Zeichen, Prozesse: Grenzgänge zur Semiotik des Rechts [1 ed.] 9783428485178, 9783428085170


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German Pages 205 Year 1996

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Zeichen, Prozesse: Grenzgänge zur Semiotik des Rechts [1 ed.]
 9783428485178, 9783428085170

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Thomas-M. Seibert · Zeichen, Prozesse

Schriften zur Rechtstheorie Heft 174

Zeichen, Prozesse Grenzgänge zur Semiotik des Rechts

Von Thomas-M. Seibert

Duncker & Humblot · Berlin

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Seibert, Thomas-M.: Zeichen, Prozesse : Grenzgänge zur Semiotik des Rechts / von Thomas-M. Seibert. - Berlin : Duncker und Humblot, 1996 (Schriften zur Rechtstheorie ; H. 174) ISBN 3-428-08517-5 NE: GT

Alle Rechte vorbehalten © 1996 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0472 ISBN 3-428-08517-5 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Inhaltsverzeichnis Grenzgänge. Eine Einführung

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I. An der Grenze: Querulantenbriefe 1. Der Anspruch auf eine unendliche Prozeßgeschichte 2. Der Anspruch auf andere Richter 3. Vom Bürgerkrieg gegen die Fachsprache

18 19 23 27

II. Was man im Gericht weiß: Texte, Kontexte, Ergebnisse 1. Typen juristischen Wissens 2. Forensische Texte und Kontexte 3. Die forensische Praxis der Analyse 4. Die Repräsentationsform forensischer Ergebnisse und das präsentierte Formwissen

33 33 36 38

III. Das forensische Modell 1. Das Forum und die forensische Argumentation 2. Der Dialog als Lehrform 3. Das Auditorium als Garant universaler Richtigkeit 4. Die Kraft der Rechtssprache

45 45 50 53 56

IV. Semantische Kämpfe 1. Codierungen und Kämpfe 2. Der Kampf im gerichtlichen Prozeß 3. Der Kampf um höhere Symbole

61 61 66 71

V. Das Dispositiv des Urteils: Feststellungen zur Vergewaltigung 1. Dispositive: Handlungen und Urteilssätze 2. Die Feststellungen zur Person 3. Die Tat 4. Reden und Schweigen gegenüber den Feststellungen

79 79 86 90 99

VI. Der Doppelcharakter des Zeichens im Prozeß 1. Die einfache Vorstellung von einer doppelten Funktion: Signifikant und Signifikat 2. Doppelt besetzte Rollen und einfache Lügen 3. Doppelte Vorstellungen 4. Von Paragraphen und Pfropfungen

106

41

106 109 112 114

Inhaltsverzeichnis

6

5. Der Gesetzestext und seine Konkretisierung zur Norm 6. Zum Beispiel: Das salomonische Urteil

117 121

VII. Im Dom. Vom Prozeß der Interpretation

125

VIII. Dupin, Raskolnikow, Ripley: Der abduktive Schluß verschwindet.. 1. Der abduktive Schluß 2. Der Detektiv Auguste Dupin in Poe's "Murders in the Rue Morgue" 3. Die Transformation des Geschehens in den geständigen Satz: Rodion Raskolnikow 4. Geständnis und abduktiver Schluß im Rechtscode 5. Ripley under ground / under water: Das Verschwinden des abduktiven Schlusses

134 134 136 139 145 148

IX. Räume, Gänge, Säle 1. Der Raum - (k)ein Zeichen 2. Die Geschichte eines Raums von Bedeutung 3 . Unbedeutende Geschichten gegen vorherrschende Bedeutungen 4. Die Pragmatik der Semantik 5. Gänge 6. Säle 7. Ein Sitzungssaal im Kriminalgericht Berlin-Moabit 8. Der Blick auf die Wahrheit 9. Die Bedeutung des Raums für die imaginäre Szene der Gerechtigkeit 10. Wahrheiten im Zwischen-Raum

155 155 157 159 162 165 167 168 170 172 174

X. Frömmigkeit in den Erzählungen über das Recht 1. Hiobs Botschaft 2. Protest und Verheißung 3. Die Umtauschbarkeit der Plätze im Rechtsdiskurs 4. Die Vertauschung der Satzordnungen 5. Subjektlose, gottlose Frömmigkeit

177 177 180 182 186 189

Literaturverzeichnis

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Namen- und Sachregister

202

Grenzgänge Eine Einfuhrung Grenzgänge zur Semiotik des Rechts fuhren nicht zu Lehrbüchern über juristische Semiotik. Die Zeit der Lehrbücher liegt in der Vergangenheit oder in der Zukunft. In der Vergangenheit hatte man die Gewißheit, auf ein ausgearbeitetes Konzept von großer Reichweite bauen zu können, durfte deshalb vom Allgemeinen zum Besonderen schrittweise vorrücken und die Fülle der Differenzierung systematisch zum Ausdruck bringen. Soweit die Klassiker der Semiotik wie Charles Morris oder Ferdinand de Saussure sich derart enzyklopädisch geäußert haben,1 gehört die Enzyklopädie vergangenem Wissen an. In der Rechtswissenschaft haben die dogmatischen Disziplinen Lehrbücher hervorgebracht, und gelegentlich werden - wenn auch außerhalb von Dissertationen immer seltener - Einzelabhandlungen mit systematischem Anspruch und theoretischer Anschlußfähigkeit vorgelegt. Aber in der Rechtstheorie gibt es seit man von ihr spricht - kaum Lehrbücher. Sie ist ein Fach der Sammelbände, Aufsatzsammlungen, Abhandlungen zu Ansätzen und Einzelaspekten. Das liegt nicht daran, daß in einem mit der Theorie und Beobachtung des juristischen Handelns befaßten Fach schon alles bekannt wäre oder früher veröffentlicht und zum Sammeln bereit läge. Es ist ein Ergebnis des kurzen Atems (aber wer möchte noch langatmig schreiben) und der knappen Zeit (aber wer hat Muße etwa für die Interpretation von Gerichtsverhandlungen). Vielleicht liegt die Zeit der Lehrbücher auch in der Zukunft. Vielleicht beginnt sie, wenn aus der Fülle der Aspekte und Ansätze eine auch nur im Ansatz verbindliche Praxis der Beobachtung erwachsen ist. Meine skeptischen Bemerkungen sollen helfen, den Charakter der vorliegenden "Grenzgänge" zu verstehen. Die Semiotik des Rechts existiert in der alltäglichen Praxis eines jeden Juristen; als Lehrbuch steht sie weiterhin aus. Das Lehrbuch über 1. Juristische Zeichen, 2. Zeichenketten im Rechtsdiskurs, 3. die Pragmatik des Rechtsverfahrens, 4. die Semantik besonderer Rechtsgebiete und 5. die Wirkungskraft der gesetzlichen Interpretanten wird weiter vorbereitet. Vorläufig ordnet man Semiotiken ein zwischen allgemeinen Rechtslehren, speziellen Soziologien und analytischen Prozeßbeobachtungen, und vorläufig tue ich so, als könne man Begriffe wie "Zeichen", "Diskurs", "Semantik", "Pragmatik" oder "Interprétant" als Mittel für Grenzziehungen verwenden, um 1

Posner, Morris, S. 51, und Krampen, Saussure, S. 27 ff.

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Grenzgänge

im Abgegrenzten etwas zu sehen, was zuvor unbemerkt blieb. Mir ist die erstaunte und gelegentlich verärgerte Reaktion bekannt, mit der manche Juristen meinen, sie hätten die Welt zuvor gut verstanden und alles Notwendige beherrscht, nur mit den neuen Worten gerate man unversehens in Unverständliches. Der Einwand ist - wie man in hermeneutischer Sprechweise sagt - unhintergehbar. Die Beobachtung des Rechts enthält die Zumutung, mit weniger Worten, als sie das praktizierte Recht enthält, mehr zu beschreiben, als man vorher sah, und dabei bemerkt man auch noch, daß schon das praktizierte Recht selbst mit weniger Worten, als sie die Umgangssprache enthält, mehr darstellt, als im alltäglichen Umgang offenbar wird. Die Zusammenfassung vervielfacht sich also durch Semiotik, und gleichzeitig treten Einzelheiten des Rechtsbetriebs in den Mittelpunkt, denen in der geläufigen Praxis keine oder wenig Relevanz beigemessen wird. "Grenzgänge" ist ein Titel von Ernst Jünger, zuerst verwendet für eine, kleine Sammlung von Essays über Entsprechungen und Gesetze oder - wie Jünger es sah - den Korrespondenzen zwischen Natur- und Rechtsformen. "Rechtsformen ", meinte Jünger zum Beginn seiner Grenzgänge, "stützen sich wie alle Lebensformen auf physikalische Grundlagen";2 was diesem Beginn folgt, sind sprachliche Ausflüge eines Naturbeobachters, in die gleichförmig gedachte Welt des Gesetzes. Der Titel "Grenzgänge" hat heute vor allem Anklang an die Randgänge von Jacques Derrida. "Marges de la Philosophie", ein bereits 1972 erschienenes Werk mit gesammelten Aufsätzen, darunter die wegweisende Studie zu "Signature Evénement Contexte" erhellt Ränder, Marken, Grenzmarkierungen eines Fachs, das davon lebt, sich unablässig in Frage zu stellen. In der Philosophie ist die Semiotik in Gängen an die Grenze möglichen Ausdrucks und möglicher Beschreibung entdeckt worden. Die Theorie, Welt zu bezeichnen, ist wegen ihrer Sprachbedeutung zuerst in der Sprachwissenschaft rezipiert und praktiziert worden, stammt aber nicht aus ihr. Die Theorie, Recht und damit einen Teil der beobachtbaren Welt zu bezeichnen, ist so sehr ins Zentrum des juristischen Fachs vereinnahmt worden, daß es schwerfallt, die Mitte des rechtlichen Handelns zu beobachten und sie als Mitte wahrzunehmen. Das macht die Schwierigkeiten einer systematischen Beschreibung aus und verlangt Fremdheit in der Beobachtung. Man muß in das Rechtsland einreisen und sich ein Erstaunen in der Beobachtung bewahren, damit man für Rechts-Ausländer beschreiben kann, was man dort wahrnimmt. Grenzgänge verlangen, eine Grenze zu ziehen oder - wenn die Grenze schon gezogen ist zu entdecken, daß man eine Grenze überschreitet. Die semiotische Perspektive eröffnet sich in der Beobachtung von außen und darf infolgedessen nicht als selbstverständlich übernehmen, was die Einwohner des inneren Rechtsbereichs als ihre Sichtweise anbieten. Wie bei jedem Grenzgang steht neben dem äußeren, fremden Bereich, aber auch der innere, eigene. Der Grenzgänger reist 2

Jünger, Grenzgänge, S. 80.

Eine Einführung

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auch ein, er muß sich auskennen und Unterschiede im Inland wahrnehmen. Auch diese Eigenheit der Beobachtung müssen wir erst lernen, insbesondere in der regelmäßig "interdisziplinär" genannten Perspektive. Die Denunziation beendet alle Grenzgänge. Ich fühle mich weder als Denunziant noch als Verteidiger einer von mir auch praktizierten Justizform. Aber es mag für das Verständnis der folgenden Texte erwähnenswert sein, daß ich seit 1977 im Zusammenhang der Deutschen Gesellschaft für Semiotik theoretisch und seit 1982 beim Landgericht in Frankfurt a.M. als Richter, inzwischen als Vorsitzender einer Strafkammer wie auch einer Zivilkammer arbeite. In diesen Rollen wird man zum Grenzgänger, unabhängig davon, ob Derrida's Randgänge einen wiederkehrenden Ort in der theoretischen Landschaft beschreiben oder nicht. Grenzgänge verlangt die richterliche Arbeit ohnehin - jedenfalls heute für die Angehörigen der nach Lautmanns einjährigem Frankfurter Justizaufenthalt praktizierenden Generation. Ich will an diesen Grenzgang erinnern, der in der rechtstheoretischen Gemeinde fast schon wieder vergessen, aber immer noch lesenswert ist: Rüdiger Lautmann, Soziologe und Gerichtsassessor, ließ sich 1970 in den hessischen Justizdienst einstellen. Daß der im Buch sorgsam geheimgehaltene Gerichtsort Frankfurt heißt, ist 25 Jahre später kein Geheimnis mehr. Einige von Lautmanns Zeitgenossen meinten dennoch, einen Denunzianten in ihren Reihen gehabt zu haben. Lautmann berichtet über seine Ausflüge in 289 kurzen bis kürzesten Szenen. Sie bestehen in der Minimalform aus zwei Sätzen3 wie: (233) "Eine Ehescheidung wird beraten; der Vorsitzende und ich wollen der Klage stattgeben, der dritte Richter, C., nicht. Schließlich sagt C: 'Machen wir's. Ich

will den Betrieb nicht aufhalten Kursivierungen waren für Lautmanns Schilderungen in jeder Szene wesentlich. In ihnen soll der kommunikative Akt offenbar kondensiert sein, die Beobachtung kann dann in eine soziologische Deutung überführt werden. Seine Erkundungen im fremden Gerichtsland unternahm der damalige Assessor Lautmann (im Bewußtsein, daß der Gerichtsdienst wie der Wehrdienst enden und man sich einer ordentlichen - hier soziologischen - Beschäftigung wird widmen können) aus dem Zentrum soziologischer Beobachtung. Die zentrale Beobachtungsgrundlage wird angegeben, war und ist aber nicht aufregend neu und - sieht man näher zu - noch nicht einmal so unterschieden vom juristischen Selbstverständnis, wie Lautmann damals meinte.4 Sie hält sich an das Schema "Sammeln von Tatsachen - Auswahl zwischen Normen - Festlegung 3

Lautmann, Justiz, S. 172.

4

Ebd., S. 14 f.

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Grenzgänge

einer Alternative" und bleibt damit im dogmatischen Bezugsrahmen. Ich erwähne diese Arbeit und ihre Methode, weil ich mich an verschiedenen Stellen habe fragen müssen, was ich hier schreibe, wenn ich beschreibe oder ein Thema mit literarischem Hintergrund behandle. Gegenstand der folgenden zehn Abhandlungen sind Taktiken, Theoreme und vor allem Texte, dabei - soweit es praktische Texte sind - immer solche, mit denen ich auch als Richter befaßt war. Gegenstand ist aber auch die literarische Tradition des Prozesses und damit Schriften theoretischer wie ästhetischer Herkunft über das Gericht. Anders als Lautmann ist mir die Justiz nicht nur fremd. Ich lebe auch in ihr. Ich erlebe sie auch nicht nur untheoretisch. Die prozessuale Praxis repräsentiert wenn auch in zeichenhaft verkürzter Form - Theorie. Man findet solche Theorie bis in den oben zitierten Rückzug, "den-Betrieb-nicht-aufhalten" zu wollen. Mit solchen Theorien oder Perspektiven lebe ich. Aber die Erlebnisse gehen nicht "ohne Rest" in den praktizierten Theorien auf. Lautmanns Impuls, schreiben zu müssen, worüber und wie man urteilt und begründet, seine Neugier zu beschreiben, was man innerhalb der Gänge der Justiz sehen und hören kann, standen am Anfang dieser Grenzgänge. Völlig im Zentrum wären sie nicht zustandegekommen. Den theoretischen Anreiz für Grenzgänge will ich noch vertiefen. Für die deutsche Ausgabe der Arbeiten von Jacques Derrida ist der Titel "Randgänge" verwendet worden. An den Rand seiner Arbeiten fuhren die hier vorgelegten Studien mehr oder weniger nah. Jeder Beitrag nimmt in anderer Form Ansätze der französischen Semiologie auf und gewinnt mit der binären Teilung des "Zeichens" in Signifikanten und Signifikate eine Beobachtungsperspektive auf Prozesse. "Zeichen" in "Prozessen" sind die Elemente des Zeichenprozesses. Die Redeweise nimmt schon den Gehalt der weiteren Arbeiten auf. "Zeichen" sind die Subsegmente von "Prozessen". Sie stellen Zusammenfassungen von Textabschnitten oberhalb der lexikalischen Ebene und unterhalb des Textes als Ganzem dar. Praktische Disziplinen wie die Jurisprudenz zwingen zu einem Zeichenverständnis, bei dem nicht mehr jedes Wort und jeder Satz von gleicher Gültigkeit und Wichtigkeit sind, obwohl die juristische Interpretation auf der Satz- und sogar Wortebene anzusetzen scheint und damit den Eindruck erweckt, jede Mund- oder Schreibbewegung sei von ungeheurer und unübersehbarer Bedeutung. Dieser Eindruck begründet den Arkanbereich der Disziplin; sie schließt alle diejenigen aus, denen es nicht gelingt, zeichenorientiert zu handeln, d.h. denen das Wissen fehlt, wie sich die Bedeutungen eines Zeichenkomplexes stufenweise abschichten und unterscheiden lassen. "Zeichen" sind auf der Ebene des forensischen Handelns und der dort maßgeblichen Texte gerade nicht die Buchstabenzeichen des Worts oder die nur - augenfälligen Kleidungszeichen der Berufsjuristen. Vom Buchstaben bis zur Robe muß eine semiotische Perspektive reichen, sie verkettet damit einzel-

Eine Einführung

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ne Zeichen zu übergreifenden Zusammenhängen, so daß in neuerer Sicht auch regelmäßig von "Zeichenketten" die Rede ist. "Prozesse" sind die Zeit- und Erlebenseinheit jedes forensisch handelnden Juristen. Im gerichtlichen Forum werden damit Anfang und Ende eines nach Regeln geführten - und damit bereits in Zeichenkomplexen festgelegten - Verfahrens bezeichnet, und auch außerhalb des Gerichts umfaßt der Begriff "Fall" einen ähnlichen Handlungszusammenhang, auch wenn er nicht mit der Terminologie und den Sanktionsfolgen einer Prozeßordnung versehen, in der Zeit gegliedert und mit eigener Folgerungslogik ausgestattet ist. Ein "Prozeß" beginnt nicht, bevor nicht ein Rechtsanwalt eine Handakte angelegt oder ein Kriminalbeamter einen Aktenvorgang eröffnet hat. Er endet nicht, ehe nicht die professionell Beteiligten und in der Situation Betroffenen das Ende des Vorgangs feststellen. Damit unterscheidet sich der Prozeßbegriff mit einem wesentlichen performativen Element von den alltäglichen Handlungsvorstellungen. Niemand kann allein über Anfang und Ende eines (juristischen) Prozesses bestimmen, und niemand kann das insgeheim tun. Prozesse haben einen kommunikativen, öffentlichen und nach zeitlichen Regeln gegliederten (verfahrensmäßigen) Ablauf. Sie enthalten Zeichen und sind auf Bezeichnungen angewiesen. Die beiden nebeneinander gesetzten Terme "Zeichen, Prozesse" werden zwanglos auch als "Zeichenprozesse" ausgesprochen und bezeichnen damit den Übergang von der Analyse einzelner Textsegmente zur Interpretation des gesamten Zeichenprozesses. Der "Zeichenprozeß" ist ein Kunstwort der Semiotik, das die Forschung in den Einzelwissenschaflen beflügelt. 5 Folgerichtig fand die erste Tagung der Gesellschaft für Semiotik unter diesem Titel statt: Zeichenprozesse. Die zusammenfassende Bezeichnung konzentriert die Beobachtung auf die Szene, in der ein Diskurs stattfindet. In den Hintergrund treten die manchmal künstlichen Differenzierungen nach der Art und Weise der Übermittlung von Zeichen (dem "Kanal"), nach "Sender" und "Empfänger". Dem Konzept des Zeichenprozesses liegt die Vorstellung zugrunde, daß Zeichen sich selbst prozessieren und in jedem Abschnitt dieser Prozedur in der Art und Weise zu erfassen sind, die genau diesen Abschnitt selbst kennzeichnet. Wieviel Zeichen, so viel Zeichenprozesse. Die Sender und Empfänger stehen beiseite. Durch sie wird gewissermaßen hindurch prozessiert. Sie sind zufällige Schnittstellen des Prozesses. Diese Sichtweise betont die Singularität jedes semiotischen Ereignisses und verleiht einem Text - sei er nun wissenschaftlicher, praktischer oder philosophischer Provenienz - gewisse ästhetische Qualitäten, die erst im Nachvollzug oder in der Dekonstruktion dieses Textes als je besonderem Zeichenprozeß ersichtlich werden. Der nucleus des semioti* Posner / Reinecke, Zeichenprozesse, S. 5.

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Grenzgänge

sehen Prozesses wird im différend Lyotardscher Prägung sichtbar. Neben den "Marges de la Philosophie" und der neuen Programmschrift über "Force de Loi" von Derrida hat insbesondere das Konzept des différend , wie es von Lyotard eingeführt worden ist, wesentlichen Anteil an meiner Perspektive auf Prozesse. "Une phrase arrive. Comment enchaîner sur elle?" heißt die Frage des différend, so wie Lyotard 6 sie als "fiche de lecture" dem Leser auf den Weg gibt. Ein Satz kommt an und geschieht; damit beginnt schon die Welt des Diskurses, denn der zweite Satz, der sich mit dem ersten verkettet, kann das nur aufgrund einer unterstellten oder definierten Regel tun. Die Regel definiert gleichzeitig alles weitere, nämlich die konkrete Diskursart (genre de discours). 1 Diese sprachliche Verkettung ereignet sich nicht nur zufallig, sondern zwangsläufig, denn der Satz ereignet sich (il arrive). Man muß sich mit ihm verketten. Man kann nicht nichts tun und etwa schweigen, denn das Schweigen würde auch eine mit durchaus präzisen Regeln bestimmte Fortsetzung des angekommenen, des ersten Satzes darstellen. Unendlich viele Prozesse gehen daher monadenartig durch die Welt des Diskurses, sie begründen noch mehr Diskurse, als es erste Sätze gibt, denn die Verknüpfungsformen sind vielfaltig. Das macht es einfach und schwierig zugleich, Grenzen zu erkennen. Jede Diskursart grenzt sich von jeder anderen ab, und die Frage lautet eher: Wie ist es überhaupt möglich, so etwas wie Verständnis, so etwas wie Einklang durch Satzverkettungen je subjektiv-regelbestimmter Art zu erzielen? Sie greifen dem Ergebnis vorweg - warnt Lyotard. Vous préjugez du Arrive-t-il. s Nach dieser Atomisierung des sonst immer schnell beschworenen Zusammenhangs zwischen dem Recht im besonderen und der Welt im Ganzen darf sich der Blick auf einige Merkwürdigkeiten aus der Welt der Justiz richten. Wenn ich beginne, die folgenden Beiträge kurz in den eben eingeführten Zusammenhang zu stellen, wird man bemerken, daß ihre Reihenfolge möglich, aber nicht zwingend ist. Beginnen wie enden kann die Leserin an jeder Stelle, die sie wählt. Ich beginne mit der Interpretation von "Querulantenbriefen". Querulantenbriefe - das ist zunächst einmal nur Post, die mir geschickt worden ist und die den Absendern gegenüber nicht beantwortet werden kann. Warum es keine Antwort gibt und warum die Unmöglichkeit einer Antwort nicht mit dem guten Willen zu einer "bürgerfreundlichen" Justiz gebrochen werden kann, ist Thema eines theoretischen Exkurses zu den Zwängen der Fachsprache und 6

Lyotard, différend, S. 10.

7

Ebd., S. 187.

8

Ebd., S. 260.

Eine Einführung

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zum meist unbemerkten Kriegszustand, den diese Sprache für Kriegswillige eröffnet. Der Beitrag hat eine längere Vorgeschichte und ist neu konzipiert worden in einem Kolloquium, das ich am juristischen Fachbereich der Universität Frankfurt 1993 gehalten habe. Was man im Gericht weiß, kann man besser gegenüber denjenigen beschreiben, die nicht meinen, über das notwendige Wissen schon zu verfugen. Das habe ich 1989 bei einem Kolloquium im Zentrum für interdisziplinäre Forschung der Universität Bielefeld getan, zu dem Harm Paschen9 als über Pädagogik argumentierender Wissenschaftler eingeladen hatte - im Fach "Erziehungswissenschaft", dessen Theorie mit den gleichen Schwierigkeiten zu kämpfen hat, wie sie die Rechtstheorie in der Jurisprudenz antrifft. Texte, Kontexte und die Repräsentationsform der Ergebnisse waren bei dieser Gelegenheit von verschiedenen Disziplinvertretern für ihren je eigenen Bereich vorzustellen. Vielleicht ist dieses Kapitel dementsprechend einfach und lehrhaft ausgefallen - eben für einen Einstieg ins Prozeßthema geeignet. Die Diskussion über das forensische Modell hat 1987 im Arbeitskreis für Rhetorik begonnen, an dem ich verschiedentlich - als auch forensischer Praktiker - teilgenommen habe.10 Insbesondere Josef Kopperschmidt hat die mögliche Modellfunktion der juristischen Argumentation hervorgehoben und darauf bestanden, daß im Recht mehr als beliebiges professionelles Handeln zu leisten ist.11 Wenn in der Gerichtsrede Anklagen formuliert, Verteidigungen vorbereitet und Urteile gesprochen werden, brauchen alle Beteiligten dafür Gründe. Durch die Art und Weise, wie man vor Gericht nach Gründen und Gegengründen sucht, wird der Sonderfall des Prozesses modellhaft. Er zeigt nicht nur den Beteiligten, wie die Suche nach Begründungen ablaufen muß und wie die Ergebnisse zu bewerten sind. Die gerichtliche Kommunikation als Modell beruht ihrerseits darauf, daß in das formale Verfahren philosophische Ansprüche und Grundlagen Eingang gefunden haben, die wirksam sind, selbst wenn die Handelnden es nicht wissen. Die im gerichtlichen Verfahren gefundenen Ergebnisse können grundsätzlich auf allgemeine Anerkennung rechnen. Sie gelten als wahr, sie bestehen nicht nur vor dem gerichtlichen Auditorium, und sie machen alle anderen, die dem Spruch nicht folgen wollen, jedenfalls zunächst sprachlos. Diese drei Modellfunktionen werde ich mit den dazugehörigen Philosophien vorstellen. Man darf den Modellcharakter nicht überbewerten, denn nicht nur das Modell selbst, sondern jeder einzelne prozessuale Zug sind semantischen Kämp9 10 11

Paschen / Wigger, Argumentieren, S. 10 und 45 ff. Seibert, Modell, S.251. Kopperschmidt, Argumentation, S. 21.

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Grenzgänge

fen ausgesetzt. Man verläßt sich also besser nicht auf modellhafte Ergebnisversprechen, falls überhaupt ein Vertreter der Disziplin sich noch anheischig macht, Ergebnisse vorherzusagen. Die Rede von "semantischen Kämpfen" ist außerhalb der Rechtsdiziplin in Linguistik und historischer Sozialwissenschaft entstanden. Sie ist im Rahmen der Heidelberger rechtslinguistischen Untersuchungen fiir den Rechtsbereich übersetzt worden als Streit um die Gebrauchsweisen eines gesetzlichen Ausdrucks.12 Meine Beispiele dazu berühren zwei Bereiche: einmal die intern prozessuale Auseinandersetzung über die Wahrheit gerichtlicher Feststellungen, zum andern die extern gesellschaftliche Diskussion über die Bestimmung und Verwendung historischer Ausdrücke in Gerichtsurteilen. Gerade in dieser zweiten Hinsicht ist die rechtspolitische Diskussion heftig geworden.13 Sie beklagt laxen Umgang mit der Etikettierung von Soldaten als Mördern, und sie richtet sich gegen die Leugnung der Judenmorde, eines der zeitgenössischen Beispiele der Volksverhetzung. Die Beobachtung solcher semantischen Kämpfe im Rahmen einer semiotisch-prozessualen Untersuchung richtet sich auf die Rückwirkungen auf das Justizsystem selbst und die in ihm üblichen Wahrheitsmaßstäbe. Beobachtung und Ergebnisse bleiben naturgemäß unabgeschlossen. Das Konzept des semantischen Kampfs könnte aber den Beteiligten - falls sie in der Lage sind, das zukünftig wahrzunehmen - deutlich machen, daß jeweils auf Grenzverletzungen in umstrittenen Bereichen und nicht über selbstverständliche Wahrheiten zu entscheiden ist. Trotz aller Hinweise auf die Vielfalt juristischen Handelns steht nach wie vor eine besondere Textform im Vordergrund: das Urteil. Dafür gibt es einen semiotischen Grund. Das Dispositiv des Urteils faßt Handlungen und Taktiken, Texte und Begründungsformen in einer markanten Weise zusammen und stellt die Handlungsform öffentlich dar. Urteile repräsentieren den dispositiven Zusammenhang des Diskurses, wie er sich in Fällen der Vergewaltigung beispielhaft zeigt. Täter, Tat und Abwehrstrategien werden im Urteil verarbeitet und begründen eine Sanktion in einer Deliktskategorie, die seit jeher zum Kernbereich des Strafrechts gehört. Die Gesichtspunkte zur Rolle des Angeklagten habe ich zum erstenmal 1990 auf dem 6. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Semiotik vorgetragen. Die hier vorgelegte Fassung verarbeitet konkrete Urteilsbegründungen. Im Jahre 1989 auf dem Weltkongreß der Internationalen Gesellschaft für Semiotik in Perpignan habe ich unter dem Titel "Double Scène de la Magistrature" die fünf Dopplungen zur Diskussion gestellt, die den Doppelcharakter des Zeichens im Prozeß ausmachen. Der französische Tagungsort erlaubte eine 12

Wimmer/Christensen, Probleme, S. 40 f.

13

Seibert, Durchschnittsleser, S. 355 f.

Eine Einführung

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vertiefte Diskussion der französischen Semiologie mit Ausflügen in die Schriften von Lacan, Deleuze und Derrida, die wesentlichen Anteil am binären Zeichenkonzept haben. Die Verdopplung in Signifikanten und Signifikate, die doppelten Parteirollen und die mit ihnen verbundenen doppelten Reflexionen der prozessualen Szene bilden die Grundlage für das veränderte Verständnis der Zeichen im Prozeß. Die Veränderungen zeigen sich an der Aufpfropfung von Inhalten durch "Paragraphen", einem Vorgang, der sich schon im Ausdruck an die von Derrida beschworene Tätigkeit des "greffer" und des Zeichens als "graphe" anlehnt; und schließlich führt der Doppelcharakter zu einem neuen Verhältnis zwischen Gesetzestext und Norm, dem die "Strukturierende Rechtslehre" eine Mehrzahl von Beiträgen gewidmet hat. Rechtskonkretiesierung: diese Formel markiert den Einstieg in ein semiotisches Verständnis des Prozesses. Das abschließende Beispiel, den Exkurs zum Richterspruch Salomos, habe ich im letzten Jahr in Bordeaux auf der 10. Tagung der International Association for the Semiotics of Law vorgestellt unter dem Titel: "Solomo's image injustice". Am Anfang meiner theoretischen Behandlung des Rechts stand 1978 der zusammen mit Klaus Lüderssen herausgegebene Band "Autor und Täter". Mit Lüderssen14 habe und hatte ich den Eindruck, daß sich die wesentlichen Textentwicklungen und Textveränderungen nicht etwa in der Rechtsdisziplin autonom ereignen, sondern als "Spiegelung" zeitgenössischer literarischer Erzeugnisse aufzufassen sind. Die Einheit in den Textdisziplinen und -entwicklungen ist aber nur zu erkennen, wenn man inhaltliche Vergleiche anstellt. Zwei meiner Beiträge beruhen auf solchen literarischen Annäherungen. Für den Versuch über Franz Kafka haben Jerusalem und die 9. Jahrestagung der IASL das Forum abgegeben. An welchem anderen Ort hätte man den Text eines jüdischen Juristen deutscher Sprache aus dem böhmischen Prag interpretieren sollen, wenn nicht im multikulturellen Jerusalem; welche andere Parallele für die unendliche Interpretationsarbeit des juristischen Fachs gäbe es, wenn nicht die Schrifttradition der talmudischen Exegese, an die sich Kafka anlehnt? Das Kapitel Im Dom aus dem "Proceß"-Roman handelt vom Prozeß der Interpretation, wobei ich die Interpretation der Türhüter-Parabel als Vorlage für die strukturelle Beschreibung von Unabgeschlossenheiten nehme. Die Täuschung über die Wahrheit des Ergebnisses und die Ahnung einer "leeren Mitte" sind im Rechtsfach mit seinen Scheinpräzisionen nicht zu erfahren. Dazu bedarf es der literarischen Metapher. Ebensowenig sind die detektivische Wahrheitssuche und der Indizienschluß aus dem Rechtsfach oder aus der zeitgenössischen Kriminalistik abzulesen. Die Figur des Detektivs entsteht und verschwindet in der Reihe Dupin, Raskolnikow, Ripley , und wer erfahren will, was denn ein schulmäßiger Indizienschluß sei, erfährt aus der kleinen, 150 Jahre alten Er14

Dessen Arbeiten 1991 unter dem Titel "Produktive Spiegelungen" erschienen sind.

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Grenzgänge

zählung von E. A. Poe über die Morde in der rue Morgue immer noch Lehrbeispiele. Diese Tradition stelle ich vor, um die Veränderungen abzuschätzen, die sich aus ihrem teils langsamen, unbemerkten, teils als "Handel mit Gerechtigkeit" attackierten Verschwinden ergeben. Schon der zeitgenössische Kriminalroman bietet dem Leser nicht mehr den Indizien prüfenden Detektiv, sondern den handelnden Draufgänger. Die zeitgenössische Justiz verfährt weniger draufgängerisch, aber sie handelt. Sie handelt Geständnisse aus, weil der geständige Satz sich von seinem semiotischen Ursprung aus dem abduktiven Schluß entfernt hat. Schon den Ausdruck "Abduktion" hat mit Ausnahme von Klaus Lüderssen15 in der Rechtstheorie niemand weiterentwickelt. Darum geht es in der Analyse von drei Romanfiguren. Die Semiotik ist aber keine Unterabteilung von Linguistik und Literaturwissenschaft, wie manche Beobachter glauben und woran die Diskussionspraxis der Theorie nicht selten auch zu glauben veranlaßt. In der Regel werden eben Sprachprodukte untersucht, die dann auch noch so komplex sind, daß der Ertrag der Analyse hinter dem allgemeinen Verstehen zurückbleibt. Denn der semiotische Blick ist differenzierender, dualistischer Art. Er unterteilt ein Ganzes in zwei Teile und stellt einen davon hinter den Vorrang des anderen, wobei neuerdings das Interesse fur Signifikanten das an Bedeutungen überwiegt. Es bleibt ein methodisches Postulat, diesen Blick auf Objekte zu werfen, die nicht schon sprachlich gefaßt sind. Räume, Gänge, Säle fuhren in eine Serie ein, die sich ergänzen läßt und die Raumbedeutung erfaßt. Räume, Gänge und Säle sind die Signifikanten des Raums. Als die Gerichtsbehörden in Frankfurt zum 100jährigen Bestehen des früher sog. "Altbaus" oder "Justizpalastes" eine Festschrift planten, habe ich den Bau zum Anlaß genommen, Bedeutungen im Hintergrund, verdeckte und vergessene Bezeichnungen, erzählte und belachte Geschichten über Räume aus den alten Gerichtsakten zusammenzustellen.16 Im Rahmen einer von Frank Rotter konzipierten Arbeitstagung über Psychiatrie, Psychotherapie und Recht habe ich einen semiotischen Vergleich zwischen Gerichtssaal und Richterbank sowie Behandlungszimmer und Diwan des Analytikers vorgenommen.17 Aus beiden Vorarbeiten ist der hier vorgelegte Beitrag entstanden, dessen semiotische Leitdifferenzierung aus der Veränderung von Vorder- und Hintergrundsverhältnissen bei der Wahrheitssuche stammt. Mit Frömmigkeit kann man eine Sammlung von Beiträgen zur Semiotik des Rechts nur beschließen. Das Thema ist in vielfaltig vermittelter und verschlungener Weise einer Vortragsgelegenheit in Friedrich Lachmayers Wiener 15

Mit der Aktualisierung in: Lüdersssen, Regel und Fall, S. 134 f.

16

Nachzulesen in: Seibert, Geschichten aus dem Altbau.

17

Seibert, Orte der Wahrheit, S. 170.

Eine Einführung

17

Seminar "aus Semiotik des Rechts" geschuldet. Wenn man im Schottenkloster wohnt und den Blick auf die Wiener Hofburg einbezieht, müssen sich die diskutierten Konzepte etwa an die Literatur eines Autors wie Joseph Roth annähern. Dazu lädt der letzte Beitrag ein. Frömmigkeit wird als ein Zeichen des Rechts verstanden, das sich über eine biblische und eine literarische Annäherung an die "Hiobsbotschaft" erschließen läßt. Wir entfernen uns von aktuellen Prozessen. Ich meine, daß dieser Abstand nötig ist, um einen Blick für den verpflichtenden Charakter des Rechts zu bekommen oder zu bewahren, und es ist auch am Ende wieder die Semiologie Lyotards, die zeigt, daß diese obligation keine schlichte Wiederkehr des metaphysischen Glaubens ist. Vom angloamerikanischen Nützlichkeitsdenken über die neue Wiederbelebung der Rhetorik bis zum Rekurs auf Kommunikationstheorien ist der imbedingt verpflichtende Charakter des Gesetzes unbemerkt in den Hintergrund getreten. Die Verpflichtung stammt nicht aus dem Diskurs selbst. Es bedurfte der ganz entfernt wirkenden Annäherung von Derrida zur "force de loi", um klarzumachen, worum es in Prozessen geht. Deren Verbindlichkeit ist nicht an Gottesglauben gebunden, denn das Gesetz wohnt auch in gottloser Frömmigkeit. Die Reihenfolge der Beiträge kann man ändern. Man kann jeden für sich lesen, und fast an jeder Stelle beginnen. Aufhören kann man nach einem berühmten Wittgenstein-Wort mit dem Philosophieren ohnehin immer. Keiner der nachfolgenden Beiträge ist in dieser Form an anderer Stelle vorveröffentlicht worden. Anderseits beruhen alle Beiträge auf Vorüberlegungen und eigenen Vorarbeiten, die ich zitiert habe und die andere, deren Arbeiten ich lese oder mit denen ich diskutiere, ihrerseits diskutiert und kritisiert haben. Auch wenn ich auf dem praktischen Entstehungszusammenhang der Rechtssemiotik bestehe, beruht sie deshalb doch auf einer Vielzahl von Sekundärtexten, von denen ich einige bereits erwähnt habe. Die folgenden Beiträge geben Gelegenheit, Theorie auszubreiten und die erwähnten Zitate im Zusammenhang der am Ende aufgeführten Literatur zu vertiefen.

2 Seibert

I. An der Grenze: Querulantenbriefe Ein Verfahren und die in ihm praktizierte Zeichenverwendung zeigen sich in scharfer Form an den Grenzen zwischen Verfahrenssystem und Umwelt. In der Gerichtspraxis gibt es eine besondere Art von Zeichenbenutzern, die um den Zugang zur Sprache der Disziplin kämpfen. Der Typus von Sprechern und Schreibern reicht weit in die Sprach- und Literaturgeschichte zurück, wenn man den Worten Kleists folgt. Danach lautet der Bescheid der Staatskanzlei an Michael Kohlhaas, "er sei, nach dem Bericht des Tribunals in Dresden, ein unnützer Querulant; der Junker, bei dem er die Pferde zurückgelassen, halte ihm dieselben auf keine Weise zurück; er möchte nach der Burg schicken und sie holen oder den Junker wenigstens wissen lassen, wohin er sie ihm senden solle; die Staatskanzlei aber, auf jeden Fall, mit solchen Plackereien und Stänkereien verschonen".1 Die literarische Figur des Michael Kohlhaas spiegelt sprichwörtlich die Probleme wider, die nachträgliche Eingaben von Verlierern in Gerichte und Behörden bringen. Die Institution wehrt die immerdauernde "Plackerei und Stänkerei" ab und denunziert den Bittsteller, dessen Verfahren abgeschlossen ist, als Querulanten. Die Umwelt wiederum schätzt an diesem Kämpfer gegen vermeintliche Behördenwillkür nicht selten dessen Rechtsleidenschaft2 und siedelt Recht außerhalb der Rechtsprechung an. Diese Bereitschaft entsteht freilich eher aus der Distanz und durch die Kleistsche Stilisierung der Rechtsleidenschaft; der aktuelle gegenwärtige Verlierer wird statt dessen "zum Sonderling, zum Querulanten, zu einem, dessen Lieblingsthema man kennt und nach Möglichkeit meidet".3 Weshalb Proteste aus der Ferne heroisch und aus der Nähe dürftig wirken; weshalb Leute, die Recht suchen, rechthaberisch werden; weshalb der Querulant ein Produkt der Justizorganisation ist - das läßt sich an den Verlautbarungen der Verlierer selbst zeigen. Sie schreiben Briefe ans Gericht4 und schaffen damit eine kommunikative Konstellation, die in der Rechtsdisziplin nicht als Beziehung vorgesehen ist: Ein Zeichenbenutzer ("Laie") belehrt den Zeichenproduzenten (Richter), daß er von der produzierten Zeichenkette nichts versteht. Wenn man einer rechtssoziologischen Hypothese5 folgen will, dann ist der Typ des Querulanten ein Erzeugnis deutscher Rechtsprechung und Behördenmacht. Das hier untersuchte Material stammt aus Eingaben der Verlierer 1

Kleist, Werke, S. 598.

2

Apel, Kohlhaas, 151 f.; Bloch, Naturrecht, S. 93 - 101; Sendler, Kohlhaas. Luhmann, Legitimation S. 118.

4

Dinger/ Koch , Querulanz, S. 100 - 108. Kaupen, Querulanten, S. 71.

1. Der Anspruch auf eine unendliche Prozeßgeschichte

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nach Abschluß des Verfahrens. Solche Eingaben erreichen jedes Gericht, wenngleich sie in Art und Umfang unterschiedlich ausfallen. Oft sind es Briefe an die Spruchkollegien oder unmittelbar an den Vorsitzenden, manchmal sind es Beschwerden, die sich förmlich geben und an den Gerichtspräsidenten oder an die vermeintlich nächsthöhere Instanz gerichtet sind, und im Ausnahmefall enden diese Beschwerden als Eingaben an das Bundesverfassungsgericht. Die förmlichen Fragen, die sich etwa bei einer nachträglichen Richterablehnung ergeben, behandle ich nur am Rande. Ich will auch nicht untersuchen, ob die Verlierer "eigentlich" hätten gewinnen müssen. Statt dessen nehme ich ihre Briefe als Indiz für Verständigungsschwierigkeiten, die zwischen Gericht und Beteiligten in vielfältiger Weise bestehen, sich aber bei der Verfahrensbeendigung brennpunktartig zeigen. Ich werde mich zunächst (1) mit den Texten beschäftigen, die signalisieren, daß der Verlierer den Prozeß erst noch beginnen will, weil er eigentlich gar nicht zu Wort gekommen ist, wie er meint, dann (2) danach fragen, warum der gesetzliche Richter - wie die Briefschreiber wissen - nicht das rechte Verständnis für ihr Anliegen hat und schließlich (3) überlegen, was den Typ des Querulanten unter semiotischer Perspektive ausmacht.

1. Der Anspruch auf eine unendliche Prozeßgeschichte Der nachträgliche Protest gegen rechtskräftige Entscheidungen wird grundsätzlich von den Unterlegenen selbst und nicht von ihren Anwälten formuliert. Dennoch dominiert die juristische Ausdrucksweise; auch der nicht juristisch ausgebildete Laie hat während seines eigenen Prozesses versucht, sich in die juristische Sprechweise hineinzuhören, und will es nunmehr den Juristen gleichtun - mehr noch: Er weist auf Ungenauigkeiten der gerichtlichen Begründung hin. (1) Die Rechtskraft ist nämlich sei's nicht eingetreten, sei's unbeachtlich. Denn das fragliche Urteil entscheidet nicht über den Streitgegenstand. Formell ist dies bereits daran erkennbar, daß das Urteil über meinen Einspruch gegen das Säumnisurteil nicht entschieden hat. Materiell ist auf folgendes hinzuweisen: Streitgegenstand ist die Frage, ob der seinerzeitige Kläger einen Anspruch auf Räumung hatte. Dieser Anspruch hätte bestanden, wenn ich zur Räumung verpflichtet gewesen wäre, was wiederum vorausgesetzt hätte, daß eine Kündigung des Mietvertrags vorgelegen hätte. Tatsächlich hat aber überhaupt keine Kündigung des Mietvertrags vorgelegen, was unbestritten ist.

Der Autor verwendet die juristischen Termini, die seinen Rechtsstreit bestimmt haben: Streitgegenstand, Anspruch auf Räumung, Kündigung usf.; und er kombiniert die Fachbegriffe im justizüblichen Deduktionsstil. Die Mittei2*

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I. Querulantenbriefe

lung im Ausgangssatz wird Thema des Folgesatzes, dessen Mitteilung wiederum Thema des nächsten Satzes wird. So gleitet die Darstellung vom Streitgegenstand zum Anspruch auf Räumung, der wiederum nicht bestehe, weil ein solcher Anspruch eine Kündigung voraussetze, die wiederum nicht vorliege. Übernommen wird das Stilmittel der thematischen Progression, die gewöhnlich den Zusammenhang eines Fachtexts herstellt.6 Dennoch muß (1) für Juristen wie Laien unverständlich bleiben. Warum das so ist, läßt sich am Anfang und am Ende des Textabschnitts ablesen. Am Anfang benutzt der Autor den juristischen Eventualstil mit offenbar unabsichtlich verfremdendem Effekt. Hypothetisch nebeneinandergestellt und hinsichtlich der Existenz unbeantwortet, bleiben grundsätzlich nur tatsächliche Fragen derart, sei es daß der Beklagte keine Miete zahlen konnte, sei es daß er sich dazu nicht verpflichtet glaubte ... (jedenfalls befand er sich in Zahlungsverzug). Offen bleiben also tatsächliche Umstände, die man von Rechts wegen für zufällig halten kann. Zentrale Rechtsfragen müssen demgegenüber notwendigerweise beantwortet werden. Ob Rechtskraft eingetreten ist oder nicht, muß festgestellt werden, weil - wenn das so ist - die Rechtskraft nicht etwa - wie (1) unterstellt - "unbeachtlich" wäre. Ebenso unverständlich bleibt die Tatsachenbehauptung am Ende, eine Kündigung habe "unbestritten" nicht vorgelegen. Der Autor meint sich an die Explizitheit juristischer Sprachhandlungen halten zu können, so daß nur vorläge, was sich explizit "Kündigung" nennt. Das ist zu eng. Die Aufforderung, eine Wohnung zu räumen, kann durchaus als eine Kündigung verstanden werden. Die Zeichenpraxis läßt hier ein Regel/Ausnahme· Verhältnis zu. Beide Fehlschlüsse zusammen lassen den Autor glauben, über seinen Fall sei gar nicht entschieden worden, weil - wie er es sieht - der Streitgegenstand verkannt sei. Diese Idee führt zu einem fatalen Einbruch in die Hermetik des Fachs, denn der Betroffene stellt nun immer wieder neue Anträge auf Gewährung von Prozeßkostenhilfe für die Fortführung eines nach Ansicht des Gerichts beendeten Rechtsstreits. Das bringt die Justiz auch entsprechend oft zum Ausdruck, wenngleich sie die Anträge selbst nach den eigenen Regeln nicht unbeachtet läßt, weil jeder Antrag, der gestellt wird, zumindest dahin beschieden werden muß, daß er - da unzulässig - nicht gestellt werden darf. Gericht und Partei begeben sich auf diese Weise in ein prozessuales Patt. Der Betroffene begründet mit einer juristisch gemeinten Ableitung, warum sein Rechtsstreit fortgesetzt werden muß; das Gericht stellt in immer weniger Sätzen fest, daß die Sache beendet ist. Zwar sind die Gewichte materiell ungleich verteilt: Dem Betroffenen wird die Kostenrechnung der Gerichtskasse ins Haus geschickt, bei Gericht werden (nur) die Akten vorgelegt. Sie bleiben im Geschäftsgang. Das ist der Erfolg konstanter Kommunikation: Der Verlierer wähnt, er habe noch nicht endgültig verloren, weil der Ausgang seines Ver6

Seibert, Fachsprache, S. 28.

1. Der Anspruch auf eine unendliche Prozeßgeschichte

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fahrens immer noch ungewiß und das Verfahren selbst nicht abgeschlossen sei. Neben juristisch-deduktiven Begründungen wie (1) stehen andere mehr am Ablauf des Verfahrens orientierte Motive, die Beteiligte in gleicher Weise glauben lassen, ihr Prozeß sei noch unabgeschlossen. Sie nehmen Zuflucht in die Vorstellung, das Wesentliche habe noch gar nicht stattgefunden - die Gelegenheit, sich zu äußern, müsse erst noch kommen. (2) Sehr geehrte Herren Richter, ich habe nicht ein einziges Mal erfahren, daß überhaupt etwas getan wurde, ich habe nie eine Einladung zu einer Vorsprache bekommen. Im Gegenteil, nur schriftliche Ablehnungen. Aus ihrem Beschluß ersehe ich, daß sie nicht richtig oder nur unzureichend informiert sind, deshalb kamen sie zu einem unrichtigen Beschluß.

Im Gegensatz zu der schon auf den ersten Blick zweifelhaften Ableitung in (1) versucht diese Eingabe, an Selbstverständlichkeiten anzuschließen, denen auch die Justiz zu folgen meint. Eine Rechtsentscheidung kann offenbar nur richtig sein, wenn sie auf vollständiger tatsächlicher Information beruht; und vollständige Tatsacheninformation erhält man nur von dem, der die Taten erlebt hat, und zwar am besten in der Weise, daß man sich erzählen läßt, was er erlebt hat. Auf diesen Voraussetzungen fußen die im Strafverfahren vorgeschriebene Vernehmung des Beschuldigten (§ 137 StPO) und die im Zivilprozeß mögliche Anhörung der Partei (§ 141 ZPO). Nicht alle Verfahrensformen sehen aber mündliche Anhörungen zwingend oder regelmäßig vor, zumal es oft auch nur Hoffnung bleibt, daß die Wahrheit von Angesicht zu Angesicht zutage trete.7 Für das Prozeßergebnis scheint auch weniger der mündliche oder schriftliche Ablauf des Verfahrens bedeutsam zu sein als der Eindruck, überhaupt persönlich in das Verfahren eingebunden gewesen zu sein. Der Zwang zur Mündlichkeit kann ebensolche Frustration auslösen wie die verweigerte Anhörung. (3) Meinen Zorn und Wut müssen Sie schon verstehen. Ich hätte für das Urteil volles Verständnis, wenn ich mich nicht zu der Angelegenheit geäußert hätte. Aber ich habe versucht in zig Briefen meinen Standpunkt klarzustellen. Nur mein Vorbringen wird als nebensächlich betrachtet. Warum? Ich habe hier auch Zweifel, daß ich meinen Standpunkt so hätte mündlich vorbringen können, weil das Ganze wohl zu lange dauern würde und weil man vor Gericht nicht so reden kann wie einem der Schnabel gewachsen ist. Ich habe nichts gegen ein Versäumnisurteil, aber warum auf diese Weise so gegen mich. Sie kennen doch meinen Standpunkt und hätten sich ohne weiteres daran halten können. Ist Ihnen eine schriftliche Aussage weniger wert als eine mündliche? Wie hätten Sie entschieden, wenn ich erschienen wäre? Hätten Sie auch gegen mich entschieden, so versichere ich Ihnen, hätte es das gleiche Theater gegeben. 7

Das "Erläutern vor Gericht" folgt Zwängen, die Sauer, Mühen des Anfangs, S. 124 f. analysiert.

22

I. Querulantenbriefe

Mit (3) nähern wir uns der kommunikativ-persönlichen Weise, mit der Verlierer nach Abschluß des Verfahrens den Prozeß verstehen und die ihnen unbegreifliche Ablehnung durch das Gericht in ihrer Unbegreiflichkeit herausstellen wollen. Der Autor mißversteht den Zivilprozeß an einer Stelle, an der er für Laien tatsächlich merkwürdig bleibt. Die mündliche Verhandlung, insbesondere vor dem Amtsgericht, passiert in Minutenschnelle und ist dennoch nach der praktizierten Prozeßordnung unentbehrlich. Die Parteien verhandeln über den Rechtsstreit vor dem erkennenden Gericht mündlich (§ 128 ZPO), und wenn sie fernbleiben, gelten die vom Gegner vorgebrachten Tatsachen als zugestanden, so daß sich ein Urteil, das auf Säumnis beruht, immer gegen den richtet, der ferngeblieben ist. Der Autor von (3) versucht, sich mehr expressiv und emotional verständlich zu machen, und versichert, gegen ein Versäumnisurteil habe er nichts, wenn es ihm günstig sei. Die Naivität braucht nicht weiter analysiert zu werden; man muß sich nur klarmachen, daß hinter dem Anspruch eine im Alltag jedenfalls akzeptable Regel steht, die man formulieren könnte: Wann immer jemand umfangreich versucht ("in zig Briefen"), deutlich zu machen, was er meint, dann kann und muß sich der andere an das Gemeinte halten. Für die Verständigung im Alltag ist die Regel ganz passend, und man kann noch nicht einmal grundsätzlich unterstellen - wie Juristen es dennoch gern tun -, daß im Angesicht des Rechts und vor Gericht ohne Ansehen der Person nur unmittelbare, wahre Sätze zugelassen wären. Nur die legalistische Tradition erzeugt diese Vorstellung.8 Tatsächlich kommt es auch vor Gericht auf die Person und ihr Bemühen um den eigenen Prozeß an, nur muß dieses Bemühen seinerseits "in rechter Weise" realisiert werden. Das macht den Prozeß schwer verständlich. Man sucht daher im Ergebnis vergeblich nach einzelnen herausragenden sachlichen Mißverständnissen und Fehlgriffen, die einen Verlierer zum Querulanten machen.9 Zwar mag man im Einzelfall überzeugt sein, daß das sachliche Ergebnis richtig und das Mietverhältnis also tatsächlich gekündigt sei. Man mag es für zwangsläufig halten, daß eine Säumnisentscheidung negativ ausfällt und daß eine gerichtliche Entscheidung den Prozeß auch dann beendet, wenn das Gericht die Streitpunkte mißverstanden haben sollte. Als Wissen lassen sich diese Einsichten aber nicht vermitteln. Die Autoren von (1) bis (3) eint die unbewußte Idee, daß ein Prozeß, in dem sie ihr "Recht" nicht mit Erfolg durchsetzen konnten, noch nicht beendet sein kann. Sie machen Anstalten, in einen unendlichen Prozeß einzutreten, dessen Unendlichkeit sich daran zeigt, daß negative Ergebnisse immer nur als vorläufig verstanden werden. So hält man sein eigenes Leben offen und kann sich Broekman, Anthropologie, S. 113 f. Dinger/ Koch, Querulanz, S. 163.

2. Der Anspruch auf andere Richter

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selbst als "im ganzen" erfolgreich verstehen. Der wahre und damit gültige ewige Spruch scheint noch auszustehen. Um ihn muß man kämpfen wie Michael Kohlhaas. Wenn auf diese Weise Querulantentum entsteht - eben das, was Behörden und Gerichte als "Plackerei und Stänkerei" einstufen -, so ist gleichzeitig anzumerken, daß sich derart abweichendes Prozeßverhalten aus rechtsdogmatischer Sicht gar nicht feststellen läßt. Denn die Justiz selbst richtet den Rechtsmittelzug ein; sie selbst institutionalisiert das Mißtrauen gegen die einmal getroffene Entscheidung, indem sie den Betroffenen Einspruchs-, Berufungs- oder Revisionsmöglichkeiten zur Verfugung stellt. Der juristische Diskurs erlaubt sogar die Kritik an den Ergebnissen höchstrichterlicher und letztinstanzlicher Rechtsprechung, wenn der Kritiker dazu im Forum der Wissenschaft Stellung nimmt. Der Rechtsdiskurs hegt und pflegt den Wahrheitsanspruch, verlangt aber - ohne daß dies nach außen und allgemein besonders im Vordergrund stünde - zugleich die spontane Hinnahme eines Mißerfolgs, den Rechtsmittelverzicht, die Zahlung, das Schweigen. Im subjektiven Erleben vermischen sich Wahrheitsansprüche und Entscheidungszumutungen zu einer schwer durchschaubaren Gemengelage, in der "Zorn und Wut" - wie in (3) nicht einmal die Ausnahme sind. Nicht nur ausnahmsweise richten sich Zorn und Wut gegen die Urteiler, die Richter.

2. Der Anspruch auf andere Richter Wenn Kleists Kohlhaas den Anspruch des Verlierers auf eine unendliche Fortsetzung des Prozesses versinnbildlicht, so gibt es für den damit korrespondierenden Anspruch, andere - nämlich fach- und sachkundige, gerechte Richter zu haben - eine andere deutsche cause célèbre. Der Müller Arnold, der im preußischen Pommerzig den Pachtzins für seine Mühle schuldig blieb, weil der Erbpächter ihm durch neue Teichanlagen das Wasser für den Mühlenbetrieb weggenommen hatte, verlor Recht und Mühle in zwei Instanzen, bis ihn Friedrich der Große durch Kabinettsordre rehabilitierte und die Kammergerichtsräte arretierte. "Wenn die Justiz Ungerechtigkeiten begeht, ist sie schlimmer wie Straßen Räuber, ein Müller ist ein Mensch eben so guth wie ich bin", heißt die eigenhändige Notiz des Königs vor seiner endgültigen Entscheidimg.10 Die Richter müssen büßen. Anders als in der Müller Arnoldschen Sache formulieren die Beteiligten das heute ausdrücklich. (4) Sämtliche Entscheidungen in dieser Angelegenheit verstoßen gegen das Grundgesetz, alle daran beteiligten Richterinnen und Richter haben außerdem gegen den von ihnen abgelegten Richtereid verstoßen. Rechtswidrige Entscheidungen können nicht dadurch legalisiert werden, daß angebliche "Richterinnen" und "Richter" Entscheidungen treffen, ohne daß der Betroffene dazu rechtlich gehört wurde und ohne daß eine Parteivernehmung stattgefunden hat. Alle an den bisherigen Urteilen 10

Quelle IV.2 bei Diesselhorst, Müller Arnold, S. 188.

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I. Querulantenbriefe Beteiligte haben das Recht verwirkt, "im Namen des Volkes" Recht zu sprechen, und sind umgehend einer anderen Tätigkeit zuzuführen.

Als Hintergrund des Protestes schimmert der Anspruch durch, der Prozeß sei gar nicht in der gehörigen Weise gefuhrt worden, weil - es wurde bereits erörtert - der Betroffene sich nicht so äußern konnte, wie er das wünschte. Dieser Verfahrensfehler mündet aber umstandslos in einen weiteren Anspruch, die verantwortlichen Richter zu entfernen, und zwar ausnahmslos. Der Autor bestätigt seine Forderung selbst, indem er - einer Tradition des Schreibens in Anführungszeichen gemäß - die Richter eben nur als "Richter" ansieht, die eigentlich gar nicht im Amt sind. In (4) liest sich das fast noch sachlich. Nicht selten ist schon die Diktion durch Wut und Zorn geprägt. (5) Unabhängig und nur dem Gesetz unterworfen sollen, laut Grundgesetz, die bundesdeutschen Richter ihr Amt im Namen des Volkes ausüben. Vielleicht haben Sie das auch getan. Nur frage ich mich, ob Sie gestört, krank oder boshaft sind. Daß Sie schreiben und lesen können, davon gehe ich aus. Deshalb muß Ihnen der Gegenstand meiner Auseinandersetzung bekannt sein. Vielleicht interessiert er Sie nicht, und dazu kann ich Sie nicht zwingen. Aber im Namen des Gesetzes und des Rechts muß ich noch einmal aufführen, daß Sie mir persönlich Schaden zugefugt haben. Und dafür gibt es keinen Grund. Ich kenne Sie nicht.

Der Brief ist persönlich adressiert. Man könnte ihn als Beleidigung einstufen und zum Gegenstand eines neuen Verfahrens machen, das den Affekt wiederum bestätigt. Der Affekt gegen die Richter verbindet sich nämlich mit einer eigentümlichen Verteidigung des Rechts. Während das Recht den Autor schütze, könnten Richter, die es ihm verweigern, die Sache nur nicht gekannt haben, es sei denn man unterstellte Motive wie Neid oder Rachsucht. Aber diese - macht sich der Schreiber klar - kämen eigentlich deshalb nicht in Frage, weil im Gegensatz zu den Parteien das Gericht Sieger und Verlierer gar nicht persönlich kennt. Als letzte Zuflucht bleibt: Der Richter ist böse. (6) Der abgelehnte Richter hat in der anhängigen Familiensache das Recht in schwerstes Unrecht umgekehrt und am 22.1.1985 um 17.28 Uhr am Beschwerdeführer folgende Verbrechen begangen: 1. Obdachlosmachung 2. Hablosmachung 3. Kindlosmachung 4. Familienzerstörung. Wer als Richter solche Verbrechen vom Schreibtisch aus begeht, ist nicht nur ein Schreibtischtäter, sondern ein Krimineller im öffentlichen Dienst und ein Verbrecher. Dem abgelehnten Richter ist das Handwerk zu legen. Er ist seines Amtes zu entheben.

Der Text läßt erkennen, daß die Empörung auf einen folgenschweren Verlust zurückgeht. Die Ehefrau des unterlegenen Schreibers ließ diesen aufgrund eines Gerichtsbeschlusses die Familienwohnung nicht mehr betreten. Der

2. Der Anspruch auf andere Richter

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Protest wird auch hier wieder mit dem Vokabular der Rechtssprache formuliert: Recht, Unrecht, Verbrechen. Der Autor kennt die Sprachstrategie des Rechtsbetriebs und wendet sie an, um seine Situation mit den selbstgeschöpften Begriffen der Obdachlos-, Hablos- und Kindlosmachung auf einen abstrakten Horizont zu projizieren. Gleichzeitig münzt er den Anspruch auf andere Richter, den auch die Autoren von (4) und (5) reklamieren, in einen Rechtsbehelf um: Er lehnt den amtierenden Richter ab. Die Richterablehnung leitet ein in allen Verfahrensordnungen (§§ 42 ZPO, 24 StPO) ausdrücklich geregeltes besonderes Verfahren ein, in dem sich der abgelehnte Richter zu dem Gesuch des Betroffenen äußern und die Sache dann einem anderen Spruchgremium zu einer förmlichen Entscheidung vorlegen muß. Der Anspruch auf andere Richter kann also selbst noch in der Verfahrensform artikuliert werden. Aber das ist eine Fiktion, und praktisch haben Ablehnungsgesuche in den seltensten Fällen Erfolg. Der in Zivil- wie Strafprozeßordnung in gleicher Weise verankerte gesetzliche Topos verlangt, daß ein Grund vorliegen müsse, der geeignet sei, Mißtrauen in die Unparteilichkeit des Richters zu rechtfertigen, und dieser Grund liegt nicht etwa schon dann vor, wenn ein Richter zu erkennen gibt, daß er gegen eine Partei entscheiden wird. Die Praxis belastet die Akteure nämlich mit zwei gegenläufigen Maximen. Der eine und erste unbezweifelte gesetzliche Grundsatz lautet: Richter sollen unparteilich sein; sie sollen sich zunächst anhören, worum es geht, ehe sie sich entscheiden. In die entgegengesetzte Richtung wirkt ein kommunikativer Zwang: Wer sich etwas anhört und mit den Parteien über ihre Anliegen verhandelt, bildet sich eine Meinung. Er nimmt Stellung und gibt zu erkennen, daß er der einen Meinung mehr zuneigt als der anderen, das eine Ergebnis für wahrscheinlicher als ein anderes hält. In der Welt des Gerichts ergibt sich aus diesen gegenläufigen Maximen einmal der Anspruch: Ein Richter, der sich parteilich verhält, kann durch einen anderen ersetzt (abgelehnt) werden - und zum anderen die Fiktion: Wenn man vor einem Richter verhandelt hat, kann man ihn nachträglich nicht mehr ablehnen. Diese Fiktion ist in § 43 Zivilprozeßordnung geltendes Recht geworden. Tatsächlich wird damit ein zentraler Grundsatz - die behauptete Unparteilichkeit - gegen Enttäuschungen in der Realität immunisiert. Die abwägende, nicht sofort aggressiv mit einem Ablehnungsantrag reagierende Partei verliert ein etwa begründetes Ablehnungsrecht.11 Zu einer rechtspolitischen Diskussion über § 43 ZPO ist es dennoch nicht gekommen. Denn mit einer semiotischen Unterstellung (einem Einverständnis mit der Verfahrenspragmatik) wird der Anschein der Unparteilichkeit bewahrt, der im kontinentalen Verfahren schwierig zu wahren ist. Man bewertet den aktuellen Zeichengebrauch höher als die nachträgliche Vorstellung über den Gebrauch. Was den Laien ansonsten verborgen bleibt, wird hier deutlich: Ein tatsächlicher Konflikt wird 11

Horn, Richter, S. 105.

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I. Querulantenbriefe

entschieden, indem vergangenem Verhalten eine Bedeutung gegeben wird, das es nach dem Selbstverständnis der Handelnden (so) nicht hatte. Der Preis für diese Immunisierung gegenüber der Realität ist nicht gering.12 Die Unantastbarkeit der Norm wird bezahlt mit Zweifeln an der antastbaren Justiz. Wenn sich mein Recht vor Gericht nicht durchsetzt, dann habe ich wohl nicht alle Tatsachen dafür vortragen können. Man hat mich nicht "wirklich" gehört. Man hält mich für minderwertig. So sind zwar die meisten Protestbriefe, die den Anspruch auf andere Richter formulieren, mit einem Ablehnungsgesuch verbunden, insbesondere wenn die Verlierer die Routinen des Gerichtsbetriebs bereits kennen. Sein Inhalt genügt aber nicht dem latenten Spannungsverhältnis zwischen (erlaubter) Meinungsbildung und (nicht erlaubter) Parteilichkeit. Geäußert werden Minderwertigkeitsgefühle, und in Deutschland werden ebenso oft passende wie unpassende Vergleiche zur Begründung bemüht: (7) Ich kann mich der Freundschaft namhafter Juristen rühmen, u.a. des pensionierten ltd. Oberstaatsanwalts Hans Sachs. Ich bin der Unterstützung meiner Freunde gegen Behörden- und Justizterror gewiß. Denken wir daran, daß es sich hier um eine Hetz- und Terrorkampagne gegen einen Behinderten handelt. Behinderte wurden bekanntlich im ΙΠ. Reich vergast oder sonstwie, weil sie lästig sind, um die Ecke gebracht. Damals trugen die Richter rote Roben, heute schwarze. Der Terror hat sich lediglich gemildert. Man wird nicht mehr umgebracht. Es geht nur darum, recht zu haben und zu behalten.

Der Autor verweist auf Referenzen und Tradition. Die Referenzen empfehlen ihn, und die Tradition belastet die Justiz. Dabei belastet weniger die in (7) zitierte NS-Vergangenheit als die Wirkung der "Unterstützung meiner Freunde". Der Briefschreiber gerät unter den früher in § 30 der preußischen Allgemeinen Gerichtsordnung definierten Begriff für Parteien, "welche sich der vorgeschriebenen Ordnung nicht unterwerfen, sondern entweder die Collegia oder deren Vorgesetzte mit offenbar grundlosen und widerrechtlichen Beschwerden gegen bessere Wissenschaft und Überzeugung belästigen, oder, nachdem sie ihres Unrechts bedeutet worden, mit ihren Klagen dennoch fortfahren und durch wiederholtes ungestümes Supplicieren etwas, so gegen Recht und Ordnung ist, durchzusetzen und zu erzwingen suchen". Nun setzen "Grundlosigkeit" und "Widerrechtlichkeit" einer Beschwerde schon etwas an Einsicht voraus, das die Briefschreiber offenbar nicht haben. Damit gerät jeder Versuch, eine Einsicht zu vermitteln, für die man schon die vermittelte Einsicht brauchte, in eine nicht auflösbare Paradoxie. Dem Gefuhlsappell kann das Gericht nicht entsprechen, selbst wenn es den persönlichen Charakter des Appells ernstnehmen möchte.

12

Horn, Richter, S. 124.

3. Vom Bürgerkrieg gegen die Fachsprache

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(8) Können Sie mir den Unterschied zwischen dieser geübten Rechtspraxis und den Methoden des verbrecherischen Volksgerichtshofpräsidenten Freisler nennen? Leider ist mir der Weg einer Verfassungsbeschwerde nicht bekannt und wegen meiner Mittellosigkeit kann ich mir keinen Anwalt leisten. Wo befindet sich das Verfassungsgericht? Stimmt es Sie nicht traurig, daß Ihnen untergeordnete Richter das Recht in so offensichtlicher Weise beugen?

Im Gegensatz zu den Autoren von (1) oder (6) schreibt hier jemand auch der Textform nach einen Brief und adressiert seine Worte persönlich. Der vermeintlich vorgesetzte Richter wird angesprochen. Er soll Orts- und Wegauskünfte geben, und er soll vor allem auch die Gefühle des Schreibers teilen. Hinter einem Ablehnungsgesuch steckt häufig etwas anderes als eine juristisch definierte Vorstellung von Unparteilichkeit. Statt dessen drücken Beteiligte ihren Wunsch nach einem mitfühlenden anderen aus, den sie auch im eigenen Prozeßbevollmächtigten nur selten finden. Auch wenn man einen Prozeß beginnt, weil man sich verletzt fühlt oder weil man meint, daß ein Unrecht gesühnt werden müsse, führt der Verlauf des Prozesses in der Regel eher zu weiteren Verletzungen und Unrechts- oder Rachegefühlen als daß er zur eigenen Rehabilitation beitrüge.13 In den Alternativen von Gewinn und Verlust läßt sich Genugtuung nur selten erreichen.

3. Vom Bürgerkrieg gegen die Fachsprache Die beiden soeben skizzierten Ansprüche sind dem Gerichtsverfahren an sich nicht fremd. Wenn der Verlierer gegen das ihm ungünstige Urteil protestiert, so steht ihm dafür mindestens einmal ein Rechtsmittel zur Seite. Ob die angefochtene Entscheidung brillant oder dürftig begründet ist: Der Verlierer kann verlangen, daß Ergebnis und Begründung überdacht werden. Auch der Anspruch auf einen Wechsel in den zur Entscheidung berufenen Personen wird durch die Einrichtung eines Instanzenzugs begründet. Ob das erstinstanzliche Gericht mit Sachkennern besetzt war oder mit Richtern, die - wie der Autor von (5) mutmaßt - sich für die Sache nicht recht interessiert haben: Es sind nicht sie selbst, sondern andere, die zur Überprüfung berufen sind. Auch der Anspruch auf andere Richter wird im Verfahrensgang mindestens einmal erfüllt. Zieht man in Betracht, daß sowohl die Fortsetzung des Verfahrens wie auch der Wechsel des Tribunals legitimen Erwartungen entsprechen, kann man daran zweifeln, ob die in der Rechtsdisziplin selbst hergestellte Legalität so endgültig sein kann, wie sie sich nach ihrer sprachlichen Darstellung jeweils gibt. Ein Urteil erster Instanz, das der Klage stattgibt, liest sich nicht weniger entschieden als das Urteil zweiter Instanz, das die gleiche Klage abweist. Immer wieder richtet sich allgemeine Verwunderung auf den Um13

Rausch, Querulanten, S. 164.

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I. Querulantenbriefe

stand, daß mit dem gleichen begrifflichen Inventar entgegengesetzte Ergebnisse begründet werden können und plausibel erschienen. Die in erster Instanz begründete und in zweiter bestätigte Entscheidung kann dennoch im Rahmen einer Verfassungsgerichtsentscheidung als "willkürlich" ausgewiesen werden.14 Der Schreiber von (8) könnte sogar Erfolg haben. Nichts ist von vornherein ausgeschlossen. Diese Offenheit bei gleichzeitiger Hermetik des Fachs kann die Disziplin selbst nicht erklären. Es sind weniger juristische als praktisch-ästhetische Überzeugungen, die es vernünftig erscheinen lassen, daß eine Entscheidung zwei- oder dreimal überprüft wird, aber nicht sechs- oder siebenmal. Die Gefühle, die die Rechtssprache begleiten, raten dazu an, die Überprüfung einer Entscheidung schweigend zu akzeptieren. Zwar wird man sich nicht vorstellen dürfen, daß der Verlierer das letztinstanzliche Urteil mit einer "erfreulichen Art innerer Befriedigung" 15 quittiert; im Justizsystem reicht es aber schon aus, einfach nur die Rechtskraft einer Entscheidung zu respektieren - und zu schweigen. Denn nur dieses Fachwort hält das Rechtssystem auf die Frage bereit, warum denn geschwiegen und nicht protestiert werden soll: die in (1) schon attackierte "Rechtskraft". Wenn juristische Kommentare die Rechtskraft als äußeren und inneren Bestand einer prozeßbeendenden Entscheidung definieren, bleiben Art und Anzeichen für einen solchen "Bestand" offen. Das Zeichen für den Bestand charakterisiert letzten Endes die Differenz zwischen Bürger und Querulanten. Der Bürger, der die Rechtskraft hinnimmt, schweigt. Rechtskraft zeigt sich am Schweigen der Rechtsunterworfenen. Das scheint ebenso anmaßend wie widersprüchlich zu sein. Einmal gibt es kaum Verlierer, die wirklich schweigen. Zumindest Bekanntschaft und Verwandtschaft werden meist mit dem Ergebnis eines merkwürdigen Verfahrens befaßt und sollen den Verlierer trösten oder ihm beistehen. Darüber gehen die hier zitierten Briefschreiber allerdings weit hinaus. Wenn es ein Merkmal im Verhalten gibt, das Querulanten auszeichnet, so ist dies ihr steter Kommunikationsfleiß. Querulanten schweigen nicht. Die Justiz erkennt sie an ihrer Sprachproduktion, die nicht gering ist, sondern in die zitierte "Plackerei und Stänkerei" ausartet. Der Querulant schweigt nicht nur nicht, er fuhrt Krieg und greift an, und die Angriffe fallen um so heftiger aus, je mehr sich der Eindruck verbreitet, der Prozeß sei wirklich schon abgeschlossen. Solche Angriffe sollen den Eindruck erzeugen, daß die Rechtskraft gerade keinen Bestand habe. Der Eindruck täuscht trotz aller Schreibwut. Auch der lautstarke öffentliche Protest gegen eine angeblich skandalöse Gerichtsentscheidung verhallt meist 14

Seibert, Sprachzugang, S. 56. Luhmann, Legitimation, S. 120.

3. Vom Bürgerkrieg gegen die Fachsprache

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im öffentlichen Schweigen, auch wenn die Verlierer sich das anders vorstellen. (9) Dieses Schreiben mit den entsprechenden Unterlagen geht nach Ablauf einer Woche, falls ich von Ihnen keine Ehrenerklärung erhalte, nicht nur an die Gesamtpresse in und um Frankfurt; Justizministerium und Landtag erhalten gleichfalls die Unterlagen, damit auch von Regierungsseite hier unterschwellige Dinge aufgedeckt und eliminiert werden.

Es wäre voreilig zu meinen, der Briefschreiber von (9) verkenne einfach die Presse- oder Regierungsrealität. Auch die Realität kennt Fälle, in denen letztinstanzliche Entscheidungen kassiert werden; Friedrichs Eingreifen zugunsten des Müllers Arnold steht als Beispiel dafür. Aber dieser Fall bleibt Ausnahme, weil die Beseitigung der Rechtskraft eine außergewöhnliche semiotische Arbeit verlangt. Daran fehlt es in einem gewöhnlichen Querulantenbrief. Der querulatorische Protest hat kein Thema. Es ist kein Zufall, daß aus der Reihe der Texte von (1-8) kaum etwas anderes hervorgeht, als daß hier Verlierer gewinnen wollen. Auch die besonderen Umstände ihres je eigenen Falls teilen sie nur in abstrakter Rechtsbegrifflichkeit mit, die in Worten wie der "Kindlosmachung" ungewollt persifliert wird. Vor allem und immer wieder tauchen Rachegefühle auf. "Die Mißgunst, die Rache umschleicht die Namen. Sie geht den Prozessen nicht voraus, sie folgt ihnen nach. Sie kann das Recht nicht herbeizitieren, das immer ein solches des Gerichts bleibt, einzigartig und angewiesen auf Beweise, Titel und Maßnahmen. Was nach Rache schreit, sind die im Plädoyer verbotenen Sätze, denen Unrecht geschehen ist, weil sie nur Gefühle hervorrufen können."16 Mit diesen Sätzen umschreibt Jean-François Lyotard das Schweigen der Verlierer, die an dem leiden, was sie nicht zur Sprache bringen können. Der Streit, der im Rechtsstreit seine Form findet, entspricht nicht dem Widerstreit der Gefühle, die am Anfang des Rechtsstreits stehen und ihn hervorrufen, vorantreiben und am Ende nicht enden lassen wollen. Wer sein Recht im Streit sucht und den Streit verliert, fühlt, daß die Ordnung, in der gestritten wird, geändert werden müßte, wollte er "sein" Recht bekommen. Lyotard erinnert in diesem Zusammenhang an den Aphorismus, wonach - wenn Regierung und Volk nicht zueinander passen - die Staatsmacht aufgefordert ist, das Volk auszutauschen, und er sieht im öffentlichen Rechts- und Sprachgeschehen eine solche Machtprobe am Werk. Deshalb richte sich der Protest des Verlierers gegen das Idiom, in dem Fälle konstruiert und gelöst werden. "Das ist Bürgerkrieg der Sprache gegen sich selbst."17 Die Metapher paßt in die Reihe der literarischen und rechtshistorischen Beispiele, die das Bild des Querulanten prägen. Kohlhaas sendet dem Junker Wenzel von Tronka seinen Rechtsschluß und vollstreckt ihn nach Ablauf der 16

Lyotard, Judicieux, S. 235 f.; vgl. auch Lyotard, Témoigner, S. 123 ff. Lyotard, Judicieux, S. 236.

