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German Pages 406 [408] Year 1995
Sprache des Parlaments und Semiotik der Demokratie
Sprache Politik Öffentlichkeit Herausgegeben von Armin Burkhardt · Walther Dieckmann K. Peter Fritzsche · Ralf Rytlewski Band 6
w DE
G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1995
Sprache des Parlaments und Semiotik der Demokratie Studien zur politischen Kommunikation in der Moderne Herausgegeben von Andreas Dörner · Ludgera Vogt
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G Walter de Gruyter · Berlin · New York 1995
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Die Deutsche Bibliothek —
ClP-Hinheitsaufnahme
Sprache des Parlaments und Semiotik der Demokratie : Studien zur politischen Kommunikation in der Moderne / hrsg. von Andreas Dörner ; Ludgera Vogt. - Berlin ; New York : de Gruyter, 1995 (Sprache, Politik, Öffentlichkeit ; Bd. 6) ISBN 3-11-014496-4 NR: Dörner, Andreas [Hrsg.]; GT
© Copyright 1995 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: Oskar Zach, Berlin Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin Einbandgestaltung: Rudolf Hübler
Inhaltsverzeichnis ANDREAS DÖRNER, LUDGERA VOGT
Einleitung: Sprache, Zeichen, Politische Kultur
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I Sprache des Parlaments WERNER J. PATZELT
Politiker und ihre Sprache
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WILHELM HOFMANN
Redefreiheit zwischen Rederecht und Redezwang. Überlegungen zur Bedeutung der Selbstthematisierung sprachlicher Kommunikation für die Reproduktion und Transformation parlamentarischer Institutionen am Beispiel der Entwicklung der Redefreiheit im englischen Parlamentarismus
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ARMIN BURKHARDT
Zwischen Diskussions- und Schaufensterparlamentarismus. Zur Diagnose und Kritik parlamentarischer Kommunikation - am Beispiel von Zwischenfragen und Kurzdialogen
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RÜDIGER KIPKE
Der Zwischenruf - ein Instrument politisch-parlamentarischer Kommunikation?
107
MARTIN SEBALDT
Stigmatisierung politischer Außenseiter: Zur verbalen Ausgrenzung radikaler Parteien im Deutschen Bundestag
113
PETRA DEGER
Reaktionen demokratischer Parteien auf Wahlerfolge rechtsextremistischer Gruppierungen
141
BIRGIT SAUER
„Doing gender". Das Parlament als Ort der Geschlechterkonstruktion. Eine Analyse der Bundestagsdebatte um die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruches
172
VI
Inhaltsverzeichnis
REINHARD WESEL
Politische Metaphorik im „parlamentarischen Diskurs": Konzeptionelle Überlegungen, exemplifiziert an entwicklungspolitischen Bundestagsdebatten
200
GERHARD VOWE
Kommunikationsmuster am Schnittpunkt von Wissenschaft und Politik. Beschreibungen und Erklärungen am Beispiel einiger Enquetekommissionen des Deutschen Bundestages
226
II Semiotik der Demokratie JÖRG KILIAN
„Demokratie" und „Parlament". Zur semantischen Entwicklung einer komplizierten Beziehung am Beispiel deutschsprachiger Wörterbücher aus dem 19. und 20. Jahrhundert
249
HERBERT DÖRING
Die Sitzordnung der Abgeordneten: Ausdruck kulturell divergierender Auffassungen von Demokratie?
278
FRANCESCA RIGOTTI
Der „runde Tisch" und der Mythos der symmetrischen Kommunikation
290
FRANK BECKER
Spielregeln der Politik. Politikprozesse und Sportsymbole in der Weimarer Republik
297
DIETMAR SCHIRMER
Politik und Architektur. Ein Beitrag zur politischen Symbolanalyse am Beispiel Washingtons
309
LUDGERA VOGT
Das Kreuz der Vergangenheit. Zur politischen Werbung der PDS
340
ANDREAS DÖRNER
„Rechts", aber nicht „draußen". Zur Selbstverortung in den Parteiprogrammen der REPUBLIKANER
3 64
Zu den Autoren
397
Einleitung: Sprache, Zeichen, Politische Kultur ANDREAS DÖRNER
(Magdeburg) / LUDGERA
VOGT
(Regensburg)
Das Politische, dies hat der kürzlich verstorbene Historiker Thomas Nipperdey in verschiedenen Arbeiten aufgezeigt, ist in der Moderne zum Nachfolger der Religion als Bereich gesellschaftlicher Sinnstiftung geworden. Visionäre Ideologien, gleich ob sie mit den Begriffen Volk, Staat, Nation, Klasse oder Menschheit verknüpft waren, haben Millionen von Menschen in den Bann gezogen. Während jedoch in Religion und Religionswissenschaft die Beschäftigung mit Zeichen, Symbolen und Liturgien, also mit der sinnlichen Seite des Sinns, zur Normalität zählt, ist diese Dimension in der hiesigen Politikwissenschaft noch immer unterbelichtet. Zwar haben sich Klassiker des politischen Denkens wie Carl Schmitt, Robert Michels oder auch Ernst Cassirer durchaus intensiv mit Fragen politischer Zeichenwelten beschäftigt, aber diese Tradition scheint bis auf wenige Ausnahmen mit der Schwellenzeit von 1933 bis 1945 abgebrochen. Anders freilich sieht die Sache aus, wenn man den Blick über die Grenzen der eigenen Wissenschaftskultur hinaus etwa nach Frankreich oder in die Vereinigten Staaten wirft. Von Georges Sorel bis Michel Foucault, von Harold D. Lasswell bis zu Murray Edelman haben sich ganze Forschergemeinschaften mit der zeichenhaften Konstruktion des Politischen auseinander gesetzt. Es scheint vor diesem Hintergrund für die deutsche Sozialwissenschaft dringend geboten, theoretisch wie empirisch den Anschluß an diese Forschung zurückzugewinnen. Die Grundeinsicht, daß uns Menschen die Wirklichkeit letztlich immer nur zeichenvermittelt zugänglich ist, wurde in der Philosophie und später auch in der Sprachwissenschaft schon auf viele verschiedene Weisen formuliert und belegt. Die relativ neue Spezialdisziplin der Semiotik, der Zeichenlehre, die aus diesen beiden Fächern hervorgegangen ist, hat dies systematisch entfaltet. Unser Bild davon, was ist, und vor allem, als was es uns entgegentritt, als was wir es erfahren, ist in jedem Fall vorgeprägt durch die kulturellen Zeichensysteme, in die wir hineinerzogen und hineinsozialisiert werden. Wahrnehmen, werten und fühlen erfolgt im Medium der Zeichenwelten, in denen wir uns bewegen, die uns zwar nicht völlig determinieren, die wir aber auch nicht einfach ausblenden können. Dies gilt umso mehr für die politische Welt: alle politischen Prozesse - von der Parlamentsdebatte bis zur Wahl, von der Ortsvereinsversammlung bis zur Demonstration - sind Zeichenprozesse, in denen Be-
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Andreas Dörner/Ludgera Vogt
deutungen formuliert, vermittelt und ausgehandelt werden. Freilich haben alle Zeichen neben der Inhalts- oder Bedeutungsseite auch eine materialisierte Ausdrucksseite, sei sie akustisch oder visuell. Politischer Sinn hat immer auch eine sinnliche Komponente, die uns vor allem emotional anzusprechen vermag: die packende Rede, die große Versammlung, der gemeinsame Gesang oder das wehende Banner schaffen Bindungen, wie sie keine noch so überzeugende Argumentation zustande brächte. Nun sind die Zeichen jedoch keine neutralen Medien, sondern engstens mit Machtfragen verknüpft. Zum einen sind sie abhängige Variable: Welches Wort etwa mit welcher Bedeutung benutzt und akzeptiert wird, das ist eine Frage der jeweiligen kommunikativen Machtverhältnisse. Zum anderen kann man durch kluge Zeichensetzungen auch Macht unterlaufen, gewinnen und kumulieren, indem man Begriffe besetzt, neue Bedeutungen lanciert oder durch Mittel der Gestaltung die Zuhörerschaft charismatisch mitreißt. Aus der Makroperspektive ergibt sich für die Politikwissenschaft die Folgerung, daß die Stabilität einer politischen Ordnung in hohem Maße abhängig ist von der Stabilität der symbolischen Ordnung in einer Gesellschaft. Ist sie labil oder wird sie, wie in der Weimarer Republik, systematisch untergraben, dann ist auch der politische Macht- und Systemwechsel wahrscheinlich. Aus dem zuletzt gesagten ist schon deutlich geworden, daß die semiotische Dimension des Politischen immer zwei Seiten hat: eine dynamische und eine statische, eine instrumenteile und eine institutionelle (vgl. Dörner 1991). Einerseits sind die Zeichen, gleich ob Worte, Gesten oder Symbole, dem einzelnen Akteur als Instrument seiner Strategien zuhanden, er kann sie einsetzen, um seine jeweiligen Ziele zu erreichen. Andererseits kann er dies jedoch nicht tun, ohne Rücksicht auf die in einer Kultur verfestigten Verwendungsweisen und Bedeutungen zu nehmen, sonst wird er kläglich scheitern. Anders formuliert: symbolische Politik kann immer nur dann erfolgreich betrieben werden, wenn sie abgestimmt ist auf die politische Kultur. Wir verstehen im Anschluß an die neuere Forschung unter politischer Kultur das Gesamt an kollektiv geteilten Vorstellungen über die politische Welt, die gemeinsamen Denk-, Wahrnehmungs- und Handlungsmuster, die sich und hier liegt die Bedeutung des Semiotischen - in den kulturellen Zeichensystemen institutionalisiert haben. Politische Kultur kann im Sinne der soziologischen Institutionentheorie als semiotische Institution aufgefaßt werden, in der sich Gebrauchsweisen und Bedeutungswelten auskristallisiert haben. Politische Kulturen definieren in starken Maße das, 'was der Fall ist' sowie ob und wie der status quo verändert werden kann. Je stabiler sie etabliert sind, umso stärker sind die Menschen loyal eingebunden - je schwächer sie ist, umso wahrscheinlicher sind politischer Wandel und Erosion. Die politisch-kulturellen Grundmuster müssen allerdings immer wieder in der Zeichenpraxis bekräftigt werden, wenn sie nicht verblassen oder zur bloßen Folklore herabsinken sollen. Über die Analyse dieser Zeichenpraktiken
Einleitung: Sprache, Zeichen, Politische Kultur
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werden politische Kulturen dann empirisch zugänglich. In der Sprache, im Ritual, im Fest und in der Architektur, in der Musik und im Film treten sie uns sinnlich faßbar gegenüber. Einige kurze Beispiele aus dem angelsächsischen Raum mögen diese allgemeinen Aussagen zum Zusammenhang von Sprache, Zeichen und politischer Kultur etwas veranschaulichen. Politische Sprache als Institution wird vor allem dann sichtbar, wenn man politische Realität vergleichend analysiert. Die Unterschiedlichkeit der Vorstellungswelten in Großbritannien und Deutschland etwa, die natürlich nur vor dem Hintergrund sehr verschiedener historischer Traditionen zu verstehen ist, zeigt sich deutlich in den Unterschieden der politischen Sprache 1 . In Deutschland führten und führen alle Politikdefinitionen zunächst zum „Staat" als beherrschender Institution und zu Begriffen des Verwaltens und Steuerns. Der „Staat" tritt in Texten in der Regel als Handelnder auf, der gibt, gewährt, schafft und dafür Gegenleistungen der Bürger verlangt. Häufig kommt auch eine ausdifFerenzierte „Politik"-Lexik hinzu, die das politische Feld gleichsam in Abteilungen gliedert, von der „Außen-" bis zur „Preispolitik", von der „Gesundheits-" bis zur „Kulturpolitik". Politik erscheint hier als effektive Produktion und Distribution von öffentlichen Gütern, für die der Staat - heutzutage erweitert zum politisch-administrativen System - verantwortlich ist. In Großbritannien dagegen fuhren die Definitionen zu „government" sowie zu einer Reihe von Begriffen der Partizipation und Legitimation wie „elect", „representative" und „consent". In den Texten agiert eine Vielzahl von kollektiven und individuellen Akteuren, von denen „government" nur einer unter vielen ist und fur die „state" lediglich den Handlungsrahmen, nie jedoch ein handelndes Subjekt abgibt. Politik erscheint als stetiger Interaktionsprozeß, in dem Akteure ihre divergierenden Interessen aushandeln. Wilhelm Hennis hat in einem berühmt gewordenen Aufsatz über das Ende der Politik einmal unterschieden zwischen Politik I, der traditionellen, auf das Verhältnis der Menschen zueinander moralisch abgestimmten Politik, und Politik II, die aus der möglichst effektiven technischen Produktion von Dienstleistungen für den Bürger als Klienten besteht (Hennis 1977). Diese Unterscheidung aufgreifend könnte man, idealtypisch zugespitzt, sagen, daß in Deutschland das technische Verständnis im Sinne von Politik II dominiert, während in Großbritannien die praktische, akteursbezogene Vorstellung allen Modernisierungsprozessen zum Trotz Bestand hat. Es handelt sich um unterschiedliche Politikbegriffe, die je spezifische Aspekte des Politischen heraus-
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Die folgenden Aussagen basieren auf empirischen Untersuchungen zur politischen Sprache in Großbritannien und Deutschland im 20. Jahrhundert. Grundlage sind Analysen von Konversationslexika, Wörterbüchern und Textkorpora. Vgl. dazu Dörner/Rohe 1991 und Seck 1989.
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Andreas Dörner/Ludgera Vogt
heben und ausblenden und somit nicht nur das in der Sprache Sagbare, sondern auch das in der Sache Machbare definieren. Ein zweites Beispiel vermag das Zusammenspiel der instrumentellen und institutionellen Dimension der Sprache zu veranschaulichen: Die Inaugurationsrede der amerikanischen Präsidenten 2 . Das entscheidende Bindemittel der sozial wie politisch heterogenen amerikanischen Gesellschaft ist die Rhetorik - so hat es Sacvan Bercovich als einer der besten Kenner der politischen Kultur der Staaten formuliert (Bercovitch 1978, 1988). In der rhetorischen Beschwörung von biblischen Topoi, Einwanderermythen und Grundwerten der amerikanischen Revolution formiert sich eine kollektive Identität von noch immer bestechender Integrationskraft. Eine der wichtigsten Gattungen dieser Rhetorik ist die Inaugural Address des Präsidenten, die als Institution den amerikanischen Grundkonsens bekräftigt und zugleich als symbolpolitisches Instrument dem einzelnen Präsidenten ermöglicht, Akzente zu setzen und seine Politiken vorzubereiten. Kernstück dieser Reden, deren Tradition bis zum ersten Amtseid George Washingtons 1789 zurückgreift, ist die Beschwörung der amerikanischen Zivilreligion. Dies umfaßt explizite Bibelzitate und religiöse Metaphern („chosen people, promised land, covenant with God") ebenso wie den Bezug auf die heiligen Texte der Constitution oder der Declaration of Independence, Grundwerte der liberalistischen Ideologie (Individualismus, Eingrenzung des Staates, ökonomische Entfaltungsmöglichkeiten) ebenso wie die Vision eines nationalen Pantheons von den Verfassungsvätern bis zu den Kriegshelden des 20. Jahrhunderts. Neben diesen in ein ausgefeiltes Ritual eingebetteten Konventionen hat der einzelne Präsident die Möglichkeit, symbolische Weichenstellungen für seine Politik vorzunehmen und diese symbolische Politik ist umso erfolgreicher, je besser sie zivilreligiös eingebettet ist. Der „cheerleader" und große Kommunikator Reagan etwa verstand dies meisterhaft. Er stellte seine Ziele - Abbau der Regierungsbürokratie, Steuererleichterungen und Aufrüstung - als Rückkehr zu den Wurzeln der amerikanischen Demokratie dar, in der „we the people" (diese Eingangsformulierung aus der Verfassung hat Reagan ausgesprochen oft verwendet) die Probleme der Nation schon meistern werden, wenn nur die Bürde der Bürokratie wegfalle: „Government is not the solution to our problems, government ist the problem". Reagan bewegte sich souverän in den Symbolen und Grundwerten der amerikanischen Kultur, und dies verschaffte ihm jene berühmte „Teflonschicht", die jeden Fehler und jeden Skandal an ihm abgleiten ließ und seine Popularität bis zum Schluß sicherstellte.
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Zur Präsidentenrhetorik insgesamt vgl. jetzt Goetsch/Hurm 1993, zu den Inaugural Addresses speziell die Beiträge von Gester, Müller, Schulz und Dörner in ebendiesem Band.
Einleitung: Sprache, Zeichen, Politische Kultur
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Das dritte und letzte Beispiel fuhrt schließlich in die Mitte des Themenfeldes des vorliegenden Bandes: das britische „Westminster Game" 3 . Die britische Gesellschaft ist bekanntlich noch immer eine Gesellschaft mit starken traditionalen Zügen, die in hohem Maße über Rituale zusammengehalten wird. Im Ritual, von den höfischen Zeremonien bis zum täglichen „queuing" an der Bushaltestelle, wird Prinzipielles anschaulich und erlebbar gemacht. Grundvorstellungen über die politische Welt werden inszeniert und bekräftigt im Parlamentsritual des Unterhauses, das Ralf Dahrendorf als einen Eckpfeiler der britischen politischen Kultur bezeichnet hat (Dahrendorf 1986). Zum einen ist es der Streitcharakter, der in der konfrontativen Sitzordnung, der face to face erfolgenden Rede und Gegenrede und der ausgesprochenen Lebhaftigkeit der Auseinandersetzung (mitunter fast bis zur Handgreiflichkeit) versinnbildlicht wird. Politik wird aufgeführt als ein Streiten engagierter Akteure um Interessen und Problemlösungen, das jedoch stets im zivilisierten Rahmen der Spielregeln verbleibt. Zum anderen ist zu denken an den „budget day". An diesem Tag hält der Schatzkanzler mit Spannung erwartet seine Haushaltsrede und verkündet Beschlüsse, deren größter Teil vorher noch nicht einmal den Kabinettsmitgliedern bekannt ist. Der Oppositionsführer wird hier in spontaner Gegenrede zu Höchstleistungen herausgefordert. Beim „budget day" wird das Moment der spannungsreichen Inszenierung betont, die das Publikum von seinen politischen Akteuren erwartet. Das Ritual bekräftigt auf diese Weise den Handlungscharakter des Politischen. Das politische Handeln wird auf der Bühne des Parlaments, wie bürokratisiert die britische Politik im einzelnen auch schon sein mag, dem systemischen Charakter der Politik in der Moderne entgegengesetzt. Die Akteure versichern sich und dem Publikum, daß es nach wie vor in der Politik auf den einzelnen ankommt. Das Parlament stellt nicht nur in Großbritannien, sondern in nahezu allen modernen Demokratien eine der wichtigsten politischen Institutionen dar. Das politische Sprechen und Zeichenhandeln im Parlament prägt nachhaltig die politische Kultur einer Gesellschaft. Insofern muß der parlamentarische Diskurs im Zentrum einer jeden politischen Sprachforschung und Semiotik stehen. Die Beiträge in der ersten Sektion dieses Bandes nähern sich der „Sprache des Parlaments" aus ganz unterschiedlichen Perspektiven. Werner J. Patzelt (Dresden) rekonstruiert in seinem Beitrag „Politiker und ihre Sprache" die handlungsleitenden Alltagstheorien der Parlamentarier über politische Sprache. In einer großen Anzahl von semi-strukturierten Interviews kommen die politischen Akteure selbst zu Wort. Aus Patzelts empirischen Analysen wird vor allem der komplexe Situationsbezug des politischen Spre3
Das britische Parlamentsritual ist populärwissenschaftlich dargestellt in einem Aufsatz von Ralf Dahrendorf (1986).
