Verarbeitungsverfahren zu durchsuchen, zu sortieren, zu filtern und zu analysieren. 3.1 Eugene Garfield und die Anfänge der Zitationsindexierung Einer der ersten, die dieses Potential für den Bereich der Wissensverwaltung nicht nur theoretisieren, sondern praktisch nutzbar machen wollen, ist Eugene Garfield, die bis heute zentrale Figur im Bereich der sogenannten Zitationsanalyse (citation analysis). Dieses Verfahren besteht darin, die zum Kern des wissenschaftlichen Regelwerks gehörende Praxis des Zitierens zum Ausgangpunkt für allerlei Such- und Analysemethoden zu machen. Während es beim Memex in erster Linie um die persönliche Verwaltung von und den Zugang zu Dokumenten ging und Otlets totaler Katalog in immer genaueren Verästelungen das Weltwissen kartographieren sollte, ist die Zitationsanalyse ein abstraktes, mechanisches und auf den ersten
11 Vgl. Lyotard, François: La condition postmoderne: rapport sur le savoir, Paris: Minuit 1979.
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Blick simples Prinzip für die Nutzbarmachung wissenschaftlicher Publikationen. Und auch wenn sich die Ansätze wesentlich unterscheiden, ist die Basisdiagnose doch weitgehend identisch: »There is a literal deluge of literature published each year, and it is increasing in geometric proportions.«12 Für Garfield stellt die »Sintflut« vor allem für die Wissenschaft ein Problem dar, weil gerade hier manuelle Indizierungsverfahren dem beschleunigten Produktionsausstoß einer stetig wachsenden Anzahl wissenschaftlicher Zeitschriften einfach nicht mehr nachkommen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wird deshalb die Suche nach technischen und konzeptuellen Ansätzen zur Bewältigung der Informationsflut intensiviert. An der Welch Medical Library der Johns Hopkins Universität startet 1948 ein groß angelegtes Projekt, das die Möglichkeiten der automatischen Indizierung und Durchsuchung medizinischer Literatur erforschen soll.13 Der junge Chemiker14 Eugene Garfield, der sich schon seit Längerem für die organisatorische Dimension wissenschaftlicher Arbeit interessiert, wird 1951 Mitarbeiter im Bereich der chemischen Literatur. Da das Welch-Projekt zu diesem Zeitpunkt eines der ambitioniertesten seiner Art ist, kommt Garfield nicht nur mit vielen zentralen Figuren der jungen Computer- und Informationswissenschaften in Kontakt,15 sondern auch mit dem Stand der Technik im Bereich mechanischer Sortierungsverfahren.16 Denn das deklarierte Ziel
12 Garfield, Eugene: »The Crisis in Chemical Literature«, Address to the Maryland Section of the American Chemical Society, 22.09.1952, http://www.garfield.li brary.upenn.edu/papers/crisisinchemlit1952.html 13 Vgl. Trolley, Jacqueline/O’Neill, Jill: »The Evolution of Citation Indexing«, in: Mary Ellen Bowden/Trudi Bellardo Hahn/Robert V. Williams (Hg.), Proceedings of the 1998 Conference on the History and Heritage of Science Information Systems, Medford, NJ: Information Today 1999, S. 124-126. 14 Bei der Entwicklung und Anwendung technischer Verfahren zur Informationsverwaltung ist die Chemie ausgesprochen häufig Vorreiterdisziplin. 15 Garfield lernt z.B. Hans Peter Luhn, den deutschstämmigen Informationspionier, und John Mauchly, einen der Erbauer von ENIAC und EDVAC, kennen. 16 Vgl. Garfield, Eugene: »On the Shoulders of Giants«, in: Mary Ellen Bowden/Trudi Bellardo Hahn/Robert V. Williams (Hg.), Proceedings of the 1998 Conference on the History and Heritage of Science Information Systems, Medford, NJ: Information Today 1999, S. 237-251.
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des Projekts ist es, den »Faktor Mensch« zu reduzieren und durch maschinelle Verfahren die Geschwindigkeit der Indizierung zu erhöhen. Schon während der Arbeit an der Johns Hopkins Universität beginnt Garfield eigenständig weiterführende Projekte zu entwickeln. Als besonders wichtig ist dabei die Zeitschriftenserie Currrent Contents (CC) hervorzuheben, die in regelmäßigen Abständen einen Überblick über Neuerscheinungen in verschiedenen wissenschaftlichen Feldern liefert. Seit 1953, und intensiver ab 1957, erscheinen die CC regelmäßig, und die Erfahrung mit der routinemäßigen Erfassung einer großen Anzahl an Zeitschriften wird sich für die spätere Zitationsindizierung als ausgesprochen nützlich erweisen. Um seine Projekte leichter zu organisieren und zu finanzieren, gründet Garfield 1955 eine Firma, DocuMation Inc., aus der 1960 das Institute for Scientific Information (ISI) hervorgeht.17 Die zündende Idee, wissenschaftliche Literatur mit Hilfe der Erfassung von Zitaten »navigierbar« zu machen, stammt allerdings nicht von Garfield selbst, sondern von William Adair, dem pensionierten Leiter von Shepard’s Citations18, einem seit 1873 erscheinendem juristischen Nachschlagewerk, das die für die Common-Law-Rechtstradition so wichtigen Bezüge zwischen Gerichtsurteilen dokumentiert. Adair wird über einen Zeitungsartikel auf das Welch-Projekt aufmerksam und schreibt 1953 einen Brief an dessen Leiter um das Konzept der Suche über Zitatreferenzen vorzustellen. Das Antwortschreiben kam von Eugene Garfield, der zu diesem Zeitpunkt aber nicht auf die Idee eingehen konnte oder wollte. Erst ein Jahr später, nach seiner Kündigung, nimmt Garfield mit Adair Kontakt auf.19 Kurz darauf reicht Garfield, der nebenbei Bibliothekswissenschaft studiert, eine Seminararbeit mit dem Titel Association-of-Ideas Techniques in Documentation. Shepardizing the Literature of Science ein und 1955 erscheint ein Artikel20 in der renommierten Zeitschrift Science, in dem die Übertragung des zitat-
17 Vgl. ebd. 18 Shepard’s Citations wurde 1996 von LexisNexis gekauft und in das Angebot der Firma übernommen. 19 Vgl. Wouters, Paul: »The Creation of the Science Citation Index«, in: Mary Ellen Bowden/Trudi Bellardo Hahn/Robert V. Williams (Hg.), Proceedings of the 1998 Conference, S. 127-136. 20 Garfield, Eugene: »Citation Indexes for Science: A New Dimension in Documentation through Association of Ideas«, in: Science 122 (1955), S. 108-111.
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basierten Verknüpfungsprinzips auf wissenschaftliche Literatur in relativ ausgereifter Form präsentiert wird. So legt der Text nicht nur die eigentliche Idee, sondern schon ein durchdachtes Verfahren zu ihrer Verwirklichung dar. Für den praktisch orientierten Garfield steht das Projekt damit aber erst am Anfang, weil es schließlich darum geht, eine technische Umsetzung auch tatsächlich zu bewerkstelligen.21 Der Weg von der Idee zu ihrer Umsetzung ist alles andere als einfach, und Garfields herausragende Leistung besteht in der Zielstrebigkeit, mit der das Projekt über die nächsten Jahrzehnte verfolgt wird. Zuerst sollen zwei Pilotprojekte die prinzipielle Machbarkeit der Zitationsindexierung überprüfen.22 Das erste Vorhaben ist mit der Indizierung von 5000 chemischen Patenten, v.a. der Firma Merck, noch relativ klein angelegt. 1960 finanzieren dann aber das National Institute of Health (NIH) und die National Science Foundation (NSF) ein viel größeres Projekt: die Erstellung einer Zitationsdatenbank für das Feld der Genetik, die 1961 als Genetics Citation Index erscheint. Die zu dieser Zeit gerade entstehende molekulare Genetik war auf Grund ihrer Neuheit und Interdisziplinarität – und den sich daraus ergebenden Schwierigkeiten für die klassische Indizierung – das ideale Testfeld für die Zitationsindexierung. Ab 1961 gibt das ISI mit dem Index Chemicus auch sein erstes kommerzielles Produkt heraus. Obwohl anfangs defizitär operierend, hatte dieser Zitationsindex der Chemie für den Chemiker Garfield wohl besonderen Wert. Das zentrale Projekt ist aber die Erstellung eines Index für die gesamten Naturwissenschaften, und dieses Unternehmen belastet die Firma finanziell in der Folge bis aufs Äußerste.23 1963 gelingt es dennoch, die erste Ausgabe des disziplinenübergreifenden Science Citation Index (SCI) auf den Markt zu bringen. Das Projekt erweist sich als lebensfähig: Ab 1964 erscheinen jährlich eine Vollausgabe sowie vierteljährliche Aktualisierungen, 1965 wird der Social Sciences Citation Index (SSCI) gestartet und 1975 kommt schließlich der Arts and Humanities Citation Index (A&HCI) dazu.