I. Querulantenbriefe

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gesetzten Frist selbst - im Wege des Bürgerkriegs. Er verfaßt ein "Kohlhaasisches Mandat", mit dem er das Land auffordert, "dem Junker, mit dem er in einem gerechten Krieg liege, keinen Vorschub zu tun, vielmehr jeden Bewohner, seine Verwandten und Freunde nicht ausgenommen, verpflichtete, denselben bei Strafe des Leibes und unvermeidlicher Einäscherung alles dessen, was ein Besitztum heißen mag, an ihn auszuliefern." 18 Ist der Krieg erfolgreich, so verschlingt er die unbotmäßigen Richter. In der Sache des Müllers Arnold hat Friedrich am 1.1.1780 die neumärkischen Regierungsräte, die Kammergerichtsräte und den Pommerziger Justitiarius "sämmtlich cassiret, und jeder von ihnen überdem noch mit Einjährigem Festungs-Arrest belegt...". Der Sinn des Bürgerkriegs besteht darin, eine andere Redeweise und ein anderes Gericht zu etablieren.19 Wir wissen aus der Geschichte von Bürgerkriegen, daß die Rebellen nur dann Zulauf haben, wenn sie die Öffentlichkeit mit einem Thema ansprechen. Mißstand und Elend allein mögen das Umfeld abgeben, in dem Bürgerkriegsstimmungen gedeihen; der zündende Gesichtspunkt muß aber noch hinzutreten. Ich will mich nicht dahin festlegen, daß die alltäglichen Entscheidungen der Justiz so elend und mißlich wären, wie manche Verlierer meinen. Der Protest erweist sich aber als querulatorisch, wenn es ihm nicht gelingt, ein Thema zu formulieren, das andere verstehen und mit eigenen Anliegen interpretieren können. Nach den in der Kommunikationsforschung üblichen Unterscheidungen ergibt sich ein Thema aus den Möglichkeiten, bei Adressaten Aufmerksamkeit für den gemeinten Sinn zu wecken. Da sich der Protest gegen die Justiz nach den Absichten der Verlierer an die Öffentlichkeit richtet, benötigt er ein Thema für öffentliche Meinungen.20 Anders als die Meinung präjudiziell aber das Thema nicht die Stellungnahme zum Ergebnis; es legt nur den Inhalt fest. Das Thema erlaubt eine Entscheidung darüber, ob ein Beitrag zur Sache gehört oder nicht. Es ist durchaus möglich, Gerichtsentscheidungen als Beiträge zur öffentlichen Meinungsbildung zu deuten. Gelingt das, so läßt sich öffentlicher Unmut gegen bestimmte juristische Meinungen mit Erfolg sammeln. Solche Entwicklungen muß die Justiz vermeiden, wenn sie den "inneren Bestand" eines rechtskräftigen Urteils sichern will. Denn ob der Betroffene selbst das Urteil akzeptiert, ist im ganzen nicht wesentlich. Er mag die Entscheidung, die der Briefträger zustellt, mit Randbemerkungen versehen und an das Gericht zurückschicken, aber er kann das Urteil damit nicht ändern und auch nicht ignorieren. Nur eine Welle der Empörung, nur das Aufbegehren des Publikums könnte einem der Akteure nützen oder gefärlich werden. Für das Verhältnis zwischen Justiz- und Sozialsystem ist es deshalb wichtiger, "das Sozialsystem 18

Kleist, Werke, S. 605 f.

19

Lyotard, Judicieux, S. 229 ff. Luhmann, Meinung, S. 38.

3. Vom Bürgerkrieg gegen die Fachsprache

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gegen die Folgen der Wahl einer psychischen Lösung für die Verarbeitung dieses Faktums zu schützen".21 In der Regel leistet das die fachliche Zeichenkette für ein Begehren nur teilweise. Sie verhindert den Anschluß an Themen der öffentlichen Meinung dadurch, daß die Gewaltanwendung gegen militärische Einrichtungen zum Problem der "engen" oder "weiten" Fassung der sog. Mittel/Zweck-Relation in § 240 StGB erklärt wird oder daß schlechter Hotelservice bei einer Pauschalreise zur Frage der rechtzeitigen Anmeldung möglicher Reisemängel transformiert wird. Fatal wirkt es sich aus, wenn die Justiz solcherart fachlich kleingearbeitete Fragen letztlich doch mit Sprachmustern der öffentlichen Kommunikation beantwortet. Wenn ein Gericht einen großen Reiseveranstalter verurteilt, wegen schlechter Reiseorganisation einer siebzigjährigen Frau, die im Armenrecht klagt, 750 DM zurückzuzahlen, kann diese Entscheidung zwar falsch sein; der Protest des Veranstalters, der sich mit Rechtsmitteln nicht mehr artikulieren kann, müßte aber querulatorisch wirken und unterbleibt. Aber er unterbleibt nicht, er findet sogar Resonanz in der öffentlichen Meinung, wenn das Gericht einen Beitrag zu einem Thema öffentlicher Meinungsbildung leistet mit Begründungssätzen wie: (10) So wünschenswert die Integration von Schwerbehinderten in das normale tägliche Leben ist, kann sie durch einen Reiseveranstalter gegenüber seinen anderen Kunden sicher nicht erzwungen werden. Daß es Leid auf der Welt gibt, ist nicht zu ändern; aber es kann der Klägerin nicht verwehrt werden, wenn sie es jedenfalls während des Urlaubs nicht sehen will.

Der gegen diese letztinstanzlichen Sätze gerichtete Protest wurde nicht vor dem querulatorischen Hintergrund verstanden, daß hier ein Gewerbebetrieb mit Massenumsätzen die Rückerstattung von 750.- DM verweigert. Der Protest löste statt dessen den Krieg aller aufgeklärten Bürger gegen die Ignoranz der Rechtsprechung aus. Er hatte ein Thema, öffentlich formuliert hat das Thema Ernst Klee mit einem 1980 schnell produzierten und alsbald wieder vom Markt gezogenen sog. "Behinderten-Report", der als journalistisch recherchierte Arbeit an der besonderen Wirklichkeit des Gerichtsverfahrens vorbeiging. Angeprangert wurde nämlich beispielsweise, daß die tatsächlich mitreisenden Behinderten gar nicht den leidvollen Anblick boten, den das Gericht unterstellt und - da es sich die Tatsachen von den Parteien in Schriftsätzen vortragen läßt - nach dem Inhalt der Schriftsätze auch unterstellen mußte.22 Das Thema hatte die juristische Sprachform überrollt. Die massenkommunikative Funktion eines Themas würde zu eng gefaßt, wenn man sie auf die Sachgesichtspunkte, auf die "überragende Priorität be21 22

Luhmann, Legitimation, S. 120. Klee, Behinderte, S. 49, mit Interview des Vorsitzenden Richters.

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I. Querulantenbriefe

stimmter Werte"23 beschränkte. Werte wie Umweltschutz und Friedenssicherung können Bürger gegen Gerichtsentscheidungen mobilisieren. Wenn Walter Jens gegen seine (erwartete) Verurteilung als Sitzstreikender protestiert oder wenn dreihundert andere eine Verfassungsbeschwerde einreichen, spricht man nicht mehr von Querulantentum. Insofern ist das nach § 30 der preußischen Gerichtsordnung definierte Querulantentum ein deutsches obrigkeitliches Phänomen, in dem persönliche Abweichung und Themenschwund in eins gesetzt werden. Die Schwierigkeiten, ein Thema zu formulieren, führen Lyotard dazu, im Bürgerkrieg gegen die Sprachkonventionen für die Sprachlosigkeit Partei zu nehmen. Der Philosoph - "le guetteur critique" - wache darüber, daß der Protest der Gefühle gegen die geäußerten Sätze nicht an sich selbst erstickt: "L'état armé ... est la santé du langage".24 Wenn man diesen Widerstreit zwischen Sprache und Thema beiseite läßt, bleiben manchmal persönliche Abweichungen. Sie sind selten so schwerwiegend, daß die Zurechnungsfahigkeit in Frage steht. Aber es ist sicher kein abseitiger Zufall, daß das einzige rechtssoziologische Forschungsprojekt zum "Querulanten", das Kaupen plante (allerdings nicht vollendete25), die Frage nach der Geisteskrankheit in den Vordergrund rücken mußte. Auch Horn 26 setzt sich damit auseinander. Man darf an Foucault's Diktum denken: "Seit dem Mittelalter ist der Wahnsinnige deijenige, dessen Diskurs nicht ebenso zirkulieren kann wie der der anderen: sein Wort gilt für null und nichtig, es hat weder Wahrheit noch Bedeutung, kann vor Gericht nichts bezeugen ,.."27 Im querulatorischen Protest verselbständigen sich Eigenschaften, die einen Rechtsstreit hervorrufen und in ihm eine legitime Rolle spielen. Der Verlierer, den die Justiz sich wünscht, vermeidet den Rechtsstreit ganz. Ich denke dabei an jenen von Niklas Luhmann skizzierten "urbanen, beweglichen, anpassungsfähigen, taktisch-rationalen, Gefühl und Wirklichkeit trennenden Menschentyp mit hohem Potential für 'Dahingestelltseinlassen'".28 Diese Charaktereigenschaften, die in der Justiz gern gesehen sind, lassen es geraten erscheinen, den Streit über Liebe nicht als Wahrheitsproblem und den Streit über Wahrheit besser als Geldfrage zu behandeln, mit anderen Worten: die Medien der Kommunikation zu wechseln. Das ist das Geheimnis für die Beendigung eines Rechtsstreits und gibt einen Schlüssel für die psychische Verarbeitung. Medienwechsel, nicht Themenwechsel und Instanzenverlängerung gewähren Abstand und spenden, was alteuropäisch "Trost" heißt. Dann werden der streitschlichtende Dritte und der ganze unendliche Prozeß überflüssig. 23 24 25 26

27 28

Luhmann, Meinung, S. 39. Lyotard, Judicieux, S. 336. Dinger / Koch, Querulanten, S. 11. Horn, Richter, S. 69 f. Foucault, Ordnung, S. 8. Luhmann, Vertrauen, S. 65.

Π. Was man im Gericht weiß: Texte, Kontexte und Ergebnisse Der erste Schritt hinter die Grenze führt zu einer groben Perspektive auf das Gericht und das Wissen der Juristen dort. Mein Gegenstand sind die juristischen Zeichen, wie sie sich im Wissen der Produzenten ausdrücken. Es sollen gegebene Texte und Kontexte (2), die Arbeit mit ihnen (3) und die Repräsentationsform der Ergebnisse (4) dargestellt werden. Das vorweggenommene Resumé lautet: Das im Gericht gespeicherte Wissen verlangt seiner Art nach eine argumentative Verwendung, die durch Veränderungen im intern-juristischen und extern-gesellschafilichen Kontext auch praktische semiotische Kompetenz einschließt, um noch als "juristisch" zu gelten. Je geringer die semiotische Einsicht wird oder ist, um so mächtiger erweitert die Repräsentation der Ergebnisse das System des juristischen Wissens. Die Semiotik macht die Rechtsdisziplin deshalb nicht besser oder schlechter; sie macht sie höchstens kleiner oder übersichtlicher. Aber erläutern wir der Reihe nach und beginnen mit:

1· Typen juristischen Wissens Ehe man sich über eine Typologie Gedanken macht, müßte eigentlich klar sein, was ein Jurist weiß. Nach der institutionellen Aufgabenverteilung definieren die Juristen in den staatlichen Prüfüngsämtern das Wissen der Juristen. Aber das, was ein Jurist wissen sollte, weiß er deshalb noch lange nicht. Der Stoffkatalog der Landesausbildungsgesetze kann nicht zum verfügbaren Wissen eines praktizierenden Juristen werden. Er ist so enzyklopädisch angelegt, daß man imbefangen behaupten kann, daß jeder Jurist weiß, daß ein Jurist allenfalls einen Bruchteil dessen weiß, was er wissen sollte. Das tut der Profession gewöhnlich keinen Abbruch. Man frage eben nach dem Selbstbehalt beim Getrenntleben nicht den Juristen, sondern den Sachbearbeiter. Trennen wir uns also zunächst von der Vorstellung, das, was ein Jurist wüßte, seien verläßliche Zahlen oder vollständige Sätze. Nicht selten muß der Dezernent noch die Zahl des Paragraphen eines einschlägigen Gesetzestexts nachschlagen und sich die Reihenfolge der Antragsvoraussetzungen von der Gemeinschaft der Rechtspfleger, Bezirksrevisoren und Geschäftsstellenbeamten auswendig hersagen lassen. Das heißt nicht, daß juristisches Wissen gänz3 Seibert

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Π. Texte, Kontexte, Ergebnisse

lieh auf Kenntnisse im Grundstücksverkehr oder in der Straßenverkehrszulassungsordnung, mithin auf "Stoff" verzichten könnte. Aber wir nehmen gern für die Disziplin in Anspruch, sie sei "im Wesen" "Methode". Was ist nun "Wissen" im Bereich von "Methode", wenn es nicht das Wissen von Sätzen und Zahlen ist? Da nach einem Satz jeweils ein nächster Satz und nach einer Zahl die nächste folgt, dürfte das juristisch-methodische Wissen in Kenntnis und Gefühl für die Anschließbarkeit von Sätzen bestehen. Das ist ein Teil der allgemeinsprachlichen Methodik der Sprache, die aus der Besonderheit entsteht, daß zwar ein Satz auf den anderen notwendig folgen muß, daß aber der interne Modus der Verknüpfung nicht notwendig ist.1 Wenn man sich forensisches Wissen jenseits zufälliger Literatur- und Rechtsprechungskenntnisse veranschaulichen will, sollte man die Verknüpfung zwischen den Sätzen, die den Text bestimmt, detailliert betrachten.2 Man erkennt dann die Bestandteile des Fallwissens. Ich will dafür ein Beispiel geben. Auf den Satz (11) Herr Müller erwarb von einem Berufskollegen einen 10 Jahre alten Mercedes,

kann folgen (12) Das Fahrzeug bestand zum Zeitpunkt des Verkaufs aus zwei selbständigen Teilen, die im wesentlichen durch das Scharnier der Motorhaube zusammengehalten wurden.

Es kann auch folgen (13) Er unterließ es, das Fahrzeug auf seinen Namen anzumelden,

oder auch (14) Bevor er das Fahrzeug bezahlt hatte, war es beschädigt.

Man weiß als Jurist, daß (12) zu einem Täuschungsdiskurs, (13) zu einem Ordnungswidrigkeitendiskurs und (14) zu einem Leistungsdiskurs führen werden. Man weiß - wohl nicht nur als Jurist - daß (15) Der Kollege ist zehn Jahre älter als der Mercedes.

nicht zu einem Rechtsdiskurs gehören. Das Wissen über die Anschließbarkeit juristischer Sätze ist in erster Linie Sachverhaltswissen, wobei nicht jede einzelne Konstellation wichtig ist und erinnert werden muß. Das Wissen über Sachverhalte zeigt sich gewöhnlich in der Kenntnis von Fällen, denn Fälle sind Sachverhalte, die unter normativen Gesichtspunkten erfaßt werden. Das Wissen um die jeweils geltenden normativen Gesichtspunkte ist für die juristische Professionalität zwar nützlich, aber nicht unbedingt ausschlaggebend. 1

Lyotard, Widerstreit, S. 59 (Nr. 41). Struck, Argumentation, S. 37 ff; Seibert, Aktenanalysen, S. 15.

1. Typen juristischen Wissens

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Sätze wie: Iura novit curia - entlasten nicht nur, sie garantieren auch die Exklusivität des juristischen Normwissens, dessen Präzision davon lebt, daß nicht jeder meinen darf, alles zu wissen. Die Parteien kennen die Tatsachen, das Gericht kennt das Gesetz. Man erreicht dadurch, daß den Gerichten, - insbesondere den Obergerichten, die sich mit der tatsächlichen Praxis nur noch wenig beschäftigen - Wissen unterstellt werden kann, das nicht nachzuprüfen ist. Statt dessen ist dieses Wissen nachzuschlagen. Auf dem Schreibtisch jedes Juristen befindet sich mindestens der übliche "Handkommentar", in dem man nachschlägt, was an Wissen gewünscht wird. Aber es bleibt noch ein nicht in Handkommentare ablegbarer Rest, der gewußt werden muß. Das ist der Zusammenhang einer Norm mit anderen ähnlichen Normen und der Unterschied zu andersartigen Normen, theoretisch gesehen: der Topos und seine Differenz.3 Man kann als Richter - ohne den Kommentar zu befragen - wissen, daß die Kostenverteilung sich nach dem Ergebnis der Entscheidung zur Hauptsache richtet; man weiß, daß die Darlegungs- und Beweislast für das Verschulden denjenigen trifft, in dessen Verantwotungsbereich der Schaden eingetreten ist; schließlich weiß man auch, daß vertragliche Regelungen gesetzlichen vorgehen oder daß gesetzliche dort eintreten, wo vertragliche fehlen. Man kann dieses Wissen "systematisch" oder "dogmatisch" nennen, übergeht dabei aber die Lücken, denn der überwiegende Inhalt der bereichsspezifischen Dogmatiken wird eben nicht gewußt. Ich nenne dieses Orientierungswissen im Anschluß an die Viehwegsche Tradition4 "Topik"; gemeint sind damit nicht nur die 60 bis 70 Inhaltsgesichtspunkte, die man als Jurist in der Tat kennt, ohne nachschlagen zu müssen,3 sondern auch ihr interner Zusammenhang. Zwischen dem topischen Wissen und dem Sachverhaltswissen besteht eine argumentative Verbindung. Die Argumentbeziehung ist in der Regel unbewußt und heißt unter deutschen Juristen "Judiz". Ein erfahrener Richter, dem ein Fall erzählt wird, kennt die Entscheidung, ohne im Gesetz nachzuschlagen oder Kommentare zu befragen. In den früheren Versuchen zu einer veränderten Juristenprofession (Einphasenausbildung) spielte die Einübung solcher unvermeidlichen Routinen eine wesentliche Rolle. Ein erfahrener Anwalt, der nach einer erwünschten Entscheidung gefragt wird, kennt die Geschichten, die zu ihr führen, ohne nach der "Wahrheit" forschen zu müssen. Wenn einem Richter oder Anwalt die Erfahrung fehlt, wie Fall und Topos zusammengehören, kann er den Mangel an Erfahrung durch einen Zugewinn an Regelkenntnis, an Wissen, ausgleichen. Das unterscheidet gewöhnlich jüngere von älteren Kollegen. Die Verbindung selbst - das Judiz6 - ist unentbehrlich.

3 4

In moderner Form vorgestellt von Bubner, Topik, S. 58 f. Viehweg, Topik, S. 111 ff; Rehbock, Topik, S. 68 ff Struck, Jurisprudenz, S. 20 - 34.

6

3*

Weiter untersucht bei Bihler, Rechtsgefühl, S. 28 f.

Π. Texte, Kontexte, Ergebnisse

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Ein Richter - heißt das bekannte Wort von Kant7- kann viele schöne juristische Regeln im Kopf haben, "in dem Grade, daß er selbst darin ein gründlicher Lehrer werden kann, und wird dennoch in der Anwendung derselben leicht verstoßen, entweder weil es ihm an natürlicher Urteilskraft (obgleich nicht am Verstände) mangelt, und er zwar das Allgemeine in abstracto einsehen, aber ob ein Fall in concreto darunter gehöre, nicht unterscheiden kann, oder auch darum weil er nicht genug durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zu diesem Urteile abgerichtet worden" ist. Er bleibt dann im kantischen Sinne ein "Dummkopf. Zur Disziplin gehört mithin unerläßlich neben Fallwissen und Topik ein Minimum an argumentativer Wechselbeziehung, wie sie im Judiz gewöhnlich eingeschlossen ist.8 Ein solches Judiz ist nun weder angeboren noch intuitiv erworben, sondern auf die "Ablichtung" durch Beispiele und wirkliche Geschäfte zurückzuführen. Es sind die Kontextsysteme, die juristische Dummköpfe dazu zwingen, ein Stück allgemeiner Klugheit anzunehmen.

2. Forensische Texte und Kontexte Wenn man über Kontextsysteme redet, ist es nützlich, zunächst die Textzusammenhänge in der Rechtsdisziplin vor Augen zu haben. Gewöhnlich nennen Juristen längere zusammenhängende, schriftlich abgefaßte und nach der Verfahrensordnung erforderliche Stellungnahmen "Texte". Juristische Texte haben die Besonderheit, daß sie nicht allein stehen; sie beziehen sich im Kontext auf mindestens einen Ko-Text,9 der gewöhnlich vom Verfahrensgegner stammt. Die Klageschrift ist in diesem Sinne ein Text, und den entsprechenden Ko-Text bezeichnet die Zivilprozeßordnung als Klageerwiderung. Wenn die Anklageschrift der Text ist, dann verhält sich die Schutzschrift des Verteidigers dazu als Ko-Text. Selbst wenn die Antragsschrift für die Erbscheinserteilung oder die Aufhebung einer Beschlagnahme keinen kontroversen KoText erwarten läßt (weil es keinen Gegner gibt), sind Ko-Texte im Gesetz, in Kommentaren oder ständiger Rechtsprechung vorhanden. Es gibt keinen nur für sich bedeutsamen Rechtstext. Da das Kontextsystem also in erster Linie ein Beziehungsverhältnis zwischen Texten ist,10 muß der juristische Textproduzent sein Elaborat den vorhandenen anderen Texten anpassen, wenn er Konsens erzielen will. Konsens ist kontextgebunden. Konsens wird darüber hinaus erst dadurch erzielt, daß 7

Kant, Vernunft, S. 97.

8

Gast, Rhetorik, S. 97.

9

Ko-Text-Systeme für Kontexte formalisiert Pinkal, Kontext, S. 59 ff.; den Ausdruck erläutert Busse, Text, S. 122 f. im Hinblick auf direkte Textbezüge. 10

Ballweg, Semiotik, S. 44.

2. Forensische Texte und Kontexte

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einer der Betroffenen "mundtot"11 gemacht wird, indem er entweder von vornherein schweigt und Klage oder Anklage schicksalhaft über sich ergehen läßt oder indem er im Laufe des Verfahrens die zur Artikulation notwendige Sprache verliert und damit jener Zustand des Streits erreicht wird, den Lyotard als "différend" bezeichnet. Um diese besondere Art von Konsens zu erreichen, muß ein praktisch argumentierender Jurist über ein Minimum an Analysekompetenz verfügen. "Analyse" heißt in diesem Zusammenhang nur die Flexibilität, die es erlaubt, auf passende Daten überzugehen, wenn es ein strikt vorgegebenes Ziel verlangt, oder das Ziel zu verändern, wenn die gegebenen Daten eine Veränderung verbieten. Ein kleines Beispiel mag den reduzierten, aber wichtigen Begriff von Analyse verdeutlichen. Nicht selten sperren Männer ihre Frauen aus der Wohnung aus (etwas seltener umgekehrt). Wenn das passiert, kann man mit schulmäßigem, juristischen Wissen im gerichtlichen Kontext eine einstweilige Verfügung erwirken, die den Zutritt ermöglicht, und wenn der juristische Antragsteller wirklich viel weiß, dann ist ihm bekannt, daß - wie es unter Juristen heißt - in Fällen verbotener Eigenmacht ein Verfügungsgrund nicht glaubhaft gemacht werden muß, oder anders und alltäglich allgemein: Die ausgesperrte Ehefrau muß nicht durch eine plausible Geschichte rechtfertigen, daß sie sofort wieder eingelassen werden will. Ob diese Lösung "gut" ist, steht auf einem ganz anderen Blatt. Aufgeklärte Juristinnen empfehlen, eine andere Wohnung oder Bleibe zu suchen und die Kosten als Schadensersatz einzuklagen.12 Diese Alternative macht deutlich, in welche Richtung die Argumente in einem solchen Fall gehen müssen und was "Flexibilität" bedeutet. Unflexiblen Zeitgenossinnen erscheint allein der Gedanke an möglichen Schadensersatz als ein schmählicher Verzicht im Kampf ums Recht; und unflexible Juristen kommen nicht einmal auf die Idee, daß die richtige Lösung nicht allein in einer simplen Anwendung des Schulwissens, sondern zunächst in einer vorsichtigen Erkundung der Lebens- und Vermögenssituation bestehen muß. Bei alledem sind juristische Kontexte zum geringeren Teil intern juristisch geprägt. Am ehesten läßt sich das noch für die Welt des Gerichts sagen, in der dank der Verfahrensordnungen die Juristen in der Person der Richter eine dominierende Stellung einnehmen, die sie außerhalb des Gerichts als Juristen nirgendwo haben. Darüber hinaus können diese mehr oder weniger juristischen Kontexte nur mit theoretischen Mogeleien als "Systeme" bezeichnet werden. Denn die Rede vom "Kontext" wird überhaupt erst dann theoretisch erhellend, wenn man den Bereich der mündlichen und damit präsenten Kommunikation verläßt und auf Schriften übergeht. Denn entweder ist die mündliche Verhandlung der Text und die Schrift Kontext oder umgekehrt.13 11

12 13

Lyotard, Widerstreit, S. 28 (Nr. 13). Hamm, Scheidungsalltag, S. 166. Seibert, Schriftform, S. 222 f.

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Π. Texte, Kontexte, Ergebnisse

Das Verhältnis der juristischen Schrift zur allgemeinen Lebenswelt ähnelt nicht jener Beziehung von System und Umwelt, die einen - wenn auch aufgrund theoretischer Wahl abgeschlossenen - Bereich auszeichnet und den anderen in Undefiniertem Dunkel beläßt. Undefiniert dunkel bleibt hier der juristische Text als Schrift. Als erratischer Block ragt er in die Lebenswelt hinein und läßt Mieter und Vermieter den Einheitsmietvertrag studieren oder Käufer und Verkäufer über dem Grundstückskaufvertrag rätseln. Der Rechtstext ist kein System. Er provoziert den Bruch mit dem, was man als Umwelt, aber besser als Welt bezeichnet. Durch juristische Schriften kommt in die Welt der Handelnden eine fremde, in ihren Auswirkungen nicht vollständig kalkulierbare Qualität hinein, jene Ausstreuung von Bedeutungen, jene "dissémina-tion",14 die mit "Handkommentaren" nicht wirklich einzudämmen ist. Der Kontext des Textes wird damit zum eigentlich bestimmenden Feld, das ihn nicht nur umgibt, sondern dirigiert. Die Richtungen, die ein Text auf diese Weise erhält, können nur metaphorisch, nicht linguistisch formalisiert angegeben werden, auch wenn die formale Linguistik sich bemüht hat, mögliche Bedeutungsveränderungen modellhaft abzubilden.15 Aber keine jemals beschriebene Textmenge erschöpft den Zeichenvorrat der Schrift. Schrift und Wélt bleiben zwei gleichermaßen unabgeschlossene Bereiche. Für die "Welt" braucht das nicht weiter erklärt zu werden. Nur im Hinblick auf Schriften - gerade juristische - erstaunt der Befund, daß sie Horizonte eröffnen, nicht zu verengen, daß neue Bedeutungen erschlossen, nicht alte, "unerhebliche" ausgeschieden werden. Beide Richtungen - Erweiterung wie Verengung - sind in der Textverwendung zu beobachten. Die Verengung und Verkleinerung wird durch jene Analysekompetenz bewirkt, von der bereits die Rede war. Sie ist notwendig, um die Schrift in der Welt zu verankern; Analyse ist notwendig für die Interpretation.

3. Die forensische Praxis der Analyse Der Ausdruck "Analyse" wird heute in einem inflationären Umfang verwendet. Es gibt keine nachdenkliche Tätigkeit mehr, bei der nicht auch "analysiert" würde. Wenn also ein Verteidiger sein Plädoyer mit der Aufforderung beginnt: (16) Es gibt kaum einen Staatsanwalt, mit dem ich lieber verhandle als mit Klaus Ekke, aber es ist auch unheimlich schwierig, mit ihm zu verhandeln, weil seine Anträge so ausgewogen erscheinen. Man muß erst einmal analysieren, was es damit auf sich hat, und das will ich tun. 14

Derrida, dissémination, S. 322 ff. Petöfi, Transformationsgrammatiken, S. 224, hat demgemäß die Linguistik auf die Beschreibung "ko-textuell interpretierter Texte" beschränkt.

3. Die forensische Praxis der Analyse

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dann heißt das nicht mehr und nicht weniger, als daß die nun folgende Argumentation nicht einfach bei der Kontraposition von These und Antithese (hier beispielsweise von Verurteilung und Freispruch), sondern "tiefer", bei den Voraussetzungen der These beginnen muß. Das ist das alltägliche, praktische Verständnis von Analyse, und dieses Verständnis will ich im weiteren zum Gegenstand der Untersuchung machen. Es würde nämlich in die Irre führen, "Instrumente" der Analyse zu suchen, die als Auszählungsbögen, Tonbandprotokoll oder Fragebogen in den Sozialwissenschaften bereitliegen. Solche Instrumentalisierung entspricht nicht der juristischen Praxis. Wenn man dort analysiert, dann wird die These zerlegt, was gar nicht immer notwendig ist, weil es häufig genügt, einfach das Gegenteil dessen zu behaupten, was gerade gefordert worden ist. Wie geht nun ein Jurist vor, der eine These zerlegt, um sie zu widerlegen? Ich will drei Komplexe der Analyse unterscheiden, die in der Literatur zur Argumentationstheorie vielfältig, aber gleichmäßig auftauchen: den "Beziehungsaspekt", den "Inhalt", was die Fallgeschichte angeht, und den Inhalt der relevanten Normgesichtspunkte. Die erste und wichtigste Stufe der Zerlegung deutet der Verteidiger am Beginn des obigen Plädoyers schon an: Er muß sich über die Beziehung der Verfahrenssubjekte (S) klarwerden, sie thematisieren, um sie zu verändern und ohne sie zu beschädigen. Die Analyse juristischer Argumente ist in eine Beziehung S - S eingebettet,16 die bei der institutionellen Arbeit zuerst einmal einfach persönlicher Natur ist. Wenn Verteidiger und Staatsanwalt sich kennen und vielleicht sogar schätzen, dann erleichtert das die Erreichung von Zielen in dem gleichen Maße, wie sie auch Zielkonflikte mit sich bringt. Man kann einem persönlichen Freund als Verfahrensgegner gewisse Züge mit Erfolg ansinnen; Gegenzüge sind aber auch einem erhöhten Risiko ausgesetzt. Die praktische Zerlegung der "Beziehungsebene" in einen disponiblen und einen basalen Teil steht deshalb am Anfang der Analyse. Der nächste Schritt besteht in der Umkehrung der juristischen Zeichen. Fachbegriffe wie "Rückfall", "erhöhte kriminelle Energie" oder wie "Verzug" und "Fälligkeitszeitpunkt" fassen voraussetzungsreiche Handlungsketten zusammen, die man umkehren kann und muß, indem man in der Analyse noch einmal den Handlungscharakter vergegenwärtigt. So mag der Staatsanwalt den Umstand, daß der Angeklagte vor Betreten des Gerichtsgebäudes einer 75jährigen Frau in der B-Ebene des Hauptbahnhofs die Handtasche wegriß, als "Rückfall" etikettieren; dieselbe Situation kehrt der Verteidiger um, indem er daran erinnert, in welch großer Not sich der Angeklagte befunden haben müsse, daß er noch auf dem Weg zum Gericht keinen anderen Ausweg sah, als 16 Zur Aufschlüsselung der Methodik: Seibert, Argumentationsbeispiele, S. 327; Ballweg, Semiotik, S. 62 f.: Wolter, Subsumtion, S. 90 ff.

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Π. Texte, Kontexte, Ergebnisse

straffällig zu werden - eine Not, die nur durch soziale Hilfe und nicht durch weitere Inhaftierung behoben werden kann. Das Argument benutzt die seit Aristoteles bekannte Inversion des Protagoras, der den Verdacht eines Schlägers von dem kräftigen, gewalttätig aussehenden Angeklagten dadurch abwehrte, daß er darauf verwies, daß ein solcher Mensch, der unablässig den Verdacht von Gewaltdelikten auf sich ziehe, sie schon deshalb nicht begehe, weil er mit dem ständigen Verdacht leben müsse. "Die Stärke der Schwachen" sieht Lyotard17 in einer solchen Umkehrung eines an sich zu Herrschaftszwekken einführten Arguments für die Verteidigung. Wie stark die Schwachen sind, bemerkt man im übrigen daran, daß "Aussehen" als offenes Argument kaum noch verwendet wird. Was auf der Ebene des Fallwissens Umkehrungen der Situation durch andere Fallschilderungen bewirken, leisten auf der Seite der juristischen Topik Entflechtungen der leitenden Gesichtspunkte. Niemand ist so lern- und wissensbegierig wie der juristische Praktiker, der nach einer Möglichkeit sucht, den Fälligkeitszeitpunkt hinauszuschieben, auch wenn das Datum für die Leistung vereinbart war. In aller Regel sind solche abstrakt begrifflichen Angriffe auch mit anderen Sachverhaltsgeschichten verbunden. Aber sie werden durch normative Stützungsversuche begleitet. Man kann den vereinbarten Termin für die Leistung dadurch aus den Angeln heben, daß man die Vereinbarung zum Ergebnis allgemeiner Geschäftsbedingungen erklärt, die unwirksam seien. Man kann den für zwei Jahre fest gebuchten Kosmetikkurs der Polendeutschen aus den Angeln heben, indem man den Bindungszeitraum als überraschend, zu lang und damit für rechtlich unwirksam erklärt, auch wenn die Mandantin die Zeit kannte, für die sie sich festlegte. Alle diese rechtlichen Stützungsversuche sind mit Fallgeschichten verbunden; aber anders als die Inversionen des Sachverhalts erzeugen diese Geschichten darüber hinaus auch noch andere Normgesichtspunkte. Alle drei Prozeduren treiben die Analyse im praktischen Interesse voran: die Veränderung der Verfahrensbedeutung ebenso wie die Veränderung der Fallgeschichte und - davon trennbar, wenn auch häufig praktisch damit verbunden - die Veränderung des Normgesichtspunkts. Alle drei Operationen müssen einem Juristen geläufig sein. Sie konstituieren seine Praxis. Wenn er sie nicht beherrscht, hört er auf Jurist zu sein. Die Beherrschung ist allerdings nicht besonders schwierig, denn sowohl der Umgang mit interpersonalen Beziehungen wie auch Veränderungen und Umwertungen von Fallgeschichten gehören zur alltäglichen Praxis in einer strukturell ähnlichen Weise, wie sie die juristische Analyse fordert. Rechtskunde und Weltkunde unterscheiden sich nur in den repräsentierten Kontexten, die in der allgemeinen Handlungswelt latent, unausgesprochen und mehr gefühlt als gedacht oder gewußt bleiben, während sie in der juristischen, insbesondere der forensischen Praxis als Schriften manifest 17

Lyotard, Minderheiten, S. 73 ff.

4. Die Repräsentationsform forensischer Ergebnisse

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werden und zur ständigen Auseinandersetzung auffordern. Die Analyse des Kontextes und das Wissen über Texte beziehen sich unmittelbar auf die Repräsentation vorangegangener Kontexte und Wissensbestände. Ich erreiche damit die letzte Stufe der juristischen Zeichenkette.

4. Die Repräsentationsform forensischer Ergebnisse und das präsentierte Formwissen Bisher habe ich mich in Beispielen und Vorstellungen vor allem mit der direkten Kommunikation vor Gericht beschäftigt. Tatsächlich erscheint es für das praktische juristische Handeln auch am wichtigsten, Personen und Fälle, Einstellungen und Bewertungstendenzen zu kennen oder durch Analyse zu erschließen. Aber bei dieser Sicht fehlt noch jener Bereich, der fast ausnahmslos das Feld des veröffentlichten Gerichtswissens beherrscht: der Umgang mit den Vorschriften der immer schneller novellierten Gesetze, der Verweis auf die immer mehr ins Detail gehenden Leitsätze der höchstrichterlichen Rechtsprechung und die Vorbereitung mit den schon erwähnten, immer umfänglicher werdenden "Handkommentaren". Das präsentierte forensische Wissen und die Kontexte, auf die ausdrücklich verwiesen wird, scheinen mit der direkten Verständigung am Fall kaum etwas zu tun zu haben - jedenfalls wenn man den Begründungen der Entscheidungen folgt. Präsentiert wird das Wissen unter Verweis auf Gesetz und Präjudizien. Aus solchen Texten soll es abgeleitet sein. Der Unterschied zwischen dem verkündeten Gesetz und den veröffentlichten Vorentscheidungen ist dabei nicht so groß, wie manche politische Debatte glauben läßt. Die Vorschriften des Gesetzes sind oft merkwürdig tatsachenfern, so daß der unbefangene Betrachter meinen könnte, jene Vorschrift hätte mit diesem Fall gar nichts zu tun; und die Präjudizien der höchstrichterlichen Rechtsprechung sind oft bemerkenswert gesetzesfern, so daß der unbefangene Leser meinen könnte, jene Leitentscheidung habe mit diesem Gesetz und seinem Fall gar nichts zu tun. In beiden Fällen nützt das Erstaunen wenig. Die Schriften wirken in die Welt und bewirken in ihr etwas, das Zeitgenossen nicht vermutet hatten. Dieser Neuigkeitswert macht den Charakter einer Entscheidung aus. Repräsentiert werden die Entscheidungen in drei Formen. Die erste und für alle Beteiligten bestimmende Form ist der verkündete Tenor. Der Tenor entscheidet über die Verteilung von Sieg und Niederlage, von ihm gehen die Erfolgs- und Mißerfolgserlebnisse der praktizierenden Juristen aus. Kaum jemals werden aber mit einem Urteilsspruch die implizierten Regeln oder die festgestellten Sachverhalte verstanden. Verstanden wird das Ergebnis auf dem Hintergrund ganz unterschiedlicher Bedürfnisse und Verständnisse. Insofern hat

42

Π. Texte, Kontexte, Ergebnisse

die Mitteilung eines Ergebnisses ("Es gibt da eine Entscheidung, sie muß in einem der letzten Hefte von ... stehen) wenig mehr als Thesencharakter. Einen Schritt in Richtung auf die Vertiefung einer These gehen die veröffentlichten Leitsätze der Rechtsprechung. Sie sind die zweite wichtige Repräsentationsform forensischen Wissens. Aber auch insofern kürzt das überlieferte Wissen ab. Entscheidungen werden in der kontinentalen Rechtstradition nur in der reduzierten Form des publizistisch bearbeiteten Leitsatzes tradiert, der von den Redaktionen der Zeitschriften oder von den Obergerichten selbst stammt. Das Präjudiz erschöpfen solche Leitsätze in der Regel nicht. Memoriert und argumentiert wird nicht mit der Struktur des Falls, sondern mit einem für Außenstehende hermetisch wirkenden Formelextrakt der Art: Nur der tatsächliche, nicht der fiktive Nutzungsausfall sind zu ersetzen. Das bedeutet, daß nach einer Entscheidung des Bundesgerichtshofs im 66. Band der amtlichen Sammlung bei Verkehrsunfallschäden der Verzicht auf das Auto während der Reparaturzeit nur dann ersetzt wird, wenn das Auto tatsächlich repariert wird; 18 andererseits werden jedoch die Reparaturkosten auch ersetzt, wenn nicht repariert wird. Der Widerspruch beim Ausgleich des kommerzialisierten fiktiven Schadens wird argumentativ nicht mehr behandelt. Obwohl veränderbar und mit Willkürmomenten versehen, nehmen ihn Juristen gewöhnlich unverändert und notwendigerweise hin. Das zur Stützung benutzte Argument taucht in den Kommentierungen nicht mehr auf. Die Kommentierung ist schließlich die dritte Form der Ergebnisrepräsentation. Anders als der Tenor des Urteils oder der Leitsatz eines Präjudizes handelt es sich hierbei in der Regel um vollständigen, wenn auch charakteristisch abgekürzten Text. Man liest in dem gängigen Handkommentar des Bürgerlichen Gesetzbuchs19 zum Nutzungsausfall bei Kraftfahrzeugen im abgekürzten Stil: "AnsprVoraussetzg ist weiter eine fühlbare Beeinträchtigung. Erforderl sind daher Nutzgswille u e hypothet Nutzgsmöglichk (BGH 45, 219)". Die Kommentierung enthält Anweisungen für Juristen.20 Es führt deshalb fast immer zu nicht entwirrbaren Mißverständnissen, wenn prozeßführende Bürger mit Lesefrüchten aus dem Kommentar in der Stadtbibliothek erklären wollen, warum der Verzicht auf das Wohnmobil für sie eine fühlbare Beeinträchtigung darstellt. Alle repräsentierten Ergebnisse des Rechtssystems - Vorschrift wie Leitsatz und Kommentar - sind in Form fachsprachlicher Sätze abgefaßt. Als Ergebnisse eines spezifischen Diskurses verführen sie die Laien dazu, an Stelle ihres Erlebens jene Ergebnisse zu sehen, mit denen sie die Sache in ihrem Sinne entschieden meinen.

18 19 20

Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Zivilsachen in der amtl. Sammlung Bd.66, S.239. Begründet von Otto Palandt mit dem Text zur Vorbemerkung vor § 249 BGB. Naucke, Stil, S. 189.

4. Die Repräsentationsform forensischer Ergebnisse

43

Was für einen Zusammenhang ergibt nun dieses Gewebe aus Spruch, Leitsatz und Kommentar? Sieht man es im Zusammenhang, erscheint es jedem Benutzer und jedem Außenstehenden als kompliziertes, auf jeden Einzelfall mit äußerster Präzision reagierendes logisches System. Dieser Eindruck bildet sich in der Tat in der Rechtswelt ab, indem Richter ihr Wissensgefuge als Erzeugnis von Logik und Methodenlehre vorstellen; und er setzt sich bei allen Adressaten durch, die in der Rechtswelt einen wenn auch häufig merkwürdig, dennoch aber präzise verselbständigten Wissenszusammenhang vor sich zu haben meinen. Ein Gericht, das eine Entscheidung getroffen hat, begründet sie mit einem oft komplizierten und dem Anspruch nach zwingend verstandenen Ableitungsgefüge. 21 Das ist die eine Gesamtkonzeption des juristischen Wissens: Recht als Ableitungssystem. Die andere Sicht stellt sich bei Juristen ein, wenn sie gefragt werden, welche Regelung in der Zukunft richtig wäre, oder bei Laien, die einen Prozeß verloren haben: ein Chaos widerstreitender Energien. Denn die durch Spruch, Leitsatz oder Kommentierung gesammelten Regeln sind nicht nur verschiedenartig, sie sind auch widersprüchlich. Das ist an sich nicht weiter erstaunlich. Es gibt nämlich keine Kontrollinstanz, die darüber befindet, ob ein Leit-satz leitend oder eine Kommentierung klärend wäre. Schon die Vorstellung, das Parlament, das ein Gesetz beschließe, sei eine Instanz, die kontrolliere, ob es notwendig sei, gehört einer bestimmten logisch-deduktiven Sichtweise an. Verläßt man sie - und das muß man tun, wenn man aus dem System heraustritt, weil man enttäuscht ist oder weil die noch ungeregelte Zukunft es verlangt verläßt man das System, dann erweckt es den Eindruck der Paralogie. Die Paralogie als Repräsentationsform des Wissens hat Jean-François Lyotard für die Postmoderne reklamiert. 22 Der Zustand ist in der Jurisprudenz in der Zeit ihrer wissenschaftlichen Verfassung der Sache nach geläufig. "Hétérogénéité des règles" und "recherche du dissentiment"23 sind ein Kennzeichen juristischen Wissens und einer bestimmten Perspektive; und es ist die geistige Verfassung der Postmoderne, die es gestattet, ohne größere Skrupel diese Perspektive neben jene des Rechts als Ableitungssystem zu setzen, ein Sakrileg, das Theodor Viehweg in modernen Zeiten mit der Entgegensetzung von Topik und Axiomatik24 beging. Die logische wie die paralogische Konzeption des Rechtssystems sind auf Argumentationsanalysen angewiesen, weil beide unterstellen, daß ein Jurist sich die Daten seines Wissens jeweils erst zusammenstellen muß. So gesehen bleibt kein Raum mehr für die Frage, ob eine notwendige Tätigkeit durch eine ebenso notwendige Voraussetzung veibesert oder verschlechtert wird. Beides kommt jeweils zusammen vor. Man kann allenfalls 21

22 23 2 4

Sobota, Sachlichkeit, S. 95 ff. Lyotard, Postmoderne, S. 98 ff. Ebd., S. 106. Viehweg, Topik, S. 81 ff.

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Π. Texte, Kontexte, Ergebnisse

fragen, ob sich Verbesserungen dadurch erreichen lassen, daß isolierte Analysen betrieben werden können oder ob man jeweils bei der praktischen Argumentation einsetzen muß. Unter Juristen dürfte die letzte Meinung vorherrschen. Unter ihnen herrscht auch nach wie vor das Gefühl der Gesetzesbindung vor. Stellt man sich aber das Gesetz als festen Text vor, dann gelingt es dem Analytiker einer Argumentation kaum, mit Hilfe der Analyse jene ideologiefreie, meinungsmäßig neutrale Ebene einzurichten, auf der sich eine Entscheidung als logisch inkonsistent und allein aus diesem Grund revisibel erweisen würde. Denn der Sicht auf das Gesetz liegt bereits eine Fülle unausgesprochener Prämissen zugrunde, die der nur mit logischen Mitteln arbeitende Analytiker nicht verändern kann. Das ergibt sich bereits daraus, daß Ableitungsbeziehungen in nicht formalisierten Texten erst einmal hergestellt werden müssen und sich die Verteidiger eines kritisierten Ergebnisses argumentativ dagegen wehren, Ableitungsgefüge präsentiert zu bekommen, die nach einer verhältnismäßig durchsichtigen Analyse schnell als widersprüchlich erscheinen. Man kann deshalb sagen: Je mehr die Gesetzes- und Ableitungsperspektive in der juristischen Arbeit überwiegt, umso geringer ist die Neigung, Analytiken einen eigenständigen Wert im Rahmen des Fachs zuzuerkennen. Die Jurisprudenz verbessert sich dann, indem sie größer wird und mehr Ergebnisse produziert werden. Was aber leistet die Analyse bei der Minderheit jener Juristen mit der Perspektive heterogener Regeln, denen Dissense zugrundeliegen und aus denen Nichtübereinstimmung folgt? Selbstverständlich kann die Analyse solcher Argumentation schnell wiederum Heterogenität und Nichtübereinstimmung feststellen. Aber damit würde sie nur die Prämissen wiederfinden, und das ist wenig. Argumentationsanalyse ist deshalb im juristischen Bereich eine inhaltliche, dogmatisch-strategische Arbeit. Analysieren kann der Verteidiger, der einem Strafantrag widerspricht. Analysieren kann der Hochschullehrer, der einem Rechtsprechungsergebnis widerspricht; und schließlich kann jeder analysieren, der ein Gebäude juristischer Meinungen und Ergebnisse dekonstruieren will. Analyse ist in diesem Verständnis Reduktion.25 Für sie ist nicht wesentlich, ob Ausgangspunkte und Ergebnisse zutreffen. Sie funktioniert in praktischem Interesse und hat ihr Ziel erreicht, wenn der Analytiker mit seinen Mitteln eine Perspektive auf die juristische Ergebnislandschaft gewonnen hat. Sicher lohnen sich Sorgfalt und Geduld bei der Beschreibung der Ausgangsdaten. Aber wenn die Landschaft flach ist, lassen sich Horizonte auch von kleinen Hügeln ausmachen. Die Analyse erfüllt ihre Aufgabe im Argumentationshaushalt des Analytikers, wenn sie ihm das Gefühl der Sicherheit im Umgang mit den Daten vermittelt. Solche Gefühle halten die juristischen Analytiker meist für gut. Manche Laien wünschen sich mehr offene Unsicherheit. 25

Nicht "Destruktion", wie Sobota, Sachlichkeit, S. 5 und 23 ff; auch: Schreckenberger, Semiotik, S. 180 ff. ausführen.

ΠΙ. Das forensische Modell Für eine Streitfrage ein Forum einzurichten oder sich ein Forum zu schaffen: das ist eine allgemeine Vorstellung, die nicht auf eine ausgeprägte Erfahrung mit Gerichten angewiesen ist. Selbst wer nie bei Gericht war, hat eine Vorstellung davon, wie es dort zugeht oder zugehen müßte. Die Form des Streits vor Gericht gibt ein Modell ab, an das sich teilweise hochgespannte Erwartungen knüpfen. Dialogische Wahrheit, repräsentative Öffentlichkeit und transparente Sprache - diese Merkmale eines Diskurses sollen sich auch im Streit vor Gericht wiederfinden. Insofern war und ist das Gericht für Philosophen, Soziologen und Sprachtheoretiker ein Ort, der eine nicht immer praktische, aber doch modellhafte Bedeutung hat.1 Sie ist Thema der folgenden Überlegungen. Das Forum hat einen historischen Ort und eine rhetorische Tradition, die zu allererst den Horizont für Modellvorstellungen bildet. In der forensischen Rhetorik wird - schon in ihrer antiken Fassung - Argumentation praktiziert. Wer wissen will, was ein erfolgreiches Argument sei, der übe seine rednerischen Fähigkeiten vor Gericht. Die Konsequenzen dieser alten Regel behandle ich zunächst (1). Ihr standen von Anfang an philosophische Wahrheitsvorstellungen gegenüber, die Distanz zum forensischen Streit hielten. Der sokratische Dialog hält eine solche Distanz, die gleichzeitig auf die Wahrheitsfindung im Forum zurückwirkt und Prognosen erlaubt, was man von agonaler Rede erwarten darf (2). Die repräsentative Öffentlichkeit ist - wie Besucher des Gerichts wissen - dort nicht real anwesend. Sie ist heute mehr denn je eine philosophische Konstruktion. In ihrer modernen Fassung stammt sie aus der neuen Rhetorik von Chaïm Perelman (3). Schließlich interessiert die sprachliche Leistung für oder in der Problemerörterung. Zwischen forensischer Sprachpraxis und juristischer Sprachkritik ist heftig umstritten, welche Rolle eine Rechtssprache als "Fachsprache" im Rahmen des forensischen Modells spielen kann (4). Das ist der letzte Punkt der folgenden Modelldiskussion.

1. Das Forum und die forensische Argumentation Das forensische Modell hat einen definierten historischen Ort. Von diesem Ort läßt es sich selbst dann nicht trennen, wenn man an die gegenwärtige 1

Kopperschmidt, Rhetorik, S. 52.

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ΠΙ. Das forensische Modell

Sitzungspraxis denkt. Das moderne Gericht tagt im Gerichtssaal, historisch nannte man es allgemein das "Forum". Das Forum - ursprünglich der Vorraum einer Grabstätte2 - war im römischen Staatsleben allgemein Markt- und Versammlungsplatz. Oft auf halbem Wege an einer via gelegen, diente es den römischen Amtsträgern zur Erledigung von Verwaltungsaufgaben. Dazu gehörte zunächst auch die Jurisdiktion. Im Forum war Dritter der Prätor. Vor ihm wurde geklagt. Deshalb leiten sich aus der Ortsbezeichnung sowohl die Termini für die gerichtlichen Zuständigkeiten ab {forum contractus = Erfüllungsort; / rei sitae = dinglicher Gerichtsstand etc.) wie auch das Prädikat (res forensis) für eine besondere Form der Rede: Zum genus iudiciale gehört die forensische Argumentation. Die Rhetorik ist eine tradierte und in der Tradition verfestigte bestimmte Form der Semiotik. Sie behandelt in alter wie neuer Fassung drei unterschiedliche Positionen bzw. Beziehungen zwischen Positionen: die des Redners, die des Zuhörers und die des Redegegenstands. Aus der unterschiedlichen Position des Zuhörers leitet die aristotelische Rhetorik die drei Genera ab, die zur rhetorischen Tradition gehören: "Der Zuhörer ist nun notwendig einer, der die Rede genießt, oder einer, der zu urteilen hat, und zwar zu urteilen, über das was geschehen ist oder geschehen soll. Zum Beispiel ist ein Mitglied der Volksversammlung jemand, der über Künftiges zu urteilen hat; wer aber über Geschehenes zu urteilen hat, ist ein Richter; wer schließlich über das rhetorische Vermögen zu urteilen hat, ist jemand, der die Rede genießt."3 Dementsprechend unterscheidet die alte Rhetorik genus deliberativum, genus iudiciale und genus demonstrativum. Das gegenwärtig wieder erwachte Interesse an der Rhetorik behandelt diese Gattungen aber nicht mehr gleichberechtigt, sondern konzentriert sich auf die Behandlung des Prozeßgegenstands vor Gericht. Lausberg sieht im Straf- und Zivilprozeß den "Modellfall" 4 für abgeschlossene Redegegenstände (quaestiones finita). Die forensische Rede zeichnete sich von Anfang an durch ihren stets dialektischen und agonalen Charakter aus. Es galt, Dritte zu überreden oder zu überzeugen. Iudicium privatum wie iudicium publicum hatten zwei Parteien (actor, reus), so daß der Gerichtsredner immer gegen einen Opponenten sprach und für den iudex plädierte, der die Beweise aufnahm und die Entscheidung fällte oder den Geschworenen die zu beantwortenden quaestiones vorlegte. Während die Wirkung, zu gefallen, bei einer Prunkrede noch zweifelhaft sein kann und die Ratsrede nicht notwendig auf einen Gegner stoßen muß, sind im Rahmen der Gerichtsrede die Intentionen definiert, die Parteien festgelegt und die Effekte sogleich festzustellen. Wenn das Gericht im Sinne des Antrags entscheidet, hat der actor Erfolg. Der Erfolg war gleichzeitig als Teil gesell2 3

4

Cicero, Rechtlichkeit, 2. Buch, 61. Aristoteles, Rhetorik 1358 b. Lausberg, Handbuch I, S. 63.

1. Forensische Argumentation

47

schaftlicher Anerkennimg zu verstehen. Diese verbindliche und übersichtliche Ordnung macht das forensische Paradigma5 zum Musterfall der Argumentation. Die Argumentation stellt einen kanonisch definierten, besonderen Zeichenprozeß dar. Für ihn gelten eigene Regeln. Die argumentatio ist im genus iudiciale der dritte der vier klassischen partes orationis. Man gewinnt im exordium die Aufmerksamkeit von Richter und Publikum, teilt in der narratio den Sachverhalt nach dem Standpunkt der eigenen Partei mit, würdigt ihn in der argumentatio und kommt darin zur Schlußfolgerung (conclusio). Quintilian6 unterscheidet im Rahmen der argumentatio noch weiter die probatio der eigenen Gründe von der refutatio der gegnerischen. Das Schema ist von bleibendem Interesse, weil sich bis heute die konventionelle juristische Begründung im wesentlichen an einer solchen Vierteilung ausrichtet. Der exordiale Einsatz wird dabei meist durch eine Referenz auf die Person des Angeklagten ersetzt, an die sich die narratio anschließt. Der heutige forensische Begriff der Argumentation7 umfaßt die Techniken der "Sachverhaltskonstitution" in der narratio ebenso wie die Zurückweisung der gegnerischen Gründe (im Strafurteil: der Einlassung des Angeklagten) und die Hervorhebung der eigenen Würdigung. Zur conclusio im Rahmen des Plädoyers gehört schließlich auch eine Argumentation über das Rechtsfolgeermessen (in Strafsachen: die Strafzumessungsargumente). Das argumentative Schema für die gegenwärtige Gerichtsrede lautet dann: Den Angaben zur Person (des Angeklagten) folgt die Sachverhaltsdarstellung des Gerichts, danach wird eine möglicherweise abweichende Sachverhaltsdarstellung (die Einlassung des Angeklagten) zurückgewiesen, so daß der Tatbestand rechtlich bewertet und in den sich ergebenden Rechtsfolgen dargestellt werden kann. Das Urteil präsentiert eine immer noch vorbildliche Einheit zwischen Sprach- und Machtform jene Einheit, die semiotisch "Dispositiv" heißt und die ich unter diesem Gesichtspunkt im 5. Kapitel näher erläutern werde. Auch wenn die argumentatio zum hergebrachten Schulwissen der klassischen Rhetorik gehört, ist der Begriff der juristischen Argumentation modernen Ursprungs. Die klassische forensische argumentatio kannte zwar die binäre Streitfrage, strebte aber in der Weise, wie die quaestio formuliert wurde, nach Evidenz. So stellt der actor im römischen Strafprozeß ein "factum" dar, dessen auctor der Angeklagte sein sollte. Die Rede kulminierte in der quaestio : Fecistn die mit der bloßen Erwiderung: "Feci" im Sinne eines Geständnisses klar beantwortet ist. Nur eine Einschränkung wie "Feci sed aliud"8 oder

5

Kopperschmidt, Argumentation, S. 47. Quintilian, institutio III, 9, 1. Alexy, Argumentation, S. 281 f.

8

Aristoteles, Rhetorik 1417 b.

48

ΠΙ. Das forensische Modell

"Feci sed iure"9 zwang den Richter zur Nachfrage nach dem "status" der Handlung10 und veranlaßte damit die Suche nach Argumenten. Weitere Fragen sollten das Ergebnis evident machen. Lautete die Antwort aber von Anfang an "Non feci", so mußte der Richter Evidenz im Beweisverfahren erreichen. 11 Aus heutiger Sicht erscheint der römische Prozeß wegen seiner Ausdifferenzierung nach quaestiones am ehesten als historisches Beispiel juristischer Argumentation. Das mittelalterliche Gerichtsverfahren wurde hingegen maßgeblich vom Geständnis und von Beweisregeln beherrscht. Nach der im Jahre 1532 verabschiedeten Constitutio Criminalis Carolina war das Urteil spruchreif, wenn zwei Tatzeugen übereinstimmend aussagten; ansonsten war das Geständnis des Angeklagten erforderlich, das aber in jedem Fall angestrebt wurde. Die Folter sollte ein (in der Doktrin als wahrheitsgemäß angesehenes) Geständnis herbeiführen, wobei die Carolina die ohnehin gängige Praxis an einen bestimmten, durch Indizien begründeten Verdacht band. Bei alledem überwog das Streben nach Evidenz die vorhandenen Ansätze zur Argumentation. Diese Form der Begründung blieb im Spätmittelalter den Appellationsgerichten und Oberhöfen vorbehalten. Denn die Gerichtsbarkeit war - anders als im römischen Kaiserreich - in zunehmendem Umfang territorial zersplittert und Laien (Schöffen) überantwortet. Berief ein Schöfifenstuhl sich auf Unkenntnis des Rechts, so konnte sich der Kläger an ein anderes Gericht wenden; es stand dem Schöffen aber frei, sich Rechtsrat von einem Oberhof erteilen zu lassen. Der Argumentation fehlte - wenn sie stattfand - das Forum; sie war eingebunden in den schriftlichen, zeitraubenden Verfahrensgang der Inquisition. Auf die moderne Position des Dritten, des Gerichts, haben zwei gegensätzliche Maximen Einfluß genommen. Von Montesquieu stammt der berühmt gewordene Ausspruch, der Richter dürfe nur der Mund sein, der die Worte des Gesetzes ausspricht (la bouche qui prononce les paroles de la loi 12). Die Forderung nach einer Trennung zwischen Gericht und Staatsgewalt reduzierte die forensische Rede auf die Verlautbarung eines angeblich vorhandenen Inhalts. Unter diesem Aspekt durfte Argumentation keine Rolle im Verfahrensprogramm spielen; vielmehr beschränkten neuere Gesetze wie das preußische Allgemeine Landrecht die Interpretation auf "Auslegung". Eine gegenläufige Tendenz mußte zwangsläufig aus dem Gebot nach Effektivierung der Gerichtspraxis erwachsen. Die Berufüng auf Unkenntnis des Rechts (die einem Schöffenstuhl noch erlaubt war) entfiel. Statt dessen statuierte der Code Civil in dem noch heute gültigen Art. 4 das richterliche Delikt 9

Ebd.; Quintilian, institutio III, 6, 49. Seibert, Topos und Status, S. 83 f. Perelman, preuve, S. 358 f. im Versuch einer Synthese. Montesquieu, lois, S. 404.

1. Forensische Argumentation

49

der "Justizverweigerung": Le juge qui refusera de juger, sous prétexte de silence , de l'obscurité ou de l'insuffisance de la loi, pourra être poursuivi com me coupable de déni de justice. Wenn man mit den Kenntnissen der neueren Sprach- und Kommunikationstheorie weiß, daß abstrakt-generelle Regeln (Gesetze) nicht selten dunkel und unzureichend sind bzw. sein müssen, wirkt sich die Unterstellung, das Gesetz habe aber alles geregelt, es sei klar und enthalte keine Lücken, praktisch als Argumentationsgebot für den entscheidenden Dritten aus.13 Gesetzlich festgelegt wurde es als Pflicht des Richters, jedes Urteil zu begründen. Die moderne Argumentation wird - anders als in der Inquisition - in allen Verfahrensordnungen wieder an die mündliche Verhandlung gebunden, die durch Schriftsätze nur vorbereitet werden soll. Die Entscheidung des Gerichts beruht jedoch auf dem Inbegriff der Verhandlung und der dort möglichen Überzeugung. Dierichterliche Überzeugung wird in den modernen Prozeßordnungen des 19. Jahrhunderts als frei bezeichnet. Sie ist nicht mehr an gesetzliche Beweisregeln gebunden. Das macht es der Doktrin nach möglich, jenseits der "Einlassung" eines Angeklagten und der Aussagen der vernommenen Zeugen die Wahrheit des Urteils zu finden. Diese Rahmenbedingungen - Entscheidungszwang, freie Überzeugungsbildung und Begründungspflicht - machen seit 200 Jahren forensische Argumentation unerläßlich. Die aus der französischen Revolution überkommenen gegensätzlichen Anweisungen haben im Verlauf der modernen Entwicklung juristische Freiheiten eröffnet. Einerseits gehört die Bindung an Recht und Gesetz (statuiert in Art. 20 Abs. 3 des Grundgesetzes) zu den selbstverständlichen und unantastbaren Vorgaben. Sie ist allerdings nicht Methode; als fester Topos ist die Gesetzesbindung selbst Argument geworden,14 um bestimmte andere Meinungen aus der Argumentation auszuschließen. Anders als Montesquieu dachte, verbürgt die Verlautbarung des Gesetzes nicht die externe Kontrolle der Richter durch eine bürgerliche Öffentlichkeit, sondern kann ihr als Argument einen juristischen Arkanbereich entziehen. In der herkömmlichen Lehre heißt die Argumentation daher nach wie vor "Begründung", angelehnt an den gesetzlichen Auftrag, jedes Urteil mit "Gründen" zu versehen. Demgegenüber hat die erst in jüngster Zeit einsetzende inneijuristische Erörterung der Argumentation externen Antrieb aus Philosophie, Rhetorik und Sozialwissenschaften erhalten.15 Praktisch öffnen sich die zuvor strikt fachlich gehaltenen Gründe für alltägliche, von den Parteien für wichtig gehaltene, auch politische Gesichtspunkte.16 All dies ist möglich, kann aber nicht verläß13

14 15 16

Perelman, Logik, S. 37 ff Struck, Jurisprudenz, S. 19. Alexy, Argumentation, S. 6; Neumann, Argumentationslehre, S. 8. Rodingen, Pragmatik, S. 142 ff.

4 Seibert

50

ΠΙ. Das forensische Modell

lieh erwartet werden. Möglich gemacht wurde es am Anfang durch die moderne Rezeption von Topik und Rhetorik,17 die von Juristen bezeichnenderweise auch als Angriff auf die Gesetzesbindung verstanden wurde. Argumentation wird heute in Form einer "Folgendiskussion"18 (gemeint ist die interne Argumenation über die Ausfüllung des im Gesetz normierten Ermessens), als "Vorverständnis" (Inbegriff der richterlichen Disposition, Gesetze zu verstehen19) oder als Präjudizienlehre 20 praktiziert. Die gegenwärtige juristische Argumentation läßt sich deshalb nicht mehr mit der klassischen Würdigung der narra tio gleichsetzen. Sie umfaßt die Strategien, einen Sachverhalt darzustellen, ebenso wie die Wahlfreiheiten, die eine conclusio entgegen der Doktrin immer noch läßt.21 Wegen der daraus entstehenden Vielfalt und Unübersichtlichkeit steht nicht zufällig eine große Anzahl von Analysen ganz wenigen modernen Übungsprogrammen gegenüber.

2. Der Dialog als Lehrform Das forensische Geschehen besteht zunächst - ohne daß man tiefer in Einzelheiten eindringen müßte - in Rede und Gegenrede, Spruch und Widerspruch. Diese rhetorische Dialektik hat Modellfünktion für jede Streitsituation, weil sie die Gleichzeitigkeiten des Affekts zunächst einmal ordnet und einer Beratung zugänglich macht. Alle Beteiligten müssen anwesend sein, und sie werden verpflichtet, sich nur dann zu äußern, wenn sie das Wort erhalten. Wenn sie das Wort erhalten, sollen sie zur Sache sprechen, und die Sache erhält ihre thematische Kraft aus dem zwischen den Beteiligten zur Diskussion stehenden Problem. So leerformelartig und wenig verbindlich diese Modellfunktionen wirken, so häufig haben sie philosophischen Einspruch herausgefordert. Insbesondere der Dialog, der doch das forensische Geschehen beherrscht, scheint in seiner rationalen Aufgabe unterrepräsentiert. Dialog verlangt Beratung, aber nicht Entscheidung; er verlangt zwei Partner und macht den Dritten überflüssig. Im Zwiegespräch zwischen Partnern geht es nicht um Sieg und Niederlage, sondern um Einigkeit und Einverständnis. Die Partner des Dialogs sollen ihre eigenen Richter sein.22 Das Vorbild für solche dialogischen Formen 17

Viehweg, Topik, S. 111 ff; Ballweg / Seibert, Rechtstheorie, mit den Beiträgen von Spira, Horn,

Rodingen und Seibert.

18

19

Alexy, Argumentation, S. 246. Esser, Vorverständnis, S. 53 f. Schreckenberger, Semiotik, S. 142 ff.

21

Gast, Rhetorik, S. 84 ff.

22

Platon, Politeia 3488 a-b.

2. Der Dialog

51

der Begründung findet sich bei Piaton. In Dialogform schreibend, lehrt Piaton, wie und zu welchem Ende wir Dialoge führen sollen. Die platonischen Dialoge lehren gleichzeitig, warum ihre Rhetorik - wie es im Gorgias heißt23 - nützlich für das Leben wie die Kochkunst oder die Turnkunst ist, aber für sich genommen nicht dazu taugt, das Wahre und Gerechte zu befördern. Was wahr und gerecht ist, muß der Rhetor schon wissen, ehe er Gebrauch von seiner Kunst macht.24 Damit wird in der Rede das von ihr zu Unterscheidende formuliert. Wahrheit und Gerechtigkeit sollen Attribute sein, die man erkennen kann und vielleicht sogar erkennen muß, ohne darüber im Streitgespräch zu reden. Dennoch gehört die Konzeption des Dialogs zum Zentrum des forensischen Modells. Dessen Begründungsanspruch, wie er neuzeitlich etwa im Rahmen der oben erwähnten Theorie der Argumentation formuliert wird, richtet sich ja nicht allein auf einen wie immer gearteten Sieg über einen zufälligen Gegner, sondern die Begründung soll am besonderen Beispiel die allgemeine Verbindlichkeit zu erkennen geben; und was als verbindlich gelten soll, darf nicht dem Zufall überlassen bleiben. Man - und das ist der Philosoph - weiß es, auch wenn er im Disput nicht den Sieg erringt. Die platonischen Dialoge führen vor, daß der Rhetor sein Ziel schon kennen muß, ehe er zu reden beginnt. Die Dialoge werden bekanntlich von einem wissenden Sprecher geführt und geformt: Sokrates. Sprecher- und Hörerrolle werden zwar getauscht, Sokrates hört auch zu, wenn etwa Gorgias seine Idee der Rhetorik entwickelt, aber die Rede eines solchen lernenden Sprechers benutzt Sokrates, um seine Vorstellung vom Gerechten und vom Wissen über Gerechtigkeit gegen von ihm so bezeichnete Überredungsübungen auszuspielen.25 Es ist Sokrates, der die These entwickelt und verteidigt, daß die Ungerechtigkeit für den, der Unrecht tut (und nicht für den, der es erleidet), das größte Übel sei,26 und Kallikles bezeugt die Richtigkeit: nicht anders ist es,27 und: das ist es ja wohl offenbar, 28 oder: dies scheinst du mir sehr richtig gesagt zu haben.29 Auch wenn der Dialog manchmal nur auf Umwegen sein Ziel erreicht wenn beispielsweise Gorgias fragt, ob es nicht ein Vorteil sei, wenn der Rhetor wegen seiner Sprachkunst alle anderen handwerklichen Künste ebenso beherrsche wie die Meister in jenen,30 so bleibt der Weg des Sokrates doch immer deutlich erkennbar: Man müsse erst wissen, was das Richtige und Gerechte 23 2 4 25

Ebd., 458 a.

2 6

Gorgias 508 e, 509 e, 510 a.

2 7

Ebd., 509 c.

oo 2 9 3 0



Piaton, Gorgias, 450 b. Ebd., 460 a.

Ebd., 509 d. Ebd., 510 b. Ebd., 459 c.

52

ΠΙ. Das forensische Modell

sei, ehe man rede. Aus dem Ablauf der Dialoge geht auch hervor, daß den Schülern des Sokrates eine besondere Hörer-Rolle auf dem Weg zur Wahrheit mitgeteilt wird. Auch der Leser wird in diese besondere Rolle versetzt. Auch wenn man schon weiß, was wahr und gerecht ist, so braucht man doch jemanden, um das, was man weiß, zu präsentieren. Das ist die Aufgabe des Zeugen. Er steht am Rand des Wegs zur Wahrheit und darf ihn kommentieren, aber nicht bestimmen. In diese Rolle, die die Schüler in den Dialogen haben, werden die Leser hineinversetzt. Die Zeugenrolle des Lesers fällt nur deshalb nicht sogleich auf, weil man den Ablauf oder den Begriff, der bezeugt würde, vergeblich sucht. Es wird am Ende weder etwas enthüllt noch definiert. Vielmehr stehen Definitionen am Anfang und werden in ihrer Fragwürdigkeit Gegenstand weiterer Fragen. So wird Menon aufgefordert zu sagen, was Tugend sei, und Sokrates provoziert ihn mit der These, weder wisse er was Tugend sei, noch habe er jemals jemanden getroffen, der es wisse. Dennoch versucht Menon in der Art eines ehrbaren Mannes zu sagen,31 was Tugend nun sei: daß man, dem Schönen nachstrebend, es herbeizuschaffen vermöge. Damit scheitert er, denn - wie Sokrates schnell herausfragt - strebt niemand nach dem Bösen oder bezeichnet sein Ziel, solange er es anstrebt, jedenfalls niemals als böse. Damit bleibt die Definition von Anfang an in einem Zirkel befangen, in dem auch alle weiteren Versuche steckenbleiben. Was Tugend sei, läßt sich am Ende nur negativ daran erklären, was sie jedenfalls nicht sei. Tugend selbst ist als Aussage nicht im Begriff einzufangen, 32 sie entsteht weder aus der Natur noch aus der Lehre, sondern durch "göttliche Schickung". Das ist die Quintessenz des MenonDialogs. Ein solches Ergebnis des Dialogs muß in einem Sinne als modern, im anderen als alteuropäisch verstanden werden. Modern wirkt der Verzicht auf vorgängige Definitionen trotz unterstellten Wissens. Man kann deshalb auch heute noch mit Gewinn platonische Dialoge lesen, selbst wenn man an den göttlichen Charakter der Wahrheit nicht glaubt. Man kann den Weg für wichtiger als das Ziel halten und die Fragen des Sokrates studieren oder die Antworten seiner Hörer für weittragender halten als die stillen Hinweise auf das fromme Ziel. Man kann die platonischen Dialoge also anders lesen, als sie geschrieben worden sind, man kann sie nicht nur ehrfürchtig, sondern auch kritisch lesen, wenn man nur weiß, daß man auf diese Weise eine Leserrolle einnimmt, die im Text nicht angelegt ist.33 Die Zustimmung, die Piaton erreichen will, ist an31

Platon, Menon 77 b.

32

Rodingen, Pragmatik, S. 128.

33

Lyotard, Widerstreit, S. 57.

3. Das Auditorium

53

derer Art als dieser kritische Kommentar oder jenes beifällige Nicken, zu dem sich das Publikum im Gerichtssaal veranlaßt sieht. Denn die Redekunst selbst gilt nichts, und Sokrates widerspricht der wortreichen Darlegung des Polos, der ihm ironisch vorhält, daß der Rechtschaffene und Gute keineswegs glückselig sein müsse, was man daran sehe, daß der rechtschaffene Knecht seinen reichen Onkel umbringe und Herrscher in Mazedonien werde; offensichtlich glaubt Polos nicht so recht, daß der Herrscher von Mazedonien unglückselig sei.34 Sokrates widerspricht ihm, und zwar nicht, weil er - wie Polos meint einfach nicht sehen wolle, was allen einleuchtet. Seine Antwort lautet:" Du Seliger gedenkst eben mich auf rednerische Art zu überführen, wie sie auch an der Gerichtsstätte Beweis zu führen sich einbilden. Denn auch da glaubt ein Teil den anderen überführt zu haben, wenn er für seine Behauptung, die er vorträgt, viele Zeugen aufstellen kann und angesehene, der Gegenpart aber etwa einen aufstellt oder gar keinen. Ein solcher Beweis ist aber nichts wert, wo es auf die Wahrheit ankommt."35 Die Wahrheit ist nicht von der Beurteilung eines Dritten abhängig. Im Dialog mit Thrasymachos fragt Sokrates, ob es denn der Sinn der Rede sei, eine entsprechende Gegenrede anlegen zu lassen, auf die man dann wieder antworte, um am Ende alles "irgendeinem Richter" vorzulegen, der entscheide.36 Die Frage stellen heißt sie verneinen. Ziel ist statt dessen, "einander zum Eingeständnis zu bringen". Das macht den Richter überflüssig. Dementsprechend kommt es auch nicht vor, daß die Hörer des Sokrates auf ihrer Meinung beharren. Sie lassen sich bekehren, weil sie einsichtig sind. Am Ende regiert nicht der Streit, sondern die Einsicht, und damit endet die Rolle des Dialogs bei der Erfassung des forensischen Geschehens. Denn die von der Entscheidung unabhängige Einsicht bestimmt die Gerichtspraxis nun gerade nicht. An dieser Stelle endet die kritische Funktion einer Plülosophie des Dialogs, und man ist zufrieden, wenn man wenigstens auf die anfänglichen modellhaften Äußerlichkeiten vertrauen kann: Wechselrede, Anwesenheit und sachliche Ordnung.

3. Das Auditorium als Garant universaler Richtigkeit Über die Wirkung auf die unmittelbar Beteiligten hinaus hat das forensische Modell Vorbildcharakter für die möglicherweise Beteiligten, die Öffentlichkeit und das Publikum, die nicht notwendig im Gerichtssaal anwesend sein müssen. Gerade aus der Perspektive der nicht aktuell beteiligten Dritten kann das, was - aus der Nähe des Dialogs besehen - kleinlich, lästig und zeitraubend erscheint, eine mustergültige Orientierung derart ermöglichen, daß weiterer 34

Piaton, Gorgias 471 a. 35

Ebd., 471 e.

36

Platon, Politela 348 a,b.