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Andreas Dörner/Ludgera Vogt
chens erkennbar, den das öffentliche Publikum in seiner Sprachkritik allzu häufig außer Acht läßt. Die Politiker müssen zunächst situationsabhängig wechseln zwischen Arbeits- und Darstellungskommunikation, je nachdem, ob sie Insider oder Outsider ansprechen. Die Sprechsituationen sind sehr unterschiedlich strukturiert, und der Politiker muß vom Grußwort über die Festrede, den Fachvortrag, die Plenarrede bis hin zum Fernsehinterview die verschiedensten Erwartungshorizonte in Rechnung stellen. Eine wichtige Strategie bei der Bewältigung der Ansprüche ist das kommunikative Meideverhalten, mit dem mangelnde Kompetenz oder Meinungsbildung überdeckt werden kann. Die oft fehlende Vorbereitungszeit zwingt die Politiker ohnehin dazu, ihre Fähigkeit zur Improvisation und zum extemporierenden Sprechen ständig auszubauen. Patzelts Text gemahnt zur Vorsicht vor einer allzu wohlfeilen Sprachkritik und weist darauf hin, daß man zu analytischen Fehlschlüssen gelangt, wenn man die komplexen Bedingungen des professionellen politischen Sprechens nicht systematisch berücksichtigt. Das Sprechen von Politikern über politische Sprache in Form von parlamentarischer Selbstthematisierung bildet auch das Aufmerksamkeitszentrum in dem historisch orientierten Beitrag von Wilhelm Hofmann (Augsburg): „Redefreiheit zwischen Rederecht und Redezwang. Überlegungen zur Bedeutung der Selbstthematisierung sprachlicher Kommunikation für die Reproduktion und Transformation parlamentarischer Institutionen am Beispiel der Entwicklung der Redefreiheit im englischen Parlamentarismus". Das „historische Großlaboratorium des englischen Parlamentarismus" dient hier als paradigmatischer Fall. Hofmann zeigt, daß die sprachliche Ordnung der Institution Parlament in dem Moment selber thematisch wird, als sich die Grundlagen des modernen Parlamentarismus herausbilden. Die Selbstthematisierung der Diskursordnung ist in wesentlichen Punkten identisch mit der Transformation einer mittelalterlichen in eine moderne politische Institution. Hier wird gegen die monarchische Prärogative eine Diskursordnung etabliert, deren Selbstregulierung vom reflexiven Potential der Sprache abhängt und durch sie ermöglicht wird. In diesen Diskursen befindet sich die Institution an der „Grenzlinie der argumentativen Vernunft" (Toulmin), an der diskursive Verfahren in Beziehung zur Funktion des Diskurses thematisiert und reguliert werden müssen. Da eine der zentralen Funktionen des Parlaments jedoch die Bereitstellung von verbindlichen Entscheidungen ist, muß die normative Grundlage des Diskurses mehr oder weniger explizit gemacht werden. Mit Carl Schmitt formuliert heißt das: Es gibt nicht nur eine Heterogonie der Zwecke, sondern auch der Prinzipien. Sie wird in der Diskussion der Diskussion thematisch. Grundsätzliche Reflexionen über Bedingungen und Funktionen der parlamentarischen Sprache in der Gegenwart stehen am Beginn des empirischen Beitrags von Armin Burkhardt (Braunschweig): „Zwischen Diskussions- und Schaufensterparlamentarismus. Zur Diagnose und Kritik parlamentarischer
Einleitung: Sprache, Zeichen, Politische Kultur
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Kommunikation - am Beispiel von Zwischenfragen und Kurzdialogen". Unter dem wachsenden Einfluß der Parteien ist, so der Ausgangsbefund des Autors, der deutsche Parlamentarismus den Weg vom „Diskussions"- zum „Arbeitsparlament" gegangen. Dessen Plenardebatte hat sich unter dem Druck zunehmender Medienpräsenz zum „Schaufenster" gewandelt, in dem kaum noch authentische Diskussion stattfindet. Dies bestätigt auch die deutliche Kritik, die Richard von Weizsäcker als Bundespräsident an der politischen Dominanz der Parteien innerhalb wie außerhalb des Parlaments geübt hat, dabei sowohl auf Gerhard Leibholz' Lehre vom „Parteienstaat" als auch auf Carl Schmitts Parlamentarismuskritik Bezug nehmend. Nach einer vorwiegend kommunikationstheoretisch begründeten Analyse des „trialogischen" Charakters und der „Inszeniertheit" der Plenardebatte im Gegenwartsparlamentarismus werden Typologien der Zwischenfrage und des Kurzdialogs erarbeitet. Auf der Grundlage des typologischen Rasters zeigt der Autor, wie sich die schrittweise Entwertung der Plenardebatte auf Qualität, Quantität und Distribution parlamentstypischer Dialogformen auswirkt. Eine weitere, mitunter in der Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit besonders prominente Textsorte des parlamentarischen Sprechens ist der Zwischenruf. Rüdiger Kipke (Prag) verdeutlicht in seinem Beitrag „Der Zwischenruf - ein Instrument politisch-parlamentarischer Kommunikation?" einige Spezifika dieser inoffiziellen und dennoch protokollnotorischen Textsorte. In den Geschäftsordnungen der Parlamente kommt der Zwischenruf nicht vor. Er hat sich aus Gewohnheit etabliert und ist aus der parlamentarischen Kommunikation heute nicht mehr wegzudenken. Funktional betrachtet dient er als Mittel der Inszenierung von Streitgesprächen in einem Kontext, in dem alle Entscheidungenjenseits des Plenums längst gefallen sind. Das Scheingespräch der Zwischenrufer ist somit primär an die mediale Öffentlichkeit gerichtet. Geht man den Eigenheiten der Debatte genauer nach, dann lassen sich 'unpolitische' und 'politische' Funktionen des Zwischenrufs unterscheiden: auf der 'unpolitischen' Ebene werden Provokationen und Beleidigungen lanciert, der Ruf dient als „mentales Ventil" bei ausbrechender Langeweile. Auf der 'politischen' Ebene dient das Zwischenrufen vor allem der Profilierung im eigenen Lager und dem Erheischen von Beifall aus den plenaren „Fankurven". Zwischenrufe sind darüberhinaus auch ein zentrales Medium der kommunikativen Ausgrenzung. Dies zeigt Martin Sebaldt (Passau) in seinem Beitrag „Stigmatisierung politischer Außenseiter. Zur verbalen Ausgrenzung radikaler Parteien im Deutschen Bundestag". Mithilfe eines ethnomethodologischen Forschungsinstrumentariums verfolgt Sebaldt am Beispiel der PDS im Bundestag, wie bestimmte Mitglieder aus dem Verband der parlamentarischen „Ethnie" herausgelöst und isoliert werden. Als Techniken der Ausgrenzung werden kommunikative Deprivation bzw. Nichtbeachtung, strategische Kontextbildung und Degradierung beschrieben, wobei die strategische Kontextbildung mithilfe des ständigen Hinweises auf die DDR/SED-Vergangenheit do-
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Andreas Dörner/Ludgera Vogt
miniert. Meist sind die Ausgrenzungen nicht geplant, sondern ergeben sich situativ aufgrund bestimmter Stimuli von Seiten der PDS-Abgeordneten - Stimuli, auf die vor allem die „Top-dogs" der Fraktion anspringen (etwa Gerster und Bohl bei der CDU/CSU-Fraktion). Allerdings läßt sich feststellen, daß die ausgrenzenden Zwischenrufe auch einem Gewöhnungs- und Abschleifungseffekt unterliegen und das kommunikative Potential dieser Techniken gegenüber der PDS sich mittlerweile wohl verbraucht hat. Ausgrenzungsmechanismen werden natürlich nicht nur gegen 'linke', sondern auch gegen 'rechte' Radikale zur Anwendung gebracht. Petra Deger (Regensburg) untersucht in ihrer Studie „Reaktionen demokratischer Parteien auf Wahlerfolge rechtsextremistischer Gruppierungen" einen historischen Fall aus den sechziger Jahren, der jedoch durch den Aufstieg der REPUBLIKANER in den Achtzigern neue Aktualität gewonnen hat. Ausgehend von einigen Grundüberlegungen zum Verhältnis des demokratischen Verfassungsstaates zu „Extremisten" und zur Funktion extremistischer Erscheinungen für die Selbstdefinition der Demokratie wird die öffentliche Erörterung der Frage rekonstruiert, wie mit der NPD umzugehen sei. Die Vorschläge und Strategien reichten vom „rechts überholen" bis zum schlichten Ignorieren der Partei. Wichtig auch für die aktuelle Diskussion - gleich, ob auf REP oder PDS bezogen - ist die Differenzierung zwischen Partei und Wählern. Eine Stigmatisierung der Partei kann ganz andere Folgen haben als eine Stigmatisierung der Wähler, die letztlich auch von den großen Volksparteien umworben werden. In einem abschließenden Ausblick konstatiert die Autorin, daß der Umgang mit den REP insgesamt gelassener erscheint als der damalige Umgang mit der NPD, wenngleich das „Superwahljahr" 1994 ohne Zweifel eine härtere Gangart vor allem von Seiten der Unionsparteien gebracht hat. Die realitätskonstruierende Funktion des parlamentarischen Sprechens steht im Mittelpunkt des Beitrags von Birgit Sauer (Berlin): „'Doing gender'. Das Parlament als Ort der Geschlechterkonstruktion. Eine Analyse der Bundestagsdebatte um die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruches". Die Bundestagsdebatte um die Reform des Abtreibungsparagraphen im Juni 1992 birgt einen „hegemonialen Diskurs" über das Geschlechterverhältnis und die Konstruktion des Selbstbestimmungsrechts von Frauen. Das Geschlecht ist keine natürliche Eigenschaft von Individuen, sondern wird durch soziale, kulturelle, sprachliche Praxen hergestellt. In der Abtreibungsdebatte wird die spezifische Ausformung der Geschlechterdifferenz formuliert, um durch Gesetz schließlich normiert und normalisiert zu werden. Der Beitrag zeichnet die Enge des hegemonialen Diskurses in der Debatte nach. Darüberhinaus werden die sprachlich-argumentativen Konstruktionsprozesse der GeschlechterdifFerenz und mithin des eingeschränkten (Staatsbürger-)Rechts von Frauen rekonstruiert: Bipolarisierung von männlich-weiblich sowie guter Mutter und böser Mutter, Naturalisierung sozialer Definitionen (insbesondere der Lebensdefinition), Essentialisierung von Geschlechterstereotypen. Sauer argumentiert, daß
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der Abtreibungsdiskurs Produktionsbedingung der ambivalenten politischen Integration von Frauen ist - sie sind „qua Geschlecht" nicht in der gleichen Weise wie männliche Individuen mit dem Menschenrecht auf Selbstbestimmung ausgestattet. Ein wichtiges Mittel zur politischen Verständigung in der Moderne sind Metaphern. In ihrer Anschaulichkeit ermöglichen sie es, auch in einer hochspezialisierten und differenzierten Gesellschaft öffentlich über politische Angelegenheiten zu sprechen, ohne gleich in Expertennischen zu geraten. Reinhard Wesels Beitrag „Politische Metaphorik im 'parlamentarischen Diskurs': Konzeptionelle Überlegungen, exemplifiziert an entwicklungspolitischen Bundestagsdebatten" liefert einige Grundsatzreflexionen über die Funktionen von Metaphern in der Politik. Metaphern, so Wesel, vermitteln Vorstellungen aus sehr heterogenen Bereichen so, daß in spezifischer Selektion neue Vorstellungen von hoher Überzeugungskraft entstehen. Diese neuen semantischen Syndrome können manipulativ eingesetzt werden, denn sie vermögen nicht nur die Wahrnehmung und das Denken zu strukturieren, sondern auch Emotionen zu kanalisieren. Schließlich kann man mit Metaphern auch Probleme entpolitisieren, indem der Eindruck von 'natürlichen' oder fraglos gültigen 'mythischen' Sachverhalten erweckt wird. Politische Metaphern funktionieren jedoch nicht isoliert, sondern im Netz ganzer Bild- und Metaphernsysteme. Wesel skizziert und exemplifiziert diesen systematischen Zusammenhang politischer Metaphern am Beispiel des parlamentarischen Diskurses über Entwicklungspolitik im Deutschen Bundestag. Stehen mit den Metaphern Diskurspartikel der Sprache des Parlaments im Blickpunkt, so stellen die Enquete-Kommissionen eine besondere Institutionalisierung parlamentarischen Sprechens dar. Gerhard Vowe sieht diese Kommissionen als „Brückenkopf des Parlaments in fremdem Terrain („Kommunikationsmuster am Schnittpunkt von Wissenschaft und Politik. Beschreibungen und Erklärungen am Beispiel einiger Enquetekommissionen des Deutschen Bundestags"). Sind diese Brückenköpfe zugleich eine Möglichkeit, die routinisierten Sprachmuster im Parlament aufzubrechen? Vowe stellt in seinem Beitrag eine Typologie der Kommunikationsformen in den Kommissionen auf, die vom „Fraktionsdiskurs", in dem die parlamentarischen Machtstrukturen sich nahezu ungebrochen reproduzieren, bis zum „Seminardiskurs" reicht, der sich am Idealtyp wahrheitsorientierter Wissenschaftskommunikation orientiert. Wie wirksam eine Kommission sein kann, das hängt von der Ausbalancierung der verschiedenen Typen ab. Vowe zeigt schließlich unterschiedliche Erklärungsansätze fiir diese Kommunikationsstrukturen auf, die jeweils bestimmte Aspekte ausblenden oder hervorheben, wobei der Autor für eine difFerenzierungstheoretische Sicht als Synthese von handlungs- und systembezogenen Dimensionen plädiert. Eine begriffsgeschichtliche Analyse steht am Beginn der Sektion „Semiotik der Demokratie". In seinem Beitrag „Demokratie und Parlament. Zur semanti-
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sehen Entwicklung einer komplizierten Beziehung am Beispiel deutschsprachiger Wörterbücher aus dem 19. und 20. Jahrhundert" zeigt Jörg Kilian (Braunschweig) mit einem Verfahren sozialgeschichtlich orientierter Sprachgeschichtsschreibung auf, wie sich die beiden Bedeutungskomplexe des Demokratischen und des Parlamentarischen zueinander verhalten. Kilian setzt an bei dem gegenwärtigen Befund, daß in der Standardsprache die Begriffe „parlamentarisch" und „demokratisch" häufig synonym verwendet werden. Anhand von Wörterbüchern und Lexika wird dann aufgezeigt, daß die Entwicklung in der Standardsprache von der Antonymie zur Synonymie fuhrt: Wurden die beiden Begriffe früher geradezu als gegensätzlich aufgefaßt, so hat sich im Laufe der politischen Sprachgeschichte aus der Vielzahl von möglichen Bedeutungen von „Demokratie" die repräsentative Variante in Verbindung mit dem vorher ständisch verstandenen Parlament als Dominante herausgebildet. In der heutigen öffentlichen Sprache ist die enge Verknüpfung von „Parlament" und „Demokratie" zur unhinterfragten Selbstverständlichkeit geworden. Die Wörterbücher als sprachkulturelle Vermittlungsinstanzen geben ein anschauliches Bild von diesem Prozeß. Kilian weist mit seiner Studie auf eine wichtige semantische Rahmenbedingung des Sprechens über Politik hin, deren Kontingenz erst in der historischen Betrachtung wieder sichtbar wird. Immer wieder macht der Vergleich erst die Spezifität eines Phänomens deutlich. Was Kilian in der Zeitdimension aufzeigt, das wird in dem Beitrag „Die Sitzordnung der Abgeordneten: Ausdruck kulturell divergierender Auffassungen von Demokratie?" von Herbert Döring (Potsdam) in der interkulturellen Perspektive sichtbar. Döring fragt nach dem Zusammenhang zwischen dem Grundriß der Plenarkammer sowie der Sitzordnung der Abgeodneten einerseits und dem Demokratieverständnis in der entsprechenden politischen Kultur andererseits. Die räumliche Anordnung des parlamentarischen Diskurses, so lautet die These, ist als Symbolik von konfliktären oder konsensuellen Auffassungen von Demokratie lesbar. Konkurrenzdemokratische Vorstellungsmuster korrelieren mit einer rechteckigen Raumgestaltung und einer konfrontativen Sitzordnung, wie man sie klassisch in Westminster ausgeprägt findet. Konkordanzdemokratische Muster hingegen korrelieren mit runden oder halbrunden Formen und Sitzordnungen, in denen der Konflikt gleichsam schon raumsemiotisch gemäß den konkordanztheoretischen Grundgedanken entschärft scheint. Döring vermag seine Hypothese eindrucksvoll zu bestätigen, weist dabei jedoch auch auf charakteristische Ausnahmen hin. Die Niederlande etwa, ein geradezu klassisches Konkordanzsystem, ließen bis vor kurzem noch ihre Parlamentarier in einem rechteckigen Raum mit adversativer Sitzordnung tagen. Diese erklärt sich jedoch durch die alte Ständeversammlung und das damit einhergehende besondere Verhältnis zwischen Parlament und Regierung, das sich erst in neuerer Zeit verändert und schließlich auch in
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der - halbrunden - Neugestaltung des Plenarsaals seinen Niederschlag gefunden hat. Die „Semiotik der Demokratie" fragt auch nach symbolischen Repräsentationen demokratischer Grundprinzipien. Eine Fallstudie zu derartigen Repräsentationen legt Francesca Rigotti (Göttingen) mit ihrem Beitrag „Der 'runde Tisch' und der Mythos der symmetrischen Kommunikation" vor. Rigotti befragt den Begriff des „Runden Tisches" auf seine methaphorologischen Bedeutungen hin und greift dabei auf die Symbolgeschichte von König Artus' Tafelrunde bis zum Runden Tisch im Transformationsprozeß der DDR nach 1989 zurück. Als zentrale Elemente der Symbolik erscheinen die Kreisfbrmigkeit der Sitzordnung, die auf Gleichberechtigung hindeutet, sowie das 'Kreisen' und Fließen der Sprache in dieser Kommunikationsform. Die Kreisform des Denkens und Sprechens spielt in der politischen Theorie von Hegel bis Habermas eine wichtige Rolle, wobei vor allem Habermas' Vorstellung vom „Herrschaftsfreien Diskurs" einschlägig ist, in dem jeder Teilnehmer potentiell auch die Position der anderen einnehmen können soll. Genau diese Wechselbarkeit der Positionen aber gehört zum Kern der Vorstellung vom Runden Tisch. Der Beitrag macht also mit einem metaphern- und ideengeschichtlichen Blick theoretische Implikationen des „Runden Tisches" deutlich, die relevant sind für die Einschätzung der Vorstellungen, die mit der Einrichtung dieser Institution in der Noch-DDR verbunden waren. Frank Becker (Münster) weist mit seinem Aufsatz „Spielregeln der Politik. Politikprozesse und Sportsymbole in der Weimarer Republik" auf die Relevanz der Symbolik fur die politische Kultur hin. Welche Symbole als verbindliche Konstruktion von politischer Wirklichkeit akzeptiert werden, das kann weitreichende Konsequenzen fur die Machtstrukturen in einer Gesellschaft haben. In einer Fallstudie zur Weimarer Republik zeigt Becker, wie eine Gruppe von Intellektuellen aus dem Kontext der „Neuen Sachlichkeit" versuchte, eine mentalen Modernisierung und Rationalisierung der politischen Kultur zu betreiben. Zu diesem Zweck griff man auf die Bildwelt des Sports als zentrales Sinnparadigma zurück, das Momente wie Wettkampf, Fairness und selbstgewähltes Reglement in den Mittelpunkt stellt. Es sollte einen sich ideologiefrei und neutral gebenden Konsensrahmen definieren, innerhalb dessen dem Staat die Rolle des unparteiischen „Schiedsrichters" zukam. Diese Vorstellungswelt war jedoch mit dem quasi-sakralen Staatsdenken in Deutschland und mit einigen Traditionen der politischen Kultur schwer vereinbar, weshalb dieses Projekt letztlich auch als gescheitert angesehen werden muß. Statt Wettbewerb und Fairness war der dominante politische Diskurs durch Militarismus und bürgerkriegsähnliche Rhetorik bestimmt. Dietmar Schirmer (Washington) bemüht sich in seiner Analyse „Politik und Architektur. Ein Beitrag zur politischen Symbolanalyse am Beispiel Washingtons" um eine Antwort auf die Frage nach einer angemessenen Interpretation der Symbolik politischer Architektur. Den Ausgangspunkt bildet die Zurück-