21 Vgl. Persson, Olle: »Citation Indexes for Science – A 50 year citation history«, in: Current Science 89 (2005), S. 1503-1504. 22 Vgl. J. Trolley/J. O’Neill: »The Evolution of Citation Indexing«. 23 Vgl. Cawkell, Tony/Garfield, Eugene: »Institute for Scientific Information«, in: Einar H. Fredrikson (Hg.), A Century of Science Publishing. A collection of essays, Amsterdam: IOS Press 2001, S. 149-160.
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3.2 Wie funktioniert der SCI? Aber wie muss man sich den SCI genau vorstellen? In erster Linie handelt es sich um eine ausgetüftelte Logistik. Schon in der ersten Ausgabe erfasst der SCI immerhin 613 Zeitschriftentitel und etwa 1,4 Millionen Zitate. Bis 1966 verdoppelt sich diese Zahl nochmals.24 Diese Verarbeitungsleistung beruht in erster Linie auf Garfields mittlerweile langjährigem Umgang mit der automatischen Datenverarbeitung: Die an der Welch Library gewonnene Erfahrung mit Lochkartenmaschinen und anderen mechanischen Verfahren, die durch die Current Contents etablierte Routine in der Aufarbeitung wissenschaftlicher Publikationen und die in den Pilotprojekten getesteten Methoden der computerbasierten Sortierung erlauben eine von Anfang an professionelle Umsetzung der Idee in ein bis zum heutigen Tage regelmäßig erscheinendes Produkt. Die Aufgabe war gewaltig, schließlich musste für jeden Artikel und für jedes einzelne Zitat per Hand eine Indexkarte erstellt werden, bei der ersten Ausgabe also für alle Texte des Erfassungsjahrs 1961 sowie für alle von diesen zitierte Beiträge. Das ISI war nicht zuletzt deshalb auf über 100 Mitarbeiter angewachsen.25 Eine anwendbare Codierungslogik hatte Garfield schon in seinem Science-Artikel von 1955 vorgestellt: Wenn jede Zeitschrift und jeder Artikel mit einer fortlaufenden Nummer codiert wird, kann eine Indexkarte für ein Zitat ganz einfach die Nummern (Journalcode und Artikelcode) des zitierten sowie des zitierenden Artikels erfassen. Mit dem Computer, IBM-Maschinen der 1400- und 700/7000-Serien, konnten diese Informationen dann so sortiert werden, dass für jeden Beitrag nicht nur die Liste der zitierten Referenzen, sondern auch die Liste der diesen zitierenden Artikel ausgegeben wurde. Der SCI besteht deshalb auch aus zwei Hauptindizes26, beide alphabetisch nach Autornamen sortiert: der Source Index listet alle erfassten Beiträge sowie deren Referenzen auf; der eigentliche Citation Index nennt wiederum alle
24 Vgl. Malin, Morton V.: »The Science Citation Index: A New Concept in Indexing«, in: Library Trends 16 (1968), S. 374-387. 25 Vgl. Garfield, Eugene/Stevens, Leo J.: »Über den ›Science Citation Index‹ (SCI) und verwandte Entwicklungen der jüngsten Zeit«, in: Nachrichten für Dokumentation 16 (1965), H. 3, S. 130-140, http://garfield.library.upenn.edu/pa pers/106.pdf 26 Ein dritter Index, der Patent Index, erschließt alle zitierten Patente.
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Texte, die auf einen der erfassten Beiträge des jeweiligen Autors verweisen. Bis auf eine einfache Typisierung – Beiträge sind als Artikel, Literaturübersicht, Kommentar, Brief etc. gekennzeichnet – bleibt das Prinzip der Klassifizierung nach Form oder Thematik komplett außen vor, der einzige »Inhalt« des Index ist das über hunderte Seiten gespannte Verweisungsnetzwerk zwischen wissenschaftlichen Publikationen. Denn im Gegensatz zu Bushs evokativer Medienmaschine erscheint der SCI zuerst in traditioneller Form – als Buch.27 Der SCI war in erster Linie als Suchwerkzeug gedacht und wurde als solches präsentiert und beworben. Als »Suchanfrage« fungierte ein beliebiger Artikel, von dem es in die »Vergangenheit« (zitierte Texte) und in die »Zukunft« (zitierende Texte) navigiert werden konnte. Die Kombination dieser beiden Verfahren, das »cycling«, konnte dabei besonders interessante Ergebnisse liefern. Der SCI verstand sich allerdings nicht als Ersatz für klassische Methoden der Indizierung, sondern als »Lösung« für die spezifischen praktischen Schwierigkeiten, die diese Methoden mit sich bringen. Garfield ging es dabei in erster Linie um eine Verschiebung des Blickwinkels von den Bedürfnissen der Bibliotheksorganisation hin zu denen der wissenschaftlichen Praxis.28 Daraus ergibt sich eine Reihe von Konsequenzen: •
Die Schnelligkeit rückt ins Zentrum. Da die Indizierung nach Zitaten wesentlich einfacher ist als die nach Inhalten, kann das ISI Wissenschaftler sehr schnell über relevante Neuerscheinungen informieren. Mit dem Automatic Subject Citation Alert (ASCA) wird es möglich, einen oder mehrere Artikel zu »abonnieren«, um dann wöchentlich über eventuell hinzugekommene Zitierungen benachrichtigt zu werden. Die
27 Seit 1980 werden SCI, SSCI und A&HCI als CD-ROM angeboten. Der SCI war auch eine der ersten Datenbanken, die über das DIALOG-System online zugänglich gemacht wurden. Heute verarbeitet das aus dem SCI hervorgegangene Web of Science der Firma Thomson Reuters über 10.000 Zeitschriften ab 1900 und ist über das WWW zugänglich. 28 »Thus rapid timing, essential to researchers, was completely sacrificed to improve the retrieval functions important to librarians.« Garfield, Eugene: »Citation Consciousness. The Origins of Citation Indexing in Science«, in: Password 6 (2002), S. 22-25, hier S. 23.
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hohe Geschwindigkeit ergibt sich aus dem weitgehend mechanischen Charakter der Arbeit, die sich in weiten Teilen von Maschinen erledigen lässt. Die manuelle Erstellung der Indexkarten wiederum verlangt keinerlei Expertenwissen, sodass Garfield sogar damit spekuliert, die Arbeit in Billiglohnländer wie Indien oder Sri Lanka auszulagern.29 Indem die Vernetzung der Texte in gewisser Weise an ihre Autoren delegiert wird, umgeht der SCI die Frage der »richtigen« Organisation des Wissens und damit auch den Vorwurf der Subjektivität oder der kulturellen Perspektivität, mit denen sich quasi jedes Klassifikationsschema auseinandersetzen muss. Auf den ersten Blick beschränkt sich der SCI darauf, eine aus der wissenschaftlichen Arbeit selbst hervorgehende Wissensordnung sichtbar und navigierbar zu machen. Ohne Klassifikationsraster gibt es auch scheinbar keine globale Ordnungsebene, keinen Baum des Wissens, der bei jeder Veränderung erweitert oder angepasst werden müsste. Der SCI ist dadurch nicht nur offen für thematische Verschiebungen, sondern auch agnostisch gegenüber Disziplingrenzen. Damit scheint er für die Erschließung der interdisziplinären Felder, die sich in den Naturwissenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg entwickeln, wie prädestiniert.