ΠΙ. Das forensische Modell

54

Streit zwischen anderen Beteiligten vermieden wird. Das Auditorium informiert sich anders als die Dialogpartner. So grundlegend die Beziehung zwischen Sender und Empfänger für den Zeichenprozeß ist, so wenig deutlich sind die Kanäle, auf denen mögliche Empfänger eine forensische Botschaft erreicht. Im Zeitalter der Massenkommunikation ist schon empirisch nicht mehr ersichtlich, wer wann eigentlich zu wem spricht. Das wirkt auch auf das forensische Modell zurück, das sich über zwei Jahrtausende durch die Einheit von Ort, Zeit und Personen auszeichnete. Diese Einheit ist gefährdet, wenn man das Medieninteresse, inbesondere für Strafprozesse, berücksichtigt. Aber man kann die Vervielfachung der Hörer und die öffentliche Aufmerksamkeit für juristisch-disziplinäre Probleme auch zum Nutzen beider Seiten wenden. Neben oder personifiziert im Richter tritt dann ein universalisierter Dritter auf. Dieser Dritte - es kann auch eine Mehrzahl sein - entscheidet nicht sogleich, sondern beobachtet zunächst, was beim Reden geschieht. Die neue Rhetorik - so wie sie Perelman/Olbrechts-Tyteca präsentieren - verzichtet auch auf die Dialogform. Sie sammelt statt dessen wirkungsvolle Rede- und Textfiguren aus allen Arten zeitgenössischer Texte.37 Jedermann soll die Mittel benutzen können, und wenn sie wirksam sind, sollten sie die Einstellung des Hörers ändern können. Dabei herrscht zunächst nur die geheime Hoffnung, daß Mittel, die Einstellungen ändern, auch wahr, gut und gerecht sind. Da nun die Beobachtung der modernen Kommunikation diese geheime Hoffnung öffentlich enttäuscht hat,38 wird in das Modell ein Korrektiv eingebaut, das verhindern soll, daß der beobachtete Erfolg ohne weiteres gleichzeitig als der wahre Erfolg gilt. Für das Ende der Unterredung verweist Perelman auf Tatsachen und Theorien, "die jedes redliche Wesen akzeptieren kann".39 Der Prozeß der Unterredung wird vor einem Auditorium inszeniert, das überzeugt werden soll. Was der sokratische Dialog im Hintergrund beläßt, rückt die neue Rhetorik ins Zentrum des Interesses. Das Publikum entscheidet über Wahrheit und Gerechtigkeit, aber es ist ein besonderes Publikum. Der Philosoph hat es ausgewählt; es ist nämlich die Zuhörerschaft für den philosophischen Diskurs, das universale Auditorium. Dieses Auditorium verfügt zwar nicht über eine eigene Wertetafel, aber es entscheidet negativ über Vernunftwidrigkeiten. Perelman führt dazu aus, daß die im Verfahren der Rechtfertigung benutzten Kriterien und Werte irrational seien, wenn sie eine parteiische Stellungnahme offenbaren oder wenn sie eine Verteidigung von Partikularinteressen zuließen, die für das universale Auditorium unannehmbar sei.40 Die Idee des universalen Auditoriums hat Chaïm Perelman in den Vorlesungen über Gerechtigkeit zu einer Form weiterentwickelt, in der das forensische 3 7

Perelman/Olbrechts-Tyteca, traité, § 44.

38

Huth, Vermittlung, S. 101 f.

39

4

Perelman, Logik, S. 155. Perelman, Gerechtigkeit, S. 163.

3. Das Auditorium

55

Modell neuen Wert bekommt. Er empfiehlt dem Philosophen, er solle in seiner Bemühung, gerechte Regeln zufinden, "wie der Richter des common law nach Präzedenzfällen, die im Urteil zu lenken geeignet sind, suchen, aber unter den Maximen, die die Entscheidung motivieren {ratio decidendi) nur jene annehmen, die geeignet sind, zu Gesetzen einer universalen Gesetzgebung zu werden".41 Bewußt sucht Perelman den Bezug auf Kant und schränkt die richterliche Aufgabe nur durch den Hinweis ein, die formulierten Normen und Werte empfehle man mit der Bitte um Zustimmung, aber man schreibe sie nicht als Befehl vor {proposer vs. imposer ); und an dieser Stelle gewinnen die rhetorischen Mittel ihre eigentliche Bedeutung, wobei ihnen die juristischen Topoi vorangehen, insbesondere ein Topos: "Deshalb wird die Rationalität eines Philosophen den Satz aller Gerichte, die dieses Namens würdig sind, zur Regel haben: 'et audiatur altera pars'".42 Die Bedeutung, die Perelman der Rede des Gegenüber beimißt, unterscheidet das neue Rhetorikverständnis ganz augenfällig von der platonischen Form des Dialogs. Es ist inhaltsreicher als jenes und kennt und schätzt die Position eines im Forum agierenden richterlichen Dritten. Während Piatons Hörer zu Zeugen wahrer Aussagen werden, wird Perelman nicht müde zu betonen, daß der Philosoph in Fragen der praktischen Lebensgestaltung nur ganz selten auf wahre Aussagen zurückgreifen kann und sich deshalb nach Plausibilitäten richten muß. Jeder Sprecher wird insofern vor allem zum Richter über zuvor gehörte Rede und muß ihren mehr oder weniger plausiblen Gehalt bestimmen.43 Auch wenn Perelman den philosophischen Diskurs vom juristischen dadurch für die neue Rhetorik nur noch eine ferne Orientierung dar. Es wird im Rahmen der neuen Rhetorik von Verfahren der rationalen Wahl und der richterlichen Begründung abhängig gemacht. Die Lehre verzichtet damit auf eine vorunterscheidet, daß er betont, in der Philosophie gebe es keine res iudicata" so bestehen doch Parallelen zwischen den Prinzipien der formalen Gerechtigkeit und den Maximen abendländischer Prozeßordnungen. Perelman empfiehlt den Philosophen ausdrücklich das Studium des Rechts als Orientierungshilfe für philosophische Kontroversen. Als Regeln der Rechtfertigung werden zwar keine Botschaften formuliert, die zwischen Sokrates und seinen Schülern nicht gegolten hätten. Aber neu ist schon die Tatsache, daß diese Regeln formuliert werden müssen und ihre Einhaltung nicht selbstverständlich ist. Man hat sich im 20. Jahrhundert an terroristische Praktiken gewöhnt und muß das scheinbar Selbstverständliche wiedergewinnen. Die Wahrheit des Ergebnisses stellt gängige Anschauung des Wahren. Das macht ihre Neuigkeit aus.

41

Ebd., S. 153.

4 2

Ebd., S. 157.

4 3

44

Perelman, Recht, S. 239. Perelman, Gerechtigkeit, S. 163.

56

ΠΙ. Das forensische Modell

4. Die Kraft der Rechtssprache Die Sprache im forensischen Dialog macht nicht nur den Beteiligten modellhaft deutlich, was Sprache zu leisten imstande ist. Das geschieht mit einer Eindringlichkeit, die gleichzeitig die Sprachkritik am Recht und an der Justiz auf den Plan ruft. Sehen wir uns zunächst die modellhaften Sprachkräfte näher an. Da bemerkt man in erster Linie die Fähigkeit, in der Sprache über Sprache zu reden und damit Situationen zu objektivieren. Der Sachverhalt verlangt die sprachliche Modellierung einer Situation. Schon diese an sich schlichte und in der Wissenschaftsprache für die Modellkonstruktion sehr viel weiter entwickelte Funktion45 hebt den forensischen Dialog vom alltäglichen Handeln ab. Wer in der Lage ist, einen Sachverhalt zu formulieren, vermag auch im Alltag anders zu reden als diejenigen, die nur ihre Meinungen verbreiten können. Die Diskursformen des Rechts erlauben es den Beteiligten, sich vom üblichen Reden und Meinen abzusetzen und auf diese Weise etwas hervorzuheben und zum Gegenstand der Aufmerksamkeit zu machen, was für die Betroffenen zunächst unbemerkt bleibt. Nicht ohne Grund wird häufig gesagt, die Verrechtlichung eines Konflikts habe den Streit erst richtig hervorgerufen. Was vorher verständlich, lösbar und in seiner Genese nachvollziehbar schien, wird durch die juristische Versprachlichung auf eine scheinbar objektive, oft mit viel größerem Anspruch versehene Ebene gehoben. Man kann das buchstäblich verstehen. Wo Opfer vorher ein Schmerzensgeld von 1.000 DM gefordert hätten, ist der forensisch erfahrene Jurist in der Lage, Schadensersatz für materiellen und immateriellen Verlust neben Schmerzensgeld in Höhe von 10.000 DM zu begründen und einzuklagen. Mit Hilfe einer rekonstruktiven Rechtssprache wird nachträglich etwas zum Schaden und damit zum Problem, was den Beteiligten zuvor vielleicht unangenehm, aber nicht anstößig erschienen ist. Nur eine auf die normale Sprache aufgelagerte Fachsprache erlaubt eine solche Problematisierung.46 Gleichzeitig erlaubt sie auch den unbemerkten Übergang vom Sprechen mit Betroffenen zu Sprechweisen über sie. Derart unbemerkt läßt sich die Perspektive im Alltag nicht wechseln. Wenn man mit jemandem ein Problem löst oder an einer Aufgabe arbeitet, fiele es auf, wenn von irgendeinem Zeitpunkt an der eine im Gesprächspartner das Problem sehen und seine Entfernung als Aufgabe verstehen würde. Der Prozeß stellt demgegenüber nicht nur ein szenisches Arrangement bereit, in dem über frühere Situationen gesprochen werden kann, er erlaubt über fachsprachliche Mittel auch jederzeit, den Angeklagten zum Objekt oder ein Vergleichsangebot zum Thema der Verhandlung werden zu lassen, während gerade zuvor noch der Angeklagte sich

45

46

Ballweg, Rechtswissenschaft, S. 77. Ballweg, Rhetorik, S. 49.

4. Die Rechtssprache

57

zur Person äußerte und der mit der Anklage erhobene Vorwurf untersucht wurde. Eine zweite Modellfunktion erfüllt forensisches Sprechen durch die Hervorhebung jener sprachlichen Kräfte, die in den Kunstwörtern der Sprechakttheorie "illokutionär" und "perlokutionär" heißen. Die Verhandlung hebt performative Sprachformen hervor, die auch im Alltag eine Rolle spielen, diese Rolle aber nur durch sprachliche Institutionalisierung erhalten. "Ich taufe dich auf den Namen 'Queen Elizabeth"' lautet eine Klasse von Sprechakten, anhand derer John Austin47 das besondere Handeln mit und in Sprache verdeutlichte. Schon die Taufe verlangt eine Institution und einen für diese Institution Sprechenden - sei es nun den Priester oder den Vorsitzenden einer Schiffbau-AG. Aber erst die forensische Auseinandersetzung gibt solchen Sprechhandlungen irreversiblen Charakter. Mit dem Satz: Der Beschuldigte wird des Mordes angeklagt - ist Anklage erhoben; sie ist nicht mehr nur Stoff möglicher Erzählungen. Mit dem Spruch: Ich verkünde im Namen des Volkes das folgende Urteil - beginnt die Urteilsverkündung, und der dann verkündete Spruch erwächst (unter möglichen weiteren Einschränkungen) in Rechtskraft, selbst wenn der Verkündende nachträglich einen bedauerlichen Irrtum bemerkt. Es gibt also - wie die Theoretiker der Sprechhandlungstheorie am forensischen Modell entdeckt haben - Sprachvollzüge, die ihre Bedeutung in sich haben: in locutio. 48 Die illokutionäre Kraft der Sprache, auf der jede Theorie des kommunikativen Handelns aufbaut, hat ihren paradigmatischen Ort im Gericht. Angesichts so ausgeprägter sprachlicher Modellfunktionen müßte die Kritik am forensischen Geschehen oder wenigstens die Kritik an der Rechtssprache verstummen. Das Gegenteil ist der Fall. Die Klagen über die Unverständlichkeit der Rechtssprache nehmen zu, und wenn jemand über sprachliche Zumutungen oder angemaßte Fachkunde klagt, dann sind regelmäßig nicht ärztliche Diagnosen oder Rezepturen, sondern behördliche Texte und Gerichtssprüche gemeint. Die Kritik erreicht ein eigenes paradigmatisches Niveau, wenn das forensische Geschehen insgesamt als ungeeignet für sprachliche Vermittlungsleistungen bezeichnet wird. Es gibt eine ganze Reihe von anklagenden, nicht in der Rechtsform gehaltenen Erzählungen, die ungehört verhallen oder gar nicht vorgetragen werden. Für sie reserviert die Sprachphilosophie von JeanFrançois Lyotard den Ausdruck "différend". "Le différend" gilt Lyotard als der Fall, in dem der Kläger seiner Argumentationsmittel beraubt sei und deshalb zum Opfer werde. Man könne nicht anklagen, wenn der Sinn der Aussage für unsinnig gehalten oder das Recht des Sprechers für nichtig erklärt würden. "Ein Fall des différend liegt zwischen zwei Parteien vor, wenn die 'Erledigung' des Konflikts, der sie gegenüberstellt, sich so sehr in der Sprechweise einer der beiden Parteien abspielt, daß das Unrecht, das die andere erleidet, in dieser 47 48

Austin, Sprechakte, S. 26 f. Ebd., S. 114 f.

ΠΙ. Das forensische Modell

58

Sprechweise nichts bedeutet."49 In dieser These liegt ein Angriff, der nicht nur das rechtliche Sprachmedium infragestellt. Eine Sprache, die Konfliktbewältigung leistet, müßte danach Elemente zweier unterschiedlicher Sprechweisen enthalten. Wir pflegen eine solche Sprechweise häufig "intersubjektiv" zu nennen und sehen nichts Besonderes darin, die Alltagssprache als intersubjektives Medium für den Ausdruck verschiedener, insbesondere entgegengesetzter Interessen in Anspruch zu nehmen. Entgegen dem Anschein ist aber weder die Umgangssprache noch die juristische Sprechweise ein solches intersubjektives Medium. Die Klage setzt als Sprachform voraus, daß der Kläger sich vom üblichen Reden und Meinen absetzt und auf diese Weise etwas hervorhebt und zum Gegenstand der Aufmerksamkeit macht, was ansonsten unbemerkt bliebe. Er muß etwas von etwas anderem unterscheiden, und das erscheint immer weniger selbstverständlich, als im Strom des Redens zu veibleiben. Es gibt deshalb eine ganze Reihe von Klagen, die ungehört verhallen oder gar nicht vorgetragen werden. Es gibt auch eine Reihe von Verteidigungen, die sich einfach auf den Strom des Redens und Meinens verlassen können, wenn sie das Scheitern einer Anklage bewirken wollen. Man muß eine Klage erst einmal sprachmächtig werden lassen. Viele werden es nicht. Der Strom des Redens zeichnet sich eben vor allem dadurch aus, daß jedermann sich ihm hingeben kann und nicht gegen den Strom schwimmen muß. Genau darin liegt aber der Sinn der Klage. Sie macht deutlich, was im Strom untergeht: den Anschluß eines Satzes an einen vorangegangenen, der einer Sprache den Charakter der Sprachherrschaft gibt. Ausgangspunkt ist die Beobachtung von Lyotard: "Une phrase arrive" - jener Grund-Satz,50 der im Deutschen nur durch zwei doppeldeutige Sätze wiederzugeben ist: Ein Satz kommt an - gleichsam wie jemand, der auf eine Aufnahme oder eine Begrüßung wartet, und indem er ankommt, ereignet er sich auch, erwartet keine Fortsetzung, ist, was er ist. Die Grundfrage lautet dann: Comment enchaîner sur elle ? Wie an ihn anschließen, sich mit ihm verketten. La chaîne : Die Kette verbindet zwar auf eine scheinbar unauflösliche Weise die Glieder, aber wenn man mit ihr beginnt, scheint alles auflösbar, sind nur Einzelteile, wo der Blick einen gefügten Gegenstand zu erfassen meinte. Darin liegt das besondere Problem jeder Klage, denn zwischen dem gesagten, dem angekommenen oder ereigneten Satz und seiner Fortsetzung vermittelt - worauf Lyotard hinweist - eine Regel die Fortsetzung. "Un genre de discours fournit par sa règle un ensemble de phrases possibles".51 Erst dadurch entsteht die Kette überhaupt. Le genre de discours : Das ist nicht nur die Satzherrschaft, sondern auch die Zusammengehörigkeit zwischen zwei Sätzen als Teilen eines möglichen Universums.52 Was möglicherweise auf einen Satz folgen kann, bestimmt schon das Verständnis des ersten Satzes. Es 49 50

Lyotard, Widerstreit, S. 27 (Nr. 12 in eigener Übersetzung). Ebd., S. 131 (Nr. 110) mit derfranzösischen Umkehrung zur Frage des "Arrive-t-il".

51

Ebd., S. 10.

52

Ebd., S. 215 ff. (Nr. 179-181).

4. Die Rechtssprache

59

kann etwas anderes darauf folgen, als man gewohnt war, es kann die Anklage folgen, die den Streit zwischen den Folgen möglicher Sätze ausdrücklich formuliert. Die Rechtssprache enthält insofern disparate Tendenzen. Sie läßt radikale Entgegensetzung zu, hält aber für die Entscheidung keine dritte, harmonisierende Sprache vorrätig. Die juristischen Parteirollen ermöglichen es zwar, gerade die jeweils geforderten Interessen zum Ausdruck zu bringen. Aber es ist kaum je ersichtlich, daß die Entgegensetzung von Anklage und Verteidigung oder von Anspruchstellern und Inanspruchgenommenen durch eine besondere sprachliche Ausgleichsleistung aufgehoben würde. Weder das Urteil noch der Vergleich verlangen oder erlauben eine neue Sprechweise, in der Recht und Unrecht gleichermaßen enthalten und in einer neuen Sprechweise aufgehoben wären. Was das Urteil anbelangt, erklärt es Recht zu Recht.53 Es ist im Kern tautologisch und läßt damit im Sinne des différend die andere Sprechweise nicht einmal ansatzweise zum Ausdruck kommen. Damit können beide Sprechweisen - des Klägers wie des Verklagten - ungehört verhallen; beide können im Urteil völlig übergangen werden, weil es nicht Aufgabe der Rechtssprache ist, zwei Sprechweisen zu harmonisieren, sondern die Hauptaufgabe in der Prädikation: Das ist Recht, besteht. Der Vergleich vermeidet diese Prädikation. Er ist aber noch weniger geeignet, die sprachlichen Anforderungen einer Partei durch eine neue Sprachweise aufzuheben, denn er fuhrt gar keine Sprechweise ein, sondern enthält nur Teilungsanordnungen. Vergleiche brauchen bekanntlich keine Begründung, und was Gerichte oder Parteivertreter im Vorfeld oder später als Rechtfertigung für abgeschlossene Vergleiche bekanntgeben, kann nicht beanspruchen, auf das ursprüngliche Unrecht eine Antwort zu geben. Der juristische Vergleich ist in Hinblick auf die forensische Modellfunktion sprachlos und unmodelliert. Es gibt aber noch einen weiteren, in der Wirkung der Sprache liegenden Grund, weshalb sie nicht die Ausgleichsfunktion übernehmen kann, die ihr in der forensischen Modellvorstellung zugedacht wird. Darin zeigt sich die Kehrseite des Gewaltcharakters der Sprache,54 wenn es erlaubt ist, die "illocutionaiy force M der angloamerikanischen Sprachhandlungskonzeption in den deutschen Ausdruck "Gewalt" zu übersetzen. Als "perlukotionär" 55 wird die Überzeugung des Hörers verstanden. Der Empfänger soll durch die sprachliche Handlung seinerseits zum Handeln veranlaßt werden. Der Umstand, daß ein Urteil verkündet ist, wenn die gesprochene Sprache verklungen ist, macht es bekanntlich nicht praktisch wirksam. Das Rechtssystem hält für diesen Zusammenhang unter dem Titel "Vollstreckung" eine ganze Palette weiterer 53

54 55

Luhmann, Recht, S. 168 f.; Frey, Selbstreferenz, S. 53. Derrida, Gesetzeskraft, S. 13. Austin, Sprechakte, S. 123 ff.; Searle, Sprechakte, S. 42.

60

Ι . Das forensische Modell

Streitigkeiten und Verfahren bereit, mit denen man trotz rechtskräftigen Urteils verhindern kann, was mit dem Urteil gemeint ist und durch es bewirkt werden soll. Gerade wenn es gelingt, durch das Urteil eine Partei zum Handeln zu bewegen, wird sie damit sprachlich überwältigt. Die Idee des Rechtsfriedens wird deshalb gerade nicht in der Justiz und im Rahmen des forensischen Modells verwirklicht. 56 Unbekannt und sprachlos bleibt, was den Unterlegenen veranlaßt, dem Urteilsspruch zu folgen. Vielleicht ist es die Einsicht darin, daß es weder richtige Gewinner noch vollständige Verlierer in der Justiz gibt.57 In einer radikalisierten Umkehrung der Definition Lyotards könnte man die These wagen, daß Rechtskraft in dem Fall eintritt, in dem beide Parteien ihrer Argumentationsmittel beraubt sind und deshalb auch nach ihrer Vorstellung nichts mehr gewinnen können. Niemand kann klagen, wenn der Sinn seiner Aussage für erfüllt gehalten und das Recht des Sprechers für erledigt erklärt wird. Ein Fall von Streiterledigung liegt zwischen zwei Parteien vor, wenn die Entscheidung, die das Verfahren abgeschlossen hat, so wenig mit den Sprechweisen jeder der beiden Parteien identisch ist, daß die Niederlage, die eine Partei erleidet, gegenüber dem Sieg der anderen nichts bedeutet. Der Dialog, das Auditorium, die Sprache - das sind drei Instanzen, die unabhängig voneinander im gerichtlichen Streitfall für die allgemeine gesellschaftliche Aufgabe, Streit zu erledigen, bedeutsam sind. Der Dialog sei vom Willen zur Wahrheit beherrscht, das Auditorium stimme der gerechten Entscheidung zu, und diese sei in einer den Sprechweisen beider Parteien aufgelagerten, aber nicht mit ihnen identischen Diskursart formuliert. Das sind die modellhaften Ideen. Die Kritik setzt bei den realistischen Verzerrungen ein.

56

May, Rechtsfrieden, S. 15 f. den Boer, Winners, S. 301.

IV. Semantische Kämpfe 1. Codierungen und Kämpfe Der Modellcharakter des forensischen Geschehens wird ebenso oft in Zweifel gezogen wie in den Vordergrund gestellt. Die meisten Zweifel erregt die geringe Vorhersagbarkeit möglicher Ergebnisse. Wenn Recht vom Verfahren abhängt und es darauf ankommt, wer etwas wann an welchem Ort sagt, dann kommt jeder Beobachter auf die Idee, daß es offenbar eine Gewinnstrategie für oder gegen das Gericht geben muß; und wenn man erfahren hat, daß Strategien Erfolg haben, dann sind es nicht mehr Werte wie Wahrheit oder Gerechtigkeit, die das Modell prägen, sondern vor allem oder allein kämpferische Eigenschaften. Kämpferisch versuchen die Prozeßbeteiligten den Code zu verändern. Kämpferisch gehen sie auch mit der Wahrheit um. Diese Kämpfe verändern den Kern der Rechtsverständnisses. Wie Wahrheit hat Recht einen Code, auf den man vertrauen, den man verändern oder bekämpfen kann. Vertrauen - die Betonung der nicht selten kritisierten konservativen Codierung des Rechts - kann sich nun nicht auf Unwandelbarkeit gründen; unablässiger Code-Wandel kennzeichnet gerade das Rechtssystem. Auch wenn sich nicht alle Teile gleichzeitig verändern, kennzeichnet die Legalisierung von Rechtsänderungen1 das Justizsystem insgesamt. Wenn man in diesem Zusammenhang dennoch auf etwas beharrt und es als "Recht" vor anderem, ebenfalls mit Rechtsbegriffen versehenen Begründungen hervorhebt, dann wird solche Beharrlichkeit in der Regel als "Gesetzesbindung" gerechtfertigt. Gesetzesbindung stellt ein mögliches Prinzip der Rechtskonkretisierung dar, aber sie bestimmt - wie Juristen oft und auch gern übersehen - weder die vorherrschende noch die allein mögliche Codierung. Der Code ist stets Kämpfen ausgesetzt, und diese Kämpfe richten sich auf den Kern der juristischen Bedeutung. Es sind semantische Kämpfe. Daß Prozesse der Codierung auf Kämpfen beruhen, ist sowohl in der Jurisprudenz wie auch in der Semiotik nicht unbemerkt geblieben. Den Kampf ums Recht erkannte Jhering vor mehr als einhundert Jahren als wichtige praktische Tugend. Den Grund dafür sah er in der Bindung des Rechts an Interessen. Rechtliche Wahrheit habe sich nicht nur gegen Irrtum, sondern vor allem

1

Luhmann, Rechtssoziologie, S. 209 f.; Rotter, Wandel, S. 34.

IV. Semantische Kämpfe

62

gegen widerstreitende Interessen durchzusetzen. Allerdings sah Jhering hier einen Gegensatz zwischen Sprachbildung und Rechtsdurchsetzung; die Sprache - so meinte er damals - entstehe "schmerzlos", "im Wege der bloßen Überzeugung", während Recht eben "unter Schmerzen geboren" werde, wenn es einen moralischen Wert habe.2 Man würde den Unterschied zwischen Sprachund Rechtsveränderungen hundert Jahre nach Jherings Festvortrag bei der Wiener Juristischen Gesellschaft anders ausdrücken, aber das Gefühl des Schmerzes bleibt ebenso wie die Idee, daß besondere, bereits vorweg als "Interessen" stilisierte Zeichenketten immer wieder in die Codierung eingreifen und sie verändern. Unter semiotischer Perspektive sind es durchaus Sprachbildungsprozesse, die in der rechtlichen Kommunikation zu Interessen verdichtet oder verschoben werden. Dabei sind die juristischen Kämpfe auf besondere Sprachverwendungen gerichtet, deren strategischer Charakter verborgen bleibt, wenn man sich "Interessen" als einen statischen Block vorstellt. Der juristische Kämpfer benutzt nämlich eine originär sprachliche Dynamik: Er behauptet jeweils, nur nachzuvollziehen, was ein Rechtsbegriff jeweils bedeute, und bestimmt doch gleichzeitig in der Präsentation das Ergebnis der Bedeutung. Recht wird zum Ereignis reiner Signifikation - was eine semiotische Besonderheit bei der Arbeit an Codierungen darstellt. Die Semiotik von Charles Sanders Peirce zählt den Kampf - neben der Gegenwärtigkeit - zu den grundlegenden und universalen Kategorien der Wahrnehmung.3 Das überrascht auf den ersten Blick. Es entspricht zwar einigermaßen der alltäglichen Auffassung, daß derjenige, der Erfahrungen macht, sich auf anwesende, mithin gegenwärtige Vorgänge und Ereignisse beziehen muß. Die Kenntnis der Vergangenheit, die man erwirbt, wenn man Bücher liest, wird auch gemeinhin gerade nicht als Erfahrung bezeichnet. Das Moment des Kampfes bemerkt man in diesem Zusammenhang aber erst, wenn man selbst jene schmerzhaft genannten Erfahrungen gemacht hat. Was sich in das Gedächtnis und in das eigene Handlungswissen unmittelbar einschreibt, kommt nicht schmerzlos daher, auch wenn - wie Peirce ironisch anmerkt - kein Buch der Pädagogik ein System des Lernens propagiere, das in üblen, meist grausamen Streichen bestünde. Erfahrungen beruhten aber auf einer Maxime, die Peirce in dem Satz formuliert: "Öffne deinen Mund und schließe deine Augen, und ich will dir etwas geben, das dich weise macht."4 Die Gabe, die man auf diese Weise empfängt, bestehe in einer Überraschung, die gleichzeitig quält und den Leidenden wie den Handelnden weder teilnahmslos noch interesselos schauen läßt. Erst auf diese Weise werden Bedeutungen gelernt. Auf der Grundlage so erkämpfter Erfahrungen bilden sich schließlich Wahrheiten.

2

Jhering, Kampf, S. 34.

3

Peirce, Vorlesungen, S. 21, 25.

4

Ebd., S. 32.

1. Codierungen und Kämpfe

63

Der Kampf ums Recht führt nicht zu einer je eigenen positiven, individuellen Erfahrung. Er ist ein kollektives, institutionalisiertes Ereignis. Schon im Ausgangspunkt treten Rechtsformen als bereits fertig bereitstehende Ergebnisse hervor, als feststehende Beziehungen von Fällen auf Ergebnisse. Rechtsfindung beruht auf einer solchen sachlichen Codierung. Jeder Code ordnet das Element eines Systems einer Kette fließender Inhalte zu. Codierung schafft damit diskrete Beziehungen zwischen zwei Bereichen, die - für sich genommen sich kontinuierlich fortsetzen. Der Code stellt auf der einen Seite besondere Ausdrücke zur Verfugung und ist auf der anderen auf dadurch definierte Inhalte angewiesen.5 Das sind im System der gerichtlichen Codierung auf der einen Seite situationsbezogene Feststellungen ("Tatbestände"). Wenn das Gericht einen Fall schildert (und damit Tatsachen "feststellt"), wird der Inhalt des Codes vorgestellt. Ausgedrückt werden diese Sachverhalte auf der anderen Seite durch gesetzliche Vorschriften, forensisch "Gründe" genannt. Zumindest das System der gesetzlichen Gründe scheinen Juristen vorzufinden. Richter, die einen Streit entscheiden, verwenden dafür ein Bezeichnungssystem, das vorgefundenen Texten entnommen wird oder entnommen werden soll. Dennoch handelt es sich dabei um eine konstruktive Leistung. Der notwendige Konstruktionsaufwand wird aber nicht näher erläutert, sondern stillschweigend eingeführt. Wenn er ebenso stillschweigend akzeptiert wird, bleibt die juristische Codierung im Hintergrund und stiftet, was man "Plausibilität" nennt.6 Sonst haftet ihr die nicht selten gerügte Gewalt an, die auch in der verfassungsmäßigen Zählung als "dritte" Gewalt schon so verstanden wird, als seien zwei fertig vorgegeben. Legitimation erhält der juristische Code durch den Schein des Vorgefundenen oder schon Vorhandenen für die vorgenommene Zuordnung. Der Ausdruck, der dem vorgefundenen Inhalt zugeordnet wird, muß nicht auch in seinem Bedeutungsgehalt verstanden werden. Theoretisch kann er beliebig sein, ist es aber im Fall des Rechts in der Regel gerade nicht. Neue Ausdrücke werden nicht formelhaft im Sinne eines xyz der inhaltsneutralen Logik und auch nicht wirklich sprachschöpferisch im Sinne einer artistischen Findigkeit eingeführt. Täte man es, müßte man näher sagen, wie zugeordnet werden soll. Das bleibt aber jedenfalls zum größeren Teil im Unausgesprochenen. Es wird nicht definiert und kann unausgesprochen bleiben, weil die zugeordneten Ausdrücke einen bekannten Gehalt haben. Wenn Sachen gesetzlich als "körperliche Gegenstände" verstanden werden, so wirkt das auch im System der Umgangssprache durchaus selbstverständlich, ist es aber nicht. Man versteht die Codierung nur innerhalb des Codes vollständig. Denn die Operation schließt Belebtes und Ungegenständliches nicht etwa aus. Hunde und Katzen sind juristische Sachen, während eine Firma eine Person sein kann. Die im Code unterstellte Unterscheidung ergibt sich nur aus ihm selbst, so daß allein der Akt der Codierung zu einem neuen Verständnis führt, auch J

Barthes, Semiologie, II. 1.3.

6

Gast, Rhetorik, S. 18.

64

IV. Semantische Kämpfe

wenn auf beiden Seiten der Zuordnung Sprachzeichen verwendet werden. Der Code setzt nicht nur etwas als gegeben ein, sondern negiert durch diesen Akt gleichzeitig das in diesem Augenblick nicht Gesetzte. Die Codierung erzeugt auf diese Weise eine binäre Struktur und verdoppelt damit den möglichen Zugriff auf die Umwelt.7 Was man durch den Code bezeichnet, wird vom Ausgeschlossenen her deutlich. Semantischer Kampf und juristische Arbeit am Code stehen dabei in einem Konkurrenzverhältnis. Kämpfe, die diesen Namen verdienen, greifen in Bereiche ein, in denen Juristen die Bedeutungsbeziehung eines Worts schon so sicher bestimmt glauben, daß man entweder in einer Vorentscheidung oder im juristischen Kommentar nachsehen könnte, ob die kämpferisch geäußerte Behauptung zutrifft oder nicht. Das verwendete Zeichen wird dennoch anders als codiert verwendet. Das ist die Besonderheit im semantischen Kampf. Die Beziehung von Zeichen auf ihre Designate oder Objekte heißt in der von Charles Morris eingeführten und verbreiteten Terminologie Semantik.8 Der semantische Kampf greift insofern in einen Bereich ein, der mehr oder weniger friedlich ruht. Er ist möglich, weil das Kriterium der Unterscheidung zwischen Semantik und Pragmatik schon theoretisch unsicher ist - um nicht zu sagen: auf einer Paradoxic beruht.9 Denn wenn man die Veränderung einer Bedeutung in einer besonderen Situation als "Pragmatik" gelten läßt, dann mag sich jeder überlegen, wie groß die Besonderheiten denn sein müssen, um eine Veränderung des Bedeutungsbezugs zu erlauben, oder ob solche Veränderungen nicht normativ ausgeschlossen sind, wenn gesetzliche Zeichen einen Vorrang der Bedeutung beanspruchen. "Semantisch" heißt in diesem Zusammenhang die isolierte Behauptung einer Bedeutung als schon vorhanden, obgleich sie konkret - und zwar in rhetorisch beschreibbaren Formen - vom Sender behauptet und eingeführt wird. Eine solche Semantik gibt es. In der allgemeinen Sprache ist sie in Wörterbüchern und Konversationslexika enthalten, bei der juristischen Arbeit pflegt man zum gleichen Zweck Kommentare und Leitentscheidungen heranzuziehen. Dabei gibt es für den Beobachter Unterschiede in der Bestimmtheit der semantischen Codierung. Aus der allgemeinen Semiotik ist bekannt, daß jede Botschaft eine in gewisser Weise offene Form aufweist. 10 Sie ist nicht vollständig durch semantische Markierungen festgelegt, so daß man mit dem jeweiligen Wortsinn spielen und ihn auch unmerklich manipulativ verändern kann. Die Manipulation bei der Codierung wird - wenn sie anwächst - von Eco als "Ideologie" bezeichnet,11 wobei der ideologische Charakter dann in der Unterdrückung kontradiktorischer seman7

g 9 10 11

Luhmann, Rechtssoziologie, S. 176 f. Morris, Grundlagen, S. 42. Wie Luhmann, Codierung, S. 22 f. es sieht. Eco, Semiotik, S. 197 f. Ebd., S. 390.

1. Codierungen und Kämpfe

65

tischer Markierungen bei der Situationsbeschreibung liegt. Weder die Offenheit einer Botschaft noch die Ideologisierung in der Beschreibung reichen aus, um die Mittel des semantischen Kampfs zu erfassen, wenngleich sie dabei auch benutzt werden. Aber der Kampf geht über die Unbestimmtheit der natürlichen Sprache hinaus. Er greift bewußt in für sicher gehaltene Festlegungen ein, und im Rahmen eines an je verschiedene Interessen gebundenen Kampfes sind Ideologien zwar eine Stütze, sie reichen aber meist nicht aus. Semantische Kämpfe zielen weder auf die Vervollkommnung eines ideologischen noch eines juristischen Systems. Darin könnte man den deutlichsten Unterschied zur gewöhnlichen dogmatischen Codierung sehen. Die kämpferische Leistung ordnet sich vorweg bereits definierten Interessen unter. Dabei sind sowohl der Ausdrucks- wie der Inhaltsbereich des Codes Kämpfen ausgesetzt. Um den Inhalt der gerichtlichen Feststellungen und damit um die "Konstruktion" eines Falls kämpfen die konkret Beteiligten in jedem Verfahren, das "streitig" ausgetragen wird. Man wolle "die Wahrheit" herausbringen: So nennen sowohl Parteien wie Gericht den Kampf um den Inhalt gerichtlicher Feststellungen. Mit semantischen Mitteln wird der Kampf dann ausgetragen, wenn eine Seite das Vorliegen oder Fehlen äußerer Umstände nicht anzweifelt, diese Umstände - und damit den "Fall" - aber ganz anders beschreibt, als das üblich ist. Bei dieser Gelegenheit zeigt sich, daß es von der Bezeichnung unabhängige (nichtjuristische) Tatsachen nicht gibt und daß die Idee, gesetzliche Gründe bezögen sich unmittelbar auf solche Tatsachen, eine bestimmte Semiotik der Wahrheit voraussetzt. Aber auch die Zuordnung von festgestellten Inhalten zu gesetzlichen Gründen kann zum Gegenstand des Kampfes werden. Die Zuordnung des Satzes "Alle Soldaten sind Mörder" zum Vorschriftensystem der Beleidigung gab in diesem Bereich das letzte zeitgenössische Beispiel für semantische Kämpfe. Der Kampf richtet sich gegen einen tatsächlichen oder vermuteten Code-Wandel. Die Öffentlichkeit oder ein relevanter Teil von ihr bestehen auf einer als fest geglaubten Codierung. Insofern prägen den justizinternen Kampf andere Absichten als die Auseinandersetzung in der öffentlichen Diskussion. Während bei forensischen Kämpfen im Gericht ein Wandel im Bereich fester juristischer Wahrheiten erstrebt wird, besteht die Öffentlichkeit als Empfängerin von Gerichtssprüchen auf festen Wahrheiten in Bereichen, in denen Wandel regiert. Ehe ich auf die Rolle der Justiz bei der Verteidigung öffentlicher Symbole eingehe, werde ich zunächst die justizinternen, insbesondere in Strafprozessen ausgefochtenen Kämpfe in ihrem Charakter vorstellen. In beiden Bereichen tangiert die Strategie des Kampfes den Wert und die Funktion rechtlicher Wahrheit.

5 Seibert

66

IV. Semantische Kämpfe

2. Der Kampf im gerichtlichen Prozeß Semantische Kämpfe stellen den Modellcharakter des Forums nicht unwesentlich infrage und zählen doch zu den wesentlichen Merkmalen der modernen Kommmunikation vor Gericht. Wer die Vorbildlichkeit der gerichtlichen Verhandlung als Modell der Wahrheitsfindung rühmt, hat eigentlich nicht die Vorstellung, um die jeweilige Wahrheit könne mit strategischem Einsatz gekämpft werden. Das europäische Modell der Wahrheitsfindung richtet sich auf interesselose Anschauung. Da Semantik als Zeichenbeziehung die Bedeutung einer Äußerung erfaßt und man Bedeutungen nicht im Moment der Äußerung durch Machtspruch festlegen kann, verändern Kämpfe um Bedeutungen das Diskursverständnis. Erfahrungen treten an die Stelle der interesselosen Anschauung. Im Gericht wechseln die Teilnehmer an semantischen Kämpfen schnell, und sie legen in der Regel wert darauf, ihre Kampfeinsätze nicht zum dominierenden professionellen Merkmal zu machen. Was gerade Gericht und Staatsanwaltschaft gegen die Verteidigung verband, kann sich in der nächsten Sitzung als Streit zwischen beiden darstellen. Noch wechselhafter sind Kampfgruppierungen unter Anwälten. Bei allem Wechsel läßt sich aber beobachten, daß vor allem die Verteidigung in Strafsachen semantische Kampfmittel entwickelt und benutzt. Es gehört noch nicht zum Prozeßalltag, begleitet aber alle spektakulären Verfahren, von denen man in der Zeitung lesen kann, daß - ehe die Hauptverhandlung in der Sache beginnt - die Besetzung des Gerichts beanstandet, sein Verhalten gegenüber Verteidigern als befangen gerügt, die Zuständigkeit insgesamt angezweifelt und eine Einstellung des Verfahrens wegen grober Rechtswidrigkeiten im Ergebnis für selbstverständlich gehalten wird. Der Inhalt dieser Anträge ist teilweise identisch. Aber das fällt dem Laien nicht auf; es bleibt verborgen, weil das Verfahrensziel darin besteht, eine Erörterung in der Sache unmöglich zu machen, obwohl unablässig und beharrlich mit Mitteln der juristischen Semantik Sachen erörtert werden. Die vortragenden Prozeßvertreter vertrauen auf eine intakte Wahrheitssemantik und genügen ihr insofern, als man - in dem Augenblick, in dem sie einen Antrag stellen - den Eindruck gewinnen muß, sie könnten auf eine übliche Tradition vertrauen. Man will mit traditioneller Semantik behaupten, daß dem Angeklagten durch den Prozeß Unrecht geschieht. Zum Mittel des Kampfes werden Schnitte in das Band der Wahrheit,12 mit dem der Interpret eines Zeichens Signifikant und Signifikat verbindet.

12

Lyotard, Postmoderne, S. 43 - 48.

2. Der Kampf im gerichtlichen Prozeß

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Die Beziehung, die durch Codierung hergestellt wird, ist nämlich nicht beliebig. Zwar kann man sich vorstellen, daß Fälle ganz unterschiedlich beschrieben und Gründe nach Interessenvorgaben kontrovers zugeordnet werden, das Geheimnis der forensischen Codierung liegt aber in der anfangs erwähnten Unterstellung, es gebe eine sichere Tradition für die Substanz des Codes und die Form seiner Anwendung. Diese nicht selbstverständliche und in jedem Verfahren neu herzustellende Unterstellung verbindet nicht nur Ausdruck und Inhalt, sondern auch die juristischen Sprecher und Empfänger. MLe lien social" - wie Lyotard das Band nennt - wird traditionell mit mit dem Prädikat "Wahrheit" ausgezeichnet. Damit wird eine mögliche Codierung anderen weniger akzeptablen oder akzeptierten Möglichkeiten vorgezogen. Bedeutung kann aber auch ohne oder gegen geglaubte Wahrheiten erzeugt werden. Das ist die Bedingung für semantischen Kampf; ansonsten gäbe es nur eine ausdrückbare Wahrheit. Statt dessen gibt es viele mögliche Sprechweisen, mit deren Hilfe derjenige opponiert, der das Band der Wahrheit zerschneidet. Gegen angenommene Wahrheit richtet sich der Kampf. Ein vorhandenes Ergebnis soll beseitigt werden. Ein Eindruck hat sich schon gebildet, ein Bild ist schon mehr oder weniger abgeschlossen, und nun tritt eine Seite mit einer anderen Bezeichnungsweise dagegen an. So wie der Ausdruck "Wahrheit" hier verstanden wird, hat er wenig bis gar nichts mit experimenteller Nachprüfbarkeit oder naturwissenschaftlichen Korrespondenzvorstellungen zu tun und verdankt viel oder sogar alles der juristischen Tradition und forensischen Rhetorik. Die Wahrheit forensischer Sätze beruht auf einem semiotischen Ereignis. Sie hat Erlebnisqualität. Die systemisch orientierte Kommunikationstheorie faßt Wahrheit seit längerem als sog. "Medium" der Kommunikation auf. 13 Medien sind dabei Codierungen, die eine Zeichenfolge für verschiedene Empfänger in gleicher Weise wahrnehmbar machen oder die Übertragung von einem System auf ein anderes ermöglichen. Als Medium ist Wahrheit nicht an Sprache, sondern an Beobachtung gebunden. Wahrheit verbindet beobachtete Erlebnisse und wirkt insofern objektiv. Das Medium koppelt die Beobachtungen verschiedener Empfänger, ohne daß der Sender der Botschaft diese Beobachtung herbeireden kann. Wahrheit ist insofern vom Ansatz her vielfältig und unwahrscheinlich. Sie muß "sich zeigen", oder - wie die Rhetorik es nannte - sie muß "evident" werden. Dann ist der Beweis gelungen. Auch wenn Wahrheit sprachlich ausgedrückt und gewöhnlich durch lexikalisch definierte Zeichen vermittelt wird, läßt sie sich einmal fixiert - nicht durch schlichte andere Sprachzeichen verändern; man erkennt sie, oder man erkennt sie nicht. Vom Ansatz her ist sie deshalb nicht der Disputation in Anträgen und Beschlüssen zugänglich, sondern geht ihr voran.

13

5*

Luhmann, Wissenschaft, S. 167 - 270.

IV. Semantische Kämpfe

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Wahrheitsfindung bei Gericht unterscheidet sich vom alltäglichen Wahrheitserleben dadurch, daß man im abgegrenzten Raum des Gerichtssaals etwas erleben soll und dafür nur die beschränkte Zeit des Prozesses zur Verfügung hat. Das ist ein Verfahren von großer Künstlichkeit, in dem übergangen wird, daß Einsichten und Erlebnisse nicht nur auf die Anschauung aktueller Beweismittel, sondern darüber hinaus auf das gesamte Ensemble von Vorverständnissen und Vorurteilen gegründet sind. Das Gericht sieht nicht nur, was Zeugen, Sachverständige oder urkundliche Schriftstücke erkennen lassen. Es sieht vor allem auch, was es schon vor dem Verfahren wußte und gesehen hat, und diese Erlebnisse sind vorgeprägt. Selbst wenn sie auf ein längeres Verfahren zurückgehen, gründen sie sich kaum auf spontane Einsichten. Sie müssen sich wegen der Kürze der Zeit und der Begrenztheit des Raums auf Urteile vor dem Urteil beziehen, und das können Vorurteile sein. Im Prozeß erfährt das jeder Praktiker der Urteilskraft. Er lernt es, Beweise vorweg zu würdigen und sich zu fragen, auf welche Wege des Urteilens ein Beweismittel die Entscheider führen kann. Auch das Gericht muß sich aus Gründen der Verfahrensökonomie überlegen, was ein Sachverständiger ermitteln oder welche Beobachtungen ein Zeuge berichten wird. Das Gefühl, ein wahrer Satz habe sich ergeben, stellt sieh im Prozeß insofern nicht ganz spontan ein und ist möglicherweise auch schwer zu verändern. Man muß kämpferischen Einsatz riskieren, um Wahrheitserlebnissen auf die Sprünge zu helfen. Die Praxis der Sprachspiele kennt Einsätze,14 die ein Teilnehmer wagen muß, wenn er etwas gewinnen will; und im Prozeß will man gewinnen. Auch wenn die Staatsanwaltschaft nach der deutschen Strafprozeßordnung an die Pflicht zur Wahrheit und zur Ermittlung entlastender Umstände gebunden ist, will sie doch gewinnen und Erfolg mit einer erhobenen Anklage haben. Die moderne Strafverteidigung kennt nur eine Pflicht, die mit der Gesinnung des Verteidigers oder dem gebotenen Honorar wächst: die Bewahrung vor Strafe insbesondere vor dem dem Vollzug einer Haftstrafe -, am besten durch Freispruch. In einer Hauptverhandlung kämpft vor dem deutschen Tatgericht (also in erster Instanz) aber nicht etwa die Verteidigung gegen die Anklagevertretung um den Erfolg. Die deutsche Staatsanwaltschaft hat mit Erhebung der Anklage ihren Einsatz schon geleistet und überläßt den Nachweis in der Hauptverhandlung dem Gericht, das dazu durch die in Deutschland geltende Maxime der Untersuchung und Aufklärung von Amts wegen verpflichtet ist. Wenn sich der Anklagevorwurf als plausibel herausstellt und das Gericht aufgrund der in der Anklage benannten Beweismittel von der Richtigkeit des Vorwurfs überzeugt ist (was man in der Perspektive des Sprachspiels als Niederlage der Verteidigung verstehen kann), beginnt nach der deutschen Strafprozeßordnung ein Kampf um den Inhalt der gerichtlichen Feststellungen. Was da stattfindet und Wahrheitsfindung behindert, ist eine besondere Vari14

Lyotard, Wissen, S. 20.

2. Der Kampf im gerichtlichen Prozeß

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ante des semantischen Kampfs. Der semantische Kämpfer benutzt andere Inhalte zur Beschreibung des Falls und verändert damit seinen Charakter. Einen Charakter - nämlich eine Pragmatik der Beschreibung - hat der Fall schon, bevor seine Elemente Gegenstand von Anträgen werden. Zunächst übermittelt das Gericht ein Beweisergebnis ausdrücklich oder dem Sinne nach an die Prozeßbeteiligten. Die Botschaft ergibt sich gewöhnlich aus dem Verlauf der Beweisaufnahme selbst und bedarf keiner ausdrücklichen Formulierung. Gegen diese angenommene Wahrheit richtet sich der Beweisantrag, und auf die im Antrag formulierte Alternative oder den darin behaupteten Gegenschluß muß das Gericht wiederum reagieren. Es kann sich anschließen und Kooperation zur Schau stellen oder den Antrag ablehnen und den Kampf fortsetzen. Das Wechselspiel von Beweisergebnis-Beweisantrag-Zurückweisung bildet das Ritual für semantische Kämpfe. Dabei wird im Sprachspiel eine Beziehung zerschnitten, die man zwar analytisch, aber nicht praktisch beliebig herstellen kann, nämlich die Beziehung von Signifikanten auf Signifikate als den zwei Seiten der Signifikation. Zwischen diese Seiten schieben sich die Beweisbehauptungen, und weitere Einschränkungen treten wiederum zwischen Beweisbehauptung, Beweis und Zurückweisungsbeschluß. Was übrigbleibt, ähnelt nicht mehr dem ursprünglichen Bedeutungswert des Zeichens. Es ähnelt einem Skelett. Die Semantik aus einer Beweisaufnahme bezieht sich nicht nur auf die allgemeine Bedeutung von Wörtern, Wortgruppen und Sätzen, sie schließt eine Geschichte ein, und genau diese Geschichte kann nach dem semantischen Kampf mit Beweisanträgen nicht mehr erzählt werden. Mit seinem Einsatz behauptet der Antragsteller Alternativen: An Stelle dessen, was erwiesen scheint und für das Gericht plausibel wirkt, habe sich "in Wirklichkeit" - so der Antragsteller eines Beweisantrags - etwas ganz anderes abgespielt.15 Das Alibi ist die volkstümlich gewordene Version eines solchen Beweisantrags, der auch im Gericht nach wie vor Gefallen findet. Anders als der Überfallene Zeuge meint - kann der Antrag lauten -, war der Angeklagte zum Zeitpunkt des Überfalls nicht am Tatort, sondern in Neapel. Ein solcher Einsatz gegen den Wahrheitswert richtet sich auf den Nachweis dessen, was man sich auch denken könnte, ohne es bisher tatsächlich gedacht zu haben. Etwas soll sich sich nicht auf den Vorgang beziehen, den der Sender (als Ankläger) dem Empfänger (dem Angeklagten) zum Vorwurf macht. Mit der Negation durch qualifiziertes Bestreiten eines Sachverhalts ändert man die semantische Organisation des prozessualen Zeichens. Der Beweis scheint voreilig so gewürdigt worden zu sein. Das bewiesene Zeichen stehe nicht für das so lautet der Antrag - für das man es hält. Es täuscht. Ein anderer Einsatz greift nicht das Objekt des Beweises, sondern die Verknüpfung von Beweismittel und Ergebnis an. Das Beweismittel sei zwar rich15

Rödig, Alternative, S. 21.

IV. Semantische Kämpfe

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tig, vermittele aber nicht das erkannte Ergebnis. Denn ein Beweismittel bleibt ein Mittel. Es repräsentiert nicht die Sache selbst. Man muß schon den Bekennerbrief als Ausdruck eines Bekenntnisses und nicht als raffinierte Täuschung ansehen, um ihm Beweiswert zuzusprechen. Man muß das frühere Geständnis als Ausdruck von Reue und Einsicht werten, wenn man diesem und nicht dem in der Hauptverhandlung leugenden Angeklagten glaubt. Der Einsatz gegen die drohende Niederlage gipfelt dann in der Unterminierung der Prämisse. Ein Geständnis soll nicht Ausdruck von Einsicht sein, sondern nur das Ergebnis prozessualen Drucks und offener List des Anklägers. Umstände werden eingeführt, um Feststellungen zu verhindern. Warum dieser Weg im Prozeß Erfolg verspricht, haben Sprachkritiker wie Hubert Rodingen einst unter dem Blickwinkel der "Klassenjustiz" erläutert. 16 Rodingen unterscheidet im wahrheitsfähigen Satz die Subjekt-Prädikatstruktur ("Ellen pflückt Blumen") von Umständen, "Konkretheits-Operatoren" 17, wie er sie nennt ("Ellen, die sonst keine Blumen pflückt, pflückt Blumen und Nelken"). Während im Satz - wie Rodingen an etwas holzschnitthaften und prozeßfernen Beispielen erläutert - der Schluß stecke, nämlich der Schluß darauf, ob eine Handlung dem Handelnden oder der Umgebung, den Objekten, zuzurechnen sei, wehrten Umstände mit Konkretheitsbehauptungen diesen Schluß ab. Man müsse also - lautet der sprachkämpferische Schluß - der erklärenden SatzfÖrmigkeit entgegentreten, indem man die Übertragung satzformig codierter Bedeutung verhindere. "Doch da Satz- und Begriffsdenken Vorrang vor Handlungsdenken haben, konnte es geschehen, daß die Kernkraftgegner unter Berufung auf Formalien mit Polizei- und Werkschutzgewalt auseinandergejagt wurden".18 Allerdings sind Rodingens Anleitungen zum semantischen Kampf doch nicht zur semiotischen Grundlage der prozessualen Praxis geworden. In ihr spielen prädikativ genannte Grundüberzeugungen (die man zwanglos als "Wahrheit" bezeichnen könnte) noch eine augenfällige Rolle. Entstehung und Erklärung fallen - meint Rodingen nämlich - da zusammen, wo Richter und Betroffene sich nach demselben Muster richteten.19 Wer einkaufe, wisse, daß er den Preis schulde. Die Wahrscheinlichkeit solcher Grundüberzeugungen wird durch Beweisanträge unterminiert. Beweisanträge richten sich gegen die Annahme von Wahrscheinlichem. Denn die Beweismittel, die in einer Hauptverhandlung präsentiert werden - etwa Zeugen, die das Gericht vernimmt, Sachverständige, die ihre Erkenntnis dem Gericht unterbreiten, Urkunden, die verlesen werden, oder gar der Augenschein, den eine Sache bietet - alle diese Beweismittel drängen regelmäßig einen Tatablauf schon als wahrscheinlich

Neumann, Argumentationslehre, S. 63. Rodingen, Pragmatik, S.27. 18

Ebd., S. 29.

19

Ebd., S. 31.

3. Der Kampf um höhere Symbole

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auf; solange aber der Angeklagte kein Geständnis ablegt oder man ein Geständnis nicht als Ausdruck seines wahren Willens wertet, läßt sich die Wahrscheinlichkeit bekämpfen, und zwar mit dem Mittel des Beweisantrags als "Konkretheits-Operator" (Rodingen). Der Verteidiger ordnet Zeichen und Referenzobjekte einfach anders zu, als es wahrscheinlich wäre, und kann das Gericht damit zwingen, ein angebotenes, in aller Regel aber ziemlich entferntes Beweismittel zu benutzen. Der Zeuge für die hinterlistige Irreführung, der der Angeklagte leider zum Opfer fiel, pflegt sich in Kolumbien aufzuhalten; der Sachverständige hat nie zuvor sein Untersuchungsobjekt gesehen, obwohl ihm schon mit dem Beweisantrag ein ganz bestimmtes Ergebnis in den Mund gelegt wird. Mit diesem Einsatz kämpft der Antragsteller für eine unmöglich erscheinende Wahrheit und gegen wirklich scheinende Wahrscheinlichkeit. Auch wenn er nicht an den Erfolg des Beweisantrags glaubt, hofft er darauf, daß es unmöglich sein wird, die Beweismittel herbeizuschaffen, oder - wenn es nicht unmöglich ist - dann doch Zeit kostet und sich zwischenzeitlich andere Möglichkeiten eröffnen.

3. Der Kampf um höhere Symbole Soweit sich semantische Kämpfe auf forensische Gewinn- oder Verluststrategien beschränken, fallen sie dem Publikum höchstens dadurch auf, daß die Beendigung eines Verfahrens in manchmal unabsehbare Ferne rückt. Gerade im Hinblick auf Strafverfahren ist das in der deutschen Gerichtsöffentlichkeit aufgefallen. Aber man meint, es dabei mit einem reinen Zeitphänomen zu tun zu haben, das durch teilweise auch so genannte prozeßbeschleunigende Maßnahmen verändert, verbessert oder beseitigt werden kann. Daß es sich um eine Eigentümlichkeit der prozessualen Wahrheitsfindung handelt, wird nicht diskutiert. Demgegenüber wird der Wahrheitsaspekt in jenem Bereich semantischer Kämpfe ausschließlich betont, der die Verteidigung höherer, heute wieder national genannter Symbole betrifft. Die Struktur der Kommunikation unterscheidet sich nicht von den prozeßinternen Auseinandersetzungen. Auch soweit öffentliche Personen Urteile lesen, müssen und wollen sie auf Codierungen vertrauen. Entsprechend der Verfahrensdoktrin halten sie die Zuordnung von Ausdruck und Inhalt für notwendig und unwandelbar, und gelegentlich treffen sich vergebliche Sondercodierung und öffentliches Rechtsbewußtsein. So wurde der frühere Gestapo-Chef von Lyon, Klaus Barbie, im Jahre 1987 vor dem Schwurgericht in Lyon wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit {crimes contre l'humanité) angeklagt und verurteilt. Sein Verteidiger, Maître Vergés, plädierte, Verbrechen gegen die Menschlichkeit müßten wenn man der Logik der Ankläger folge - vor dem Tribunal der Menschheit verhandelt werden und nicht etwa vor einem französischen Gericht;20 dieses 2 0

Vergés, Barbie, S. 186.

IV. Semantische Kämpfe

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sei nicht zuständig, weil es nach einem Gesetz urteilen solle, das speziell für den Angeklagten gemacht worden sei, sich dieses Angeklagten auf rechtswidrige Weise bemächtigt habe21 und sich nach Zeugenaussagen richte, deren Inhalt aus psychotischen Phantasien stamme und über Jahrzehnte erzählt und abgewandelt worden sei.22 Der Kampf war vergeblich und verpflichtete den Verteidiger, der das im Laufe seines dreitägigen Plädoyers auch nicht verbarg, sich persönlich zu engagieren. Dennoch wurde nach einer zwingenden Logik plädiert, wenn man einmal die andere Bedeutung der Prämissen akzeptierte. Damit können die juristischen Akteure aber nicht in jedem Fall rechnen. Die Öffentlichkeit hält an der Prämisse fest, daß ein Soldat nicht nur ein Mann mit einer Waffe ist, sondern als Wehrkraft für einen Staat oder eine Nation steht. Die Zuordnung von Symbol und Verständnis beruht in diesem Bereich auf selbst schon wieder kodifizierten Verhaltensgewohnheiten. "Soldat-Sein" indiziert den Staat und ein solcher Index verlangt vom Adressaten ein besonderes, in der Regel ehrfürchtiges Verhalten, das die Wirkung des Symbols ausdrückt. Das Symbol ordnet also einem Ausdruck nicht irgendein, sondern ein in der Rezeptionshaltung festgelegtes, pragmatisch bereits definiertes Verhalten zu. Die Codierung betrifft nicht nur die sachliche Inhaltsbezeichnung, sondern auch die pragmatische Einstellung, weil unterstellt wird, wie ein Inhalt zu verstehen ist. In dem Augenblick, wo eine solche Verhaltensregel auftaucht, ist es nicht mehr möglich, alles das zu äußern, was ohne diese Verhaltensregel zuvor denkbar gewesen wäre. Auch semantische Kämpfe mit nichtjuristischen Akteuren haben unmitelbar zur Folge, daß Verhandlung und Entscheidung eines Gerichts nicht als Modellfall, sondern möglicherweise sogar als Zerrbild streitiger Kommunikation verstanden werden. Das ist ein Sonderfall der forensischen Codierung. Als Sonderfall hat er sich in den letzten Jahren gleichwohl mehrfach wiederholt. Nicht nur das Landgericht Frankfürt hatte einen Satz zu beurteilen, der inzwischen mehreren "Soldaten-Urteilen"23 zugrundeliegt. Auch die in diesem Zusammenhang beanstandete Äußerung (Jeder Soldat ist ein potentieller Mörder ...) wurde von einzelnen Empfängern der Justiz mit der unverhüllten Botschaft übersandt, eine Symbolverletzung festzustellen. Diese Botschaft wird nicht von allen Gerichten gleichmäßig verstanden. Als der Bundessprecher einer "Deutschen Friedensgesellschaft" dem Oberallgäuer Volksboten den gleichen Satz ohne persönlichen Bezug auf den Weg in die Redaktion gab, sah das Bayerische Oberste Landesgericht darin eine unbedingte Beleidigung jedes einzelnen Allgäuer Soldaten.24 21

Ebd., S. 27, 30.

22

Ebd., S. 141.

23

Entscheidung des Landgerichts Frankfurt a.M., Neue Zeitschrift für Strafrecht 1990, S. 223 m. Anm. Brammsen. 24

Entscheidung des BayObLG, Neue Zeitschrift für Strafrecht 1991, S. 186.

3. Der Kampf um höhere Symbole

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Kontextbezüge werden ganz unterschiedlich hervorgehoben oder unterdrückt. Typischerweise tritt der Bezug bei symbolisch hervorgehobenen Inhalten in den Hintergrund. Am Beispiel der sog. "Auschwitz-Lüge" - der Leugnung des millionenfachen Judenmords - zeigte sich, daß die aufgeklärte Öffentlichkeit das sogar fordert. Anläßlich der Soldaten-Urteile wurde demgebenüber auf literarische und historische Kontexte verwiesen. Das Soldatenverdikt hat einen Vorläufer in Tucholskys Verdikt über das Soldat-Sein und erscheint - wann immer es ausgesprochen wird - dennoch nicht als Zitat einer Meinung von Tucholsky, sondern als eigener aggressiver Text. Diese prominente Wirkung wäre ohne das Vorhandensein eines zum Symbol erhobenen Zeichens nicht verständlich. Über bestimmte Aussagen zu relevanten gesellschaftlichen Gruppen soll juristisch nicht mehr gestritten werden. Wird eine solche zum höheren Symbol erhobene Aussage negiert, kann die schlichte Negation den Sprecher überführen. Diese direkte Wirkung ist für eine Justiz, die den Inhaltsbezug bei der Beurteilung von Äußerungen zu suspendieren versucht,25 ein gefährlicher Testfall. Versagt hat nach Einschätzung aller Kommentatoren bei diesem Test zuletzt das Landgericht Mannheim.26 Man darf vorhersagen, daß weitere Testfälle bevorstehen und weiteres Versagen der Justiz beklagt werden wird. Höhere Symbole machen die Justiz in ungewohnter Weise abhängig. Die Abhängigkeit der Justiz ist historisch nicht neu und bezieht sich nicht nur auf die Verteidigung nationaler Symbole. Gefolgstreue war der Ausgangspunkt in der deutschen Justizentwicklung, und Lenkung wurde schließlich im Abschnitt der Nazi-Diktatur gerade über Symboltatbestände durchgesetzt, wie aus den Kommmentaren des Reichsjustizministers in Richterbriefen 27 abgelesen werden kann. Historisch ist bekannt, daß die Machthaber diktieren, wie gewünschte Entscheidungen auszufallen haben. Im politischen Zeichenprozeß ist das Gericht auch heute nach wie vor Empfänger von Symbolen. Die Staatsmacht stattet die Justiz nicht nur mit Siegeln, Wappen und mehr oder weniger repräsentativen Gebäuden aus, sie erwartet auch von der Justiz, daß sie Wappen, Flaggen und mehr oder weniger repräsentative Personen gegen symbolische Beeinträchtigungen schützt. Die Herabwürdigung des Regenten oder die Verunglimpfung von Flaggen, Wappen oder Hymne eines Landes sind (nicht nur in Deutschland) selbständige Straftaten, deren Gewicht im Laufe der deutschen Geschichte zwar unterschiedlich bemessen worden, aber nie verschwunden ist.28 Die unmittelbaren Beeinträchtigungen der nationalen Symbole gehen in mehr oder weniger scharfen Unterscheidungen in Delikte des Hoch-

25

26 2 7

28

Seibert, Durchschnittsleser, S. 355 ff. Entscheidung des Landgerichts Mannheim, Neue Juristische Wochenschrift 1994, S. 2494-99. Richterbriefe, Nr. 10, S. 143 ff. Schroeder, Staat und Verfassung, S. 86 ff

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IV. Semantische Kämpfe

und Landesverrats über. Die historisch gewandelten Tatbestände werden juristisch als Staatsschutzdelikte zusammengefaßt. Im Kampf um höhere Symbole fungiert das Gericht zugleich als Empfänger und Sender tabuisierter Zeichen. Die Wirkung der auszulegenden Symbole wie auch ihre Bedeutung beruhen nicht nur auf einer gesetzlichen Festlegung, sondern sie gründen sich vor allem auf schon existente Reaktionsweisen symbolischer Art. Das Gericht bestimmt nicht, ob der Monarch heilig gehalten werden muß und wie ehrfurchtig man mit einer Fahne oder eine Hymne umgehen muß. Herrscher und Flagge umgeben eine Aura, die selbst Teil eines semiotischen Systems ist. Insofern ist das Gericht Empfänger politischer Botschaften. Wenn es dennoch Verhalten festlegt - und das tun muß, weil wegen der Verletzung von Staatsschutztatbeständen angeklagt wird -, unterscheidet sich seine Rolle von der anderer Machtinhaber wiederum durch symbolische Prominenz. Auf die Justiz richten sich aller Augen, wenn obere symbolische Werte verletzt worden sind. Im Verfahren sollen sie wiederhergestellt werden. Während die einen eine entschlossene Verteidigung erwarten (und deshalb als "konservativ" bezeichnet werden), bekämpfen die anderen eine solche Verteidigung der etablierten Symbolik, definieren die Bedeutung um oder zweifeln sie insgesamt an (und bezeichnen sich insofern als "fortschrittlich"). Abschaffen wollen gerade Revolutionäre die staatliche Symbolik nicht; sie soll nur durch andere Zeichen ausgeübt werden und anderen Staaten gelten, weshalb die unmittelbaren Symboldelikte historisch in Beziehung zu Tatbeständen wie Hoch- und Landesverrat stehen. Rechte wie linke politische Gruppen tragen mit ihren inhaltlich gegenläufigen Erwartungen und Aktionen aber zu einem gemeinsamen Ziel bei: die Justiz von sich und ihrer Meinung abhängig zu machen. Während die Linke das in der Regel offen progagiert und Staatsschutzverhandlungen zum Anlaß des Justizkampfs nimmt, kaschieren Konservative ihre Einflußnahme durch die alltagssemiotische Behauptung, die Bedeutung sei eindeutig. In jedem Fall verliert die Justiz bei der Verteidigung höherer Symbole an Eigenständigkeit und Unabhängigkeit. Wird die behauptete Verletzung positiv festgestellt, gilt das Gericht als Büttel der Macht. Wird sie verneint, gilt das Gericht als offener Kostgänger und heimlicher Wühlarbeiter bei der Staatsmacht. Das fuhrt im Regelfall dazu, daß die Justiz - wenn auch nicht immer erfolgreich - versucht, antisymbolische Handlungen und Verfahren ihres Symbolgehalts zu berauben, zu veralltäglichen und den Einzelfallcharakter zu betonen. Als Justiz kann das Gericht nur im Stillen wirken. Die dritte Gewalt ist - wie eine empirische Studie einst titelte - "stille Gewalt".29 Die Verteidigung nationaler Symbole stört die Selbstorganisation des Justizsystems und macht aus dem Justizpersonal - Richtern, Staatsanwälten und Rechtsanwälten - Agenten einer nationalen Justiz.

Lautmann, Justiz, S. 13.

3. Der Kampf um höhere Symbole

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Die Justizgeschichte bietet eine Vielzahl von Belegen für diesen Prozeß der Einflußnahme. Er erhielt in Deutschland eine besondere Note durch Herkunft, Ausbildung und Selbstverständnis eines bis 1918 königlichen richterlichen Beamten.30 Historisch war die Justiz national gestimmt in dem fragwürdigen Sinne, den der damalige Präsident des Reichsgerichts noch im Jahre 1926 mit den Worten charakterisierte, der deutsche Richter fühle innerlich monarchisch, denn er sei Richter einer Monarchie gewesen und habe den Glanz des Bismarckreichs erlebt, während die Republik nur Elend und Not zu bieten habe.31 Die bis 1918 im Namen des Königs gesprochenen Urteile verteidigten die Symbole von Königen und Kaisern. Die Majestätsbeleidigung (§§ 94 ff. im alten Reichsstrafgesetzbuch von 1871) stellt die Grundform des Symboldelikts dar, bei dem der Nachweis der Verletzungshandlung zur Überführung genügt, ein Wahrheitsbeweis ausgeschlossen und die Wahrnehmung berechtigter Interssen unbekannt waren. Bestraft wurde jede "unflätige Redensart" über den Landesherrn, denn bei der Beleidigung der Staatsoberhäupter sei zwar der Begriff, nicht aber der Maßstab einer Privatperson anzulegen.32 Das führte dazu, daß auch der - in moderner Terminologie - als "Gegenschlag" formulierte Vergleich des regierenden Kaisers mit Vorfahren aus dem 16. Jahrhundert33 ihn persönlich beleidigen oder Polemiken gegen die vom Kaiser verlesene (aber vom Reichskanzler verfaßte) Thronrede unterbleiben sollten.34 Das Gericht funktionierte insofern ohne eigene Möglichkeiten zur Symbolverarbeitui^g. Die Erwartungen, denen es sich als Empfänger ausgesetzt sah, wurden bruchlos in die Begründimg auf Senderebene übernommen. Man sieht die deutschnationale Justiz allerdings nicht richtig, wenn man sie zum bloß willfährigen Empfänger staatlicher Botschaften und Sender der jeweils mitgeteilten Auffassung erklärt. Die Weimarer Republik - darauf bezieht sich das bereits erwähnte Wort des Reichsgerichtspräsidenten - konnte sich als Sender symbolischer Botschaften keineswegs durchsetzen. Auch die nach der Ermordung des Außenministers Rathenau im Jahre 1926 ergangenen Verordnungen zum Schutz der Republik haben das nicht vermocht; statt dessen bereitete die Einrichtung der Sondergerichte für Delikte mit politisch-symbolischem Gehalt35 den Boden für die wiederaufgenommene deutschnationale Rolle der Justiz im Nazistaat. Die Verleumdung, Beschimpfung oder das Verächtlichmachen von Volk, Reich und nationalen Symbolen wurde mit dem Gesetz zur Änderung von Vorschriften des Strafrechts und des Strafverfahrens vom 24.4.193436 verschärft und ausgedehnt. Bemerkenswert ist in diesem Zusam3 0

32 33

Engelmann, Richter, S. 291-318. Simons, in: Deutsche Juristenzeitung vom 1. Dezember 1926. Entscheidung des Reichsgerichts in Strafsachen (RGSt), Bd. 23, S. 347. RGSt28,S. 171.

3 4

RGSt 32, S. 236.

35

Notverordnung vom 6.10.1931, Reichsgesetzblatt I, S. 565.

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menhang die Tendenz, Handlungen ohne symbolischen Gehalt zu Gefahrdungen der Symbole und - noch weitergehend - zu unmittelbaren Angriffen auf die Staatsgemeinschaft zu erklären. Ausgeweitet wurden die Delikte des Hochund Landesverrats, weil - man äußerte das 1934 ganz unverblümt - die "gegenwärtigen praktischen Bedürfnisse" 37 eine Anpassimg erforderten. Im Bestreben, Sender auch noch nicht mitgeteilter ideologischer Botschaften zu werden, hat die Rechtsprechung zum Staatsschutz in der Folge die Verteidigung der Symbole dadurch pervertiert, daß Handlungen symbolischen Gehalt erhielten, die ihn nicht hatten. Auf diese Weise etablierte sich die Strafbarkeit des Hörens fremder Rundfunksender, weil sie den Hochverrat vorbereite, indem die eigene Gesinnung gefestigt und die Kenntnis einer Umsturztaktik erweitert würde.38 Das Gericht bemühte sich, schlichtes Handeln zur symbolischen Aktion zu überhöhen und die Symbolkraft als materielle Verletzung nationaler Interessen zu werten. An die Stelle der Majestätsbeleidigung traten Hoch- und Landesverrat als Grundform der gegen den Staat gerichteten Willensäußerungen. Die Tatbestände zum Schutz von Flagge, Hymne und dem Ansehen des Staates allgemein sind in §§ 90 a und 90 b nach wie vor Inhalt des Strafgesetzbuchs. Es ist auch nicht ersichtlich, daß ein künftiger Gesetzgeber diese und vergleichbare Tatbestände ersatzlos abschaffen würde. Ersichtlich ist aber, daß die Symbole dem alltäglichen deliktischen Zugriff durch Auslegung so entrückt werden, daß ihre Verunglimpfung gewissermaßen interpretatorisch unmöglich gemacht wird. Ein Beispiel dafür bieten die jüngsten Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts. Mit den Beschlüssen vom 7.3.199039 wurden Veränderungen der Flagge in Form einer Collage und eine Umdichtung der Hymne (unter noch genauer zu klärenden Umständen) für zulässig angesehen, weil der "Symbolschutz ... nicht zur Immunisierung des Staates gegen Kritik und selbst gegen Ablehnung führen" darf. Mittel für eine so weitgehende Interpretation der Meinungs- und Handlungsfreiheit war die Figur der Trennung in einen "Aussagekern" und eine "Einkleidung". Die Maßstäbe für die Beurteilung der kritischen Einkleidung in Form einer Collage bzw. eines Songs seien andere und "weniger streng, weil der Einkleidung die Verfremdung wesenseigen ist". Das Verfahren der Zerlegung in "Aussagekern" und "Einkleidung" ermöglicht den ersten Schritt zu einer unabhängigen Beurteilung durch ein Gericht, indem den aktuell beteiligten Sprechern und Hörern die Interpretationskompetenz für ihre Äußerungen entzogen wird. Kompetent ist der "unbefangene Durchschnittsleser" (-hörer, -betrachter), der bis auf weiteres die Kenntnisse des Gerichts hat.40 3 6

Reichsgesetzblatt 1934. Teil I, S. 541.

3 7

Deutsche Justiz 1934, S. 595.

38 3 9

Entscheidung des Volksgerichtshofs, Deutsche Justiz 1938, S. 828. Bundesgerichtshof in Strafsachen, Neue Zeitschrift für Strafrecht 1990, S. 276.

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Aus der historischen Abfolge von unbedingten Majestätsbeleidigungen über bedingt verräterische Lebensäußerungen zu bedingt zulässigen oder unzulässigen künstlerischen Verfremdungen kann deutlich werden, daß die Justiz bei der Verteidigung nationaler Symbole unter historischem - möglicherweise selbst verschuldeten - Anschlußzwang handelt. Unabhängigkeit ist hingegen erst bei einer eigenständigen Symbolverarbeitung möglich, die dem Gericht eine Wahl und damit eine Entscheidung zwischen Recht und Unrecht läßt. Diese Forderung nach eigenständiger justizinterner Wahl kann teilweise in Konflikt zu der ansonsten allseits geltend gemachten Verständlichkeitsmaxime für justizielle Begründungen stehen. Denn Unabhängigkeit heißt in der Grundform: Freiheit des Gerichts, ein Handeln als Recht oder als Unrecht bezeichnen zu können. Das ist schon vom Ansatz her nicht selbstverständlich und kann - wenn es um oberste Werte und scheinbar heilige Gemütsverfassungen geht - auf völliges Unverständnis treffen. Die öffentliche Reaktion auf die als "Soldatenurteile" bekanntgewordenen Entscheidungen veranschaulichen, was gemeint ist. Das Publikum hätte zu überlegen, ob es denn eine unabhängige Entscheidung oder "sein Recht" will (das bekanntlich jeder am besten zu kennen meint, obwohl seine Behauptung im Justizverfahren scheitern kann). Nur scheinbar wird die Frage nach der Unabhängigkeit damit beantwortet, daß die symbolische Organisation des Grundgesetzes die Unabhängigkeit der Gerichte ja vorschreibe. Mit einem Text lassen sich Probleme der Textbeurteilung nicht lösen. Will man zwischen dem Richter als Empfänger nationaler Symbole und dem Gericht als Sender symbolorientierter Prozesse eine Differenz behaupten, so kann die Differenz nur über die Einrichtung einer eigenen, von den oberen Werten abstrahierenden Sprechweise eingeführt werden. Identifikationsfeindliche ("unverständliche") Fachsprache ist in diesem Fall das Medium für Unabhängigkeit. Die Rede vom "semantischen Kampf' läßt Vergeblichkeit anklingen. Vergeblich ist es, Einstellungen auf Seiten der Adressaten dadurch zu erzwingen, daß man bestimmte Äußerungen zur Pflicht macht; und doch geschieht es. Vergeblich ist es in aller Regel, einem Gericht, das eine Überzeugung gewonnen hat, diese durch eine Sondercodierung streitig zu machen; und doch geschieht es. Wäre nur Wahrheit das Prozeßziel, so müßten die Teilnehmer des Kampfs erkennen, daß ihr Verhalten die Wahrheitsfindung nicht befördert, sondern zum Verschwinden bringt. Im semantischen Kampf reicht Signifikation für die Wahrheitsfindung aus. Wahrheiten werden vervielfältigt, um trotz dfcr Bindung an einen gleichbleibenden Gesetzessatz einem besonderen Inhaltsinteresse dienen zu können. Die grundlegende Zeichenhandlung dabei lautet: Das, was hier bezeichnet wird, ist der Inhalt - so wie die Philosophen der Sprachanalyse Kants Eltern als diejeni40

Seibert, Durchschnittsleser, S. 368.