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Andreas Dörner/Ludgera Vogt
Weisung des häufig praktizierten intentionalistischen Verfahrens, das politische Architektur allzu unbefangen als das Resultat der Übersetzung politischer Programme in architektonische Form interpretiert. Stattdessen wird dafür plädiert, die Frage der Verfasserintention zurückzustellen und Homologien zwischen politischem und architektonischem Feld als Ausdruck einer beiden gemeinsamen kulturellen Determinierung unter den je spezifischen Bedingungen zu verstehen. Gegenstand der Betrachtung sind das Gesamtkonzept der Stadtanlage Washingtons und das U.S. Capitol. Der Beitrag macht deutlich, daß die Berücksichtigung architektonischer Symbole für die Politikwissenschaft ein noch kaum bearbeitetes, aber vielversprechendes Arbeitsfeld darstellt. Politik mit Symbolen vollzieht sich mitunter in überraschenden Konstellationen. Warum etwa die PDS als sozialistische Partei in ihrer Wahl- und Mitgliederwerbung ausgerechnet auf das Symbol des Kreuzes zurückgreift, klärt Ludgera Vogt (Regensburg) in ihrem Beitrag „Das Kreuz der Vergangenheit. Zur symbolischen Politik der PDS". Mithilfe des Instrumentariums der Kultursemiotik und der interpretativen Sozialforschung wird ein Bild aus der PDSWerbung dechiffriert als Inszenierung einer „politischen Passionsgeschichte", die dem Betrachter eine Reihe von Sinnangeboten unterbreitet. Der Beitrag beschreibt zunächst die Bedeutungspotentiale und arbeitet dann die plausibelste Sinnfigur heraus. Anschließend werden die im Bild angelegten Betrachterrollen für unterschiedliche Adressatengruppen analysiert: vom nach wie vor „systemnahen" Ex-DDR-Bürger, dem Kontinuität im neuen Gewand signalisiert wird, über die Gruppe der Indifferenten, die dennoch ihre spezifische Identität durch den „Kolonialisierungsprozeß" nach der Vereinigung bedroht sehen, bis hin zu den unorthodoxen Linken in den alten Bundesländern, denen über die Inszenierung einer offenen und ehrlichen Vergangenheitsbewältigung suggeriert wird, daß die Chance des „wahren" Sozialismus erst jetzt, nach dem Zusammenbruch der DDR, gekommen sei. Vor dem Hintergrund der jüngsten Wahlerfolge der PDS und der enormen Popularität, die Gregor Gysi mittlerweile auch jenseits der alten Grenze genießt, kann die Werbestrategie als durchaus erfolgreich bewertet werden. Ausgehend von neueren Entwicklungen im Bereich der Parteiensysteme und Wählerpräferenzen beschreibt Andreas Dörner (Magdeburg), wie die Newcomer-Partei der REPUBLIKANER mit gezielten symbolpolitischen Strategien sich einen festen Platz am politischen Markt zu erobern sucht („'Rechts', aber nicht 'draußen'. Zur Selbstverortung in den Parteiprogrammen der REPUBLIKANER"). Die Parteiprogramme werden interpretiert als Medium korporativer Selbstthematisierung, mithilfe dessen eine attraktive corporate identity entworfen werden kann. Die Programme bieten ein politischkulturelles Design, das Ordnungsvorstellungen, Angebote kollektiver Identität und auch Entwürfe von Lebensstilen enthält. Bei diesen Entwürfen zur Selbstverortung müssen die Akteure allerdings genau den Rahmen des Diskurses
Einleitung: Sprache, Zeichen, Politische Kultur
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beachten, in dem sie sich bewegen. Kollektivsymbole und elementare Topiken prägen die Vorstellungswelt des Publikums. In der Bundesrepublik sind es vor allem die Links-Rechts-Achse und die rigide Innen-Außen-Differenzierung, die das öffentliche Sprechen über Politik strukturieren. Als spezifischer Ort der REP am Markt schält sich vor diesem Hintergrund eine Position 'rechts' der Unionsparteien heraus, die jedoch stets mit der Gefahr verbunden ist, im extremistischen 'Außen' jenseits der legitimen politischen Ordnung zu landen. Der Beitrag analysiert in einer genauen Lektüre der Parteiprogramme die Selbstverortung der REP mit dem Fazit, daß hier eine antimoderne und antipluralistische Vorstellung von homogener Gemeinschaft entworfen wird, die sich als ethnisch definierte „Nation" gegen alles 'Fremde' und 'Störende' abschließt. In der Vielfalt moderner Lebensstile ist fur einen solchen, aggressiv gewendeten Traditionalismus durchaus Nachfrage vorhanden. Das vorliegende Buch geht zum größten Teil auf die Referate einer Tagung zurück, die der Arbeitskreis „Politische Sprache" in der Deutschen Vereinigung für Politische Wissenschaft im Dezember 1993 in der katholischen Akademie „Die Wolfsburg" (Mülheim/Ruhr) veranstaltet hat. Der Universität Essen sei für die Bereitstellung der erforderlichen Mittel an dieser Stelle noch einmal gedankt. Für die Erstellung der Druckvorlagen - durch alle damit verbundenen Höhen und Tiefen hindurch - danken wir nachdrücklich Michaela Tegtmeyer (Hannover) und Frank Hörnlein (Magdeburg).
Literatur Dahrendorf, Ralf (1986): Das 'Westminster Game' und die englische Freiheit. In: Merkur 40, S. 735-745. Dörner, Andreas (1991): Politische Sprache - Instrument und Institution der Politik. In: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 17/91, S. 3-11. Dörner, Andreas/Rohe, Karl (1991): Politische Sprache und Politische Kultur. Diachronkulturvergleichende Sprachanalysen am Beispiel von Großbritannien und Deutschland. In: M. Opp de Hipt/E. Latniak (Hrsg.): Sprache statt Politik? Politikwissenschaftliche Semantik- und Rhetorikforschung. Opladen, S. 38-64. Goetsch, Paul/Hurm, Gerd (Hrsg.) (1993): Die Rhetorik amerikanischer F.D. Roosevelt. Tübingen.
Präsidenten
Hennis, Wilhelm (1977): Ende der Politik? In: W. Hennis: Politik und praktische phie. Schriften zur politischen Theorie. Stuttgart, S. 176-197.
seit
Philoso-
Seck, Wolfgang (1991): Politische Kultur und politische Sprache. Empirische Analysen Beispiel Deutschlands und Großbritanniens. Frankfurt a.M. u.a.
am
I Sprache des Parlaments
Politiker und ihre Sprache WERNER J. PATZELT
0. 1. 2. 2.1. 2.2 2.2.1. 2.2.2. 2.2.3. 2.2.4. 2.3. 3. 4. 5.
(Dresden)
Vorbemerkung Analytische Kategorien Politikertheorien über politische Sprache Politische Sprache als Gegenstand der Reflexion von Politikern Prägefaktoren politischer Sprache Arbeits- und Darstellungskommunikation Die Zwänge des Typs der zu bewältigenden Sprechsituation Die Notwendigkeit von 'kommunikativem Meideverhalten' Mangel an Vorbereitungszeit Regeln fur Politikerreden Politiker zur Kritik ihrer Sprache Politische Sprachkritik: Auf den Weg zu realistischen Maßstäben! Literatur
0. Vorbemerkung Politik ist in einer offenen Gesellschaft, zumal in einem demokratischen Regierungssystem, ein kommunikatives Gewerbe. In ihrer Innenwelt geht es darum, kommunikativ Konsens und Kompromiß, Sieg oder Niederlage herbeizufuhren. Und nach außen hin kann allein kommunikativ jenes Massenpublikum erreicht werden, das über öffentliche Meinung, Demoskopie und Wahlverhalten Politikern wichtige Rahmenbedingungen ihres Handelns auferlegt. Kommunikation ist zweifellos, in den Worten Norbert Wieners, der 'Kitt, der eine Gesellschaft zusammenhält', ist die Vorbedingung gelingender Legitimation (vgl. Oberreuter 1980), ist eine stete Bewährungsprobe für Politiker. 1 1
Die dieser Abhandlung zugrunde liegenden Daten wurden zwar durch eine Befragung ausschließlich von Parlamentariern gewonnen; vgl. Anm. 6. Die Rede von 'den Politikern' geht über diesen Kreis natürlich hinaus. Doch im politischen System der Bundesrepublik Deutschland sind es - mit Ausnahme der kommunalen Ebene - so gut wie immer Abgeordnete, welche die politischen Spitzenpositionen in Parteien und Regierungen innehaben. Folglich können die auf Parlamentarier bezogenen Aussagen weitgehend, wie es im folgenden geschieht, auf Politiker verallgemeinert werden.
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1. Analytische Kategorien Deren tägliches Werkzeug, an Bedeutung kaum zu überschätzen, ist denn auch die politische Sprache.2 Je nach Kommunikationsumgebung und Kommunikationszweck hat sie ganz verschiedenen Anforderungen zu genügen. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit lassen sich zumindest drei Gattungen politischer Kommunikation und Sprache unterscheiden: - Es gibt die politische i4rÄe/tekommunikation. Gemeint ist die Sprache, die etwa in parlamentarischen Arbeitsgruppen und Ausschüssen, beim Umgang von Politikern mit Ämtern, Behörden und Ministerien, bei Informationsgesprächen, doch nicht selten auch in Fraktionen und Plenardebatten gepflogen wird. Sie ist auf die Erfassung der zu behandelnden Probleme ausgerichtet und auf den Transport von deren Komplexität. Darum nimmt sie oft technischen Charakter an, ist Insider-Sprache und im ursprünglichen wie modernen Wortsinn esoterisch. - Ihr exoterisches Gegenstück ist die politische DarstellungskorrmurvkzAÄon. Gemeint ist jene Sprache, die auf öffentliche Wirkung abzielt und sich darum von jenen Bindungen an technisches Vokabular und problemadäquate Differenzierung löst, welche für die Arbeitskommunikation unabdingbar sind. Ihre Beschaffenheit hängt einesteils von der jeweiligen Öffentlichkeit ab, an die sie sich wendet, und andernteils vom Medium, über welches sie wirken will. Denn der beim Fernsehinterview in der 'Tagesschau' für ein Millionenpublikum zu nutzende Sprachstil muß offenbar ein anderer sein als der im Fachaufsatz eines Agrarpolitikers im Mitteilungsblatt des Bauernverbandes. - Schließlich ist noch die Durchsetzungskommumk&tiori hervorzuheben. Hier geht es um politische Sprache, die auf die Erfüllung instrumenteller und taktischer Zwecke optimiert wird. Vom Euphemismus bis zur polemischen Übertreibung, von sprachlicher Camouflage bis zur funktionalisierten Tabuverletzung, von rhetorischer Weihrauchspende bis zur rhetorischen Degradierung reicht ihr Repertoire.3 Natürlich gehen diese Kommunikationszwecke ebenso ineinander über wie die Teilöffentlichkeiten, an die Politiker sich wenden. Halbwegs lange Sequenzen politischer Sprache werden darum gesprenkelt sein mit einem Muster der verschiedenen Kommunikationsgattungen, das freilich bis hin zur Dominanz 2
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Da im Zusammenhang dieses Beitrags entsprechende begriffliche Differenzierungen verzichtbar sind, wird im folgenden der Begriff der 'politischen Sprache' austauschbar mit dem der 'Sprache von Politikern' benutzt. Zur (kommunikativen) Degradierung als einer Strategie der 'politics of reality', des Kampfes um die Wirklichkeitskonstruktion, siehe Patzelt (1987, 115-124; Patzelt 1989 und 1991
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der einen oder anderen variieren kann. Politische Sprache analytisch zu verstehen heißt darum herauszufinden, von welchen Faktoren ihr jeweiliges Erscheinungsbild geprägt wird. Zu diesem Zweck muß man unbedingt die Sprache von Politikern als eine Textgattung sui generis auffassen, als ein höchst adaptives System, das sich unter extrem scharfen Konkurrenz- und Selektionsbedingungen äußerst vielfaltigen und oft rasch wechselnden Umwelten anpassen muß. Herausgelöst aus ihren pragmatischen Kontexten ist sie ebensowenig adäquat zu verstehen wie ein Fußballspiel ohne die Kenntnis seiner Regeln. Kritik politischer Sprache, die ihren Gegenstand unter Ausblendung seines praktischen Anwendungs- und Wirkungszusammenhangs angeht, betreibt hermeneutische Mißwirtschaft, ist bloß denunziatorisch und trägt zum analytischen Verständnis der Politikersprache wenig bei. Leider ist gerade dieser Typus von Kritik äußerst populär. Bei der Ursachendiagnose der Beschaffenheit politischer Sprache reicht es darum nicht aus, bloß die 'Weil-Motive' und die 'Um zu-Motive' kommunizierender Politiker zu berücksichtigen, also die Kategorien der Kausalität und der Finalität heranzuziehen. Denn politische Sprache empfängt ihre jeweilige Eigenart nicht allein deshalb, weil es Politikern etwa an der Formulierungskunst eines Lichtenberg oder Thomas Mann fehle. Und nicht allein, um Festlegungen zu vermeiden oder um Tatsachen zu verhüllen, wird formuliert, wie formuliert wird. Vielmehr sind bei der Analyse der Politikersprache auch die anderen beiden Ursachenformen heranzuziehen, auf die einst Aristoteles neben der causa efficiens und der causa fmalis hinwies, also neben den Antriebs- und Zwc^ursachen, die meist alle Aufmerksamkeit auf sich ziehen (vgl. Patzelt 1986, 174f). Oft nämlich ist es die causa formalis, die Formursache, die Politikern eine bestimmte Redeweise aufzwingt. Beispielsweise läßt sich im 1:30Fernsehinterview nicht sprechen wie im Bundestagsausschuß, und das Grußwort in einem Bierzelt ist anders aufzubauen als ein Fachvortrag. Ebensowenig darf die causa materialis, die Mrtm'a/ursache, unbedacht bleiben. Stoff der Plenarrede eines Arbeitsgruppensprechers ist nun einmal nicht seine persönliche politische Meinung, sondern die mühsam genug erarbeitete Position seiner Fraktion, und die Regierungserklärung eines Kanzlers ist kein belletristisches Werk, sondern die Redeversion des Koalitionsvertrags. Eine Kausalanalyse politischer Sprache, welche hinter die Komplexität einer Diagnose von deren zumindest vierfachem Bedingungsgefuge zurückfällt, kann darum nicht befriedigen. Außerdem muß bedacht werden, daß persönliche Begabungsunterschiede der Politiker an rhetorischem Talent, ihre Ungleichheiten an Erfahrung und praktischer Kommunikationskompetenz sowie individuelle Stilunterschiede jene prägende Trinität aus Kommunikationsgattung, Sprechumwelt und Ursachenquadriga überlagern. Die Sprache von Politikern ist darum zwar ein zur herablassenden Kritik leicht einladendes, doch bei näherer Betrachtung erhebliche Analysekomplexität verlangendes Studienobjekt, das sich bequemer be-
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kritteln als in seiner Eigenart verstehen oder gar selbst kompetent - und möglicherweise besser - beherrschen läßt.
2. Politikertheorien über politische Sprache Wie denken nun Politiker über politische Sprache nach, über eines ihrer wichtigen Arbeitswerkzeuge? Der Wert der in Antwort auf diese Frage zu rekonstruierenden Alltagstheorien von Politikern besteht natürlich nicht darin 4 , daß sie schlechterdings zutreffender oder gegenstandsadäquater seien als die fachwissenschaftlichen Theorien jener Disziplinen, die sich politischer Sprache als ihres Untersuchungsgegenstandes annehmen. Doch erst das Verständnis der Verhaltens- und sprachsteuernden Alltagstheorien der untersuchten Akteure erlaubt es, die von ihnen an den Tag gelegte Redepraxis ihrem gemeinten Sinn nach zu verstehen. Macht man sich die Mühe einer Rekonstruktion jener Alltagstheorien von Politikern nicht, so stülpt man letztlich der Politikersprache aufs Geratewohl Fremdkategorien über und zwingt die Sprache der praktischen Politik in ein analytisches Prokrustesbett, das zwar den Forschungsgegenstand auf das M a ß der Vorurteile des Wissenschaftlers bringt, ihn genau dadurch aber erst einmal verzerrt, bevor er überhaupt beschrieben wird. Theorien der Politikersprache, die den Brückenschlag zu den die untersuchte Sprachpraxis konstituierenden Alltagstheorien sprechender Politiker nicht leisten, sind darum unnütz. Jene Alltagstheorien herauszuarbeiten, liefert der politischen Sprachanalyse indessen einen wichtigen Prüfstein zur Verbesserung der angestrebten wissenschaftlichen Theorien. Eben das soll im folgenden geschehen. Bei einer 1989 durchgeführten Untersuchung zum Amtsverständnis und zur Wahlkreisarbeit bayerischer Parlamentarier 5 wurden in gut jedem zweiten der insgesamt 54 semi-strukturierten Interviews einschlägige Fragen gestellt, die freilich weniger auf die Arbeits- und Durchsetzungskommunikation, sondern vielmehr auf die politische Darstellungskommunikation abzielten. 6 Die Antworten wurden auf Band aufgezeichnet, verschriftet und qualita4
Grundsätzliche Reflexionen des Wertes einer Analyse der Akteursperspektive bzw. einer (politischen) Soziologie 'von innen' hat die phänomenologische Soziologie populär gemacht. Deren Interesse an den kommunikativen Prozessen der Konstruktion sozialer Wirklichkeit erzwang ohnehin die Untersuchung der bei solchen Konstruktionsprozessen handlungsleitenden Alltagstheorien. Leider hat die Politikwissenschaft im allgemeinen und die Analyse politischer Sprache im besonderen diese Akteursperspektive bislang vernachlässigt. Als einen hierfür nutzbaren, systematisch ausgearbeiteten Ansatz siehe die in Anm. 3 zitierten Schriften des Verfassers.