Garfield wird nicht müde, diese Vorteile zu betonen, und während der Science-Artikel des Jahres 1955 zumeist Indifferenz oder Ablehnung hervorruft, sind die Reaktionen beim Erscheinen des SCI 1963 zwar immer noch gemischt, aber zum Teil auch ausgesprochen positiv.30 In den acht Jahren zwischen 1955 und 1963 gelingt es Garfield, das konzeptuelle Prinzip der Zitationsindexierung mit einem platzsparenden Codierungsverfahren, stabilen mechanischen Verarbeitungsmethoden und einem Geschäftsmodell zu verbinden, das sich nach den ersten Schwierigkeiten als lebensfähig erweist. Mit Bruno Latour könnte man sagen, dass ein Netz an heterogenen Verbindungen geknüpft und stabilisiert wird, welches die bloße
29 Vgl. Garfield, Eugene: »Retrospective on the Sociological and Historical Uses of Citation Data at ISI«, Meeting on Use of Citation Data in the Study of Science (Baltimore, Maryland), 01.04.1975, http://www.garfield.library.upenn.edu/ papers/retrospectivey1975.html 30 Vgl. Wouters, Paul: The Citation Culture. Unveröffentlichte Dissertation, Amsterdam 1999, S. 19ff.
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Idee eines Zitationsindex Realität werden lässt. Die unermüdliche Überzeugungsarbeit, die vielen Publikationen und Konferenzbesuche, das Ausprobieren und Basteln neuer Techniken sowie der Aufbau wirtschaftlicher Strukturen sind nicht vernachlässigbares Beiwerk einer genialen Erfindung, sondern notwendige Komponenten der Erfindungsarbeit. Erst die Zusammenführung all dieser Elemente macht es möglich, aus einem entschieden revolutionären Prinzip mit wissenschaftlicher Literatur umzugehen, ein tatsächliches Ding zu generieren. Die zugrunde liegende Verschiebung von einer qualitativ-klassifikatorischen zu einer quantitativ-explorativen Perspektive ist dabei allerdings nicht zu vernachlässigen und soll in der Folge genauer bestimmt werden.
4. V OM K ATALOG ZUM Z ITATIONSGRAPHEN Es ist unmöglich, über die Mathematik als Technik der Informationsorganisation zu sprechen, ohne anzumerken, dass es erst die logischen Bausteine des Computers sind, die mathematische Verfahren mechanisch ausführbar und damit »performativ« machen. 1948 schreibt der Mathematiker Warren Weaver über die neuen Maschinen: »[Computers] will make it possible to deal with problems which previously were too complicated, and, more importantly, they will justify and inspire the development of new methods of analysis applicable to these new problems [...].«31
Technik ist gleichzeitig Werkzeug und Möglichkeitshorizont: Erst der Computer macht die Umsetzung einer eigentlich alten Idee in dieser Form realisierbar,32 aber einmal unterwegs erweitert und verschiebt die Computerisierung den Vorstellungsraum und bereitet den Weg für eine Reihe signifikanter Folgeinnovationen. Während es zuerst nur um ein neues Verfahren zur Informationssuche geht, wird doch schnell klar, dass der SCI in noch ganz anderer Weise verwendbar sein wird. Der Computer macht es nicht nur möglich, das hinter dem Index lauernde Zitationsnetzwerk als Analyse-
31 Weaver, Warren: »Science and Complexity«, in: American Scientist 36 (1948), S. 536-544, hier S. 541. 32 Vgl. P. Wouters: Citation Culture, S. 77.
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objekt zu begreifen, sondern erlaubt es eben auch, praktische Verfahren zu entwickeln, dieses Netzwerk zu untersuchen und »verwertbar« zu machen. Diese Verfahren bestehen im Wesentlichen darin, mathematische Methoden und Vorgehensweisen auf Fragen der Informationsverarbeitung umzulegen. 4.1 Vom Katalog zum Netzwerk Der Bibliothekskatalog und die Enzyklopädie sind von einem enzyklopädischen, räumlichen und universalistischen Bild des Wissens geprägt. Ein Blick auf die verästelten Wissensbäume bei Bacon, Diderot und d’Alembert oder bei Dewey genügt, um zu verstehen, dass es hier jeweils darum geht, menschliche Erkenntnis in eine Form zu bringen, die, vom Allgemeinen zum immer Spezielleren führend, der Ordnung der Welt selbst entspricht. Während Otlet mit der CDU versucht, diese Logik quasi zu vollenden und gleichzeitig die durch Starrheit und Abschottung entstehenden Probleme einer hierarchischen Wissensordnung zu entschärfen, bricht Garfields Zitationsanalyse mit dem Projekt einer verbindlichen Kartographie des Wissens. Die aprioristisch-universelle wird zugunsten einer empirisch-partikularistischen Perspektive aufgegeben: Erstens geht es nicht mehr um die Indizierung menschlichen Wissens als zusammenhängendem Ganzem, sondern einzig um wissenschaftliche Publikationen und damit um die spezifischen Kommunikationsformen einer spezifischen Wissenskultur. Zweitens präsentiert sich der SCI nicht als humanistische Kartographie aller Erkenntnis, sondern als praktisches Werkzeug, das Primärtexte nach ihrer eigenen Zitationspraxis indiziert und zugänglich macht. Die gebotene Leistung, der »Mehrwert«, ist mechanisch und nicht philosophisch. Drittens ist anzumerken, dass die übersichtliche Baumstruktur prinzipbedingt zugunsten einer impliziten Netzwerkform aufgegeben und die zentralperspektivische Sicht auf das indizierte Wissen durch eine Systematik ersetzt wird, in der jeder Artikel auf den ersten Blick einen gleichberechtigten Einstieg in das Verweisungsgewirr darstellt. Wenn das enzyklopädische Prinzip nach d’Alembert darin besteht, »à placer [...] le Philosophe au-dessus de ce vaste labyrinthe dans un point de vûe fort élevé«33, dann ist der SCI zuerst einmal nichts anderes als eine Methode, um im Labyrinth des Wissens leichter von
33 Diderot, Denis/d’Alembert, Jean le Rond: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, Bd. 1, Paris: Briasson et al. 1751, S. XV.
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einer »connoissance« [sic] zur nächsten zu gelangen. Der enzyklopädische Wissensbaum operiert »top-down«, der SCI »bottom-forward«. In Anlehnung an Bush unterstreicht Garfield, dass es dem SCI wohl weniger um Ordnung geht, als darum, Verbindungen zu schaffen, auch über Disziplingrenzen hinaus: »By virtue of its different construction, [a citation index] tends to bring together material that would never be collated by the usual subject indexing. It is best described as an association-of-ideas index, and it gives the reader as much leeway as he requires.«34
Die Aufgabe einer Zentralperspektive wirft nun aber selbst viele neue Fragen auf: Wie soll man in das Netzwerk-Labyrinth einsteigen? Welchen Verbindungen soll man folgen? Wie lässt sich die Orientierung behalten? Die Antworten auf diese Fragen müssen zuerst von außen kommen, gestützt von einem Expertenwissen, ohne das der SCI quasi nutzlos ist. Der Bruch mit der übersichtlichen Baumstruktur bedingt in gewisser Weise auch den Bruch mit der pädagogischen Tradition der Aufklärung. Sobald der SCI als Datenbestand und Forschungsgegenstand ins Blickfeld rückt, tauchen aber Denkansätze auf, die den gestellten Fragen auf neuen Wegen zu begegnen suchen. Eine zentrale Rolle spielt dabei Derek J. de Solla Price, der heute als der Begründer35 der Szientometrie gilt, also der »Messung« der Wissenschaft mit Hilfe verschiedener mathematischer Methoden. Als Eugene Garfield seinem Bekannten 1962 vorschlägt, die Daten des SCI zu untersuchen, ist dieser »excited«36. Das erste Ergebnis erscheint 1965 in Science, und während die Herangehensweise noch weitgehend statistisch orientiert ist, fasst Price den SCI als Netzwerk ins Auge:
34 E. Garfield: »Citation Indexes for Science«, S. 108. 35 Die statistische Beschäftigung mit Wissenschaft begann zwar schon in den 1920er mit den Arbeiten von Alfred J. Lotka und George Kingsley Zipf, aber erst mit Price etabliert sich quantitative Wissenschaftsforschung als Disziplin. 36 P. Wouters: Citation Culture, S. 80.