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IV. Semantische Kämpfe

gen bezeichnen, die sagen: Das ist Immanuel.41 Nun sind Eltern freilich nicht sprachmächtig genug, um alle anderen Jungen als "Nicht-Immanuel" auszugsgrenzen. Die referentielle Pointe des Kampfs besteht aber genau darin: Er unterscheidet den benannten Inhalt durch den Akt der Benennung vom Gegenteil, das man je nach polemischer Schärfe auch Lüge nennt. So herausgefordert, besteht die wesentliche Aufgabe eines Gerichts dann nicht mehr darin, die semantischen Merkmale des Streits herauszufinden, sondern die gerichtliche Aktivität in der Mitte von Kämpfen reduziert den Wahrheits- und damit den Erkenntnisgehalt eines Satzes auf Urteile, die manchmal kaum noch etwas mit der Wirklichkeit zu tun haben. Sie sind Ausdruck prozessualer Zwänge, und deshalb fehlt ihnen jeder Modellcharakter. Gegen die Behauptung "Das ist ein Beweis" wendet sich die normative Formel: "Das ist Recht" oder: Dieser Angeklagte hat Unrecht (oder: Recht) getan. Die Bezeichnung als Recht fugt der Sache außer dem Namen des Rechts nichts hinzu. Recht wird in diesem Sinne von Referenzobjekten unabhängig und bleibt tautologisch.42 Die Wahrheit verschwindet. Niklas Luhmann43 hat diese erstaunliche Entwicklung im methodischen Arsenal der Semiotik vor kurzem mit der Beobachtung umschrieben, man spreche noch von "Semiotik", obwohl man feste Beziehungen zwischen Zeichen und Referenten nicht mehr annehme. Der Inhalt der Referenz wird fungibel. Die Frage nach der Referenz der rechtlichen Zeichen muß dann in der von Lyotard44 formulierten metaphorischen Weise beantwortet werden: "...stellen Sie sich einen Staffellauf vor. Die Wirklichkeit wäre der Gegenstand namens "Staffelstab" (témoin), den die Läufer einander übergeben. Der Gegenstand wird nicht durch die Staffel der Läufer wirklich gemacht. Ebensowenig machen die Sprecher den Gegenstand, über den sie reden, durch ihre Beweisführung wirklich. Die Existenz läßt sich nicht erschließen"; oder für die Rechtsdisziplin: Stellen Sie sich ein Verfahren vor. Die Wirklichkeit wäre der Gegenstand namens "Sachverhalt", den die Verfahrensbevollmächtigten einander übergeben. Wirklich wird der Sachverhalt nicht durch die Reihe der Bevollmächtigten und der Gerichte. Aber deren Beweisführung müßte verstummen, wenn man ihnen verböte, noch über Wirklichkeiten zu reden, auch wenn sie verschwunden sind.

41 4 2

Kripke, Name, S.107. Seibert, Zeichen, S. 476 f.

43 44

Luhmann, Wissenschaft, S. 52. Lyotard, différend, Nr. 47; in der dt. Ausgabe: Widerstreit, S.64.

V. Das Dispositiv des Urteils: Feststellungen zur Vergewaltigung 1. Dispositive: Handlungen und Urteilssätze Es gibt wenigstens einen Satz in jedem Prozeß, auf den die Beteiligten warten, an den sich Hoffnungen und Ängste knüpfen, der Lebenspläne aufbauen oder zerstören kann und der gelegentlich auch von der Öffentlichkeit wahrgenommen und kommentiert wird. Das ist der Urteilsspruch, den man hierzulande den "Tenor" nennt, also etwa der Satz: Der Angeklagte wird wegen Vergewaltigung in Tateinheit mit Körperverletzung und Raub zu einer Freiheitsstrafe von vier Jahren verurteilt. Dieser Ausspruch heißt im französischen Urteil "le dispositif du jugement", und die französische Semiologie hat mit dem Ausdruck dispositif die Verbindungen zwischen Sprechen und Handeln im Diskurs insgesamt bezeichnet. Im Falle des Urteils ist die Verbindung klar: Der Tenor eines rechtskräftigen Urteils ist vollstreckbar. Er dient allen Vollstrekkungsorganen als Information und enthält die Anweisung, was zu tun ist. "Le dispositif' verbindet den Text mit dem Handeln. Es wirkt wie ein Scharnier zwischen zwei Bereichen. Sieht man näher hin, besteht das gerichtliche Urteil natürlich nicht nur aus einem Satz. Auch wenn alle Beteiligten auf den Urteilsausspruch warten und die Aufmerksamkeit in dem Moment sinkt, in dem der Tenor verkündet worden ist, erstreckt sich der dispositive Charakter des Textes auf die Gesamtheit der Begründung. Das Dispositiv bildet ein Netz von Sätzen. Es verbindet den juristischen Diskurs mit Praktiken der Macht mit Hilfe eines rednerischen und gewaltförmigen Zugriffs auf Körper (wie Foucault1 für Urteile ausdrücklich hervorhebt). Die Schnittstelle, an der sich die Funktion eines Dispositivs besonders gut beobachten läßt, sind juristische Diskurse, die sich selbst schon auf die Verfügung über Körper beziehen. Es ist kein Zufall, daß Frauen den forensischen Diskurs über die Gewalt an Frauen zum Musterbeispiel der Kritik am Gericht und an den dort vermuteten Praktiken männlicher Macht gemacht haben.2 Man benötigt dazu nicht unbedingt semiotische und juristische Abstraktionskunst, wie sie der Begriff des Dispositivs enthält. Einer der vielen Erfahrungsberichte über Strafprozesse zur Vergewaltigung enthält die Sätze:3 1

2

Foucault, Überwachen, S. 29. Flothmann / Dillig, Vergewaltigung, S. 56 ff.; Meyer-Knees, Verführung, S. 69 f.

80

V. Das Dispositiv des Urteils Natürlich kam auch die Frage: Haben Sie sich gewehrt oder nicht? Weil ich mich nicht gewehrt hatte, empfand ich diese Äußerung als eine Infragestellung des Vorgangs schon im Vorfeld. Ich habe mich unter einen Rechtfertigungsdruck gesetzt gefühlt. Für die Polizei war es nicht selbstverständlich, daß ich mich nicht gewehrt hatte. Ich mußte mein Verhalten begründen. Und weil es nicht selbstverständlich war, sprach es tendenziell erst mal gegen mich. Das heißt jetzt nicht, sie hätten mir nicht geglaubt, aber irgendwie sprach es trotzdem gegen mich, und das heißt filr den Vergewaltiger. Erst die Tatsache, daß er mir mit einer Pistole gedroht hatte, machte Eindruck. Ich glaube, diese Drohung war entscheidend bei der Sache. Die Pistole hatte ich zwar nicht gesehen, aber er behauptete, sie sei im Wagen, und er drohte, mir eine Kugel in den Bauch zu schießen. Diese Tatsache war für die Polizei vielleicht sogar beeindruckender als die Vergewaltigung selbst.

Bezugspunkt der Vergewaltigung ist die Anwendung von Gewalt. Das ist nur scheinbar selbstverständlich, denn die hier gemeinte Gewalt muß nicht durch Schlag und Druck ausgeübt werden. Die diskursive Gewalt - die Erwähnung, daß der Täter nach einer Pistole greifen und der Frau eine Kugel in den Bauch schießen könne - eröffnet den Zusammenhang des Dispositivs. Von nun an - so drückt es die Frau aus - habe man ihr geglaubt und etwas in Gang gesetzt; von nun an war die Verbindung zwischen Bericht über die Tat und Fortgang des Verfahrens hergestellt. Es geschah etwas. Von nun an kann sich auch die Frau des Apparats der Ermittlungsbehörden bedienen. Das Dispositiv wirkt. An der semiotischen Grenze eines schrecklichen und einschneidenden Geschehens offenbart sich die Macht des Diskurses, wie sie Frauen in den letzten 10 Jahren bewußt und "mit Recht" ausgeübt und verwendet haben. Die gerichtliche Feststellung einer Vergewaltigung ist ein sprachlicher Text, der ohne besondere juristische Komplikationen, die den Zusammenhang unübersichtlich werden ließen, den Täter ergreift, unterwirft und zum Objekt des Diskurses macht. Die semiotische Neuerung, die das Verhältnis von Urteil und Handlung oder von Justiz und Praxis zusammenfaßt, liegt in der Kenntnis solcher Dispositive. Seit jeher gibt es einen Zusammenhang zwischen erzwungenem Beischlaf und gesellschaftlicher Reaktion. Im 18. Jahrhundert war noch die ständische Zugehörigkeit das entscheidende Urteilskriterium. 4 Noch vor 40 Jahren war es in der Gerichtspraxis extrem unwahrscheinlich, daß Prostituierte als Opfer einer Vergewaltigung angesehen worden wären. In der Gegenwart haben sich die Gewichte verlagert. Heute kommt es darauf an, daß die Frau für ihre Rechte kämpft. Für vergewaltigte Frauen gilt der Rat, sich im Verfahren durch eine Anwältin als Nebenklägerin zu engagieren und vertreten zu lassen. Aber damit ist nur eine Rolle im Prozeß bezeichnet, mit der sich nicht mehr und nicht weniger als die Hoffnung verbindet, durch sie würde das Dispositiv erschlos3

4

Flothmann / Dillig, Vergewaltigung, S. 22 f. Meyer-Knees, Verführung, S. 74.

1. Handlungen und Urteilssätze

81

sen. Man wagt nichts, wenn man sagt: Es besteht Unkenntnis über den Charakter der dispositiven Sätze in juristischen Texten. Niemand weiß, was aus ihnen "am Fall" folgt, auch wenn die jeweiligen Verfahrensbevollmächtigten ihre angebliche Kenntnis gern zur Schau tragen. Erst nach dem Urteilsspruch wissen alle, worauf es ankam. Zu wissen, "worauf es ankommt", macht den Kern des Dispositivs aus. Ihn beschreibt auch ein Autor wie Michel Foucault nur ganz allgemein als Verknüpfung von Diskursen und Praktiken, nämlich als das "heterogene Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, wissenschaftliche Aussagen, philosophische, moralische oder philanthropische Lehrsätze, kurz: Gesagtes ebensowohl wie Ungesagtes umfaßt." 5 Die Bezeichnung beschreibt aber nicht nur einen Zusammenhang zwischen Text und Handeln, in dem einmal der Text für das Handeln stehen und das andere Mal die Handlungsform den Text ersetzen kann, das Dispositiv umfaßt und erfaßt vor allem eine Strategie. Im Bereich der Sexualität sieht Foucault keine Zensur am Werk, sondern "einen Apparat zur Produktion von Diskursen über den Sex",6 die ihn zu einer funktionierenden und wirksamen Ökonomie werden lassen. Der Diskurs über Vergewaltigungen gehört in diesen Apparat, dessen Funktionsweise sich am Beispiel strafrechtlicher Urteile studieren läßt. Im Urteilsdispositiv werden Handlungen erfaßt, die sich nicht restlos in der Genese aus Umständen und Einflüssen erschöpfen, sondern einer Person zugerechnet werden und sie zum Täter machen. Sie schaffen die Rolle des Angeklagten, der wiederum Objekt und damit in gewissem Sinn auch Opfer des Diskurses wird. Zusammengefaßt werden dabei Praktiken und Taktiken, die als zielgerichtete Strategie das Handeln prägen. Das Strafurteil macht die Bestrafung plausibel und erklärt sie als notwendige Reaktion auf eine Tat. Aus seinen Feststellungen ergibt sich die juristische Lesart für Gewalt und für den notwendigen Zusammenhang von Diskurs und Macht. Weshalb Dispositive die Richtung eines Diskurses prägen und inwiefern die Akteure an der Produktion des Dispositivs mitwirken, ist auf theoretischem Niveau schwierig oder (noch) gar nicht zu beschreiben. Wie immer auf dem Feld schwieriger Theorie liegen literarische Beschreibungen durchaus vor. Eine davon stammt von Friedrich Dürrenmatt und handelt von einer "Panne". Die Panne sei kurz geschildert: Die Rolle des Angeklagten sei noch imbesetzt, erfährt der um ein Nachtquartier nachsuchende Handelsvertreter in Dürrenmatts Drama "Die Panne" von seinem Gastgeber, einem pensionierten Richter, der mit seinen Freunden Gericht spielt. Die Rollen des Staatsanwalts, des Verteidigers und natürlich des Richters sind ständig besetzt; nur Angeklagte sind Mangelware. Empfängt der Richter einen Gast, dann bittet er ihn, die Rolle des Angeklagten zu übernehmen. Ob er etwas begangen habe, sei nicht wichtig, denn ein Verbrechen lasse sich immer finden, meinen die Juristen. Tat5

Foucault, Dispositive, S. 119 f.

6

Foucault, Wille zum Wissen, S. 35.

6 Seibert

V. Das Dispositiv des Urteils

82

sächlich finden sich auch Verbrechen. Die spielenden Juristen bevorzugen Ehebruch und vor allem Mord, und sie fragen heraus, daß der leugnende Angeklagte Ehebruch mit der Frau seines Chefs getrieben hat. Dessen Selbstmord stellt sich mit geringem Erzählaufwand als jedenfalls billigend in Kauf genommener Mord dar. Der Angeklagte erkennt das im nachhinein selbst und verbindet das Ergebnis des Prozeßspiels mit einer Analyse seines Selbst und mit einem Urteil über sein eigenes Leben: Er bringt sich um. Das Zimmermädchen bedauert diese "Panne". Da habe jemand das Spiel versehentlich ernst genommen.7 Mit diesem Ende offenbart der fiktive Text die Kraft des Dispositivs. Man braucht gar keine reale Polizei, man braucht auch kein wirkliches Gerichtsverfahren, denn es ist nicht die blanke Macht, die den Angeklagten ergreift und zwingt. Je näher man hinsieht, desto mächtiger werden die Zeichen des Prozesses, die von dieser Macht selbst dann nichts verlieren, wenn sie "nur" im Spiel präsentiert werden. Das Spiel der Zeichen überrollt den Angeklagten, der eigentlich nur tut, was alle tun und deshalb nicht böse sein kann oder jedenfalls nicht als besonders böse erscheint. Deshalb kann auch jeder ohne große Schwierigkeiten Angeklagter werden. Die Rolle des Angeklagten bestimmt sich nicht aus der Ordnung des "Seienden", sondern nach der Signifikation in feststellenden Sätzen. Die Feststellung macht das Dispositiv aus, und - einmal in Form eines Sachverhalts etabliert - findet man das Bezeichnete auch in allen anderen Diskursformen wieder. Die fiktive Gestaltung in Dürrenmatts Text läßt die Rolle des Angeklagten mit der des Opfers zusammentreffen. Der Angeklagte, der die fiktiven Zeichen ernst nimmt, wird zum Opfer, wobei dieses Opfer allerdings kein rechtes Mitleid verdient, weil es die Tat ja begangen hat, sich nur bisher der Bezeichnung nicht stellen mußte. Die Angeklagten in Prozessen über Vergewaltigung sind solche, die sich nur bisher der Bezeichnung nicht stellen wollten und mußten. Den körperlichen Zugriff leugnen sie in aller Regel nicht, verteidigen sich aber wie der literarisch verewigte Handelsvertreter damit, es handele sich um eine ganz unauffällige und in Wirklichkeit ganz andere Tat, bei der sie noch im Rahmen allgemeiner Anschauung gehandelt hätten. Die Frage nach der Wahrheit gerichtlicher Feststellungen richtet sich deshalb auf die personale Zuschreibung im jeweiligen Urteil. Was ein Täter getan hat, muß motiviert werden. Die Motive wiederum ergeben sich aus dem Dispositiv, soweit es gesellschaftlich vorgestellt wird. In der Justiz wird es formuliert, aber da Formulierungen der Sache durchaus etwas Neues hinzufugen, beeinflußt jedes Urteil zur Vergewaltigung auch gesellschaftliche Vorstellungen über Sexualität. Diese Vorstellungen werden durch Sätze geprägt. Der Versuch, ein Dispositiv ge-

7

Dürrenmatt, Panne. S. 171.

1. Handlungen und Urteilssätze

83

ächteter Gewalt zu finden, gilt insofern der Bezeichnungsseite der Sexualität, ihrer Darstellung. Wem gegenüber werden Taten im Urteil dargestellt? Die Frage ist nicht ganz neu, und eine üblich gewordene Antwort, die demokratischen Charakter zu haben scheint, behauptet, die Feststellungen im Urteil gälten dem Angeklagten oder allgemeiner: dem Verurteilten und damit demjenigen, der eine Sanktion tragen müsse. Er solle verstehen, weshalb er sie ertragen müsse. Deshalb soll ihm gegenüber auch begründet werden. Tatsächlich gibt es einsichtige Täter. In der Regel sind es nicht diejenigen, die eine Tat in der Hauptverhandlung abstreiten. Einsichtige braucht man nicht zu überzeugen, sie kennen das Dispositiv, und diejenigen, die sich der Anklage erwehren wollen, werden durch Urteilsbegründungen nicht überzeugt. Deshalb stand und steht neben dem demokratischen Anspruch eine These, die sich aus dem Machtzusammenhang des Urteilstextes ergibt: Das Urteil begründet ein Ergebnis gegenüber dem Obergericht im Rechtsmittelzug. Die Begründung richtet sich gegen ihre eigene Abänderung bei der Überprüfung des Urteils. Sie verhilft - wenn das Dispositiv mächtig ist - dem Text zur Rechtskraft. In seiner dispositiven Funktion wirkt ein Urteil als aus dem Rahmen fallende Zeichenkette oder als mit dem Kontext brechender Text. Während außerhalb des gerichtlichen Forums Zeichen unendlich reichhaltig und in nicht absehbare Richtungen fließen, unterbricht das Urteil diese fortlaufende Textproduktion und schafft zwei Sorten von Rezipienten: den Angeklagten als Objekt und das Obergericht oder das juristische Publikum als Adressaten. Es referiert auf die Person, die eine Tat begangen hat. Diese Tat wird nicht nur bezeichnet; sie geht von einem Täter aus. Der Angeklagte wird zum Referenzobjekt des Textes. Das Gericht bezieht sich auf seine Person als die von jemandem, der gehandelt hat und der, weil er (so) gehandelt hat, verurteilt werden muß. Das Urteil schafft damit zwei Markierungen in der Zeit, von denen eine nicht beschrieben wird, weil es sich um die Urteilssituation selbst handelt. Aber nur von dort aus - vom Ergebnis des Verfahrens her - wird die festgestellte Tat deutlich, selbst wenn sie ursprünglich oder in der Zwischenzeit anders erlebt worden wäre. Erst die Feststellungen machen den Angeklagten zum Objekt des Verfahrens und versetzen ihn in die dritte Person Einzahl: Er verübte Gewalt. Adressat des Urteils - als der Herr Angeklagte - ist er nicht. Wie wird darüber hinaus derjenige bezeichnet, der eine Verurteilung verdient, alteuropäisch: "die böse Tat" begangen hat? Kann es so etwas noch geben, wenn man einmal die Fungibilität, die fortlaufende Verschiebung von Feststellungen durch juristische Zeichenorganisation erkannt hat? Die Antwort auf solche Fragen muß zwei traditionell getrennt gedachte Begriffe miteinander verbinden. In der Tradition werden Information und Präskription oder Feststellung und Bewertung voneinander getrennt. Folgt man ihr, dann wird 6*

84

V. Das Dispositiv des Urteils

im Urteil eine Tat dargestellt, die zwar die Regeln der gegebenen Ordnung stört und nicht sein soll,8 aber nicht in den Bewertungszusammenhang des Bösen gehört. In der dispositiven Praxis bemerkt man demgegenüber, daß Informationen etwas vorschreiben oder Feststellungen auf eine bestimmte Bewertung abzielen. Nur kann und darf diese Bewertung nicht selbst bezeichnet werden. Das Böse darf nicht als solches benannt werden. Die Informations- und Kommunikationsleistung stößt an eine Grenze des Schweigens, wenn man auf Bosheiten stößt. An dieser Grenze hinterläßt die Zeichenkette einen Überschuß an Codierung. In den informierenden Zeichen ist mehr eingelagert als im Lexikon nachgeschlagen oder konventionell erwartet werden könnte. Die Zeichen ergreifen den Adressaten. Die Zeichenkette teilt nicht mehr nur einfach etwas mit, sie klagt gleichzeitig an. Sie brandmarkt denjenigen, den sie trifft. Der Angeklagte sieht sich nicht nur als denjenigen markiert, der etwas getan habe, was man aus dem Code möglichen Verhaltens kennt. Im juristischen Wörterbuch mag eingetragen sein, was als strafbar bezeichnet werden kann. Aber die Strafbarkeit sagt nichts darüber aus, ob sie für den Adressaten wirklich gilt. Sie ist zunächst nicht mehr als eine im Code angelegte Möglichkeit, die erst noch auf eine Verwendung im Zeichenprozeß wartet. Zum Täter wird man durch Bezeichnung. Wenn jemand Hinterlist übt, wenn jemand Gewalt anwendet oder jemanden mit einem Unheil bedroht: dann liegt allein in dieser abstrakten Beschreibung des Geschehens nicht die eigentliche Boshaftigkeit. Man muß nachträglich bezeichnen, worin das eigentlich Hinterlistige eines listigen Verhaltens liegt. Diese Wirkung ergibt sich nicht schon aus der informativen Darstellung der Tat. Juristen wissen das. Bereits die Anklage braucht einen konkreten Satz. Sie braucht nach dem das Gesetz wiedergebenden Teiltext im ersten Satz einen zweiten Satz, der den Täter ergreift und zum Angeklagten macht. Das Dispositiv des Urteils hat im Prozeß die Aufgabe, der textlichen Darstellung Handlungen folgen zu lassen. Vom Dispositiv läßt sich dabei nicht als einem Instrument reden, denn der Codex in der Form des Gesetzbuchs ist kein Instrument und läßt sich nicht auf die Beziehung eines Mittels zum Zweck der Verurteilung reduzieren. Zwar legt die moderne Rede vom "Gesetzgeber" das Verständnis nahe, Codierung sei eine aktive Leistung. Aber der heutige Gesetzgeber schafft gar keinen Codex, sondern er novelliert höchstens das Änderungsgesetz zur Reform des Wohngeldsondergesetzes oder ähnliche von niemandem mehr nachvollzogene Spezialitäten, die sich erst sehr viel später und an ungeahnter Stelle als entscheidend erweisen. Der Codex geht diesen Vorschriften und Verordnungen voran. Im Rahmen des Codex codiert man nicht, weder als erster noch als zweiter Zeichenproduzent. Man kann Rechtstexte hervorbringen und ein System von Signifikanten schaffen; deren Codierung ist aber schon fertig, bevor sie benutzt wird. g

Wie Schild (Unrechts-Tat, S. 130) als moderne Errungenschaft für das Strafrecht reklamiert.

1. Handlungen und Urteilssätze

85

Nach herkömmlicher juristischer Auffassung bestimmt das Gesetzbuch die dispositive Funktion des Gesetzes. In der Praxis des Prozesses entdeckt man demgegenüber, daß diese Praxis selbst auf einem eingelebten Verständnis und Handeln beruht und als praktischer Text ein Signifikantensystem darstellt, das eine Antwort auf die Frage nach dem Sinn schon voraussetzt. Der aus dem Gesetz herausgelesene Sinn unterscheidet sich nicht fundamental von den alltäglichen Meinungen über Recht und Unrecht. Auch aus dem Katalog der strafrechtlichen Rechtsgüter (Ehre, Gesundheit, Leben, Vermögen usw.) geht weder der Sinn der Strafen hervor, noch läßt sich damit das Dispositiv des Urteils beschreiben. In den Begriffen der Rechtsgutslehre sagt man, daß die Beschädigung oder Beeinträchtigung von Leben, Gesundheit, sexueller Selbstbestimmung der Person oder von Integrität und Beweiskraft der Urkunde den Unwertgehalt einer Tat bezeichnen. Damit benutzt man aber lediglich ein weiteres, im Verhältnis zum Tatbestandssystem noch gröberes Signifikantensystem, das die Widersprüche zwischen erlaubten und unerlaubten Handlungen vertieft, obwohl die Frage nach Wert und Unwert erst noch zu beantworten wäre. Das Dispositiv des Urteils hat praktischen Charakter. Es orientiert sich nicht an der Schädlichkeit einer Handlung, auch wenn der Überfall und die Schußverletzung nach einer Reaktion verlangen. Im klassischen Kriminalfall ruft die Leiche zur Suche nach dem Mörder auf, auch wenn man weiß, daß die meisten Toten auf rechtlich nicht beanstandete Weise zu Tode kommen. Das Dispositiv orientiert sich auch nicht an der Häufigkeit des Normbruchs, obwohl nach soziologischer Lehre die NichtSanktionierung zur Legalisierung führt; die Strafbarkeit von Abtreibung oder Rauschgiftkonsum lehren das Gegenteil. Das im Urteil enthaltene Dispositiv beruht im Kern auf einer Tautologie:9 Verurteilt wird, was zu tun verurteilt werden muß. Die Tautologie hat ein selbstverständliches und ein nicht selbstverständliches Merkmal. Sie ist - wie jede Tautologie - inhaltsleer. Deshalb kann man nicht im vorhinein sagen, was verurteilt werden wird. Man urteilt ohne Kriterium. 10 Auf der anderen Seite enthält die Tautologie aber ein nicht selbstverständliches Modal: Es muß verurteilt werden. Es gibt ein unbedingtes Gebot, etwas zu tun oder zu unterlassen. Fast ist man geneigt, den im Gesetz ausgedrückten Unwert als Begriff aufzufassen, der wegen seiner allfälligen Gegenwart in sich selbst Signifikat ist. Aber das widerspräche den kritischen Errungenschaften und Erfahrungen bei der Vertauschung von Gut und Böse.11 Das Verbot als Signifikat ist ein sprachlich nicht repräsentiertes Zeichen. Es ist vorhanden, kann aber nicht ausgedrückt werden. Umgekehrt: Das Dispositiv des Urteils beginnt dort, wo das Gericht die Begründungen enden läßt, Gründe nicht mehr nötig sind und sich der "Rest" von selbst versteht. Das Verbot in diesem 9

Frey, Selbstreferenz, S. 44 ff.

10

Lyotard/Thébaud, Au juste, S. 53.

11

Derrida, Positionen, S. 56.

V. Das Dispositiv des Urteils

86

Sinne gehört zur Phänomenologie des Tabus, das bekanntlich nicht kodifiziert werden kann und muß.12 Jeder weiß, was man nicht tut. Katharina Sobota hat das Tabu in den Imperativ gekleidet: Don't mention the norm. 13 Als verpflichtendes Gebot gehört die Norm dem Dispositiv des Urteils an, ohne daß sie ausgedrückt werden muß. Nun erwuchs die semiotische Fragestellung an das Strafverfahren aus der Entdeckung, daß die vorgängige Codierung zweifelhaft, disponibel und vielleicht ihrerseits sogar verwerflich ist. Der Begriff der "Ettikettierung" als böse verdrängte das Phänomen selbst; er legte nahe, daß es eine legitime Verurteilung gar nicht geben könne, sondern nur eine bürokratisch-legal durch das Verfahrensende erzwungene.14 Das semiotische Mitgefühl galt dem Täter als Opfer des bürokratischen Definitionsprozesses. Fragen wir also im Hinblick auf die Elemente des Definitionsprozesses: Wie überträgt sich die Codierung nach Gut und Böse auf die neutralen Sätze der Feststellung? Wie verbinden sich Informationen mit Bewertungen so, daß das codierte Vorurteil dem Adressaten aufgegeben, aber nicht aufgedrängt wird? Die Feststellung vollzieht sich in einer Subjekt-Prädikat-Beziehung, die das Dispositiv des Urteils zum Ausdruck bringt: Subjekt-Prädikat-Beziehungen formen durch Personalisierung und Motivierung eine Geschichte. Das Dispositiv verfügt über ein Schema, das nicht nur für das gerichtliche Urteil gilt, sondern Merkmale des allgemeinen Geschichtenerzählens aufgreift. Ich werde dazu Feststellungen aus Urteilen präsentieren, denen Teile der Begründung nachfolgen. Es handelt sich durchgängig um kontroverse, im Justizjargon: "streitig" ausgetragene Fälle, in denen der Angeklagte die Tat, und zwar charakteristischer Weise die Gewaltanwendung leugnete.

2. Die Feststellungen zur Person Jedes Urteil enthält vor der eigentlichen, für den Urteilsausspruch notwendigen Tatschilderung eine Einfuhrung. Häufig werden dabei die Vorstrafen im einzelnen abhandelt, und allein durch die Aufzählung früherer Urteile und die Wiedergabe der zugrundeliegenden Taten kommt das Verfahren der erneuten Zuschreibung in Gang, in dessen Rahmen der Angeklagte die aus früheren Texten schon bekannte Rolle spielt. Manche Beobachter halten deshalb schon die Feststellung der Vorstrafen für ein Übel, weil sie den Angeklagten stigmatisiere. Das Stigma beruht auf den schädlichen Merkmalen, die einem Angeklagten im Urteilstext als Täter persönlich zugeschrieben werden. Es degradiert ihn und macht die Anklage plausibel. Dementsprechend gehört die Stig12 Hassemer, Verbrechen, S. 160 ff. Auf der rechtssemiotischen Konferenz in Oflati 1990, veröffentlicht in: Sobota, norm. 14

Robert, Strafe, S. 178 f.

2. Die Feststellungen zur Person

87

matisierung auch zu den Merkmalen einer guten Anklage. Es gibt Beschreibungen, wie man eine gute Anklage macht,13 und es gibt Empfehlungen, auf welche Weise man sich der Rolle eines Angeklagten mehr oder weniger geschickt entzieht.16 Diese Rolle beginnt förmlich mit der Zulassung der Anklage durch das Gericht. Der Beginn ist also durch einen schriftlichen Text markiert. Sie endet mit der rechtskräftigen Verurteilung oder Einstellung des Verfahrens. Auch insoweit markieren Schriftzeichen den Übergang. In diesem zeitlichen Rahmen entfaltet das Urteil seine dispositive Kraft. Das strafrechtliche Dispositiv beruht auf einem narrativen Modell.17 Anders als in Zivilsachen braucht man im Strafurteil nach der Erzählung nicht lange zu suchen. Die Tat muß immer "erzählt", nämlich festgestellt werden. Die Feststellung des Sachverhalts knüpft an einen oder mehrere Akteure an; sie beschreibt - auf diese Akteure bezogen - die Handlung und charakterisiert den Schaden als Erfolg dieser Handlung, am besten an einem Objekt, auf das sich das Geschehen richtet.18 Die Sachverhaltsfeststellung ist die Grundlage der Strafzumessung, die im deutschen Urteil ebenfalls begründet wird, während sich die rechtliche Bewertung aus den Feststellungen für den kundigen Leser von selbst ergibt. Sie kann, muß aber nicht ausgeführt werden. Das Kernstück ist die Sachverhaltserzählung. Gegen sie wird deshalb auch Kritik der Art geübt, im Verfahren finde Etikettierung statt, wobei sich die Unterstellung anschließt, diese Etikettierung erfasse gerade nicht das reale Geschehen. Dabei gehört die im Urteil praktizierte semiotische Arbeit zu den allgemeinen Voraussetzungen, unter denen jeder Beobachter Realität wahrnimmt: Er sucht nach einem Täter, oder abstrakt: Jede Erzählung muß eine Person als Träger eines Geschehens bezeichnen.19 Das Urteil stellt die Verbindung zwischen dem Ergebnis "jemand ist verletzt" und der Verletzungshandlung her. Die Frage nach dem Täter motiviert auch das allgemeine Interesse an Kriminalgeschichten. Aber während Kriminalerzählungen die Personalisierung regelmäßig erst am Ende, gewissermaßen als Auflösung bieten, fehlt Urteilen die Spannung und die anfängliche Ungewißheit über den Ausgang. Der Täter wird in der Verfahrensrolle des Angeklagten von vornherein als Akteur eingeführt, und mit einem gewissen Vorrat an typisierten Gerichtsgeschichten ist nicht weiter zweifelhaft, welche Verurteilung der folgenden ganz sachlichen Täterschilderung 20 zugrundeliegt:

15

Garfinkel, Degradierungszeremonien, S. 34 f.

16

Rodingen, Pragmatik, S. 92 f.

17

Was Jackson (Law, fact, S. 61 ff.) als besondere semiotische Leistung hervorhebt.

18

Seibert, Erzählen, S. 80 f.

19 20

Jackson, Law, fact, S. 96 f. demonstriert diesen Zwang sogar für einen abstrakten Rechtssatz.

Die erste Ziffer der folgenden Textbeispiele bezeichnet jeweils den Zusammenhang eines Urteils (aus 4 Urteilen wird zitiert), die zweite bezieht sich auf die Reihenfolge der Teiltexte.

88

V. Das Dispositiv des Urteils

(17.1) Am Abend des 31. März 1989 kam der Angeklagte mit einem VW-Bus, der auf ihn zugelassen war, von D. nach L. Er beabsichtigte, noch Apfelwein zu holen, sah jedoch am Straßenrand einen Mann liegen, über den sich ein anderer beugte. Er hielt an und ging zu den beiden Männern. Da der am Boden liegende offenbar betrunken war, fragte dessen Freund den Angeklagten, ob er nach Höchst fahre. Der Angeklagte erwiderte, das habe er eigentlich nicht vor; er wolle Apfelwein im "Löwen" in L. holen. Der andere schlug nun vor, man könne auch im "Fuchsbau" Apfelwein holen. Zu dritt fuhr man nun in die Gaststätte "Fuchsbau". Es war bereits kurz vor Mitternacht. Dort gab der Freund des Betrunkenen dem Angeklagten ein Bier aus, das dieser an der Theke trank. Ihm fiel die Zeugin Katja B. auf, die dort an einem Tisch saß und einen Cocktail Batida de Coco mit Kirschsaft trank. Sie hatte sich dort nach einem gemeinsamen Abendessen mit ihrer Schwester, der Zeugin C., hinbegeben. Der Angeklagte sah die Zeugin B. so lange und auffällig an, daß diese das schließlich bemerkte, zu ihm kam und ihn fragte, ob er ein Paßbild von ihr haben wolle. Die Zeugin, die den Angeklagten jedenfalls nicht unsympathisch fand, begann eine Unterhaltung mit ihm und schlug vor, man könne ja noch in Höchst die Diskothek "Number One" besuchen. Dem stimmte der Angeklagte zu, obwohl er an sich den Besuch von Diskotheken nicht schätzt. Er erklärte, er habe ohnehin nach Höchst fahren wollen, um dort einen Mann abzusetzen. Obwohl die Schwester der Zeugin B. ihr vorhielt, man wolle gemeinsam nach Hause fahren, hielt diese an ihrem Plan fest, in Höchst noch in die Diskothek zu gehen, die sie von früheren Besuchen her gut kannte. Damit sind die wesentlichen Personen der Handlung bezeichnet: der Angeklagte, der zum Täter wird, die Zeugin, die einer Annäherung zunächst zustimmt und nicht als williges Opfer erscheint, und schließlich ihre Schwester, die das Geschehen hätte verhindern können und wollen. Die böse Wendung ergibt sich aus einem unschuldigen Anlaß. Man braucht über den Täter nicht allzuviel zu sagen, weil die Entwicklung der Handlung die Willkür deutlich werden läßt. Diese Lesehinweise machen den Charakter des Dispositivs aus. Die Macht des Urteils wird im Diskurs der Feststellungen repräsentiert. Es ist üblich zu Beginn der Urteilsfeststellungen in allgemeiner Charakteristik die Personen der Handlung vorzustellen und den Kontext für den folgenden Text zu bezeichnen. Diese Feststellungen beziehen sich in erster Linie auf den Angeklagten und können auch ohne Zitate aus einem Vorstrafenregister schädliche Neigungen als Merkmal des Urteilsdispositivs darstellen. Sie lauten dann: (18.1) Der Angeklagte ist 31 Jahre alt und stammt aus T. in Montenegro. Er fühlt sich dennoch der kroatischen Nationalbewegung zugehörig und zählt gerichtsbekannte kroatische Straftäter wie M. zu seinen Freunden. Aufgewachsen ist der Angeklagte in einer Familie, die sein Vater bald verlassen hat. Aus seiner Jugend und aus seiner Erziehung ist er an Schläge und Gewalt gewöhnt. Erlernt hat er nach einem Hauptschulabschluß den Beruf eines Schiffsmechanikers, und

2. Die Feststellungen zur Person

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er ist auch zur See gefahren. Während seiner Militärzeit in Jugoslawien hatte der Angeklagte disziplinarische Probleme. Die Armee verfügte ihn in eine psychiatrische Anstalt, in der er ärztlich behandelt wurde. An einer Geisteskrankheit oder Geistes-schwäche leidet der Angeklagte jedoch nicht. Zur Frage, ob er Kokain konsumiere, wollte er sich vor Gericht nicht äußern. Das ist das Szenario eines zerbrochenen, gefährdeten und gefährlichen Lebens. Auch wenn man nicht im einzelnen erfährt, was der Angeklagte dachte und wollte, wird das Dispositiv ausgelöst. Dem Täter wird die später geschilderte, in ihrem Ablauf unmotivierte Tat zugerechnet. Er scheint dabei zu handeln, wie er geschildert wird. Jedenfalls enthält die Schilderung Merkmale, die - anders als im ersten Fall - neben die Tatbeschreibung treten und sie motivieren können. Dem gewalttätigen Angeklagten kann Gewalt zugerechnet werden. Sicher läßt sich eine Vergewaltigung nicht nur oder noch nicht einmal vorwiegend auf dem Hintergrund eines persönlichen Gewaltpotentials verstehen. Das verändert aber den Charakter des Dispositivs nicht. Es macht lediglich die nicht seltenen, scheinbar gewaltfreien Übergriffe motivationsbedürftig. Auch die folgende gewaltferne Darstellung leitet eine Verurteilung ein: (19.1) Der Angeklagte stammt aus Jordanien, ist 53 Jahre alt und lebt seit 1957 in der Bundesrepublik. Er hat in Deutschland Biologie und Pharmazie studiert, sein Staatsexamen in Pharmazie abgelegt und im Jahre 1968 mit einer Arbeit auf dem Gebiet der Biochemie in Freiburg promoviert. Im gleichen Jahr heiratete er eine deutsche Staatsangehörige. In der Ehe sind zwei Töchter im Jahre 1969 und 1973 geboren worden. Der Angeklagte bezeichnet seine Ehe als gut. Als Geschäftsmann ist er außergewöhnlich erfolgreich gewesen. Er hat in den Jahren bis 1983 im Industrieanlagenbau im Nahen Osten, insbesondere in den Vereinigten Arabischen Emiraten ein beträchtliches Vermögen erworben, das es ihm erlaubt, bei einer derzeit verhältnismäßig schlechten Geschäftslage im arabischen Raum auf sein Gehalt als Geschäftsführer der von ihm im Jahre 1978 gegründeten GmbH zu verzichten. Dennoch verfügt der Angeklagte - wie er selbst erklärt hat - über ein durchaus gutes, geregeltes Einkommen. Er ist in verschiedenen Funktionen ehrenamtlich tätig. So ist er seit 10 Jahren Ehrenvorsitzender der "F.P.O.", die mit Spenden der ölexportierenden arabischen Länder arbeitet und Ausländern gleich welcher Nationalität oder Hautfarbe hilft. Diese Organisation hat ihren Sitz in Genf. Das dortige Büro besucht der Angeklagte von Zeit zu Zeit. Es könnte sich um den Handelsvertreter aus Dürrenmatts Drama handeln. Auf einer solchen Auslandsreise wird sich nämlich eine "Panne" ereignen, ein unvorhergesehener Ablauf in einem sonst ganz alltäglichen und beiläufigen Spiel. Aber auch die Kennzeichnung der Normalität weist auf Abweichungen hin. Da erfährt man von einem Geschäftsführer, der Geschäfte führt, obwohl es keine mehr gibt. Er verfügt über ein geregeltes Einkommen, obwohl er aus seinen Geschäften kein Geld verdient. Der Hintergrund bleibt dunkel und wirkt zweifelhaft, und nach solchen Zweifeln läßt sich die Umkehr vom All-

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V. Das Dispositiv des Urteils

täglichen ins Boshafte verstehen. Es ist bereits im Alltag angelegt, und zwar in ähnlichem Maße, wie die Figur des von seinem Vater geschlagenen und andere mit Gewalt bekämpfenden Jugoslawen, der Kroate sein will, den Anschein latenter Willkür erhält. In einem letzten Typ schließlich werden schon in der Person die wesentlichen, die kommende böse Tat vorbereitenden Merkmale benannt. Es heißt in einem solchen Fall über den Angeklagten: (20.1) Er war sechs Jahre lang verheiratet, ist jedoch seit Juni 1986 geschieden. Die Beziehung zu seiner früheren Ehefrau war schwierig; sie brachte ihm insgesamt weder psychische noch sexuelle Befriedigung. Bereits während der Zeit seiner Ehe fiel der Angeklagte dadurch auf, daß er sich fremden Frauen - teilweise gewalttätig - näherte und versuchte, sein Glied an ihnen zu reiben. Er ist in dieser Hinsicht - nach drei jugendgerichtlichen Verfahren wegen Diebstahls und Sachbeschädigung, bei denen von der Verfolgung abgesehen wurde bzw. die eingestellt worden sind - strafrechtlich durch Urteil des Landgerichts Frankfurt in Erscheinung getreten. Damals wurde er wegen sexueller Nötigung in Tateinheit mit Körperverletzung verurteilt, weil er eine 29jährige Frau unter Anwendung von Gewalt an sich drückte, seinen Unterleib an ihrem Körper rieb und sie anschließend zwang, ihn mit der Hand zu befriedigen. Das Landgericht Frankfurt ging davon aus, daß sich der Angeklagte die erfolgte Verurteilung zur Warnung gereichen lassen würde und setzte die verhängte Freiheitsstrafe von 2 Jahren zur Bewährung aus. Als Bewährungsauflage wurde dem Angeklagten aufgegeben, eine bereits zuvor begonnene Therapie bei Dr. S. in Bad Homburg fortzusetzen. Tatsächlich hat er den Therapeuten gelegentlich - soweit ihm das notwendig erschien - aufgesucht. Die erneute Straftat fällt in die Bewährungszeit.

3. Die Tat Sind Täter und Tatobjekt eingeführt, liest sich der festgestellte Ablauf scheinbar problemlos. Aufgrund der Einfuhrung verbinden sich nämlich Täter und Tat. Das Urteilsdispositiv enthält ein Repertoire von Geschichten, die Situationsfelder erzeugen und in ihrer jeweils typischen Prägung nur im juristischen Verfahren entstehen.21 Semiotisch wirksam wird das Repertoire, weil es die Geschichten mit Straftatbeständen verbindet. Wegen solcher Wirkungen braucht das Gericht nach seinem Selbstverständnis nur noch etwas festzustellen und zusammenzufassen, was sich als böse Tat ereignet hat. Die sprachliche Leistung tritt dabei so weit wie möglich zurück. Die Feststellung soll sachlich sein, und sie erweist durch ihre Sachlichkeit, daß die konstruktive Leistung des Dispositivs schon abgeschlossen ist und nicht ohne Anlaß Zuschreibungen vorgenommen werden.22 Die Tatschilderung lautet dann etwa: 21

22 Seibert, Aktenanalysen, S. 76.

Was nicht hindert, in der Sachlichkeit Hinweise auf die Herstellung dargestellt zu finden, wie Sobota (Sachlichkeit, S. 13ff.) zeigt.

3. Die Tat

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(20.2) Am Samstag, den .., besuchte der Angeklagte das Bundesligaspiel zwischen Eintracht Frankfurt und dem l.FC Kaiserslautern. In der Halbzeitpause drängte er sich am Glühweinstand in die erste Reihe an anderen Wartenden vorbei und stieß vor der Theke auf die Zeugin N., die ihn vom Sehen her aus Bad Homburg kannte. Er war gut angezogen - mit Trenchcoat, Hemd und Krawatte - und hob sich insofern von der Umgebung ab, die empört über die Drängelei des Angeklagten war. Die Zeugin N., die in Bad Homburg zur Schule gegangen war, hatte den Angeklagten zuvor bereits mehrfach in der Stadt gesehen. Deshalb sprach sie ihn jetzt spontan mit den Worten an: "Was machst du denn hier?" Zu einem Gespräch zwischen beiden kam es jedoch nicht. Der Angeklagte drückte die Zeugin vielmehr gegen die vor ihr befindliche Theke des Glühweinstandes, so daß diese sich wegen der dicht gedrängt stehenden Menschen weder nach rechts oder links noch nach vorn oder hinten bewegen konnte. Frau N. bemerkte, daß sich die Art des Gedränges plötzlich veränderte und der Angeklagte sich von hinten reibend gegen ihr Gesäß drückte. Durch die Kleidung hindurch spürte sie das sich versteifende Glied des Angeklagten, und sie hörte, wie er ihr ins Ohr schnaufte. Sie war jedoch nicht in der Lage sich in dem dichten Gedränge zu entfernen, weil der Angeklagte sie mit seinem Körpergewicht gegen die vor ihr befindliche Theke drückte und sie nach links oder rechts wegen der dicht gedrängt stehenden Menschen nicht ausweichen konnte. Sie mußte deshalb die sich steigernde Erregung und Zudringlichkeit des Angeklagten dulden, zumal sie endlich die drei bestellten Glühweine entgegennehmen mußte, die sie mit beiden Händen wegtragen wollte. Üm die Hände freizuhaben, steckte sie die Geldbörse kurzerhand zwischen die Zähne und konnte sich deshalb auch nicht verbal bemerkbar machen, suchte jedoch einen Ausgang, als sich nach links ein Weg von der Theke weg öffnete. Da sie auch dorthin nur langsam vorankam, blieb der Angeklagte ihr dicht am Körper und "klebte"förmlich an ihr. Erst als Umstehenderiefen "Nun laß' doch mal das Mädchen in Ruhe" ließ er von der Zeugin ab. Die wiedergegebenen Sätze gelten in den Texten des Rechtsverfahrens als sog. "Feststellungen". Das Gericht beschreibt, was es in seinem Urteil als wahr feststellt. Die Wahrheit soll auf dem Substrat der Beweisaufnahme in der Hauptverhandlung beruhen. Für einen Teil der Sätze ergibt sich ein solcher Beweis aus der Beobachtung. Eine Zeugin kann hören, was jemand, den sie trifft, zu ihr sagt. Sie weiß, woher sie denjenigen, den sie trifft, kennt. Jedermann weiß, welches Bundesligaspiel an einem bestimmten Samstag stattfand. Manche können möglicherweise die nonverbalen Äußerungen und Erregungszustände des Angeklagten hören. Was der Angeklagte aber mit seinem Verhalten bezweckte und was dann im Rechtsdeutsch die "subjektive Tatseite" heißt, das muß entweder das Gericht erschließen und dann im Urteil behaupten, oder die "Absicht" kann nur äußerlich beschrieben und muß durch den Leser erschlossen werden. Juristisch gestritten wird in den vorangegangenen Feststellungen um den Tatbestand der sexuellen Nötigung, der nach dem Lehrbuch aus zwei Handlungen zusammengesetzt ist, der Nötigungshandlung und dem abgenötigten Verhalten. Wenn die Nötigungshandlung das abgenö-

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V. Das Dispositiv des Urteils

tigte Verhalten selbst enthält, dann fehlt es an einem Teil des Tatbestands. Das versuchen die Feststellungen mit dem Satz zu beschreiben: Sie war jedoch nicht in der Lage sich in dem dichten Gedränge zu entfernen, weil der Angeklagte sie mit seinem Körpergewicht gegen die vor ihr befindliche Theke drückte und sie nach links oder rechts wegen der dicht gedrängt stehenden Menschen nicht ausweichen konnte. In diesem körperlichen Zwang liegt aber offenbar auch der Lustgewinn des Angeklagten, der im Satz zuvor festgestellt wird mit: Durch die Kleidung hindurch spürte sie das sich versteifende Glied des Angeklagten, und sie hörte, wie er ihr ins Ohr schnaufte. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang, daß das Urteil zunächst aufgehoben, der Sachverhalt dann nach einem Geständnis des Angeklagten mit milderem Ausspruch im nächsten Durchgang aber erneut festgestellt worden ist. Umstritten war der so genannte "zweite Akt" der Nötigung. Wozu wurde genötigt? Es hat begriffsjuristischen Charakter, wenn das Obergericht in der Revision den zweiten Teil der Nötigungshandlung vermißte und die Feststellungen als nicht tatbestandsmäßig bezeichnete. Die Bosheit des Verhaltens war nicht ausreichend festgestellt. Das Dispositiv enthält - solange es nicht als rechtskräftig und damit unabänderlich gilt - jeweils nur eine Möglichkeit; es kann auch scheitern. Das folgende weitere Beispiel aus alltäglichen Übergriffen enthält zur gleichen Absicht andere Feststellungen. Sie wurden auch in der Revision anders gelesen als der gerade dargestellte Text, nämlich als "tatbeständsmäßige" Handlung. (19.2) Die Zeugin hatte ihre Arbeit bei dem Angeklagten noch nicht aufgenommen, als sie am Samstag, den 3. Januar, erstmals nach Bad Soden kam. Der Angeklagte hatte mit ihr vereinbart, sie brauche mit der Arbeit erst am 4.1. zu beginnen, wenn sie mit ihm nach Genf fliegen sollte. Am 3.1. kam sie, begleitet von ihrem Freund, nach Bad Soden undrichtetedas Appartement in der Firma so weit ein, wie ihr das zunächst erforderlich erschien. Nachdem der Freund am Sonntag, den 4.1., wieder abgereist war, erschien nachmittags der Angeklagte, um die Zeugin zum Flug abzuholen. Er hatte die Absicht, mit ihr ein sexuelles Abenteuer in Monte Carlo zu erleben, wobei geschäftliche Angelegenheiten nur nebenbei zu erledigen waren. Erst auf dem Weg zum Flughafen teilte er der Zeugin mit, man fliege nicht nach Genf, sondern nach Nizza zur Weiterreise nach Monte Carlo. Die Zeugin war darüber zwar erstaunt, äußerte sich jedoch weiter nicht, weil sie es ftlr möglich hielt, daß ihre Mutter, bei der der Angeklagte zuvor schon angerufen hatte, ihr vielleicht von dieser Änderung des Reiseziels nichts mitgeteilt haben könnte. Man wolle - äußerte der Angeklagte nur vage - in Monaco etwas Geschäftliches erledigen. In Nizza auf dem Flughafen angekommen, fuhren beide mit dem Taxi weiter nach Monte Carlo. Der Angeklagte erwähnte unterwegs, er verfüge dort über ein Appartement. Die Zeugin hatte zwar erwartet, sie werde in einem eigenen Hotelzimmer übernachten, widersprach aber nicht, als der Angeklagte ihr bedeutete, sie könne in dem Appartement, das er sonst mit seiner Familie

3. Die Tat

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bewohne, in einem Bett der Kinder übernachten, deren Schlafraum durch einen Vorhang abgeteilt war. Von der Wohnung ausrief der Angeklagte - wie er es sonst gewohnt war und seine Familie es erwartete - zu Hause an, forderte die Zeugin jedoch auf, sich während des Anrufs in der nur aus einem großen Raum bestehenden Wohnung still zu verhalten. Er forderte die Zeugin auch auf, selbst bei ihr zu Hause anzurufen, ihren Eltern aber nicht zu sagen, daß man sich nicht in Genf, sondern in Monte Carlo befinde. Die Zeuginrief auch an, vermied es jedoch, näher über den Ort zu sprechen, um ihre Eltern nicht anlügen zu müssen. Sie selbst blieb arglos und kam nicht auf die Idee, daß die Reise dem sexuellen Vergnügen des Angeklagten dienen könnte. Gegen 20 Uhr am Abend des Ankunftstages führte der Angeklagte die Zeugin zunächst in ein Kabarett, in dem man auch speisen kann, bestellte dort für beide jeweils ein Menü für 320 FF, zu dem eine Flasche Champagner gehörte, die beide zusammen tranken. Danach begaben sie sich in die für das Kabarettprogramm vorgesehenen Räume. Dort wurde jeweils eine dreiviertel Stunde lang ein Varietéprogramm geboten, danach konnte man für 20 Minuten tanzen. Der Angeklagte wollte mit der Zeugin tanzen, was diese jedoch ablehnte, weil ihr das unangenehm war und sie auch nicht tanzen konnte. Als der Angeklagte sie gleichwohl aufforderte, die Zeugin jedoch sitzenblieb, wurde er plötzlich ungewöhnlich heftig und bedeutete der Zeugin, sie verletze mit ihrem Verhalten seine Ehre. Deshalb gab sie nach und tanzte mit ihm, begann ihn jedoch von diesem Zeitpunkt an zu fürchten, weil sie ihn als jäfizornig einschätzte. Kurze Zeit danach verließen beide das Kabarett und begaben sich in das unmittelbar damit verbundene Spielkasino von Monte Carlo, wo der Angeklagte für einen kurzen Zeitraum spielte. Die Zeugin ging auf die Toilette und sah im übrigen zu. Nach Mitternacht besuchten beide eine nahegelegene Diskothek, in der sich jedoch nur sehr wenige Leute befanden. Der Angeklagte bestellte dort für sich einen Cognac und für die Zeugin einen Cocktail. Beide tanzten nicht. Sie gingen nach kurzer Zeit, und der Angeklagte zeigte der Zeugin mit seinem Wagen, über den er in der Garage des Appartements verfügte, noch das nächtliche Monte Carlo. Gegen 2 Uhr nachts kehrte man schließlich in das Appartement zurück. Dort angekommen, ging zunächst die Zeugin ins Badezimmer und duschte sich in der Badewanne, die über eine Brause verfügt. Obwohl die Zeugin alle notwendigen persönlichen Dinge mitgenommen hatte - darunter auch ein Handtuch -, kam der Angeklagte ins Badezimmer, brachte Handtücher mit und fragte die Zeugin, ob sie etwas brauche. Ohne länger abzuwarten, legte er seinen Bademantel ab und stieg unbekleidet in die Badewanne. Die Zeugin, die ihr Duschbad ohnehin beendet hatte, verließ sofort die Wanne und das Badezimmer und bekleidete sich mit Slip und einem Trägerhemd. Mit dieser Nachtwäsche legte sie sich in das sonst für die Kinder vorgesehene Bett, das der Angeklagte ihr gezeigt hatte.

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V. Das Dispositiv des Urteils Kurze Zeit später kam der Angeklagte - zunächst mit seinem Bademantel bekleidet - in den Schlafraum der Zeugin und setzte sich zunächst auf das gegenüberliegende Bett. Die Zeugin hatte nun erkannt, daß der Angeklagte intime Absichten hegte, wußte jedoch nicht, wie sie sich seiner erwehren sollte, zumal sie nur über 200 DM Bargeld verfügte und der Angeklagte die Flugtickets bei sich hatte. Sie spürte auch die Wirkung des genossenen Alkohols, wenngleich ihr nicht schlecht war. Der Angeklagte sagte zwar, es werde nichts geschehen, was sie nicht auch wolle, näherte sich ihr dann aber und griff ihr unter dem Trägerhemd an die Brust. Die Zeugin schob die Hand des Angeklagten weg, dieser begann jedoch ein anzügliches Gespräch über das Motiv auf ihrem Hemd, schlug die Decke zur Seite und legte sich - nackt, nachdem er den Bademantel ausgezogen hatte - auf sie, hielt sie mit einer Hand fest und zog ihr mit der anderen den Slip herunter. Dann preßte er seinen Körper auf den ihren und versuchte, sein Glied in ihre Scheide einzuführen. Das mißlang jedoch, weil die Zeugin sich hin- und her bewegte, zu weinen anfing und keinen Zweifel daran ließ, daß sie zum Geschlechtsverkehr nicht bereit war. Das erkannte der Angeklagte auch. Er sprach ihr zu und meinte, sie solle sich "nicht so anstellen", vor allen Dingen sich "nicht so eng machen". Er hatte mit seinen Versuchen jedoch während eines Zeitraums von fünf bis zehn Minuten keinen Erfolg. Die Zeugin wehrte sich weiter, zappelte und versuchte, den Angeklagten loszuwerden, was ihr jedoch nicht gelang. Sie wartete deshalb darauf, daß diese Situation irgendwie zuendegehen werde, wollte den Angeklagten aber nicht in aggressiver Weise reizen, weil sie seinen Jähzorn fürchtete. Ihr Warten hatte schließlich Erfolg. Der Angeklagte ließ von ihr ab und erklärte ihr, ein Leben bei ihm als seine Sekretärin sei für sie doch viel schöner und erfolgreicher als eines mit ihrem bisherigen Freund. Man solle sich nicht so früh binden, wenn keine Aussicht bestehe, daß der andere "eine Partie" sei. Er wollte auch wissen, ob die Zeugin Verhütungsmittel nehme. Schließlich entfernte der Angeklagte sich. Die Zeugin schlief danach ein.

Diesen Abend zwischen einem alten Mann und einer jungen Frau kann man anders schildern. Man kann ihn so schildern, daß die Boshaftigkeit hinter der latenten, bemühten Erotik verschwindet. Die Erotik verschwindet auch in dem Maße, in dem die mehr oder weniger plumpen Annäherungen gewaltsam erscheinen, zurückgewiesen und mit Druck und Nachdruck wiederholt werden. Das Geschehen bewegt sich auf der darstellerischen Grenze zum Tatbestand der sexuellen Nötigung (§ 178 StGB), den die Feststellungen begründen. Wie im vorangegangenen Beispiel ist für das Dispositiv erforderlich, eine Gewaltwirkung festzustellen, die nicht nur darin liegt, daß ein Mann seinen Körper gegen die Frau preßt. Die an sich kurze Episode wird daher in der Schilderung in die Länge gezogen. Das geschieht einmal durch Zeitangaben, wenn es heißt, der Angeklagte habe mit seinen Versuchen während eines Zeitraums von fünf bis zehn Minuten keinen Erfolg gehabt. Zum anderen wird eine persönliche Reaktion geschildert, die ein Gericht aus einer derart übel behandelten Frau regelmäßig mühsam herausfragen muß. Die Feststellung, daß die Zeugin sich gewehrt, gezappelt und versucht habe, den Angeklagten loszuwer-

3. Die Tat

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den, verdeutlicht dem juristischen Leser den Gewaltcharakter der Zudringlichkeit. Der reine Zeitablauf veibindet sich mit Abwehrbemühungen, die tatsächlich dezent waren, wenn es gleichzeitig heißt, die Zeugin habe den Angeklagten nicht in aggressiver Weise reizen wollen und gewartet, daß diese Situation "irgendwie zuendegehen" werde, weil sie seinen Jähzorn fürchtete. Der Nachsatz enthält ein Zeichen, das auch durch einen registrierenden Beobachter nicht hätte registriert werden können. Dort vermischt sich die Information über Charaktereigenschaften des Angeklagten mit der Bewertung ihrer Wirkungen auf die Zeugin. Die Feststellung von Jähzorn degradiert und macht die Gewaltbereitschaft deutlich. Das ist notwendig, um den Zwangscharakter der Situation dispositiv verfügbar zu machen und eine Sanktion zu verhängen. Mit der Sprache des Romanciers wäre das Dispositiv verfehlt. In diesem Zusammenhang zeigt sich, wieviele Einzelangaben über das schlichte Handlungsgerüst hinaus notwendig sind. Innere Absichten werden nach außen gewendet und auf eine Weise ausdrücklich dargestellt, die in einem modernen Roman anstößig und merkwürdig wirken würde. Für das Dispositiv des Urteils sind sie notwendig. Juristen pflegen insoweit meist von einer Substantiierung zu reden und meinen damit im Privatrecht einen Fachbegriff, der eine gewisse Länge und Ausdehnung der Erzählung umschreibt,23 die außerhalb des Verfahrens kein Problem ist. Das alltägliche Geschichtenerzählen zeichnet sich ja gerade dadurch aus, daß über geringe Abweichungen und flache Inhalte lange und tiefgründig palavert wird. Demgegenüber neigen Ankläger zu Aussagen der Art: Sie wurde vergewaltigt - oder: Der Täter drohte, wo Gerichte fragen: Auf welche Weise wirkte die Gewalt? Kannte der Täter das Opfer? Wie gelangte er ins Zimmer? Wann trennten sich beide? - alles Fragen aus der klassischen rhetorischen Statuslehre,24 die an sich noch nichts über Gut und Böse aussagen, aber einen Zweifel am Geschehen möglich machen. Die Konkretisierungen (oder Detaillierungen) sind notwendig, weil die verurteilende Feststellung aus einer sachlichen Distanz entsteht. Der festgestellte Sachverhalt enthält zwar die Angaben für eine Verurteilung (sonst verfehlt er seine Aufgabe), spricht sie aber selbst nicht aus. Das bleibt Sache der weiteren Begründung und ist grundsätzlich Sache der Obergerichte als Adressaten der tatsächlichen Feststellungen. Je offensichtlicher die Tat ist, um so weniger sind subjektiv gefärbte Zeichen des Jähzorns oder des Wartens auf eine Änderung der Situation erforderlich. Das folgende Beispiel verdeutlicht die üblen Seiten der Vergewaltigung und die Mühen, das Dispositiv aus dem Handlungsablauf zu entwickeln.

23 24

Seibert, Aktenanalysen, S. 89. Seibert, Topos und Status, S. 83 f.

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V. Das Dispositiv des Urteils

(17.2) In H. schaffte der Angeklagte in Bahnhofsnähe zunächst den Betrunkenen aus dem Auto und fuhr dann weiter zur Diskothek "Number One". Die Zeugin B. stellte jedoch fest, daß die Diskothek schon geschlossen hatte. Es war bereits nach 1 h morgens. Sie telefonierte von einer Telefonzelle aus, erreichte jedoch nicht den Inhaber der Diskothek, den sie kennt, sondern nur einen Dritten, der erklärte, er könne jetzt nach der Polizeistunde niemanden mehr einlassen. Die Zeugin B. erklärte dem Angeklagten deshalb, man müsse nach Hause fahren. Der Angeklagte fuhr auch zunächst von Höchst wieder zurück auf der A 66 in Richtung Hofheim. An der Autobahnabfahrt angekommen, fuhr er jedoch gleich wieder auf der anderen Seite in Richtung Frankfurt auf und erklärte der Zeugin B., man könne ja noch eine Diskothek in Bad Vilbel aufsuchen. Tatsächlich hatte er sich entschlossen, mit der Zeugin B. ein sexuelles Abenteuer zu suchen. Diese erkannte das zwar nicht sogleich, war aber jedenfalls nicht damit einverstanden, wieder nach Frankfurt zu fahren, und sagte dem Angeklagten, sie wolle nach Hause. Dieser ließ sich davon jedoch nicht beeindrucken, sondern fuhr schweigend weiter. Die Zeugin B. überlegte sich nun, wie sie aus dem Auto kommen könnte. Sie versuchte zunächst, vor der Autobahntankstelle Höchst den Angeklagten unter einem Vorwand zum Anhalten zu bewegen. Er reagierte darauf jedoch in keiner Weise. Erst als die Zeugin B. anfing zu weinen, wurde er plötzlich wütend und schlug die neben ihm Sitzende wahllos mit der Faust auf den Kopf, auf die Wangen und auf den Mund. Sie erlitt deshalb Schwellungen auf der linken Gesichtshälfte und an den Lippen. Die Autobahn mündet in Stadtmitte schließlich in den Alleenring, der über Ampelregelungen verfügt. Die Zeugin B. bemerkte, daß der Angeklagte an der Kreuzung am N. vor einer roten Ampel anhalten mußte, öffnete die Tür und versuchte, davonzulaufen. Die Gelegenheit erschien ihr hier günstig, weil sie dann bei ihrem Großvater hätte übernachten können, der in Frankfurt wohnt. Der Angeklagte war jedoch schneller und holte sie ein. Sie klammerte sich noch an einen Laternenpfahl fest, rief auch um Hilfe, hatte damit jedoch auf der menschenleeren Straße gegen 2 Uhr nachts keinen Erfolg. Der Angeklagte zerrte sie zum Auto zurück und fuhr auf der Landstraße weiter in Richtung E. Vor E. bog der Angeklagte in ein einsames Waldstück ab und hielt auf einem Parkplatz an. Dieser befindet sich vor der Ortslage von E. außerhalb der bewohnten Gegend. Der Angeklagte öffnete seine Hose, wies auf sein steifes Glied und befahl der Zeugin B.: "Nimm das in die Hand!" Um seiner Aufforderung Nachdruck zu verleihen, nahm er ihre Hand und legte sie an sein Glied, an dem sie auf und ab reiben sollte. Dann befahl er ihr, sein Glied in den Mund zu nehmen. Daraufhin erklärte die Zeugin B.: "Dann sterbe ich lieber." Der Angeklagte öffnete nun das Handschuhfach des VW-Busses, leuchtete mit einer Taschenlampe hinein und fand ein sog. "Schweizer Messer", das neben verschiedenen Geräten auch eine Klinge aufweist. Die klappte er aus, setzte der Zeugin das Messer an den Hals und erklärte: "Das kannst du haben." Die Zeugin B. hatte nun Todesangst. Sie erinnerte sich an ihre Schwester und an deren Kind, das sie nun vielleicht nie mehr sehen könne,fing an zu weinen und erklärte, sie wolle alles machen, was der Angeklagte wolle, wenn er nur nicht

3. Die Tat

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mit ihr geschlechtlich verkehre; sie habe Angst vor einer Schwangerschaft. Sie nahm - wie der Angeklagte das wollte - sein Glied in den Mund; es kam dabei jedoch nicht zum Samenerguß. Auch diese Tatfeststellungen beginnen mit der Darstellung einer Voibeziehung zwischen Täter und Opfer. Das Geschehen kippt an einem bestimmten Punkt vom Flirt in Gewalt um. Urteile wirken gerade an diesem Punkt für moderne, Auslassungen gewohnte Leser merkwürdig, weil das Gericht so schreibt, als habe es den göttlichen Blick in das Innere der Beteiligten erworben. Auch die obigen Feststellungen enthalten solche, dem Kriminalroman ferne Sätze, wenn es heißt, "tatsächlich" habe sich der Angeklagte entschlossen, mit der Zeugin ein sexuelles Abenteuer zu suchen, was diese zwar nicht sogleich erkannt, aber jedenfalls nicht gebilligt habe. Diese Introspektion beruht der Sache nach auf einem Vorgang, den man "Zuschreibung" nennt. Bezeichnet wird etwas, das sich nicht einfach beobachten läßt, sondern unterstellt werden muß. Das Gericht beschreibt das äußere Verhalten und schließt von diesem aus auf die angebliche Motivation. Dementsprechend enthalten die Feststellungen den Satz, der Angeklagte habe sich von der Bitte der Zeugin, sie wolle nach Hause, nicht beeindrucken lassen, sondern sei schweigend weitergefahren. Wer das tut - lautet die als selbstverständlich unterstellte, unausgesprochene Regel -, kümmert sich nicht um den Willen der Frau und macht sie zum Opfer. Er übt Gewalt aus. Die Gewaltausübung und die Bereitschaft dazu werden im folgenden deutlich: Der Täter schlägt das Opfer, und es kommt schließlich zu einer traumatischen Szene auf einer leeren, nächtlichen Großstadtstraße. Die Zeugin klammert sich vergeblich an einen Laternenmast, sie wird vom Angeklagten wie ein Gegenstand abtransportiert. Diese Einzelheiten sind schwierig zu erfragen und werden nicht in ganzen Sätzen berichtet, aber sie sind von entscheidender Bedeutung, um das Dispositiv zu entfalten, das auf Gewaltanwendung reagiert. Denn nur in wenigen Fällen ereignet sich Gewalt so eindeutig und überfallartig wie bei der folgenden Tat: (18.2) Der Angeklagte klingelte am frühen Morgen des 13.8.1988 mehrmals an der Tür einer Betriebswohnung der Unionsdruckerei in Frankfurt. Dort wohnte zu diesem Zeitpunkt nur die Zeugin F., die aus Finnland stammt und sich wegen eines Betriebspraktikums in Frankfurt aufhielt. Sie war an diesem Samstagmorgen bereits gegen 5 h aufgestanden, weil sie den Zug um 6.43 h nach Stuttgart nehmen wollte, um dort ihre Tante zu besuchen. Die Zeugin war schon angezogen und zögerte zunächst, die Tür zu öffnen, an der sich weder ein Spion noch eine Kette befinden; sie rechnete jedoch nicht mit einem Angriff und dachte sich, es könnte ihre Nachbarin, die Zeugin G., sein, die klingele. Als sie die Tür öffnete, stand der Angeklagte vor ihr, zögerte 2 bis 3 Sekunden lang, da er die Zeugin nicht kannte, packte sie dann jedoch, schlug sie und drückte sie in eines der beiden Zimmer der Wohnung. Die Zeugin schrie, zunächst auf Deutsch, dann auf Finnisch; der Angeklagte kümmerte sich darum jedoch nicht. Die Wohnung steht für Betriebsangehörige zur Verfügung und verfügt über 2 7 Seibert

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V. Das Dispositiv des Urteils Zimmer, eine Küche und ein Bad. Die Zeugin F. bewohnte das Zimmer, das der Angeklagte zunächst nicht betrat. In dem anderen, von ihm betretenen Zimmer stand ein Bett, auf das der Angeklagte die Zeugin warf. Zunächst äußerte der Angeklagte zwar nur, er wolle schlafen, er legte sich aber so auf die Zeugin, daß diese sich nicht bewegen konnte. Nach einer kurzen Zeit schlug er die Zeugin erneut ins Gesicht, riß ihr die Kleidung vom Leib und hielt sie dabei am Arm und am Hals fest. Er drückte dabei so fest zu, daß der Griff am Hals Würgemale hinterließ. Er drückte ihr auch ein Kissen auf den Kopf, um sie still zu halten. Der Angeklagte entkleidete die Zeugin vollständig und zog auch sich selbst aus. Er faßte die Zeugin an die Scheide und manipulierte an ihrem Geschlechtsteil. Auch verlangte er, daß die Zeugin sein Glied in den Mund nehmen solle, indem er sie mit den Händen faßte und sie zu sich zog. Die Zeugin nahm sein Glied auch in den Mund. Dann führte er sein Glied in die Scheide der Zeugin ein. Diese sexuellen Handlungen wiederholte der Angeklagte, indem er mehrmals versuchte, sein Glied in die Scheide der Zeugin einzuführen. Er hatte zumindest nicht sogleich eine Ejakulation. Vielmehr kam es während der sexuellen Handlungen, die sich über einen Zeitraum von zwei Stunden hinzogen, auch zu Gesprächen. Die Zeugin fürchtete um ihr Leben und versuchte den Angeklagten, der während der meisten Zeit auf ihr lag, durch Unterhaltungen günstig zu stimmen. Der Angeklagte seinerseits fragte die Zeugin, ob sie rauche und präzisierte das dann dahin, ob sie Kokain habe. Das verneinte die Zeugin. Der Angeklagte schlug sie erneut und erklärte, sie lüge, er wolle das Kokain haben. Der Angeklagte merkte dabei, daß die Zeugin keine Deutsche war, wollte das aber zunächst nicht glauben und veranlaßte die Zeugin, ihren Personalausweis zu holen, der sich in dem anderen, von ihr bewohnten Zimmer befand. Als die Zeugin dann in die Küche ging, folgte ihr der Angeklagte und verlangte etwas zu trinken. Die Zeugin konnte ihm jedoch nichts anbieten, da sie über das Wochenende wegfahren wollte, und gab dem Angeklagten deshalb Leitungswasser. Darüber ärgerte er sich so sehr, daß er die Zeugin packte und wiederum in das Zimmer zerrte, aus dem beide zuvor gekommen waren.

Diese Sachverhaltsfeststellung umschreibt eine besonders freche, böse Tat. Anders als in den Urteilen zu (17), (19) oder (20) wird der Übergriff nicht aufgrund sozialer Nähe erst möglich, sondern enthält genau diejenigen Elemente, die das Dispositiv entwickelt: unmotivierte Gewalt, erhebliche Brutalität und lang andauernde Willkür. Die Vergewaltigung als Verbrechenstatbestand erklärt diese Elemente zum Kerngeschehen, selbst wenn sie in den gerichtlichen Feststellungen oft nur in Bruchstücken oder am Rande auftauchen. Angeklagte pflegen sich gegen die angeblich mangelnde Motivierung ihres Handelns zu verteidigen, sie stellen Brutalität in Abrede und versuchen Willkür in Einverständnis oder Mißverständnis umzudeuten. Je offensichtlicher die Feststellungen das Gewaltelement betonen, desto umfangreicher sind meist die Versuche, diese Zeichen zum Schweigen zu bringen. Ich will mich deshalb abschließend mit den Möglichkeiten und Grenzen der Verteidigung gegen Feststellungen befassen.

4. Reden und Schweigen

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4. Reden und Schweigen gegenüber den Feststellungen Wenn man Feststellungen liest, stellt sich schon vom Textaufbau her die Frage, warum sie so ausfallen, wie man sie liest, und warum zunächst kein Wort zu möglichen anderen Abläufen gesagt wird. Das Gericht stellt fest, was Tatsache zu sein scheint. Erst danach und gewissermaßen als zusätzliche Bemühung werden mögliche andere Varianten erörtert. Im deutschen Strafprozeß zählt es zu den Begründungspflichten des Gerichts, die sog. "Einlassung" des Angeklagten zu schildern und zu widerlegen. Das geschieht nicht, um ihn zu überzeugen, sondern um die schon festgestellte Sache gegenüber anderen möglichen Sachdarstellungen zur Überprüfung zu stellen. Durch die Auseinandersetzung mit seiner Einlassimg wird der Angeklagte dem Obergericht vorgestellt. Er muß dabei mitwirken - auch wenn er Objekt der Feststellungen ist und schweigen darf. Wenn die Anklage verlesen ist, muß der Angeklagte darauf hingewiesen werden, daß er sich zur Sache äußern oder aber schweigen kann. Aber auch das Schweigen in der Hauptverhandlung kann sich am Ende als Mitwirkung darstellen. Totales Schweigen bestünde in totaler Abwesenheit von Zeichen. Die Kommunikation bliebe leer, obwohl der Prozeß insgesamt eine Veranstaltung ist, um die Leere zu füllen. Solche Leerzeichen sind praktisch nicht auf längere Dauer durchzuhalten. Nur der Doktrin nach ist das Strafverfahren darauf angelegt, vor dem Angeklagten als bloßem Zuschauer dessen eigene Überfuhrung und Verurteilung zu inszenieren; für die Inszenierung benötigt man tatsächlich eine Vielzahl manchmal unwilliger oder unfähiger Laiendarsteller. Es besteht deshalb eine Tendenz, auch Schweigen in unterschiedlicher Weise zur Äußerung zu rechnen und als Kommunikation zu behandeln. Der Beschuldigte braucht sich zur Sache zwar nicht "einzulassen". Er soll nach § 136 StPO schon vor jeder Vernehmung darauf hingewiesen werden, daß es ihm freistehe, Angaben zur Sache zu machen oder zu schweigen. Wie das Schweigen der Norm eine Interpretation evoziert, so provoziert das Schweigen des Angeklagten Deutungen im Sinne der Anklage. So gibt es Berufsgruppen Ärzte, Pfarrer oder Rechtsanwälte - die ihrem Auftrag nach über beruflich erlangte Kenntnisse schweigen sollen. Der Angeklagte kann darauf vertrauen, daß der Arzt über das Bestehen oder Nichtbestehen einer Krankheit schweigt und der Rechtsanwalt die falsche Aussage vor Gericht nicht denunziert. Darauf haben sich die Gerichte eingerichtet. Man argumentiert über das Schweigen wie folgt: 25

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Entscheidung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen, in : Neue Juristische Wochenschrift 1966, S. 210. 7*

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V. Das Dispositiv des Urteils

Durch seine Weigerung, den Zeugen von seiner Verpflichtung zur Verschwiegenheit zu entbinden, hat der Angeklagte sodann die Beantwortung der von ihm selbst aufgeworfenen Beweisfrage vereitelt. Wenn er auch nicht verpflichtet war, an der Aufklärung des Sachverhalts mitzuwirken ..., so durfte das Gericht doch aus diesem Verhalten den ihm nachteiligen Schluß ziehen, daß seine Behauptung unwahr sei.