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Die Ergebnisse sind systematisch dargestellt in Patzelt (1993). Ein ausfuhrlicher Methodenbericht befindet sich in Patzelt (1989). Das in den Intensivinterviews dieser Studie erhobene Sprachmaterial wird umfänglich dokumentiert in Patzelt (1994). Die beiden zur Generierung des hier analysierten Datenmaterials benutzten Fragen lauteten im wesentlichen so: „Die Sprache ist ja für den Politiker ein Handwerkszeug. Gibt
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tiven Inhaltsanalysen unterzogen. Alle folgenden Aussagen beruhen auf den Angaben von 29 Abgeordneten, darunter 11 MdL, 14 MdB und 4 MdEP, von denen insgesamt 13 der CSU angehörten, 15 der SPD und einer der FDP. 7 2.1. Politische Sprache als Gegenstand der Reflexion von Politikern In den Interviews zeigte sich, daß viele Abgeordnete beim Umgang mit politischer Sprache vor allem auf Talent, Erfahrung und ihr Gespür vertrauen. Nur wenige machen sich in dem Umfang systematische Gedanken über ihr politisches Reden, wie der im folgenden zitierte Parlamentarier:8 Ich denk' schon nach über die Sprache,... muß aber zugeben, daß ich vieles halb bewußt mache. Ich möcht' nicht sagen: unbewußt. ... Aber man denkt über die Sprache nach, und ich hab' viel nachgedacht - auch über die Art, wie man die Dinge darstellt. ... Für mich ist das ungemein wichtig. Ich möchte nicht beschwören, daß jeder genauso viel nachdenkt. Ich weiß aber, daß es Leute gibt, die auf dem Sektor noch viel besser sind und viel geschickter und viel raffinierter sind. ... Ich kenne aber auch ... bedeutendere Politiker, von denen ich als Redner überhaupt nichts halte.
Was in der Antike unabdingbar zum Handwerkszeug eines Politikers gehörte, nämlich rhetorische Schulung, wird heute überwiegend abgelehnt: Da gibt's ja auch Sprach-, Rednerschulen, die das bewußt pflegen. Nur, ich halte nichts davon. Ich bin der Meinung, daß es nicht darauf ankommt, wie gut ich spreche, wie groß meine rhetorischen Fähigkeiten sind, sondern es kommt darauf an, was ich zu sagen habe. Der Wehner hat keinen Satz zu Ende gebracht, Karl-Hermann Flach hat einen Sprachfehler gehabt, hat bestimmte S-Laute nicht richtig aussprechen können, und beide galten als großartige Redner. Es kommt darauf an, daß ich etwas überbringe. Und jeder Mensch hat einen anderen Stil und andere Methoden. Ich werde nie ein Volkstribun sein, will es auch nicht sein. Ich habe mir eigentlich vorgenommen: ich will die Leute nicht zu Beifall bewegen, sondern ich will erreichen, daß die Leute zu sich selber sagen: 'Aha, so hat er das gesagt.' So hat jeder seinen Stil. Und jeder soll auch bei seinem Stil
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es irgendwelche Techniken, anhand derer Sie die Sprache in typischen Situationen einsetzen?"; bzw.: „Es stößt ja die Sprache von Politikern auf viel öffentliche Kritik: sie sei inhaltsleer, vage, kurz 'Politiker-Blabla'. Wie kommentieren Sie diese verbreitete Kritik, und worin sehen Sie Ursachen für sie?" Da die Analyse politischer Sprache nicht im Mittelpunkt des genannten Forschungsprojekts stand, wurden diese Fragen nicht in allen Interviews gestellt, sondern nur dann, wenn Zeit und allgemeine Auskunftsbereitschaft des Befragten dies zuließen. Auch die Frageformulierung wechselte in gewissen Grenzen je nach den Kontexten, in denen das eine oder andere Thema angeschnitten wurde. Da gemäß der o.a. Interviewtechnik die Antworten mit wechselnden Frageformulierungen erzeugt wurden und die Abgeordneten selbst die Ausführungen zu situativen Redetechniken und zur Sprachkritik oft amalgamierten, wurden die gewonnenen Auskünfte gemeinsam analysiert. Auslassungen im zitierten Text werden durch je drei Punkte gekennzeichnet; erläuternde Einschübe des Verfassers stehen in eckigen Klammern.
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Werner J. Patzelt bleiben, denn nur, wenn er seinen Stil überzeugend anwendet, kann er auch erfolgreich sein.9
D o c h diese Position findet auch Kritiker: Ich glaube, da machen viele Abgeordnete einen großen Fehler. Die meinen, weil sie im Parlament sind, könnten sie das [nämlich gekonnt mit politischer Sprache umzugehen], und dies [daß sie nämlich nun Parlamentarier sind] sei ein sichtbarer Beweis dessen. Und wenn Sie einem Parlamentarier vorschlagen, einen Rednerkurs zu belegen oder es mal zu üben, sich mediengerechter zu verhalten - optisch natürlich - im Fernsehen oder so: die meisten würden dies, meine ich, entrüstet zurückweisen, weil sie der Auffassung sind, gerade sie sind prädestiniert dafür, das zu können, und sie würden das auch können. Und das ist ein Trugschluß Es wird viel Handwerkliches falsch gemacht. Und da täte in der Tat Besinnung oder auch Überlegen und auch noch Üben 10 gut. Nur, das ist mit dem Selbstverständnis und mit dem Anspruch oft nicht vereinbar. Und deswegen ist es, wenn Sie es so nachvollziehen, eigentlich manchmal so schlimm. Freilich nutzt allein das Erlernen von rhetorischen Techniken nichts, sondern kann sogar kontraproduktiv wirken: Also ich habe keine speziellen Techniken. Aber es gibt - glaube ich - schon welche, die, vielfach bei jüngeren Leuten, die sich auf den Beruf des Abgeordneten mehr oder minder auch vorbereiten oder, wenn sie es sind, dann weiterentwickeln. Die, glaube ich, sich gewisse Einteilungen machen, wie sie bei welchen Situationen auf welche Fragen dann reagieren um [groß] herauszukommen. Nur: wenn diese Antworten dann gestellt wirken, also vorbereitet wirken, dann haben sie nicht mehr die Originalität und die Ursprünglichkeit, und ich glaube, die kommen dann noch schlechter an, als wenn's wirklich einmal in der Antwort... [etwas ungelenker zugeht]. Im Idealfall kommen Talent, bewußt erworbene rhetorische Kompetenz und Erfahrung zusammen, und der Umgang mit Sprache gelingt mit der gleichen Selbstverständlichkeit, mit der sich ein geübter Pianist am Klavier auszudrükken versteht: [Wie man richtig redet,] das könnte ich Ihnen eigentlich nicht explizieren, das riecht man so. Das ist eine Sache, wo, sagen wir, wo kein System, kein vorausgeplantes System besteht, sondern wo es einfach aus der Situation heraus sich ergibt. 2.2. Prägefaktoren politischer Sprache Wie prägen nun die Situationen selbst, in denen es zu sprechen gilt, die Sprache von Politikern? Bei ihrem öffentlichen Reden stehen zumal Abgeordnete 9
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Analog formulierte der folgende Parlamentarier: „Sie kriegen dauernd diese Einladungen ... und eben Aufforderungen, an Sprachkursen für Politiker teilzunehmen, wo man speziell darauf geschult wird. Aber ich glaube, daß es dem einzelnen Politiker im Naturell liegen muß, wie er redet oder wie er sich gebärdet." Eine Art des Übens wurde wie folgt erwähnt: „Ich finde, es schult sehr gut, wenn man auf Tonband diktiert. Das ist eine zusätzliche Schulung, die sehr sehr viel hilft, weil man lernt, eben Sätze zu bauen, die dann auch in sich ein Ganzes sind, und auch darin eine Routine bekommt".
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dauernd vor der Aufgabe, sich einer bestimmten Sprechsituation angemessen zu verhalten. Der Test auf Erfolg oder Mißerfolg bei diesem Bemühen ist meist hart, da Politiker sich untereinander in scharfer Konkurrenz befinden und öffentliche Meinung wie Publikum sie kaum einmal mit Samthandschuhen anfassen. Natürlich wird dies von Politikern, haben sie sich erst einmal ihre Schmisse geholt, antizipiert. Sie selbst sprechen dann so situationsbezogen wie es ihnen nur möglich ist, und der Analytiker wird darum dem als Text faßbaren Resultat solcher Kommunikationsanstrengungen nur gerecht, wenn er die situativen Prägefaktoren politischer Sprache berücksichtigt. Gute Beobachter solcher situativen Prägewirkungen sollten nun gerade jene sein, die mit ihnen unter starkem Erfolgsdruck zurechtkommen müssen. Darum ist aufschlußreich, welche Ursachen die befragten Abgeordneten selbst fur die Beschaffenheit ihrer politischen Sprache anfuhren. Vier thematische Komplexe lassen sich in ihren Ausagen unterscheiden: die Schwierigkeit, aus der Insider-Kommunikation mit ihren dort verständnisfbrdernden Fachbegriffen und Kürzeln in die Kommunikation mit Nicht-Insidern einzutreten und sich dabei auf heterogene Zuhörerschaften einzustellen; die Zwänge, die der Typ der zu bewältigenden Sprechsituation auferlegt; die Notwendigkeit von 'kommunikativem Meideverhalten'; sowie das Fehlen ausreichender Zeit, sich auf öffentliches Reden gut vorzubereiten. 2.2.1. Arbeits- und Darstellungskommunikation Ein wie nützliches Kategorienpaar die Unterscheidung zwischen Arbeits- und Darstellungskommunikation ist, geht nicht zuletzt aus der Tatsache hervor, daß ein Befragter selbst es so gut wie wörtlich benutzte: „Es gibt ja eine Sprache nach innen ... und eine Sprache nach draußen". Beide Sprachen sind verschieden adressiert, erfüllen verschiedene Funktionen und werden bei einem kompetenten Sprecher darum auch verschieden ausfallen. Die immer wieder verlangte und recht schwierige Leistung eines Politikers besteht nun darin, die mit Fachbegriffen und kommunikativen Kürzeln optimierte Arbeitskommunikation fur den Gebrauch nach außen, für den Verkehr mit der Öffentlichkeit, zu übersetzen. Dazu muß er sich der Differenz beider Sprachen nicht nur grundsätzlich, sondern auch immer wieder im Einzelfall bewußt werden. Worin die Schwierigkeit dessen liegt, geht aus dem folgenden Interviewauszug hervor: Und dann daneben gibt es etwas, was eine Gefahr für die Politik ist; aber das ist auch in anderen Branchen so: nämlich dieses Fachchinesisch. Diese Fachsprache, 11 eine Art 11
Wie gut derartige Insider-Sprachen internen Kommunikationszwecken angepaßt und darum unverzichtbar sein können, zeigt die folgende Aussage: „Wir haben im Europaparlament eine eigene Sprache entwickelt, die die Dolmetscher eigentlich sehr gut verstehen. Die Dolmetscher sagen uns, wenn sie normal bei Leuten übersetzen, die nicht im Parlament sind, tun sie sich sehr viel schwerer, während bei den Abgeordneten im Paria-
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Werner J. Patzelt von Käseglocken-Effekt, daß man oft nicht merkt, man bewegt sich in dem Vokabular, und das wird draußen oft nicht mehr verstanden. ... Und das ist mit Rednerschule nicht zu machen, sondern da muß man selbstkritisch sensibel sein, daß man sich immer wieder selber prüft: Verstehen die das? Oder ist das nicht nur ein Kürzel - dieses Abkürzungsdeutsch oder auch Formeldeutsch. Und das haben wir natürlich im Parlamentsbetrieb - ob Bund, Land, Europa - wo auch immer, mit Sicherheit auch. Und da müssen die Bürger sich ihre Politiker auch insoweit ein bißchen erziehen, daß sie dann eben fragen [wenn sie bestimmte Aussagen nicht verstehen]. Und man muß sich selber halt auch am Riemen reißen und sich immer wieder kritisch prüfen: Ist das noch verständlich, was du da sagst - oder ist das eben abgehoben und zu sehr abstrahierend?
Natürlich besteht ein Ausweg darin, die unter Insidern geläufigen Fachtermini und Kürzel eben zu umschreiben. D o c h „wenn ich die nicht gebrauchen will, muß ich von vorneweg damit rechnen, daß ich mindestens ein Drittel mehr Zeit brauche". Und selbst wenn einfache Ersetzungen eines Fremdworts durch ein deutsches auszureichen scheinen, muß dies faktisch noch lange nicht der Fall sein: Es lassen sich viele Fremdworte vermeiden in der Politik - "bilateral' läßt sich ja durch 'Zweistaatlichkeit' vermeiden, okay. Aber oft sagen ja die Begriffe, ins Deutsche übertragen, doch nicht genau das aus, was man politisch meint. Dann freilich stiftet man leicht Mißverständnisse, hängt die Schlüssigkeit der Argumentation doch vom Sinn des 'unvereinfachten' Begriffs ab, nicht aber von dessen für die Darstellungskommunikation benutztem Surrogat. Wie Odysseus kann ein Politiker darum auf dem W e g zum Ziel nur zwischen Skylla und Charybdis durchzusteuern versuchen. Denn ein bloßer Wunsch wird es bleiben, daß sich seitens der Bürger selbst das Verständnisvermögen für zumindest einen Teil der politischen Insidersprache verbessere, so daß von daher die Kluft zwischen Arbeits- und Darstellungskommunikation verringert werden könnte. Folgender Abgeordnete vertritt freilich normativ diese Position, welche der Mündigkeit des Bürgers nicht nur schmeichlerisch, sondern auch faktisch vertrauen möchte: Die Sprache insgesamt ist natürlich ein Problem, weil wir ganz zwangsläufig mit bestimmten Begriffen arbeiten müssen, die in der Bevölkerung nicht so bekannt sind. Das kann man z.T. mindern; aber ganz wird es sich nicht machen lassen, wenn die Sprache nicht unklar ... oder demagogisch werden soll. Also muß ich das in Kauf nehmen. Ich muß es dem Bürger auch zumuten, denn es ist ja auch sein Staat; er ist der Souverän, er müßte sich genauso damit beschäftigen, er muß wohl sich da auch anstrengen. Ich glaube, daß man da dem Bürger nicht populistisch sagen muß: 'Das ist schlimm', sondern
ment haben wir uns irgendwie scheinbar Redewendungen oder oft auch die Art des Sprechens angewöhnt, die fur die Dolmetscher günstig ist. Aber sie ist anders als der normale Sprachgebrauch" - und zwar gut fur die Arbeitskommunikation, doch kontraproduktiv für die Darstellungskommunikation.
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ich muß sagen: 'Bitte schön, Freund, Du hast auch eine Verpflichtung in Deinem Staat.' 12
Doch diese Bringschulden der Adressaten politischer Sprache bleiben regelmäßig uneingelöst. Darum muß ein Politiker diesen Sachverhalt einfach in Rechnung stellen und einfach mit ihm leben. Dies nimmt typischerweise die Form der Notwendigkeit an, vor verschiedenen Zuhörerkreisen eben unterschiedlich zu sprechen. Von Abgeordneten wird dies teils als selbstverständliche Zielgruppenorientierung, teils mit schlechtem Gewissen beschrieben. Die folgenden Interviewauszüge belegen die Spannweite der Positionen. Der erste Parlamentarier beschreibt, daß er sich guten Gewissens auf die nötigen kommunikativen Restriktionen einläßt: Wenn ich jetzt da draußen in dem Dorf heute rede, dann darf ich bestimmte Sachen nur einfach darstellen. ... Es sind wohl 30 Leute heute abend. ... Ich darf nicht voraussetzen, daß dort Kenntnisse von Verfassungsstrukturen da wären. Dieses Problem einer Präsidentenwahl unmittelbar aus dem Volk und im Verhältnis zur Wahl einer Regierungsinstitution, eines Kanzlers, der dann anderen wieder verantwortlich ist - diese unterschiedlichen, diese verschiedenen Regierungssysteme - amerikanisches, deutsches oder französisches -, das darf man nicht voraussetzen. Und man muß auch einfach sprechen, weil man halt ein sehr gemischtes Publikum hat, das auch keine Fachkenntnisse hat. Vor einem Fachkongreß zu reden ist insofern leichter. 13
Einem anderen indessen scheint der ihm abverlangte Registerwechsel nach Unaufrichtigkeit zu klingen: Und man ist ständig in der Gefahr, bei Kollegen anders zu reden, als man im Wahlkreis in einer Versammlung redet. Der Gefahr unterliege ich auch, aber ich versuche dies zu
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Dieser Abgeordnete hat noch ein zusätzliches Problem mit sowohl seiner politischen Arbeits- als auch Darstellungskommunikation: „Ich persönlich habe besondere Schwierigkeiten in der Politik, weil ich eine andere Sprache spreche. Ich bin naturwissenschaftlich ausgebildet, und die Mehrzahl der Abgeordneten ist nicht naturwissenschaftlich ausgebildet. Ich habe ein anderes Denken, eine andere Philosophie als Hintergrund ..., oder ich sehe im Hintergrund eine mathematische Formel, wie etwas abläuft. Denn meistens beschäftigen wir uns mit Geld, und wenn Geld von einem Konto auf das andere überwiesen wird, läßt sich das in eine mathematische Formel fassen. Und die Arbeitsmethoden, die Werkzeuge der Naturwissenschaftler sind anders. Insofern habe ich Schwierigkeiten teilweise, Dinge zu vermitteln. Also beispielsweise in der Rentenversicherung behaupte ich, daß unser Rentensystem mathematisch falsch ist - [das] läßt sich meiner Meinung nach auch sehr leicht darstellen, zumindest einem naturwissenschaftliche ausgebildeten Menschen. Aber in der Politik ist es kaum darzustellen!" Vgl. die folgende Aussage: „Man wird natürlich anders reden vor einem intellektuellen Kreis oder vor einem ländlichen Kreis, obwohl man im allgemeinen, meine Erfahrung ist es, den ländlichen Kreisen gerade geistig sehr viel zumuten kann. Denn die Leute sind, ich meine, zumindest meine Erfahrung ist es, die Leute sind doch wesentlich intelligenter, als man sie im allgemeinen einschätzt. Sie sind überlegter, speziell die, die zu Versammlungen kommen, sind Leute, die sich ernstlich mit den Problemen befassen sonst würden sie ja nicht am Abend in irgendein Wirtshaus gehen, um da den Mann zu hören, der sie dort im Europaparlament vertritt."
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Werner J. Patzelt rationalisieren. Also ich versuche zu wissen: hier darfst du so reden, dort darfst du's eben nicht. Und ich glaub', ich hab auch noch nie den Vorwurf gekriegt, daß ich zu sehr, zu sehr Fachkauderwelsch bringe. Aber man muß sich ständig daran erinnern, muß es ständig vor Augen haben.
Wieder andere scheinen einen solchen Registerwechsel zu vernachlässigen: Ich rede mit Sicherheit, wenn ich im Ausschuß debattiere, anders, als ich rede, wenn ich hier in der Mitgliederversammlung oder in einer öffentlichen Versammlung spreche. Und jetzt gibt's mit Sicherheit auch Kollegen, die diesen Unterschied wahrscheinlich so nicht machen.