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»This article is an attempt to describe […] the nature of the total world network of scientific papers. We shall try to picture the network which is obtained by linking each published paper to the other papers directly associated with it.« 37
Price zeigt unter anderem, dass die Häufigkeit, mit der Artikel zitiert werden, sehr ungleichmäßig verteilt ist: Die meisten Texte werden gar nicht oder nur sehr selten zitiert, während einige wenige sehr oft genannt werden. Durch die »skalenfreie« Häufigkeitsverteilung würden Klassiker und »Superklassiker«38 automatisch, und damit maschinell, identifizierbar. Darüber hinaus lässt die Analyse des SCI die »Halbwertszeit« wissenschaftlicher Publikation als sehr kurz erscheinen und Price gelingt es, eine »Forschungsfront« zu bestimmen, dichte Artikelnetzwerke, die in kurzem Abstand zueinander erscheinen und deren Zitationshäufigkeit schnell abfällt. Diese ersten Untersuchungen des SCI als Datenbestand müssen wohl als tatsächlich neue Formen des Umgangs mit Wissenschaft – und in weiterer Folge mit Wissen überhaupt – bezeichnet werden. Es sind Herangehensweisen, in denen die Ordnung des Wissens eben nicht mehr als philosophisch-aprioristisches Problem erscheint, sondern als empirische Problematik, die »explorativ« behandelt werden muss – am besten mit den Mitteln der Mathematik. Die statistischen Ansätze werden dabei schnell um graphentheoretische Methoden erweitert. 4.2 Vom Netzwerk zur Graphentheorie Ein wichtiger Schritt in der Mathematisierung des Umgangs mit dem SCI ist 1967 getan, nachdem Ralph Garner gezeigt hat, dass sich Zitationsnetzwerke komplett als Graph formalisieren lassen.39 Dies öffnet die Tür zur Anwendung graphentheoretischer Methoden, mit denen anspruchsvollere Analysen möglich werden als mit klassischen statistischen Verfahren. Die elementare Formalisierung ist dabei wenig überraschend: Artikel werden zu
37 de Solla Price, Derek J.: »Networks of Scientific Papers«, in: Science 149 (1965), S. 510-515, hier S. 510. 38 Ebd., S. 511. 39 Garner, Ralph: »A Computer-Oriented Graph Theoretic Analysis of Citation Index Structures«, in: Ralph Garner/Lois Lunin/Lois Baker (Hg.), Three Drexel Information Science Research Studies, Philadelphia: Drexel Press 1967, S. 3-46.
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Knoten, Zitate zu Kanten. Im Vergleich zu den detaillierten und inhaltsschweren Klassifikationen bei Dewey oder Otlet erscheint der Zitationsgraph karg und wenig aussagekräftig. Sein intellektuelles Potential liegt einerseits in der Struktur seiner Verbindungen und andererseits in seiner enormen Größe. Genau deshalb kann der SCI zum Datenmaterial für eine Form des Betrachtens werden, die mit Hilfe algorithmischer Datenverarbeitung das Zitationsnetzwerk als Wissensquelle erschließt. Die konkreten Verfahren nehmen dabei unterschiedliche Formen an und dienen unterschiedlichen Zwecken. Das »bibliographic coupling«40 und die etwas kompliziertere »cocitation analysis«41 etwa vergleichen die Referenzlisten zwischen Artikeln und etablieren indirekte Verbindungen, wenn zwei Texte, die einander nicht zitieren, eine oder mehrere Referenzen gemeinsam haben. Auf analoge Weise lassen sich Wissenschaftler mit ähnlichem thematischen Profil gruppieren. Stark verknüpfte Stellen im Graphen – unabhängig davon, ob diese durch direkte Zitate oder indirekte Gemeinsamkeiten bedingt sind – können auf »unsichtbare Universitäten«42 hinweisen oder auf der Makroebene dazu verwendet werden, disziplinäre Grenzen sozusagen »von unten« festzustellen. Klassifikationen und andere Metainformationen sind hier nicht mehr das Produkt eines Reflexionsprozesses, sondern werden maschinell aus den Daten selbst abgeleitet. Die Geste des Klassifizierens weicht der Geste des Rechnens und das subjektive Organisieren von Wissenskategorien der scheinbar objektiven Feststellung von einfachen Basisindikatoren (Zitaten). Es ist nicht mehr die Karte des Wissens, die Universalität beansprucht, sondern die mathematische Verfahrenslogik, mit deren Hilfe sich je nach Algorithmus und Parameter unendlich viele Karten generieren lassen.
40 Kessler, Michael M.: »Bibliographic coupling between scientific papers«, in: American Documentation 14 (1963), S. 10-25. 41 Small, Henry: »Co-citation in the scientific literature: A new measurement of the relationship between two documents«, in: Journal of the American Society of Information Science 24 (1973), S. 265-269. 42 R. Garner: »A Computer-Oriented Graph Theoretic Analysis«, S. 37.
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Die Verwendung graphentheoretischer Ansätze erlaubt es auch Price, seine szientometrischen Analysen zu vertiefen. In einem Artikel43, der heute als einer der Gründungstexte der Netzwerkwissenschaft gilt, zeigt er, dass die Frage, welche Artikel wie oft zitiert werden, wohl nicht alleine von deren Qualität abhängt, sondern von einer Netzwerkdynamik, der Robert K. Merton später den Namen »Matthäus-Effekt«44 geben wird. Price formalisiert ein Wachstumsmodell für Netzwerke, in dem schon ein relativ kleiner Unterschied in der Anfangsverteilung von Verbindungen zu einem »kumulativen Vorteil« und der oben genannten skalenfreien Häufigkeitsverteilung führt. Auf die Wissenschaft umgelegt, lässt sich also feststellen, dass ein Artikel, der früh mehrmals zitiert wird, eine gute Chance hat, durch die erhöhte Sichtbarkeit noch viel öfter zitiert zu werden: »Wer hat, dem wird gegeben«. Das Besondere an all diesen Verfahren ist die Einfachheit, mit der aus Methoden, die zuerst der Analyse und Beschreibung dienen, Techniken abgeleitet werden können, die sich zur Navigation, Suche, Filterung und Hierarchisierung von Information verwenden lassen. Aus Zentralität im Netzwerk wird Sichtbarkeit in einer Liste.
5. V ON
DER
B ESCHREIBUNG
ZUR
H IERARCHISIERUNG
Obwohl der SCI auch heute noch ein auf die Wissenschaft fokussiertes Spezialwerkzeug darstellt, kann er doch als Beispiel für die fortschreitende Mathematisierung unterschiedlicher gesellschaftlicher Abläufe gedacht werden. Zwei Anwendungsfälle verdienen dabei besondere Aufmerksamkeit: Der viel diskutierte Impact Factor zeigt besonders deutlich, wie Rechenverfahren administrative Entscheidungsprozesse durchdringen, und der Gebrauch des Prinzips der Zitationsanalyse in modernen Web-Suchmaschinen veranschaulicht, wie einfach sich computerbasierte Verfahren von einem Bereich auf einen anderen umlegen lassen.
43 de Solla Price, Derek J.: »General Theory of Bibliometric and other Cumulative Advantage Processes«, in: Journal of the American Society for Information Science 27 (1976), S. 292-306. 44 Merton, Robert K.: »The Matthew Effect in Science«, in: Science 159 (1968), S. 56-63.