Schon der Zeitpunkt macht das Schweigen beredt. Der Zeitpunkt wirkt gegen den Angeklagten, wenn er seine Einlassung erst nach dem Ergebnis der Beweisaufnahme auf dieses Ergebnis einrichtet. Das Schweigen wird zum Reden, wenn der aufnehmende Polizeibeamte in einer eigenen dienstlichen Erklärung feststellt, der Angeklagte habe ihm gegenüber mündlich den Tatvorwurf durchaus eingestanden, sich nur später geweigert, ein Protokoll darüber aufzunehmen und zu unterschreiben. Das Schweigen wird erst recht zum Reden, wenn der Angeklagte nur in der Hauptverhandlung schweigt; das Gericht läßt die Vernehmungsbeamten über ein Geständnis Auskunft geben. Das alles sind Techniken, den Angeklagten zum Reden zu veranlassen. Darüber hinaus können die Botschaften der stummen Zeugen, der Indizien, den Angeklagten stärker belasten als jede Verlautbarung. Man führt sie solange vor, bis der Angeklagte sich dazu äußert. Äußern kann sich der Angeklagte in zweierlei Weise: einmal in der Form eines Geständnisses, indem er sich also den Vorwurf zu eigen macht, oder in Form einer bestreitenden "Einlassung", die dann allerdings zu anderen Darstellungen zwingt, die ein Verteidiger unter Umständen in die Form eines Beweisantrags kleiden muß. Bekannt und geächtet ist im Fall der Vergewaltigungsanklage die Schilderung, eine Frau lasse sich jederzeit und ohne größeren Zwang mit Männern, insbesondere aber mit dem Angeklagten ein. Eine solche Darstellung zwingt das Gericht insbesondere dann, wenn die Zeugin ihre angeblich ständige Bereitschaft in Abrede stellt, zu gelegentlich peinlichen Tatsachenerhebungen. Die Einlassung - also die vom Tatvorwurf abweichende eigene Geschichte eines Angeklagten - erreicht aber kaum je die Plausibilität der pragmatisch eingeübten Normalformen von Geschichtsverläufen. Sie ist in der Regel lückenhaft. Das zwingt den Angeklagten zur Ergänzung. Dieser Zwang ist nicht unbedingt in der aktuellen Verhandlungssituation wirksam. Zwänge in der Rolle des Angeklagten und psychischer Druck verhindern ein "echtes" Geständnis als Ergebnis eines Dialogspiels. Das Geständnis muß daher entweder vorbereitet und geradezu eingeübt werden, oder aber der Angeklagte läuft Gefahr, sich aufgrund der eigenen Angaben überführen zu lassen, denen andere Bewertungen beigegeben werden. Einwände gegen die Feststellungen sind auf dem Feld der Geschichtserzählung selbst kaum möglich. Für personenzentrierte, detaillierte, aber dennoch unmotivierte Geschichten hält der Code der Strafjustiz den Ausdruck "Schutzbehauptung" bereit.26 So ist beispielsweise nicht auszuschließen, daß jemand,

4. Reden und Schweigen

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der an einem Herzschlag stirbt, Opfer eines körperlichen Leidens geworden ist. Der Ankläger in Dürrenmatts Drama ist aber nicht bereit, eine solche "Einlassung" gelten zu lassen. Nach den für den Mord gültigen Zuschreibungskriterien sind harmlose Erklärungen auf eine zweite Ursachenkette zurückzuführen. Man unterstellt ein Motiv für die Tat und sieht nicht mehr den Zufall am Werk. Konzentriert man das Interesse auf Motivierungen, dann wird deutlich, weshalb Einlassungen in der Regel wenig plausibel wirken. Sie erscheinen unmotiviert. Insofern besteht die Aufgabe eines Gerichts bei der Würdigung einer Einlassung auch nicht nur darin, die wahrscheinliche Variante hervorzuheben. Man sucht nach der besser motivierten Version. Wenn die Einlassung schon im Ansatz auf wenig wahrscheinlichen Abläufen fußt, so ist sie häufig von vornherein zum Scheitern verurteilt. Sie kann aber durchaus Erfolg haben im Angriff auf zwei zentrale Dispositionselemente des Urteils, von denen das eine den Aufbau der Geschichte selbst (ihre Widerspruchsfreiheit), das andere ihr Verhältnis zu anderen Geschichten (die Wahrscheinlichkeit) zum Maßstab macht. "Lebensnähe" bzw. "Lebensfremdheit" sind die Dispositionskriterien gegen diese Rede. Daß sie sinnvoll zusammenwirken, zeigt sich an der Abwehr der Einlassung im Fall der in ihrer Wohnung Überfallenen Zeugin. Der Angeklagte wollte glauben machen, die Frau habe von ihm Kokain haben wollen und sich gewissermaßen als Gegenleistung zum Geschlechtsverkehr bereit gezeigt. Ein solches Verhalten wäre möglich, aber - so lautet die Begründung - sie hat mit der Wahrheit nichts zu tun. Berufen wird dabei das Dispositiv des Urteils, der Zusammenhang möglicher Geschichten und der Aufbau der Feststellungen in der bereits geschilderten Geschichte. Die Begründung kann dann verhältnismäßig knapp gefaßt werden: (18.3) Die Einlassung des Angeklagten ist schon aus sich heraus lebensfremd und daher unglaubhaft. Es gibt zwar eine ganze Reihe kokainabhängiger Frauen, die sich die Droge gegen das Angebot sexueller Handlungen verschaffen. Es ist aber in hohem Maße unwahrscheinlich, daß eine solche Frau, die auf den Konsum von Kokain angewiesen ist und ihn so dringend begehrt, wie es der Angeklagte schildert, die erwarteten sexuellen Handlungen dann gleichwohl ohne Gegenleistung und unter plötzlichem Verzicht auf den Wunsch nach Drogen auszuführen bereit ist. Diese freiwilligen sexuellen Handlungen sollen nach der Einlassung des Angeklagten auch noch aufgedrängtermaßen und nach einer zudem erheblichen Mißhandlung erfolgt sein. Das widerspricht den Erfahrungen aus der Drogenszene und müßte durch ein plötzlich in der Tatnacht trotz erheblicher Mißhandlungen entstandenes Begehren erklärt werden. Der vom Angeklagten geschilderte Sinneswandel der Zeugin ist lebensfremd. Schon insofern ist seine Einlassung als Schutzbehauptung erkennbar. Die Verteidigung gegen die gerichtlichen Feststellungen sollte ein Motiv für eine angebliche Einwilligung erkennbar machen. Die Zeugin wurde als drogensüchtig dargestellt. Wenn man es für möglich hält, daß eine Zeugin etwas 26

Seibert, Aktenanalysen, S. 59.

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V. Das Dispositiv des Urteils

verbergen will und das Motiv verschweigt, weshalb sie den Angeklagten in ihre Wohnung eingelassen habe, dann muß man auf dem Felde möglicher Geschichten nach Merkmalen für deren Wahrscheinlichkeit suchen. Ich habe diesen Zusammenhang schon früher als "Situationsfeld" beschrieben. Im Zusammenhang von Urteilsfeststellungen kommt eine Reihe möglicher Verläufe gehäuft vor und bildet sich als typisches Gerichtswissen für alle diejenigen aus, die solche Feststellungen zu treffen haben. Sie stellen ihre Perspektive auf die Wahrheit dar.27 In diese Perspektive gehen Schilderungen Betroffener und Beteiligter in einer ebenfalls typisierten Form ein. Es nützt nun nichts, diese typisierten Formen des Wissens wegen ihrer Typisierung als "ideologisch" zu brandmarken, weil man auf diese Weise auch alle anderen Formen des Urteils als illegitim bezeichnen würde. Das ist die einfachste Form der Urteilskritik, die sich gegen das Dispositiv im ganzen wendet. Erfolglos ist diese Kritik schon im Ansatz. Gewöhnlich wird das Dispositiv im Gerichtsurteil nicht auf der semiotischen Ebene verteidigt, sondern durch eine andere, eigenartige Typisierung der Darstellungsform für eine Zeugenaussage die zur obigen Einlassung lauten: (18.4) Ihre Angaben hat die Zeugin in ihrer richterlichen Vernehmung wiederholt und ergänzt. Die Ergänzungen beziehen sich auf Randumstände wie die Frage nach dem Ausweis und den Gang in die Küche. Diese Umstände vervollständigen das Kerngeschehen aber in charakteristischer Weise. Sie machen deutlich, daß der Angeklagte die Zeugin vollständig in seiner Gewalt glaubte und meinte, sie nicht nur körperlich, sondern auch in allen weiteren Handlungen beherrschen zu können. Deshalb beeindruckte es ihn auch nicht, wenn die Zeugin von einer bevorstehenden Reise sprach, und er hatte keine Bedenken, sich in der Wohnung seines Opfers schlafen zu legen, weil er es für ausgeschlossen hielt, daß die Zeugin, die sich auch zuvor seinen Drohungen gefügt hatte, jetzt noch die Polizei verständigen werde.

Die Deutung nimmt Elemente des Dispositivs der Vergewaltigungsanklage wieder auf. Dazu hatte ich bereits oben unmotivierte Gewalt, erhebliche Brutalität und lang andauernde Willkür gezählt. Jemanden in der Gewalt zu haben und jemanden beherrschen zu können - die Prädikate der obigen Begründung wiederholen diese Elemente. Sie machen den Angeklagten auf diese Weise zum typischen Vergewaltiger, denn das eigentliche Motiv, das den unerklärten und unerklärlichen Übergriff rechtfertigen könnte, kann nur vermutet werden. Solchen Vermutungen sind die weiteren Sätze gewidmet: (18.5) Außergewöhnlich und unerklärt bleibt lediglich die Tatsache, daß der Angeklagte sich eine unbekannte Frau in ihrer eigenen Wohnung als Opfer suchte. Dieser Tathergang entspricht nicht dem gewöhnlichen Verlauf und Vorgeschehen bei Vergewaltigungen. Dieser Umstand, den allein der Angeklagte aufklären könnte, reicht aber nicht aus, um die Aussage der Zeugin F. in Zweifel zu ziehen. 27

Ebd., S. 122, Anm. 9.

4. Reden und Schweigen

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Das Gericht konnte die konkrete Vorbereitung des Überfalls nicht aufklären. Die Music Hall, in der der Angeklagte sich in der Tatnacht aufgehalten hat, liegt in Fußwegentfernung von der Philipp-Reis-Straße. Es mag sein, daß der Angeklagte Vorkenntnisse über die Betriebswohnung der Unionsdruckerei hatte, möglicherweise auch aus seinem eigenen jugoslawischen Bekanntenkreis. Es steht zu vermuten, daß er nicht an der Tür klingelte, um eine Vergewaltigung zu begehen, sondern um den Rest der Nacht zu schlafen - was er dann auch getan hat - oder um sich Kokain zu beschaffen, das er - wie er der Geschädigten nachdrücklich erklärte - in der Wohnung vermutete. Über seine Motive hätte nur der Angeklagte selbst Auskunft geben können, was er jedoch nicht tun wollte. Die Tat behält deshalb den Charakter eines im Vorgeschehen nicht aufklärbaren Überfalls. Mit diesem abschließenden Satz wird das Dispositiv der Vergewaltigung im Ansatz durch sich selbst begründet. Die nachträgliche Motivierung des Handelns mißlingt; das führt aber nicht dazu, die Geschichtserzählung der Zeugin zu verwerfen, sondern ist vom Tatbestand gerade vorgesehen. Eben deshalb ist die Vergewaltigung ein Verbrechen, weil es für die Gewalt kein diskutables Motiv gibt. Das Dispositiv im Prozeß wegen Vergewaltigung überträgt Merkmale der Gewalt und des Kampfes noch in die Hauptverhandlung, wobei allerdings das Tatopfer und damit die Frau die besseren Durchsetzungschancen hat. Sie muß zwar ihre Darstellung wiederholen, muß sie in Fragen nach Einzelheiten motivieren und soll dabei konsistent erscheinen und "bei der Sache" bleiben. Gleichzeitig wirken allerdings zu ihren Gunsten im Prozeß die alltäglichen Relativierungen, die gegenüber der Darstellungskonsistenz notwendig sind. Erzählt man eine Geschichte mehrmals, gibt es auch mehr oder weniger große Abweichungen. Erzählt man eine Geschichte überhaupt, werden nicht alle Einzelheiten, die man für wichtig halten könnte, auch erinnert. Das Dispositiv zeigt seine Kraft darin, daß es in diesem Punkt Unterschiede zwischen der Einlassimg des Angeklagten und der Darstellung der Zeugin zuläßt. Wird dem Angeklagten in seiner Einlassung eine motivierte, detaillierte Geschichte abverlangt, so verträgt die Zeugenaussage gewisse Motivbrüche und manche Lücken in Detailfragen - ein Unterschied den die Verteidigung im Prozeß in der Regel nicht gelten lassen will, der sich aber dennoch durchsetzt. In fast allen Fällen scheitert daher jener fadenscheinige Vergleich, der den Normbruch zu einer verzeihlichen Reaktion herabstuft. Die Rechtsfolgen im Fall der Verurteilung wegen Vergewaltigung fallen ins Gewicht. Geldstrafen scheiden ebenso aus wie Bewährungsstrafen. Dennoch betonen gerade Vergewaltiger nicht selten, daß sie die besten Beziehungen zu Frauen hätten. Nur mißlingt die in anderen Fällen praktizierte Strategie, mit der man alle widerstreitenden Parteien eines Prozesses vereinen möchte. Man enthält sich in einem solchen Fall einer allzu peinlichen Beschreibung des Vorgefallenen und ist sich einig, daß ein höchst verwerfliches Tun vorläge - wäre es so, wie es die Anklage be-

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V. Das Dispositiv des Urteils

hauptet. Im Vergewaltigungsprozeß fehlt der dritte Weg, der Ausweg, bei dem das Gericht verurteilt, aber nur "ein bißchen"; das Verfahren kann nicht eingestellt werden und es reicht auch nicht aus, daß der Angeklagte Geld zahlt oder nur wegen offensichtlicher Verstöße verurteilt wird, die gering wiegen, weil die gewichtigen Vorwürfe an seinem Einspruch scheitern. Die Begründung für eine Strafe pflegt in Urteilen, die von Angeklagten angefochten werden, knapp zu sein; dennoch enthält sie im Fall der Verurteilung wegen Vergewaltigung nicht selten negative Ausführungen der Art: (18.6) Der Angeklagte lebt seit 1986 in der Bundesrepublik. Ihm ist in dieser verhältnismäßig kurzen Zeit bereits nachdrücklich durch den Vollzug von Freiheitsstrafen deutlich gemacht worden, daß Gewalttätigkeiten als schwerwiegend beurteilt und geahndet werden. Das hat auf ihn keinen merklichen Eindruck gemacht. Die hier angeklagte Tat hat sich keine zwei Monate nach der letzten Haftentlassung ereignet. Die Tat selbst ist als brutaler Überfall zu werten. Im Rahmen eines Geschehens, das rechtlich als Vergewaltigung, sexuelle Nötigung und Körperverletzung subsumiert werden muß, beruht das Vorgehen des Angeklagten auf einer nicht veranlaßten Aggression und wirkte nachhaltig verletzend. Der Angeklagte hat ein unvorbereitetes Opfer in dessen Wohnung überfallen, ohne daß dafür auch nur ein irgendwie deutbarer Anlaß bestand, wie er in anderen Fällen von Vergewaltigung einen Täter anreizen mag. Die Tat zog sich über mehrere Stunden hin und führte zu erheblichen physischen Verletzungen.

Solche verhältnismäßig lapidaren Begründungen machen den Charakter des Urteilsdispositivs besonders deutlich. Zu seiner Perspektive gehört, daß Strafen bessern sollen; wenn der Bestrafte nicht gebessert worden ist, muß er härter - d.h. mit einer längeren Freiheitsstrafe - bestraft werden. An der empirischen Richtigkeit dieser Maxime kann man zweifeln, und daran ist in den letzten zwanzig Jahren vielfältig gezweifelt worden. Dennoch wird nach wie vor so gehandelt und geurteilt, und weil so gehandelt wird, wird auch so begründet. Strafe und Begründung können einander ersetzen und entsprechen sich in der Funktion. Beide antworten auf einen Vorfall, den man nicht hinnehmen kann und will, selbst dann nicht, wenn dem Angeklagten - wie üblich - gewisse mildernde Umstände zugute gehalten werden. (19.3) Zwar muß ... zugunsten des Angeklagten eine Enthemmung aufgrund der Wirkung des Alkohols berücksichtigt werden, der zwar nicht die Schuldfahigkeit vermindert, aber die Begehung der Tat erleichtert hat. Auch hier wirkt nach, daß der Angeklagte dissozial entwickelt ist. Auch hier wird zu seinen Gunsten die voraussichtliche Verbüßung der noch zur Bewährung ausgesetzten Reststrafe berücksichtigt. Dem steht die erhebliche kriminelle Energie gegenüber, die mit der Entführung beginnt, eine Körperverletzung einschließt und zu sexueller Nötigung und Vergewaltigung hinführt. Das Bitten und Flehen, schließlich der Fluchtversuch des Opfers auf der Fahrt haben ihn nicht von der Verwirklichung seiner Absichten abhalten können. Der geistig-seelische Schaden, den er der Zeugin B. zugefügt hat, ist erheblich.

4. Reden und Schweigen

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Die Gründe bleiben auch in der Strafzumessung distanziert. Sie dürfen distanziert bleiben, weil der weitere Kommentar dem juristischen Lesepublikum, vor allem dem Obergericht vorbehalten bleibt. Das Revisionsgericht pflegt - obwohl der Doktrin nach die Höhe der Strafe Sache des Tatrichters ist - über den Begründungsstil die Strafhöhe zu kontrollieren. Stilwidrige Elemente fuhren zu einer Aufhebung wegen angeblicher Widersprüchlichkeit oder wegen eines Verstoßes gegen "Denkgesetze". Das Gericht unterläßt daher typischerweise negative Werturteile. Das eigentliche Unwerturteil drückt sich nur im Tenor aus, der als Urteilsausspruch am Anfang steht, "le dispositif du jugement". Die Gründe holen dieses Dispositiv nicht vollständig ein, sie können auch den Abstand zwischen Text und Handlungsfolge allenfalls verkürzen, aber nicht aufheben. Wer nicht zustimmen will und das schon am Anfang weiß, wird auch nach Lektüre der Gründe nicht überzeugt sein. Die Urteilsfeststellungen zur Vergewaltigung wirken aber nicht nur gegen den Täter, sondern auch für das Opfer. Sie haben eine wichtige expressive Aufgabe, weil nur im Verfahren dargestellt wird, daß Unrecht tatsächlich auch als Unrecht bezeichnet wird. Aus diesem Grunde kann auf den konstitutiven Teil des Dispositivs - den Ausspruch der Sanktion nämlich - nicht verzichtet werden. Das Dilemma, in das man auf diese Weise geraten kann, haben Verteidiger dargestellt, die vergewaltigte Frauen in der Nebenklage vertreten: "Ein Prinzip bei mir lautet: Bloß nicht ins Gefängnis. Und nun muß ich dieses Prinzip plötzlich aufgeben und sagen: Doch ins Gefängnis". 28 Die Diziplinierung bliebe ohne körperlich spürbare Sanktionsfolge leer. Im Dispositiv kann man die Art der Einwirkung auf Körper ändern. Die Todes- und Leibesstrafen haben sich zu Mitteln der guten Ablichtung gewandelt. Aber auf ein solches Mittel überhaupt kann das Urteilsdispositiv nicht verzichten.

28

Flothmann/Dilling, Vergewaltigung, S. 106.

VI. Der Doppelcharakter des Zeichens im Prozeß Über den Prozeß erzählt man einen Kalauer: Der Kläger kommt vor Gericht und trägt seine Sache vor. Der Richter hört seine Erzählung an, findet sie ganz plausibel und will ihm Recht geben. Zuvor hört er sich aber den Gegner an, der die Sache ganz anders vorträgt. Der Richter hört sich dessen Erzählung an, findet sie auch plausibel und will ihm auch Recht geben. Da merkt der Gerichtsschreiber auf und erinnert den Richter daran, daß er unmöglich beiden Parteien Recht geben könne; und der Richter in seiner Weisheit erkennt, daß auch der Schreiber Recht hat. Der Kalauer isoliert die doppelte Vorstellung, auf der Prozesse beruhen, und spart die richtige Bedeutung aus. Denn die Wahrheit hat nicht nur zwei Seiten, sie will auch erkannt sein. Jeder Rechtsausdruck soll auf einem einzigen wahren Eindruck beruhen. Dieses Gebot steht in einem unaufgelösten Gegensatz zu den Verdoppelungen, die das rechtliche Handeln begleiten und ihm seinen Charakter als semiotische Arbeit eigentlich erst verleihen. Fünf Doppelungen will ich erläutern, die jenseits der Dogmatik die einfache Vorstellung über die Rechtsfindung verkomplizieren. Die erste unbemerkte Verdoppelung ereignet sich in allen sprachlichen Handlungsformen; mit ihr beginne ich deshalb.

1. Die einfache Vorstellung von einer doppelten Funktion: Signifikant und Signifikat Das Zeichen hat eine doppelte Seite oder ein doppeltes Gesicht: das Signifikat und den Signifikanten. Sichtbar ist davon nur eine Seite, die des Signifikanten nämlich, und "real" am Signifikanten ist genau genommen nur der konkrete Zeichenträger, das Exemplar des Signifikanten. Die andere Seite, die Funktion der Referenz und damit die Qualität, die ein beliebiges Ding von einem Zeichen unterscheidet - dies alles bleibt unsichtbar und ungreifbar. Damit ist noch nichts über Wirkungen gesagt. Wirken mag ein Zeichen über seine Bedeutung, über Eindrücke, die ein Ausdruck hinterläßt. Der Signifikant und sein Exemplar scheinen auf den ersten Blick eher unwichtig, austauschbar und in der Tradition Saussures1 als beliebig. "Das Band, welches das Bezeichnete 1

de Saussure, Grundfragen, S. 79; problematisiert bei Lyotard, discours, S. 76 f.

1. Signifikant und Signifikat

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Bezeichnete, die Zeichenbedeutung, die man sich in der ontologischen Tradition, auf die der Zeichenbegriff zurückgeht, als Transport von Teilchen vorstellen kann. Die Semiotik als Lehre von der Bedeutung beruht auf der Unterstellung, daß sich für jedes Zeichen eine Bedeutung und damit der Verweis des einen auf etwas definiertes anderes ermitteln ließe. Durch die Veibindung zweier Zeichen in einer bestimmten Ordnung kann man dann umgekehrt eine Konstellation schaffen, die etwas bedeutet. Der Name ordnet dem Ausdruck seinen besonderen Inhalt zu (wobei auf weitere Zusätze2 verzichtet werden kann). Das ist der einfache Aufbau der Kommunikation, der allen informatischen Modellen zugrundeliegt. Wichtig für diese Art der Theoriebildung ist die Funktion des Schalters, der eine Verbindung schafft oder unterbricht, und die Energie zur Verfügung stellt, die durch die verbundenen Schaltstellen fließt. 3 Das Maschinenmodell gibt der semiotischen Diskursvorstellung eine Form. Die Maschine tritt bereits bei Lacan an die Stelle des reflektierenden Subjekts. Das Selbst wird dabei nicht "zur Sprache" gebracht, sondern bildet sich durch Abbildung im Spiegelstadium des bewußten Sehens. Zur bloßen Abbildung im Ich (Je) bedarf es nicht eines dahinterstehenden Bewußtseins; dieselbe Leistung erbringt auch ein Spiegel oder eine komplizierter gebaute Kamera, also ein bewußtloser Mechanismus. Das menschliche Bewußtsein kann demgemäß als ein differentieller Mechanismus aufeinander verweisender Eindrücke vorgestellt werden. Lacan sagt das ohne Umschweife: "Das Wort/das Sprechen/la parole ist zunächst jenes Tauschobjekt, an dem man sich erkennt, und weil sie das Paßwort/le mot de passe gesagt haben, kriegen Sie keins auf die Schnauze usw. Auf diese Weise beginnt die Zirkulation des Worts/des Sprechens, und sie schwillt so lange an, bis sie die Symbolwelt konstituiert, die algebraische Kalküle ermöglicht. Die Maschine, das ist die Struktur als abgelöst von der Aktivität des Subjekts. Die symbolische Welt, das ist die Welt der Maschine."4 Die Welt der Maschine erstreckt sich auch auf die Körper. "Überall sind es Maschinen im wahrsten Sinne des Wortes: Maschinen von Maschinen, mit ihren Kupplungen und Schaltungen. Die Brust ist eine Maschine zur Herstellung von Milch, und mit ihr verkoppelt die Mundmaschine. Der Mund des Appetitlosen hält die Schwebe zwischen einer Eßmaschine, einer Analmaschine, einer Sprechmaschine, einer Atmungsmaschine (Asthma-Anfall). In diesem Sinne ist jeder ein Bastler; einem jedem seine kleinen Maschinen". Es sind der Philosoph Gilles Deleuze und der Psychoanalytiker Guattari, die auf diese eigenwillige Art körperliche Funktionen, technische Apparate und gei2

Das zeigt Derrida, otobiographies, S. 29 f. am Beispiel der Bezeichnung eines Hutmachers: "John Thompson, hatter, makes and sells hats for ready money" läßt sich kondensieren zum Namen "John Thompson" über dem Abbild eines Huts. Deleuze / Guattari, Anti-oedipe, S. 11; vgl. auch Milovanovic, law and disorder, S. 88 ff. 4

Lacan, Seminar II, S. 64.

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VI. Der Doppelcharakter des Zeichens

stige Verknüpfungen nach demselben Prinzip rekonstruieren: "..l'une émet une flux, que l'autre coupe".5 Das Maschinenmodell der Verknüpfungen und Verkettungen erscheint ungewöhnlich und enthält doch in seiner einfachen Form die Vorgänge, die die Form eines jeden Prozesses bilden: das Herstellen und das Unterbrechen einer Verbindung. Die Schaltung ist das wesentliche Strukturmerkmal aller informatischen Programme. Sie beruht auf einer binären Information: Fließt Energie oder fließt sie nicht? Die Schaltung (le couplage) kann als Grundlage der semiotischen "Kommunikation" gelten, wenn man darunter (mit Eco) die Verbindung zwischen zwei Gefäßen oder Systemen versteht.6 Sie schafft eindeutige Bezeichnungen. Mit der Schaltung konkurrieren die Falten, Windungen oder Knicks (les plis et les replis) - das, was nicht eindeutig ist. Deleuze bemüht das Leibnizsche Monadenverständnis, um von dort aus zum Zentrum der Maschine zurückzukehren. Danach entfaltet sich die Materie in Windungen, Wölbungen und Biegungen, während das einheitliche Zentrum in einer zweiten, fensterlosen Etage über dem materiellen Fundament angesiedelt ist. Diese zweite "étage supérieur" 7 knickt die materielle Entfaltung, wickelt sie gewissermaßen ein, vereinfacht sie, gibt ihr aber dadurch auch die für alles Wachstum benötigte Information.8 Der Knick beruht auf komplizierteren Verbindungen zwischen Schaltungen. Die Schaltung strukturiert damit auch die komplizierteren Prozesse der Semiose. Wenn wir von Verständigung reden, gehen wir ohne große theoretische Anstrengungen von einem hergestellten oder unterbrochenen Kommunikationsfluß aus. Die einfache oder gestufte Schaltung beherrscht unsere Vorstellung vom sozialen System, und das damit verbundene "Transportmodell" des Zeichenprozesses bestimmt die Arbeit der semiologischen Praktiker. Deren Vorstellungswelt ist einfach. Sie arbeitet mit einfachen Verbindungen zwischen Signifikant und Signifikat. Wer das eine sagt, meint auch das eine und nicht etwas anderes. Auf diese Weise wird die Signifikation in den Hintergrund gedrängt. Auch wenn in der aktuellen Rede der Laut verklingt, ehe die Botschaft angekommen ist, hat der Hörer bis dahin schon die Schaltung gefunden, die Laut und Sinn in seinem Bewußtsein verbindet. Die Rede legt den Sprecher nach ihm unbekannten Schaltungen fest. Zwar kann er die Rede ergänzen, ändern oder widerrufen, aber er öffnet oder schließt immer nur einfache Schaltungen. Sagt er nichts mehr, verstummt der Laut und bleibt das Wort so haften, wie es zuletzt gesagt worden ist, dann besteht nach der Doktrin kein

5 Deleuze / Guattari, Anti-oedipe, S. 7 (wobei die obige deutsche Übersetzung insoweit nicht dem französischen Original entspricht). 6

Im Abschnitt über "ein elementares Kommunikationsmodell" in: Eco, Semiotik, S. 57 ff. Deleuze, Le pli, S. 6.

8

Ebd., S. 15.

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gen

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Zweifel, daß der Sprecher sich als Subjekt gültig und endgültig geäußert hat. Ein solcher Ausdruck darf protokolliert werden, und alle Zweifel, die später an der Richtigkeit der aufgeschriebenen Protokollsätze auftauchen, können dann nicht mehr verfangen, weil ihnen die Überzeugung entgegensteht, daß nur eine frühe Schaltung durch eine andere spätere ersetzt würde, aber nicht etwa "Wahrheit" hinzukäme.9 Mündlichkeit gehört deshalb zu den unverzichtbaren Merkmalen der modernen Verfahrensordnungen. Nicht zufällig heißt das Recht, sich zu einem Vorwurf äußern zu dürfen, rechtliches "Gehör".10 Die Mechanik der Schaltung bleibt unbemerkt, wenn man sie an die Flüchtigkeit des gesprochenen und gehörten Worts bindet. In der lautlichen Sprache werden die in ihr enthaltenen Doppel verdeckt.11 Der Zusammenklang von Bezeichnung und Bedeutung im gesprochenen Wort scheint es auszuschließen, daß jemand nicht das meint, was er sagt. Erst die Schrift macht die Einlinigkeit der Bedeutung unsicher. In der Schrift wächst der im Laut verdeckt gehaltene Prozeß der Signifikation in den Text jeder Erzählung hinein und entfaltet sich dort. "Déplier, c'est augmenter, croître ..."12- Entfalten heißt Erweitern und Wachsen, heißt auch die Signifikate verdoppeln. Erst wenn die Hörer bemerken, daß verschiedene Sprecher mit denselben Zeichenreihen über den damit vermeinten Sinn in Streit geraten, beginnen sie sich für die Unterschiede im Sprechen, für ^eitere Deutungen, andere Schaltungen und damit für den Prozeß der Signifikation zu interessieren.13 Das Einerlei des rechtlichen Hörens geht plötzlich auch in Anstrengungen über, die Lügen der anderen zu entdecken. Zunächst meint man, einen Fehler in der Schaltung entdeckt zu haben. Die zweite Etage der Vorstellung rückt in den Blick, und man nimmt die Verdoppelung wahr, die aus der Idee herrührt, daß Zeichen etwas und nicht nichts bedeuten und daß dieses Etwas wahr sein müsse.

2. Doppelt besetzte Rollen und einfache Lügen Ich erinnere an den Gerichtswitz: Der Kläger kommt vor Gericht und trägt seine Sache vor; der Richter hört sich seine Erzählung an und findet sie ganz plausibel - denn das entspricht der kommunikativen Schaltung. Wenn wir jemandem zuhören, der sich normal äußert, erscheint es normal, ihm zuzustimmen und so zu tun, als sei die Verständigung gelungen. Prekär wird das eben erst dann, wenn uns die Situation des Richters zwischen zwei Parteien aufge9 10

12 13

Seibert, Aktenanalysen, S. 41 - 53. Seibert, Schriftform, S. 239 f. Derrida, Stimme, S. 129ff. sieht das Lautverhältnis in der Kritik Husserls als konstitutiv an. Deleuze, pli, S. 13. Wolter, Subsumtion, S. 44 f.

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VI. Der Doppelcharakter des Zeichens

drängt wird. Erst dann gelangen wir in die zweite Etage der Vorstellung. Der Richter hört sich den Gegner an, der die Sache ganz anders vorträgt. Die entstandene Differenz läßt sich auch ganz ohne Signifikate reduzieren. Beansprucht der Kläger eine Geldsumme, die der Verklagte nicht zahlen will, könnte man das Transportmodell der Kommunikation anwenden und einfach prüfen, wer mehr Geld zur Verfügung hat und infolgedessen von seinem Vermögen abgeben kann. Diese Prüfung ist den Praktikern im Entscheidungsprozeß nicht etwa fremd. Der Doktrin entspricht sie aber nicht. Sie gilt nicht als "rechtlich", sondern als "wirtschaftlich". Die Doktrin verlangt semantische Problemlösungen und damit den Rekurs auf Signifikate. Der Kläger muß eine Handlung erzählen, als deren Folge der Wunsch nach Geldzahlungen plausibel erscheint. Wenn ihm die Erzählung gelingt, dann bezeichnet sie einen Sachverhalt. Da nicht Sachen, sondern Personen sich "verhalten", ist der "Sachverhalt" auf der Seite der ungreifbaren Zeichenbedeutung angesiedelt. Er ist das Signifikat einer Erzählung. Wenn der Verklagte nun nach wie vor nicht zahlen will, muß er sich seinerseits äußern. Das Signifikat übt einen praktischen Zwang aus. Dem Zwang kann der Verklagte auf einfache Weise entgehen: Er kann die Wahrheit des Signifikats in Abrede stellen und erklären, hinter den Worten der erzählten Geschichte stehe "nichts". Ein solches einfaches Bestreiten macht auch die Urteilsbildung theoretisch einfach. Sie gipfelt dann in jenem für die Gerichtsszene typischen Satz: Der andere lügt. Es ist immer der andere, der lügt. Der andere bezeichnet mit seinen Worten bewußt etwas, das er nicht meint.14 Aber woher weiß der Beklagte das, wenn er sich so verteidigt? Nach dem Transportmodell der Kommunikation kann er es nicht wissen, denn wenn die Schaltung hergestellt ist und die kommunikative Energie fließt, dann muß das fließen, was nach der Art der Schaltung transportiert werden kann: Bedeutung.15 Er muß also noch über ein anderes Modell verfügen, nach dem es möglich ist, mit einer Zeichenkette das eine zu sagen und das andere zu meinen. Es handelt sich um jene geheime, nicht theoretisch ausformulierte Reduktion, derer sich auch die Richter bedienen. Richter, die eine streitige Erzählung zu beurteilen haben, halten zunächst einmal das Transportmodell der Kommunikation aufrecht und verweigern dem zu transportierenden Gut den Ladeschein: Was da mitgeteilt wird - so sagen sie -, werde an Stelle von etwas anderem befördert, das eigentlich auf den Weg geschickt werden müsse. So stellt man sich die Lüge vor Gericht vor. Das Frachtgut bleibt stehen und ein bunt verpacktes Julklapp-Geschenk wird auf die Reise geschickt, das man - wie es solche Geschenke an sich haben - unendlich lange auspacken kann, um am Ende eine Reißzwecke zu entdecken. Eine 14

Weinrich, Lüge, S. 48 ff. Die Bedeutung fließt - "im Kanal", wie es Busse mit feiner Ironie als rechtstheoretische Stilblüte aus einer Arbeit Dieter Horns herausliest (Semantik, S. 162).

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solche elaboriate Lüge würde voraussetzen, daß der Sender die Phantasie eines Romanautors entwickelt und ein Produkt hergestellt hat, das mindestens so gut wie die andere, durch die Lüge überdeckte Vorstellung verpackt ist. Aber nach Entfernung der Verpackung stößt man dann auf den wahren Inhalt. Lügen - sagt das Sprichwort - haben kurze Beine. Ein Angeklagter, der den Anklagesatz vor Gericht einfach nur bestreitet, hat wenig praktische Chancen. Daß vor Gericht so viel gelogen wird oder daß wir die Vorstellung haben, es werde so viel gelogen, liegt am Transportmodell der Kommunikation. Die semiologischen Praktiker wenden eine einfache Strategie an, um das Rätsel der doppelten Geschichtserzählung (der eine sagt etwas, der andere erzählt das Gegenteil) zu lösen. Nur selten läßt sich anstelle des erzählten Satzes ein nicht erzählter Satz stellen, der sich von dem erzählten durch ein "nicht" unterschiede.16 Die forensische Praxis wendet dieses Schema dennoch an. Sie vermeidet den Blick darauf, daß an die Stelle der Ersetzung die Vervielfachung tritt. Denn das mit der Rechtsanwendung untrennbar verbundene Verfahren funktioniert als ein Test auf den Aussagegehalt eines Satzes, der auch scheitern kann. Das, woran er scheitert, nennen prozessuale Praktiker "die Wirklichkeit". Sie muß nicht als das wiedergefunden werden, was die Behauptung von ihr sagt. Wichtig ist, daß etwas behauptet wird, oder daß eine Bezugnahme auf Vorgänge und Gegenstände erfolgt. Insofern sind Fragen nach der Wahrheit und die Bezugnahme auf Realität im juristischen Prozeß wichtiger als die Realität selbst oder was man dafür hält.17 Unter Berufung auf "Tatsachen" wird Anklage erhoben, werden Bürger vor Gericht geladen, als Zeugen vernommen, mit Ordnungsstrafen belegt oder zur Aussage gezwungen. Diese Zwänge haben eine in den symbolischen Zusammenhang eingebaute Sperre. Nach der Ermittlung dessen, was Recht ist, kann der Angeklagte freigesprochen, der Zeuge entlassen oder auf eine Aussage verzichtet werden. Hinter Ausdrucksweisen, mit denen man Recht bezeichnet, und vor Eindrücke, die es bezeichnen soll, schiebt sich die "Wirklichkeit" als eine dritte, nicht ganz greifbare, aber immer mitgemeinte Kategorie. Recht ist nicht nur, was man sich darunter vorstellt, weil die Vorstellung sich auf etwas beziehen muß. Ein Rechtsverfahren, dem sich mit wirklichen Aussagen und realen Beobachtungen keine andere Richtung und kein anderes Ergebnis mehr abgewinnen läßt, das also nicht auch scheitern kann, verdient den Namen "Recht" nicht mehr.18 Es wird zur Prozedur des Wilden Westens: Make him a fair trial and hang him. Fraglich bleibt, wie die Realität hinter der Legalität geklärt wird und inwiefern scheinbare Realitäten als wirkliche Lügen entlarvt werden. Die Frage ist in den unterschiedlichen Stadien des Prozesses jeweils anders zu beantworten. 16

18

Weinrich, Lüge, S. 58. Neumann, Rechtsontologie, S. 82. Seibert, Schriftform, S. 236 f.

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VI. Der Doppelcharakter des Zeichens

Der Prozeß hat viele Ebenen, die sich nach der Art der Zeichen unterscheiden und nach der Art, in der wir die Zeichen wahrnehmen. Man kann den Prozeß sehen. Das Sichtbare hat eigentlich den größten Wirklichkeitsgehalt und gewährt fur jeden Teilnehmer den packendsten Zugriff auf fremde Umgebungen. Aber der Blick auf das Recht bleibt meist schon an den Roben oder am Raum haften. Nach dem Blick drängen sich die Verlautbarungen der Rede auf. Man kann den Rechtsdiskurs anhören. Was im Gerichtssaal zu hören ist, läßt sich in den davon angefertigten Transkriptionen nachlesen.19 Merkwürdigerweise erleben gerade Juristen die Realität des Rechts so nicht. Sie bemerken kaum, wie sie aussehen und wie sie reden. Die Symbolik des gerichtlichen Diskurses läßt das sinnlich Wahrnehmbare zurücktreten. Denn was es zu sehen gibt, ist nicht einfach an der beobachtbaren Oberfläche bedeutsam. Darauf beruht die oben schon beschriebene allgemeine Vorstellung vom Zeichen. Das Zeichen bezeichnet, was nicht anwesend ist, was man nicht sehen kann. Soweit das allgemeine und das juristische Lexikon dem Hörbaren das Gemeinte zuordnet, bleiben die fiktiven Anteile ausgespart. Was gemeint ist, gehört für den von der sinnlichen Wahrnehmung ohnehin abstrahierenden Realitätssinn ganz selbstverständlich zur realen Ebene des Diskurses. Aber zum Diskurs wird die gerichtliche Rede erst durch Aktion und Reaktion, durch Rede und Gegenrede. Dieser Dialog verdoppelt Sprecher, Ausdrücke und Inhalte.

3. Doppelte Vorstellungen Vor Gericht verdoppeln sich die Signifikate also zunächst schon wegen der gedoppelten Parteirollen, im weiteren einfach deshalb, weil Zeichen und damit andere Signifikate erneut bezeichnet werden müssen. Das Signifikat in der forensischen Rede war - wenn es Teil einer Sachverhaltserzählung ist - in irgendeiner Form schon einmal Signifikant einer anderen Rede, eines vorgerichtlichen Zeichenprozesses. Das Signifikat war Signifikant, wenn Kommunikationen Thema der Sachverhaltserzählung werden.20 Nun kann man die These wagen, daß im Streitfall immer Kommunikationen aufzuklären sind, wenngleich die Form, in der kommuniziert wurde, oft verhüllt ist. Die Parteien handeln nicht mehr, sie fassen Handlungen zusammen, und zwar unter dem Gesichtspunkt, der ihnen in ihrer Aufführung vor Gericht günstig erscheint. Die Vorstellung vor Gericht zeichnet sich dadurch aus, daß buchstäblich jeder Beteiligte vor seine Handlung etwas stellen und sie damit verdoppeln kann. Die Vorstellung ist zum einen auf die Szene selbst bezogen, zum anderen auf die Imagination des Realen. Bei Hoömann (Kommunikation) ebenso wie in den von Hoffmann herausgegebenen "Rechtsdiskursen" mit Transkriptionen von Rehbein, Sauer, Pan der Maat u.a. 20

Seibert, Aktenanalysen, S. 15.

3. Doppelte Vorstellungen

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Das Prozeßgeschehen nimmt niemand wirklich und vollständig wahr. Das haben Prozesse mit dem allgemeinen Erleben gemein. Was sie davon trennt, ist das Erlebnis des Prozessierens, der Zwang in die Verlaufsform. Aufgrund seiner merklichen Steuerung und seiner Rituale tritt der gewöhnliche "Beziehungsaspekt" deutlicher hervor, als das im allgemeinen Handeln der Fall ist. Im Laufe des Verfahrens gibt jeder Beteiligte seiner Vorstellung die Form: Wenn ich das eine mache, stellst du dir vor, daß ich das andere daran anschließe. Der eigene Ausdruck wird als fremder Eindruck erlebt, wobei auch die Fremdheit vorgestellt bleibt, sich aber deswegen nicht etwa als nur geringe, sondern als gesteigerte Unsicherheit und Bedrohung bemerkbar macht. Die prozessuale "Szene" wird als Vorstellung des Prozesses erlebt, nicht als das Verfahren selbst; und in der Vorstellung werden frühere Situationen mitgedacht, mitgefühlt und verändert. Die Vorstellungsanteile unterscheiden die prozessuale Szene vom Verfahren. 21 Ein entsprechendes Stück ferner rückt der Inhalt der Vorstellung. Das der individuellen Vorstellung Eigene erhält unter dem Zwang, es vor dem Tribunal inszenieren zu müssen, einen besonderen, imaginären Charakter. Wunden und Wunder werden zu Zeichen der tribunalisierten Ordnung.22 Die "Wunden" repräsentieren die Mißerfolgserlebnisse, die wegen der Besonderheit der Situation nicht durch Einstellungsänderungen, sondern durch ausgeprägte Enttäuschungen verarbeitet werden. Erfolge - Realisierungen des Erwarteten - werden aber in ähnlicher Weise von der Verfahrensssituation abgelöst und zum "Wunder" stilisiert. Der imaginäre Aspekt hängt mit der Repräsentation der Szene eng zusammen. Der gesamten Vorstellung ist eigen, daß die Zuhörer und Zuschauer Bezeichnungen als noch einmal bezeichnet erleben. Das vor die Sache Gestellte tritt hervor, auch wenn es schon ein allgemeines Kennzeichen jeder Zeichenerfahrung ist. Diese Art des "Gestells"23 als Zeichenerfahrung entspringt der juristischen Verfahrensform, die den Sachverhalt verlangt. Sie zwingt dem Schausteller immer die Position des Reproduzenten auf im Unterschied zu der des Handelnden, des Produzenten. Das semantische Band, das Signifikant und Signifikat zusammenhält, stammt aus der Beziehung des Reproduzenten zu einer reproduzierten Wirklichkeit. 24 Juristen pflegen zu sagen, man gebe etwas wieder, was schon geschehen sei; man schildere vergangene "Tatsachen". Diese Wirklichkeitsvorstellung kennt immer nur eine richtige Bezeichnung und läßt deshalb die Doppelungen vergessen, die sich aus dem Verbund imaginärer und szenischer Anteile in der Vorstellung ergeben. Denn tatsächlich werden nicht bildhaft deutliche Signifikate bezeichnet, sondern in Zeichen zerlegte Bilder noch einmal vorgestellt. 21 Den derart institutionalisierten Regelungsgrad von Zeichenrelationen nennt Wolter (Subsumtion, S. 61 und 151) "Faktität". 22 23

Kamper, Imagination, S. 157. Heidegger, Sprache, S. 263. Derrida, dissémination, S. 216.

8 Seibert

114

VI. Der Doppelcharakter des Zeichens

Wer sich eine vergangene Situation vergegenwärtigen soll, muß bereits über ein Ensemble möglicher Vorstellungen verfugen, aus dem sich dann das erwartete fest umrissene, individuelle und konkrete Signifikat formen kann. Individuell und konkret kann es nur werden, wenn der Schausteller über sehr viele allgemeine mögliche Sätze verfugt. Dann kann er auswählen. Das Gerichtsverfahren läßt die zeichenbezogene Verfassung des Signifikats, das sich auf einen oder mehrere Referenten bezieht, noch einmal in der Doppelung hervortreten. Der Referent ist das Doppel des Signifikats, seine "Realität". Leicht erhält er die Funktion des "Dings-an-sich". Seine Aufgabe besteht aber nur darin, der praktischen Semiotik jenen Realitätsbezug zu verleihen, der es erlaubt, im nachhinein wahre von unwahren Bildern zu unterscheiden. Das gelingt nur nachträglich, im Vorgang der Reproduktion, die - wie sich am Beispiel des Gerichtsverfahrens zeigt - eine verdeckte Bezeichnungshandlung ist. Die Reproduktion stellt das Doppel der Realität bereit.

4. Von Paragraphen und Pfropfungen Im Gerichtsverfahren vereinfacht man Inszenierung und Imagination zur wahrheitsgemäßen Aussage. Das leistet der Vorgang der Sachverhaltsfeststellung. Durch die Sachverhaltsfeststellung gelingt es dem Gericht, die Wahrheit eines Zeichens zu bejahen oder zu verneinen. Denn die kreative Praxis kann glücken oder fehlschlagen, sie kann den Empfänger in ihren Bann ziehen oder kalt lassen; aber als Kreation könnte sie nicht unwahr sein. Dazu muß man den Handlungsprozeß umkehren. Die Umkehrung wird eingeleitet, indem der Darstellung ein Signifikat aufgepropft wird. Das Aufpfropfen eines Signifikats ist etwas anderes als die Kreation eines Signifikanten. Aufgepfropft wird das Prädikat "wahr". Den Teilnehmern bleibt die Kreation aber verborgen, und zwar im direkten Sinne. Denn die Hauptverhandlung hat einen doppelten Ort. Der Gerichtssaal ist zweigeteilt, und die Wahrheit wird in einem abgetrennten Teil, nicht in direkter Verhandlung gefunden. Der manifeste Ort der öffentlichen Verhandlung, der Rede und Gegenrede im Gerichtssaal erfaßt, wird ergänzt durch die geheime Beratung des Spruchkörpers. Dort wird die Verhandlung reproduziert. Sie findet damit in zwei Räumen statt, und es ist nicht falsch, den verdeckten Ort der Beratung zum eigentlich bedeutsamen Platz zu erklären, obwohl er Beweisaufnahme und Plädoyer eigentlich nur ergänzt. Die Beratung wirkt wie ein Supplement.25 Auch wenn sie dem Geschehen im Detail nichts hinzufügt, findet das Gericht seine Wahrheit und das Ergebnis des soeben Gesehenen und Gehörten erst hier und nur hier. Es braucht für die Übertragung des Geschehens Abstand. Es braucht den Vorgang der Reproduktion. Insofern kann man wirklich sagen, die Beratung sei das Eigentliche und 25

Derrida, Grammatologie, S. 249 f.

4. Paragraphen und Pfropfungen

115

die "Wirklichkeit" der Verhandlung nur deren Beigabe oder Voraussetzung. Wenn man den Ort des Handelns nämlich als Einheit auffaßt, verliert das Gericht seine Beurteilungskompetenz. In Gegenwart der Parteien fällt dem Richter vielleicht auf, daß nicht beide Parteien recht haben können, aber Wahrheit läßt sich nur supplementär, in einem Raum ergänzender Zeichen feststellen. Der Ort der Beratung eröffnet einen neuen Sprachraum, von dem der Beurteilte ausgeschlossen bleibt. Er kann nicht über die Wahrheit seiner eigenen Rede streiten. Die Wahrheit wird in der Beratung inokuliert oder aufgepfropft. Es wirkt im Deutschen nicht nur ungewöhnlich, sondern befremdend, wenn man sagt, einem Text werde eine Bedeutung "aufgepfropft". Das hat den Beiklang einer gewaltsamen oder künstlichen Verbiegung des Texts; es deutet auf eine Behandlung hin, die das Gegenteil dessen zu sein scheint, was die Philologen lehren: werkgerechte Interpretation. Im Gewände der Hermeneutik fühlt sich der Interpret als der kongeniale Koautor des interpretierten Texts, nicht als Gärtner, der ein Werkzeug ansetzt. Im Deutschen klingt auch die Gemeinsamkeit zwischen "Pfropfen", "Zeichen" und "Schrift" nicht an, den die französische Philologie zwischen "greffe" und "graphe" zur Grundlage der Interpretation macht. Derridas Konzept der "dissémination" kommt darauf zurück und nimmt die botanischen Assoziationen ganz wörtlich: "Man müßte systematisch erforschen, was sich als einfache etymologische Einheit der Pfropfung und des Graphen gibt (des graphion: Schreibstichel), aber auch der Analogie zwischen den Formen textueller Pfropfung und den sogenannten pflanzlichen oder, mehr und mehr, tierischen Pfropfungen. Sich nicht mit einem enzyplopädischen Katalog der Pfropfungen zufriedengeben (Pfropfung des Auges eines Baumes auf ein anderes, Pfropfen durch Zweige oder Schößlinge, Spaltpfropfen, Rindenpfropfen, Pfropfen durch Knospen oder Okulieren, Pfropfen aufs treibende oder schlafende Auge, Pfropfen in den Kerb, Einschilfen, Ablaktieren, Schäften, Sattelschäften etc.) ,.."26 Er fährt fort, eine systematische Untersuchung des Schäftens und Okulierens, der Rinden- und Spaltpfropfen werde uns helfen, die Funktion einer Fußnote oder einer Überschrift zu verstehen, denn für den, der zu lesen verstehe, bedeuteten solche Vor-Sätze und Zu-Sätze manchmal mehr als die Hauptaussage des Textes. Derrida beutet solche über und unter den eigentlichen Text gestellten Verdoppelungen systematisch aus. An seiner eigenen Produktion läßt sich studieren, was in der Theorie noch unklar bleibt. Berühmt geworden sind die in "Glas" nebeneinander gestellte linke und rechte Spalte jeder Seite, die eine Hegels Familienbeziehungen interpretierend, die andere Genets subversive Texte.27 Die Aufsatzsammlung "Parages" enthält mit "Survivre" zwei sich horizontal überlagernde Texte, der obere "eigentliche" interpretiert Blanchot und Shelley, der untere, in Tagebuchform geschriebene reflektiert die Interpretationen beim Überset26

Derrida, Dissémination, S. 230. Derrida, Glas (passim).

8*

116

VI. Der Doppelcharakter des Zeichens

zen.28 Schließlich leistet sich Derrida an gleicher Stelle29 den Luxus eines Beitrags, der "an sich" nichts als einen nicht benannten Titel enthält: "Titre à préciser" - Überschrift noch zu bestimmen. Die im Rahmen einer Philologenkonferenz in Brüssel ursprünglich organisatorisch gemeinte Ankündigung macht Derrida zum alleinigen Inhalt seines Beitrags. Der zu präzisierende Titel ist nämlich der Anlaß, über die Funktion eines Titels nachzudenken. Le titre y est, oder, hier ist sie, die Überschrift; und die daran anschließende These lautet: "Un titre a toujours la structure d'un nom, il induit des effets de nom propre et à ce titre, il reste d'une manière très singulière étranger à la langue comme au discours, il y introduit un fonctionnement référentiel anormal et une violence, une illégalité qui fonde le droit et la loi". 30 Das heißt: Der normale, einem Text vorangestellte und mit ihm normalerweise nicht identische Titel zwingt dem Text eine Einordnung auf, so wie der willkürliche Name ein Subjekt einordnet; aber diese Gewalt der Einordnung bleibt unbemerkt. Sie fällt erst auf, wenn die Funktion rekursiv wird und der Titel scheinbar leer bleibt. Das scheint nur so, denn wir bemerken, daß wir unvermeidlich dem leeren Titel eine Bedeutung beigeben, gewissermaßen auf]pfropfen. Darin liegt die Methode der Titelgebung. Der Zwang einen Text zu benennen - zu "betiteln" - ist, wie es in der Hermeneutik heißt, "unhintergehbar". Er begründet erst das Recht und das Gesetz31 der dann daraus folgenden Bedeutung. Gewalt und anomale Referenzen machen die Illegalität aus, auf der das (dennoch legitime) Recht sich dann gründet. Dieser letzte Hinweis pfropft das Reis in die Rechtslandschaft ein. Der "Paragraph" schafft die Form für die notwendigen Pfröpflingen, indem Sätze aus Texten ohne Kontext für Zitate und Titeigebungen bereitgestellt werden.32 Rechtstexte benötigen - dringlicher als jede andere Literatur - einen VorRaum, une écriture-hors-texte . Ansonsten bleibt der juristisch gemeinte Text im Strom des allgemeinen Diskurses stecken oder geht in ihm unter. Um ihn abzutrennen und dem Buchstaben spezifisch juristischen Gehalt zu verleihen, steht in der kontinentaleuropäischen Rechtskultur der Codex zur Verfügung. Der Rechtstext wird als Gesetz in Abschnitte, Artikel und Paragraphen zerschnitten. Man kann ihn nicht mehr als Geschichte lesen, obwohl "Kauf' oder "Miete", "Diebstahl" oder "Betrug" auf Geschichten aufbauen und sie in abgekürzter Form erzählen.33 Dem Interpreten des Alltags bleibt diese Rechts-Geschichte bereits aufgrund der hermetischen Form des Gesetzestexts verschlossen. Die Form steht damit zur Verfügung, um jede folgende Geschichtserzäh28 29 30

Derrida, Parages, S. 117 - 218. Ebd., S. 220 - 246. Ebd., S. 225. "Une illégalité, qui fond le droit et la loi" (ebd.). Lachmayer, Recht durch Zeichen, S. 153. Weshalb André Jolies den Kasus zu den einfachen Formen zählt (S. 171 ff).

5. Gesetzestext und Norm

117

lung zu titulieren: titre à préciser. Man muß es französisch ausdrücken: Le paragraphe est greffé sur le texte d'un récit (wobei unwesentlich bleibt, ob die Geschichte wirklich "vorliegt", also - im Bild - "anwächst"). Erst das Aufpfropfen macht sprachliche Zeichen anwendbar.34 Das Aufpfropfen macht die Methode aus, mit der innerhalb der Sprache eine verhältnismäßig selbständige Diskurswelt etabliert werden kann. Diese äußere Form soll nicht nach außen kenntlich werden. Sie wird es auch nicht, denn hinter dem Modal verbirgt sich kein moralisches oder rechtliches Gebot, das man befolgen oder mißachten kann, sondern hinter der Form steckt - fest in die allgemeine Bildungspraxis verwoben - die Frage nach der Wahrheit. Wahrheit ist das Supplement, mit dem eine gehörte Erzählung geglaubt oder verworfen werden kann. Dieser "Glauben" an einen Inhalt, den man prozessual als "Beweiswürdigung" bezeichnet, gehört zu den unaufklärbaren, mythischen Reservaten des forensischen Geschehens. Auch den professionellen Teilnehmern ist es oft nicht möglich, mit ausreichender Sicherheit vorherzusagen, welchem Zeugen das Gericht "glaubt", aber auch das Gericht selbst weiß häufig nicht, wem es glauben oder worauf es seine Überzeugung stützen soll. Auf diese Weise entstehen überraschende und unmotivierte Freisprüche, und die juristische Professionalität wird dann nur noch auf den Umstand beschränkt, daß überhaupt entschieden wird. Es muß entschieden werden, aber wie entschieden wird, ist letztlich in jeder Weise gleich gültig. Man muß das Ergebnis hinnehmen. Denn die Entscheidung beruht auf Reproduktionen, die sich im Vorraum der Verhandlung bilden und der unmittelbaren Einwirkung der Beteiligten entzogen sind. Als aktuelles Geschehen wäre ein Fall nicht entscheidbar. Die Frage nach der Wahrheit setzt eine Diskurspraxis voraus, die auf eine Signifikation referieren kann, sie also verdoppelt. Diese Diskurspraxis ermöglicht letztlich das Gesetz, jene letzte und endgültige Verdoppelung.

5. Der Gesetzestext und seine Konkretisierung zur Norm Die Gerichtsszene ist nicht nur von Texten beherrscht, sondern sie ist nach dem herrschenden Methodenverständnis auch selbst ein Text, dessen Richtigkeit geprüft werden kann. Man mag fragen, woran oder wonach geprüft wird. Am Beispiel des Gerichts wird deutlich, daß die inszenierten Probleme auf eine einfache Frage nach der Wahrheit und dem "Vorliegen" eines Tatbestands reduziert werden. Die Reduktion verläuft umso komplizierter und gewaltsamer, je einfacher das Kommunikationsmodell ausfallt, das dem Handeln unterlegt wird. Denn bezieht man das Signifikat auf einen ursprünglich und wirklich vorhandenen Referenten und geht man weiter davon aus, daß im Text 34

Bailly, sens, S. 79 ff. als Beispiel jenseits von Derrida für diesen Gedankengang.

VI. Der Doppelcharakter des Zeichens

118

ein Abbild des wahren Seins vorscheint (das durch eine hermeneutische Interpretationsbemühung zutage gefördert werden kann), dann müßte jede Partei für sich selbst über den wahren Sachverhalt entscheiden können. Das aber schließt der Prozeß gerade aus. Er verdoppelt nicht nur die Positionen, er verdoppelt auch die Texte und die Situationen, in denen sie gelesen und vorgetragen werden; und schließlich enthält der Prozeß die letzte und in sich nicht begründbare Fiktion, daß die Schrift des Gesetzes am Ende alles entscheide. Im Gerichtsprozeß trägt der Kläger eine Signifikantenkette vor, deren Wahrheit zunächst offenbleibt. Im Rechtsstreit präsentiert der Beklagte als Gegenüber eine alternative Signifikantenkette, deren Wahrheit auch nur möglich und noch nicht wirklich ist. In der Beweisaufnahme werden diese Darstellungen durch dritte und vierte Signifikantenketten ergänzt. Wenn das Gericht seinerseits eine Perspektive findet, zieht es sich in einen anderen Raum zurück und schließt die Beteiligten von der Reproduktion aus. Anders als der Richter des Kalauers wird nicht in Gegenwart der Parteien entschieden und geurteilt. Es haben nicht beide recht. Das Gericht soll in der Beratung über eine Schrift verfügen, in der das Geschehen notiert ist, ohne daß man es zu Gehör bringen muß. Pnifiingsmaßstab ist das Gesetz, wobei "Gesetz" nicht nur und nicht wesentlich aus Buchstabenschrift besteht (etwa aus den Buchstaben des Gesetzes, den kontinentale Rechtsordnungen als Codex konservieren), sondern gesetzte Vorstellungs- und Einbildungskraft, "Erfahrung" oder "Judiz" repräsentiert, wie man in der deutschen Rechtssprache sagt. Auch im Medium dieser Schrift verdoppelt das Gericht seine Darstellung. Es weist die Schrift als Buchstabenschrift vor und verweist die Parteien auf Gesetzessätze, die in Artikeln isoliert und in Büchern zusammengefaßt und beinahe unendlich kommentiert vorliegen. Aber insoweit ergänzt das Gericht nur die tendenziell schon unendlichen Satzketten. Es produziert weitere geheime Supplemente: das, worauf es ankommt - im Unterschied zur Menge der vorschreibenden Sätze, die das überflüssige Beiwerk enthalten; das, was gut oder böse ist - und als solches in keinem Artikel des Gesetzes und in keiner Kommentierung vorgeschrieben ist. Die fünfte und letzte Verdoppelung führt von der Realität des Rechtsverfahrens in den Bereich der Fiktion des Juristischen. Juristische Rede muß - als entscheidende und "richtige" - nicht einmal ausgesprochen werden. Sie ist in die Schriftform der mündlichen Rede eingekleidet oder in ihr verborgen.35 Die semiotische Verdoppelung, die das ermöglicht, entgeht dem juristischen Praktiker meist ebenso wie dem Laien. Beide sind geneigt, dem Recht einen Bereich eigenständigen Bedeutens einzuräumen. Man sagt dann pauschal, ein juristischer Ausdruck wie "besitzen" bedeute in der Welt des Rechts etwas anderes als im Alltag,36 wo man sagt: Viele Bundesbürger besitzen ein eigenes 35

Seibert, Schriftform und Mündlichkeitsprinzip, S. 222 f. Lampe, Semantik, S. 18.

5. Gesetzestext und Nonn

119

Haus und zwei Autos. Wenn es statt dessen in der Sprache der Norm heißt, der Eigentümer könne von dem Besitzer die Herausgabe einer Sache verlangen, dann - so kann man schließen - ist ein "Hausbesitzer" nicht notwendig Hauseigentümer, auch wenn die normale Sprache hier keinen Unterschied macht. Die Theorie über juristisches Handeln hat diesen Unterschied schnell zu der These verdinglicht, Zeichen im Recht bezögen sich auf eigene Objekte, sie konstituierten sich durch eine eigene Bedeutung.37 Die These von der Eigenständigkeit der juristischen Semantik gehört bereits zum Recht "als Fiktion". Fiktiv ist schon, daß ein Zeichenträger oder ein Graphem sich einfach (d.h. mit einer zweistelligen Beziehimg zwischen "Zeichen" und "Objekt") auf Gegenstände der materiellen Welt bezieht,38 und doch wird diese Bezugnahme im Rechtsstreit vorausgesetzt, weil es sich um die uranfängliche sprachliche Leistung handelt, die erst die Bedeutung des Zeichens hervorbringt. Der Streit spielt sich darüber hinaus zwischen zwei Parteien ab, was sich aus der Natur eines Streits ergibt und aus der juristischen Form des Streitens, die die Entgegensetzung betont. Ein Zeichen der Art: "Der Eigentümer kann von dem Besitzer die Herausgabe der Sache verlangen" (eine "Anspruchsgrundlage" also) designiert ein Zwei-Personen-Verhältnis. Es fordert einen Eigentümer auf, etwas zu verlangen. Ihm ist der Anspruch nützlich. Das Zeichen meint auch einen Besitzer, der zu einem Tun verpflichtet erscheint. Ihm ist der Anspruch lästig. Schließlich ist das Zeichen - obwohl scheinbar ganz einfach - doch so merkwürdig abstrakt, daß man sogleich den Eindruck hat, zu seinem Verständnis seien Interpretations- und Verhaltensgewohnheiten erforderlich, die ein gewöhnlicher Leser nicht habe. Es ist Rechtsnorm. Als Rechtsnorm scheint es nicht fiktiv, sondern ganz real zu sein. Gerade dieser Eindruck ist die Grundlage für Recht als Fiktion. Die Fiktion eigenständigen juristischen Bedeutens vermag eine von der Realität unabhängige Rechtswelt zu begründen, die man - einmal formuliert - als "Sollen" vom "Sein" abgrenzen kann. Tatsächlich meint ein Satz - vom Kläger in der Klageschrift zur Begründung seines Anspruchs zitiert - etwas anderes, als wenn der Verklagte ihn aus seiner Perspektive zitiert. Er meint wieder anderes, wenn das Gericht den Satz zur Grundlage seines Urteils machen sollte. Die Gebrauchsrichtung bestimmt nicht nur die jeweils aktuelle Bedeutung einer Zeichenkette; man muß sie auch vor dem Hintergrund der üblichen, potentiellen Verwendungsrichtungen des Satzes verstehen. Solche Übungen und Möglichkeiten gibt es, sonst wäre ein Satz nicht Vor-Schrift und damit gesetzliches Zeichen. Diesen Charakter erhält er eben dadurch, daß er nicht zum erstenmal, sondern als nicht mehr zählbare Wiederholung eines nicht mehr erinnerlichen Ur-Mals erscheint. Semiotisch gesehen bestimmt der Interprétant des Satzes die gesetzliche Fiktionswirkung. Der Interprétant läßt sich weder auf das Verständnis des Senders noch des Empfängers oder des Interpreten einer Zeichenkette reduzieren, son37

38

Ebenfalls zuerst bei Lampe (ebd., S. 27). Zusammengefaßt bei Busse, Semantik, 225 f.

120

VI. Der Doppelcharakter des Zeichens

dem er wird als Verhaltensgewohnheit39 aufgefaßt. Gemeint ist der Kern des juristischen Codes: die Zuordnung dieses Satzes zu jenem Ergebnis, die praktiziert, aber nicht selbst bezeichnet werden kann.40 Das klingt für den Zusammenhang des juristischen Betriebs und seiner methodischen Reflexionen teilweise selbstverständlich und wird im Hinblick auf die Kraft der Fiktion nicht diskutiert, obwohl die juristische Methodenlehre den Weg an den Rand dieser Entdeckung längst beschritten hat. Seitdem Juristen Theorie rezipieren (was in Gestalt der Rechtstheorie noch keine dreißig Jahre geschieht), hat sich die Einsicht durchgesetzt, daß Normen nicht vorgefunden werden. Die reflektierte und in ihrer letzten Fassung explizit theoretisch angeleitete juristische Methodik von Friedrich Müller setzt mit der These ein, die Norm werde im Prozeß ihrer Anwendung hergestellt. Die Rede wird also paradoxerweise an etwas gemessen, das aus ihr entsteht, aber nicht mit ihr identisch ist. Der Prüfungsmaßstab prüft sein Maß an dem Gegenstand, der gemessen werden soll. Während nach der alten Lehre Gesetzestexte ausgelegt werden, hat die mit Friedrich Müller einsetzende Methodik statt dessen "Konkretisierung" 41 als Stichwort empfohlen. Die Rechtsnorm soll mit Hilfe verschiedener Texte für jede Entscheidung neu formuliert werden. Die Methodenlehre Müllerscher Prägung macht den Juristen deshalb zum "Rechtsarbeiter",42 der an einem bestimmten verwaltungsmäßig organisierten Platz in der Hierarchie der Macht steht. Bei der Konkretisierung des Rechts wirken die Berufsrollen (als Richter, als Advokat), die Arbeitsaufgabe (das "Problem") und die Bearbeitungsmittel (das "Gesetz") zusammen. Damit sind gleichzeitig auch die Instanzen der Semiose (Sender, Empfänger und Code) bezeichnet. Die Strukturierungsleistung der neuen Rechtslehre (die mehr als Theorie sein will, nämlich normative Kraft entfalten soll) bezieht sich auf die Stufen des Arbeitsvorgangs. Vom Textformular aus gewinnt man den Normbereich, der Aufschluß über die sprachlich vermittelten Daten der Wirklichkeit gibt. Aus Sprachdaten des Normtextes und Realdaten des Entscheidungsbereichs wird dann erst die konkrete Entscheidungsnorm hergestellt, die eine Begründung trägt.43 Ein ähnlicher Konkretisierungsvorgang macht aus beobachtbaren Abläufen Sachverhalte und schließlich "Fälle" (wobei der "Fall" als Stichwort für den entschiedenen Sachverhalt genommen wird). Die Theorie hat damit zwei früher unbekannte Bereiche entdeckt: zum einen die tatsächliche juristische Arbeit, so wie sie sich im Berufsalltag als Geschäft jeden Praktikers darstellt, 39 40

Bei Peirce 5.400 (Ideas, S. 337) mit kongenialer Interpretation von Simon, Zeichen, S. 278 f. Womit Eco den Prozeß unbegrenzter Semiose eröffnet (Semiotik, S. 102).

41

Müller, Methodik, S. 125 ff.

42

Müller, Verfassungstheorie, S. 16 f. 43

Müller, Methodik, S. 146 ff

6. Das salomonische Urteil

121

und zum anderen die Herausarbeitung und Empfehlung von Arbeitsschritten, die eine größtmögliche Rationalität in dieser Arbeit ermöglichen. Die "Strukturierende Rechtslehre" gibt sich aber nicht mit irgendeiner Konkretisierung zufrieden; es soll eine Ergebniskontrolle an den "methodenbezogenen Normen des Verfassungsrechts" 44 erreicht werden. Dieser Anspruch führt eine letzte Verdopplung in die Entscheidungspraxis ein. Auch die Normen des Verfassungsrechts lassen sich nicht aus der Verfassung ablesen. Noch mehr als in anderen Bereichen werden diese Normen aus Leitentscheidungen entwickelt, die sich als besondere Problemlösungen empfehlen, Begriffe umdefinieren und zuvor unbekannte Tatbestände konstruieren. Fälle und Lösungen nach verfassungsgerichtlicher Prüfung sind der letzte Ausdruck dafür, daß im Gerichtsdiskurs nichts im Sinne der Urteilsterminologie "festgestellt", sondern in Form eines Textes neu hergestellt wird. Insofern läßt auch die neue theoriegeleitete Methodenlehre offen, welche besondere Normqualität das Verfassungsrecht auszeichnet. Es soll sie nur haben. Formuliert wird die Aufforderung, der Jurist solle - als "Rechtsarbeiter" - die selbstformulierte Rechtsnorm daran überprüfen, ob sie einem vom Gesetzgeber in Geltung gesetzten Normtext "regulär" zugerechnet werden könne. Maßstab dafür seien methodologische Standards, "die den verfassungsrechtlichen Anforderungen genügen".45 Die Fiktion, Verfassungsrecht begründe eine ganz besondere Rechtsnormqualität, beherrscht die westeuropäischen Demokratien und bleibt vorläufig unerkannt. In ihr wirkt auch die unsichtbare Seite der sichtbaren Vorstellung, der Referent des prozessualen Signifikats. Wie alle Unsichtbarkeiten existiert auch Verfassungsrecht nur im Moment seiner Evokation - als Praxis. Der Kläger muß seine Sichtweise vortragen, der Beklagte muß ihr etwas entgegnen, das Gericht muß eine Entscheidung verkünden, und es soll die Entscheidung an einer am Fall extwickelten Norm prüfen, die wiederum an den Fundamentalnormen der Verfassung zu überprüfen ist. Hat man aber einmal vorgetragen, erwidert, entschieden und überprüft, gehört das Designat zur Reihe der unendlichen Gesetzeskommentare.

6. Zum Beispiel: Das salomonische Urteil Es ist am Ende nicht das Gesetz, das über die gerichtliche Szene informiert. Die Doppel der Parteien, ihrer Darstellung und der daraus resultierenden Entscheidung werden in einer alten großen Meistererzählung anschaulich. Das salomonische Urteil gehört zu den großen Prüfungen und Legitimationsgeschichten aus der Gerichtstradition. Es illustriert nicht nur Gottes Weisheit, 44 45

Wimmer/Christensen, Probleme, S. 43. Christensen, Gesetzesbindung, S. 289.

122

VI. Der Doppelcharakter des Zeichens

sondern demonstriert auch die produktive Kraft der Verdoppelung am Beispiel. Die Erzählung trägt Züge eines Gottesurteils und wirkt doch auch auf heutige Leser zwingend. Ihre Logik und der darauf folgende unmerkliche Zwang des pragmatischen Arguments lassen sich aus dem Text der biblischen Erzählung im ersten Buch der Könige (3. Kap.) entwickeln. Damals kamen zwei Dirnen und traten vor den König. Die eine sagte: Bitte, Herr, ich und diese Frau wohnen im gleichen Haus, und ich habe dort in ihrem Beisein geboren. Am dritten Tag nach meiner Niederkunft gebar auch diese Frau. Wir waren beisammen; kein Fremder war bei uns im Haus, nur wir beide waren dort. Nun starb der Sohn dieser Frau während der Nacht; denn sie hatte ihn im Schlaf erdrückt. Sie stand mitten in der Nacht auf, nahm mir mein Kind weg, und legte es an ihre Seite. Ihr totes Kind aber legte sie an meine Seite. Als ich am Morgen aufstand, um mein Kind zu stillen, war es tot. Als ich es aber am Morgen genau ansah, war es nicht mein Kind, das ich geboren hatte. Darief die andere Frau: Nein, mein Kind lebt, und dein Kind ist tot. Doch die erste entgegnete: Nein, dein Kind ist tot, und mein Kind lebt. So stritten sie vor dem König. Da begann der König: Diese sagt: Mein Kind lebt und dein Kind ist tot! und jene sagt: Nein, dein Kind ist tot und mein Kind lebt. Und der König fuhr fort: Holt mir ein Schwert! Man brachte es vor den König. Nun entschied er: Schneidet das lebende Kind entzwei, und gebt eine Hälfte der einen und die andere Hälfte der anderen! Doch nun bat die Mutter des lebenden Kindes den König - es regte sich nämlich die mütterliche Liebe zu ihrem Kind: Bitte, Herr, gebt ihr das lebende Kind, und tötet es nicht! Doch die andererief: Es soll weder mir noch ihr gehören. Zerteilt es! Da befahl der König: Gebt jener das lebende Kind, und tötet es nicht; denn sie ist seine Mutter. Die Erzählung erzeugt Spannung mit Hilfe mehrerer Verdoppelungen und löst diese Spannung auf unglaubliche, bildhafte Weise. Der Ausgangspunkt wird markiert durch die doppelte Geschichte der Parteien, der beiden Mütter. Die Entwicklung kulminiert in der Entgegenstellung der Possessivpronomen in identischen, nur umgekehrten Sätzen: Mein Kind lebt, und dein Kind ist tot vs. Dein Kind ist tot, und mein Kind lebt. Dieser Streit ist auf der Ebene der Sätze - im Text - unentscheidbar. So stritten sie vor dem König, resümiert das Buch der Könige, und der König wiederholt - gewissermaßen in der Sachverhaltsdarstellung - was gerade in dieser Form von den Parteien vor ihm gesagt wurde. Die auf diese Weise gefundene Entscheidung, die dann mit dem Schwert exekutiert werden soll, ist allerdings nicht die wahre Entscheidung. Sie ist ein Doppel der wahren Entscheidung.46 Ohne die Anordnung, das Kind zu zerteilen, kann der königliche Richter nicht erkennen, wie die Frauen darauf reagieren werden. Insofern ist die Anordnung auch kein Vorwand, sondern muß ernst genommen werden. Die ganze und wahre Lösung findet sich dann aber erst in der Reaktion der Parteien. Sie ist pragmatischer Art. Denn es steht nicht von vornherein - durch einfache Verkündung der Entscheidung - fest, 46

Carbonnier, droit, S. 325 ff. widmet dem Urteil Salomos als "jeu de droit" ein eigenes Kapitel.

6. Das salomonische Urteil

123

wer aus ihr begünstigt ist. Die Gemeinte muß sich erst noch als solche durch ihr eigenes Verhalten offenbaren. Von den beiden präsentierten Reaktionen Gebt Ihr das lebende Kind\ als Opposition und: Zerteilt es\ als Zustimmung zur scheinbaren Entscheidung des Königs - ist die Zustimmung die falsche Reaktion. Paradoxerweise verlangt das gemeinte Verhalten, dem wörtlichen Sinn der Entscheidung nicht zuzustimmen. Verlangt wird nicht Zustimmung, sondern ein Wechsel in der Perspektive, der allerdings - die biblische Erzählung läßt uns raten - von vornherein erwartet worden ist. Die Weisheit des Königs Salomo zeigt sich zwar darin, daß er weiß, wie eine Mutter sich verhält, wenn sie durch ihr Verhalten zum Tod ihres eigenen Kindes beitragen würde, und der weise König weiß dementsprechend auch, wie sich beliebige Menschen verhalten, wenn sie bei Uneinigkeit Kompromisse schließen sollen. Der allgemeine Topos im Fall der Uneinigkeit geht eben dahin, das Strittige zu teilen,47 es sei denn - womit der in jeder Topik eingeschlossene Anwendungsdiskurs48 eröffnet wird - es gelten besondere, augenfällige Merkmale, Ausnahmen. Diese Ausnahmen können aber nicht zum Gegenstand eines auf der Ebene des Streits geführten textuellen Diskurses gemacht und dort durch Signifikantenketten eingeführt werden. Man würde nur wiederholen, was zuvor schon die Signifikanten des Streits ausmachte. Weisheit und Logik der Entscheidung liegen im Bild der Mutter beschlossen, das den Interpretanten der Erzählung ausmacht. Der Interprétant muß nicht benannt werden. Er zeigt sich -in der Wirkung des gerichtlichen Zeichens. Der König braucht - nachdem sich die Parteien offenbart haben, ohne es zu wollen - nur noch zu befehlen: Gebt jener das lebende Kind, und damit die zuvor verkündete, gewissermaßen vorläufige Entscheidung aufzuheben. Die richtige Entscheidung bedarf keiner Begründung. Sie versteht sich - weil man anschauen kann, was wahr ist - von selbst. Aus dem semiotischen Verständnis von Entscheidung, Realität und Wahrheit ergeben sich Konsequenzen für die Konzeption des Zeichens und des Realität verbürgenden Bildes. Die salomonische Entscheidung kann auf eine Indexikalität zurückgreifen, die nicht nur möglich, sondern im Kontext des Zeichens realitätsverbürgend ist. Wenn ganz Israel - wie die Erzählung schließt erkannte, daß die Weisheit Gottes durch das Medium des Königs Recht sprach, dann liegt in diesem Bild die Apotheose eines zunächst ganz zufällig wirkenden Verhaltens.49 Woran man eine Mutter erkennt - das erschien im Verfahren überraschend, ungeplant und wirkte wie eine Opposition zur königlichen Entscheidung durch das Schwert. Ist diese Reaktion aber einmal eingeführt, dann artikuliert sie nicht nur eine plausible oder humane, sondern die 4 7

48

Ebd., S. 326, Anm 25.