2.2.2. Die Zwänge des Typs der zu bewältigenden Sprechsituation Die Sprechsituationen, die Politiker zu bewältigen haben, sind äußerst vielfältig, und in jeder sind unterschiedliche Übersetzungsleistungen der InsiderKommunikation in die Darstellungskommunikation sowie verschiedene Optimierungsleistungen des Kommunikationsangebotes zu erbringen. In den Interviews thematisierten die Abgeordneten die besonderen Anforderungen von fünf Arten von Sprechsituationen: Grußwort, Festzeltrede, Fachvortrag, Plenarrede und Fernsehinterview. Eine sehr häufige Gattung öffentlicher Politikerrede ist die des Grußwortes bei Veranstaltungen aller Art, doch vor allem im Rahmen der Wahlkreisarbeit. 14 Grußworte sind eine zunächst unscheinbare, doch letztlich wichtige Gattung politischer Rede. Sie erlauben es einem Abgeordneten nämlich, sich und ausgewählte politische Positionen knapp vor oft recht großen Versammlungen zu präsentieren, bei welchen sich auch solche Personen erreichen lassen, die zu politischen Veranstaltungen so gut wie nie gehen. Bei Grußworten gilt es kurz zu sprechen und dem Anlaß der Veranstaltung gerecht zu werden, wirkt sonst doch die Darstellungsleistung kontraproduktiv. Unbedingt muß versucht werden, den richtigen Ton zu treffen. Wie das unter anderem gelingen kann, geht aus folgendem Zitat hervor: Also, der Politiker, insbesondere bei seinen zahlreichen Grußworten, die er zu halten hat, neigt natürlich dazu, hier den Leuten Freundlichkeiten zu sagen. Nach Möglichkeit auch den Leuten etwas zum Lachen zu bieten. Da geht es nicht so sehr um den Verstand, sondern mehr darum, die Leute in ihrem Lokalpatriotismus anzusprechen, in ihrem Heimatgefiihl anzusprechen.
Ein Bundestagsabgeordneter betonte ausdrücklich die Bedeutung der Vorbereitung selbst auf Grußworte: Ich hab" gelernt, daß man jedes einzelne Grußwort - und sei das eine noch so, in Anfuhrungszeichen, 'eigentlich unwichtige' Veranstaltung - sorgfältig vorbereiten muß. Weil die [Veranstalter] haben erstens einen Anspruch darauf, ernst genommen zu werden. 14
Im einzelnen siehe zur Bedeutung von Grußworten Patzelt, Abgeordnete und Repräsentation, a.a.O., S. 320.
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Für die ist das wichtig, für die ist das der Mittelpunkt, was die da machen - und für den Politker, der dort hingeht, eigentlich nicht. Aber trotzdem lernt er schon mal eine Menge, wenn er sich damit auseinandersetzt, warum die also jetzt an jedem Wochenende dahin gehen und z.B. schießen - Sportschützen. Und dann begreift er die auch besser, und dann kann er ihnen auch natürlich vermitteln, daß er das, was die tun, auch ernst und wichtig nimmt und auch umsetzt in seine politische Arbeit.
Mindestens genau so wichtig wie die persönliche Präsentation vor dem Kreis derer, zu denen gesprochen wird, ist die natürlich die Presseberichterstattung über den jeweiligen Anlaß und die Erwähnung, der Abgeordnete X habe dort ein Grußwort gesprochen. Soll über diese selbst schon wichtige Erwähnung des Abgeordneten in der lokalen Öffentlichkeit hinaus gar noch Inhaltliches den Weg in die Lokalzeitung finden, so muß das Grußwort erst recht knapp und pointiert sein. Eine andere wichtige Gattung der Politikerrede, dem Grußwort durchaus verwandt, ist die Rede im Festzelt oder in einem entsprechenden Rahmen. 15 Insbesondere für die Sommersaison der Wahlkreisarbeit typisch, besteht ihr besonderer Wert - erstens - darin, vor Personen sprechen 2x1 können, die man über politische Veranstaltungen kaum einmal erreicht, die aber sehr wohl als Wähler wichtig sind. Zweitens läßt sich dabei länger sprechen als bei einem Grußwort. Allerdings muß der Politiker sich hier auf die ganz besondere Volksfeststimmung einzulassen verstehen, kann sonst doch sein Auftritt zu einem - zumindest für ihn - peinlichen werden. Nicht jedem liegt darum diese Gattung politischen Redens. Wie in ihr mit politischer Sprache zu verfahren ist, schildert ein Bundestagsabgeordneter so: 13
Vor größeren Menschenmengen sprechen zu müssen, hat je nach Persönlichkeitsstruktur und Temperament auf verschiedene Abgeordnete ganz unterschiedliche Wirkungen. Sprechhemmungen vor einem Publikum kommen zwar so gut wie nie vor, hätte andernfalls der Weg in die Politik doch schon längst in der Sackgasse geendet. Doch während die einen sozusagen proportional mit der Größe des Publikums rhetorisch besser werden, sprechen die anderen lieber vor einem kleineren und auch den Dialog ermöglichenden Kreis. Markant ist diesbezüglich die folgende Passage: „Ich bin der Auffassung, daß der Mensch in der Masse - er kann noch so hochintelligent und auch eigenständig sein -, in der Masse werden die Menschen vereinnahmt und reagieren in einer Art und Weise, wie sie es individuell nicht tun würden. Und ich bin also jemand, der vor Massenveranstaltungen und auch Massensuggestionen, Probleme hat damit, ja. ... Mir ist am liebsten ein Kreis, der nicht so groß ist, daß es noch möglich ist, zu einer normalen Diskussion zu kommen. Wenn Sie 'mal 200 Leute vor sich haben, dann sind, aus der Masse 'raus, [nur] wenige fähig oder auch bereit, [eine] wirklich echte Diskussion anzuzetteln. Sondern in der Regel gibt's dann Diskussionen, die Scheindiskussionen sind, die dann u.a. auch da sind, weil sich jemand produzieren will, weil bestimmte Dinge 'mal gesagt werden müßten; aber der, der unter 200 Leuten sitzt, die sich gegenseitig vielleicht auch nicht zu sehr kennen, der echte Anliegen hat, der bringt sie dort nicht vor. ... Im Kreis von bis zu 80 Personen, würde ich sagen, geht's noch. Intensiver ist es, wenn's weniger sind, 30, 40 Personen - z.B. wenn so Tagungen und Seminare sind. Von den Stiftungen haben wir das oft, da kommt's eigentlich zu einer recht ergiebigen Diskussion. Aber wenn's eben Massen sind, dann kommt's nimmer dazu".
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Werner J. Patzelt Natürlich spricht man in einem geschlossenen Ausschuß über ein Fachthema ganz anders, als wenn [ich] ... in einem Bierzelt in gehobener Stimmung - und vor mir habe ich schon zwei Vorredner gehabt - dann noch eines draufgeben soll. Dann muß ich also da mit Sprüchen arbeiten,... ganz gleich welcher Art, nicht. Da sagt man also: 'Wenn einer mit 17 kein Sozialist ist, dann hat er kein Herz. Aber wenn er mit 30 noch einer ist, dann hat er kein Hirn!' Und dann schreien die [Leute] wieder. Da gibt's nichts anderes mehr wie solche Schlagwörter oder Sprüche oder solche Dinge, nicht. Das hat auch der Strauß immer getan.
Ganz andere Anforderungen an Vortragsstil und Selbstdarstellung erlegen natürlich Fachvorträge auf, bei denen der Abgeordnete mit der Fachöffentlichkeit auf seinen Arbeitsgebieten oder in seinem Wahlkreis kommuniziert. Der eben zitierte Parlamentarier fuhr denn auch fort: Dagegen wenn ich vor einem Wirtschaftsgremium sprechen muß über die Wirtschaftssituation und wirtschaftlichen Zunkunftsausblick und ich komme mit solchen Sprüchen, dann sagen die: 'Ja, der kann gleich heimgehen!'
Macht man sich klar, daß im Politikeralltag, zumal in mit Wahlkreisarbeit angefüllten Wochen, solches Wechseln zwischen ganz unterschiedlichen Sprechsituationen äußerst häufig vorkommt, dann erst versteht man, wie große Kommunikationsleistungen Abgeordneten routinemäßig abverlangt werden. Die einer breiten Öffentlichkeit bekannteste Form politischer Rede ist wohl die Plenarrede im Deutschen Bundestag. Sie ist es auch, eingebettet in Debattenausschnitte, welche einen besonders großen Teil der öffentlichen Kritik an der Politikersprache auf sich zieht. Für Abgeordnete selbst, zumal in großen Fraktionen, ist sie eine durchaus nicht alltägliche Sprechsituation. Letztlich zwei Schwierigkeiten sind bei ihr zu bewältigen: einesteils handelt es sich bei Plenarreden meist um 'Auftragskommunikation' im Dienst der Fraktion oder eines Ausschusses, und andernteils exponiert sie den Durchschnittsabgeordneten und macht politisches Vorwärtskommen von einer hier und jetzt zu erbringenden Leistung abhängig. Nur für die Minderheit der parlamentarischen Elite wird sie darum ihren Charakter als 'Prüfungssituation' verloren haben. Betrachten wir zunächst, wie der Charakter als 'Auftragskommunikation' die Gattung der Plenarrede beeinflußt. Folgender Bundestagsabgeordnete bringt dies auf den Punkt: Das [Schwierige) kommt vom Auftrag her. Weil er [der Abgeordnete] dann für seine Fraktion spricht und nicht ftir sich. Weil das System nur die Fraktionskontingente kennt und es nach der Geschäftsordnung außerordentlich schwierig ist, überhaupt auch mit persönlichen Ansichten hineinzukommen - da müssen Sie schon einen Apparat durchlaufen, anmelden, erklären warum; weil das gehört zum fair play innerhalb der Fraktion, daß man die nicht Uberfällt mit einer eigenen Meinung. Da kommen Sie ganz weit nach hinten hin und haben auch bloß fünf Minuten. In denen kann man viel sagen; das ist nicht das Problem. Nur es ist schon etwas schwierig, dran zu kommen. ... Und Auftragssprache ist nie originell. ... Außerdem ist das schon von den Rahmenbedingungen unheimlich schwierig, sich zurechtzufinden innerhalb so fester Grenzen der Zeit. Sie müssen eben in 10 Minuten - wenn Sie mal 15 haben, das ist schon ein halbes Wunder,
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wenn Sie normaler Abgeordneter sind - müssen sie ja auch bestimmte Aufträge unterbringen: weil ja in dem Kontingent der Redner die Fraktionen sich absprechen, was der einzelne Redner da zu sagen hat und wo er Schwerpunkte zu setzen hat.
Muß in kurzer Zeit viel untergebracht werden, damit die eigene Fraktion sich in ihrem (!) Sprecher wiedererkennen kann und dieser für sie auch künftig als Redner akzeptabel ist, so erlegt dies also eine recht strenge Sprachdisziplin auf. 16 Erstens muß der Abgeordnete sich kurz fassen; folglich wird er mit Fachbegriffen und Kürzeln arbeiten und in seinen Formulierungen vieles implizieren bzw. - einem Insider verständlich - durch Anspielungen abdecken. Damit spricht er zwar für seine Kollegen klar, nicht aber für ein breiteres Publikum, dem ohne Insider-Kontexte gerade die dicht formulierten Passagen als vage erscheinen müssen. Und zweitens verbietet sich unter dem Gesichtspunkt der Zeitökonomie die von der Geschäftsordnung vorgesehene freie Rede von selbst, dauert diese doch bei gleichem Informationsgehalt grundsätzlich länger als das Verlesen eines straff formulierten Textes. Weicht der Redner dann von einem solchen Text ab, so steht er unter dem doppelten Druck der davonlaufenden Redezeit und der persönlichen Exponiertheit am Rednerpult bzw. vor den Augen der Öffentlichkeit, die gute und mittelmäßige Reden ignoriert, Fehlleistungen aber rasch kundmacht. Die Folge sind nicht selten Stressempfindungen und in anderen Sprechsituationen längst vergangene Beklommenheit. Davon spricht folgender Parlamentarier: Und viele, fast alle eigentlich - ich hab' ... nur ganz wenige Ausnahmen gesehen ... [haben mit Plenarreden Probleme], weil sie zu selten drankommen ... Einfach, das muß man auch lernen. Das ist komisch, aber es ist richtig: das ist eine andere Situation, als wenn Sie irgendwo anders stehen und reden, wenn Sie da im Bundestag eine Rede halten. [Sie kommen zunächst] ... mit der Rolle nicht zurecht. ... Und das Komische ist in der Tat: die Leute, die da so unmöglich wirken oder wadlbeißerisch oder auch unheimlich agitatorisch, das sind privat fiirchterlich nette Leute. Die verändern sich - anders geht's nicht. Ich merk' das selber bei den paar Mal wo man da drankommt. Ich hab in den zehn Jahren vielleicht zehn Reden gehalten, vielleicht sind's fünfzehn mit Aktuellen Stunden; mehr sind's sicherlich nicht. Da rutschen Sie schon fast automatisch in die Rolle, und Sie müssen eigentlich einen Zettel daneben hinlegen und da immer lesen können: Ruhe, Gelassenheit, Eigenverantwortung! Dann ginge es vielleicht besser. Aber dann rutschen Sie wieder in eine Rede, am Dienstag in eine Rede rein, die Sie am Mittwoch halten müssen, und dann haben Sie Sitzung, und dann machen Sie die Rede auch unter unheimlichem Zeitdruck alleine, so daß das ganze Umfeld eigentlich so etwas erzeugt.
Stellt schon die Plenarrede eine besonders anspruchsvolle Gattung der Politikerrede dar, so gilt ziemlich einhellig das Fernsehinterview, etws abgemindert auch das Hörfunkinterview, als die schwierigste und herausforderndste Form politischen Sprechens. Wer sie beherrscht, genießt unter den Kollegen Presti16
Die Folge: „Und wenn einer nicht frei ist, dann artikuliert sich das im Verhalten und in der Sprache. So daß das eigentlich auch aus dem ganzen Ritual heraus sich entwickelt, daß das so ist."
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ge und wird wohl so beneidet wie der Sologeiger vom Violinisten am zweiten Pult. Ganz außer Frage steht für die Abgeordneten, daß es sich hier um die öffentlichkeitswirksamste Form politischen Sprechens handelt, die genau darum unter jenen besonderen Leistungsdruck setzt, mit dem - im Bild bleibend der Sologeiger im Unterschied zum Violinisten am zweiten Pult fertig werden muß. Klar kommt dies in der folgenden Äußerung eines Landtagsabgeordneten zum Ausdruck: Aber ich hab', Gott sei Dank, diesen Zwang [viele Femsehinterviews geben zu müssen] nie gehabt. Ich empfinde es als sehr schlimm, wenn man da live vor der Kamera steht und wie aus der Pistole geschossen wesentliche Dinge sagen muß.
Ein Stück weit entlastet freilich, daß aufgrund des Zuschauerverhaltens oft weniger die geäußerten Inhalte als vielmehr der Gesamteindruck und vor allem die Tatsache haften bleiben, ein Abgeordneter 'sei im Fernsehen gekommen', gilt dies doch als wichtiger Indikator für persönliche Bedeutung. Recht schön spiegelt sich dies in den folgenden Interviewauszügen: Bei uns einfachen Politikern ist es ja so: Was er sagt, ist gar nicht so wichtig; Hauptsache er war im Fernsehen, und deswegen ist er ein bedeutender Mann. Dann hören's am anderen Tag: 'Ah, ich hab1 Dich gestern im Fernsehn gesehen!' Und dann gibt's die teuflischste Nachfrage: 'Was hab' ich denn gesagt?' Und in fast zwei Dritteln der Fälle haben sie [die so Gefragten] dann immer gelegen. Also erstens mal: Warst Du gut? Ob man nun gut war oder nicht, das ist eine sekundäre Frage. Aber: Du hast die falsche Krawatte angehabt!', oder: 'Du hast nervös gewirkt', und so. Im Grunde: nicht das, was Sie sagen, bleibt haften, sondern wie Sie es gesagt haben.
Je höher der erreichte politische Rang ist, um so größere Aufmerksamkeit wird natürlich auch den geäußerten Inhalten beigemessen, werden hochrangige Gesprächspartner doch vor allem zu Streitfragen von jeweils allgemeinem Interesse befragt. Wie ein Politiker dabei im Durchschnitt mit den Anforderungen der Interviewsituation zurechtkommt, ist fur seine weitere Laufbahn von nicht zu unterschätzender Bedeutung. Überhaupt scheint die Fähigkeit, die Gattung des Fernsehinterviews zu beherrschen, ein wichtiges Selektionskriterium beim Aufstieg in politische Spitzenpositionen zu sein. Die Grundanforderung dieser Sprechsituation ist dabei leichter zu beschreiben als zu erfüllen: Man versucht, in möglichst kurzer Zeit möglichst viel Information überzubringen. Man überlegt sich, was das Wichtigste ist, und man hat ja meistens nur 30 Sekunden Zeit, und redet nicht lang drumrum, sondern stellt die Fakten hin. 17 ... Ich kann mir vorstellen, daß man auch das trainieren kann und daß das dann für den Genscher kein Problem mehr ist, da zwei Sätze zu sagen -
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So auch die folgende Bemerkung: „Und dann versuchen Sie gar nicht erst, vollständig zu argumentieren, sondern das Ihrer Meinung nach plastischste Beispiel 'rüberzubringen."
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für andere Politiker, ohne solches Zusammentreffen v o n spezieller B e g a b u n g und langjährigem Training, indessen sehr wohl. Wie man sich dann oft verhält und welche Folgen der N o t entspringende Kommunikationsaushilfen dann haben, geht sehr schön aus dem folgenden Interviewauszug hervor: Ich schildere Ihnen einfach mal, wie das so bei einem Fernsehinterview abgeht. Da kommt also der Journalist zu Ihnen und sagt: 'Ich würde gerne mit Ihnen ein Interview machen - wir haben 1,3 Minuten Zeit - zu dem und dem Thema'. Und dann stellt der Ihnen eine Frage;... die kennen Sie vorher nicht. Sie kennen das Thema, zu dem gefragt wird. Sie wissen aber nicht die genaue Formulierung. 18 Und sollen jetzt also spontan, ohne eine Sekunde Überlegung zu haben, auf diese Frage antworten, möglichst exakt, weil Sie eben nur 1,3 Minuten Zeit [insgesamt] haben. Dazu sind die wenigsten imstande. Jeder muß eigentlich, wenn ihm eine Frage gestellt wird, kurzfristig drüber nachdenken. Was macht er, nachdem er ja die Zeit zum Nachdenken nicht zugestanden [bekommen] hat? Er formuliert zunächst mal so, daß ihm aus dieser Formulierung, die ja jetzt 5 Millionen Menschen hören, nicht später einer einen Strick drehen kann. ... Das ist einfach etwas, was die Menschen erleben, die Politiker über das elektronische Medium [kennenlernen]. Und [sie] erleben also, dal) der Politiker Antworten geben muß auf Fragen, die er sich noch nicht hat voll überlegen können. Damit gewinnen sie den Eindruck: Der kann ja nichts Verbindliches sagen, der weicht aus, der formuliert vage! Das tut er auch. Aber sie sehen nicht, warum er das macht. Ich bin davon überzeugt, daß der, wenn Sie ihm schriftlich eine Frage beim Interview oder Fragen beim Interview vorlegen, daß seine schriftlichen Antworten, die er nach vorheriger Überlegung gegeben hat, und bei denen er eben exakter dann formulieren kann, weil man hinreichend Zeit zum Nachdenken hat, viel weniger unverbindlich sein werden. Natürlich werden an dieser Stelle systematische Probleme der v o n solchen Umständen privilegierten politischen Sprache und der Selektion genau solcher Politiker sichtbar, die für die Nutzung der 'Interview-Sprache' geeignet sind. Der funktionale Zusammenhang stellt sich wie folgt dar: Auf den W e g z u politischen Spitzenämtern gelangt, wer öffentliche Resonanz hat oder zu haben verspricht; auf öffentliche Resonanz kann zählen, wer in der L a g e ist, Ό-Τοη-tauglich' zu formulieren; Ό-Τοη-taugliche' Formulierungen müssen einfach, knapp und am besten mit einer Pointe versehen sein; ob solche Formulierungen der Komplexität der zu behandelnden Gegenstände a n g e m e s s e n sind, ist für den qua Kommunikation zu bewerkstelligenden politischen A u f stieg sekundär; seine Aufstiegschancen verbessert also, w e r bei Vereinfachungen und Pointensucht keine Skrupel kennt; und wenn gerade die im Fernsehen sichtbaren Politiker komplexe Dinge als recht einfach hinstellen, muß e n t w e der der Eindruck entstehen, die Politiker seien zu deren komplexem Ver-
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Vgl. aber diese anderslautende Aussage: „Naja, im deutschen Journalismus ist es ja so, daß Sie meist nicht überrascht werden. Sondern unsere andachtsvollen Journalisten sagen Ihnen ja vorher, was sie ungefähr fragen werden - was ich [NB: der Befragte ist vom Beruf her Journalist] nie getan habe, weil dann die Spontaneität im Grunde weg ist. Sie haben also immer noch Zeit. Sie kennen den Verlauf, Sie haben sich auch meist schon eine Meinung gebildet, und je länger Sie im Parlament sind, um so mehr wissen Sie, was Sie in 30 Sekunden [sagen können]".