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5.1 Der Impact Factor Es ist bemerkenswert, dass direkt auf Zitationsanalyse basierende Formen der Evaluierung wissenschaftlicher Produktivität und Signifikanz heute wohl bekannter sind als der SCI selbst. Die Rede ist vom Impact Factor und seinen Derivaten.45 Die prinzipielle Idee, aus der Häufigkeit von Zitaten Indikatoren für Relevanz abzuleiten, ist allerdings älter als der SCI selbst – sie wird zum ersten Mal 1927 genannt und beispielhaft umgesetzt. Die leitende Fragestellung ist dabei ausgesprochen pragmatisch: »What files of scientific periodicals are needed in a college library successfully to prepare the student for advanced work, taking into consideration also those materials necessary for the stimulation and intellectual development of the faculty?«46
Gerade für kleinere Universitätsbibliotheken stellt sich angesichts der schnell wachsenden Zahl wissenschaftlicher Zeitschriften die sehr konkrete Frage der Ressourcenverteilung. Um diese zu beantworten, analysieren Gross und Gross eine Jahresausgabe des Journal of the American Chemical Society und kompilieren eine Tabelle mit allen 247 zitierten Titeln sowie der jeweiligen Anzahl an Nennungen. Nach Zitationshäufigkeit gereiht, ordnet sich diese Liste scheinbar wie von selbst und – wenn man ein Zitat als zählbaren Indikator für Relevanz versteht – sogar nach Wichtigkeit. Auf dieser Grundlage empfehlen die Autoren dann auch spezifische Abonnements sowie den Nachkauf einzelner Jahresausgaben. Mit Hilfe des SCI kann dieses Prinzip nun quasi ohne zusätzlichen Aufwand angewandt und in verschiedene Richtungen erweitert werden. Schon 1955 verweist Garfield auf die potentielle Nützlichkeit des SCI für die Erforschung der Geschichte einer Idee. Weil gerade neue Ansätze oft Disziplinen- und Kategoriengrenzen überschreiten, seien klassische Kataloge dafür nur bedingt geeignet. Der hochgradig formalisierte SCI hingegen mache es leicht, die Zitationshäufigkeit einzelner Texte zu bestimmen
45 Ursprünglich viel weiter gefasst, bezieht sich der Impact Factor heute einzig auf die Bedeutung wissenschaftlicher Zeitschriften. 46 Gross, P.L.K./Gross, E.M.: »College Libraries and Chemical Education«, in: Science 66 (1927), S. 385-389, hier S. 368.
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und einen historischen »Impact Factor«47 zu kalkulieren. Während es also ursprünglich nur um Geschichtsforschung gehen soll, so wird doch schnell klar, dass ein umfassendes Zitationsregister notwendigerweise die Frage der Untersuchung und Evaluierung zeitgenössischer Phänomene aufwirft. In einem Gespräch mit Garfield antizipiert der Computerpionier Allen Newell die potentielle Sprengkraft dieser Idee: »It is rather easy to predict, I think, that the publication and wide availability of an extensive citation index will have strong social consequences along the line of becoming a controlling variable for the advancement and employment of scientific personnel... It makes little difference whether one likes this or not.«48
Zwei Jahre später weist Price darauf hin, dass sich das Prinzip der Reihung nach Zitationshäufigkeit auf alle möglichen Analyseeinheiten umlegen lässt: »With such a topography established, one could perhaps indicate the overlap and relative importance of journals and, indeed, of countries, authors, or individual papers by the place they occupied within the map, and by their degree of strategic centralness within a given strip.«49
Erste Anwendungen der Zitationsanalyse als Evaluierungsinstrument in der Forschungsadministration folgen in den 70er Jahren auf eine 1976 von Francis Narin publizierte Studie, die wohl nicht zufällig von der US National Science Foundation finanziert worden war.50 Angesichts der amerikanischen und europäischen Bestrebungen, Wissenschaftsförderung an »sichtbare« Leistung zu knüpfen – besonders die Niederlande und Großbritannien sind diesbezüglich als Vorreiter zu nennen –, werden zitationsbasierte Verfahren in den 80er Jahren zum dominanten Evaluierungsinstrument wissenschaftlicher Produktivität und Relevanz, besonders in den exakten Wissen-
47 E. Garfield: »Citation Indexes for Science«, S. 109. 48 Garfield, Eugene: »Citation Indexes in Sociological and Historical Research«, in: American Documentation 14 (1963), S. 289-291, hier S. 290. 49 D. J. de Solla Price: »Networks of Scientific Papers«, S. 515. 50 Vgl. Leydesdorff, Loet: »Evaluation of research and evolution of science indicators«, in: Current Science 89 (2005), S. 1510-1517.
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schaften. Heute schlagen sich diese Verfahren in Universitäts- und Länderranglisten, in Vergabegremien für Förderungen und Preise, bei Reihungen wissenschaftlicher Zeitschriften und Budgetentscheidungen von Bibliotheken und selbst in Karrierekommissionen und Gehaltsverhandlungen nieder; überall wird nach Zitationsstatistik gerankt. Dabei spielt die mechanische Funktionsweise des SCI und der abgeleiteten Verfahren eine zentrale Rolle. So werden Zitate automatisch erfasst, und Indikatoren wie Impact Factor oder H-Index etabliert, die auf feststehenden Formeln basieren. Es sind gewissermaßen die Wissenschaftler selbst, die durch ihre Zitationspraxis die Wichtigkeit von Publikationen, Personen, Journals, Universitäten und ganzen Ländern bestimmen. Wir werden in der Folge auf die Frage der »Objektivität« dieser Prozesse zurückkommen müssen, doch zuvor soll eine Entwicklung explizit gemacht werden, die latent hinter den hier besprochenen Veränderungen steht, die aber, obschon sie das gesamte 20. Jahrhundert begleitet, erst in den letzten Jahren klar beschreibbar geworden ist. Es handelt sich um eine Konsequenz der oft beschworenen Informationsflut, um die Verschiebung vom Suchen zum Filtern. Nirgendwo wird diese Verschiebung deutlicher als am Beispiel des WWW, und die Zitationsanalyse spielt dabei eine wesentliche Rolle. 5.2 Das WWW als Zitationsnetzwerk Während Techniken und Konzepte, wie sie an Otlets Institut International de Bibliographie entwickelt wurden, auf die Auffindung von Information abzielen, rückt im Falle des SCI eine andere Funktion schrittweise ins Zentrum. Schon Ende der 60er Jahre fordert Herbert Simon einen Paradigmenwechsel für die mechanische Informationsverwaltung: »The task is not to design information-distributing systems but intelligent information-filtering systems.«51 Um es schematisch zu auszudrücken: Spätestens seit der Erfindung der Rotationspresse steuern zumindest westliche Gesellschaften in Richtung eines Informationsüberflusses, der ab Mitte des letzten Jahrhunderts, wie weiter oben angemerkt, explizit als Problem wahrgenommen wird. Sobald zu einem gewissen Thema hunderte oder tausende Publikatio-