Günther will von der "Anwendung einer Norm als Prinzip dann... sprechen, wenn wir in eine argumentative Prozedur eintreten, die uns zur Berücksichtigung aller Merkmale einer Situation und zur Abwägung relevanter Gesichtspunkte verpflichtet " (Angemessenheit, S. 336). 49 Carbonnier, droit, S. 322.

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VI. Der Doppelcharakter des Zeichens

allein richtige Lösung. Das Bild der Mutter ist nicht beliebig. Es gibt eine Verhaltensgewohnheit, die sich als Interpretationsgewohnheit über den Kontext von Bildern in die Entscheidung einschreibt. Diese Wirkung des Zeichens offenbart sich im Spruch: Gebt jener das lebende Kind. Das Volk Israel als Gemeinschaft der Interpreten stimmt zu, weil jeder im Volk den Effekt für sich wiederholen und der Wirkung zustimmen kann. Die mit dem Zeichen verbundene Interpretationsgewohnheit, der gemeinsame Interprétant, ist keine nur bei einem Interpreten zufallig erzeugte Wirkung. Sie ist allgemein und zwingend. Der ursprüngliche Text der Natur geht nicht im Taumel der Signifikanten unter. Nachträglich gesehen, ruhte die richtige Entscheidung unverrückbar im Gesetz, obwohl man sie vor Beginn des Verfahrens nicht hätte bezeichnen können. Man brauchte den Diskurs, um über das Ergebnis zu feilschen, weil der unparteiliche Schiedsrichter aus der Art des Feilschens auf das wahre Ergebnis Schloß. Es sind insgesamt fünf Doppelungen, die den Doppelcharakter des Zeichens ausmachen. Die Bedeutung ist die erste und allgemeinste Verdoppelung der Vorstellung. Das Etagensytem50 bliebe aber abstrakt und theoretisch, wenn es nicht seine konkrete eigene Realität durch die Parteirollen im streitigen Prozeß erhielte. Die Verdoppelung der sprachlichen Welt im konkurrierenden Parteivortrag macht die Frage nach der Oberetage erst dringlich, wenn man nicht ein unentschiedenes, wahrheitsfernes Nebeneinander bestehen läßt. Das Verfahren zwingt zur Entgegensetzung, zur Vor-Stellung, die Vorstellung wirkt in die Szene hinein und reicht in die Imagination hinauf. Die Verdoppelungen durch Vorstellung und Zeichen gehören dem gesellschaftlichen Diskurs an. Die Verdoppelungen durch Beratung und Gesetzesform sind eine Besonderheit des Rechtsdiskurses. Alle diese Verdoppelungen führen dazu, daß jenseits der sichtbaren, nach außen geöffneten, kommunikativen Etage eine zweite abgeschlossene eigentliche, unsichtbare Etage aufgebaut wird. Die Überführung dieses Etagensystems in empirische Analyse unterbleibt nicht nur an dieser Stelle. Der Schluß fällt bildhaft und metaphorisch aus, und behebt das Übersetzungsproblem nicht, auf das Frank Rotter51 schon früher hingewiesen hat. Die semiotische "Autopoiesis" braucht solche gewundenen und gefalteten Bilder, um dem Rechtsdiskurs auf die Spur zu kommen. Recht ist nicht geradlinig; es wirft Falten und verursacht Knicks. Richter und Anwälte kleiden sich in Roben, und die Robe - sagt das Gesetz - muß einen freien Faltenwurf ermöglichen.

50 51

Deleuze, pli, S. 7.

Rotter (Psychiatrie, S.249) mit vergleichender Kritik zwischen Semiotik, Soziologie und Psychoanalyse; die Metaphorik im Theoriebetrieb beanstandet auch: Struck, Argumentation, S. 130 f.

ΥΠ. Im Dom Vom Prozeß der Interpretation

Eine berühmte metaphorische Erzählung beginnt mit den Sätzen1: Vor dem Gesetz steht ein Türhüter. Zu diesem Türhüter kommt ein Mann vom Lande und bittet um Eintritt in das Gesetz. Aber der Türhüter sagt, daß er ihm den Einlaß jetzt nicht gewähren könne. Der Mann überlegt und fragt dann, ob er also später werde eintreten dürfen. "Es ist möglich", sagt der Türhüter, "jetzt aber nicht".

Sie endet mit dem Dialog:2 "Alle streben doch nach dem Gesetz", sagt der Mann, "wie so kommt es, daß in den vielen Jahren niemand außer mir Einlaß verlangt hat?" Der Türhüter Erkennt, daß der Mann schon am Ende ist und um sein vergehendes Gehör noch zu erreichen brüllt er ihn an: "Hier konnte niemand sonst Einlaß erhalten, denn dieser Eingang war nur für dich bestimmt. Ich gehe jetzt und schließe ihn".

Franz Kafka hat die Parabel vom Türhüter zu Lebzeiten als kurze Erzählung veröffentlicht. Nach seinem Tod ist sie von Max Brod im Zusammenhang des "Proceß"-Romans wiederveröfifentlicht worden. Sie erhält dort im Zusammenhang des Kapitels "Im Dom" eine neue Qualität, indem Interpretationen im Text vorgeführt und damit mehrere mögliche Auffassungen über den Prozeß einander entgegengesetzt werden.3 Nachdem allein der Text der Erzählung bereits Anlaß zu einem neuen rechtstheoretischen Verständnis der Existenz desjenigen geführt hat, der "vor dem Gesetz" steht,4 mag es erlaubt sein, mit einem kleinen Ausschnitt aus dem Proceß-Roman an ein altes rechtsphilosophisches Thema zu erinnern, das bis heute unabgeschlossen ist. Es wird unabgeschlossen bleiben - lautet die ästhetische Botschaft. Gemeint ist die Arbeit der Interpretation, die im Roman gewissermaßen stellvertretend für alle möglichen Interpreten vorgenommen wird und die grundsätzliche Paradoxie jeder Interpretationsbemühung offenbart. Während Juristen - insbesondere jene, die Wissenschaft betreiben - die Interpretation von Gesetzen als gewundenen und mit 1

Kafka, Proceß,S. 292.

2

Ebd., S. 294.

3 4

Derrida, Préjugés, S.90; Bolz, Interpretation, S. 100.

Ebd., S.67.

126

ΥΠ. Im Dom

Hindernissen versehenen Weg zu einer immer größer werdenden Wahrheit und Klarheit verstehen, unterminiert der Dialog "Im Dom" diesen Glauben. Kafkas Proceß-Roman enthält merkwürdigerweise bereits im Text eine ausdrückliche Deutung seiner selbst.5 Die Interpretation wird nicht den zeitgenössischen Lesern und Nachfahren überlassen, sondern trägt im Roman zu den Handlungszwängen und Beklemmungsformen bei, denen Josef K. ausgesetzt ist. Das erfordert doppelte Aufmerksamkeit. Die fiktiven Personen handeln und schleichen sich mit ihren Interpretationen in die Verstehensbemühungen des Lesers ein, der ohnehin zwischen den Zeilen liest. Jeder Leser verfügt ohne weiteres über eine eigene Lesart, wenn er von einem Text angezogen ist, wie Kafka es von K. sagt. Hier wird er aber auf die Zeilen des Textes verwiesen. Unmittelbar auf die Erzählung folgt als Kommentar:6 '"Der Türhüter hat also den Mann getäuscht', sagte K. sofort, von der Geschichte sehr stark angezogen", während der Erzähler noch warnt: "Sei nicht übereilt, ... übernimm nicht die fremde Meinung ungeprüft. Ich habe Dir die Geschichte im Wortlaut der Schrift erzählt. Von Täuschung steht darin nichts". Dennoch werden die Möglichkeiten der Täuschung zum beherrschenden Thema der Interpretation. Josef K. übernimmt die Rolle des alltäglichen Zuhörers, der einen Text mit einem bestimmten, nicht weiter zu entschlüsselnden und sofort zugänglichen Sinn versieht. Konsequent täuscht er sich im Sinn der Geschichte. Ihm erscheint der Türhüter, der jemanden, für den ein Eingang bestimmt war, nicht einläßt, als pflichtvergessener Bediensteter des Gesetzes. Er müsse bestraft oder wenigstens aus dem Dienst entfernt werden. Die Bewegung der Interpretation beginnt als Verzögerung und Verschiebung dieser unmittelbaren Reaktion. Man soll warten und andere Lesarten erproben. So kann man von dem Geistlichen, der K. die weiteren Deutungen präsentiert, nicht etwa behaupten, er vertrete eine Gegenposition in der Deutung. Auffällig ist nur, daß er überhaupt interpretiert und dabei eine mögliche Position infragestellt. Er übernimmt nicht eine angebotene Meinung, er formuliert nicht seinerseits einfach das Gegenteil, sondern er führt die von K. für richtig gehaltene Ansicht in eine Schriftebene ein. Die Interpretation führt von einem Text auf andere vorhandene Texte. Das ist eine der wesentlichen Methoden der theologischen wie juristischen Textauslegung. Mit ihr verbunden ist immer die Vorstellung, daß die neu geschaffenen, dazwischen gelagerten Texte die gemeinte Sache besser, zumindest situationsnäher ausdrücken als die vorhandenen.7 Die im Roman folgenden Deutungen führen in die Variationen des Prozesses ein, wenn der Geistliche erklärt: 8 5

Vogl, Gewalt, S. 151.

6

Proceß, S. 295.

7

Simon, Zeichen, S. 60 (Nr. 15).

8

Proceß, S. 295.

ΥΠ. Im Dom Die Geschichte enthält über den Einlaß ins Gesetz zwei wichtige Erklärungen des Türhüters, eine am Anfang, eine am Ende. Die eine Stelle lautet: 'daß er ihm den Eintritt jetzt nicht gewähren könne1, und die andere: 'dieser Eingang war nur für dich bestimmt'. Bestände zwischen diesen beiden Erklärungen ein Widerspruch, dann hättest du recht und der Türhüter hätte den Mann getäuscht. Nun besteht aber kein Widerspruch. Im Gegenteil die erste Erklärung deutet sogar auf die zweite hin.

Die Interpretation, die im Text des Romans über den Text der Parabel vorgeführt wird, mündet in eine Paradoxie.9 Es ist wiederum der Geistliche, der sie nicht in einen eigenen, sondern einen aus der Schrift entlehnten Satz kleidet, der lautet: "Die Erklärer sagen hierzu: 'Richtiges Auffassen einer Sache und Mißverstehen der gleichen Sache schließen einander nicht vollständig aus'".10 Das wirkt zunächst einmal wie offenbarer Unsinn, wird auf diese Weise doch ein zentraler Interpretationsanspruch zerstört. Denn wir glauben, daß eine Interpretation - die Erweiterung eines Textes, seine Neufassung mit anderen Worten, sein Vergleich mit früheren Formulierungen und die Abschätzung seines Sinns - daß alle diese Deutungsanstrengungen zu einem richtigen Verständnis nicht nur des Textes, sondern auch der damit gemeinten und vermeintlich erfaßten Sache führen sollten. "Interpretation versteht sich als Verdeutlichung 'desselben' in anderen Zeichen".11 Es scheint paradox, Sachen richtig aufzufassen und gleichzeitig mißzuverstehen, wenn man sich in der Perspektive des Interpreten befindet, der außerhalb des Textes steht und ihn als Vorlage für die Lösung eines Problems benutzt. Aber das ist die zu beantwortende Vorfrage: Steht der Interpret überhaupt außerhalb oder nimmt er nicht vielmehr teil am Prozeß? Sucht man nach Antworten dafür, kann man mit dem ersten Satz des Proceß-Romans anfangen: "Jemand mußte Josef K. verleumdet haben, denn ohne daß er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet." Die Verhaftung markiert den Beginn eines Prozesses, wenngleich es sich um eine ganz selbstverständliche Sache zu handeln scheint, wie bereits die Wächter, die K. verhaften, klarmachen wollen. Es gibt den Strafprozeß, man muß ihn nicht erfinden. Ebenso wie den Strafprozeß gibt es auch andere Entwicklungsvorgänge wie den Prozeß des Erwachsenwerdens, des Verstehens oder der schleichenden Entmündigung.12 Man muß sie nur als Prozeß bemerken und auffassen. Das nun ist nicht selbstverständlich. Die Art und Weise, sich über Prozesse zu verständigen, muß - im Gegensatz zum Prozeß als solchem - erst noch erfunden werden, und zwar von jedem neu, der verhaftet wird. Denn er täuscht sich über sich selbst und seine Rolle im Prozeß. Das Kapitel "Im Dom" _ Derrida, Préjugés, S. 66 . 10

Proceß, S. 297.

11

Simon, Zeichen, Nr. 47 (S. 232).

12

Lubkoll, notwendig, S. 284.

128

ΥΠ. Im Dom

markiert die Besinnung auf die eigene Rolle im Prozeß, indem dort die Interpretationsweisen der Schrift erörtert werden. Auch sie lösen allerdings die Täuschung nicht auf. Täuschung ist eines der fundamentalen Merkmale jeder Interpretation. Sie gehört nicht zu den Erfindungen des Prozesses - im Gegenteil: Es wäre eine Täuschung zu glauben, daß man eine Sache nur "richtig auffassen" müsse, um sie verstehen zu können. Der Sinn fungiert als die leere Mitte eines Prozesses. Die Täuschung einerseits und die leere Mitte andererseits sind Kennzeichen der Interpretation. Sie sind buchstäblich aus der Szene "Im Dom" ablesbar, aber sie finden sich darüber hinaus auch in allen strukturalen Auffassungen über den interpretatorischen Prozeß.13 Bei der Interpretation des Proceß-Romans sind Täuschungen ein organisierendes Zeichen in der Deutung des Gerichts. Sie bilden den Rahmen der Parabel vom Türhüter. K. täuscht sich schon über den Sinn seines Erscheinens im Dom, meint er doch, mit einem wichtigen Kunden der Bank verabredet zu sein und ihm die Kathedrale zeigen zu sollen. Aber der italienische Geschäftsfreund, auf den K. wartet, erscheint nicht. "Laß das Nebensächliche" korrigiert der Geistliche den täuschenden Anlaß, habe doch er selbst K. in den Dom bestellt, erklärt er (falls nicht schon diese Erklärung täuscht). Der vermeintliche Priester erweist sich als Gefängniskaplan, der auf K. wartet. Auch er gehört zum Gericht. Er ruft Josef K. beim Namen und beginnt mit ihm ein persönliches Gespräch über sein Verhalten im Prozeß. K. schildert sogleich die schon eingeschlagenen und die noch beabsichtigten Prozeßstrategien und rückt seine Bemühungen in den Vordergrund, den Prozeß als strategisches Spiel für sich zu entscheiden. Aber insoweit täuscht er sich über den Zugang zum Gesetz. Nicht Strategien, nicht Kalkulationen über den scheinbar richtigen ersten Schritt führen dorthin. Darüber läßt sich erst reden, als K. schweigt, nachdem der Mann ihn von der Kanzel angeschrien hat mit der Frage: "Siehst Du denn nicht zwei Schritte weit?" Der Text schildert tatsächlich, daß K. nichts mehr sieht und daß es im Dom dunkel geworden ist, während K. noch auf seinen vermeintlich angekündigten Geschäftsfreund wartet. An die Stelle äußerer Orientierung ist nur noch das Zerrbild einer Alternative getreten, die zwischen dem Freispruch besteht, den K. erwirken möchte, und der Verurteilung, die er befürchtet. In dieser Alternative taucht der Geistliche nicht auf. K. muß ihm näher kommen, um ihn zu erkennen, und bittet ihn auch wirklich, doch von der Kanzel herabzusteigen. Er müsse doch keine Predigt halten. Ein durch die bisherige Vorgeschichte gar nicht gerechtfertigtes Vertrauen bekundet sich in den Worten: "Du bist eine Ausnahme unter allen, die zum Gericht gehören", und die Differenz zwischen dem Auftreten des Geistlichen und dem der anderen Angehörigen des Gerichts spitzt sich noch weiter zu in der Behauptung: "Mit Dir kann ich offen reden". Der Geistliche kommentiert diesen Satz in pa13

Deleuze, Strukturalismus, S. 41 ff.

ΥΠ. Im Dom

radoxer Weise mit der Aufforderung: "Täusche Dich nicht", die eine Warnung enthalten könnte derart, daß man auch mit dem, der auffordert, sich nicht täuschen zu lassen, keineswegs offen reden kann, die aber andererseits auch die Interpretation zuläßt, daß offenes Reden geradezu das differenzierende Kriterium fiir das Gericht im Unterschied zur Welt darstellt. Es scheint ein Gegensatz zu bestehen, wenn der Geistliche an seinen Imperativ nun die Parabel "Vor dem Gesetz" anschließt, denn er leitet sie mit den Worten ein: "In dem Gericht täuschst Du Dich". Das kann heißen, daß die offene Rede in ihm keinen Platz habe; es kann aber wiederum auch heißen, daß gerade das Gericht ein Ort der offenen Rede sei. Danach folgt jene hermetische und selbst wieder paradoxe Geschichte über den Mann vom Lande, dem geboten wird, vor der Tür zu warten, und der nicht zum Ziel gelangt, weil er dem Gebot folgt und vor der Tür wartet. Die Interpretationen, die der Geistliche dazu mit K. erörtert, vervielfachen den Charakter der Täuschung.14 Die erste daran anschließende lange Interpretation faßt K., der ihren Gehalt nicht erfassen kann, in der Frage zusammen: "Du glaubst also der Mann wurde nicht getäuscht?" Die Antwort bleibt der Angesprochene schuldig, wenn er darauf verweist, er zeige nur die Meinungen, die über die Schrift bestehen, und dann eine weitere - von K. sogleich als "weitgehend" bezeichnete - Meinung ausführt, der zufolge der Türhüter der Getäuschte sei. Er befinde sich in Täuschimg über das Innere des Gesetzes, das er niemals sehe, weil er es mit rückwärts gekehrtem Rücken bewache, und er befinde sich in Täuschung über die Bedeutung sowohl des Inneren wie auch seines Besuchers, des Mannes vom Lande, dem er in Wirklichkeit untergeordnet sei. Denn der Türhüter, der mit dem Rücken zum Inneren des Gesetzes stehe, könne es nicht sehen, während der Mann den Glanz erblickt, der aus dem Eingang bricht. Schließlich werde der Türhüter das Tor zum Gesetz auch gar nicht schließen können, obwohl er das ankündigt, denn das Tor steht - wie die Schrift am Anfang sagt - offen "wie immer". Diese Deutung hält K. wie bereits auch die erste angebotene Interpretation für gut begründet, besteht aber nach wie vor darauf, daß der Mann jedenfalls am Ende getäuscht worden sei, und zwar - wenn auch der Türhüter selbst sich schon täusche - über dessen Einfalt. Schon deshalb müsse jener sofort aus dem Dienst gejagt werden. Der Geistliche führt K. nun mit einer letzten Interpretation an den Ausgangspunkt der Suche zurück, an dem nichts entscheidbar und alles verstehbar war. Denn niemand sei berechtigt, über das Gesetz und seine Diener zu urteilen, man habe auch nicht alles, was diese Diener sagten, für wahr zu halten, "man muß es nur für notwendig halten".15 Die Notwendigkeit ist der Ausweg aus der Unendlichkeit des Bemühens, die Täuschung zu besei14

Binder, Gesetz, S. 199 ff.

15

Lubkoll, notwendig, S. 292.

9 Seibert

130

ΥΠ. Im Dom

tigen, auch wenn K. dieses scheinbare Ergebnis nicht einleuchtet und er es zu einer "trübseligen Meinung" erklärt. Wir verharren einen Moment lang bei dieser Trübseligkeit. Im Dom wird keine Erlösung in Aussicht gestellt. Im Gegenteil wird der um sein Recht kämpfende Angeklagte auf einen unendlichen Prozeß der Interpretation zurückgeworfen, den immer nur die Verfasser der Schrift gewinnen können. Den Sinn der Schrift kann der Interpret niemals erfassen. 16 Er hält ein Zeichen nur deshalb für interpretierbar, weil es auf etwas anderes verweise, das seine Bedeutung sei. Schon in diesem Ausgangspunkt täuscht sich der Interpret, denn es handelt sich um eine recht weitgehende Meinung über die Möglichkeiten der Interpretation. Zwar ist ein Zeichen zweigeteilt. Es ist kein Ding. Wäre es ein Ding, könnte man es als etwas Eigenes begreifen, das für sich steht. Das Zeichen steht aber für etwas anderes. Gerade weil es für ein anderes steht, ist es noch nicht dieses andere. Jenes wird durch dieses bezeichnet. Weder das eine noch das andere sind das Zeichen, sondern umgekehrt trennt das Zeichen zwischen dem, was sichtbar ist, und dem, was bezeichnet wird. 17 Die Differenz zwischen Signifikanten und ihrer Bedeutung konstituiert das Zeichen, und schon darin liegt ein Stück Täuschung. Das Zeichen ist so wenig Vorstellung wie Ding und doch beides zugleich. Es hat immer eine materielle, dingliche Seite, in der es aber nicht aufgeht. Mit Hilfe des Zeichens können Dinge auf Vorstellungen bezogen werden. Sie geraten in einen eigentümlichen Schwebezustand, der zwischen Realität und Imagination pendelt und gewöhnlich im Prädikat des Symbolischen eingefangen wird. Ein Kriterium des Zeichens ist die Eröffnung jenes dritten schwebenden Bereichs, in dem Vorstellungen auf Dinge bezogen werden. Deshalb führt die Auffassung, daß Zeichen zweigeteilt seien in dem Maße, in dem sie richtig ist, gleichzeitig auch in die Irre. 18 Die Doppelung beruht auf einer mindestens dreistelligen Beziehung zwischen Zeichen, Interpreten und gemeinten Inhalten. Nur etwas, das den Sinn der Teilung erfaßt, bezieht die dritte Stelle ein und läßt Inhalte wahrnehmbar werden. Dieses etwas kann eine Person sein ein Subjekt, der Interpret vielleicht -, es kann ein Teil dieser Person sein - eine von ihr erworbene Gewohnheit, die Peirce Interprétant nennt19 -, aber schließlich müssen diese Teile auch ein gemeinsames Ganzes bilden - ein System, das man vielleicht auch eine Interpretations- oder Kommunikationsgemeinschaft nennen kann.20 Zurückweisen läßt sich keine dieser Deutungen des Zeichenprozesses, obwohl sie - nimmt man jeweils eine ernst - auch nicht nebeneinander zu bestehen scheinen. Wenn alle als Gemeinschaft die Interpretation 16

Schirrmacher, Schrift, S. 158 f.

17

Derrida, Signatur, S. 300 f.

18

Ebd., S. 304 f.; Lyotard, discours, S.73 f.

19

Peirce, Phänomen , S. 64. Habermas, Moderne, S. 378.

ΥΠ. Im Dom

131

durchführen, dann wäre die vereinzelte Bemühung sinnlos. Ohne sie kommt aber der Prozeß der Interpretation gar nicht in Gang. Jemand muß sich um eine Zeichenkette bemühen, jemand muß eine Verkettung erfühlen 21 und damit die Notwendigkeit verbinden, zu deuten, obwohl er ein Deutungsergebnis nicht immer für wahr halten kann. Er kann es aber auch nicht einfach bestimmen. Es ist nicht so, weil ich es so sage. Die Interpretation wird nur scheinbar durch den Machtspruch beendet.22 Sie hat kein Ende, sondern verweist immer auf ein Drittes, das im zweigeteilten Zeichen zunächst verdeckt erscheint und nur durch den Prozeß der Interpretation hervorgelockt wird. Damit öffnet sich ein zweites, nicht minder paradoxes Merkmal des Interpretationsprozesses, das im Dom erfahren werden kann. Das Zeichen in diesem dritten Bereich ist ein leerer Ort. Es kann nicht definiert werden, weil die Definition in der Einführung einer Differenz bestünde und mithin nur das Feld der Symbolik erweiterte. In der Definition wird ein Zeichen durch mindestens zwei andere ersetzt. Das Ersetzende selbst, also die Angemessenheit, Verständlichkeit oder Brauchbarkeit der Definition lassen sich erproben, aber nicht definieren. Es ist eine Täuschung zu glauben, das Zeichen selbst sei durch den Code der Zuordnung von Signifikanten zu Bedeutetem erfaßt. 23 Die Mitte ist leer. Es gibt außerhalb wie innerhalb der Semiotik viele Versuche, die leere Mitte zu besetzen. Das Interesse an Argumentation und Rhetorik hängt regelmäßig mit dem Wunsch zusammen, mit Hilfe besonderer, in anderen Bereichen aufbewahrter Kompetenzen die einmal erfahrene Leere zu füllen. Es ist ein neuer, manchmal postmodern genannter Prozeß im Interpretationsbemühen, den Blick auf die leere Mitte auszuhalten, während man früher versucht hat, die Leere zu kaschieren. Die letzte dieser Bemühungen stammt aus dem Beginn der strukturalen Textinterpretationen. In der strukturalen Interpretation des Zeichens wird der leere Ort zum symbolischen Platz.24 Man kann den Sinn nicht definieren, aber man hat von einem bestimmten Platz aus eine Perspektive auf einen möglichen Sinn. Für die Interpretation einer Zeichenkette gibt in aller Regel erst die Perspektive auf ein Ergebnis den Blick frei. Der perspektivische, die Figur bestimmende Blick weist jedem Etwas, auf das sich Zeichen beziehen, den Platz an. Wichtige Bedeutungen können deshalb vom richtigen Platz aus im Wortsinne "erkannt" werden. Die "Erkenntnis" reicht bis in den Urteilsspruch in der Hauptverhandlung. Die Wahrheit wird durch einen Blick aus der organisierenden Mitte erkannt. Das ist die Tröstung, die man angesichts inhaltlich unendlicher Fragen von der strukturalen Methode vordergründig erhält. Der Trost kann alsbald zerrinnen. 21

22 23 24

9*

Deleuze /Guattari, Kafka, S. 112 ff. Abraham, Rechtsspruch, S. 264 f. Derrida, Signatur, S. 308 f. Deleuze, Strukturalismus, S. 14.

132

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Der Blick geht nämlich in zwei Richtungen. In der einen erscheint das organisierende Zentrum als prinzipiell erkennbar, die Wahrheit als verstehbar, wenn man sie im Ensemble der dargestellten Zeichen nur nachhaltig sucht. In diese Richtung bewegt sich die wissenschaftlich hermeneutische Bewegung der Interpretation. Der andere Blick findet das Zentrum dauerhaft leer vor, 25 die Wahrheit, die den Platz des Zeichens einnimmt, wird von niemandem mehr gefunden und nur noch gesucht. Das ist die ästhetisch absurde Bewegung der Interpretation. Der absurde Interpret rollt den Stein des Problems unablässig den Berg hinauf; ist er einmal oben angekommen, entgleitet ihm der Stein und rollt den Abhang wieder hinunter. Während in der hermeneutischen Bewegung die Täuschung nur ein Schleier zu sein scheint, hinter dem die Wahrheit verborgen bleibt - der Schleier also durch ständiges Bemühen um Verstehen und Verständnis weggezogen werden könnte, auch wenn das tatsächlich meist mißlingt -, rechnet der absurde Interpret mit der Leere in der organisierenden Mitte. Sisyphos weiß, daß sein Bemühen vergeblich ist, den Stein den Abhang heraufzurollen, während der juristische Interpret die Vergeblichkeit und Unabgeschlossenheit im jedesmaligen Heraufrollen verdeckt hält. Nur der Beobachter kann diese Bewegung im nachhinein als vergeblich und jeweils wiederholungsbedürftig erkennen. Die Vergeblichkeit, Sinn zu finden, ist in der absurden Auffassung der Interpretation kein Mangel. Die Methode - wie sie Camus empfiehlt 26 - lautet: hartnäckig sein. Die Vergeblichkeit reizt zur Wiederholung, und genau darin in wiederholtem Lesen - liegt der Sinn eines Texts, dessen Sinn nicht zu bestimmen ist. Er bindet die Aktivität an den Prozeß der Suche selbst. Um gelesen zu werden, braucht der Text keinen Sinn zu haben; er muß ihm nur unterstellt werden. Das Tor zum Gesetz oder die Schrift sind Markierungen für das Zentrum des möglichen Sinns. Das Tor eröffnet den wahren Weg, das Gesetz erhellt diesen Weg mit seinem Glanz, und die Schrift eröffnet die Perspektive; von der Schrift aus gewinnen die Dinge als "Realitäten" ihre Bedeutung, auch wenn nur der König die Schrift verstehen könnte. Der König - unvoreingenommen, mit gottgleichen Eigenschaften als unparteilicher Beobachter - bezeichnet die Wahrheit. Aber man weiß nicht, wo der König steht und wem er sich zeigt. In der Interpretation bleibt der Platz des Königs leer. Das Ziel, nämlich den gemeinten Sinn zu verstehen, dieses Ziel verschwindet trotzdem nicht. Auch wenn die organisierende Mitte nicht darstellbar ist, wird sie deshalb nicht entbehrlich. Ihr Ort ermöglicht den Code, der die differenten Teile des Zeichens einander zuordnet. Der Code als Ensemble der Zuordnung braucht eine leere Mitte. Dort ist der Ort des Beobachters. Auch über diese paradoxe Konstruktion liegt eine berühmte metaphorische Deutung vor. Georges 25

Ebd., S. 50; was Bolz, Interpretation, S. 102, auch auf die Deutung des Gesetzes überträgt. Camus, Sisyphos, S. 48.

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133

Foucault beginnt seine Reflexionen über "Worte und Sachen" (Les mots et les choses) mit der Situation, in der Velâzquez das Gemälde "Las Meniflas" gemalt hat27: Der Maler hat sich in einige Entfernung neben das Bild gestellt, an dem er gerade arbeitet. Für den Betrachter steht er rechts von seinem Bild, das die äußerste linke Seite einnimmt. Demselben Betrachter ist nur die Rückseite des Bildes sichtbar, nur das riesige Gestell ist dem Blick freigegeben. Dagegen ist der Maler völlig sichtbar.... Der Maler betrachtet mit leicht gewendetem Gesicht und zur Schulter geneigtem Kopf. Er fixiert einen unsichtbaren Punkt, den wir Betrachter aber leicht bestimmen können, weil wir selber dieser Punkt sind: unser Körper, unser Gesicht, unsere Augen. Das von ihm beobachtete Schauspiel ist also zweimal unsichtbar, weil es nicht im Bildraum repräsentiert ist und weil es genau in jenem blinden Punkt, in jenem essentiellen Versteck liegt, in dem sich unser eigener Blick unseren Augen in dem Augenblick entzieht, in dem wir blicken.

In diesem blinden Punkt steht - der Betrachter kann es nur aus einem Spiegel an der Wand erschließen - der König, real oder historisch: Philipp II., den sein Hofmaler Velâzquez porträtiert. Während alle inneren Linien des Bildes auf das zielen, was durch den Maler repräsentiert wird, bleibt der Platz des Repräsentanten scheinbar leer. Nur im Spiegelbild erscheint der nicht abgebildete und doch abzubildende Gast. Der zentrale Platz wird fiktiv, weil in ihm nicht der König selbst, sondern der Betrachter steht. Aus seiner Perspektive wird das Geschehen zum Bild, das er beobachtet, während die Portraitszene die gleiche Position für das Modell bereithält. Der Beobachter ist Modell und Interpret zugleich. Im Mittelpunkt der Interpretation steht damit der Interpret. Freilich merkt er das im Regelfall nicht, weil er sich eben nur als Beobachter versteht. Eine neue Bewegung der Interpretation nimmt die Beobachtungsposition geradezu als Garant für Theorie-Loslösungen.28 Der Beobachter reklamiert das Recht für sich, nur zu beobachten und damit nicht zur Welt der anderen zu gehören derjenigen, die er beobachtet. Aber die semiotische Paradoxie wird mit der Geste der Beobachtung nicht aufgelöst. Auch der Beobachter gehört zur Welt. Man könnte ihn beobachten, und es ist nicht sicher, daß der Akt der Beobachtung selbst, sein performativer Sinn, auf Voraussetzungen verzichten kann, die im beobachteten Feld gelten. Wenn sie notwendig sind, umfassen sie alle Beteiligten. Wenn die Interpretation in ihrer Bewegung unendlich ist und sich auf einen im Kern leeren Sinn richtet, dann ist es - wie beim Rollen des Steins - der Akteur, auf den sich die Aufmerksamkeit letztlich richtet. Wie er sich fühlt, wohin er geht und wie lange er den Stein noch unverdrossen bewegen wird, das ist dann die Frage. 27

28

Foucault, Les mots, S. 31/32, mit Deutung von Harlizius-Klück, Las Meniflas. Dokumentiert bei Luhmann/Maturana u.a., Beobachter.

VIEL Dupin, Raskolnikow, Ripley: Der abduktive Schluß verschwindet Es gibt in der juristischen Sachverhaltsfeststellung zwei zentrale Zeichen, die aufeinander bezogen sind: den abduktiven Schluß und den geständigen Satz. Zwischen beiden besteht eine merkliche Spannung. Während die Abduktion zu den Formen der Argumentation gehört, schließt das Geständnis die Argumentation ab und besteht möglicherweise nur in einem Satz oder gar nur in einem Wort: guilty. Das Nebeneinander beider Textformen verändert sich jedoch zunehmend in ein Entweder-Oder, eine latente Rivalität. Der abduktive Schluß - der wichtigste kreative Schluß in der Rechtspraxis - verschwindet hinter den Form-Enden des Geständnisses. Diese prozessuale Entwicklung hat eine literarische Parallele, die ich an drei Beispielen demonstrieren will, von denen zwei klassische Anerkennung gefunden haben. Der Detektiv Dupin löst kriminalistische Rätsel durch Abduktion, der Mörder Raskolnikow findet zum geständigen Satz, während beide Spannungsreihen heute von der Erzählung krimineller Aktion in den Hintergrund gedrängt werden. Erzählt wird gegen die alte Tradition des Kriminalromans aus der Perspektive des Täters, und die Erzählerin Patricia Highsmith hat dafür die einfühlsame Figur des Tom Ripley angeboten.

1. Der abduktive Schluß Im Moment ihres Verschwindens wird eine Schlußform bemerkt, die in der spekulativen Semiotik des Charles Sanders Peirce "abduktiv" heißt. Peirce unterscheidet in den Vorlesungen über Pragmatismus drei Typen des Schließens. Zwei davon sind uns auch unter den von Peirce gebrauchten Namen der Deduktion und der Induktion ganz geläufig. Das dritte Wahrnehmungsurteil und damit die dritte Form, Allgemeinheit zu erschließen, wird am kürzesten und zudem mit einem Kunstwort eingeführt, das sich über den Peirce'schen Text hinaus kaum verbreitet hat. Abduktion - definiert Peirce - sei der Prozeß, eine erklärende Hypothese zu bilden,1 und er lobt diese Schlußform sogleich mit dem Satz, die Abduktion sei die einzige logische Operation, die irgendeine neue Idee einführt. 2 Um den Wert einer solchen Neuigkeit einzuschätzen, muß 1

Peirce, Pragmatismus, Nr. 171.

2

Ebd., Nr. 145.

1. Der abduktive Schluß

135

man sich an den zunächst durchaus konservativen Ausgangspunkt in Peirce's Typologie der Schlußformen erinnern. Konservativ ist die Unterscheidung zwischen Resultat, Regel und Fall. Sie liegt den meisten neueren Analytiken zur Argumentation zugrunde. Der "Fair' sei danach der Sachverhalt, den man sich gern als "gegeben" vorstellt. Die Regel, die Peirce "Hypothese" nennt,3 stellt gesetzmäßige Verknüpfungen zwischen der "wenn"- und der "dann"Komponente eines zusammengesetzten Satzes her. Der deduktive Schluß ist so wenig neu, daß man ihn in einem normal lesbaren Text nicht selbständig vorzubringen wagt. Peirce benutzt in den Vorlesungen die Verknüpfung "A ist ein Pferd und A hat braune Farbe". Wenn beides gegeben ist, ist A ein braunes Pferd. 4 Wir wenden uns von derartigen Schlüssen ab. Sie sind zum Erzählen ungeeignet. Platitüden dieser Art reichen aber aus, um einen Sachverhalt aus einem Geständnis abzuleiten. Im induktiven Schließen verbindet die Beobachtung Fälle und Resultate. Die Fragen, die an diese Verbindung gestellt werden, stammen - wie Peirce sagt aus dem Experiment. Es seien "an die Natur gestellte" Fragen5 nach dem Vorhandensein einer Regel. Existiert sie, dann koexistieren Fall und Ergebnis nicht zufällig, sondern notwendig. Das Experiment ist der Test darauf. Nun mag es vergebliche Experimente geben, sie sind aber bei weitem nicht so häufig, wie man denken könnte, wenn man die unvorhersehbaren Ergebnisse bei bloß zufälligem Probieren berücksichtigte. Der Physiker, der im Laboratorium einem neuen Phänomen begegnet, - so unterstellt Peirce - erkläre es nicht mit der Hypothese, daß die Kaiserinwitwe von China zur selben Zeit im Vorjahr ein Wort von mystischer Kraft ausgesprochen habe.6 Jedenfalls - müßte man historisch einschränken - erklärt die von uns "modern" bezeichnete Wissenschaft, in der induktives Schließen eine Rolle spielt, die Neuigkeit eines Phänomens nicht so. "Denken Sie an die vielen Millionen und Abermillionen von Hypothesen, die gemacht werden könnten, von denen nur eine wahr ist; und doch trifft der Physiker nach zwei oder drei oder höchstens einem Dutzend Vermutungen ziemlich genau die richtige Hypothese"7 fordert Peirce auf, und - ohne den Prozeß des angeleiteten Ratens schrittweise vorzustellen - erklärt er den Gesamtzusammenhang als Abduktion. Der abduktive Schluß nimmt beobachtete Resultate zum Anlaß, um über bekannte Regeln auf mögliche Fälle zu schließen. Er kann nicht nur richtig oder falsch, sondern auch gut oder weniger gut sein, weil es auf des Geschick des Forschers ankommt.8 Über den Wert eines abduktiven Schlusses entscheidet nämlich nicht seine Wahrheit, sondern 3

Ebd., Nr. 189.

4

Ebd., Nr. 164.

5

Ebd., Nr. 168.

6

Ebd., Nr. 172.

7

Ebd., Nr. 172.

8

Ebd., Nr. 197.

. Dupin, Raskolnikow, Ripley

136

die mögliche Eignung, über bekannte Zwecke und Hypothesen auf vermutete, aber noch unbekannte Fälle zu stoßen. Aus diesem Grund taucht die Schlußform - wenn auch selten - in den Bereichen der juristischen Dogmatik auf, in denen relativ grobe und allgemeine Zwecksetzungen durch gerichtliche Regeln ergänzt werden müssen. So hat Klaus Lüderssen9 für den Bereich des Wirtschaftsstrafrechts ausnahmsweise den Wert der Abduktion als empirisches Kontrollverfahren hervorgehoben. Ich vertiefe nicht diese Form des abduktiven Schließens, die auf Regelbildung angelegt ist. Insgesamt wird man ohnehin sagen müssen, daß Juristen zwar von der Abduktion Gebrauch machen, aber eine wissenschaftstheoretisch unzureichende Vorstellung von ihr haben.10 Mir geht es um einen ganz speziellen Beobachter mit besonders festgelegten Wahrnehmungsurteilen, den Kriminalisten. Auch das kriminalistische Schließen beruht - so demonstriert die neuere semiologische Literatur - auf Abduktionen.11 Deren Spannungserfolg reicht weit in die Literatur- und Mediengeschichte zurück, nämlich bis ins Jahr 1841, als Edgar Allan Poe in "Graham's Lady's and Gentleman's Magazine" die erste Kriminalgeschichte veröffentlichte.

2. Der Detektiv Auguste Dupin in Poe's "Murders in the Rue Morgue" Poe erfand die Figur des Detektivs, der Verbrechen nicht mit Gewalt bekämpft, sondern mit Vernunft erklärt. 12 Im alten inquisitorischen Verfahren wurden Verbrechen dadurch aufgeklärt, daß man einen Verdächtigen festnahm und ihn folterte, bis er ein Geständnis ablegte. "Gefoltert wurde im Interesse des Gerichtes, nicht um der Wahrheit willen".13 Demgegenüber sind Polizei und Staatsanwaltschaft zur Wahrheitsfindung verpflichtet. Die Polizei - eine seit der französischen Revolution zur Verbrechensaufklärung eingesetzte Behörde - bestand zu Poe's Zeiten gerade 50 Jahre und erweist sich in seinen Erzählungen - wie auch später in der Gattung der Detetektivgeschichten als ahnungslos.14 Mit Ahnungen - nämlich wahren Vermutungen - schlußfolgert dagegen Dupin. Er klärt Verbrechen auf, indem er Indizien findet, die den wahren Ablauf verraten. Die Methode, ihn zu erraten, besteht im abduktiven Schluß.15 9 10 11

12 13

Lüderssen, Erfahrung, S. 118 f. Schulz, Peirce, S. 244 - 272. Schulz, Peirce, S. 266; Eco/Sebeok, Zeichen, S. 28 ff. Leonhardt, Mord, S. 124; Nusser, Kriminalroman, S. 90 f. Schild, Gerichtsbarkeit, S. 162 f.

14

Eco/Sebeok, S. 281.

15

Harrowitz in: Eco/Sebeok, S. 270 - 282.

2. Der Detektiv Auguste Dupin

137

Als der Freizeit-Detektiv Dupin erfährt, daß zwei Frauen auf schreckliche Weise ermordet worden sind und die Polizei schon einen Täter verhaftet hat, beeindruckt ihn das nicht. Er untersucht den Tatort auf ganz andere Kleinigkeiten, semiotisch "Indizien" genannt. Er überlegt, wie das Verbrechen begangen worden sein könnte, und erkennt dabei, daß die Polizei im Dunkeln tappt. Eine Hypothese überführt den wahren Täter. Erst am Ende - im Test auf die Wahrheit - wird der Tathergang erzählt. Zweierlei macht den Reiz der Schlußform aus: ihre Spannung und ihre Distanz zur angeblichen Professionalität der Polizei. Monsieur Dupin erfährt nämlich von den Morden, als er bei seinem Abendspaziergang in die Tageszeitung schaut. Er findet dort den Bericht der Polizei über das beobachtete Ergebnis vor: Um drei Uhr nachts seien die Leute in der rue Morgue durch Schreie geweckt worden. Die von ihnen verständigten Polizeibeamten hätten die Leichen zweier Frauen in einem von innen völlig verriegelten Zimmer entdeckt. Die Leichen seien mit solch großer Kraft zerstükkelt worden, daß man sie kaum noch wiedererkenne. Die Nachbarn wollen auch noch die verschiedenen Stimmen der mutmaßlichen Täter gehört haben. Eine Stimme halten sie für die eines Franzosen, bei der anderen Stimme sind sich alle im unklaren. Unter den Zeugen sind Menschen verschiedener Nationen, aber jeder hält die Stimme für die unterschiedlicher Ausländer, deren Sprache er jeweils noch nie zuvor gehört hat. Die Polizei verhaftet den Geldboten einer Bank, weil er den zwei Frauen am Tag zuvor Geld gegeben hat. Dieses habe er - so meint die Polizei - stehlen wollen, und doch ist das Geld noch im Zimmer vorhanden. Der Täter muß - ohne Geld an sich genommen zu haben - das Zimmer verlassen und es - wie es scheint: nachträglich - von innen verriegelt haben. Das sind die - später klassisch gewordenen - kriminalistischen Rätsel, die dem Detektiv gestellt werden: der Mord ohne Motiv, der Raub ohne Gegenstand.16 Das Rätsel besteht im Hinweis auf Merkwürdigkeiten der Sache, auf Sachen, die sich nicht so verhalten, wie sie scheinen, und die deshalb aufzuklären sind. Dupin ist der erste Aufklärer vom Zeitunglesen, der exemplarische "Nicht-Polizist", der einmal an den Tatort geht und weiß, daß der von der Polizei identifizierte Täter unschuldig ist. Da die Täter aus dem scheinbar verschlossenen Zimmer fliehen konnten, sucht der Detektiv nach einem Ausgang, denn die von ihm für wahr gehaltene Regel lautet: Wenn ein Ausgang verschlossen ist, kann niemand einen Raum verlassen. Tatsächlich ist die Tür von innen verschlossen worden, und die Fenster scheinen zugenagelt zu sein. Dupin entdeckt nun, daß ein Fenster zwar fest verriegelt ist, aber nicht durch den im Fensterrahmen eingehauenen Nagel. Dieser ist abgebrochen, und es gibt eine versteckte Feder, die das Fenster öffnet. Doch selbst für einen sehr gewandten Menschen wäre es sehr schwer, zu dem Fenster hinaufzuklettern. Das führt 16

Nusser, Kriminalroman, S. 91.

138

. Dupin, Raskolnikow, Ripley

Dupin zur Lösung des weiteren Problems, wer nämlich der andere Täter mit der undefinierbaren Stimme gewesen sein könnte. Um die Lösung zu finden, analysiert der Detektiv die Zeugenaussagen: Ein Gendarm sagt, er habe die Stimme nicht verstanden und wisse auch nicht, ob es ein Mann oder eine Frau gewesen seien; er habe aber geglaubt, der zweite Täter sei ein Spanier gewesen. Ein zweiter Zeuge sagt aus, es sei ein Italiener gewesen, obwohl er nicht mit der italienischen Sprache vertraut sei. Ein Spanier meint, die Stimme eines Engländers gehört zu haben, aber er urteile nur nach dem Tonfall, denn eng- lisch sprechen könne er nicht. Der dritte Zeuge, der Engländer war, hält die schrille Stimme für die eines Deutschen, aber Deutsch habe er noch nie gesprochen. Ein weiterer Zeuge glaubt, die zweite Stimme sei die eines Russen gewesen. Mit einem Russen habe er sich aber noch nie unterhalten. Jeder Zeuge hat eine andere Meinung über die zweite Stimme. Schließlich findet der Detektiv noch Tierhaare in der Hand einer der beiden Leichen. Diese Haare sind orangefarben und könnten von einem Affen stammen. Dupin informiert sich, ob der Affe vielleicht aus einem Zoo entflohen sein könne. Da das aber nicht der Fall ist, vermutet er, daß der Besitzer ein Matrose sei, der den Affen aus Afrika in einem Überseeschiff mitgebracht hat und ihn in Paris verkaufen wolle. Er versucht deshalb, eine Falle zu stellen, und gibt eine Zeitungsanzeige auf. Tatsächlich meldet sich ein Matrose bei Dupin. Er gesteht und erzählt den Ablauf der Geschichte: Ihm sei sein Orang-Utan entflohen, als der Affe sich rasieren wollte, und er sei in das Haus der später getöteten Frauen eingestiegen. Zunächst habe der Affe die Opfer nur mit dem Messer rasieren wollen, aber als die zwei Frauen zu schreien angefangen hätten, habe er sie aus lauter Wut umgebracht, ohne daß der Besitzer selbst etwas habe machen können. Dann sei er durch das Fenster verschwunden und habe es dabei geschlossen, was ein bloßer Zufall gewesen sei. Das Geständnis bestätigt den abduktiven Schluß. Die Erzählung gibt zwei irreführende Resultate vor: einmal die Zeugenaussagen, zum anderen das angeblich völlig verriegelte Zimmer. Alle Zeugen hielten den Täter für einen Ausländer. Wenn der Leser allerdings die Zeugenaussagen aufmerksam vergliche, würde er bemerken, daß keiner der Zeugen die Sprache des Täters beherrscht und alle auf eine ihnen unbekannte Nationalität schließen. Auch hier gilt eine Regel,17 die nämlich zu der Sachverhaltsannahme führt, daß es sich bei dem, was der Täter von sich gibt, überhaupt nicht um Sprache handelt. Ansonsten hätte unter den vielen befragten Zeugen wenigstens einer die Sprache sicher erkennen müssen. Da diese Vermutung aber eine Reihe überraschender Voraussetzungen hat, an die man nicht sofort denkt, kommt man auch nicht auf die Hypothese des Detektivs, lautend: Wenn 17

10 "Spielregeln" zählen Buchloh/Becker (Detektivroman, S. 81 ff.) für die Detektiverzählung.

3. Rodion Raskolnikow

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keiner der Zeugen die Sprache erkannt hat - obwohl alle verschiedenen Nationen angehören -, dann kann es kein Mensch gewesen sein. Das noch größere, klassisch kriminalistische Rätsel stellt Poe dem Leser in der angeblichen Unmöglichkeit zu entkommen. Wenn es in der Geschichte heißt, der Raum sei von innen verschlossen, dann meint der Leser zunächst zwangsläufig, der Täter müsse noch im Zimmer sein. Wenn aber niemand außer den Leichen vorgefunden wird, müssen die Täter doch einen Ausweg gefunden haben. Poe läßt Dupin ein angeblich beobachtetes Resultat verändern und zwei weitere hinzufügen, ohne daß der Leser es vorher weiß. Dupin untersucht zunächst den Tatort und entdeckt, daß das Zimmer doch nicht richtig verschlossen ist und der oder die Täter durch das Fenster entkommen konnten. Außerdem bemerkt er, daß der Abdruck der Hand in dem Gesicht der Leiche viel größer war als der einer normalen menschlichen Hand. Schließlich findet der Detektiv noch orangefarbene Haare in der Hand der Leiche. Anhand von vier Indizien - der Sprache, dem Handabdruck im Gesicht, den Haaren und dem geschickten Klettern - vermutet er dann, daß es eventuell ein Affe sein könnte, und zwar ein Orang-Utan. Das überrascht den Leser am Ende, und diesen Überraschungseffekt haben sich andere Autoren zum Vorbild für Kriminalromane genommen, in denen generell so erzählt wird, daß der Leser den Täter nicht errät, obwohl er alle für die Abduktion wichtigen Resultate kennt. Alle diese Romane enthalten zwar ein Geständnis, aber dieses Geständnis zielt nur darauf ab, den ahnungslosen Leser, der nicht mitgedacht hat, aufzuklären. Das Geständnis beendet die Form des Schlusses, nicht mehr.

3. Die Transformation eines Geschehens in den geständigen Satz: Rodion Raskolnikow Das Geständnis hat aber noch eine andere, gewissermaßen moralische Aufgabe, die Juristen hervorheben, wenn sie sagen, ein Geständnis mildere die Strafe. Ohne diese strafmildernde Wirkung wäre Angebote derart, ein Verzicht auf Bestreiten oder Leugnen und eine geständige Einlassung komme dem Angeklagten zugute, gar nicht verständlich. Das Geständnis konfrontiert denjenigen, der gesteht, mit der Last zu erzählen, und diese Last ist nicht gering. Sie wirkt selbst im moralischen Sinne. Um das zu verstehen, muß man sich einmal klarmachen, was es eigentlich heißt, einen Tatvorwurf oder eine Geschichtserzählung abzustreiten. In einer einfachen und dennoch im Verfahren wirksamen Variante kann das heißen, zum Tatvorwurf zu schweigen oder ihm mit einfacher Negation zu begegnen: nicht ich, nicht das, so nicht. Die einzelnen Stadien der Handlung - die in der alten Rhetorik status heißen - müssen dann vom Gericht zweifelsfrei widerlegt werden.18 Nun entfaltet das einfache Abstreiten nur dann Wirksamkeit, wenn Richter und Staatsanwälte so viel an 18

Seibert, Topos und Status, S. 83.

140

V I . Dupin, Raskolnikow, Ripley

situativer Phantasie aufbringen, daß jedenfalls eine andere Möglichkeit des Verlaufs plausibel erscheint. Für den häufigen Fall des einfachen und unwirksamen Abstreitens reicht es zu dieser Phantasie nicht. Denn in solchen Fällen beruht der Tatvorwurf auf einer Erzählung anderer tatbeteiligter Zeugen oder Mitbeschuldigten. Es gibt schon eine vollständige Version des Ablaufs. Schließlich bleiben auch immer Reste eines möglichen Zweifels. Sie führen keineswegs zum Freispruch, denn - wie es in einer historischen und etwas dunklen Formulierung des Bundesgerichtshofs in Strafsachen heißt19 - der "bloß theoretische" Zweifel dürfe nicht dazu führen, daß das Gericht seine Überzeugung zurückstellt. Das Obergericht überläßt es der Theorie, den bloß theoretischen Zweifel näher zu beschreiben. Das Geständnis in seiner vollständigen Form umfaßt demgegenüber wesentlich mehr als die schlichte Zustimmung oder Zurückweisung eines Tatvorwurfs (guilty / not guilty). Die eigentliche und wahre Feststellung eines Sachverhalts läßt sich nach einer Textvorgabe, die den Anfang des modernen psychologischen Romans begründet, nur mit dem finalen performativen Satz beginnen, der lautet:20 (21) Ich habe damals die alte Beamtenwitwe und ihre Schwester Lisaweta mit dem Beil erschlagen und beraubt.

Nur dieser Satz zählt als Beweis. Er wird auf dem Polizeirevier zu Protokoll erklärt und findet damit Eingang in die rechtliche Codierung im Schema Mord/Todesfall. Dostojewkijs Geschichte über den Mörder Rodion Raskolnikow bezieht ihre Spannung aus dem Ringen um die Zuordnung des Codes. Gerungen wird um den in der ersten Person gehaltenen, geständigen, rechtsförmig weiter zu verarbeitenden Satz, der im wesentlichen Teil lautet: Ich habe erschlagen. Denn der Tatverlauf selbst ist für Beobachter und auch für Detektive von Anfang an bekannt. Er wird dem Leser aus der Beobachterperspektive erzählt, ohne daß Rechtszuordnungen dabei eine Rolle spielen:21 (22) Er zog das Beil ganz heraus, schwang es mit beiden Händen, kaum noch bei Bewußtsein, und ließ es, fast ohne Anstrengung, fast mechanisch, mit dem Rücken auf den Kopf der Alten niederfallen. Er hatte das gleichsam ohne jeden Kraftaufwand getan. Doch sobald er einmal zugeschlagen hatte, kehrte ihm auch seine Kraft zurück.

Diese Beobachtungssätze, denen weitere Sätze zu Raub und Tötung folgen, werden sehr langsam in den abschließenden Bekenntnis- und Geständnissatz (1) überführt. Denn zwischen der Beschreibung eines Geschehens und seiner juristischen Codierung liegt ein Abstand, den nur der Roman ausmißt und 19

BGHNJW 1951, S. 122.

20

Dostojewskij, Schuld und Sühne, S. 680; vgl. dazu Schmidhäuser, Verbrechen und Strafe, S. 46. Dostojewskij, ebd., S. 101.

3. Rodion Raskolnikow

141

dessen Motive er uns noch nicht einmal mitteilt, sondern vorzustellen auffordert. In diesem Prozeß vermitteln abduktive Herausforderungen eine Spannung, die sich in Fragen zusammenfassen läßt: Wer wird wann aufgrund welcher Umstände Raskolnikow als Mörder bezeichnen? Die Antwort auf diese Frage wird dadurch herausgefordert, daß der Täter fortlaufend eigene Indizien liefert, aus denen sich nicht nur schließen läßt, daß er der Täter ist, sondern mit denen er selbst bewußt diesen Schluß nahelegt, wenngleich manifest abwehrt. Das beginnt am Abend nach der Tat, als Raskolnikow die Zeitungen studiert und seinen alten Bekannten Sametow trifft. 22 (23) "Sie möchten also wissen, was ich in den Zeitungen gelesen, was ich darin gesucht habe? Schauen Sie nur her, wie viele Nummern ich mir bringen ließ! Das ist doch verdächtig, wie?" "Na, erzählen Sie es doch!" "Sie müssen aber die Ohren spitzen!" "Was denn noch?" "Später will ich Ihnen sagen, mein Lieber, warum Sie die Ohren spitzen sollen, jetzt aber erkläre ich Ihnen...Nein, besser gesagt: Ich gestehe1...Nein das ist auch nicht das Richtige: Ich gebe eine Aussage zu Protokoll, und Sie nehmen sie auf jetzt habe ich's! Ich gebe also zu Protokoll, was ich gelesen, wofür ich mich interessiert, was ich gesucht...und gefunden habe". Raskolnikow kniff die Augen zusammen und wartete. "Ich habe - und zu diesem Zweck bin ich hergekommen die Nachrichten über den Mord an der alten Beamtenwitwe gesucht", sprach er schließlich fast flüsternd, während er sein Gesicht ganz nahe an das Sametows heranbrachte. Sametow starrte ihn an, rührte sich nicht, zog auch sein Gesicht nicht zurück. Am sonderbarsten fand Sametow später, daß dieses beiderseitige Schweigen eine volle Minute dauerte und daß sie eine volle Minute einander in die Augen sahen. "Na und? Was ist denn dabei, wenn Sie das gelesen haben?" schrie er plötzlich in ungeduldiger Entrüstung. "Was kümmert mich das! Was ist denn dabei?" "Das ist doch jene Alte", fuhr Raskolnikow in dem gleichen Flüstern fort, ohne sich bei dem Ausruf Samtows auch nur zu rühren, "von der Sie damals im Revier, wie Sie sich erinnern werden, erzählten; ich fiel dabei in Ohnmacht. Nun verstehen Sie jetzt?"

Die im ersten Abschnitt geschilderten Beobachtungen gehören später neben anderen zu den psychologischen Indizien des Untersuchungsrichters, der von diesem Gespräch erfährt. Enthalten sind die Elemente für einen weniger wahrscheinlichen, aber möglichen abduktiven Schluß. Das Interesse, das jemand hier äußert, entstammt nicht mehr der Neugier des Zeitungslesers. Zudem wird das Motiv fürs Zeitunglesen in einer ungewöhnlichen, spielerisch an die juristische Codierung angelehnten Wortwahl zum Ausdruck gebracht. Das "Erklären" wird versuchsweise in ein "Gestehen" überführt und dann als "zu Protokoll geben und aufnehmen" zurückgenommen. Der Sprecher gesteht 2

Ebd., S.

.

142

VÏÏI. Dupin, Raskolnikow, Ripley

noch nicht, er will noch nicht gestehen, sondern erst einmal Sätze äußern, bei denen der Aufnehmende "die Ohren spitzen" muß. Aber der in diese Rolle gedrängte Zuhörer lehnt es ab aufzunehmen. Er wehrt Erklärung wie Geständnis ab und kategorisiert anders.23 "Sie sind entweder verrückt oder..." nahm Sametow das Gespräch wieder auf und hielt dann inne, als hätte ihn ein plötzlicher, unversehens aufgetauchter Gedanke betroffen gemacht. "Oder? Was -, oder? Nun? Na, sagen Sie es doch!" "Nichts", antwortete Sametow. "Das ist alles Unsinn".

Die zweifach gegabelte Möglichkeit wird in der zweiten entscheidenden und richtigen Variante hier noch nicht ausgesprochen. "Sie sind entweder verrückt oder..." läßt noch dem Leser die Schlußfolgerung und macht deutlich, daß der Autor zu diesem Zeitpunkt den Schluß auf die Tat noch als fernliegenden "Unsinn" darstellen möchte. Wie nahe zur Tat und wie zwanghaft auf die Wiederholung und den Nachvollzug des Erlebten eingestimmt, der Täter sich äußert, wird erst einige Seiten später deutlich, als Dostojewskij ihn an den Tatort zurückkehren und die Wohnung noch einmal in der Erinnerung inspizieren läßt. Inzwischen wird die Wohnung von Anstreichern geweißelt, die sich über den Besuch wundern.24 (24) "Was wollen Sie?"fragte er plötzlich. Statt zu antworten, stand Raskolnikow auf, ging in den Vorraum, faßte nach dem Klingelgriff und zog. Dasselbe Glöckchen, der gleiche blecherne Klang! Er zog ein zweites, ein drittes Mal; er lauschte und erinnerte sich. Die damalige qualvolle, furchtbare, entsetzliche Empfindung kehrte ihm immer klarer und lebhafter ins Gedächtnis zurück; er schrak bei jedem Klingeln zusammen, und dabei wurde ihm immer wohler zumute. "Was wünschen Sie denn? Wer sind Sie?" rief der Arbeiter und kam zu ihm heraus. Raskolnikow trat durch die Tür zurück in die Wohnung. "Ich will die Wohnung mieten", sagte er, "und sehe sie mir an". "Nachts werden Wohnungen nicht vermietet; und außerdem müßten Sie mit dem Hausknecht kommen." "Haben Sie den Boden gewaschen? Wird er neu gestrichen?" fragte Raskolnikow weiter. "Ist kein Blut mehr da?" "Was für Blut?" "Hier hat man doch die Alte und ihre Schwester erschlagen. Da gab es eine ganze Blutlache." "Wer bist du eigentlich?" rief der Arbeiter beunruhigt. "Ich?" "Ja!" 23

Ebd., S. 208.

24

Ebd, S. 221.

3. Rodion Raskolnikow

143

"Das möchtest du wohl gerne wissen?... Komm mit aufs Polizeirevier, dort werde ich es sagen."

Geschildert wird eine Schlüsselszene der Selbstentdeckung, die viel häufiger vorkommt, als der fiktionale Text vermuten ließe. Die Rückkehr des Täters an den Tatort gehört bekanntlich zu den wiederkehrenden, rational nicht, aber psychologisch leidlich zu erklärenden Indizien. Die affektiv stark besetzte Szene des Verbergens, der Angst vor der Entdeckung und das Gefühl der eigenen Hilflosigkeit begleiten auch den erfolgreichen Täter, den perfekten Mörder wie Raskolnikow. "Das Verhalten nach der Tat" gehört zu den Progammelementen bei der juristischen Beurteilung. In der fiktionalen Darstellung reicht das Verhalten nach der Tat bis zu den Bemühungen, den Verdacht anderer zu erfassen, zu verhindern oder jedenfalls einzuschätzen. Ein weiterer Schlüsseltext schildert eine solche Situation. Nachdem Raskolnikow sich bei seinem nächtlichen Besuch gegenüber den Anstreichern mit seiner Adresse zu erkennen gegeben hat, gibt es jemanden, den "Kleinbürger", der diesem Hinweis nachgeht, und zwar nicht zufällig. (25) "Sie haben ... den Hausknecht ... nach mir gefragt...?" sprach ihn Raskolnikow endlich leise an. Der Kleinbürger gab keine Antwort und sah ihn nicht einmal an. Wieder schwiegen beide. "Was wollen Sie denn? ... Sie fragen nach mir ... und dann schweigen Sie...was soll denn das?" Raskolnikow versagte die Stimme, und die Worte wollten sich gleichsam in seinem Munde formen. Diesmal hob der Kleinbürger den Blick und sah Raskolnikow drohend und finster an. "Mörder!" stieß er plötzlich leise und deutlich hervor. Raskolnikow ging neben ihm weiter. Seine Beine waren plötzlich ganz schwach geworden; Kälteschauer liefen ihm über den Rücken, und sein Herz schien auszusetzen, als wäre es ihm aus der Brust gerissen worden. So liefen sie etwa hundert Schritt nebeneinander her, wiederum in völligem Schweigen. Der Kleinbürger würdigte ihn keines Blickes. "Aber...was...was reden Sie da...Wer ist ein Mörder?" murmelte Raskolnikow kaum vernehmlich. "Du bist der Mörder", antwortete der andere, noch nachdrücklicher und gleichsam mit einem Lächeln haßerfüllten Triumphes, und abermals starrte er herausfordernd Raskolnikow in das blasse Geischt und in dessen leblose Augen.

Der Textabschnitt25 liefert den Zuschreibungssatz. Nicht mehr die Frage: Wer bist Du eigentlich?, wie sie die Anstreicher gestellt haben, und auch nicht die offene Frage: Wer ist ein Mörder?, deren Antwort Raskolnikow kennt, sind wesentlich, sondern die auf den Rechtscode gerichtete Zuschreibung: Du bist ein Mörder. 25

Ebd., S. 346.

VIO. Dupin, Raskolnikow, Ripley

144

Von dieser Zuschreibung zum Geständnis: Ich habe erschlagen (und bin deshalb ein Mörder) sind noch weitere Transformationsschritte erforderlich. Dostojewskij deutet sie im Dialog mit der Prostituierten und Freundin Sonja an. Der Dialog erlaubt den Wechsel zwischen gegenseitiger Entdeckung der Beziehungsebene und dem grausamen Geständnissatz.26 (26) "Ich sagte, als ich ging, ich nähme vielleicht für immer von dir Abschied, doch wenn ich heute noch einmal käme, würde ich dir sagen... wer Lisaweta getötet hat." Sie erzitterte plötzlich am ganzen Körper. "Nun, und jetzt bin ich gekommen, es dir zu sagen." "Haben Sie das gestern denn wirklich..." flüsterte sie mit Anstrengung. "Wissen Sie es denn?" frage sie dann rasch, als ob sie auf einmal zur Besinnung gekommen wäre. Sonja atmete schwer. Ihr Gesicht wurde immer blasser. "Ich weiß es." Sie schwieg einen Augenblick. "Hat man ihn denn gefunden?" fragte sie schließlich schüchtern. "Nein, man hat ihn nicht gefunden." "Wieso wissen Sie dann davon?" frage sie kaum hörbar, nach einem Schweigen, das wieder fast eine Minute gedauert hatte. Er wandte sich zu ihr und musterte sie starr. "Rate einmal", antwortete er dann mit dem gleichen verzerrten, kraftlosen Lächeln wie vorhin. Es war, als krampfte sich ihr ganzer Körper zusammen. "Aber... warum ... warum ... erschrecken Sie mich so?" stieß sie endlich hervor und lächelte wie ein Kind. "Offenbar bin ich mit ihm gut befreundet, wenn ich es weiß" fuhr Raskolnikow fort, während er ihr noch immer unentwegt ins Gesicht sah, als hätte er nicht mehr die Kraft seinen Blick abzuwenden. "Er wollte .... Lisaweta ... gar nicht töten ... er tötete sie aus Versehen ... er wollte die Alte töten ... als sie allein war ... und ging hin ... doch plötzlich kam Lisaweta ... und da hat er ... auch sie erschlagen."

Der nächste Schritt auf dem Weg zum geständigen performativen Satz in der Ich-Form liegt in der Objektivierung und in der Beschränkung auf den Handlungsteil, den "er" eigentlich gar nicht wollte und nur "aus Versehen" tat. Es geht um "ihn". "Ihn" hat man zwar nicht gefunden, aber Raskolnikow kennt "ihn". Nichts wird darüber gesagt, was er mit der Alten vorhatte und warum er sie umbrachte, aber Lisaweta jedenfalls tötete er "aus Versehen". Gegen diese Deutung erhebt sich kein Protest, es folgt auch keine Nachfrage; vielmehr ist die Minderung der Zurechnung genau der Weg, den der Untersuchungsrichter am Ende - ganz modern in seinen Verhandlungsvorschlägen Raskolnikow als Ausweg und Milderungsgrund im Falle eines Geständnisses anbietet und empfiehlt. Die scheinbare Aufforderung: Rate einmal verbirgt le26

Ebd., S. 524.

4. Geständnis und abduktiver Schluß

145

diglich das Geständnis hinter dem Wunsch nach einer erleichternden, aufmunternden Zuwendung. Auch sie kommt nicht. Raskolnikow muß den Weg zum Ich-Satz allein gehen, und er braucht - bis er ihn aussprechen kann - noch die Demonstration des abduktiven Schlusses. Sie ist Sache des Untersuchungsrichters, der seine Ermittlungen zusammenfaßt.27 (27) Und als ich damals die Geschichte von dieser Türglocke hörte, war ich geradezu starr und fmg sogar zu zittern an. Da hast du ja deine kleine Tatsache, dachte ich. Das ist es! Und weiter dachte ich nicht darüber nach; ich wollte einfach nicht. Tausend Rubel aus meiner eigenen Tasche hätte ich in diesem Augenblick dafür gegeben, wenn ich Sie mit eigenen Augen hätte beobachten können, wie Sie damals hundert Schritte neben dem Kleinbürger hergingen, nachdem er Ihnen das Wort 'Mörder· ins Gesicht geschleudert hatte, und wie Sie ihn diese ganzen hundert Schritte nichts zufragen wagten!... Nun, und jener Kälteschauer im Rückenmark? Jenes Türgeklingel im halben Fieberwahn? Mein lieber Rodion Romanytsch, wie dürfen Sie sich nach all dem wundern, daß ich damals mit ihnen solche Scherze aufführte?

Elemente der Abduktion sind die in (24) und (25) geschilderten Situationen. Jemand stellt am Tatort merkwürdige Fragen und fordert auf diese Weise zum Rückschluß auf das Motiv seines Fragens auf. Der gleiche Jemand fragt einen Dritten, der ihn anschuldigt, wen er mit der Anschuldigung meine. Zwei Regeln müssen dabei vom Gericht unterstellt werden, damit die Sequenzen zu den kleinen Tatsachen werden, als die sie Porfirij einführt. Die eine geht dahin, daß derjenige, der in einer fremden Wohnung mehrfach und offensichtlich ohne Zweck klingelt, ein anderes, verborgenes Motiv haben muß - ein nicht sonderlich überraschender Schluß, der den Hinweis auf das Gesuchte aus der weiteren Sequenz schöpft. Dort geht die alltäglich erfahrene Regel dahin, daß sich deijeinge, der angeschuldigt wird, gegen die Anschuldigung wehrt und sie als falsch bezeichnet, während Raskolnikow im sich Beispiel (25) nach längerer Zeit (auch in (23) dauert es geraume Zeit, bis Raskolnikow Sametow ansieht) erkundigt, wer denn nun gemeint sei. Die Vielzahl der möglichen Bedeutungen wird auf eine Alternative reduziert, die der Täter von vornherein fürchtet, deren Annahme er erwartet, wobei nur unklar ist, wie lange es dauert und welche Umstände zu dieser Annahme als ausreichend angesehen werden. Liegen sie vor, so ist der Beweis eibracht.

4. Geständnis und abduktiver Schluß im Rechtscode Die gesamte subtile Folgerungskunst wird im Verfahren auf schlichte zweiwertige Ergebnisse zurückgeführt: erwiesen / nicht erwiesen, erheblich / ohne Bedeutung, verurteilt / freigesprochen. Es scheint, daß man zu einem solchen 27

Ebd., S.580.

10 Seibert

. Dupin, Raskolnikow, Ripley

146

Ergebnis auch anders als durch Schlußverfahren gelangen kann. Man kann würfeln, man kann bestechen. Dabei hat historisch die Variante des Bestechens die größere Attraktivität, weil der direkte Zugriff aufs Ergebnis von denjenigen erstrebt wird, die auch ein Interesse am Ergebnis haben. Wer dem Zufall des Würfels gelassen entgegensieht, bringt den Willen zur Wahrheit mit sich. Er kann auch abwarten, wie die Codierung nach Recht und Unrecht ausfallen wird. Er ist offen für Entdeckungen.28 Der abduktive Schluß erlaubt solche mehr oder weniger tragfähigen Entdeckungen, ist aber - um das endgültige, das wirkliche und wahre Ergebnis zu erbringen - auf einen Test im Handeln angewiesen, wenigstens auf kleine Hinweise wie auf das Versteck der Beute, so wie es Dostojewkijs Untersuchungsrichter für den Fall des Selbstmords des Beschuldigten erbittet. So lange man solche Hinweise nicht erhält, bleibt ein Rest von Zweifeln. 29 Zweifelhaft ist auch, ob ein solcher Zweifel bloß theoretisch genannt werden muß oder doch eine plausible Alternative nahelegt. An dieser Stelle öffnet sich das Verfahren für die Frage, ob anstelle eines Schlusses der geständige Satz ausgehandelt werden kann. Der abduktive Schluß verschwindet, wenn die Beteiligten die Zeit und die sachliche Anfechtbarkeit eines Schlußverfahrens zugunsten eines codierten Satzes vermeiden wollen. Unter forensischer Perspektive kann selbst Dostojewskijs Raskolnikow so verstanden werden. Der Untersuchungsrichter macht dem von ihm Beschuldigten nämlich ein Angebot: Ein sofortiges Geständnis zu einem Zeitpunkt, wo von Amts wegen noch ein anderer (dessen Unschuld Porfirij freilich längst erkannt hat) in Untersuchungshaft gehalten werde, wirke sich strafmildernd aus; darüber hinaus könne der geständige Täter, der die Umstände des Mords schildere, auf die Zubilligung von Unzurechnungsfähigkeit setzen. So läßt es Dostojewskij auch geschehen, denn so hat er seine eigene Verurteilung zu Zwangsarbeit im zaristischen Rußland ebenfalls erfahren. Die subjektive Tatseite wird ausgehandelt: ein höchst modernes Verfahren, das keiner Schlußformen auf den Fall bedarf, sondern nur nach dem Ergebnis fragt. Es bleibt noch zu überlegen, ob das Aushandeln eines Ergebnisses dem Schluß auf den Fall nicht am Ende vorzuziehen ist. Zunächst interessieren aber die Bedingungen, die ein abduktives Schlußverfahren benötigt, um praktiziert zu werden. Der Zweifel muß ausgehalten werden. Diese Maxime konkurriert zumindest mit der Zweifelsfreiheit, in die eine juristische Darstellung das Ergebnis kleidet. Die dargestellte Zweifellosigkeit gehört zu den häufig beschriebenen 3 0 und gelegentlich beklagten 31 Effekten der juristischen Codierung. Mit Hilfe einer Verdopplung der Sprachform wird in die normale

28

29

Luhmann, Recht, S. 209. Bonfantini/Proni, Raten, S. 199. Martineau, discours, S. 91 - 108. Lautmann, Justiz, S. 164 f.

4. Geständnis und abduktiver Schluß

147

Sprache eine manchmal fachlich genannte weitere Sprachebene32 eingezogen, die ihrerseits mehrfach gestuft ist. Das Darstellungsprinzip ist an sich einfach. Die Darstellung gebraucht auf allen Stufen Alternativen. Denn der Code enthält nur Zuordnungsregeln, die nach semiotischem Verständnis einen (nicht in der Programmform dargestellten) Inhalt mit einem (im Rahmen des Programms besonders eingeführten) Ausdruck verbinden. Charakteristisch für das Recht ist die Sprachbindung auf beiden Seiten, was es manchmal schwierig macht, überhaupt zu sehen, daß es sich um einen Code und um eine binäre Verteilung der Codewerte handelt. Für Juristen und Nichtjuristen sind die Zuordnungen am unteren Rand des Programms noch am ehesten erkennbar und nachvollziehbar. Man lernt oder erfährt, daß Hunde Sachen und Aktiengesellschaften Personen sind, daß - kurz gesagt - Juristen von einem Turm ausschließlich Personen und Sachen und nichts anderes sehen. Das erscheint dem Beobachter einfach, vielleicht zu einfach, ist aber als Regelform erlernbar. Die Codierung ist mit der ersten Stufe der Zuordnung von Phänomen und Rechtswort aber nicht beendet. Sie wird innerhalb der dann bereits eingeführten juristischen Codierung verkompliziert, indem Schadensersatz für die Beschädigung einer Sache beispielsweise in anderer Form als bei Verletzung einer Person zu leisten ist. Weshalb und insbesondere wann es am Ende rechtens sein kann, für die Behandlung eines Hundes (nach Anfahren durch ein Auto etwa) mehr Geld zu zahlen als für die Neuanschaffung desselben Hundes, ist durch Codeoperationen im Recht zwar ausdrückbar, aber nicht vorhersagbar. An dieser Stelle schleichen sich - unbemerkt nach Einführung der binären Codierung - wieder abduktive Wahrscheinlichkeiten ins System ein. Dennoch gibt sich die Darstellung auch am Ende stringent. Entweder liegt ein zum Schadensersatz verpflichtender Tatbestand vor, oder er liegt nicht vor; entweder ist jemand für den Zustand einer Sache verantwortlich, oder er ist es nicht.33 Juristen rechtfertigen diese binäre Darstellung der Welt gelegentlich mit dem Hinweis, so sei die Welt eben. Keine Frau sei ein bißchen schwanger. Damit wird aber nur die Trennung zwischen der Welt der Erscheinungen und ihrer juristischen Codierung verdeckt. Es gibt in der Welt der Erscheinungen zweifellos polare Entwicklungen, Dualitäten, die von vergleichsweise geringfügigen Auswahlen abhängig sind - "Bifurkationen" genannt mit einem von Niklas Luhmann34 in der Theoriediskussion wiederbelebten Wort. Die Binarität der Darstellung erfaßt etwas anderes, nämlich den Modus der Codierung, die der Sache selbst ein weiteres künstliches Element hinzufügt. Es lenkt davon ab, daß fast alle juristischen Schlüsse auf das Vorliegen oder Nichtvorliegen eines Tatbestands in ihrer Genese ein bißchen plausibel sind; wären sie 3 2

Ballweg, Rhetorik, S. 50.