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ständnis zu dumm, redeten anders als sie dächten, oder die Probleme wären wirklich so einfach - weswegen es doch nur am schlechten Willen der Politiker liegen könne, wenn die Probleme noch nicht gelöst seien. Die schlimme Pointe dieses Wirkungszusammenhangs liegt somit darin, daß eben die Vorbedingungen massenwirksamer politischer Darstellungskommunikation kontraproduktiv fur deren Systemfunktion sind, nämlich für die kommunikative Herstellung und Absicherung von Legitimität. Herabtransponiert in die kleine Münze des alltäglichen Kommunikationshandwerks, klingt diese Problembeschreibung wie folgt: Sie wissen ja: Wenn Sie sich kompliziert ausdrücken, wird's entweder falsch geschrieben oder gar nicht geschrieben. Also versuchen Sie einfache Sätze. Im Fernsehen: um Gottes Willen keinen Nebensatz - oder wenn, dann nur einen kurzen. Es mufi in die Spalte passen - am besten [sind also] die kurzen Sätze, in den Illustrierten, im Fernsehen. Und es gibt viel gute Leute, [die] aber völlig ungeeignet [sind] für dieses Fernsehen, weil sie nicht [sind] wie Schmidt und Strauß, um die beiden Meister auf dem Gebiet zu nennen, die das eben auch konnten. Beide zu differenzierter Sprache fähig, und beide fähig, vor der Kamera [sich knapp und pointiert auszudrücken] ... Im Fernsehen kann das nur eine Minute dauern; da kommt Frage und Antwort und noch 'ne zweite Antwort, und alles in einer Minute. Und kein Rumgegapse in der Sache, kein Rumgestotter!
2.2.3. Die Notwendigkeit von 'kommunikativem Meideverhalten' Unter 'Meideverhalten' versteht man in der Medizin das bewußte Vermeiden schmerzender Bewegungen, das seinerseits zu Folgeschäden fuhren kann. Ähnliches läßt sich auch im Bereich politischen Sprechens diagnostizieren, wann immer versucht wird, klare, bindende und darin folgenreiche Aussagen zu vermeiden. Vier Ursachen solchen Meideverhaltens wurden von den Abgeordneten erörtert: Verbergen eigener Kompetenzmängel; fehlender Abschluß jener Prozesse der Meinungsbildung und Entscheidungsfindung, auf welche eine eingeforderte Aussage sich beziehen soll; der Versuch, sich nicht zu exponieren; sowie die Antizipation der Tatsache, daß man Äußerungen später vorgehalten bekommen kann, ohne daß zugleich die sie prägende Sprechsituation offengelegt würde. Recht häufig wird, nach Auskunft vieler Parlamentarier, ihr alltägliches öffentliches Sprechen dadurch geprägt, daß es bei Äußerungen zu nicht beherrschten Themen das Fehlen der zu ihrer Behandlung 'eigentlich' erforderlichen Sachkompetenz zu verbergen gilt. Warum lassen sich Politiker dann freilich auf solche Themen ein? Die Antworten verweisen recht einhellig auf das besondere Anforderungs- und Arbeitsprofil von Parlamentariern, die - im Unterschied zu anderen Berufen - ihre professionelle Kommunikation eben nicht auf ein recht enges thematisches Segment beschränken können, was dann natürlich die Kommunikationsanforderungen reduzierte und Überforderung vermeidbar machte. Vielmehr gilt für Politiker:
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Die politische Bandbreite ist doch ungeheuerlich groß, ungeheuerlich groß, und die einzelnen Politiker sind j a auch wiederum [nur] in bestimmten Sachverhalten und Sachthemen vertraut. Sehen Sie, und das ist ein Riesenproblem eines Parlamentariers in Bonn. Sie stehen als Bundestagsabgeordneter in jedem Fachbereich einer geballten Macht der Ministerialbürokratie gegenüber. Im Wahlkreis dagegen sind Sie das Allroundtalent, und da erwartet man von Ihnen, daß Sie von Α bis Z, vom Abfall bis zum Zug, alle politischen Sachverhalte aus dem FF und im Detail bewältigen. Daß dies nicht machbar ist, ist völlig klar. Und jetzt kommen die Medien, die natürlich in vielen Bereichen schnell und zügig Stellungnahmen ... erhalten wollen. Und dies kann die Politik nicht immer leisten -
und ein einzelner Politiker schon gar nicht. Ebenso formulierte ein anderer: Die Politiker sind natürlich gefordert, bei den vielfältigsten Veranstaltungen das Wort zu ergreifen. Und weil man von ihm einfach erwartet, daß er sich allumfassend informiert hat und demzufolge auch allumfassend Stellung nehmen kann. Das ist [aber] nicht möglich! Es gibt wohl keinen Menschen in unserer zivilisierten Welt - zumindest in Europa -, der über alle Sachgebiete informiert sein kann. Und nun, weil man dies aber erwartet, nimmt der Politiker Stellung. Er kann aber keine klaren Sachaussagen machen. Also 'redet' er. Für den Fachmann, der dabeisitzt und nun wartet auf endlich eine Sachaussage, wirkt dies natürlich negativ, und daraus resultiert dann so die allgemeine Meinung, das sind j a Schwätzer, die reden zu allem, aber sie sagen nichts. 1 9
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Vgl. auch die folgenden, analogen Aussagen: „Wenn Sie jetzt plötzlich über Ausländerrecht reden müssen, wenn Sie nicht im Ausländerrecht zu Hause sind, im Asylrecht, in der Praxis, wenn Sie die Rechtssprache nicht kennen, wenn Sie nicht alles wissen - dann können Sie auf den Gebieten nur oberflächlich sein. Es geht j a in der Politik nicht darum, daß jeder jeweils immer Spezialist ist, bei dem was er entscheidet. Kann er nicht sein! Es kommt schon darauf an, daß er entscheidet oder begründet, was zu entscheiden ist, und auch - ist er mehr Fachmann - daran arbeitet, wie es zu entscheiden ist. Aber dies ist vielerlei, nicht. Dann schreibt jemand über Sicherheitsbestimmungen im Verkehr - und plötzlich sollen Sie da auch Bescheid wissen. Können's aber gar nicht! Oft ist's j a nur, daß ein paar Leitartikel die Zusammenfassung der Argumente ergeben. Nein, der Zwang, fachlich oberflächlich bleiben müssen - außer dem, wo man fachlich mehr Kenntnisse hat - , das ist wohl der wichtigere Grund, der wichtigste Grund [für Defizite der Politikersprache]". Oder: „Also ich glaube, der größte, der wichtigste Grund dafür ist, daß die Politiker häufig zu Sachen reden, wovon's natürlich nichts verstehen, j a ? Daß sie sich da in allgemeine Reden flüchten müssen, wo's halt auch g'hört haben, und dann muß er das so wiederholen, wie's der andere einmal gesagt hat. ... Und wenn jetzt ich angesprochen werde zur Milchkontingentierung und warum man das überhaupt durchfuhrt und warum man jetzt nicht noch eine weitere Verbesserung machen kann usw., wenn ich in der Sache nicht so ganz genau drin bin, dann muß ich mal rausflüchten, daß ich sage: 'Ja, also, die Milch ist immer mehr worden, Milchberg usw.; [da] haben wir halt was machen müssen' - ohne daß ich genau auf die Frage eingehen kann. Dabei wäre es vielleicht manchmal ehrlicher, wenn man sagt: Leute, also wißt Ihr was, ich kann Euch eine allgemeine Antwort geben, warum wir zuviel Milch haben, aber die spezielle Frage muß ich abklären." Oder: „Und auch, daß er [der Politiker] sich vielleicht manchmal auch mangels Informiertheit nicht in der Lage sieht, irgendeine Aussage konkret zu treffen, und sich deshalb an thematischen Umschreibungen erfreut". Oder: „Ich behaupte, man kann eine halbe Stunde sehr sachbezogen zu irgendwelchen Themen reden, ohne einen einzigen Fachterminus zu verwenden. Das kann man natürlich, wenn
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W a s statt dessen v o n Politikern selbst gewünscht und auf ihren Sachgebieten auch geleistet wird, geht aus der folgenden Passage hervor: Ich bin der Meinung, wenn man mal eine Materie echt beherrscht, dann kann man das jedem Bürger so erklären, daß der sagt: 'Sie, so habe ich das noch nie gehört!' Dann ist da auch kein Blabla dahinter. D o c h in der Praxis kann man sich die - ohnehin rasch wechselnden - Themen, die es zumal in der bei der Wahlkreisarbeit nötigen Generalistenrolle abzudekken gilt, nicht aussuchen. Wie verfährt man dann? Da gibt's natürlich zwei Möglichkeiten. Erstens, daß man vor allem über das redet, wo man sowieso Bescheid weiß. Ich bin Gott sei Dank [so weit], daß ich mich auch eine Dreiviertelstunde hinstellen kann und kann reden, ohne daß ich ein Konzept habe, ja. Das ist ja auch eine Frage der Erfahrung, das ist klar. Und zum zweiten: Man muß ja dann ab und zu 'mal was anlesen, wobei ich mir also angewöhnt habe: ich hebe z.B. alle Plenarprotokolle auf, und wenn ich dann wirklich einmal kurzfristig gebeten werde, zur Sozialpolitik zu reden oder zur Umweltpolitik, wo man jetzt nicht ganz so drin ist, wo man zwar die allgemeinen Sachen hat, aber da nicht eine Dreiviertelstunde drüber reden kann, dann kann man schon mal in einem Plenarprotokoll nachschauen: was hat das letzte Mal der Minister in dieser Richtung gesagt? Verfügt man freilich nicht über ein so gut bestücktes Archiv oder konnte man sich nicht entsprechend vorbereiten, dann bleibt allerdings nur die Alternative, entweder zu 'schwimmen' oder sich für nicht ausreichend informiert zu erklären. D a s letztere kann man indessen nicht zu oft machen, wenn man nicht Ansehen und Vertrauen einbüßen will. Klar sprechen diesen Problemkontext die folgenden Parlamentarier an: Ich glaube, das ist also ... dieses Blabla hängt eben damit zusammen, weil der Politiker nicht genau Bescheid weiß zu der Einzelfrage und dann nicht zugeben möchte, daß er es nicht genau weiß, sondern sich darüber mit Reden hinwegretten will. Manche wollen auch nicht zugeben, daß sie's nicht wissen; glauben, das Ansehen leidet darunter, wenn sie sagen: 'Tut mir leid, habe ich keine Ahnung, weiß ich nicht'. Gibt's auch. Und die Konsequenz ist, wenn man trotzdem reden muß, daß man Blabla redet. Das läßt sich dann nicht vermeiden. Wissen Sie, man ... kommt so oft als Politiker in eine Situation, wo man einfach aus dem hohlen Bauch heraus etwas sagen muß. Und dann hat der Politiker in der Regel nicht den Mut, deutlich zu machen, daß er momentan überfordert ist. Und dann kommt es natürlich vor, daß er einfach redet, um etwas geredet zu haben. Und das merkt allerdings der Bürger und die Bürgerin, die merken das sehr schnell. ... Man darf da natürlich nicht zu oft das machen, [daß ich] da sage: 'Da bin ich momentan überfordert, [da] kann ich Ihnen keine kompetente Auskunft geben'.
man will. Wenn man natürlich schwimmt auf irgendeinem Gebiet, dann versucht man natürlich, möglichst so zu reden, daß einen niemand versteht - dann kann einem auch niemand einen Vorwurf hinterher machen, dann kann einen niemand in eine unangenehme Diskussion verwickeln. Da kann man also über die Köpfe der Leute natürlich hinwegreden. Das kann man auch. In der Gefahr ist man immer".
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E i n m a l m e h r finden wir Politiker also in der N o t w e n d i g k e i t , z w i s c h e n Skylla und C h a r y b d i s zu navigieren. In ihrer S p r a c h e hinterläßt s o l c h e z w e i f e l l o s o b j e k t i v e Ü b e r f o r d e r u n g natürlich ihre Spuren. D i e s ist a u c h dann d e r Fall, w e n n Politiker - oft g a r in der ohnehin schwierigen T e x t s o r t e des F e r n s e h i n t e r v i e w s - veranlaßt w e r d e n , sich zu n o c h nicht a b g e s c h l o s s e n e n P r o z e s s e n der M e i nungsbildung und Entscheidungsfindung zu äußern. P o l i t i k e r a u s s a g e n sind in s o l c h e n P h a s e n j a integraler Bestandteil des G e g e n s t a n d e s selbst, ü b e r d e n sie b l o ß scheinbar 'nur informieren'. W e n n nun aber v o r F e r n s e h k a m e r a s H ö r f u n k m i k r o p h o n e n g e t ä t i g t e b z w . förmlich
oder
unterlassene ( ! ) A u s s a g e n , a l s o
K o m m u n i k a t i o n s i n h a l t e a u f d e r M e t a - E b e n e , so a u f die O b j e k t e b e n e z u r ü c k w i r k e n ( o d e r g a r v o r a u s w i r k e n ! ) , w i e es in der politischen P r a x i s nun einmal d e r Fall ist, dann kann ein Politiker g a r nicht umhin, lavierendes M e i d e v e r h a l t e n an den T a g zu lagen. Freilich kann es sich a u c h u m g e k e h r t anbieten, diese W i r k u n g s s c h l e i f e nun b e w u ß t zur D u r c h s e t z u n g s k o m m u n i k a t i o n zu funktionalisieren. In einer R e i h e v o n Interviews w u r d e n diese b e s o n d e r e n
Zwänge
politisierter Sprechsituationen a u f das klarste herausgearbeitet: Oft hängt es damit zusammen, daß die Politiker in Phasen gefragt werden, wo der politische Willensbildungsprozeß voll im Gange ist - beispielsweise, wo er überhaupt nicht abgeschlossen ist, wo man sich bestimmte Sachverhalte noch nicht so verinhaltlicht hat. Die Medien müssen sich natürlich auch fragen, ob sie zu allen Bereichen, zu jeder Zeit und zu jeder Minute fertige Stellungnahmen erhalten können. Oft ist die Politik nicht im Entscheidungsprozeß so weit, daß man bereits fertige, inhaltsreiche Aussagen zum besten geben kann. Sondern man muß vielleicht da und dort die eine oder andere Hülse anbieten, um diesen Prozeß in irgendeiner Form nicht zu gefährden. 20 Und dann gibt's natürlich Situationen, wo man sich vorsichtig aus objektiven Grünen ausdrücken muß. Wo man eben nicht in die konkreten Details gehen kann, weil manches in der Entwicklung ist und eine konkrete Darstellung einfach in die momentane Situation nicht reinpaßt. Aber man muß j a auch die Funktion und die Bedeutung solcher Worte sehen. Ein Bundeskanzler kann halt nicht immer deutlich und klar und direkt seine Meinung sagen, weil j a vieles nicht am offenen Markt ausgetragen werden kann, wenn man's also tatsächlich lösen will. 2 1 Und da muß er sich - weil andererseits ein legitimes Interesse da ist - eben zu der Gelegenheit befragen lassen. Da muß man ihm gestatten, daß er das bei allgemeinen Andeutungen und Bemerkungen da beläßt.
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Vgl. die auch folgende Aussage: „Natürlich ist die Flucht in eine unverbindliche Sprache schon auch 'ne Methode. Wenn ich etwas unverbindlich sage, lasse ich mir mehrere Möglichkeiten offen. Ich würd' sagen,... in manchen Bereichen ist das ganz unvermeidbar. Etwa dann: ich kann mich nicht sprachlich schon auf einen Text festlegen, wenn der Politikbereich noch nicht abgeklärt ist; aber ich muß da noch eine Möglichkeit der Gestaltung haben." Siehe auch folgende Aussage: „Und wer mit dem Ausland zu tun hat, hier müssen manchmal diplomatische Formulierungen, die nicht allzu viel sagen, gefunden werden. E s ist mitunter nicht schön, aber manchmal können Sie zu einem Problem auch nicht 'ja' oder 'nein' sagen, sondern müssen ein bißchen ausfluchten".
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Selbst wenn es sich weder um das natürlich folgenreiche öffentliche Reden von Spitzenpolitikern noch um die delikaten Phasen von Willensbildungs- und Entscheidungsprozessen handelt, gibt es gute Gründe für Meideverhalten. Denn auch Politiker sind in Prozessen des Lernens und der Meinungsbildung begriffen, wobei die öffentliche Festlegung auf Zwischenergebnisse künftiger Entwicklung leicht ihre Freiheitsgrade beschneidet. Eben weil die Öffentlichkeit es aber schwer akzeptiert, daß Politiker ihre Meinung verändern, legt sie ihnen die Kommunikationsstrategie nahe, sich gerade in problematischen Bereichen möglichst lange nicht präzise festzulegen. Deutlich wird dies im folgenden Interviewausschnitt: Die Frage, weshalb das so ist, liegt daran, daß ein Politiker ein Teil ... einer demokratisch gewählten Gruppe ist, die Mehrheitsentscheidungen zu fällen hat, und er in einem ständigen Meinungsbildungsprozeß sich befindet, mitunter selbst in irgendeinem Bereich noch nicht die Meinung ... endgültig gefunden hat oder durch neue Tatsachen ... Es sollte ja nie sein, daß ein Politiker sagt: 'So, jetzt habe ich um 15.30 h mir diese Meinung gebildet, und die werde ich haben, bis wir wieder irgendetwas anderes aus diesem Bereich verändern wollen'. Sondern es müßte möglich sein, daß ich um 16.30 h durch eine Neuinformation oder andere Information, die ich bisher noch nicht hatte oder nicht wußte, eine andere Meinung habe.