51 Simon, Herbert A.: The Sciences of the Artificial, Cambridge MA: MIT Press 2001 (Erstausgabe 1969), S. 144.
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nen vorliegen, handelt es sich nicht mehr einfach um eine Frage der Auffindung, sondern in erster Linie um eine der Relevanz von Information. Welche der vielen gefundenen Publikationen soll man rezipieren, wenn es unmöglich geworden ist, alles zu lesen? Vor diesem Hintergrund ist es nicht weiter erstaunlich, dass die auf dem SCI basierenden Rankingmethoden eine immer stärkere Rolle in Suchprozessen spielen. Der SCI kann sicherlich dabei helfen, Publikationen zu finden. Seine eigentliche Stärke entwickelt er aber als Filter- und Hierarchisierungsmaschine, die Gefundenes auch gleich ordnet. Es ist daher nicht verwunderlich, dass moderne Suchverfahren im WWW sich mehr oder weniger direkt aus der Zitationsanalyse entwickeln. Die auf diesen Seiten skizzierte Entwicklung von einer manuellen Logik der Klassifizierung hin zu automatischen Zählverfahren lässt sich am Beispiel des WWW wie im Zeitraffer nachvollziehen. Während anfänglich handgemachte Kataloge wie das Yahoo! Directory das WWW über klassische Kategorienbäume erschließen, laufen ihnen vollautomatische Suchmaschinen Ende der 90er Jahre schnell den Rang ab. Die hohe Qualität seiner Suchergebnisse verschafft einem von zwei Doktoranden entwickelten System den entscheidenden Vorteil, und Google wird in Folge zum Synonym für die Suche im Internet. Der zentrale Algorithmus, PageRank, steht dabei in direkter Verbindung zur Zitationsanalyse: »Academic citation literature has been applied to the web, largely by counting citations or backlinks to a given page. This gives some approximation of a page's importance or quality. PageRank extends this idea by not counting links from all pages equally, and by normalizing by the number of links on a page.«52
Schon 1976 stellen Gabriel Pinski und Francis Narin im Bereich der Zitationsanalyse einen Algorithmus vor, der PageRank insofern ähnelt, als einem Zitat abhängig vom Impact Factor der zitierenden Zeitschrift ein unter-
52 Brin, Sergei/Page, Lawrence: »The Anatomy of a Large-Scale Hypertextual Web Search Engine«, in: Proceedings of the Seventh International World-Wide Web Conference (14.-18.04.1998, Brisbane, Australia), Amsterdam/Lausanne: Elsevier 1998, S. 107-117, http://infolab.stanford.edu/~backrub/google.html
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schiedlicher Wert zukommt.53 Dieses Prinzip wird von Larry Page und Sergei Brin auf das Web umgelegt und folgendermaßen beschrieben: »PageRank nimmt eine objektive Bewertung der Wichtigkeit von Webseiten vor. [...] Anstatt die direkten Links zu zählen, interpretiert PageRank im Wesentlichen einen Link von Seite A auf Seite B als ›Votum‹ von Seite A für Seite B. PageRank bewertet dann die Wichtigkeit einer Seite nach den erzielten Voten.«54
Ungeachtet der »demokratischen« Rhetorik erkennen wir hier das schon für die Zitationsanalyse herausgestrichene Prinzip der Delegation des Rankings an die betroffenen Akteure selbst – in diesem Fall nicht an zitierende Wissenschaftler, sondern an all jene, die Hyperlinks im WWW platzieren. Die mechanische Anwendung des Verfahrens begründet wiederum den Anspruch auf Objektivität. Genau dieser Anspruch soll im Folgenden genauer untersucht werden. 5.3 Mechanische Rationalität Es ist bezeichnend, dass ausgerechnet die International Mathematical Union in Kooperation mit dem International Council of Industrial and Applied Mathematics und dem Institute of Mathematical Statistics 2008 einen Bericht veröffentlicht, in dem die Zitationsanalyse als dominantes Evaluierungsinstrument stark kritisiert wird.55 Obwohl Theodore Porters Arbeit56 nicht genannt wird, kommen die Autoren zu einer erstaunlich ähnlichen Di-
53 Vgl. Pinski, Gabriel/Narin, Francis: »Citation influence for journal aggregates of scientific publications: Theory with application to literature of physics«, in: Information Processing & Management 12 (1976), S. 297-312. 54 http://www.google.de/corporate/tech.html vom 31.12.2010. Der Text wurde mittlerweile entfernt. 55 Adler, Robert/Ewing, John/Taylor, Peter: Citation Statistics, Report from the International Mathematical Union (IMU) in cooperation with the International Council of Industrial and Applied Mathematics (ICIAM) and the Institute of Mathematical Statistics (IMS), 12.06.2008, http://www.mathunion.org/filead min/IMU/Report/CitationStatistics 56 Porter, Theodore M.: Trust in Numbers, Princeton, NJ: Princeton University Press 1995, S. 48.
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agnose wie der angesehene Historiker und Spezialist für die Geschichte der Quantifizierung: »The drive towards more transparency and accountability in the academic world has created a ›culture of numbers‹ in which institutions and individuals believe that fair decisions can be reached by algorithmic evaluation of some statistical data; unable to measure quality (the ultimate goal), decision-makers replace quality by numbers that they can measure.«57
Für Theodore Porter ist es genau dieser erhöhte Anspruch an Transparenz und Verantwortlichkeit, der in demokratischen Bürokratien dazu führt, dass sich selbst Experten immer weniger auf Standesautorität und Erfahrungswissen berufen können und stattdessen zunehmend quantitative Verfahren in Entscheidungsprozessen den Ausschlag geben. Der Computer – »widely revered in part because it is incapable of subjectivity«58 – spielt dabei eine zentrale Rolle: Solange die Maschine zählt und nicht der Mensch, scheint es mitunter sekundär, was gezählt wird. Für die Zitationsanalyse – und damit auch für die linkbasierte Suche im WWW – drängt sich natürlich die Frage auf, wie weit der zugrunde liegenden Zitierungs- und Verlinkungspraxis Vertrauen geschenkt werden kann. Schon 1973 weisen Cole und Cole darauf hin, dass Wissenschaftler oft Freunde, Kollegen, Mentoren oder besonders eminente Personen zitieren.59 Und wie Werber im WWW sogenannte »Linkfarmen« zur Verbesserung ihres Rankings bei Google einsetzen können, so sind auch Indikatoren wie Impact Factor und H-Index anfällig für Eigenzitate und Seilschaften. Denn wie sollte man auch zwischen den dichten Verknüpfungen einer »unsichtbaren Universität« einerseits und einem betrügerischen Zitierungskartell andererseits automatisch unterscheiden? Aber auch ganz ohne Unaufrichtigkeit zu unterstellen, werfen graphentheoretische Hierarchisierungsmaschinen die Frage auf, inwieweit sie bestehende Sichtbarkeitsdynamiken wie den Matthäus-Effekt nicht noch verstärken. Das weiter oben genannte Prinzip des kumulativen Vorteils ope-
57 R. Adler/J. Ewing/P. Taylor: Citation Statistics, S. 3. 58 T.M. Porter: Trust in Numbers, S. 74. 59 Vgl. Cole, Jonathan R./Cole, Stephen: Social Stratification in Science, Chicago: University of Chicago Press 1973.
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riert zwar auch ohne hierarchisierenden Algorithmus allein durch die höhere Wahrscheinlichkeit, in zufällig gefundenen Artikeln auf einen vielzitierten Autor zu stoßen; die Einführung einer Sichtbarkeitsebene, die nach Verweisungshäufigkeit sortiert, verschärft aber den Unterschied zwischen jenen wissenschaftlichen Texten oder Websites, auf die häufig verwiesen wird, und solchen, die nur selten genannt werden. Schließlich muss auch eine über Zitationspraxis und Sichtbarkeitsdynamik hinausweisende Frage gestellt werden, die der »mechanischen Rationalität« des Rechnens selbst gilt. Wie können Rechenverfahren ohne Zögern objektiv genannt werden, wenn alternative Berechnungsalgorithmen zwar zu ähnlichen, aber bei weitem nicht identischen Ergebnissen kommen? Loet Leydesdorff, einer der weltweit führenden Experten der Zitationsanalyse, weist unmissverständlich darauf hin, dass die Idee einer widerspruchsfreien, »objektiven« Messung der Qualität menschlicher Wissensproduktion prinzipiell unerreichbar ist: »[C]onstructs remain ›soft‹, that is, open for debate and reconstruction. De Solla Price’s dream of making scientometric mapping a relatively hard social science can with hindsight be considered as fundamentally flawed. When both the data and the perspectives are potentially changing, the position of the analyst can no longer be considered as neutral.«60
Quantifizierung muss deshalb immer als »soziale Technologie«61 verstanden werden, als Steuerungs- und Verwaltungstechnik, durch die Fragen der Macht – denn um nichts anderes geht es hier – neu verhandelt, konfiguriert und stabilisiert werden. Die Gegenüberstellung von traditionellen Klassifikationssystematiken und zitationsbasierten Verfahren verweist nicht nur auf unterschiedliche Wissensordnungen, sondern auch auf fundamentale Differenzen in den jeweiligen Produktionsweisen, welche wiederum die Einbeziehung unterschiedlicher Akteure und Kompetenzen bedingen. Notwendigerweise gibt es dabei Gewinner und Verlierer.