3 3

Luhmann, Recht, S. 174 -187.

3 4

Ebd., S. 130 f.

10»

148

V

Dupin, Raskolnikow, Ripley

vollständig absurd, schwiege der Rhetor. Der abduktive Schluß liefert das Musterbeispiel für eine graduell abgestufte, mehr oder weniger plausible juristische Begründung. Aus dem Umstand, daß jemand im Kaffeehaus die Nachrichten über einen Mord heraussucht und vergleicht, kann man nur unter Heranziehung weiterer zusätzlicher Beobachtungen auf den Fall schließen, daß der Leser der Mörder sei. Solche zusätzlichen Beobachtungen mögen das gesteigerte Interesse, die Erzählsucht oder die Detailkenntnis des Lesers sein, wie sie die vorangegangene Darstellung tatsächlich vermittelt. Aber solche Beobachtungen muß man machen, man muß wahrnehmen, was ein Umstand sein könnte, und man darf für ein gesteigertes Interesse keine unrealistischen Maßstäbe anlegen und sich bei seiner Wahrnehmung nicht mit möglichen Beschwichtigungen sogleich selbst beruhigen, da sei nichts Süchtiges; was bekannt sei, werde das Allgemeine sein. Deshalb - läßt Dostojewskij den Untersuchungsrichter sagen - würde er aus seiner eigenen Tasche tausend Rubel geben, könnte er mit eigenen Augen sehen, wie Raskolnikow tausend Meter schweigend neben dem Kleinbürger hergelaufen sei, nachdem dieser ihm den Mordvorwurf auf den Kopf zu gemacht hatte. Von solchen Beobachtungen reicht eine Skala der Plausibilität bis zu dem kaum verhüllten, aber dennoch nicht ausgesprochenen Geständnis: Ich weiß, was der Mörder wollte, obwohl man ihn bisher nicht gefunden hat, denn ich bin mit ihm gut bekannt (dice: ich bin es selbst). Die abduktiven Schlußfolgerungen breiten mithin das Feld für Skalierungen aus, und die Entdeckung, wie weit verbreitet Skalierungen in der Praxis der Sachverhaltsfeststellung tatsächlich sind, schließt es aus, die binäre Teilung als Anleitung zu verstehen, wie man zu Ergebnissen kommt und wie sich Ergebnisse in der Welt verhalten. Es handelt sich um nicht mehr und nicht weniger als die im übrigen aus der Rhetorik überkommene Darstellungsform für anderweit gefundene Ergebnisse.

5. Ripley under ground / under water: Das Verschwinden des abduktiven Schlusses Wir wagen vom Wahrheitsgehalt der Abduktion immer weniger Gebrauch zu machen, weil die Maßstäbe für Normalität ebenso wie die Regeln des gewöhnlichen, auf wahrscheinliche Fälle gerichteten Schließens als unsicher dargestellt werden. Die Leseerwartungen haben sich geändert. Keineswegs erhoffen wir mehr die Überführung des Täters und die Enträtselung der schrecklichen Tat. Wir sind gespannt, ob der Autor eine soziale Überraschung präsentieren und das Gewöhnliche ins Licht des Rätselhaften stellen kann. Wo Auguste Dupin, Mr. Holmes oder Hercule Poirot Regeln des sozialen Verhaltens unterstellten, gähnt in der modernen Kriminalliteratur der Spielraum des Absurden, neben dem dann durchaus noch Erwartungen koexistieren, wie sie das bürgerliche zivile Verhalten begleiten. Neben dem Gewohnten residiert das er-

5. Ripley under ground

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schreckend Unwahrscheinliche. Damit fehlt dem abduktiven Schluß das wichtige Verbindungsglied, die in der sozialen Gewohnheit liegende Verhaltensregel, die erst eine Beobachtung als Ergebnis eines ganz bestimmten, nicht zufälligen Vorgeschehens erkennbar macht. Insbesondere der amerikanische Kriminalroman hat an die Stelle elaborierter Schlußformen die rasche Handlungsfolge gesetzt, der Detektiv - wenn es ihn überhaupt gibt - muß selbst aktiv werden, er muß wegfahren, zuschlagen und erschießen, überlegen muß er nur noch nachträglich, und auch die abschließende Überlegung, die Enthüllung, wird nicht selten ausgespart, weil nichts mehr enthüllt werden muß. Die kriminelle Aktion ist von vornherein klar - dem Leser jedenfalls. Dieser Kunstgriff ist auch Dostojewskij geschuldet, aber von der Transformationsspannung des Raskolnikow ist nichts übernommen. Zunächst verschwindet der abduktive Schluß, dann der geständige Satz. Es fällt nicht leicht, ein Textbeispiel zu zitieren, das ähnlich exemplarisch wie Dupin einerseits und Raskolnikow andererseits auf die juristische Textform einwirkt. Es gehört sogar zu den oft gesagten und geglaubten Allgemeinplätzen, daß der zeitgenössische literarische Text und die juristische Gebrauchsliteratur nicht mehr aufeinander bezogen seien, manchmal mit einem bedauernden Unterton im Hinblick auf die Kulturferne des Rechts35 geäußert, dann wieder mit einem eher positiv befreienden Akzent für die Genauigkeit36 oder Funktionalität des Rechts37 festgestellt. Ich will zum Schluß ein drittes und letztes Romanbeispiel zitieren, das auch Juristen beschäftigt hat und in der Gebrauchsliteratur des Kriminalromans einen Typ anschaulich macht, der Fortsetzungen findet: die Figur des Tom Ripley. Es ist keine Frage, daß Tom Ripley ein Verbrecher ist, und ebenso wenig ist es eine Frage, daß die von ihm begangenen Verbrechen - so dreist und offensichtlich, wie immer sie geschildert werden - ungeklärt bleiben. Die Spannung, die die Autorin gleichwohl erzeugt, richtet sich nicht auf die Aufklärung des Verbrechens. Wie einst Dostojewkskij läßt uns die Highsmith an seiner Begehung teilhaben, die sachlich und detailgenau geschildert wird und auch noch ein fast bürgerlich berechtigtes Motiv für den Mord erkennen läßt.38 (28) Er wies den Wein zurück: das war eine Kränkung - nicht sehr schwerwiegend, aber doch eine weitere häßliche Beleidigung. Tom ergriff die Flasche fast im gleichen Augenblick, schwang sie durch die Luft und schlug sie Murchison seitlich an den Kopf. Diesmal zerbrach die Flasche, der Wein lief aus, und der Flaschenboden fiel auf den Steinfußboden. Murchison taumelte gegen die Halterungen, die Flaschen klirrten, fielen aber nicht heraus, nur Murchison fiel, er sackte um und 35

Broekman, Recht, S. 116 f.; neu in: Droit et anthropologie.

3 6

Habermas, Moderne, S. 22 f.; Alexy, Argumentation, S. 41.

37 38

Luhmann, Rechtssoziologie, S. 105 f. Highsmith, Ripley under ground, S. 93.

150

. Dupin, Raskolnikow, Ripley stieß gegen einige Flaschenhälse, die jedoch in den Gestellen stecken blieben. Tom ergriff den ersten Gegenstand, der ihm in die Hand kam - es war ein leerer Kohleneimer - und ließ ihn auf Murchisons Kopf niedersausen, einmal und dann noch einmal. Der Boden des Eimers war schwer. Murchison lag blutend, zur Seite geneigt und leicht verrenkt auf dem Steinfußboden. Er bewegte sich nicht.

In welchem Maße der Typus des Raskolnikow alteuropäisch und der des Ripley amerikanisch ist, zeigt sich am unterschiedlichen Spannungsbogen der Romane. Spannend an den Aktionen Ripleys ist die - teils abenteuerliche und ganz unwahrscheinliche - Art, mit der er sich der Entdeckung entzieht, obwohl ihm dieses Bemühen fast den Kopf kostet. "Ripley under ground" spielt nicht nur mit der Metapher des "underground", sondern ist wörtlich zu verstehen: Ripley gerät alsbald unter die Erde, wird - halb tot und halb lebendig begraben, befreit sich aber aus dem Grab, das er selbst kurz zuvor für den ermordeten Murchison geschaufelt hatte, während Murchisons Leiche vom Erdgrab in ein Wassergrab versenkt wird. Tufts, der Ripley beim Fortschaffen des Leichnams hilft, verkraftet diese Aktion psychisch nicht und läßt sich von Ripley in den Selbstmord treiben. Bei alledem spielt die Abduktion hinter der Aktion keine Rolle. Die Handlung folgt nicht einem wie immer gearteten Aufklärungsbemühen, sondern irrlichtert hinter einem langen Verdeckungsfeldzug hinterher. Das verdeckte Verbrechen erhält eine viel größere Anziehungskraft als die aufgeklärte Tat.39 Wer als Detektiv daherkommt, ist von vornherein eine verdächtige Person. Für die Autorin mag die Parallele am Rande liegen, hier sei auf sie hingewiesen. 150 Jahre nach Auguste Dupin, dem zeitungslesenden Spaziergänger und Tüftler, dem ersten Freizeitdetektiv überhaupt, präsentiert die Highsmith in einer Reprise des Ripley-Zyklus den vorerst letzten Freizeitdetektiv, der sich als Lügner, Sadist und erfolgloser abduktiver Rätsellöser einführt und verabschiedet. In "Ripley under water" stellt sich der Detektiv so vor: 40 (29) "Mein Name ist Pritchard. David. Ich studiere an diesem Institut in Fontainebleau - dem INSEAD, Sie haben sicher schon davon gehört. Also mein Haus hier, das ist so ein zweigeschossiges, weiß, mit Garten und einem kleinen Teich. Wir haben uns in das Haus verliebt wegen dieses Teichs - Spiegelungen an der Decke das Wasser." Er kicherte.

Das in dieser Vorstellung enthaltene Indiz führt nicht zu einem aufklärenden abduktiven Schluß. "Wegen dieses Teichs - Spiegelungen ... - das Wasser ..." darf zunächst einmal als Hinweis auf Murchinsons Wassergrab gelesen werden, ist offensichtlich vom Sprecher auch so gemeint und behält diese eine Bedeutung während des Handlungsverlaufs bei. Tatsächlich findet der Freizeitdetektiv Pritchard die Gebeine im Wasser der Loing. Aber die "wahre", vom Titel suggerierte und ganz überraschend am Schluß präsentierte Lösung 3 9

40

Lüderssen, Spiegelungen, S. 123 ff. (145). Highsmith, Ripley under water, S. 11.

5. Ripley under ground

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macht einen ganz anderen Gebrauch von der Bedeutung des Teichs. Zunächst erscheint er als Bedrohung für Ripley selbst, der - eingeladen von Pritchard und seiner Frau - unveiblümt darauf Angewiesen wird, das er von diesem Ort ohne den Willen der Gastgeber nicht mehr ohne weiteres weggehen könne. Der Text "Ripley under water" könnte Ripley in den kleinen, scheinbar unschuldigen Teich im Garten des Hauses versenken, auch wenn die Highsmith nicht versäumt, den Protagonisten des Verbrechens wendiger, entschlossener und stärker als seinen verschlagen und dümmlich wirkenden Entdecker darzustellen. Die Spannung lauert in einem Dialog, dessen entscheidende Bedeutung sich am Schluß in umgekehrter Handlungsrichtung zeigt. Der Teich wird vorgestellt:41 (30) "Groß genug, um darin zu ertrinken", wenn es regnet", meinte Janice, die Toms Blick sah. "Wie tief ist der Teich denn?" "Hm - vielleicht anderthalb Meter", antwortete Pritchard. "Der Untergrund ist schlammig, glaube ich. Nichts zum Planschen." Er grinste und zeigte seine großen, eckigen Zähne. Es hätte einfreundliches, naives Grinsen sein können, aber Tom kannte ihn jetzt besser.

Der so vorgestellte Teich wird am Ende tatsächlich zum Tatmittel, nur kann diese Tat nicht im Wege eines Wahrscheinlichkeitsschlusses erraten werden. Die Handlung entwickelt sich in gänzlich unwahrscheinlicher, geradezu absurder Weise. Die im Wasser entdeckten und gehobenen Gebeine des ermordeten Murchison werden nicht etwa zum Indiz einer Überführung des Täters, wenngleich man Poe's Schlußszene karikiert findet. Auch der Freizeitdetektiv Pritchard versucht eine Szene zu arrangieren, die den Täter zum Geständnis hätte zwingen können: Er legt die Gebeine des Opfers vor Ripleys Haustür, offenbar in der zivilen Erwartung, der Täter werde sich bekennen müssen. Der Connaisseur der Ripley-Romane weiß nun von vornherein, daß dem nicht so sein kann. Die Gebeine werden dem Detektiv zurückerstattet, in den Teich seines Gartens, und dort will dieser sie wieder herausholen, verfängt sich aber im Schlamm des kleinen Teichs. Vergebens ruft der Detektiv seine Frau zu Hilfe. In einem Spannungsmoment, in dem der Leser fast nur noch mit einer Entdekkung des ohnehin Bekannten rechnen kann, nimmt die Handlung wieder einmal eine ganz unvorhersehbare, zwar vorbereitete, aber doch nicht erwartete Wendung.42 (31 ) Das Wasser kochte und schäumte so laut, daß Tom und Ed es hören konnten, "...meine Hand, David!... Pack den Rand!" Sekundenlange Stille, dann ein Schrei von Janice, und wieder folgte ein lautes Platschen. 41

Ebd., S. 62.

4 2

Ebd., S. 366.

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ΥΠ! Dupin, Raskolnikow, Ripley "Mein Gott, jetzt sind sie beide drin!" sagte Tom mit hysterischer Freude. Er hatte nur flüstern wollen, aber fast normal gesprochen. "Wie tief ist dieser Teich?" "Keine Ahnung. Anderthalb bis zwei Meter, würde ich mal sagen." Janice rief etwas und bekam Wasser in den Mund. "Sollten wir nicht Ed sah Tom besorgt an. Tom konnte Eds Nervosität fühlen. Er selbst trat von einem Fuß auf den anderen, als schwanke er zwischen einem Ja und Nein. Daß Ed dabei war, machte alles anders. Diese Leute da im Teich waren Toms Feinde. Wäre er allein gewesen, hätte er keine Sekunde gezögert und wäre weggegangen. Das Geplansche hörte auf. "Ich hab sie doch nicht da reingestoßen", sagte Tom rauh, gerade als vom Teich her noch ein leises Geräusch kam - als hätte eine Hand die Wasseroberfläche aufgerührt. "Verduften wir, solange es noch geht."

Der Teich verschluckt nicht nur die Tat, sondern auch jedes Aufklärungsbemühen. Natürlich müßte man einen Vergleich in der Breite der Kriminalerzählungen folgen lassen, um darüber entscheiden zu können, ob abduktive Schlüsse und aus ihnen folgende Geständnisse oder die Verkettung von Aktionen heute das Leseverhalten bestimmen und - wenn das so ist - ob darin ein signifikanter Unterschied zu Erzählweisen des 19. Jahrhunderts liegt. Offenbar kommen die zynische Variante, der nicht entdeckte Täter und das unaufgeklärte Verbrechen, erst nach einer zeitgeschichtlichen Erfahrung wie der des Weltkriegs auch im Roman zum Ausdruck. Es sind die amerikanischen Kriminalromane, die sich mit Aktion, offener Unwahrscheinlichkeit und lakonischen Tatbeschreibungen begnügen.43 Die englische Schule des alteuropäischen Detektivromans reicht zwar von Poe über Conan Doyle und Agathe Christie bis in die gegenwärtige Produktion bundesdeutscher Juristen. Aber gerade an der zeitgenössischen Produktion wird deutlich, daß die Aufklärung des Mordes im Orientexpreß an einem Tag und einem Ort durch abduktives Nachdenken erledigt ist. Die Aktion dominiert auch dort, wo in zeitgenössischen Kriminalromanen noch Rätsel präsentiert und gelöst werden. Was bedeutet das schließlich für den Rechtscode, insbesondere für den Code der Sachverhaltsfeststellung, jenes Verfahren, in dem einer Erzählung das juristische Prädikat "bewiesen" oder "nicht bewiesen" zugeordnet wird? Ich habe keineswegs den Eindruck, daß das eine vom anderen so weit entfernt wäre, daß man von einer Bezugnahme nicht mehr sprechen könnte. Dazu ist beispielsweise die straf juristische Form der Sachverhaltsfeststellung vielzu alltäglich und durchsichtig. Sie kann sich nicht als gleichsam separierter Fachdiskurs aus der allgemeinen Lese- und Wahrnehmungsgewohnheit heraushalten. Wenn man nun den abduktiven Schluß schon in der Kriminalliteratur verschwinden sieht, braucht man sich nicht zu wundern, daß praktische Verfahrensjuristen immer weniger Neigung und Kompetenz entwickeln, einen wahr4

Leonhardt, Mord, S. 226 ff ; Nusser Kriminalroman, S. 116 ff.

5. Ripley under ground

153

scheinlichen Schluß zur Grundlage eines wahren Sachverhalts zu machen. Hier taucht die in der Regel kryptisch bleibende Einschränkung auf, möglich sei dies oder jenes schon, aber "bewiesen" sei es nicht. Für "bewiesen" hält man es in dieser Variante des rechtspraktischen Denkens dann, wenn der Angeklagte den geständigen Satz äußert: Ich habe die Beamtenwitwe erschlagen. Äußerlich ist damit der Rückfall in die von Poe bis Highsmith beschriebene und behauptete Ahnungslosigkeit der Polizei zum Leitprinzip der Verurteilung geworden. Man deutet denjenigen als Täter aus, der sich daflir anbietet, indem er den geständigen Satz äußert. Allerdings kommt ein weiteres, bei Dostojewskij schon angelegtes Formmerkmal hinzu, das bei angeblicher Betonung des Wahrheitswillens den Charakter des "Handels" als verächtlicher Aktion scharf hervortreten läßt. Der geständige Satz wird gegen ein günstiges Sanktionsergebnis gewissermaßen verkauft. Im Geständnis spiegelt sich nicht mehr abschließend die Einsicht des Täters, der die Tat erzählen kann. Statt dessen muß man aus einer Mehrzahl derart ausgehandelter Erzählungen ablesen, daß sich der wahre Ablauf ganz anders darstellen würde, wenn die Polizei ihn nur ermittelte oder das Gericht es wagte, ihn festzustellen. Die Andersartigkeit ist dabei nicht etwa der "Wahrheit an sich" geschuldet, die - wie Juristen gelegentlich pauschal einräumen - außerhalb des Verfahrens bleibt. Auch innerhalb und nach den Regeln des Verfahrens drängen sich andere Feststellungen auf - würde man nur von der Abduktion Gebrauch machen. Gerade wenn man erkennt, daß binäre Codierung ein Formmerkmal des Codes darstellt, während abduktive Schlüsse Skalierungen erlauben, entsteht ein Spannungsverhältnis zwischen beiden. Amtswalter wie Zuschauer können häufig nicht die Art und Weise, wie man ein Ergebnis findet, von seiner Darstellung als gefundenes Ergebnis unterscheiden. Der Rechtfertigungs- und Begründungszwang führt dazu, komplizierte, mehrfach verzweigte Wahlen als scheinbar eindeutig darzustellen. Erst wenn man jenseits der nachträglichen Rechtfertigung die vorangegangenen Wahlentscheidungen freilegt, wird auch deutlich, daß trotz plausibler Hypothesen und erdrückender Beweislast eine ständig präsente Rivalität zwischen dem Geständnis als erhofftem Schlußpunkt des Verfahrens und dem abduktiven Schluß selbst besteht. Es gehört deshalb zu den wiederkehrenden Entwicklungen im Gerichtsbetrieb, daß Schlußformen in den Hintergrund gedrängt werden zugunsten eines Zwangs zum Geständnis, das dann nicht selten ausgehandelt wird. Die Faszination des geständigen Satzes der Art "Ich habe ... erschlagen" besteht fort, auch wenn man erklären muß, warum die Äußerung eines solchen Satzes so bedeutsam sein soll nach einer Rechtsentwicklung, in der die freie Beweiswürdigung, angeleitet durch Psychologie, Soziologie und vor allem praktische Vernunft, längst etabliert ist. Von Amts wegen benötigt man den geständigen Satz nicht, um ein Beweisergebnis zu sichern. Dennoch und trotz der Zusatzdisziplinen ist die im Gericht gefundene Überzeugung nicht sicherer und nachprüfbarer, sondern unübersichtlicher und darstellungsabhängiger geworden als jemals

154

ΥΠ!. Dupin, Raskolnikow, Ripley

zuvor. Einerseits erscheint es paradox, ein Geständnis in einem Zusammenhang zu erwarten, in dem sachverständige Begutachtung stattfindet. Andererseits verstellt das Sachverständigenwesen nur die alte rhetorische Einsicht, daß Beweise auf Evidenzen beruhen, und man sich durchaus zu einer Tat bekennen kann, von der ein Sachverständiger aus der Distanz behauptet, sie sei gar nicht oder nur zum Teil persönlich zu verantworten oder die Giftwirkung beruhe auf dem Täter unbekannten Eigenschaften. Lüderssen hat diese ungewohnte Leseweise auf die Ripley-Romane der Highsmith angewandt und ist zu dem Ergebnis gekommen, daß eine moderne, sachverständig angeleitete juristische Sicht den pathologischen Beziehungstäter, nicht die verbrecherische Tat im Vordergrund sieht.44 Das Gericht würde Tom Ripley als vermindert oder gar nicht schuldfähig ansehen, und als Leser nehmen wir dieses Ergebnis schon vorweg: Wir sympathisieren mit Ripley. Trotz oder wegen aller Zusatzdisziplinen ist es so viel schwerer als früher, zu Evidenzen zu gelangen. Ohne Evidenz gewinnt man aber keine Perspektive auf ein Ergebnis. Auf eine im Verfahren selbst erzeugte Weise entsteht heute "Beweisnot", wie Praktiker des Rechtsverfahrens früher sagten, wenn es keine Beweismittel gab. Heute gibt es zu viele Beweismittel oder zu viele Deutungsmöglichkeiten. Die neue Beweisnot beruht nicht auf der Unmöglichkeit, überhaupt ein Ergebnis finden zu können. Oft drängen sich Beweisergebnisse geradezu auf, und nicht nur in Ripley-Geschichten ist offensichtlich, wer der Täter ist. Es herrscht statt dessen ein Überfluß an Angeboten für Hypothesen. Dabei darf nicht außer Betracht bleiben, daß in der Verfahrenspraxis das Interesse am Ergebnis den Ausschlag gibt, und dieses Interesse in der advokatorischen Perspektive einfach dahin geht, ein gefürchtetes Ergebnis nicht als bewiesen gelten zu lassen. Nicht selten wird das Ergebnisinteresse dann mit der antiken rechtsrhetorischen Regel des dubio-Satzes gerechtfertigt. Die beliebte Zweifelsregel dient dann dazu, die Abduktion insgesamt zur unmöglichen und rechtsstaatlich geradezu unerlaubten Argumentation zu erklären. Es gibt viele Interessenten, die den Beweisnotstand zum Regelfall eines jeden Verfahrens machen, in dem der Täter sich zur Tat nicht bekennen will. Die Freude an der Ignoranz der Polizei und ihrer beschränkten Ermittlungsvernunft dringt bis in die Romane der Highsmith ein. Man muß nur durchhalten, weiter bluffen lauten die letzten Sätze zu "Ripley under ground".

44

Lüderssen, Spiegelungen, S. 142 f.

IX. Räume, Gänge, Säle 1. Der Raum - (k)ein Zeichen Der Raum - so könnte eine moderne semiotische These lauten - ist kein Zeichen. Er ist weder Träger eines Zeichens noch Kanal, in dem Zeichen übermittelt werden.1 Ein Raum dehnt sich aus und bildet eine Fläche; in den Raum dehnen sich Kommunikationskanäle aus, er wird zerschnitten durch Kanäle und ausgeschnitten von ihnen. Mehrere Personen, die einander etwas mitteilen wollen - die "interagieren" - tun das im dreidimensionalen Raum, und der Raum muß dabei so eng begrenzt sein, daß man sich hören und sehen kann. Ohne daß es dazu theoretisch anspruchsvolle Abhandlungen gäbe, wissen Sprecher und Hörer, daß sie sich unter "normalen" Umständen nicht auf 20 cm nahe kommen, sich aber auch nicht 20 m voneinander entfernen. Nim wäre es übertrieben zu behaupten, der Raum bedeute schon deshalb nichts, weil er die Fläche für ihn zerschneidende Bedeutungen abgibt. Wenn er durch Bedeutungen ausgeschnitten wird, dann - darf man vorsichtig schlußfolgern - bedeutet auch das Ausgeschnittene etwas. Das Ausgeschnittene enthält die negative Bedeutung des positiv Gemeinten. Es bedeutet etwas, das den Status eines eigenen Symbols erhalten kann. Tatsächlich stellt der Raum für den Gottesdienst ein solches Symbol dar; er repräsentiert - ebensowenig wie der Raum für das Gericht - nicht nur die leere Kehrseite der dort präsentierten Symbole.2 Aber das gilt vielleicht nicht mit gleichem Anspruch für alle institutionellen Räume. Kirchenraum und Gerichtssaal beeindrucken den Eintretenden von Anfang an. Genau dafür wurden sie - jedenfalls bis zur Moderne - gebaut. Das gilt aber nicht in gleicher Weise für alle räumlichen Umgebungen. Zunächst erscheinen viele Umgebungsräume einfach unwichtig. Wir beantworten in der Regel semiotische Fragen nach der Bedeutung des Raums mit einer pragmatischen Gewichtung. Räume im Hintergrund wichtiger und bedeutungstragender Formationen erscheinen unwichtig, und je moderner sich ein Verfahren gestaltet, umso mehr werden das Forum und damit der ausgedehnte Raum, der ehedem Bedeutung trug, zweckmäßig umstrukturiert und so weit wie möglich in den Hintergrund gedrängt.3 1

2 3

Eco, Semiotik, S. 43. Paul, Kommunikation, S. 118 ff. Damus, Rathaus, S. 177 ff.

156

IX. Räume, Gänge, Säle

Die Differenz von Figur und Hintergrund dient im folgenden als Schema, um verdeckte Bedeutungen aufzuspüren. Diese Differenz entsteht unvermeidlich in jeder gestalterischen Arbeit. Bei M. C. Escher wird sie bewußt genutzt. Wenn auf einer Fläche eine Figur als "positiver Raum"4 abgegrenzt wird, dann ist damit immer auch ein negativer Raum ausgegrenzt. Er wird - wie man es meist sieht - Hintergrund, und das Interesse gilt dem Vordergrund. Dort sieht man die Hauptsache. Deshalb scheint die Gestaltungsarbeit an Figuren orientiert zu sein und nicht am Hintergrund, der gewissermaßen den "Rest" abgibt. Bei Escher bemerkt man, daß auch scheinbar willkürliche Aussparungen - negative Räume - die Gestalt einer Figur gewinnen können. Der Raum erscheint abwechselnd als Vorder- oder Hintergrund; er wird rekursiv und gewinnt seine Funktion aus der Perspektive. Die Perspektive bestimmt die Bedeutung der Figur. Denn nur im Raum gewinnen Bedeutungen Form. Nur dort sieht man entweder stilisierte Masken, Figuren oder zehn

Hofstadter hat dieser Art der Rekursivität theoretische Aufmerksamkeit verschafft. 5 Er unterscheidet kursiv zeichenbare von rekursiven Figuren. Bei der kursiven Figur wird eine Umrißlinie gezeichnet, deren Rest oder Aussparung Hintergrund bleibt. Eine rekursive Figur ist jene doppelte Figur, wie sie Hofstadter exemplarisch in den Gestaltungsarbeiten von Escher vorweist. Ihre Künstlichkeit führt rekursiv zu der von Hofstadter vertretenen These, daß es erkennbare Formen gibt, deren negativer Raum keine erkennbare Form darstellt. Damit wird zuerst einmal nur die Ausgangslage wiederhergestellt, denn auf den ersten Blick wirken Eschers Gänge "treppauf, treppab" als etwas Besonderes. Eine neue Perspektive auf den Raum entsteht erst, wenn man den umgekehrten Vorgang untersucht. Entsteht der bedeutungsvolle, wichtige Vordergrund aus dem zurücktretenden räumlichen Hintergrund? Wie charakterisiert das Ausgeschnittene den Vordergrund? Ich möchte das Wechselverhältnis zwischen Hauptsache und Hintergrund zum Ausgangspunkt für Perspektiven des räumlichen Erlebens und Erzählens nehmen. Der Raum gilt in der Analyse von Institutionen - wenn er überhaupt erwähnt wird - als unwichtiger Hintergrund. Meist meint man, daß ihm allenfalls eine einzige, nämlich die öffentlich zugewiesene Bedeutung zukommt; und auch dabei wird regelmäßig die Zeichengebung mit ihren mitgemeinten, in den Hintergrund verwiesenen Anteilen verdrängt. Widmen wir uns zunächst den in einem Gebäude erkenn4

Hofstadter, Gödel - Escher - Bach, S. 72.

5

Ebd., S. 72.

2. Die Geschichte eines Raums

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baren Formen und den festgelegten Bedeutungen. Ich will dazu eine Geschichte erzählen.

2. Die Geschichte eines Raums von Bedeutung Die Geschichte betrifft die Genese einer Raumbedeutung. Etwas, das früher vielleicht im Hintergrund erledigt wurde, bekommt zumindest für einen bestimmten Raum hauptsächliche Bedeutung. Einen solchen Fall erlebt man selten, weil normalerweise der Zweck eines Raums schon feststeht, wenn er gebaut wird. Jeder Justizpalast hatte - als man ihn baute - Richterzimmer, Sitzungssäle und Schreibkanzleien. Aber eine Kantine hatte er nicht. Die Kantine entstand erst Anfang des 20. Jahrhunderts. Nachdem die Justizpaläste standen, fiel den Bediensteten auf, daß sie in ihrem Palast einen Schluck Wasser nur aus dem Waschkrug in ihrem Zimmer erhalten konnten. Man wünschte sich einen Erfrischungsraum. In Frankfurt war es der Metzger Grünebaum, der im Jahre 1908 den Zweck für eine Einrichtung formulierte, die bis dahin imbekannt war.6 Sein handschriftliches Gesuch beginnt mit der Feststellung: "Die für die Herren Anwälte wie für die Parteien bestehende Notwendigkeit, häufig stundenlang ih dem Landgerichtsgebäude zu verweilen, hatte schon seit langem starke Nachfrage nach einer bequemen Gelegenheit hervorgerufen, rasch und zu jeder Zeit Erfrischungen und Anregungsmittel für diese Personen zu beschaffen." Grünebaum kannte sich aus. Er wohnte nicht nur im Gerichtsquartier, sondern er muß auch lange Stunden im Gerichtsgebäude verbracht haben, in denen Anregungsmittel nützlich gewesen wären; wurde er doch drei Jahre vor Stellung des Antrags von einer Strafkammer wegen Betrugs zu einem Monat Gefängnis verurteilt, wie der königliche Polizeipräsident kurze Zeit später mitteilte. Unzuverlässig erschien er mithin. Sein Vorhaben war beendet, ehe sich der Gedanke entfaltete. Die Bedeutung trat erst später in den Vordergrund. Ein "Büfett" nannte der Landgerichtspräsident den vordergründigen Gedanken zunächst, und die Bedeutung eines Buffets erschien nicht allerorten plausibel. Das Gericht in Frankfurt fragte bei den Gerichten in Köln, Hannover, Magdeburg, Berlin und Breslau wegen der Neuerung an und erhielt hintergründige Antworten. Magdeburg teilt mit, die Verabfolgung von Speisen und Getränken an Gerichtsbeamte und das Publikum sei untersagt. "Überflüssig" befindet das Amtsgericht Berlin-Mitte, denn die Termine seien doch von "verhältnismäßig kurzer Dauer". Nur im Kriminalgerichtsgebäude in Berlin-Moabit sei das anders, aber 6 Geschichte und Zitate stammen aus einem Aktenstück im Hessischen Staatsarchiv in Wiesbaden, Abt. 460/Nr. 813, Bl. 1-164.

158

IX. Räume, Gänge, Säle

auch dort habe man nicht etwa den Betrieb einem "Pächter gegen Entgelt" übertragen, sondern dulde lediglich einen "Erfrischungskarren", an dem der "Verein für Kaffeestuben" alkoholfreie kalte und warme Getränke zu mäßigen Preisen feilhalte. Diese Mitteilung trat in den Vordergrund und wies den Weg. Erst als man den Weg ein Stück gegangen war, bemerkte man die ausgesparte Bedeutung der Empfehlung. Zunächst fielen die mäßigen Preise auf. Sie waren bestandsgefährdend. Es sei ein Mißstand bei diesem Erfrischungsraum - teilte die Pächterin acht Monate nach seiner Eröffnung mit -, "daß derselbe infolge der geringen Benutzung die Selbstkosten des Betriebs nicht aufbringt". Mochte in dieser Klage zunächst noch die geringe Benutzung im Vordergrund stehen und das als Aufforderung verstanden werden, auf den Raum durch Tafeln hinzuweisen, so drängte sich bald eine andere, zunächst im Hintergrund stehende Bedeutung auf. Die Gesellschaft für Wohlfahrts-Einrichtungen als Beitreiberin teilte nämlich mit, sie sei "aus den Kreisen der Herren Rechtsanwälte mehrfach gebeten worden, doch in dem Erfrischungsraum neben den bisher vorhandenen Limonaden und anderen alkoholfreien Getränken auch die Möglichkeit zu geben, gelegentlich ein Glas Sherry oder Madeira zu erhalten". Das schlug nun die Gerichtsverwaltung ab. Grundsatz und Gewinn stritten gegeneinander. Denn als die Gerichtsbehörde Erkundigungen einholte, ob und in welcher Höhe andere Behörden wie Eisenbahndirektion oder Post für die Überlassung von Kantinenräumen Geld verlangen, machte die Gerichtspächterin darauf aufmerksam, daß diese Betriebe mit der Gerichtskantine nicht zu vergleichen seien, weil "auf Wunsch der Behörden in denselben auch Bier in beschränktem Maße verabreicht, so daß dadurch ein kleiner Überschuß erzielt wird, was bei der Speisenverabreichung angesichts der gegenwärtig hohen Preise aller Lebensmittel nicht der Fall ist". Die meisten Verträge mit der Gerichtsverwaltung enthielten jene Doppelbelastung, die lautete: Die Verabreichung alkoholhaltiger Getränke ist verboten. Dagegen ist die Unternehmerin verpflichtet, täglich eine warme Frühstückssuppe zum Verkauf an die Beamten und Rechtsanwälte bereitzustellen. - Im Hinblick auf die Frühstückssuppe sah sich die Betreibergesellschaft in Frankfurt genötigt, "den Preis für die in dortiger Kantine verabfolgten dicken Suppen um 10 Pfg. für die Portion zu erhöhen". Die Gerichtsverwaltung sah solchen Preiserhöhungen damals wie heute mißvergnügt zu und beanstandete, "daß die verabreichte Portion Suppe überhaupt nicht dick, sondern dünn zubereitet" sei. Die Gesellschaft wies die Beschwerde zurück und teilte mit, wenn die Suppe "nicht mehr als solche, sondern als Brei gekocht werden" solle, müsse der Preis noch weiter erhöht werden, es sei denn "die Betreffenden" seien auch mit einer geringeren Menge zufrieden. Man verabreiche nämlich "recht große Portionen". Die nun im Vordergrund stehenden Fragen zeigen eines deutlich. Die Bedeutung einer Kantine hatte sich bereits so weit etabliert,

3. Unbedeutende Geschichten

159

daß sie zugunsten von Handlungsproblemen in den Hintergrund treten konnte. Jenseits ihrer fiskalischen Bedeutung gehört sie seitdem zur selbstverständlichen Ausstattung jeder größeren Gerichtsbehörde. Eine Lebensfunktion im Hintergrund war in den Vordergrund getreten. Das ist die erste wesentliche Einsicht in die Bedeutung des Raums. Soweit er durch bedeutungsvolle Praktiken in den Hintergrund gedrängt und gewissermaßen vergeistigt wird, verändern diese Praktiken auch die Modi der Zeichenorganisation, wenn die Raumbedeutung in den Vordergrund tritt. Nach wie vor wird ein Gericht nicht durch die Güte seiner Kantine ausgezeichnet. Aber seine heute wichtige Bürgerfreundlichkeit - die sich auch den Bediensteten zuwendet - zeigt sich in der Sorgfalt, die allgemeinen Lebensfunktionen gewidmet wird. Ein Stück Hintergrund ist Vordergrund geworden.

3. Unbedeutende Geschichten gegen vorherrschende Bedeutungen Es gibt weitere Lebensfunktionen, die nicht so augenfällig in den Vordergrund treten, aber latent eine wichtige Rolle spielen. Sie unterminieren die öffentlich zugewiesene Bedeutung des Raums. Alle öffentlichen Räume haben nämlich eine festgelegte und vorweg definierte Bedeutung, die es zu wahren gilt. Heutzutage ist diese Bedeutung als Zweckbestimmung am Türschild abzulesen. Wer in dem Raum eines Gerichtsgebäudes was erledigen kann und darf, ist durch die Beschreibung der Stelle vorgegeben. Ein Geschäftszimmer ist dazu gedacht, unter der Aufsicht des Geschäftsstellenbeamten den Kontakt zwischen Gerichtsbehörde und Publikum herzustellen, während das Dienstzimmer den Richter ohne Aufsicht arbeiten läßt und vor dem unmittelbaren Publikumsverkehr abschirmt. Man kann zwar in einem Richterzimmer auch Kaffee kochen, man kann auf der Geschäftsstelle auch Radio hören oder im Sitzungssaal singen, aber man wird sich dann mit Einstellungen auseinandersetzen müssen, wonach die festliegende Raumbedeutung durch nicht vorgesehene Tätigkeiten entwürdigt und entweiht wird. Die moderne Fassung der Einwendung stellt auf den Publikumseindruck ab: Was denkt ein Anrufer, wenn er durch das Telefon Radio hört und nicht die gewünschte Auskunft erhält? Wie soll eine Kaffeeküche den Eindruck von pflichtgemäßer Arbeit vermitteln? Darin liegt das Besondere eines öffentlichen Raums. Er soll und muß im Hintergrund bleiben und Raum für jeweils eine Funktion bieten. Während der Bewohner auf dem Klo seiner Wohnung auch Zeitung lesen, in der Küche auch essen oder im Wohnzimmer auch schlafen kann, ohne Bedeutungen zu verletzen, sind öffentliche Räume anfällig gegenüber den Auswirkungen nicht vorgesehener Aktivitäten. Die Anfälligkeit indiziert das zeitgenössische Verständnis von der Würde der Justiz. Je anfälliger die Bedeutung eines Raums

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X. Räume, Gänge, Säle

gegen Verletzungen der Raumbedeutung ist, desto auffalliger strahlt die Institution dem Eintretenden Würde entgegen. Auch wenn ein Geschäftszimmer kein Richterzimmer ist, kann es gleichwohl überschneidende Inanspruchnahme geben. Der frühere Hintergrund wird dann zur hauptsächlichen, im Vordergrund stehenden Bedeutungsfigur. Das Klosett dient der schnellen Erledigung der Notdurft und ist nicht als Kommunikationszentrum definiert. Das steht im Hintergrund. Es herrscht Unterdrückung, wenn das Klo zum Ort der freien Rede wird. Was tut also der öffentliche Hausherr, wenn sich ein Besucher auf einer unbesetzten Geschäftsstelle wiederfindet? Welchen Ruf hat der Richter, der sein Sitzungszimmer als Zeichensaal benutzt? Darf man sich auf die Platte eines Richtertischs stützen? An den Antworten auf diese und weitere Fragen zeigt sich das wechselnde Verständnis einer Zeit und die besondere Bedeutung der gerichtlichen Räume. In den Gerichtsakten finden sich dazu charakteristische kleine Geschichten. An sich scheint die Raumbedeutung einlinig festgelegt zu sein. Aus dem Jahre 1925 wird berichtet, wie ein Gerichtsreferendar in die Schreibkanzlei der Abteilung für Strafsachen kommt und dort die Frau eines Verurteilten vorfindet: allein. Sie hatte das Zimmer betreten, ohne daß ein Beamter anwesend war. Der Referendar fragte die Frau, wie sie dazu komme, eine Kanzlei zu betreten, und forderte sie auf, das Zimmer wieder zu verlassen und auf dem Gang zu warten. Sie hingegen forderte ihn auf, "nicht so unverschämt" zu sein. Schon zuvor hatte der Referendar der Frau im Sprechzimmer des Gerichtsgefängisses nach Ablauf von 8 Minuten geboten, das Zimmer zu verlassen, "welcher Aufforderung keine Folge geleistet wurde". Es ist zu bemerken heißt es in der Verfügung des Landgerichtspräsidenten - "daß sie eine von denen ist, die sich über alle bestehenden Vorschriften hinwegsetzt und nur das tut, was ihr genehm ist, einerlei ob sie damit gegen die Hausordnung oder Gefängnisordung verstößt oder nicht".7 Die Bedrohung spricht aus vielen Aktenvorgängen, in denen Raumprobleme nicht in liebenswerter, sondern in zunächst unangenehmer, dann offenbar gefährlicher Weise die öffentliche Bedeutung unterminieren. In einer Zeit, in der zum erstenmal Frauen im Gericht wahrgenommen werden, tauchen Schwierigkeiten in besonderen Räumen auf. Ein zeitgeschichtlicher Vorfall ist so überliefert: Die Justizangestellte B., die im Altbau bei dem Amtsgericht beschäftigt ist, kommt schon seit Jahren in den Neubau und benutzt hier die Toilette. Ich habe sie schon mehrfach darauf hingewiesen, daß auch im Altbau ein Damenklo sei, worauf sie mir antwortete, da ginge sie nicht hin, weil noch im Vorraum ein Bekken angebracht sei und dort auch Herren hingehen würden. Wenn das Becken 7

Aktenstück im Hess. Staatsarchiv Abt. 460/Nr. 699, Bl. 16a.

3. Unbedeutende Geschichten

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abgeschraubt wird, ist eine Benutzung durch Männer dann nicht mehr möglich. Vor Monaten kamen immer verschiedene Beamte, die ich namentlich nicht kenne, in den Neubau und benutzten die Aborte. Ich habe einmal festgestellt, daß einer 3/4 Stunden lang auf dem Klosett saß und Illustrierte und Zeitungen gelesen hat. In den letzten Monaten ist das jedoch nicht mehr vorgekommen.

Der Gerichtspräsident bleibt auf diese Anzeige nicht untätig. Er gibt der so beschuldigten Justizangestellten auf, N in Zukunft die Aborträume im Altbau zu benutzen und evtl. Mängel zu melden, damit ihre Abstellung erfolgen kann".8 Man soll sich strikt an das halten, was andere in den Vordergrund stellen. Denn die Anweisung stammt aus dem Führerstaat und wird im Jahre 1941 geschrieben. In dieser Zeit erlangt das Klo seine wahre Bedeutung und wird zum subversiven Faktor. Das Denunziantentum beschränkt sich nicht nur auf die Zuweisung der stillen Örtchen. Vielmehr berichtet eine aufmerksame Reinigungsfrau: Am Samstag besichtigten der Herr Landgerichtspräsident und Herr Justizamtmann E. verschiedene Klosette im Altbau, die Frau R. putzt. An den meisten Türen waren "Hammer- und Sichelzeichen" angebracht mit dem Zusatz "lebt". Die Aufschriften waren meist mit Rotstift angeschrieben. An den Aborttüren der von mir zu reinigenden Klosette war am Samstagfrüh noch nichts angeschrieben. Gegen Mittag bemerkte ich, daß nun auch an diesen Türen dieselbe Aufschrift angebracht war. Wer das gemacht haben kann, kann ich nicht sagen, ich muß aber annehmen, daß es einer aus dem Hause getan hat.

Der Gerichtspräsident gibt die "kaum glaublichen Vorgänge" durch Rundverfügung bekannt mit dem Hinweis darauf, "daß im Wiederholungsfall der Täter ermittelt werden kann". Es sind von der herrschenden Bedeutung ausgeschnittene, an den Rand gedrängte, unterdrückte Vorgänge, die sich als Problem des Raums formulieren lassen. Diese Randständigkeit besagt nicht, daß es für die Betroffenen oder für die Verwalter der herrschenden Bedeutung nicht ungemein wichtig gewesen wäre, das normierte Verhältnis von Hauptsache und Hintergrund zu wahren. Es gibt höchstens schweigende, nicht formulierte Gestattungen gegen den Zeitgeist. Ein Raumproblem entsteht in deutschen Gerichtsbehörden, als im Jahre 1938 den jüdischen Rechtsanwälten generell die Zulassung entzogen wird und sie darauf verwiesen bleiben, sich ausschließlich als für jüdische Rechtsangelegenheiten zuständige "Konsulenten" zu verdingen. Wer kann, wandert ab. Nur wenige harren hier und dort aus. In Frankfurt übernimmt der Konsulent Max L. Cahn die Akten ausgewanderter Berufskollegen und versorgt deren Geschäfte. Sie sind umfangreich. Auch die Akten sind umfangreich, und als Cahn auch noch sein eigenes Haus räumen muß, bittet er den Gerichtspräsidenten, die ihm übertragenen Akten im Gerichtsgebäude unterbringen zu dürfen. Man kennt Cahn aus anderen, menschlicheren Zeiten. Der Landgerichtspräsident meint deshalb, falls die Staats8

HStA Abt. 460/Nr. 527, Bl. 56 a.

11 Seibert

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IX. Räume, Gänge, Säle

polizei, die das Haus beschlagnahmt habe, nicht in der Lage sei, Cahn mindestens einen weiteren Raum zur Verfugung zu stellen, müsse man ihm einen solchen im Justizgebäude zuweisen. Als Cahn bereits ein Zimmer bezogen hat, kehrt sich die vordergründige Bedeutung wieder hervor. Der Oberlandesgerichtspräsident verfügt: "Ich habe mich von der Dringlichkeit der vorgeschlagenen Maßnahme nicht überzeugen können."9 Cahn muß den soeben bezogenen Raum räumen, erhält aber 5 Tage später - nach einer mündlichen, im Inhalt nicht überlieferten Besprechung - ein anderes Zimmer mit dem einzigen Zusatz: "Sie wollen den Schlüssel jedesmal bei dem Pförtner des Altbaus in Empfang nehmen und nach Beendigung ihrer Tätigkeit dort wieder abliefern." Das Verhältnis von Bedeutung und Raum zeigt sich in allen Epochen, in denen Bedeutungen konkurrieren. Man wagt kaum zu sagen, welche von ihnen vorzugswürdig seien, wenn im Jahre 1947 ein neu gewählter Abgeordneter als Zeuge geladen - ins Dienstzimmer des Vorsitzenden einer Zivilkammer eintritt, um eine Terminsverlegung zu erbitten. Er berichtet folgendes Ereignis: "Bei dem Vorzeigen der Ladung stützte ich meinen Arm auf den Schreibtisch des Landgerichtsdirektors. Das schien die Veranlassung für ihn gewesen zu sein, mir gegenüber die Bemerkung zu machen ...'Benehmen Sie sich nicht so lümmelhaft'". Der Abgeordnete wird aus dem Zimmer verwiesen und beschwert sich bedeutungsvoll, indem er dem Richter erklärt, daß die Demokratie "durch Leute seiner Art gefährdet würde und für sie kein Raum sei".10 Das provoziert ganz unvermeidlich einen Aufstand der Zeichen, denn die Antwort des Bedrohten lautet: "Die Drohung, ich würde auch bald das Zimmer verlassen, ist eine bodenlose Unverschämtheit einem Richter gegenüber, in seinem Dienstzimmer, in dem der Zeuge nichts zu suchen hatte und erst auf zweimalige Aufforderung hinausging. Das provozierende ungebührliche Verhalten ... erinnert an nazistische Anmaßungen und ist in einem demokratischen Staate, in dem wir jetzt leben, fehl am Platze". Die Akten haben nicht überliefert, welcher von beiden Beschwerdeführern der demokratischen Bedeutung eher genützt haben mag. Klar wird daraus, daß die Berührung einer Tischplatte einen Eingriff in die Raumhoheit bedeuten kann, der umgekehrt höchste Werte ins Feld ruft. Der ausgeschnittene Hintergrund läßt die hervorragende Bedeutung brennpunktartig erkennen. Er ist hier zur rekursiven Form geworden.

4. Die Pragmatik der Semantik Wenn man nach der Semantik des Raums fragt und die Rekursivität der Raumbedeutung entdeckt, dann bestimmt nicht die vorweggenommene Wichtigkeit einzelner Räume den Inhalt der Bedeutung. Vielmehr verändert sich 9

HStA Abt. 460/Nr. 458, Bl. 139 a.

10

HStA Abt. 460/Nr. Ρ 124, Bl. 11.

4. Die Pragmatik der Semantik

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der Sinn eines Raums, wenn bestimmte Benutzungsvorschriften in den Vordergrund treten. Die Pragmatik der nicht definierten, sondern als beiläufig verstandenen Benutzung verändert den Zweck der offiziellen Widmung. Meist laufen dabei Dinge zusammen, die für spätere Generationen ebenso merkwürdig wie für die Zeitgenossen selbstverständlich gewesen sind. Zu diesen beiläufigen Selbstverständlichkeiten gehört die altbekannte Behördentugend der Sparsamkeit. Die Bedeutung eines Zimmers in der Justiz orientierte sich über Jahrzehnte an einem Leitmotiv, das heute kaum noch den Wert einer Tugend hat. Kurios wirken die Zeiten, in denen die Bediensteten gehalten waren, die Glühstrümpfchen für das Gaslicht zu hüten und vor zu schnellem Verschleiß zu schützen. Das Beispiel demonstriert die lange und faktisch bis heute geübte Sparsamkeit in Räumen, die als Wert in den dreißiger Jahren durch die nazistisch motivierte Verwaltung einem anderen Gesichtspunkt untergeordnet wurde: der "Schönheit der Arbeit". Die Forderung nach äußerster Sparsamkeit hat ursprünglich alle Nutzungsarten eines Justizgebäudes bestimmt. Regelmäßig wurde in Rundverfügungen daraufhingewiesen, daß Papiere, insbesondere Kopfbögen sparsam zu verwenden seien. Die Justizverwaltung stellt noch im Jahre 1931 fest, daß "trotz Verminderung der landgerichtlichen Geschäfte infolge Auflösung von Kammern der Verbrauch an Papier im Steigen begriffen ist" und bestimmte sodann in 9 Einzelpunkten, ob halbe, viertel oder achtel Bögen welcher Papiergüte mit welchem Zeilenabstand zu verwenden seien. In einem letzten Punkt wird der Wasserverbrauch gleich mitgeregelt, denn es "ist festgestellt worden, daß Klosette tagelang gelaufen haben, ohne daß eine Meldung erstattet wurde".11 Auch technische Anlagen wie die Beleuchtung wurden unter dem Gesichtspunkt größtmöglicher Sparsamkeit geregelt. Die Zimmer waren bis in die zwanziger Jahre mit Gasglühlicht beleuchtet, zu dessen Verwendung der Minister für öffentliche Arbeiten im Jahre 1909 mitteilte: "Das Abbrennen der Glühstrümpfe ... wird vielfach unsachgemäß ausgeführt, insofern als der Strumpf erst nach Aufsetzen des Zylinders abgebrannt wird. Er hat dann geringe Widerstandskraft gegen die beim späteren Anzünden des Brenners unvermeidliche Explosion in dem von einem Gemisch aus Luft und Gas erfüllten Zylinder". Während der Oberlandesgerichtspräsident, einem Erlaß des Justizministers entsprechend, verfügte, die Vorschriften über das Abbrennen der Glühstrümpfe genau einzuhalten, berichten Justizbedienstete12 von heimlichem Protest:

11

12

HStA Abt. 458/ Nr. 458.

Der hier im folgenden zitierte Berichterstatter ist der vormalige Justizoberinspektor Alois Burin, einer der letzten Zeitzeugen aus der Geschichte der Frankfurter Justiz (vgl. Seibert, Altbau, Fn 26). 1

164

IX. Räume, Gänge, Säle

Auf der Westseite des Altbaus thronten in den zwanziger Jahren die Staatsanwälte und arbeiteten bei Gasbeleuchtung ofl bis in die Abendstunden. Da nagte der Zahn der Zeit an dem Gaslampen-Glühstrümpfchen über dem Schreibtisch des Staatsanwaltschaftsrats Jelkmann so arg, daß er zu Staub zerfiel. Jelkmann bat die hohe Justizverwaltung um Einsatz eines neuen Glühstrümpfchens. Diese aber forderte einen schriftlichen Bericht, auf welche Weise das Gltlhstrümpfchen zu Schaden gekommen sei, um pflichtgemäß ergründen zu können, inwieweit sich durch eigenes Mitverschulden des Beamten möglicherweise eine Regreßpflicht ergäbe. Rat Jelkmann verweigerte den Bericht und ließ sich mit Hilfe der Justizwachtmeisterei auf eigene Kosten ein neues Glühstrümpfchen einsetzen.

Der Berichterstatter ergänzt, später habe Rat Jelkmann auch seinem Führer den Diensteid verweigert und sei demzufolge zwangspensioniert worden. Der Rat zog die Sparsamkeit bei der Eidesleistung deijenigen bei der Erneuerung von Glühstrümpfchen vor. Die Rekursivität zwischen beidem blieb allerdings versteckt. Sparsamkeit verlor im Laufe der Jahrzehnte den Wert einer Spitzenorientierung. Zwar wird auch heute noch tatsächlich gespart, aber man redet davon nicht mehr als vorherrschendem Wert. Die Modernisierung der Semantik wurde - man mag darüber nachdenken weshalb - zuerst in der Nazizeit vollzogen. Während es in den Justizangehörigen zuvor als selbstverständlich erschien, daß ihre Schreibtische mit dem grünem Linoleum des Fußbodens belegt waren, empfanden die Zeitgenossen das in den dreißiger Jahren plötzlich als dürftig und notierten es in den Akten. Es entspreche nicht dem Erscheinungsbild einer modernen Behörde. Staatssekretär Freisler, der sich später zum Präsidenten des Volskgerichtshof gemacht hat, will den Justizangehörigen ein neues Verständnis von ihrer Arbeitsstätte vermitteln. Verordnet wird die Aktion "Schönheit der Arbeit". Sie betont die Bedeutung des Raums unter einem neuen Blickwinkel, der zuvor als überflüssige Ausgabe erschienen wäre. Bei einem Besuch in den Justizgebäuden beanstandet der Minister, die Diensträume seien vielfach sehr dürftig ausgestattet und die in einem Raum untergebrachten Möbel paßten nicht zueinander. Die Verwaltung in Frankfurt mustert das Mobiliar und berichtet wie folgt: 13 Die Einrichtungsgegenstände des Landgerichts sind zum überwiegenden Teil bei der Errichtung des Gerichtsneubaus im Jahre 1909 angeschafft worden. Dabei handelt es sich um fast schwarz gebeizte Tannenholzmöbel einfachster Bauart. Die Tische sind in der Regel mit grünem Linoleum ausgelegt. Seitdem sind größere Neuanschaffungen unterblieben. Es sind lediglich einzelne schwarze Tische und Schränke und eine Serie von gelben Stühlen, die also in der Farbe nicht zu den vorhandenen passen, angeschafft worden. Daneben werden in erheblichem Umfang Möbel aus den früheren Beständen weiter verwendet, die aus dem alten Landgericht im Altbau und sogar z.T. vom Frankfurter Stadtgericht stammen... Infolge dieser gleichzeitigen Verwendung von Einrichtungsgegenständen verschiedener Herkunft sind in manchen Räumen Möbel zusammengestellt worden, die nach ihrer 13

HStA Abt. 460/Nr. 558, Bl. 25 d.

5. Gänge

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Bauart und Farbe des Anstrichs zueinander nicht passen. So wurden z.B. in dem Richterzimmer 319 vier verschiedene Tische, viererlei Stühle und dreierlei Aktenböcke vorgefunden. Ähnlich ist das Richteizimmer im Altbau Nr. 59 ausgestattet.

Auch wenn die Mittel, mit denen die Arbeit "schön" werden sollte, aus heutiger Sicht sparsam wirken, ist Sparsamkeit selbst nicht mehr der pragmatische Leitwert. Ob es um Fahnenschmuck im Gebäude, Heldengedenkräume oder die Sicherung der Grundakten geht: Bedeutsam scheinen nun zuerst Wirkungen zu sein und dann erst deren Kosten.

5. Gänge Ausgeschnitten von der herrschenden Bedeutung werden heutzutage die Gänge. Es sind die restlichen, sparsam ausgestatteten und an Fläche klein gehaltenen Verbindungskorridore zwischen Sälen und Zimmern. Gänge haben nur den Durchlaß zum Zweck, sie wirken eintönig und immer gleich. Das war im alten Gerichtsbaustil anders.14 Das Treppenhaus betrat man regelmäßig durch hohe Pendeltüren und gelangte in eine Halle, in der - rechts und links bequem ansteigend - doppelarmige Treppen aus geschliffenem Granit nach oben führten. Die Treppen verliefen hinter geschoßhohen, auf Pfeilern gestützten Arkaden, die in jedem Stockwerk den Blick nach unten auf das Portal wie nach oben auf eine dem Barock nachempfundene Spiegeldecke öffneten. Im Dachstuhl befand sich ein farbiges Glasdach, das in alle Stockwerke mildes Oberlicht strömen ließ. Das - urteilte ein Fachmann für den Justizbaustil 15 - mache den Raum groß und weit und gewähre reizvolle Durchblicke auf die in allen möglichen Windungen verlaufenden Treppengänge. Die hervorgehobene Wirkung macht deutlich, daß die alte Raumgestaltung den Zugängen keineswegs nur ausgeschnittene Restfunktionen zuwies. Hier wurden - ohne daß dieser Anspruch verbalisiert wurde - Bedeutung und die damit verbundene Würde demonstriert. Die Würde tritt heutzutage hinter der Funktion zurück. Das Treppenhaus ist aus feuerschutzpolizeilichen Gründen nach wie vor erforderlich. Aber es tritt dermaßen in den Hintergrund, daß heute Schilder neben dem Fahrstuhl auf das nur noch als Notausgang und Fluchtweg genutzte Treppenhaus hinweisen müssen, damit der Besucher die Treppe überhaupt findet. Der Gang verläuft ausschließlich horizontal, und will man von einem Stockwerk ins nächste gelangen, muß man den Aufzug benutzen. Gänge sind reine Verbindungsflächen zwischen Zimmern, obwohl sie selbst dann eine kommunikative Bedeutung behalten. Da alle Zimmer in Funktion und Bedeutung fest-

14

Bietz, Prachtgebäude, S. 51. Zitiert bei Bietz, ebd.

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IX. Räume, Gänge, Säle

gelegt sind, vereinzeln sie ihre Benutzer. Auf dem Gang trifft man sich wieder und kann miteinander reden, mindestens in Form des Grußes. Wie man in seinem Zimmer arbeitet und auf welche Weise man es verläßt, um öffentlich zu wirken, wird aus anekdotischen Details deutlich. Wenn man aus dem Zimmer in den Gang tritt, hat der historische Berichterstatter dafür zumindest ein Beispiel erlebt. Im düsteren Mittelgang des Altbaus hausten die nach dem ersten Weltkrieg aus dem Elsaß vertriebenen Rechtspfleger Kneip und Abisch. Kneip haßte die Nationalsozialisten und besonders ihren geliebten Führer. Den vorgeschriebenen Gruß durch Erheben des rechten Arms vermied er. Wenn er sein Büro verließ, klemmte er sich eine Akte unter den rechten Arm.

Unabhängig von ihrer baulichen Gestaltung hatten und haben Gänge eine semiotische Funktion. Sie sind der Ort unbeabsichtigter Begegnung. Im Zimmer redet grundsätzlich niemand, und der Besuch muß sich ankündigen. Im Saal hört man immer wieder die gleichen, vom Verhandlungsritual bestimmten Worte, und die darf nur deijenige äußern, der zuvor das Wort erhalten hat. Aber auf dem Gang - da sprechen und hören sich die in Sälen lautstark Verhandelnden oder in Zimmern still Schreibenden mit Neuigkeiten und ohne definierte Absichten. Die kommunikativen Neuigkeiten werden durch das Begrüßungszeremoniell des Alltags eingeleitet und können nach Bedarf und Geschmack fortgesetzt, vertieft oder abgebrochen werden. Die alten Gänge forderten schon von ihrer baulichen Anlage her eine solche Kommunikationsentscheidung. Gänge mit Ecken, mit Rundungen oder Winkeln eröffneten unterschiedliche Durchblicke und ließen den Benutzern die Entscheidung, sich aus dem Weg oder aufeinander zuzugehen. Man redet auf dem Gang beiläufig, und nichts ist für die formalisierte Kommunikation so wichtig und doch so wenig ausgesprochen wie das Beiläufige, das formale Entscheidungen vorbereitet. Man kann Beiläufiges nicht regeln. Entscheidungen über Beiläufigkeit werden heute ohne, früher wurden sie mit Arkaden und überraschenden Durchblicken praktiziert. Ein Neubau hat keine Säulen mehr, der Statiker findet sie entbehrlich. Der Architekt hat Nischen nicht vorgesehen, an Freitreppen wagt sowieso keiner mehr zu denken. Beiläufigkeit stellt sich aber nach genügender Benutzung auch auf linealgetreuen Gängen ein. Der Vorgang hat mit dem Laufen ebenso viel wie mit der Bei-Ordnung zu tun. Beiläufigkeit garantiert auf der einen Seite Kreativität, auf der anderen Kontrolle. Die Begegnungen sind nämlich nur scheinbar zufällige auf den Gängen. Es gehörte von Anfang an zur Logik der Raumverteilung, daß nicht nur die Mitglieder einer Kammer auf einem Gang ihre Zimmer haben, sondern daß - wenn möglich - auch verschiedene Spruchkörper der gleichen Art, die Staatsanwaltschaft, die Zivilabteilungen eines Amtsgerichts oder die Strafkammern eines Landgerichts, die Zimmer eines Gangs miteinander teilen. Die zufälligen professionellen Kontakte sind deshalb nur schein-

6. Säle

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bar beiläufig. Man gleicht Meinungen ab und koordiniert Termine, wenn man sich trifft - und sei es nur "beiläufig". Man erkennt Möglichkeiten und hört Neuigkeiten, wenn man sich wiedersieht - und sei es nur vorläufig. Alle diese Kontakte kommen in einer großflächigen Justizsoziologie oder gar in der Dogmatik für richtige Entscheidungen nicht vor. Dennoch hängen die Entscheidungen von solchen Beiläufigkeiten ab, weshalb die alten Baumeister Gänge zu Stätten für Begegnungen ausgestaltet haben. Über Gänge läßt sich nichts Endgültiges sagen. Gänge teilen Vorläufiges mit Beiläufigem, denn natürlich kann nicht jeder ausgeschnittene Raum genau die rekursive Bedeutung der lexikalischen Zuordnung enthalten. Wir treten deshalb schließlich und endlich in das Zentrum des justizförmigen Geschehens ein: in den Sitzungssaal.

6. Säle Nicht immer und nicht von Anfang an sieht man dort die Krönung des Justizbetriebs. Der Sitzungssaal bildet den Ort für die Entscheidungsfindung, aber darin erschöpft sich seine Bedeutung nicht. Er ist auch ein Ort der Beobachtung. Ein Justizbediensteter erinnert sich an die zwanziger Jahre, als im Sitzungssaal Privatklagen verhandelt wurden: Amtsgerichtsrat Rückert - mit seinem scheeweißen Nikolausbart väterlich würdevoll wirkend und in der Tat mehr Friedensstifter als Strafrichter - wußte mit virtuoser Geschicklichkeit die Streithähne in den Griff zu bekommen. Zunächst ließ er sie sich zur Seelenentlastung aussprechen und machte sie glauben, er höre ihnen nicht nur aufmerksam zu, sondern notiere - trotz Protokollführung - für seinen Spruch fleißig die wichtigsten Aussagen. Auf diese Weise vermochte Rückert zumeist einen Vergleich herbeizuführen, wobei vielfach noch Bußgelder für wohltätige Zwecke anfielen. Seine Aufzeichnungen blieben liegen, und mancher Referendar und Protokollführer hat gern die Typenporträts mitgenommen, die Rückert hinterließ. Er war Zeichner und hielt Menschentypen fest, die ihm malenswert erschienen. Urteile in Privatklagen sind von ihm nicht überliefert.

Dieser Wechsel in den menschlichen Aktivitäten wird modern als liebenswert eingeschätzt. Die Zeichnungen, das Abfallprodukt der Sitzungstätigkeit, überleben die möglichen Urteile, die von ihrer juristischen Funktion her im Vordergrund gestanden hätten. Sie sind längst vergessen. Aber diese Umkehrung in der Bedeutung läßt sich nicht auf das gerichtliche Handeln im allgemeinen übertragen. Abweichungen von der festgelegten Raumbedeutung dürfen sich nur die öffentlichen Hausherren selbst erlauben. Im übrigen ist die Öffentlichkeit präsent, auch wenn real niemand außer den Prozeßparteien anwesend ist und die Bänke leer bleiben.

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IX. Räume, Gänge, Säle

7. Ein Sitzungssaal, im Kriminalgericht Berlin-Moabit Für die Ausstattung von Sitzungssälen gab es bis ins einzeln gehende, das Ritual erleichternde Anweisungen. Die Mischung von Sachlichkeit und Arkanpraxis gibt sich noch in den Saalkonzeptionen der bürgerlich-feudalen Gerichtsbauweise im 19. und beginnenden 20. Jahrhundert zu erkennen, während heute - jedenfalls im dargestellten Konzept - allein Funktionalität regiert. Das 1906 eingeweihte "Neue Kriminalgericht" in Berlin Moabit weist noch die für den Schwurgerichtssaal exemplarische Anordnung auf (unten).16 Vor einer Reihe von Zuhöreibänken stehen, durch eine Barriere getrennt, die Zeugenbänke. Während die Bänke eine Hälfte des Saals wie ein Klassenzimmer aufteilen, erstreckt sich über die andere Hälfte eine Bühne für das Gerichtsgeschehen. Im Halbrund sind an der Stirnseite fünf Richterplätze so angeordnet, daß sich die Gerichtspersonen während der Verhandlung gegenseitig ansehen können. Anders als Zeugen und Zuhörer sitzen sie nicht auf einer Bank, sondern im Kreis versetzt, damit der Blickkontakt möglich bleibt.

16

Kähne, Gerichtsgebäude, S. 68.

7. Ein Sitzungssaal

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Neben dem Gericht - gleichberechtigt auf seiner Seite - sitzt rechts die Staatsanwaltschaft, links der Protokollführer, während an den Seiten des Halbkreises rechts vom Gericht die Verteidiger sitzen, hinter ihnen die Angeklagten, die auf der "Anklagebank" Platz zu nehmen haben, und links befinden sich die zwölf Geschworenenplätze. Das Gericht - also Richter, Staatsanwalt und Protokollführer - sitzt erhöht vor den Zeugen, ebenfalls erhöht in einer halbhoch eingegrenzten Kabine müssen die Angeklagten Platz nehmen. Unmittelbar vor den Gerichtsplätzen in der Mitte des durch sie gebildeten Halbrunds steht ein Tisch, an den der zu vernehmende Zeuge oder Sachverständige tritt, um dem Gericht ins Auge zu blicken. Früher stand man, heute sitzt man dort. Hinter den Gerichtsplätzen befinden sich die Beratungszimmer - nach der Praxis des Schwurgerichts noch getrennt für Geschworene und Richter, beide Zimmer durch einen Gang mit dem Verhandlungssaal verbunden. Im Grundsatz ist es bis heute bei dieser Anordnung geblieben. Es gibt allerdings nur noch ein Beratungszimmer, das gelegentlich keinen Gang mehr zum Verhandlungssaal hat. Geschworene gibt es in Deutschland nicht mehr. Im Saal ist die Staatsanwaltschaft auf die vom Gericht aus linke Seite des Halbrunds gerückt und erscheint damit vom Gericht räumlich getrennt. Über die Höhenunterschiede im Raum hat man in den sechziger und siebziger Jahren erregte Debatten geführt. Das Gericht solle nicht erhöht sitzen und auf diese Weise "Zentimeterüberlegenheit" demonstrieren.17 Typisch für die Semantik der in vielen Fällen dennoch bewahrten Höhendifferenz sind dabei Sätze wie: "Der nicht erhöhte Richtertisch mag für Einzelrichtersachen in Zivilsachen angehen, aber beispielsweise für die Durchführung von Schwurgerichtsverfahren mit einer Vielzahl von Verfahrensbeteiligten und einer großen Zahl von Zuhörern ist ein erhöhter Richterplatz unbedingt zur Durchführung einer ordnungsgemäßen Verhandlung erforderlich - ob dann die Plätze der Staatsanwaltschaft, des Angeklagten und der Verteidigung auf der gleichen Höhe oder abgestuft erhöht sind, ist eine reine Frage der Zweckmäßigkeit und frei von jedem ideologischen Ballast."18 Das ist eine moderne, deutsche Perspektive auf die Verteilung im Raum. Im romanischen Rechtskreis werden die "Requisiten der Gerichtsszene" in ihrem symbolischen Gehalt viel stärker betont. Im Symbol soll sich der Zweck des Rechts ausdrücken. "Cette préfiguration est instrumentale; elle préfigure l'ordre qui doit succéder au désordre dont la justice est saisie, ordre dont la transcendance par rapport à l'accident, à l'incertain, au singulier, au cas, prélude au rituel et le justifie. Le rituel judicaire est le médiateur entre le droit blessé et les valeurs qui les sous-tendent ..."19 Die räumliche Anordnung hat nach diesem Verständnis zwar auch dienende Aufgaben, aber die Funktion des gericht17 18

19

Wassermann, Justiz, S. 98; Kissel, Zukunft, S. 170. Kissel, ebd., S. 170 f. Varaut, juge, S. 35.

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IX. Räume, Gänge, Säle

liehen Rituals liegt ausdrücklich darin, als Mittler zwischen dem verletzten Recht und den Werten, die ihm zugrundeliegen, aufzutreten. Auf welche Weise wird nun die Mediatisierung der Gerechtigkeit bewirkt? Drei Merkmale charakterisieren die räumliche Anordnung der Gerichtsszene: zunächst der allseitig gewünschte, wenn auch häufig leere Platz des Zuhörers und Zuschauers, sodann der von Angesicht zu Angesicht festgelegte Gesprächsplatz der zu vernehmenden Zeugen und Sachverständigen und schließlich der mögliche, aber unterbrochene, nicht zwingende Blickkontakt zwischen Gericht und Angeklagtem. Der Angeklagte, der an der Seite sitzt, kann das Gericht ansehen, er kann aber auch wegsehen, vor sich hin gucken und nichts sagen. Das Gericht muß sein Beweismittel ansehen, das sich am Zeugenplatz in der Mitte der Gerichtsbühne zum Objekt wandelt, eben zum Mittel im Prozeß. Gericht, Zeugen und Angeklagte müssen stumme Dritte als Zuhörer ertragen, und die Ratschläge aus den sechziger Jahren richten sich gegen die unerwünschten Aktivitäten dieser Dritten. "Die Pöbeleien im Gerichtssaal, besonders die lautstarken Stellungnahmen der Zuhörer zugunsten der Angeklagten in bestimmten Prozessen, sollten nachdenklich machen und alle die aufrufen, denen es ernst ist um eine objektive Suche nach Wahrheit und Gerechtigkeit. Diese Suche kann nämlich nur stattfinden in einem (richtig verstandenen) würdigen Rahmen."20 Dieser im Kern leere Rat präsentiert das zentrale Stichwort für den Verfahrensraum: Er soll ein Ort der Wahrheit sein.

8. Der Blick auf die Wahrheit Es ist nicht immer ganz verständlich, was sich die Verfahrenswalter unter Wahrheit vorstellen und wann sie Aufklärung für erfolgreich halten. Man könnte geradezu sagen, daß darin das ungelöste Geheimnis der Justizforschung liegt. Dem Forscher zerrinnt unter dem analytischen Zugriff, was die Beteiligten für Wahrheit halten mögen, so daß am Ende nicht einmal mehr ganz klar ist, was die Gerichtspersonen eigentlich stundenlang, tagelang betreiben. Man muß dazu noch nicht einmal die Position des Forschers einnehmen, es genügt die Zuhörerrolle. Schon aus der Perspektive des Gerichtsreporters verwandelt sich die Wahrheitssuche gelegentlich in ein absurdes Theater. Das ist strukturell unvermeidlich. Der Zuhörer hört einen Dialog, dessen Voraussetzung, Anordnung und Ziel ihm nicht mitgeteilt werden und teilweise den Akteuren erst im Moment der Verhandlung deutlich werden. Der Zuhörer darf aber auch nicht eingreifen und Rückfragen stellen. Damit bleibt die Suche selbst verborgen, auch wenn sich die Bewegungen öffentlich verfolgen lassen. Die Verlesung der Anklageschrift erfüllt nicht wirklich die Aufgabe, dem nicht unterrichteten Zuhörer das Thema folgender Vernehmungen zu verdeut20

Kissel, Zukunft, S. 188.