Ist dies aber faktisch schwer möglich, weil sich Meinungs- und Positionswechsel schwer vermitteln lassen, wird zur rationalen Strategie natürlich der Verzicht darauf, sich (vorzeitig) zu exponieren: Ich meine, es gibt sicher Politiker, die also so reden und nichts sagen, na ja. Vielleicht kommt das daher, daß mancher ein schlechtes Gewissen hat, wenn er Themen anspricht, wo er sich herumdrücken will um eine klare Aussage.
Vernünftig wäre es zwar, Themen einfach nicht anzusprechen, bei denen man sich noch nicht auf eine bestimmte Position festlegen will. Doch weil politische Positionen vor allem dann interessant sind, wenn ein Thema umstritten ist, läßt sich nur selten so verfahren. Freilich wird man nicht alle Versuche, sich klarer Festlegungen zu enthalten, als rationales Verhalten im Umgang mit einer rationales Hinzulernen nicht gratifizierenden Öffentlichkeit erklären können. Mangelnder Mut, sich kontroversen Diskussionen zu stellen, und die Scheu vor dem Risiko, sich politisch beschädigen zu lassen, sind sicher weitere wichtige Faktoren. Klar drückt sich hierzu der folgende Bundestagsabgeordnete aus: Die Gesellschaft ist feige, und die Politiker sind auch feige. Die trauen sich nicht mehr das zu sagen, was sie für notwendig halten, sondern es wird herumgeeiert. Und dann darf man sich nicht wundern, wenn die Bevölkerung grantig reagiert.
Zumal wenn solche Verweigerung einer klaren Bestimmung des eigenen Standorts sich in Fernseh- oder Hörfunkinterviews vollzieht, kann sie Verärgerung auslösen:
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Aber wenn der Journalist sie [die Politiker] fragt, ... da geben die zunächst eine Antwort, die vollkommen an der Frage vorbeigeht, nicht, weil sie dem [Thema ausweichen wollen] ... Und der fragt dann noch zehnmal das gleiche, und dann windet sich der Politiker nochmal. ... Und aus dem, was dann gesagt worden ist, können Sie genauso viel 'rausnehmen, daß Sie so schlau sind wie vorher - nämlich soviel wie nichts. Und das ist beanstandenswert.
Allerdings spiegelt sich hierin doch nur wieder das alte Skylla/CharybdisProblem: beide Küsten sind gefährlich, und es gibt keine Gewähr, daß der Kurs zwischen ihnen gelingt. Nichtsdestoweniger ist festzuhalten, daß Politiker nun einmal eine Führungsaufgabe haben, der sie sich entziehen, wenn sie sich nicht zum Beziehen klarer Positionen und zur offensiven Nutzung der diesen Positionen dienlichen Durchsetzungskommunikation durchringen. Eben in der Dialektik zwischen erwarteter Führungsleistung von Politikern und gesellschaftlichem Widerspruch zu ihr besteht schließlich die Ratio freiheitlicher Willensbildung, welcher eine zentrale Voraussetzung entzogen wird, wenn die politischen Akteure klare Positionsnahmen verweigern. Zu solcher Verweigerung kann ferner die Antizipation der Tatsache fuhren, daß man die eigenen Äußerungen wieder vorgehalten bekommen kann, ohne daß dabei die sie einst prägende und interpretierende Sprechsituation offengelegt wird. Befurchtet ein Politiker, daß seine eigenen Aussagen taktisch, oft genug auch böswillig, später gegen ihn gewendet werden, so liegt natürlich der Versuch nahe, dem politischen Gegner keine allzu scharfen Waffen zu hinterlassen. Dies färbt dann auf die dokumentierte politische Sprache ab und macht sie tendenziell konturlos: ... weil bei jedem Politiker nachgeblättert wird, was er vor 10 Jahren oder 5 Jahren irgendwann einmal gesagt hat. Und das ist ja das beliebte Thema in Bundestagsdebatten, daß man ihm vorwirft, was er in der Opposition unten gesagt hat.... am soundsovielten Datum, dann und dann, und dann wird das Zitat, auch noch möglicherweise herausgerissen, ihm vorgehalten. Dem versuchen die Politiker auszuweichen, gerade die Spitzenpolitiker, und reden dann so unverbindliches Zeug 'mal daher, daß es mich selbst ärgert. ... Aber niemand will mehr Verantwortung auf sich nehmen zu dem, was halt gesagt wird - ja gerade weil heute durch die neue Kommunikationstechnik das alles möglich ist. Das wird gespeichert, was der gesagt hat, der ... drückt auf den Knopf; der Computer, der spuckt das aus, seine Rede vom Soundsovielten oder zu dem Thema - und schon hat er's, wird's ihm auf das Butterbrot gestrichen, nicht. Und er hat auch dann gar nicht die Chance, sich zu rechtfertigen, unter welchen Prämissen ... Meistens werden auch nur Halbheiten zitiert. 22
Meideverhalten, wie es aus den vier erörterten Gründen - Verbergen von Kompetenzmängeln, Zurückhaltung bei noch nicht abgeschlossenen Willens22
Hier schloß sich dann das folgende Beispiel an: „Wenn Sie nur Halbheiten zitieren, sage ich immer, dann können Sie auch mit der Bibel beweisen, daß es keinen Gott gibt, weil da drin steht: 'Es gibt keinen Gott - sprach der Narr oder Tor', und wenn Sie die zweite Hälfte weglassen, sagen Sie: ein christlicher Politiker hat gesagt, es gibt keinen Gott also jetzt einmal das überspitzt dargestellt".
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bildungsprozessen, Verzicht auf gefährliche Exponierung, Antizipation taktischer Verwendung eigener Äußerungen - entsteht, scheint ganz wesentlich die Politikersprache zu prägen. Doch noch ein weiterer, zunächst banal anmutender Einflußfaktor ist zu berücksichtigen. 2.2.4. Mangel an Vorbereitungszeit Denn nicht zuletzt ist es zeitliche Überforderung, die Politikern kommunikative Fehler in derselben Weise aufzwingt, wie beim Tennis druckvolles Angriffsspiel zu Punktverlusten des Gegners fuhrt. Praktisch sind Politiker nämlich einem gewaltigen Zeit-, Termin- und Problemdruck ausgesetzt, der überdies in einem steten und oft abrupten Wechsel von Arbeitsstätten, Ansprechpartnern und Themen ihnen eine Vielseitigkeit, eine Ausdauer und ein Bestehen kommunikativer Leistungskontrollen abverlangt, wie dies in kaum einem anderen Beruf gegeben ist. Solcher Verschleiß bleibt dann natürlich nicht ohne Folgen für das so kontinuierlich abverlangte politische Reden und fuhrt vor allem zur Notwendigkeit, durch kommunikatives Meideverhalten über Lücken eigener Kompetenz hinwexgzutäuschen. Deutlich wird dies vor allem im folgenden Interviewauszug: Sicher muß ich sagen, daß ... [wegen] der vielen Arbeit, und auch der vielen Kleinarbeit, die der Abgeordnete heute auch zu leisten hat, daß eben oft die Zeit fehlt, sich mit Themen so zu befassen, wie es eigentlich notwendig wäre, wie es notwendig ist. So daß oft der Eindruck entsteht: die Abgeordneten, die sind nicht entsprechend sachkundig und fachkundig; sie reden ... irgendeinen Schmarrn daher, wenn ich das einmal auf gut Bayerisch sagen darf. Dieser Eindruck entsteht schon dann, wenn eben man das Amt zu leicht nimmt, und wenn man eben einfach nur meint, man kann mit einer guten Rede Leute überzeugen. Ich persönlich darf Ihnen sagen: ganz gleich, wo ich hingehe - ob ich nun im Parlament rede, in der Berichterstattung, in den Fachausschüssen oder auch selbst im Plenum oder auch zu einer Versammlung gehe, und auch, wenn es eine noch so kleine Versammlung oder Diskussionsabend mit Jugendlichen ist, dann bereite ich mich auf diese Dinge intensiv vor. Die Zeit nehme ich mir, auch wenn's dann ein Samstag oder ein Sonntag ist.
Freilich sprach hier ein Parlamentsneuling, der dies auf Dauer nicht durchhalten wird. Und selbst wenn zunehmende Erfahrung einen Politiker in immer mehr Sätteln sitzfest macht, gibt es doch keine Garantie, daß mit wachsender Sachkenntnis sich auch seine Meisterschaft der deutschen Sprache weiterentwickelt. Kritik zieht ja nicht nur die - oft zu Unrecht behauptete - Inhaltsleere politischen Redens auf sich, sondern dessen sprachliche Gestalt überhaupt. Und hier fehlt nun den meisten Politikern ganz einfach die Zeit, Redetexte gründlich vorzubereiten und sprachlich zu polieren, bzw. durch gute inhaltliche Vorbereitung die Voraussetzungen dafür zu schaffen, daß in der Sprechsituation selbst ein Großteil der Energie auf die rhetorische Gestaltung des zu Kommunizierenden verwandt werden kann. Das folgende Zitat handelt von diesem Problem:
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Man nimmt sich nicht genug Zeit dazu, erstens das, was man aufschreibt, auch auf die Sprache hin zu prüfen; sondern man reproduziert sich selbst und feilt nicht dann an dem, was man sagen möchte. Eine gute Rede müßte wie ein Haus gebaut sein; d.h. man muß auch da an Begriffen schnitzen. Und auch die Aussagekraft von Sprache - immer wieder dessen sich bewußt sein, und deswegen auch die Worte von ihrem Inhalt her verständlich machen, auch richtig setzen und wählen. Und zum anderen kommt das auch meines Erachtens daher, daß die Bürger oder die Politiker zu wenig darauf achten, wo sie sprechen, [und] sich zu wenig vorbereiten.... Und häufig läßt einem die Zeit das dann auch nicht so sorgfaltig vorbereiten. Man sitzt im Zug, und du hast auch manchmal nicht die Unterlage, die du eigentlich brauchtest, um dich dann nochmal tiefer damit zu befassen. D.h.: auch die Vorbereitung läßt zu wünschen übrig und die Identifizierung mit diesem jeweiligen Teil dessen, ... was auch Pflicht [eines Abgeordneten] ist. Was er neigungsmäßig gerne macht, das hat er drauf, das ist in ihm. Aber er muß halt auch mit den Pflichtaufgaben - nicht nur Kür machen! sondern mit den Pflichtaufgaben fertig werden. Und die, meine ich, die geraten da häufig auch, was [die] Sprache angeht, [ins Hintertreffen]. ... Da gerät's ins Oberflächliche, ... eigentlich in's Nichtssagende. Das merken die Leute sehr schnell, und dann haben sie schon wieder einen Mosaikstein zur Unglaubwürdigkeit, zur Nichtakzeptierung dessen, der da vorne steht und Politik repräsentiert.
2.3. Regeln für Politikerreden Lassen sich nun über jene Maximen hinaus, die aus den erörterten Merkmalen von Sprechsituationen abzuleiten sind, einige Regeln identifizieren, anhand welcher Abgeordnete ihre politische Sprache, zumal ihre öffentlichen Reden, gestalten? Tatsächlich ist dies möglich. Allerdings ist zu bedenken, daß die Interviews vor allem die Wahlkreisarbeit der Parlamentarier thematisierten, w e s w e g e n bei der Erörterung politischer Sprache und Rede vor allem deren dortiger Einsatz die Aussagen prägte. Darum können die folgenden R e g e l n keineswegs als vollständig gelten, betreffen sie im wesentlichen doch nur die öffentliche R e d e bei der Wahlkreiskommunikation. Zumal diese Reden lassen sich im vorhinein zurechtlegen. D i e s ist vor allem dann nützlich, w e n n sich Reden - etwa als Grundsatz- oder Wahlkampfrede mehrfach verwenden lassen, so daß sich der Vorbereitungsaufwand auch wirklich lohnt. 2 3 Einer der Wege, zu einer 'Standardrede' zu gelangen, kann s o aussehen: So alle zwei, drei Monate setz' ich mich mal hin und arbeite ein Grundsatzreferat aus ... zu verschiedenen Problemen, von denen ich annehme, daß sie aktuell sind, aktuell werden, noch zu erklären sind usw. ... Dieses Grundsatzreferat, das halt' ich meistens nicht. Das hat, wenn Sieso wollen, Ersatzstückcharakter. Ich versuche, [wenn ich mit diesem Grundsatzreferat im Hinterkopf irgendwo rede] einzugehen auf die Stimmungen und 23
Zum Ziel solcher Reden siehe die folgenden Interviewauszüge: „Aber ... natürlich, meine ich, sollte sich jeder Politiker immer wieder bemühen, natürlich auch in den poliüschen Aussagen schon Inhaltsaussagen darzustellen - wenngleich natürlich dies sehr, sehr schwer ist"; bzw.: „Ich möchte also, wenn ich rede, auch was sagen. Und deswegen versuche ich, mich verständlich zu machen".
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Werner J. Patzelt dann immer wieder den Faden zu finden und ... die Themen, die ich meine, daß sie angesprochen werden müßten, irgendwie in die Debatte 'reinzukriegen. ... Für solche Grundpositionen, da verschaff ich mir aber erst selber Klarheit: [ich] versuche, mir die Argumentationsketten zu vergegenwärtigen, und teste von Versammlung zu Versammlung, wie die Gegenargumentation ankommt. Die verwerf ich dann, oder verändere sie, variiere sie.
Mitunter gilt es sogar, eine Rede sorgsam schriftlich auszuarbeiten, etwa w e n n sie anschließend veröffentlicht werden soll. Hier entwickeln manche Parlamentarier durchaus Ehrgeiz. Eine Europaparlamentarierin teilte etwa mit: Ich finde, es ist gerade Aufgabe eines Abgeordneten, sich selber immer wieder auf [die] Sprache abzuklopfen. Ich sage zum Beispiel zu meiner Mitarbeiterin, wenn ich einen Redetext mache: 'Horch mal, wo das Blabla drin ist'. Und dann ist sie sehr unerbittlich. Sie sagt: 'Und was meinst Du mit der Formulierung?' Und dann gibt's schon mal - ich will das nicht leugnen - ... eine Situation, daß ich bei irgendeinem Satz sage: 'Laß ihn lieber mal so stehen, ich weiß es nicht genau, wie das jetzt im letzten geklärt ist', wenn [das nämlich] aus Bereichen ist, über die ich halt mitreden muß [statt selbst Expertin zu sein]. Aber in den Bereichen, in denen ich irgendetwas zu sagen habe oder ich Verantwortung trage, da gestatte ich mir sowas nicht. Und da habe ich mir ein Gremium geschaffen, das mich dann sehr schnell auf den Boden zurückholt. ... Ich finde, jeder Abgeordnete ist es sich selber schuldig, daß er sich da auch von anderen kontrollieren läßt. Sicher bricht sich solche Absicht nicht selten am Zeitdruck, unter dem ein Abgeordneter natürlich auch bei der Ausarbeitung seiner Reden steht. Diesen in Rechnung gestellt, wird aber kaum einer die folgende Zielbestimmung ablehnen: Aber mir ist eigentlich wichtig, daß die Rede gut ist. Das ist, ich find, grad das, was man also nach außen als Schaufenster [bezeichnet]. Die Reden sind Schaufenster: ein Schaufenster kann ja etwas Richtiges sein; ein Schaufenster kann das zeigen, spiegeln in einem Stück, pars pro toto, was drinnen im Laden ... ist. ... Weil im Schaufenster darf halt nicht nur etwas sein, was drinnen nicht verkauft wird. So gesehen, bejahe ich das Schaufenster als Ausstellungsstück, und ... eine Rede muß natürlich auch einen sprachlichen Wert haben. W i e aber erhält sie ihn, gilt es doch im Regelfall, ohne einen ausgefeilten R e detext zu sprechen? Der W e g zum Ziel besteht darin, sich zwar in Grundzügen einen Argumentationsduktus zurechtzulegen, sich ansonsten aber v o m S c h w u n g der Sprechsituation tragen zu lassen. 2 4 Natürlich treten dabei auch 24
Vgl. zur Reflexion der Vor- und Nachteile der jeweiligen Verfahrensweise den folgenden Interviewauszug: „Ja, wenn ich Versammlungen halte, bin ich lebendiger und besser, wenn ich frei spreche, obwohl ich weiß, daß ich nicht perfekt in der Redewendung bin, also ich spreche nicht so druckreif. Wenn ich eine Rede halte, die mit abgehört wird, dann mir geschickt wird, dann weiß ich genau, was ich gesagt habe; aber ich weiß auch, daß es eben nicht perfekt war. Aber ich lege in der Sprache, wenn ich mit Leuten spreche, auch nicht fur mich den Maßstab [an], das muß perfekt sein. Sondern was mir das Wichtigste ist: ich möchte etwas vermitteln, was die Leute verstehen. Da tue ich z.B., wenn ich was sage, immer nochmal im nächsten und im übernächsten Satz nochmal etwas betonen, was das wiederholt; was, wenn man's aber geschrieben stehen sieht,
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Probleme auf, die - samt ihrer pragmatischen Lösung - im folgenden Interviewauszug gut zum Ausdruck kommen: Ich halte schon was von Planung. Ich inuß wissen, was ich sagen will - und das schreibe ich mir dann auf. Manchmal führe ich es sogar aus. Aber nach den Regeln der Rhetorik gehe ich mehr nach diesen Stichpunkten und laß mich tragen. Was natürlich die Gefahr auch in sich birgt, daß man sich verplappert dabei, daß man dann nicht mehr zurückfindet. Aber man hat ja dann so seine Tricks: man läßt's dann ein bißchen rundum laufen, während man nachdenkt, und dann kommt man schon wieder drauf. Meistens passiert mir das bloß, wenn ich schlecht beinand' bin und müde bin, daß ich mir denke: 'Um Gottes Willen, was wolltest du denn eigentlich noch sagen?' Und damit mir das nicht passiert, habe ich immer eine schriftliche Unterlage. Und der Blick auf die Unterlage gibt mir wieder ein Stichwort, und dann läuft's wieder weiter. Also, ich bin nicht der Redner, der dies so logisch runterbringt; sondern ... ich laß mich schon sehr von Stimmungen beeinflussen. 25
Letztlich gilt dabei die Regel: 'Habe eine klare Kommunikationsabsicht, und laß dich dann von ihr tragen!' Ein Bundestagsabgeordneter formulierte sie präzise so: Und wenn ich mich auf eine Rede vorbereite, bereite ich mich eigentlich nur vor: Was ist die Botschaft, was willst Du überbringen? Und das andere, das mache ich nach Heinrich von Kleist: Über die allmähliche Verfertigung der Gedanken beim Reden.