60 L. Leydesdorff: »Evaluation of research«, S. 1512. 61 T.M. Porter: Trust in Numbers, S. 48.
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6. S CHLUSS Abschließend stellt sich die Frage, wie mit den genannten Verfahren aus geistes- und kulturwissenschaftlicher Perspektive umzugehen ist. In diesem Beitrag wurde versucht zu zeigen, wie mathematische Methoden mit Hilfe des Computers in den Umgang mit Information eindringen und Zugänge zu Wissen generieren, die einerseits empirisch-explorativ orientiert sind und sich andererseits besonders einfach zum Zwecke der hierarchisierenden Reihung und Filterung heranziehen lassen. Die Ausbreitung dieser und ähnlicher Techniken ist dabei schon viel weiter fortgeschritten, als wir mit unserem Exkurs in das Gebiet der Web-Suchmaschinen angedeutet haben. Menschliche Alltagspraktiken entfalten sich immer öfter in digitalen Medien, und diese Medien sind eben immer auch Maschinen, genauer, Computer. Jeder Tastaturanschlag und jeder Mausklick produzieren Daten, die wiederum für das Filtern und Sortieren von Information herangezogen werden können. Von der Singlebörse bis zum Nachrichtenportal spielen solche Algorithmen eine zentrale Rolle für die Modulation der Sichtbarkeit von Ideen, Neuigkeiten, Produkten oder anderen Nutzern. In der Bewertung dieser Mechanismen sollten wir uns nicht von der sterilen Debatte leiten lassen, die in den Sozialwissenschaften seit Jahrzehnten qualitative und quantitative Methoden gegeneinander aufstellt. Nichts wäre schädlicher, als mathematischen Verfahren Aussagekraft und Erkenntnispotential abzusprechen – nicht zuletzt, weil es illusorisch ist anzunehmen, dass eine globalisierte und immer komplexer werdende Welt ohne die automatisierte Kognitionsleistung von Maschinen noch in irgendeiner Weise verwaltbar sei. Eine maschinenstürmerische Geistes- und Kulturwissenschaft würde sich selbst ins Abseits stellen. Der oft emotionale und undifferenzierte Umgang mit Technik verweist auf ein zentrales Paradoxon unserer gegenwärtigen Gesellschaften: Sie sind einerseits von mathematischen Verfahren durchdrungen, andererseits aber erstaunlich desinteressiert, wenn es darum geht, die gesellschaftliche Bedeutung dieser Verfahren zu untersuchen und zu diskutieren.62 Folglich
62 Douglas Hofstadter spricht in diesem Kontext von einer »anumerischen« (in Analogie zu »analphabetisch«) Zahlenkultur, in der Zahlen und Rechenverfahren zwar eine enorm wichtige Rolle spielen, aber kaum verstanden werden. Vgl.
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wird die Gemachtheit dieser Technologien aus den Augen verloren: »We think of statistics as facts that we discover, not numbers we create.«63 Wenn wir auf diesen Seiten die »Objektivität« der vom SCI abgeleiteten Indikatoren in Frage gestellt haben, dann nicht um quantitative Ansätze generell abzulehnen, sondern um zu zeigen, dass erst die Analyse der spezifischen Perspektivität eines Algorithmus eine Debatte ermöglicht, in der politische und administrative Ziele nicht mehr hinter einer etwaigen Neutralität der Maschine versteckt werden können. Wie die Autoren des oben genannten Berichts der International Mathematical Union anmerken, sind nicht die Zitationsstatistiken das Problem, sondern der unreflektierte und einseitige Umgang in Evaluationsgremien: »Using the impact factor alone to judge a journal is like using weight alone to judge a person’s health.«64 Mit der nötigen Distanz und als Teil eines weiter gefassten Zugangs, können Zitationsstatistiken als ein wertvolles Instrument für die Bewertung wissenschaftlicher Leistungen dienen. Selbiges gilt für maschinelle Techniken in vielen anderen Bereichen. Es kann nicht darum gehen, algorithmische Verfahren endlich wieder durch »menschliches Urteil« zu ersetzen, sondern mechanische Rationalität als eine spezifische Form menschlichen Urteils einer aufgeklärten Kritik zuzuführen, ohne die eine sinnvolle Handhabung nur schwer möglich ist. Die Rückführung moderner Techniken auf historische Formen kann dabei helfen, nicht nur die geschichtliche Kontingenz, sondern auch technische Mechanismen und Faktoren besser zu verstehen. Es wurde hier am Beispiel des SCI versucht darzulegen, wie aus einer relativ einfachen Idee ein reales Suchwerkzeug gemacht wird und wie dessen Mathematisierung neue Anwendungsfelder öffnet, neue Akteure auf den Plan ruft und neue Problematiken aufwirft. Und wenn auch vieles erst im Rückblick verständlich wird, so handelt es sich doch um eine Serie von Entscheidungsprozessen, deren Analyse uns dabei helfen kann, gegenwärtige Weichenstellungen besser zu verstehen und gegebenenfalls neu zu orientieren. Denn moderne Verfahren zur Informationssuche, -selektion, -sortierung und -hierarchisie-
Hofstadter, Douglas R.: »Number Numbness, or Why Innumeracy May Be Just as Dangerous as Illiteracy«, in: Scientific American 246 (1982), S. 20-34. 63 Best, Joel: Damned Lies and Statistics. Untangling Numbers from the Media, Politicians, and Activists, Berkeley: University of California Press 2001, S. 160. 64 R. Adler/J. Ewing/P. Taylor: Citation Statistics, S. 2.
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rung sind nicht mehr Kinder des Bibliothekszeitalters, sondern Anwendungen immer komplexerer mathematischer und algorithmischer Verfahren auf Informationseinheiten, deren Kontext und Inhalt. Die explosionsartige Verbreitung dieser Techniken ruft nach einer Politikwissenschaft des Algorithmus, nach einer Form der Analyse und Kritik, die zwischen der Oberflächlichkeit des Feuilletons und der Spezialisierung des Ingenieurwissens einen Raum schafft, in dem algorithmische Verfahren als das gedacht werden können, was sie sind: automatisierte Formen der Gestaltung von Kultur und Gesellschaft.
Abbildungsverzeichnis
Stefan Rieger: Abbildung 1: Bühler, Benjamin/Rieger, Stefan: Das Wuchern der Pflanzen. Ein Florilegium des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 223. Abbildung 2: Bühler, Benjamin/Rieger, Stefan: Vom Übertier. Ein Bestiarium des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2006, S. 189. Abbildung 3: Haeckel, Ernst: Kristallseelen. Studien über das anorganische Leben, Leipzig: Kröner 1925, Tafel III. Abbildung 4: Bühler, Benjamin/Rieger, Stefan: Das Wuchern der Pflanzen. Ein Florilegium des Wissens, Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2009, S. 204. Abbildung 5: Kupferstich von Georg Dionysius Ehret in: Linné, Carl von: Systema naturae, Leiden 1735. Daniel Weidner: Abbildung 1: Birck, Sixtus: Symphonia e syllexis tes Diathekes tes kaines, Novi Testament Concordantiae Graecae, Basel: Oporinus 1546. Abbildung 2: De Hamel, Christopher: Das Buch. Eine Geschichte der Bibel, Berlin: Phaidon 2002, S. 222. Abbildung 3: Lampe, G.W.H.: The Cambridge History of the Bible, Bd. 2, Cambridge: Cambridge University Press 1969, Tafel Nr. 40 (Anhang). Abbildung 4: Osiander, Andreas: Gesamtausgabe, Band 6, hg. von Gerhard Müller, Gütersloh: Mohn 1985, S. 127. Abbildungen 5 und 6: Osiander, Andreas: Gesamtausgabe, Band 6, hg. von Gerhard Müller, Gütersloh: Mohn 1985, S. 254f. Abbildung 7: Griesbach, Johann Jakob: Synopsis evangelicorum Matthei, Marci et Lucae, 3. Aufl. Halle: Curt 1809.