8. Der Blick auf die Wahrheit

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liehen. Die Verteilung des Fragerechts - vom Vorsitzenden über den Berichterstatter zu Staatsanwalt und Verteidiger - macht nur dem bereits informierten und selbst aktiven Hörer die Strategie des Ablaufs und die Absicht des Fragestellers deutlich. Angesichts der gewöhnlich bis ins Plädoyer aufrechterhaltenen Konfrontation von Anklage und Verteidigung muß der Urteilsspruch nicht selten wundersam und ungewöhnlich einheitlich erscheinen. Der Zuhörer, der nicht in die Befragung eingreifen darf, kann auch niemals Kontrolleur des Geschehens sein. Es bietet sich lediglich dar. Diese Aufgabe kann auch ohne real anwesende Zuhörer erfüllt werden. Wichtig ist nur, daß die Akteure selbst sich auf einer Bühne zu bewegen glauben. In die Wahrheitssuche ist der Angeklagte strukturell nicht eingebunden. Soweit er "sich einläßt", zum Gericht spricht und es ansieht, übernimmt er die Rolle eines Zeugen und zeugt auch gegen sich selbst. Soweit er schweigt, wird er Zuhörer mit allen dem Zuhören eigenen Verzerrungen. Die direkte Blickrichtung des Gerichts auf die vor ihm ausgebreiteten Beweismittel gehört zur notwendigen Asymmetrie der Beweisaufnahme. Das Mittel stellt niemals selbst Fragen, seine Einfälle werden auf die Fragen bezogen, und es muß sich ihnen aussetzen, so lange es im Mittelpunkt sitzt. Während der Befragung pflegen das Gericht, zumindest in der Person des Berichterstatters, der Staatsanwalt und die Verteidiger emsig und fast unablässig mitzuschreiben Der Zeuge oder Sachverständige werden auf solche mitgeschriebenen Sätze festgelegt, auch wenn sie selbst sie nicht mehr erinnern. Der Raum der Hauptverhandlung wird auf diese Weise vom realen zum symbolischen Ort. Die formale Anordnung zwischen den Personen in der Hauptverhandlung dient auf der einen Seite dazu, eine aus sich heraus erkennbare Form des Verfahrens nicht entstehen zu lassen. Sie bildet einen Raum der Indifferenz. Das gilt jedenfalls für das einzelne Exemplar jeder Verhandlung im Verhältnis zu anderen Hauptverhandlungen. Wo der Angeklagte sich hinsetzt - diese Raumzuweisung soll noch keine charakteristische Einzelheit darstellen. Man soll nur erst Platz nehmen, bevor die Verhandlung beginnt. Auf der anderen Seite gilt die Unerkennbarkeit der Form zwar für das je konkrete Verfahren, aber nicht für den Verfahrenstyp insgesamt. Die Hauptverhandlung grenzt sich charakteristisch negativ von anderen Dialogsituationen ab, indem sie ihre formalen Regeln bei der Eröffnung jeder neuen Verfahrenssituation einübt. Die Verhandlung beginnt eben nicht, bevor sich die Prozeßbeteiligten nicht auf die für sie vorgesehenen Plätze gesetzt haben und ihre Gegenwart festgestellt worden ist. Der gerade Blick geht von einem Platz aus und fällt auf eine andere Fläche. Wenn der Blick auf eine Fläche fällt, unterscheidet er sie von der Umgebung und zeichnet sie dadurch aus. Die Fläche wird zum Platz. Plätze gewinnen - für sich genommen - eine gegenständliche Bedeutung. Sie schaffen den Raum für einen Gegenstand. Das ist schon das

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IX. Räume, Gänge, Säle

Ganze der Bedeutung schaffenden Wahrnehmung. In Verbindung mit anderen Plätzen kann sie Orte abstufen. Sie treten hintereinander in eine perspektivische Ordnung, je nachdem wie oft oder wie lange der Blick auf ihnen ruht. Der Blick zeichnet die Bedeutung erst aus. Er fällt gerade auf den Gegenstand, der in den Blick genommen wird. Die Geradlinigkeit hat ein Moment des Zufälligen. Gerade erkenne ich etwas. Es repräsentierte vor meinem Blick noch nicht, was ich jetzt erkannt habe. Sein wahres Sein wird erst durch den geraden Blick enthüllt, denn der gerade Blick ist der gerechte Blick; der schiefe, der krumme, der gebrochene Blick - sie alle gehören in den Vorraum der Gerechtigkeit und warten darauf, selbst zum Objekt des geraden Blicks zu werden. Nur der gerade Blick erkennt, daß eine Richtung krumm und schief ist. Der gerade Blick fällt auf einen Gegenstand, der ihn reflektiert und deshalb gerade macht. Er hat ein Objekt. Er schweift nicht umher, sondern fällt auf eine Fläche. So wie diese Fläche ihn reflektiert, so macht er die Ebene der Reflexion zur Fläche. Der gerade Blick ist das rekursive Instrument der Gerechtigkeit. Man ist geneigt, ihn den Blick des Aufrechten zu nennen, und bleibt damit in der Perspektive. Für die Herrschaft der Zeichen bleibt der Platz wichtig, weil er erst den Blick freigibt. Der auszeichnende, die Figur bestimmende Platz macht umgekehrt auch den Blick selbst wichtig. Wichtige Bedeutungen können deshalb im Wortsinne "erkannt" werden. Diese Rechtserkenntnis zeichnet die Herrschaft der Zeichen in der Hauptverhandlung aus. Der zentrale Platz ist im Blick.

9. Die Bedeutung des Raums für die imaginäre Szene der Gerechtigkeit Was verhandelt wird, kann man nicht nur hören und sehen. Der gerichtliche Diskurs hat eine empirisch nicht vollständig wahrnehmbare Realität, auch wenn der Blick auf den Prozeß gelegentlich an den Roben oder am Raum verhaftet. Zwar lehrt die Semiotik des Gerichtsraums, daß man nicht umstandslos auf die Hinterwelten des Rechts zusteuern und Roben wie Räume als beiläufige, unwesentliche Beigaben übergehen kann. Sie sind ein Zeichen dafür, was man sich beim Gerichtsdiskurs denken kann. Aber was es zu sehen gibt, ist auch nicht einfach an der beobachtbaren Oberfläche bedeutsam. Die Realität des gerichtlichen Diskurses läßt das sinnlich Wahrnehmbare zurücktreten. Still erscheint dahinter der imaginäre Anteil. Wo man etwas anhören kann, wo man etwas versteht und darauf antworten will, dort durchläuft jede Wahrnehmung auch eine symbolische Umformung. Darauf beruht schon unsere allgemeine Vorstellung vom Zeichen. Das Zeichen bezeichnet, was nicht anwesend ist und was man nicht sehen kann. Soweit das allgemeine und das juristische Lexikon dem Hörbaren das Gemeinte zuordnet, bleiben die imaginären Anteile ausgespart. Was gemeint ist, gehört für den

9. Die Bedeutung des Raums

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von der sinnlichen Wahrnehmung abstrahierenden Realitätssinn ganz selbstverständlich zur Realität. Aber zum Diskurs wird die gerichtliche Rede erst durch Imagination. Sie schafft unterschiedliche und nicht sichtbare "Ebenen", indem sie den Sprecher ebenso wie den Gesprächspartner in eine Szene versetzt. Szenische Rede ist Rede, die Phantasien und Möglichkeiten aufnimmt. Sie ist der Hintersinn der realen Rede. Der neuzeitliche gerichtliche Diskurs hat viele räumliche und gegenständliche Rituale abgelegt, für unwesentlich erklärt oder aus der Verfahrensform ausgespart. Gerichte können ohne Robe verhandeln, sie können außerhalb des Gerichtssaals verhandeln. Ob es der Wahrheitsfindung dient, wenn sich Zuhörer und Prozeßbeteiligte beim Eintreten des Gerichts erheben, ist zweifelhaft geworden. Auch diejenigen, die sich nach wie vor erheben, mögen den Wahrheitsanspruch des Prozesses nicht durch diese Geste garantiert sehen. Es handelt sich eben um eine Form, die auf etwas verweist. Je weniger die Prozeßbeteiligten an den Formen, die auf etwas verweisen, haften bleiben, desto problematischer wird es, das zum Vorschein zu bringen, auf das verwiesen wird. Die Rede und das gesprochene Wort sind schließlich auch nur eine äußere Form, und man darf nicht erwarten, daß Staatsanwälte, Verteidiger und Richter werktäglich rednerische Glanzleistungen erbringen, um Gerechtigkeit zum Vorschein zubringen. Je mehr die Räume und das Verhalten in ihnen, die Gänge und die über sie hergestellten Beziehungen, die Säle und die durch sie prozessierten Verhandlungsergobnisse durch die äußere Form nur denotiert werden, um so höher werden die Denotate auch in ihrer Vorstellungskraft belastet. Kaum läßt sich die Imagination im Gerichtssaal positiv umschreiben. Wenn Imaginationen umschrieben werden, dann geschieht das zunächst negativ. Imaginär wirkt, was man nicht sehen, hören undriechen kann. Wo Rede "ankommt", wo sie sich durchsetzt und etwas bewirkt, dort herrschen die konventionellen Symbole. Was mitschwingt und mitklingt, ist imaginär in mehrfacher Hinsicht. Von einem realistischen Gesichtspunkt sind die weiteren Anteile utopisch, auf Nicht-Orte bezogen. Die Imagination besteht aus Restposten, aus Vorstellungen über Schuld und Sühne, wo Tatbestand und Rechtsfolge gemeint waren, oder aus Querulantentum, aus subjektivem Überschuß-Erleben. Nur selten gestehen sich die bediensteten Anwender des Rechts ein, daß auch sie ihre Symbole aus Imaginationen speisen. Aber wir wissen, daß symbolisches Recht etwas mit individuellen Vorstellungen, mit Motiven zu tun hat. Nach der alten Vorstellung prägten Motive und moralische Überzeugungen das rechtliche Wollen. Das Recht lebt von der Vorstellung, daß sich der Antrieb, das Motiv, für einen Prozeß oder für einen nicht vor Gericht ausgetragenen rechtlichen Konflikt in der sozialen und subjektiven Welt schon gebildet haben und von dort als "Rechtsfrage" an das Rechtssystem herangetragen werden. Danach stammen die Imaginationen im Gericht aus dem Erleben der Parteien.

IX. Räume, Gänge, Säle

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Die Bedeutung, die einer solchen Imagination rekursiv zugewiesen wird, entsteht aus der Abfolge im Verfahren, der lokalen Stellungnahme, und aus dem Vergleich mit anderen Verfahren, der persönlichen Erfahrung. Beide Strukturgesichtspunkte entstehen durch überindividuelle, systemische Vorgänge, sie müssen sich aber in den Verfahrensbeteiligten widerspiegeln, sonst bleibt die Imagination leer. Die aktuelle Leere wird deshalb gelegentlich durch Kommentare und Kritik außerhalb des Verfahrens zur Fülle der Bedeutung. Die so nachträglich hergestellte Bedeutung bleibt dualistisch. Sie bezieht sich auf etwas von ihr Getrenntes. Sie bezieht sich auf die semiotische Kraft der Verfahrenshandlungen, deren Bedeutung so gesehen gerade nicht im konkreten Raum zu sehen ist.

10. Wahrheiten im Zwischen-Raum Wahrheit kann man nicht nur in einem Raum erkennen. Der Abschied von der "Erkenntnis" geht einher mit der Lockerung räumlicher Anordnungen und ritueller Fixierung. Die klassische Rechtstheorie und die geltende Gerichtspraxis leiten den Urteilsspruch zwar noch mit der rituellen Formel ein, das Gericht habe "für Recht erkannt". Die juristische Wahrheit wird aber nach Art eines Konditionalprogramms verstanden, das eine Zeichenfolge für verschiedene Empfänger in gleicher Weise wahrnehmbar macht und vom Raum nicht abhängig ist.21 Moderne Wahrheiten sind nicht an Säle gebunden, sie gründen sich auf Wahrnehmungen, auf "Evidenz". Insofern haben sie etwas mit dem Blick zu tun. Eine Wahrheit sieht man; man erlebt sie unmittelbar, auch wenn ein längerer Wahrnehmungs- und Diskussionsprozeß vorausgegangen ist. Das Gefühl, man sei zu einem wahren Satz gelangt, stellt sich erst ein, wenn Kombinationen von Sätzen nicht weiter zerlegt, nicht mehr in weitere Bestandteile aufgegliedert werden. Wahrheit verbindet Erlebnisse und wirkt unmittelbar. Verbunden wird nämlich das Erleben verschiedener Empfänger, ohne daß der Sender der Botschaft auf dieses Erleben Einfluß nehmen kann oder muß. Wahrheit ist insofern nicht herbeizureden. Über Wahrheiten läßt sich auch nicht argumentieren; man glaubt sie - und erkennt sie, oder man glaubt sie nicht. Ob man sie glauben kann, hängt von dem Platz im Verfahren ab, den man einnimmt. Nach dem klassischen Verständnis war dieser Platz in der Mitte undrichtete sich auf das Zentrum - das nicht nur räumliche, sondern vor allem symbolische Zentrum. Allerdings wird diese Blickrichtung zunehmend zweifelhaft. Man bevorzugt Umwege. Unser Wahrheitsverständnis ist im Repräsentierten gebrochen. Man findet Wahrheit nicht mehr, man geht nicht mehr auf sie zu, man nimmt sie nicht mehr auf. Der wahre Weg scheint eher dem 21

Luhmann, Recht, S. 197 f.

10. Wahrheiten im Zwischen-Raum

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Therapeuten als dem Richter vorbehalten zu sein.22 Der klassische Blick auf Wahrheit ging unmittelbar - "gerade" - auf das Objekt zu, das Unbewußte im Rücken haltend. Indem der Blick vorwärts griff, entfernte er sich rückwärts vom Unbewußten. Er erkannte sein Objekt schnell, und wenn er es erkannt hatte, kam die Bewegung ans Ende. Im modernen Verständnis geht die Unmittelbarkeit verloren. Man erkennt Wahrheit nicht mehr einfach - schon gar nicht an einem zentralen Platz. Ich bleibe beim Gerichtsort und fasse die Wirkung des veränderten Wahrheitsverständnisses metaphorisch so zusammen, daß Wahrheit (nur noch) von der Seite ins Verfahren eindringt. Wahrheit findet man nicht mehr im Saal auf der vorbezeichneten Bühne der Verhandlung; man findet sie im Gang, im Zimmer, in der Kantine, im Vorraum des Beratungszimmers, jedenfalls in einem Zwischen-Raum. Denn die Verhandlung hat einen doppelten Ort. Der Gerichtssaal hat bekanntlich einen zweiten Teil für die Beratung, und die Wahrheit wird schon nach klassischem Verständnis dort und nicht in direkter Verhandlung gefunden. Der manifeste Ort der öffentlichen Verhandlung, die Rede und Gegenrede im Gerichtssaal umfaßt, wird ergänzt durch die geheime Beratung des Spruchkörpers. Dort wird die Verhandlung reproduziert. Sie findet damit ohnehin in zwei Räumen statt. Wenn Wahrheit in der Beratung durch nicht öffentlich gemachte Zeichen gefunden wird, dann läßt sich die Trennung vom Verhandlungsort auch zum Prinzip erheben. Der Ort eröffnet einen neuen Sprachraum schon einfach deshalb, weil er einen abgeschlossenen Raum und damit neue Zeichenketten ermöglicht. In einem anderen Sprachraum sind auch andere Sprachen möglich. Solche vom öffentlichen Strafprozeß getrennten, aber mit ihm verbundenen Sprachen werden beim Aushandeln von Wahrheit zwischen den Prozeßbeteiligten erfunden und benutzt. Der Handel übergeht das Beweisverfahren, für das der Gerichtssaal die Bühne abgibt. Er findet deshalb auch nicht auf dieser Bühne statt, sondern im Zwischen-Raum. Der "Handel mit Gerechtigkeit" oder das "Aushandeln" von Wahrheit nehmen die Deutungen aus semantischen Kämpfen auf. Außerhalb des Gerichtssaals begegnen sich Richter und Staatsanwalt, Staatsanwalt und Verteidiger oder Verteidiger und Gericht. Die Begegnungen brauchen nicht lange zu dauern, sie sind weder auf Beweismittel noch auf Argumentation angewiesen. Man wendet dem, was man aus dem Recht bewußt weiß, zeitweise den Rücken zu, ohne es zu vergessen. "Fairness" soll den "Handel" begrenzen. Man hat aber dem Unbewußten noch nicht so weit den Rücken zugewendet, daß sich vorhersagen ließe, warum welcher Handel gelingt oder scheitert. Denn diese Erfahrung macht jeder, der sich in den Handel mit Wahrheit begibt: Es gibt in ihm eine nicht mehr verhandelbare Grenze, die nicht benannt, aber um so deutlicher gefühlt wird. Da man den Blick aufeinander haften läßt und die Plätze im Gerichtssaal nicht vertauscht, bleibt die Essenz des Handels Seibert, Orte der Wahrheit, S. 168.

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IX. Räume, Gänge, Säle

den Akteuren verborgen. Sie bleibt hinter ihrem Rücken. Der Einstieg in die Wahrheit erfolgt von der Seite. Diese Ortsbestimmung zehrt von der Veränderung des Ortsbewußtseins durch semiotische Erfahrungen. Das Ausgeschnittene, der Zwischenraum zwischen den offiziellen Verhandlungssituationen, wird zur wirklich bedeutsamen Instanz. Der Ort, der durch die Pragmatik von Blick und Platz in den Hintergrund verdrängt wurde, gewinnt eine neue, wenngleich nicht definierte Bedeutung. Würde sie definiert, müßte sich der Einstieg in die Wahrheit bereits wieder verlagern.

X. Frömmigkeit in den Erzählungen über das Recht Frömmigkeit und Recht standen einst in enger Beziehung zueinander. Heute überlegt man sich schon, was überhaupt noch als "fromm" gelten soll, und wer Rechte beanspruchen oder durchsetzen will, hütet sich, private fromme Gefühle zur Schau zu stellen. Frömmigkeit berührt mitunter eher peinlich als rechtschaffen. Insofern liefert mir "Frömmigkeit" das Stichwort für eine unzeitgemäße Betrachtung. Unzeitgemäß mag dabei auch wirken, daß Literatur das Beispiel für fromme Verlautbarungen abgibt, und vielleicht ist es sogar unfromm, mit einer Erzählung aus der Bibel und ihrer modernen Abwandlung das Thema zu eröffnen. Ich wage es. Ich beginne, den immanenten Protest frommen Handelns an einer wieder modern gewordenen Figur zu erläutern. Die Legende über Hiob (1) bildet den Hintergrund, und ihre Nacherzählung durch Joseph Roth (2) den Vordergrund für literarische Annäherungen. Sie machen deutlich, daß Frömmigkeit zwei semiotische Haltungen verlangt: einmal sich als Empfänger einer Vorschrift bereitzuhalten und die Umtauschbarkeit der Plätze im Dialog (3) zu akzeptieren, zum anderen aber eine Vertauschung der Begriffs- und Sachverhältnisse (4) - der Satzordnungen - jederzeit zu erwarten, sich darüber nicht zu beklagen, sondern sie sogar herauszufordern und mit der Veränderung zu lernen. Darin liegt der moderne Gehalt der Frömmigkeit. Sie kombiniert den Glauben an den unbedingten Charakter der Verpflichtung mit Lernbereitschaft. Diese Kombination gehört zu den heidnischen Unterweisungen (instructions païennes ), mit denen Jean-François Lyotard die Verpflichtung (obligation) betont, ohne den Namen Gottes zu nennen. Die Lehre heißt dann (5): sich als Empfänger der Vorschrift bereitzuhalten und zu warten, daß Recht geschieht. Zu dieser Haltung verpflichtet die moderne Erzählung über das Recht, obwohl sie den Protest vor die Demut setzt.

1. Hiobs Botschaft Hiobsbotschaften sind sprichwörtlich, und zu den Sprichworten gehört, daß die Justiz Hiobsbotschaften versendet. Schlimmes wird bekanntgegeben, man erfährt, was man nicht verdient hat, und wird in harter Weise auf die Probe gestellt. Zum Sprichwort gehört heute nicht mehr, daß es sich um eine 12 Seibert

X. Frömmigkeit

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göttliche Prüfung handelt, und man erinnert sich auch nicht mehr daran, mit welcher Einstellung diese Prüfung bestanden werden kann. Dazu muß die Legende erinnert werden. Im alten Testament haben Recht und Frömmigkeit Namen. Hiob lebt im Lande Uz; er ist reich und opfert Gott stetig, so daß Satan diesen gerechten Erdenbürger auf die Probe stellen will. Gottesfürchtig sei jener nur - so lautet die Herausforderung -, solange das Werk seiner Hände gesegnet sei und sein Besitztum größer werde. Das ändert sich ganz plötzlich. Der Bote kommt zu Hiob und meldet: "Ich bin der einzige, der den Sabäern entronnen ist, die eine Herde Rinder und Esel überfallen und die Knechte getötet haben." Der nächste Bote berichtet, die Chaldäer seien in drei Heerhaufen über die Kamele hergefallen und hätten sie geraubt; und der übernächste meldet, daß die Söhne und Töchter bei einem Fest im Haus des Bruders von einem gewaltigen Sturm erfaßt und unter den Trümmern des Hauses begraben seien. So setzen sich die Hiobsbotschaften fort. Den Verlust der Tiere wie der Menschen nimmt Hiob hin und hält an seiner Frömmigkeit fest: "Der Herr hat gegeben, der Herr hat genommen; gelobt sei der Name des Herrn". 1 Es kommt die zweite Reihe der Prüfungen, mit denen Satan den Glauben Hiobs herausfordert. Jetzt lautet die Forderung: "Haut um Haut! Alles, was der Mensch besitzt, gibt er hin für sein Leben".2 Nur das Leben Hiobs selbst nimmt Gott vom Zugriff des Herausforderers aus. Aber er gestattet, daß Hiob körperlich dahinsiecht. Noch im Siechtum erwidert Hiob seiner Frau, die ihn wegen seiner Frömmigkeit schilt, man habe nicht nur Gutes, sondern auch das Böse aus Gottes Hand entgegenzunehmen. Erst nach sieben Tagen bricht er sein Schweigen und stimmt ein Klagelied an. Die Klage richtet sich gegen das eigene Dasein und gegen den Sinn des Hiob zur Last gewordenen Lebens. "Warum starb ich nicht vom Mutterschoß weg, kam ich aus dem Mutterleib und verschied nicht gleich?" fragt Hiob3 und protestiert gegen Gott: "Wozu Licht für den Mann auf verborgenem Weg, den Gott von allen Seiten einschließt?"4 Von der Klage können Hiob dann auch seine Freunde durch Erklärungen nicht mehr abbringen. Es folgen lange Reden der Freunde, und ihnen folgen jeweils Hiobs Antworten. Die Freunde sagen, was sich bis heute Menschen angesichts schlimmer Ereignisse zur Erklärung sagen: jedermann sei selbst an seinem Unglück schuld und müsse auf Gott vertrauen. Gegen diese konservative Frömmigkeit richtet sich Hiobs Protest. Er fühlt, daß man sein Leiden nur als nicht ernstgemeinte Lüge wegwischen wolle, und formuliert den existentiellen Protest, der den Gang des Lebens und des Tages erfaßt. "Lege ich mich nieder, sage ich: Wann darf ich aufstehen? Wird es Abend, bin ich 1

Altes Testament, Buch Hiob 1, 22.

2

Hiob 2, 4.

3

Ebd,3, 11.

4

Ebd., 3, 23.

l.Hiobs Botschaft

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gesättigt mit Unrast, bis es dämmert".5 Die Klagen dauern an und nehmen immer wieder Rechts- und Gerichtsvergleiche auf. Hiobs Deutungen ist gemeinsam, daß er sich selbst in einer ausweglosen, unbedingten Empfängerposition wähnt. Er kann Gott nicht herausfordern. "Und wär' ich im Recht, ich könnte nichts entgegnen, um Gnade müßte ich bei meinem Richter flehen. Wollte ich rufen, würde er mir Antwort geben? Ich glaube nicht, daß er auf meine Stimme hört". 6 Es handelt sich also um eine fundamentale Bindung an die Empfängerposition, eine Einstellung, die selbst dann nicht abgelegt werden kann, wenn man selbst redet und anklagt. Das tut Hiob schließlich, indem er sich nach dem Grund der Plagen fragt. "Warum bleiben Frevler am Leben, werden alt und stark an Kraft? Ihre Nachkommen stehen fest vor ihnen, ihre Sprößlinge vor ihren Augen. Ihre Häuser sind in Frieden, ohne Schreck, die Rute Gottes trifft sie nicht".7 Die Klagen setzen sich fort, bis sich endlich Gott an Hiob wendet und ihn fragt: "Mit dem Allmächtigen will der Tadler rechten? Der Gott anklagt, antworte drauf!" 8 Die Antwort Hiobs sind Reue und ein Schuldbekenntnis. Er sieht ein, daß sein Verstand nicht hinreicht, die Befehle Gottes zu erforschen, bittet für seine Freunde, die meinten, ihn durch solche Forschungen trösten zu können, und wendet damit ihr aller Geschick wieder zum Guten. Wie man sieht, ist die in Hiob verkörperte Frömmigkeit kein philisterhafter Glauben. In der Prüfung und im Leiden reagiert Hiob mit Protest, aber er behält seinen Glauben. So leben alle, die in Hiobs Nachfolge schicksalhafte Prüfungen ertragen und Leiden erdulden. Ihnen geschieht Recht, weil sie ihren Glauben behalten, und sie dürfen auf ihren Glauben vertrauen, weil sie rechtens handeln. Erst am Ende wird Hiob erlöst, denn sein Leiden war "in Wirklichkeit" eine Prüfung der Empfangsbereitschaft für die göttliche Botschaft. Hiob hatte sich für diese Botschaft stets bereitgehalten. Er machte sich nicht zum Autor des Glaubens und zum Sender einer Botschaft, sondern gehorchte trotz Protestes; das zeichnet jeden Frommen aus. Es gilt im Kern auch für die Rechtsbotschaft. Gerechtigkeit kommt "von oben". Es braucht keine großen Anstrengungen, um die Dialektik dieser Ortsbestimmung zu erkennen. Recht wird gegeben, und man fragt nicht nach der Instanz, die gibt. Als Naturrecht hat es allgemein göttliche Inhalte, aber der Beobachter bemerkt, daß diese allgemein göttlichen Inhalte auch "von oben" weitergegeben werden - eben als "Gerechtigkeit von oben", bei der Ernst Bloch die "Spannung zum positiven ius" vermißt. Das antike Naturrecht "biß nicht, fügte der bestehenden Ordnung noch keinen Schaden zu".9 Das ändert sich. 5

Ebd., 7,4.

6

Ebd., 9 , 1 5 - 1 6 .

7

Ebd., 2 1 , 7 - 9 .

8

Ebd., 40,2.

9

12*

Bloch, Naturrecht, S. 50

180

X. Frömmigkeit

2. Protest und Verheißung Wenn man Recht verstehen und sich an die in rechtlichen Botschaften übermittelten Zeichenketten anschließen will, mischen sich Demut und Frömmigkeit mit Protest und Widerstand. In der Neuzeit nehmen die Erzählungen über den Gottesglauben ebenso ab, wie die Geschichten vom demütigen Rechtsempfang nicht mehr erzählt werden. Auf Frömmigkeit muß ausdrücklich hingewiesen werden. Die alttestamentarische Legende kehrt in modernen partikularen Erzählungen wieder. Hiob nimmt die Gestalt des Juden an und verwandelt sich im gleichnamigen Roman von Joseph Roth in den galizischen Bibellehrer Mendel Singer, den das Schicksal aussetzt und vom gelobten, sagenhaften Galizien in das moderne, gnadenlose Amerika vertreibt. Was in Galizien zusammengehörte und die fromme Lebenspraxis bestimmte, fällt im modernen Amerika auseinander. Mendel Singer war ein im alten jüdisch-religiösen Sinne gläubiger und insofern konservativ-frommer Mann; in Galizien nimmt er die Leiden hin: die Krankheiten, die das Land heimsuchen, die Lähmung, die seinen jüngsten Sohn zum Krüppel macht, die Armee und den Krieg, der ihm die älteren Söhne wegnimmt. "Und also begannen ihre Plagen. Sie aßen nicht, sie schliefen nicht, sie torkelten schwach und zitternd durch Tage und Nächte".10 Anders als der alttestamentarische Hiob sinnt Mendel Singer aber auf Abhilfe, die - ein Traum des 20. Jahrhunderts - in der Ferne winkt, in Amerika. Er läßt die galizische Erde und den gelähmten Sohn zurück und wandert mit dem Rest der Familie aus. Die neue Heimat scheint sogar segensreich zu sein. Die Familie erwirbt Vermögen, alle haben zu essen, und dennoch fehlt etwas. Bald fühlt Mendel, was den Reichtum vom Glück unterscheidet und die Wurzellosigkeit seiner neuen Heimat ausmacht.11 Es kam ihm vor, daß es leicht wäre, jetzt, so wie er ging und stand, das Haus zu verlassen und zu Fuß weiterzuwandern, die ganze Nacht, bis er wieder unter dem freien Himmel war und die Frösche vernahm und die Grillen und das Wimmern Menuchims. Hier in Amerika gesellte es sich zu den vielen Stimmen, in denen die Heimat sang und redete, zum Zirpen der Grillen und zum Quaken der Frösche. Dazwischen lag der Ozean, dachte Mendel. Man mußte ein Schiff besteigen, noch einmal ein Schiff, noch einmal zwanzig Tage und Nächte fahren. Dann war er zu Hause bei Menuchim.

Den neuen Hiob unterscheiden das Exil, die Wanderung und die Wurzellosigkeit von seinem alttestamentarischen Vorgänger. Er hat schon einmal gewählt, das Schicksal gestalten wollen, sein Glück im Unglück des Weltkrieges versucht und wird nun doppelt und irreversibel bestraft. Abgesehen davon, daß die Heimat fern ist und er von Menuchim nichts weiß, außer daß er ihn 10

Roth, Hiob, S. 19.

11

Ebd., S. 87.

2. Protest und Verheißung

181

verlassen hat, verliert er seinen gerade erst erworbenen Reichtum, stirbt seine Frau, und der Wahnsinn befällt seine Tochter. Der neue Hiob unterschiedet sich vom alttestamentarischen Vater auch dadurch, daß er die Legende natürlich kennt und sich in ihr nicht mehr wiederfinden kann. Als die Freunde ihn an Hiob erinnern und mahnen, die Strafe geduldig zu tragen und als gerechten Ausgleich hinzunehmen, antwortet Mendel bitter, man habe noch keine wirklichen Wunder gesehen, "Wunder, wie sie am Schluß von Hiob' berichtet werden"; das Beispiel passe nicht. Mendels Protest gegen seinen alten Glauben ist ohne Hoffnung, und seine Frömmigkeit wandelt sich in schneidenden Protest. Die alte Sophistik des neuen Hiob lautet:12 Gott ist grausam, und je mehr man ihm gehorcht, desto strenger geht er mit uns um. Er ist mächtiger als die Mächtigen, mit dem Nagel seines kleinen Fingers kann er ihnen den Garaus machen, aber er tut es nicht. Nur die Schwachen vernichtet er gerne. Die Schwäche eines Menschen reizt seine Stärke, und der Gehorsam weckt den Zorn. Er ist ein großer, grausamer Isprawnik. Befolgst du die Gesetze, so sagt er, du habest sie nur zu deinem Vorteil befolgt. Und verstößt du nur gegen ein einziges Gebot, so verfolgt er dich mit hundert Strafen. Willst du ihn bestechen, so macht er dir einen Prozeß. Und gehst du redlich mit ihm um, so lauert er auf Bestechung. In ganz Rußland gibt es keinen böseren Isprawnik!

Im Protest gegen den Glauben übt Mendel die Umkehrung der konservativen Heilsbotschaft ein. Was immer man tut, man kann nicht sicher sein, ob es recht getan ist, weil das rechte Tun auch als selbstgefällig angesehen werden kann. Warum also sollte man nicht gleich Schweinefleisch essen und am Sabbat arbeiten? Die Herausforderung der konservativ frommen jüdischen Gewohnheiten läßt Mendel Singer zum neuen Hiob werden. Er leidet und erst nach langem Leiden ereignet sich etwas völlig Unerwartetes. Der zurückgelassene, gelähmte Sohn Menuchim erlöst den Vater tatsächlich. Die ersehnte, aber nicht für wirklich gehaltene Botschaft ereignet sich. Auf der Schallplatte, diesem höchst modernen Klangereignis, hört Mendel "Menuchims Lied" und erhält eines Tages Besuch von einem vornehmen Herrn, der von Galizien erzählt, Mendel Geld aus dem Verkauf seines zurückgelassenen Hauses übergibt und berichtet, der verschollene Sohn Jonas kämpfe in der weißgardistischen Armee. Schließlich stellt sich der fremde Besucher als Komponist von Menuchims Lied vor und antwortet auf Mendels lange zurückgehaltene Frage, wo Menuchim jetzt sei: "Ich selbst bin Menuchim". Menuchim ist im gelobten Galizien geblieben, hat dem Geiger zu gehört, der jeden Tag spielte, und fand zur Sprache, als das Haus, in dem er lebte, abzubrennen drohte und er deshalb "Feuer" rief. Er sei genesen durch moderne Medizin, mit der auch der Wahnsinn der Schwester geheilt werden könne, sagt Menuchim während in Mendel das Bild seiner Frau wieder auftaucht. "Und er ruhte aus von der Schwere

12

Ebd., S. 102.

182

X. Frömmigkeit

des Glücks und der Größe der Wunder", heißt der Schlußsatz.13 Die Erlösung und das Wunder oder das unerwartete Ereignis sind mit der in Protest verwandelten Frömmigkeit eng verbunden. Erst ein solches Ereignis macht das Recht zum Moment individuellen oder kollektiven Erlebens. So fern ist uns das Gefühl des unverdienten Sieges durchaus nicht, wenn wir an das Recht denken. Der Richter sieht mir in die Augen und sieht, daß ich recht habe, er hilft mir, verbannt die Feinde und erläßt die Schulden: Das ist auch ein moderner Mythos, der seine Traditionen im alten Glauben hat und doch - je unverdienter und ungewöhnlicher das Obsiegen wäre, desto strahlender - das moderne Rechtsgefühl beherrscht.14 Die Legende bewahrt, was die Theorie des Rechts nicht mehr lehrt und an das - wie im Buch Hiob - auch heute noch erzählerisch erinnert werden muß: Derjenige, an den Recht adressiert ist, derjenige, der einem Gebot folgen und ein Schicksal auf sich nehmen muß, ist nicht der Autor des Gebots. Niemand ist sein eigener Gesetzgeber.

3. Die Unvertauschbarkeit der Plätze im Rechtsdiskurs Die Erzählungen erinnern an die einfache semiotische Teilung der Kommunikation. Vom Platz des Senders werden Zeichenketten zum Platz des Empfängers übermittelt. Wenn man Recht (wie immer es sich konkret darstellt) als Signifikat eines Zeichens auffaßt (wie Geld oder Gesundheit Zeichen sein können), dann wird es durch Signifikanten wirklich gemacht, und man kann fragen: Wer spricht Recht zu wem? Wer ist Sender des normativen Satzes, und an wen richtet sich dieser Satz? Es gibt einen weiteren großen und in der Form konservativen Roman Joseph Roths, der das Adressatenverhältnis für ein Gebot in die Moderne übersetzt. Der "Radetzkymarsch" führt ins Wien der Kaiserzeit, Petent ist der Vater eines Offiziers, der in der Provinz Spielschulden gemacht hat und dessen Großvater dem Feldherrn und Staatsoberhaupt vor langer Zeit einmal das Leben gerettet hat. Er bittet den Kaiser um Erlaß der Spielschulden und hofft damit, seinem Sohn den Ausschluß aus der Armee zu ersparen.15 "Majestät", wiederholte der Bezirkshauptmann zum drittenmal, "ich bitte um Gnade für meinen Sohn!" Sie waren wie zwei Brüder. Ein Fremder, der sie in diesem Augenblick erblickt hätte, wäre imstande gewesen, sie für zwei Brüder zu halten. Ihre weißen Backenbärte, ihre abfallenden schmalen Schultern, ihr gleiches körperliches Maß erweckte in beiden den Eindruck, daß sie ihren eigenen Spiegelbildern gegenüberständen. Und der eine glaubte, er hätte sich in einen Bezirkshauptmann 13

Ebd., S. 136.

14

Die "Prophetie der Norm" sieht Lachmayer in dieser Verheißung verwirklicht (Norm, S. 566). 15

Roth, Radedetzkymarsch, S. 407.

3. Die Unvertauschbarkeit der Plätze

183

verwandelt. Und der andere glaubte, er hätte sich in den Kaiser verwandelt. Zur linken Hand des Kaisers und zur rechten Herrn von Trottas standen die zwei großen Fenster des Zimmers offen, auch sie noch verhüllt von sonnengelben Vorhängen. "Schönes Wetter heut!", sagt plötzlich Franz Joseph. "Wunderschönes Wetter heut!" sagte der Bezirkshauptmann. Und während der Kaiser mit der Linken nach dem Fenster deutete, streckte der Bezirkshauptmann seine Rechte in die gleiche Richtung aus. Und es war dem Kaiser, als stünde er vor seinem eigenen Spiegelbild. Auf einmal fiel es dem Kaiser ein, daß er vor seiner Abreise nach Ischl noch viel zu erledigen hatte. Und er sagte: "Es ist gut! Es wird alles erledigt. Was hat er denn angestellt? Schulden? Es wird erledigt! Grüßen Sie Ihren Papa!" "Mein Vater ist tot!" sagte der Bezirkshauptmann. "So tot!" sagte der Kaiser. "Schade, schade!" Auch wenn die Geschichte vom Recht nicht redet, so handelt sie doch darüber. Die Entscheidung wirkt so nachhaltig, wie die Verhandlung dürftig scheint. Die "Affaire" wird beigelegt, der Bezirkshauptmann überweist seinem Sohn Geld, um die Schulden zu bezahlen, und der Hauptmann, der als Spieler in Erscheinung getreten war, verschwindet ebenso wie der Verführer zum Spiel, der Wirt Kapturak.16 "Warum?" "Man hat ihn einfach ausgewiesen!" Ja, so weit reichte also der Arm Franz Josephs, des alten Mannes, der mit Leutnant Trotta gesprochen hatte, einen blinkenden Tropfen an der kaiserlichen Nase. So weit reichte also auch das Andenken des Helden von Solferino. Eine Woche nach der Audienz des Bezirkshauptmanns hatte man Kapturak weggeschafft. Nachdem die politischen Behörden einmal einen Wink erhalten hatten, verboten sie auch den Spielsaal Brodnitzers. Von Hauptmann Jedlicek war nicht mehr die Rede. Er versank in jene rätselhafte, stumme Vergessenheit, aus der man ebensowenig wiederkehren konnte wie aus dem Jenseits. Er versank in den militärischen Untersuchungsgefängnissen der alten Monarchie, in den Bleikammern Österreichs. Wenn den Offizieren gelegentlich sein Name einfiel, verscheuchten sie ihn sofort. Das gelang den meisten dank ihrer natürlichen Anlage, alles zu vergessen. Der Verführer wird eingekerkert, der Täter verschwindet und der Nutznießer muß das Verbot hinnehmen. Statt dessen wird der Held gerettet, dem Kerker und Ausschluß bevorgestanden hätten. Die Entscheidung stammt gewissermaßen aus der Fibel des barocken Theaters, in dem Gott aus der Maschine die Wirren am Ende zum Guten fügt. Der Fromme wird aus seinen Anfechtungen befreit. Joseph Roths Roman, in dem diese Entscheidimg einen Höhepunkt und Wendepunkt bildet, verlagert den Glauben an den Sieg des frommen Gerechten allerdings in einen ganz weltlichen Kontext, und er tut das in einer auch schon 1930 auffällig konservativen Weise, bei der Zweifel 16

Ebd., S. 409.

184

X. Frömmigkeit

entstehen müssen, ob Gerechtes entsteht, wenn nach kaiserlicher Art verfahren wird und stumme Entscheidungen fallen. Für uns Moderne springen die Zweifel an der Qualität des Rechts ins Auge. Für uns Verfahrensgerechte springt die Ungerechtigkeit des Verfahrens ins Auge. Der Kaiser hört nichts, der Kaiser sieht aus dem Fenster, wie soll er da ins Herz sehen ? Der Hauptmann wird nicht gehört, der Hauptmann verschindet in den "Bleikammern", der Wirt verschwindet hinter der Grenze in der Unendlichkeit, wo soll da das Gute liegen? Ich will den Widerspruch im Text nicht zum Schweigen bringen, aber doch die Faszination erhalten, die jeden erfaßt, der sich den Bezirkshauptmann von Trotta beim Anhören des Radetzkymarschs vorstellt, der die Hymne auf die weltliche Frömmigkeit und die fromme Weltlichkeit dieser untergegangenen Welt nachsingt. Denn so fern ist uns das Gefühl des unverdienten Sieges nicht, wenn wir an das Recht denken. Der Richter sieht mir in die Augen und sieht, daß ich recht habe, er hilft mir, verbannt die Feinde und erläßt die Schulden: Das ist auch ein moderner Mythos, der seine Traditionen im alten Glauben hat und doch - je unverdienter und ungewöhnlicher das Obsiegen wäre - um so strahlender das moderne Rechtsgefühl beherrscht. Der Mythos beruht auf der nicht umkehrbaren Beziehung zwischen Gesetzgeber und Empfänger. Wenn die Verhältnisse nicht bezweifelt werden und man weiß, daß der Kaiser einen Wink gegeben hat, dann ist damit nicht der Form, aber dem Inhalt nach Recht gesetzt. "Es ist gut! Es wird alles erledigt!" läßt Joseph Roth den Kaiser Franz Joseph über die Geschicke des Leutnants von Trotta bestimmen. Sofort fragt man sich heutzutage, ob ein solches Recht "zu Recht" gilt. Die Frage ist moderner Art. Sie setzt voraus, daß der Empfänger des Rechtssatzes beurteilen kann, was der Sender oder Autor - neuzeitlich "Gesetzgeber" genannt - für Motive hatte, was er durchgesetzt sehen wollte und sinnvollerweise meinen durfte. Sie setzt also voraus, daß der Empfanger den Platz des Senders einnehmen kann und damit im normativen Diskurs etwas tun kann, was im kommunikativen Alltag als Grundsatz des Fremdverstehens gilt: Man versetze sich auf den Platz des Gegenübers als Senders einer Nachricht, um den gemeinten Sinn zu erfassen. 17 Der Empfänger des Rechtssatzes versetzt sich damit in den Geist des Gesetzgebers und tut so, als könne er angeben, welcher Sinn für ihn als den Empfänger gelten solle. Das ist für die moderne Methodentheorie des Rechts so selbstverständlich geworden, daß sie das Leiden des Hiob auch nicht mehr als Leiden am Recht auffassen könnte. Hiob geschieht ja in der Legende nicht Unrecht, sondern er mißversteht den Charakter einer Prüfung. Die unverständlichen Ereignisse, die damit verbunden sind, können aus der Sicht des Adressaten nicht verständlich gemacht werden. Mit einer adressatenorientieren "Auslegung" verfehlt man deshalb den verpflichtenden Charakter des Rechts. Der Glaube an unbedingte, leidbringende Verpflichtungen wird durch eine 17

Schütz, Aufbau, S. 137 ff.

3. Die Unvertauschbarkeit der Plätze

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andere Auffassung ersetzt. Diese moderne Auffassung schafft den Glauben an das Ereignis des Rechts ab und setzt seine Erforschung und den Kampf um die richtige Methode an die Stelle des Glaubens. Vom "Kampf ums Recht" führt ein direkter Weg zu seiner interessengerechten Auslegung. Von Hiob wissen wir noch, daß man zwar protestieren, aber nicht gewinnen kann; daß es Verlierer, Außenseiter und Sonderlinge gibt, die keinen Platz in der Mitte des Rechts erkämpfen. Ihnen wird Recht gewährt, auch wenn die Aussichten nicht günstig sind. Recht ist aber schon da und braucht nur erkannt zu werden, wiedererkannt wie das Spiegelbild des Kaisers. Man eiblickt es als Spiegelbild und verwirklicht es durch Nachahmung. Der Fromme bleibt auf seinem Platz, und weil kaiserlicher Glanz auf ihn fällt, übersieht er die Schwächen des Kaisers als Person. Er weiß, daß die Plätze beider nicht getauscht werden können. "Von uns beiden, dem Kaiser und mir", schreibt Roth 1928 in der Frankfurter Zeitung, "habe ich recht behalten - was noch nicht heißen soll, daß ich recht hatte. Er liegt begraben in der Kapuzinergruft und unter den Ruinen seiner Krone, und ich irre lebendig unter ihnen herum."18 Der heimatlos gewordene Jude Joseph Roth irrte über verschiedene Plätze, von denen aus er die Gerechtigkeit seiner Zeit suchte und nicht mehr fand. Aus dem Deutschland der "Machtergreifung", aus dem Lande "des Herrn über die tausend Zungen" kommen die ungerechten Gerechten zu ihm nach. Paris, und er läßt den "Versucher" sagen: "Das ist eben die Veränderung der Welt, die Sie nicht zu kennen scheinen. Es ist jetzt so, daß die Ungerechten recht haben und die Gerechten unrecht. Also wollte ich Ihnen mitteilen, daß sie selbst ungerecht werden, wenn Sie dem Gerechten recht geben" heißt die paradoxe Mitteilung für Herumirrende. 19 Normgeber und Adressat befinden sich auf zwei unaufhebbar voneinander geschiedenen Plätzen im Rechtsdiskurs. Der Adressat kann protestieren, aber nicht selbst Normen setzen.20 Das ist die schlichte Einsicht der Frömmigkeit. Will der Adressat Normgeber werden, hält er den Satz "Schönes Wetter heut!" für völlig verfehlt im Rechtsdiskurs. Die Bemerkung fungiert - wie der Roman zeigt - keineswegs als eine meteorologische Feststellung. Der Dialog mit dem Kaiser als dem nicht austauschbaren Gesetzgeber bewegt jeden einzelnen Satz weg von seinem scheinbar wirklichen Beobachtungsgehalt, so daß die Behauptung "Schönes Wetter heut!" gesprochen vom Platz des Kaisers - die Anweisung "Verlasse das Land" an einen Dritten einschließt. Daran zeigt sich Macht. Wenn der Kaiser nur an den Rand der Akten schreibt: "Günstig erledigen", dann folgt der Empfänger diesem Prädikat, ohne weiter nach Begründungen zu fragen. Der fromme Rechtsdiskurs stützt die Anweisung einzig und allein auf die Begründung: - weil der

18 19

20

Roth, Majestät, S. 910. Roth, Versucher, S. 655. Derrida, Gesetzeskraft, S. 21.

186

X. Frömmigkeit

Kaiser es sagt. Er ist und bleibt Autor und Gesetzgeber; niemand kann sich an seine Stelle setzen. Niemand kann vorschreiben, was er zu entscheiden hat. Heute würde man weiter entfernte Empfänger ansprechen, abstrakte Inhalte und noch entferntere Sender bezeichnen und sagen: weil das Glücksspiel verboten ist, - weil die Schuld auf sittenwidrige Weise begründet worden ist, weil das Gesetz es so will. Nur in der gesetzestreuen, fraglosen Frömmigkeit kann sich der Gesetzgeber anstelle einer Begründung Unmittelbarkeit leisten: "Grüßen Sie ihren Papa!" Der Gruß bleibt unerwidert und wird seinen Empfänger nie erreichen, weil Papa tot ist. Aber diese Faktizität stört den Begründungsmythos nur. Der Gedanke einer vollständigen Begründung ist nämlich selbst schon nicht mehr begründbar und auf Frömmigkeit angewiesen.

4. Die Vertauschung der Satzordnungen Die Notwendigkeit, den Platz als Empfanger im Rechtsdiskurs nicht zu verlassen, entsteht neuzeitlich erst mit der Erfahrung, daß keine Begründung vollständig ist oder es auch nur sein könnte. An sich ist das nicht neu. Vielmehr gehört es zu den Allgemeinplätzen der Rechtstheorie, daß Fakten nicht aus sich heraus Vorschriften begründen können. Dennoch versuchen wir im Begründungsdiskurs den Gehalt der Vorschrift in vermittelnden Schritten fast unmerklich auf den zwanglosen Zwang des Geschehens zurückzuführen. Gelungen wirkt eine Begründung, wenn Ausgangs- und Endpunkt voneinander merklich getrennt sind, man also nicht bereits zu Anfang sieht, was am Ende begründet werden soll. Sieht man es doch, so ensteht der Verdacht zirkelhafter Begründung - die einzige Beanstandung, die methodentheoretisch aus sich heraus eine Begründung zu Fall bringen kann. Gerade dieser Vorwurf ist unberechtigt. Die Entzerrung von Anfang und Ende in einer Begründung wird durch Unterstellungen bewirkt, deren Charakter gewöhnlich unbemerkt bleibt. Man trennt zwischen Tat und Beweismittel. Man trennt zwischen den getöteten Opfern und den Zeugen, mit denen sich im Gerichtsverfahren ein solcher Totschlag beweisen läßt und die deshalb "natürlich" überlebt haben müssen. Man verlangt eben "selbstverständlich" nicht, daß die umgebrachten Opfer die Täter ausdeuten müssen - das wäre paradox und wird so bemerkt -, sondern man begnügt sich mit entfernteren Beobachtern und schwächeren Beweistatsachen. Das tut man, weil man schon von vornherein glaubt. Gegen diesen vorgegebenen Glauben, gegen den benannten Gott und das ihm zugeschriebene Weltgewissen wenden sich die "heidnischen Instruktionen", die Jean-François Lyotard gegeben hat. Ihr Motto lautet: auf unfromme Weise Gerechtigkeit suchen,21 und im Ergebnis dienen sie der Rehabilitierung des weniger Wahr21

Lyotard, Heidnische Unterweisungen, S. 11.

4. Die Vertauschung der Satzordnungen

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scheinlichen. Lyotard betreibt die Wiederaufnahme einer Sophistik, wie sie Hiob demonstriert hat. Mit ihr kann die gewohnte Ordnung der Sätze ins Gegenteil verkehrt werden. Der Rhetor Protagoras verteidigt einen Schläger und greift dabei je nach Bedarf auf zwei entgegengesetzte Argumente zurück. Ist sein Mandant schmächtig und schwach, dann zeige schon sein Äußeres, daß er nicht Täter einer Körperverletzung sein könne - was Aristoteles einst als wahrscheinlich lobte. Aber Protagoras tut auch das Umgekehrte. Ist sein Mandant stark und furchteinflößend, so plädiert er, jener könne unmöglich Täter des vermuteten Übergriffs sein, weil jeder, der so stark sei, sofort Verdacht und Anklage gewärtigen müsse. Das - urteilte Aristoteles hingegen - sei "Lüge und keine wirkliche, sondern scheinbare Wahrscheinlichkeit und in keiner anderen Theorie als der rhetorischen und sophistischen begründet"22. Gegen diese Bewertung richtet sich Lyotards ungläubiger Protest. Zu Unrecht werde das "absolut Wahrscheinliche" vor dem nur wahr Scheinenden bevorzugt.23 Wogegen erheben die Freunde der Weisheit Einspruch ? Gegen eine logische List, die zugleich auch moralisch, politisch und ökonomisch ist. Sie besteht ganz einfach darin, das, was sich als das Absolute, als das letzte Wort ausgibt, in Beziehung mit sich selbst zu setzen; es also zur Menge der relativen, einzelnen Dinge zu zählen. Wenn das Wahrscheinliche dem Richter als Kriterium dienen kann, um ein Urteil zu fällen, warum sollte sich dann der Angeklagte nicht dieses Gebrauchs des Wahrscheinlichen für seine Zwecke bedienen können? Warum sollte die verdoppelte Wahrscheinlichkeit, die auf sich selbst bezogen ist und weiß, wie raffiniert sie ist, weniger vornehm und gültig sein als die "reine" Wahrscheinlichkeit ?

Man muß schon diese Kaskade von Fragen vorausschicken, um die reine Rhetorik zu extrahieren, die sich um Wahrheiten nicht mehr kümmert, weil sie ihre vorausgeglaubte Existenz leugnet. Lyotard verkündet jedenfalls dem Wahrscheinlichen als Wegweiser zur Wahrheit den Streit und schichtet weitere Fragen auf. Eine historische Polemik von Faurisson aufgreifend (für die es in Deutschland in der Berufung der "Auschwitz-Lüge" eine Parallele gibt), fragt Lyotard: Wenn "Zeuge" jemand ist, der tatsächlich etwas mit eigenen Augen gesehen hat, wie kann es dann einen Zeugen für die Endlösung und für den Tod in der Gaskammer geben? Wenn die Presse frei ist und infolgedessen alle bedeutenden Werke auch veröffentlicht werden können, wie kann es dann ein noch unbekanntes Meisterwerk geben? und schließlich: Wenn "Kommunist" jemand ist, der auf den realen Kommunismus vertraut, wie könnte er dann in Opposition zum realen kommunistischen Herrschaftssystem stehen.24 Die letzte schon wieder historische Frage befremdet am meisten, rührt sie doch an Satzordnungen, bei denen wir ohne weiteres bereit sind, den Begriff Aristoteles, Rhetorik, 1402 a. 23

Lyotard, Minderheiten, S. 75. Lyotard, Widerstreit, S. 16 f.

X. Frömmigkeit

188

des Ganzen auch zum Kreis der relativen Einzeldinge zu zählen. Vor dem universalen Auditorium würde man die Zeugenrolle nicht so eng auslegen. Als vernünftige Hörer sagen wir auch: Gaskammern können nicht nur durch Tote bezeugt werden. Das glauben wir jedenfalls; und natürlich glauben wir auch, daß es unbekannte Meisterwerke gibt, weil nicht nur der Publikumserfolg zählt. Allerdings haben die nichtkommunistischen Beobachter die Opposition gegen die Regimes schon von jeher nicht als kommunistisch angesehen. Die Neigungen, das Ganze als Element der Teile zu verstehen, wechseln, aber sie treten nicht gleichzeitig auf. Deswegen erscheint es schlitzohrig - sophistisch eben -, wenn der Rhetor Protagoras, dessen Schüler Eathlos erfolglos bleibt, ein Honorar verlangt, weil Eathlos Erfolg habe.25 Denn - so lautet auch hier die Inklusionsthese - entweder gewinnt Eathlos doch gegen einen Dritten und zahlt an seinen Lehrer für diesen Erfolg, oder er bleibt erfolglos, hätte dann aber in der Wette gegen seinen Lehrer Erfolg und müßte diesen wegen jenes Erfolges bezahlen.26 Die Struktur des Problems entspricht dem Paradox des Lügners. Lügt ein Kreter, wenn er über alle Kreter sagt, sie lügen? Die Frage nach der Wahrheit muß hier unbeantwortet bleiben - eine kleine teuflische Unterminierung des herrschenden Diskurses über die Wahrheit, an der sich Lyotard freut. Er zählt Bertrand Russell noch zu den sympathischsten "Minenentschärfern", 27 weil er keine Lösung, sondern nur eine Ordnung anbiete: die bekannte Einteilung in die Aussagen erster Ordnung (Ein Kreter sagt etwas) und jene zweiter Ordnung (alle - anderen - lügen). Aber noch sympathischer ist dieser rhetorischen Semiotik die Vertauschung der Sach- und Begriffsverhältnisse selbst. Sie stehen nicht fest, sondern können durch Protest zum Tanzen gebracht werden. Diese Herausforderung ist unvermeidlich, wenn man den Platz des Empfängers akzeptiert und darauf wartet, daß sich Recht ereignet. Genau darin besteht der Rat Lyotards, der modern bleibt, weil er Gott nicht definiert. Der Platz des Subjekts bleibt unbesetzt. Statt dessen wartet der Empfänger auf die übermittelten Zeichenketten. Die Sätze kommen an und werden zum Ereignis, mit dem man fertigwerden, an das man sich anschließen muß. Une phrase arrive ·. Comment enchaîner sur elle? 29 Das Zeichen, an dem man Recht erkennt, wird durch die Frage "Arrive-t-il? M hervorgelockt. 29 Die postmoderne Frömmigkeit kommt damit ohne Gott aus, schafft die Frömmigkeit aber nicht ab. Diesem gewandelten, kaum mehr sichtbaren Gott gelten neue theoretische Erzählungen. 25

Lyotard, Minderheiten, S. 79 f.

26

Lyotard, Widerstreit, S. 21.

27

Ebd., S. 20.

28 29

Lyotard, différend, S. 10. Ebd., S. 121 (Nr. 132)

5. Subjektlose, gottlose Frömmigkeit

189

5. Subjektlose, gottlose Frömmigkeit Den Versuch, das Subjekt auf mehrere Plätze zu verteilen, von denen aus niemand die ganze Wahrheit sieht, unternimmt Lyotard schon in der dialogischen Darstellung. "Au juste" repräsentiert eine Doppelszene, in dem sich der Autor (JFL) einem jüngeren alter ego gegenüberstellt, "Jean-Loup Thébaud" (JLT), und sich von diesem Herausforderer vorhalten läßt, seine Werke machten die Kommunikation unmöglich und verwandelten das Verständnis in einen Dschungel von Reizen und Reaktionen, von Drang und Verweigerung, ohne am einigenden sozialen Band zu flechten. Mit einiger Ironie schickt Lyotard die Jugend auf Gottsuche und reserviert für sich aufbegehrendes Heidentum (le paganisme ).30 Der Wert der Umkehrung zeigt sich aber erst, wenn man näher nach der Natur des Gerechten fragt, von dem Lyotard entwickelt, das es nicht das Selbst-Gemachte, das Autonome sei. JFL präsentiert das Thema dieses Dialogs, indem er das Problem benennt:31 Aber man kommt bei dieser Vorstellung von Autonomie an, die die moderne Problematik der Politik und der Gerechtigkeit beherrscht hat und immer noch beherrscht. JLT: Manfindet auch die Frage wieder, die ich schon gestellt habe: die der Moral und der Verbindungen, die diese mit der Gerechtigkeit eingegangen ist. JFL: Unbedingt. In einem solchen Problemzusammenhang wird man sagen, daß eine Aussage in dem Maße gerecht ist, wie sie von allen beteiligten Subjekten vorgetragen werden könnte, und diese Subjekte ihre Freiheit nicht aufgeben, soweit sie das zum Ausdruck bringen. JLT: Und man definiert die Gerechtigkeit, indem man daraus die Ökonomie des Wissens macht. JFL: Gerade so macht man die Ökonomie des Wissens. JLT: Das ist nicht besonders heidnisch, glaube ich. JFL: Das ist nicht sehr heidnisch, weit entfernt davon. Aber das Prinzip ist dasjenige der Autonomie, der Autonomie des Willens, d.h. der Autonomie des Subjekts, das das Gesetz zum Ausdruck bringt und das - selbst wenn es ihm gehorcht - autonom bleibt, weil es der Gesetzgeber ist. Eine ganze Reihe von Kategorien kommen hinzu, als da sind die der Verantwortlichkeit, der Autorität: man ist Autor des Gesetzes, vor dem man sich neigt, und die Gerechtigkeit wird nicht existieren können, wenn sie nicht durch das Subjekt der Aussage gemacht ist, das das freie Subjekt ist. Der Dialog führt im sokratischen Sinne zu einer neuen Form der Frömmigkeit, die gottlos ist, weil Gott nicht inhaltlich bestimmt wird als Person, die dieses oder jenes will. Die inhaltliche Bestimmung des Autors macht nämlich

30 31

Lyotard, Au juste, S. 55. Ebd., S. 61 f. (Übers, von mir).

X. Frömmigkeit

190

den Willen eines Gesetzgebers, der dann identisch mit dem Interpreten wird, zu dessen eigenem Willen. Der personalen Frömmigkeit stellt JFL das fromme Heidentum gegenüber, das den Hörer in der Position des Empfängers der Botschaft festhält und damit - ohne den Namen Gottes auszusagen - die moderne Frömmigkeit fortschreibt. Das geschieht im mythischen Erzählen der Cashinahua, auf die Lyotard32 mehrfach, so auch im "Widerstreit" eingeht. Die Cashinahua sind Indianer vom oberen Amazonas und repräsentieren im "différend" einen mythischen Ort. 33 Sie erzählen, indem sie sich noch im Erzählvorgang selbst - während sie also eigenes ausdrücken - in die Position des Empfängers versetzen, der die erzählte Geschichte selbst nur gehört hat. Man vermeidet die Position des Autors und Senders und gibt seinen Namen erst am Schluß der Erzählung bekannt: "Hier endet die Geschichte von X; deijenige, der sie euch erzählt hat, ist Y". Wenn jemand die gehörte Geschichte selbst vorträgt, erwähnt er dennoch niemals den Namen dessen, von dem er sie tatsächlich erzählt bekommen hat. Man erzählt - wie Lyotard betont - in der Position des "Immer-schon-gehört-habens" (toujours entendu dire ).34 Das bedeutet aber nicht, daß man einfach Dinge konserviert und vor einer Erneuerung schützt. Im Gegenteil wandeln die indianischen Sprecher während des Erzählens den Inhalt je nach ihren rhetorischen, mimischen und gestischen Fähigkeiten ab, aber man erzählt doch immer wieder und in immer wiederholtem Anschluß, weil man Inhalte nicht konservieren und akkumulieren kann. Lyotard erinnert in diesem Zusammenhang an den abendländischen Hochmut gegenüber Völkern, die keine Geschichte haben, und stellt ihm die Masse der im Abendland akkumulierten Inhalte an die Seite, die praktisch insgesamt nicht mehr erzählt und reproduziert werden, weil man meint, man bewahre sie eben als Inhalt auf, der auf Erzählungen nicht angewiesen sei.35 So verfährt man auch mit den Inhalten des Rechts. Man erzählt sie nicht mehr, sondern akkumuliert sie in Gesetzesbüchern und niedergeschriebenen Fallgeschichten. Das macht den Sprecher frei und erlaubt ihm, den von ihm scheinbar gemeinten, autonomen Inhalt für sich zu erzählen. Das eigene Erzählen, die Möglichkeit, sich "autonom" zur Geltung zu bringen, fehlt in der frommen Weltlichkeit der heidnischen Erzähler. Deren Person ist für eine fromme Auffassung ebenso unwesentlich wie die Artikulation jeweils eigener Inhalte. Die weltliche Frömmigkeit schließt sich an das an, was anderen erzählt wird und mir erzählt worden ist. Sie verbindet die Empfängerposition mit einem Verzicht, den Autor inhaltlich festzulegen. Gerechtigkeit erhält in Lyotards Formel den Charakter des "Arrive-t-il", 36 denn den Brennpunkt des 32

Ebd., S. 63 f. sowie Lyotard, Widerstreit, S. 253 - 256.

33

Lyotard, Widerstreit, S. 220.

34

36

Lyotard, Au juste, S. 64. Lyotard, Instructions, S. 68. Lyotard, différend, S. 170, Nr. 172.

5. Subjektlose, gottlose Frömmigkeit

191

Geschehens bildet der Satz. Sätze kommen an, Sätze ereignen sich. Wer ihr Sender, ihr Autor ist und was er mitteilen will, läßt sich nicht genau sagen, aber man versteht dennoch die Aufforderung, die von dem Satz ausgeht und darin besteht, sich an ihn anzuschließen.37 "Une phrase arrive. Comment enchaîner sur elle?"38 Verstehen wir die moderne Frömmigkeit als Einstellung zum Satz und als Wirkung, die von ihm ausgeht, dann heißt das: Ich höre Recht als eine nicht von mir selbst gestaltbare, an eine offenbarte und insofern "hinter den Dingen" stehende Geschichte, und gleichzeitig wirkt Recht, weil es mir erzählt wird, nicht weil ich es verstehe. "Es ist gut! Es wird alles erledigt!" sagt der Kaiser, und derjenige, dem er es sagt, braucht nicht zu wissen, warum ihm so geschieht. So wenig begründet können wir Recht überhaupt nur wahrnehmen, wenn wir den Gehalt der Verpflichtung ernstnehmen. An der vorbehaltlosen Akzeptanz zeigt sich der vormoderne Rechtsbegriff. Modern löst sich der Inhalt dessen, was akzeptiert werden soll, in seine Bestandteile auf: in Sätze, und diese Sätze gewähren die Freiheit, sie in unterschiedlicher Weise fortzuführen und damit weiter zu verknüpfen. Auch wenn es sich um Rechtssätze handelt, werden nur manche Verknüpfungen kanonisch festgelegt. Dem Inhalt muß man den Glauben entgegenbringen, den die Frömmigkeit an Erzählungen verschenkt, die sich nicht voll offenbaren; die ein Geheimnis behalten und nicht auflösbar sind in die Wirkungen, die von einem Satz ausgehen. Von solchen Erzählungen lebt Recht. Auch wenn man nach kritischer Prüfung das Geheimnis als entlarvt ansieht und andere Rechtsgründe für die ausgesprochenen Folgen für richtig hält, bleibt die aus der Rechtskraft folgende Verpflichtung bestehen.39 Das ist nicht nur eine Folge des Umstands, daß man gegen eine formal rechtskräftige Entscheidung kein Rechtsmittel mehr einlegen kann. Erlebt man Rechtskraft in einem verpflichtenden Sinne, dann ist ihr Nutzen nicht zu messen am Verhältnis der Folgen, die man wollte und erwartete, und derjenigen, die ungewollt und unerwartet eintreten. Regelmäßig sind mehr Geld, mehr Liebe und mehr Gesundheit ohne Recht zu erlangen gewesen wären. Dennoch halten wir am Recht fest - als Glaubenssache.

37

Lachmayer beruft sich dabei metaphorisch auf "die in jedem Subjekt installierte Sozial- Software" (Absicherung des Rechts, S. 153). 38 39

Ebd., Question, S. 10. Derrida, Gesetzeskraft, S. 25.

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Namen- und Sachregister Abduktion 15, 119 f., 133 f., 139, 145, 148 f., 153 f. Alibi 69 Alternative 9, 37, 69, 117, 128, 145 Analyse 11, 15 f., 37 - 41, 44, 82, 156 Angeklagter 39, 42, 56, 69 - 71, 73, 79, 81- 84, 86- 104, 126, 152, 170 f., 187 Anklage 37, 56-58, 68, 83 f., 86, 99, 103, 171, 187 Argumentation 13, 39, 43 - 49, 51, 53, 131, 133 f., 154, 175

Detektiv 15, 134, 136 - 138, 148, 150 f. Dialog 45, 50-56,60, 111, 125, 143, 150, 170, 177, 185, 190 différend 11 f., 37, 57, 59, 190 Differenz 28, 35, 77, 128, 130 f., 155 Dispositiv 14, 47, 79 - 88, 90, 92, 94 f., 97 f., 101-103, 105 dissémination 38, 115 Doppel 14, 58, 64, 105 f., 108 f., 112-115, 117 f., 120-122, 124 f., 130, 156, 158, 165, 175, 180, 187, 189

Aristoteles

Dürrenmatt, F. 81 Dupin 15, 133 f., 136 - 138, 148, 150

40, 187

Arrive-t-il, il arrive 12, 188, 191 Auditorium 13,60,188 Austin, J. 57 Barbie, K. 71

Bedeutung 10, 25, 32, 45, 55, 57, 61 f., 64, 66, 69 f., 72-74, 97, 106, 109, 115 f., 119, 124, 129 f., 132, 145, 150, 155 - 162, 164 - 169, 171 - 176 Beobachter 8, 16, 61, 64, 86 f., 94, 132 f., 135, 140, 146, 188 Beratung 50,114,118,124,175 Bestreiten 69, 139 Beweisantrag 69, 71 Bezeichnung 11, 65, 78, 81 f., 84, 106, 109, 113 Beziehungsebene 39, 143 Blick 16, 58, 106, 109, 111, 131 - 133, 165, 170-172, 174-176 böse 24, 52, 54, 82 - 86, 89 f., 95, 98, 118, 178 Brod,M.

125

Code 48, 61, 63 f., 84, 100, 131f., 146, 152 code civil 48 Codex 84,116,118 Codierung 61-67, 72, 84, 86, 140 f., 145 - 147, 153 - , binäre 47,64 Darstellung 20, 27, 83 f., 89, 96, 100, 103, 114, 118, 121, 142, 146 f., 153, 189 Deleuze, G. 14, 107 f., 110 f.

Derrida, J. 8, 10, 14, 16, 114-116, 130

Eco, U. 64,108,111 Einlassung 47, 49, 99-103, 139 Empfänger 11, 59,67,69, 73, 75, 77, 114, 120, 174, 177, 184 f., 186, 188 Entscheidung 22 f., 25, 27 f., 30 f., 35, 41 - 44, 46, 49 f., 58, 60, 72, 76f., 117, 120-124, 166, 183, 191 Escher, M.C.

156

Evidenz 47 f., 154, 174 Fachsprache 12, 27, 45, 56, 77 Fall 11, 18, 20, 29, 34 - 37, 41, 48, 57, 60, 63, 65, 69, 72, 74, 77, 81, 89, 90, 98, 100 f., 103 f., 113, 117, 120 f., 123, 135, 138, 140, 146, 156, 158, 186 Feststellung 80, 82, 84, 86 f., 90, 94 f., 140 Fiktion 14,25,118-121 Forum 11, 15, 23, 45 f., 48, 55, 155 Foucault, G. 32,79,81,133 Frau 31, 39, 80, 82, 90 f., 94, 100 - 103, 122, 138, 147, 151, 160 f., 178, 181 Frömmigkeit 16 f., 177-182, 184-186, 188-191 Gefühl 32, 34, 44,62, 68, 143, 172, 182, 184 Gerechtigkeit 15, 51, 53, 55, 61, 170, 172 f., 175, 185 f., 189 f. Gericht 10, 12 f., 18-22, 24, 26 f. 30-33, 35, 38, 41, 43, 45 f., 48, 57, 61, 65 - 71, 73 - 77, 79, 81, 85 f., 90 f., 94, 96 f. 99 f., 103 - 106, 109, 112, 114, 117- 119, 121, 128, 139, 145, 152 f., 157 f., 169 - 171, 173 - 175, 179

Namen- und Sachregister Gerichtssaal 16, 46, 52, 54, 111, 114, 155, 170,173,175 -srede 13,46 f. Gesetz 17,24,35 f., 41,43 f., 49 f., 71,75, 84 f., 116-118, 120 f., 123-126, 128 f., 132, 186, 189 -esbindung 44,49 f., 61 -geber 76, 84,121,182,184-186,189 Geständnis 48, 70, 92, 100, 133 f., 136, 138 f., 141,143- 147,151-153 Glaube 80,150,189 Gorgias 51,53 Gott 7,122,151,178 -183,186,188,190 Highsmith, P. 134,149 f., 152-154 Hiob 177-182,184 f., 187 Hof stadter, D. 156 Ideologie 64 illokutionär 56 f. Index 72 Indiz 19,150 f. Induktion 134 Inquisition 48 f. Interprétant 7,119,123,130 Interpretation 7, 10 - 12, 15, 38, 76, 99, 115, 124-133 Jhering,R.v. 61 f. Judiz 35 f., 118 Jurisprudenz 10,13,43 f., 61 Justiz 10, 12, 15, 20 f., 23, 26, 28, 30 -32, 55, 59,65,72-76, 80, 82,159,162,169,177 Kafka, F. 15,125 f. Kaiser Franz Joseph 184 Kampf 3 7 , 6 1 - 6 4 , 6 6 - 7 1 , 7 3 , 7 7 , 1 8 5 Kanal 11,121,155 Kant, I. 36 Kaupen 32 Kette 12,58,62,131,182,188 Kleist, H.v. 17,23 Kohlhaas 18, 22 f., 29 Kommentierung 42 f., 118 Kommunikation 13, 20, 31 f., 37, 41, 62, 67, 71 f., 99,107 f., 110 f., 166,172,189 Konsens 36 f. Kontext 33,36-38, 83, 88,116,123,183 Kopperschmidt, J. 13 Krieg 28-31,180 Lacan, J. 14,107,110 Lautmann, R. 9 f. Linguistik 13, 16, 38 Lüderssen, Κ 15,135,153 Lüge 72,77,98,178,187

203

Luhmann, N. 32,78,147 Lyotard, JF. 11 f., 29,32,37,40,43, 57 f., 67, 78,177,186-190 Majestätsbeleidigung 175 f. Menon 52,54 Meinung 25,30 f., 44,73 f., 126,129,137 Metapher 15,29,149 Methode 9,34,49,117,131 f., 136,165 Modell 13,45, 57,61,66, 87,133 Montesquieu 48 f. Morris, Ch.W. 7,64 Müller, F. 119 f. Mündlichkeit 21,118 Name 107,110,116,150,178,183 Naturrecht 179 Negation 69,73,139 Norm 26,35,85 f., 9 9 , 1 1 7 - 1 1 9 , 1 2 1 Objekt 56, 69, 80 f., 83, 87,99,170,172,175 Paradoxie 26,64,125 f., 133 Paragraph 116 Paralogie 43 Partei 20 f., 25,32,47, 59 f., 117 Peirce, Ch. S. 62,130,134 f. Perelmann, Ch. 54 f., 59 perlukutionär 56 Philosophie 8,11,49,55 Platz 114, 120, 128, 131-133, 169-172, 174 176,182,184-186,188 Plausibilität 63,100,147 Poe, EA: 15, 136, 138,151 f. Pragmatik 7,25,64,69,162,176 Protagoras 40,187 f. Prozeß 11, 14 f., 19,21 f., 24, 27 f., 33, 43, 48, 56, 66, 68, 70, 74, 79 f., 84, 99, 103, 105 f., 108 f., 111, 117, 119, 124 f., 127-132, 134 f, 140,170,172 f., 181 quaestio 46-48 Querulant 18,28 Quintilian 47 Raskolnikow 15,133 f. 139 -149 Raum 13, 67, 89, 92, 111, 114, 116 -118, 137 f., 154 - 157, 159, 161 f., 164 f., 166, 169, 171 f., 174 f. Recht 8, 12-14,16, 18, 22 - 27, 29, 37, 43, 49, 55, 57, 59 - 63, 76 - 78, 80, 85, 100, 106, 109, 111, 114, 116, 118 f., 123 f., 126, 129, 133, 145 - 147, 158, 169, 173 - 175, 177-185, 188, 191 -serkenntnis 172 -skraft 19 f., 28 f., 57,60, 83,191

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Namen- und Sachregister

Rechtssprache 24, 28,45, 55-59, 118 Referenz 47,78,106,109 Rhetorik 13, 16, 45-47, 49-51, 53, 55, 67, 131, 139, 148, 187 Richter 9 f., 18 f., 21, 23-27, 30, 35-37, 43, 46-50, 55, 63, 70, 74, 77, 81, 106, 109, 114, 118, 120, 122, 124, 139, 159, 162, 169, 173-175, 179, 182, 184, 187 -ablehnung 19,25 Ripley 15, 133 f., 148 f., 150 f., 153 f. Rödingen, H. 70 Roth,J. 16, 177, 180, 184 f. Rotter, F. 16 Sachverhalt 47, 50, 56, 78, 92, 95, 113, 117, 120, 134, 152 Salomo 122 f. Satz 10, 12, 15, 34, 42 f., 55, 57 f., 62, 68, 70, 72, 79, 84, 91, 97, 103, 119, 126 - 128, 133 f., 139 f., 144 f., 148, 152 f., 174, 182, 185, 190 f. de Saussure, F. 7,107 Schaltung 108,111 Schrift 37 f., 115, 117-119, 126 f., 129, 132 Schutzbehauptung 100 f. Schweigen 12, 23, 28 f., 98 - 100, 139, 141, 143 f., 178, 184 Semantik 7, 64,66,69, 118, 162 f., 169 Semiotik 7-9, 11, 14, 16, 33, 46, 61 f., 64 f., 78, 106, 109, 114, 131, 134, 172, 184, 188 Sender 11, 64, 67, 69, 73, 75, 77, 120, 174, 179, 182, 184, 186, 191 Signifikant 66,106, 108 f., 111-113 Signifikat 66, 85, 114, 117, 182 Signifikation 62,69, 77, 82,108,111,117 Sinn 30, 57 f., 60, 81, 85, 108, 111, 122, 126 133, 162, 178, 184 Situationsfeld 101 Sobota, K. 85 Sokrates 51-55 Soldatenurteil 72,77 Sprechakt 56 Staatsanwaltschaft 66,68,136, 166,169 Staatsschutzdelikte 73 Strafprozeß 47,99,127,175 Substantiierung 95 Supplement 114,117 Symbol 72 f., 155 Sysiphos 132 System 33, 38, 43, 62 f., 67, 84, 108, 111, 130, 147 Szene 9, 11, 14, 97, 112 f. 121, 124, 128, 143, 151, 172

Tat 14, 35, 43, 80-90, 95, 98, 101, 103 f., 141-144, 148,150- 154, 167,186 Tautologie 59,78, 85 Tenor 41 f., 79, 105 Text 11,15, 24, 34, 36 - 38,42, 44, 52, 54, 73, 77, 79-83, 85, 87 f., 92, 105, 115, 117, 122, 124- 128, 132, 134 f., 143, 149, 151, 184 Thema 10,12, 16, 19 f., 29 - 32, 45, 56, 112, 125 f., 170, 177, 189 Topik 35 f., 40, 43, 50,123 Topos 25, 35, 48 f., 55, 123 Umgangssprache 8, 57,63 Urteil 14, 19, 21 f., 27 f., 30, 47 - 49, 57 - 59, 68, 79 f., 82-87,90 - 92, 121, 187 Urteilskraft 36,68 Verdoppelung, s. Doppel Verfahren 13, 18,20 f., 25, 55, 59 - 61,65 - 68, 74, 76, 78, 81, 86 f., 90, 104 f., 113, 123 f., 136, 139, 145 f., 152, 154, 171, 173-175, 184 Vergés, J. 71 Vergleich 16, 59, 75, 103, 127, 152, 167, 173 Verkettung, s. Zeichenkette Verteidiger 9, 38 f., 44, 70 f., 100, 105, 169 171, 173, 175 Vorschrift 41 f., 177, 186 Vorurteil 86 Viehweg, T. 43 Wahrheit 14 f.,21, 32, 35, 45, 49, 51-55, 60 f., 65-71, 77 f., 82, 91, lOlf., 106, 109, 114 f., 117 f., 123, 126, 131 f., 135 - 137, 146, 153, 170, 174-176,187-189 Wahrscheinlichkeit 70 f., 101, 187 Wirklichkeit 31 f., 69, 77 f., 82, 111, 113, 115, 120, 129, 179 Wissen 7, 10, 12 f., 18 f., 22, 30, 33-35, 37, 41 f., 45, 51, 53, 81, 84, 94, 141 f., 144, 155, 173, 185, 191 Zeichen 7,10 f., 14,16, 28, 33, 39,64, 67,69, 73 f., 78, 82 - 85,94 f., 99, 106 f., 109 f., 112, 115, 118 f., 124, 127 f., 130 - 132, 155, 162, 172, 175,182,188 -kette 18,30,41,83 f., 119, 131 -prozeß 11,47,73,84,112 -träger 106,109,119 Zeit 7, 11, 40, 43, 49, 67 f., 71, 83, 89, 93, 97, 104, 135, 145 f., 157, 160 f., 164, 182, 185 Zeuge 68 f., 71, 138, 162, 169, 171, 187 Zeugin 88,91,98, 100 - 103, 105 Zivilprozeß 21,46 Zuschreibung 82, 86,97, 143