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Abbildung 8: Astruc, Jean: Muthmassungen in Betreff der Originalberichte, deren sich Moses wahrscheinlicherweise bey Verfertigung des ersten seiner Bücher bedient hat, Frankfurt a.M.: van Düren 1783. Abbildung 9: Holzinger, Heinrich: Einleitung in den Hexateuch, Bd. 2: Tabellen, Freiburg i. Br./Leipzig: Mohr 1893, S. 12. Abbildung 10: Eissfeldt, Otto: Hexateuch-Synopse. Die Erzählung der fünf Bücher Moses und des Buches Josua mit dem Anfange des Richterbuches, Leipzig: Hinrichs 1922, Appendix, S. 107*. Andreas Golob: Diagramme 1-8: Entwurf: Andreas Golob, graphische Ausführung: Daniela Schadauer. Markus Krajewski: Abbildungen 1-4: Krajewski, Markus: Der Diener. Mediengeschichte einer Figur zwischen König und Klient, Frankfurt a.M.: S. Fischer 2010, S. 152 (1), S. 153 (2), S. 161 (3), S. 163 (4). Abbildung 5: Lange, Anselm: Elektrische Tischklingeln. Einst riefen sie »Dienstbare Geister«, Kornwestheim: Minner-Verlag 1987, S. 17. Martin Schreiber: Abbildungen 1-4: Bush, Vannevar: »As We May Think. A Top U.S. Scientist Foresees a Possible Future World in which Man-Made Machines Will Start to Think«, in: Life 19 (1945), H. 11, S. 112-124: hier S. 123 (1), S. 112 (2), S. 114 (3), S. 124 (4).
Autorin und Autoren
Bauer, Volker, wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Herzog August Bibliothek (Wolfenbüttel), zuständig für das Tagungsprogramm, Studium der Geschichtswissenschaften und Germanistik an der Universität Bielefeld, ab 1989 Promotionsstudium am Europäischen Hochschulinstitut (Florenz), danach verschiedene Drittmittelprojekte, Forschungsschwerpunkte: Geschichte der höfischen Kultur und Gesellschaft sowie Presse-, Medien- und Kommunikationsgeschichte der Frühen Neuzeit, Wissens- und Mediengeschichte der Genealogie. Publikationsliste und weitere Angaben unter: http://www.hab.de/wir/ kontakte/bauer.htm Kontakt: [email protected] Brandstetter, Thomas, Studium der Philosophie an der Universität Wien und Promotion in Kultur- und Medienwissenschaften an der BauhausUniversität Weimar. Er war Assistent am Institut für Philosophie der Universität Wien und arbeitet derzeit bei eikones NFS Bildkritik in Basel. Forschungsschwerpunkt: Geschichte der wissenschaftlichen Einbildungskraft. Kontakt: [email protected] Cooper, Alix, Associate Professor für Geschichte an der State University of New York at Stony Brook (USA), Studium der Wissenschaftsgeschichte an der Harvard University, Cambridge, MA (USA), Forschungsschwerpunkte: Frühneuzeitliche Naturgeschichte(n) in Europa, Ursprünge der Umweltmedizin und Berufskrankheiten zwischen Renaissance und Aufklärung, Geschichte der Wissenschaftsgeschichte. Homepage: http://stony brookhistory.org/blog/alixcooper/ Kontakt: [email protected]
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Golob, Andreas, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Universitätsarchiv der Karl-Franzens-Universität Graz, Studium der Geschichte und Kunstgeschichte in Graz und Brighton (University of Sussex), 2009-2011 zudem Generalsekretär des »13. Internationalen Kongresses zur Erforschung des 18. Jahrhunderts« in Graz, Forschungsschwerpunkte: Regionale Printmedien des langen 18. Jahrhunderts in Innerösterreich, Sozialgeschichte der Medizin, Universitäts-, Bildungs- und Wissenschaftsgeschichte. Kontakt: [email protected] Hübel, Thomas, Studium der Germanistik und Philosophie an den Universitäten Wien und Freiburg i.Br. Übersetzungen und Mitarbeit bei Ausstellungen, seit 2006 Generalsekretär des Instituts für Wissenschaft und Kunst (IWK) in Wien. Weitere Informationen: http://www.univie.ac.at/iwk Kontakt: [email protected] Krajewski, Markus, Juniorprofessur »Mediengeschichte der Wissenschaften«, Bauhaus-Universität Weimar, Kulturwissenschaftler und Medienhistoriker, Gastprofessuren in Harvard und Berlin, Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Genauigkeit in den Wissenschaften, Diener, Epistemologien des Randständigen und Softwareentwicklung für Geisteswissenschaftler. Weitere Informationen: http://www.uni-weimar.de/medien/wissenschaftsge schichte/ Kontakt: [email protected] Rieder, Bernhard, Studium der Kommunikationswissenschaften und Geschichte in Wien, Informationswissenschaft in Paris, Webentwickler seit 1997, Doktoratsstipendiat und Maître de Conférences an der Universität Paris 8, seit 2011 Assistenzprofessor am Department of Media Studies der Universität Amsterdam. Forschungsschwerpunkte: Geschichte und Theorie algorithmischer Informationsverarbeitung, digitale Methoden in der empirischen Sozialforschung. Forschungsblog: http://thepoliticsofsystems.net Kontakt: [email protected] Rieger, Stefan, Professor für Mediengeschichte an der Ruhr-Universität Bochum. Arbeitsschwerpunkte: Wissenschaftsgeschichte, Medientheorie
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und Kulturtechniken. Weitere Informationen unter http://www.ruhr-unibochum.de/ifm/institut/mitarbeiterinnen/prof_rieger.html Kontakt: [email protected] Schreiber, Martin, wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Kultur- und Mediengeschichte der Universität des Saarlandes, Studium der historisch orientierten Kulturwissenschaften und der Informatik, Dissertationsprojekt zur Technisierung des Journalismus im digitalen Zeitalter. Weitere Informationen und Publikationen unter http://www.kmg.uni-saarland. de/~schreiber/index.htm Kontakt: [email protected] Tantner, Anton, Privatdozent für Neuere Geschichte an der Universität Wien, Studium der Geschichte und Kommunikationswissenschaften in Wien, 2004/5 Junior Fellow am Internationalen Forschungszentrum Kulturwissenschaften (IFK), 2012/13 Research Fellow ebendort, Forschungsschwerpunkte: Geschichte der Hausnummerierung, Frühneuzeitliche Adressbüros in Europa, Neue Medien in den Geschichtswissenschaften. Homepage mit ausführlicher Publikationsliste und »Galerie der Hausnummern«: http://tantner.net Kontakt: [email protected] Trüper, Henning, Postdoktorand an der EHESS, Paris. Studium der Geschichte, Philosophie und deutschen Philologie in Göttingen, Berkeley, Gent, 2008 Doktorat am Europäischen Hochschulinstitut, Florenz, 2009-11 Postdoktorand am UFSP Asien und Europa an der Universität Zürich. Forschungsschwerpunkte: Geschichte wissenschaftlicher Arbeitspraktiken und Schreibverfahren, Historiographie und orientalische Philologien im 19. und 20. Jahrhundert, Theoretisches zur historischen Zeit. Kontakt: [email protected] Weidner, Daniel, Komparatist und Germanist, Studium in Freiburg, Jena und Wien, 2000 Promotion, 2009 Habilitation an der FU Berlin, seit 2000 wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 2010 stellvertretender Direktor am Zentrum für Literatur- und Kulturforschung Berlin, Gastprofessuren in Stan-
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ford, Gießen, Basel und Chicago. Arbeitsschwerpunkte: Religion und Literatur, Literaturtheorie und ihre Geschichte, deutsch-jüdische Literatur. Kontakt: [email protected]
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Essen Zeitschrift für Kulturwissenschaften, Heft 1/2012
Mai 2012, 202 Seiten, kart., 8,50 €, ISBN 978-3-8376-2023-8 Der Befund zu aktuellen Konzepten kulturwissenschaftlicher Analyse und Synthese ist ambivalent. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften bietet eine Plattform für Diskussion und Kontroverse über »Kultur« und die Kulturwissenschaften – die Gegenwart braucht mehr denn je reflektierte Kultur sowie historisch situiertes und sozial verantwortetes Wissen. Aus den Einzelwissenschaften heraus wird mit interdisziplinären Forschungsansätzen diskutiert. Insbesondere jüngere Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen kommen dabei zu Wort. Lust auf mehr? Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften erscheint zweimal jährlich in Themenheften. Bisher liegen 11 Ausgaben vor. Die Zeitschrift für Kulturwissenschaften kann auch im Abonnement für den Preis von 8,50 € je Ausgabe bezogen werden. Bestellung per E-Mail unter: [email protected]
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