Wie diese 'Verfertigung der Gedanken beim Reden' - bzw. die Verfertigung ihrer sprachlichen Gestalt - dann aussehen kann, geht aus folgendem Interviewauszug hervor: Man ist als Redner von den Stimmungen in den Versammlungen ... also ich, muß ich sagen, bin da sehr abhängig. Wenn ich die ersten fünf Sätze gesprochen hab, dann spür' ich etwa, ob ich ankomme oder nicht, ob das läuft. Und wenn's läuft, dann läuft vieles unbewußt oder halbbewußt. Dann setz1 ich an bestimmten Stellen ganz breiten Dialekt ein, mach' Pausen und steigere mich dann praktisch selber hinein. Und am besten gelingt das, wenn ich so die Sache im Auge hab' und wenn ich dies in aller Bescheidenheit mache. Sobald ich mir sag: 'Jetzt sag ich's ihnen, und jetzt werden sie schaun!', ist's schon gestorben, geht schon nichts mehr. ... Bei mir läuft eben vieles unbewußt und halbbewußt. Ich mach' mir einen schönen Plan und werfe den dann um. Und die beste Rede ist immer die, bei der ich mich tragen lasse. Da fallt mir dann dies ein und da fallt mir dann auch jenes ein und da fällt mir dann auch jedes Bild ein und auch jeder Witz und dann lachen sie [die Zuhörer] an den richtigen Stellen. Und das beflügelt mich wie-
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unnötig ist. Und ich merke aber, wenn ich das tue, daß die Leute dann nochmal da dran hängenbleiben, während, wenn ich sofort weggehe und auf den nächsten Satz mit 'was anderm eingehe, dann verflüchtigt sich's so schnell. Also ich habe, ich äußere mich in der freien Rede anders, als ich das geschrieben stehen sehen möchte." Das scheint in der Tat die übliche Verfahrensweise zu sein, während vor einer allzu starken Abhängigkeit von vorgefertigten Reden eher gewarnt wird. Vgl. die folgende Einlassung: „Und viel zu viele, die z.B. nach den Schemen [vorgehen], die von den Parteien ausgeschickt werden, die hängen dann am Papier, und das schafft nicht Glaubwürdigkeit. Daher bin ich auch kein großer Anhänger von so Standardreden. Ein paar Punkte, daß man die aufzählt, ja - aber Standardreden, das ist nichts."
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Werner J. Patzelt der, und dann geht es so weiter. ... Das ist mindestens eine Lust für mich, wenn es gut läuft; es geht fast bis an den Rausch. Es gibt also Reden, wo ich so spüre: es geht. Die also ungeheuer lustvoll sind. ... Und diese Lust empfinde ich manchmal - nicht immer. Man quält sich bei manchen Versammlungen.
Natürlich muß ein Politiker aber auch dann weitersprechen - mit allen nachteiligen Folgen fur seine Sprache und für den Kontakt zum Publikum, die natürlich auch wahrgenommen werden und den Eindruck prägen, den man vom Redner zurückbehält. Gelingt es indessen, die Zuhörer wenn schon nicht in seinen Bann zu schlagen, so doch an die Leine der eigenen Argumentationsführung zu binden,26 so tritt wohl nicht selten der von einer Europaparlamentarierin wie folgt beschriebene Effekt ein. Wenn ich eine Rede halte, weiß ich im großen und ganzen, welche Reaktion darauf kommt. Ich kann also mit der Rede auch schon in etwa vorbestimmen, welche Fragen kommen. Außerdem weiß ich, was aktuelle Fragen sowieso sind. Ich find's manchmal entsetzlich, daß der Redner selbst eigentlich sehr stark da drüber stehen kann und die Dinge in der Hand hat - viel mehr als vielleicht der Zuhörer das erkennt oder wie er's wahrhaben will. Aber man hat als Redner eine ganz starke Möglichkeit, eben Schwerpunkte zu setzen und zu zwingen fast, daß sich Leute mit bestimmten Themen beschäftigen müssen.
Selbstverständlich muß bei diesen Themen der Redner selbst sattelfest sein. Doch Abgeordnete sind nun einmal nicht ganz frei, ihre Themen zu wählen. Nicht nur zwingt sie ihnen die jeweils aktuelle politische Entwicklung auf, die Generalistentum abverlangt und immer wieder in eine Zone inhaltlicher Überforderung fuhrt. Im Rahmen der Wahlkreisarbeit sind es überdies die lokalen Themen, welche die Besucher politischer Veranstaltungen interessieren und darum vom Abgeordneten unbedingt angesprochen werden müssen: Wenn Sie heute eine öffentliche Veranstaltung machen bei uns, drückt den Bürger erst seine eigene Sache vor Ort. Das ist also eine alte Binsenweisheit. Da geht's bei so Versammlungen nicht um Afghanistan oder um Taipeh oder irgendein Weltproblem in Nicaragua; das ist zweitrangig. Erst kommt immer: 'Warum kost' bei uns der Müll soviel?', 'Was ist mit meinem Kanal? Ich hab' ein Baugrundstück in unserer Ortschaft!', nicht. ... Und dann kommt erst die Weltpolitik. ... Aber den Bürger drückt immer erst der Schuh vor Ort in seinem Bereich; das ist also eine alte Binsenweisheit.
Nur, wenn er auf diese Dinge ausreichend eingegangen ist und die Regel befolgt hat 'Sprich über Dinge, die das Publikum interessieren!', kann der Abgeordnete zusätzlich jene Themen unter die Leute bringen, die er möglicherweise für ungleich wichtiger hält. Diese können dann gewissermaßen den 'Kern' seiner Rede bilden, der mit der Behandlung von örtlichen Detailproble-
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Dem dient nicht zuletzt bildhafte Sprache; vgl. die folgende Passage: „Wenn ich die Leute echt ansprechen will, dann suche ich eine Sprache, die sie verstehen; suche Bilder, die aus ihrem Bereich sind. Bei mir ist das ganz extrem - ich rutsch' da immer in irgendwelche Beispiele aus dem Verhältnis [von] Mann und Frau hinein."
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men dann umgeben wird. In diesem 'Redekern' können sich dann die dauerhaften und zentralen Anliegen eines Politikers verfestigen: Ich bin ja seit '72 im Bundestag gewesen und hab' eigentlich zunächst gedacht, wenn ich Reden halte draußen, daß ich jedesmal 'was Neues servieren müßte, daß die Leute Abwechslung haben und dann auch mit neuen Dingen konfrontiert werden. Das habe ich aber sehr schnell abgestellt. Sondern ich hab' mir gesagt: Wenn ich eine Erkenntnis hab', die notwendig ist, daß andere [das] wissen müssen, dann muß ich eigentlich erst 'mal durchackern, Uberall wo ich hinkomme, ein Jahr lang dieses erst einzupflanzen. Und wenn das eingepflanzt ist, dann kann das nächste kommen. ... Also ich hab' mir abgewöhnt, auf jeder Veranstaltung was vollkommen anderes zu sagen, sondern nur, wenn es ein anderes Thema ist, natürlich; aber von den Sachgebieten her, daß ich erst 'mal bestimmte Dinge informativ durchziehe, daß ein bestimmter Fundus an Informationen weitergegeben ist, wo ich sicher sein kann, daß man da drauf aufbauen kann.
Sicher entlastet diese Strategie stark bei der Vorbereitung von Reden. Doch ausschließlich darf man sich auf die Zugkraft solcher Dauerthemen, und seien sie noch so wichtig, nicht verlassen. Gerade im Rahmen der Wahlkreisarbeit holt einen immer wieder der kommunale Bereich mit seinen Problemen ein. Kenntnisse muß man also nicht nur hinsichtlich seiner Spezialthemen haben, sondern die Regel 'Mache dich vor der Rede gründlich sachkundig!' gilt gerade für die örtlichen Probleme. Mit ihnen wird der Abgeordnete spätestens bei der Diskussion nach der Rede konfrontiert, und natürlich auch dann, wenn er sie zuvor vermieden hat. In der folgenden Interviewpassage eines Landtagsabgeordneten kommt dies gut heraus. Aber im großen und ganzen ist es natürlich so, daß man eben Bescheid wissen muß, wissen Sie. Das ist das Α und O, was ich eingangs gleich gesagt habe. Auch auf kommunaler Ebene. Ich kann heute nicht 'naus in einen Stadtteil, oder Ortsteil, auf ein Dorf 'naus, ohne daß ich weiß: Was passiert da bei euch? Da muß ich mich mit dem Bürgermeister in Verbindung setzen oder ich weiß es selber schon; dann kann ich drüber reden. Die Erfahrung bringt es mit sich, die Kenntnisse. Ich kann nicht 'naus, wie es oft schon Kollegen von mir passiert ist, auf unterer Ebene, die dann das Greinen angefangt haben, nachher gesagt haben: 'Die haben mich fix und fertig gemacht, weil ich nicht gewußt habe, daß da mit dem Kanal was anhängt, oder weil ich nicht gewußt habe, wie das mit den Asylanten steht, wie das genau ist'.
Einmal mehr wird hier deutlich, wie vielfältig bei Abgeordneten jene Anforderungen sind, deren vorgängige Erfüllung überhaupt erst zu einer gelingenden Kommunikationsleistung fuhren kann. Zu ihnen gehört ferner, unbeschadet des zentralen Themas der Rede und der anzusprechenden örtlichen Sonderprobleme einen guten Einstieg zu finden, der das Publikum bereit macht, dem Redner zu folgen. Bei der Befolgung der Regel 'Finde einen guten Ausgangspunkt!' wird zwar jeder seinen eigenen Stil entwickeln. Doch die folgenden zwei Möglichkeiten, einen guten Einstieg zu nehmen, lassen sich wohl verallgemeinern: Und bei der Rede ist's halt so, daß man versucht, einen Ausgangspunkt zu finden. Das ist ganz unterschiedlich. Wenn ich in einem Ort bin, in dem ich schon oft war, dann
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Werner J. Patzelt knüpfe ich an frühere Dinge an, oder ich erzähle persönliche Erlebnisse, die ich in dem Ort gehabt hab. Ich möchte also eine gewisse persönliche Basis. Oder: 'Wir kennen uns ja, und ich war ja schon oft da und da draußen bei der Feier, und ... war Schirmherr'. Alles, was persönlich ist, wird als Grundlage genommen. Wenn ich ... Reden halte, versuche ich immer zu sagen: 'Das Thema, das ich heute anschneide - wann ist das bei mir aufgetaucht, und wie hat sich das entwickelt?' Und ich versuche dann wieder zu dem Ursprung zurückzukommen, wie es bei mir angefangen hat. Und da fange ich an bei der Rede, um zu versuchen, bei den Leuten anzufangen, daß ich sie mitnehme, dahin zu kommen. Ich kann nicht von der Situation ausgehen, wo ich zu der Sache stehe; das geht nicht, das funktioniert nicht. Wenn ich über eine Sache spreche, die mich im Moment interessiert und bewegt und das auch so sage, dann können das die Leute in der Versammlung nicht verstehen. Ich muß also immer wieder versuchen, [das] zu transportieren zu dem Punkt, wo ich bei den Leuten anfange und nicht bei mir. Und das versuche ich weitgehend auf Versammlungen einzuhalten.
An Reden schließen sich in der Regel Diskussionen an. Nicht nur im Rahmen der Wahlkreisarbeit stellt sich für viele Abgeordnete dabei das Problem, immer wieder auf dieselben Thesen eingehen zu müssen, von denen freilich der Diskutant selten weiß, daß sich mit ihnen auseinanderzusetzen zum täglichen Brot eines Politikers gehört. Insofern liegt eine doppelt asymmetrische Kommunikationssituation vor: zu Wissensunterschieden gesellen sich Unterschiede in der Wahrnehmung einer These bzw. Frage als außergewöhnlich oder banal. D i e Regel, nach der hier meistens verfahren wird, lautet 'Nimm Diskussionsredner ernst!' N o c h profilierter formuliert sie der folgende Abgeordnete: 'Der Diskussionsredner hat immer recht! Er sagt immer was Bedeutendes - und ich hab das noch nie gehört.' Und der Punkt ist jetzt nicht ehrlich. Ich meine: den Eindruck erwecke ich. Denn es ist ja in der Tat so, wenn ich einen Wahlkampf mache und 100 Versammlungen habe, dann höre ich die Fragen 40, SO mal. Ich muß aber mich so verhalten, daß der das Gefühl hat, er hat jetzt eine... wichtige Frage gestellt. Und deswegen ist auch die erste Floskel meistens: 'Ja ja, Sie haben schon recht. Es ist also wirklich so zu sehen, und so kann man das sehen; nur muß man halt bedenken, daß es auch da noch einen anderen Aspekt gibt. Und man darf ja nicht vergessen, daß ..., und wenn man überlegt, daß...'. Und so wird er hingeführt zu dem, was man sagen möchte. Jetzt alles ideal gedacht; man ist nicht immer hundertprozentig auf dem Damm. Aber so mache ich das, wenn ich's ideal mache. Und dann setzt sich der nieder mit dem Gefühl: 'Ich habe eine wichtige Frage gestellt; er hat mir Recht gegeben. Ich meine, er hat einige Dinge gesagt...' Die sind für den gar nicht so wichtig, die sag' ich ja mehr für die Versammlung. Aber er setzt sich nieder und ist zufrieden, und das soll er sein. Er soll nicht das Gefühl haben, daß er niedergebügelt wird. Denn er ist ein Mensch, der sich was überlegt hat; er hat ein Recht, ernst genommen zu werden. Das halte ich für ganz wichtigIn diesem Fall begleicht der Politiker seine Bringschuld an Höflichkeit und Einfühlungsvermögen. Will freilich ein Diskussionsredner provozieren, dann sind andere Reaktionen angebracht. Im harmlosen Fall lassen sich Politiker und Diskutant auf eine Art sportliches Spiel ein und haben mitunter auch Spaß daran:
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Wenn [Leute]... in Versammlungen kommen, überlegen sie sich ja auch vorher Fragen: 'Den [Abgeordneten] leg' ich erst mal rein!' Und ich krieg' auch viele Fragen gestellt, wo ich merke, daß die die Fragen nicht gestellt werden, weil sie Antworten haben wollen, sondern die wollen einfach 'mal beurteilen, wie ich mich damit 'rumschlage. Also es kommen oft auch Fragen, wo man richtig merkt, die probieren 'mal aus: 'Jetzt wollen wir 'mal sehen, ist sie tüchtig, ist sie schlagkräftig, oder sonst was'. Merkt man ja auch, und das ist dann auch wieder ganz nett, wenn man's merkt. Ist ja eigentlich so ein Spiel, das immer abläuft, 'mal ernsthaft, 'mal weniger ernsthaft. Weiteren Aufschluß über dieses 'Diskussionsspiel' enthält der f o l g e n d e Interviewauszug: Wenn bestimmte Dinge im Kopf der anderen sind, da können Sie reden, Uber was Sie wollen - die Dinge kommen immer zum Ausdruck. Und da gibt's ja zwei Möglichkeiten ... . Wenn man nicht haben will, daß man in diesen Bereichen in's Detail geht, dann sagt man: 'Das steht eigentlich heute nicht zur Sache, das möchte ich heute abhaken, das müssen wir 'mal zu einem andern Zeitpunkt aufnehmen; ich möchte mich dazu im Moment nicht äußern'. Oder es gefallt mir; und dann gehe ich halt darauf ein. Aber das mache ich dann spontan dann. Aber da hat eigentlich jeder, der viel unterwegs ist, hat eigentlich genügend, ja Erfahrungen möchte ich fast sagen, die er dann auch einsetzen kann, um mit einer Sache fertig zu werden. Also ich kann mich nicht erinnern, in den ja ich bin jetzt schon 24 Jahre eigentlich unterwegs, seit '65, im Parlament seit '72 - ich kann mich an keine einzige Situation erinnern, wo ich den Eindruck habe, ich bin nicht 'Herr der Dinge', ... wo ich's Gefühl habe, ich schwimm' weg und weiß nicht, was ich machen soll. An das kann ich mich nicht erinnern. ... Vielleicht beurteile ich das falsch, und andere Leute sehen das anders. Aber aus meiner Sicht habe ich da keine Probleme gehabt. Es werden natürlich auch unangenehme Fragen gestellt, in der Agrarpolitik z.B., wenn ein Landwirt sagt: 'Sie erzählen da über Europa, und jetzt sehen's 'mal meine Lage - seit 10 Jahren verdiene ich jedes Jahr weniger, und da erwarten Sie noch, daß ich fur Europa eintrete?' Da muß man halt dem Mann klarmachen, daß sein persönliches Problem nicht nur ein Schicksal von ihm ist, sondern von vielen, und daß es eine Entwicklung ist, die, aus welchen Gründen auch immer, die ich ja darlegen kann, so entstanden ist, und daß sie nicht gewollt für ihn so gemacht ist, sondern daß es eine Entwicklung ist, die er kennen muß und da auch 'was ändern kann, wenn er praktisch mithilft, daß andere politische Prioritäten gesetzt werden. D o c h gerät das Diskussionsspiel außer Kontrolle, weil es ein Diskutant auf echten Streit mit dem Redner anlegt, so wird dieser selten zögern, sein überlegenes Fachwissen einzusetzen und den Diskussionsgegner schlecht aussehen zu lassen. Hier scheinen Abgeordnete recht klar zwischen 'gutgesinnten' und 'übelwollenden' Diskussionsrednern zu unterscheiden. Jedenfalls berichtete ein M d B über solche in der Diskussion anzuwendenden Schachzüge: Ich tu das bei gutgesinnten Leuten da nicht gern. Die könnte man oft 'mal auf eine dumme Frage natürlich so abblitzen lassen, daß sie blamiert dastehen. Oder daß sie nicht genug informiert sind, was schon hundertmal veröffentlicht worden ist. Das soll man aber nicht tun. Damit ist die Frage erreicht, wie Politiker das rhetorische Mittel der Polemik meinten einsetzen zu sollen. Generell halten sie die Regel für sinnvoll 'Rede und diskutiere nicht zu glatt!' D a s folgende Zitat drückt sie gut aus:
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Werner J. Patzelt Wissen Sie, wenn einer nur aalglatt antwortet, das war oftmals beim Barschel der Fall, ich nehme jetzt 'mal das Beispiel, wo man dann gesagt hat: 'Der gibt eine ölige, eine schleimige Antwort'.... Der Wehner hat ihn immer als Schleimer bezeichnet, nicht, weil der auch so unverbindlich dann, ohne daß man ihm an den Wagen fahren konnte ... Lieber einmal eine Antwort, die zu einem kräftigen Zwischenruf, oder auch, wo man noch eine draufgibt! Also wenn alles so aalglatt läuft, dann hat man auch schon den Eindruck: 'Aha, der macht also nicht mehr, um 'was sagen oder ausdrücken zu wollen, sondern um aus der Situation gut 'rauszukommen, um, vor allen Dingen, bei den Zuhörern einen guten Eindruck hinterlassen zu haben!' Ob der wirklich gut ist, das möchte ich dahingestellt sein lassen -
woraus hervorgeht, daß die Bereitschaft zu streitiger Diskussion, zur Kontroverse auch mit dem Säbel der populären Sprache, v o n Abgeordneten als wichtige und wertvolle Eigenschaft eines Kollegen erwartet wird. Insgesamt wird Polemik wohl zu drei Zwecken eingesetzt: zum Zurückschlagen in Situationen offenen Streits; um eigene Positionen zu profilieren; und w e g e n ihres Unterhaltungswertes, der ein ansonsten in seiner Aufmerksamkeit nachlassendes Publikum wieder in die Hand des Redners lockt. D i e folgenden Zitate belegen diese dreifache Funktionalisierung: - Ich finde, dort muß ... [die Polemik] sein, wo also im Grunde genommen Sie nur noch einer Totalopposition gegenüberstehen.27 - Schon sehr gezielt [setze ich Polemik ein], muß ich sagen.... Ja, ganz bewußt natürlich auch, um Zuhörer zu Uberzeugen von der Meinung, die man hat. Oder vielleicht eine andere Meinung etwas diffuser, in einem etwas diffuseren Licht erscheinen zu lassen. Es kommt auf die Situation darauf an, wie das Publikum auch ist. Ob die auch mitreagieren, ob da Polemik ankommt oder ob Polemik, wenn Sie sie zu stark einsetzen, eher dann zu unglaubwürdig wird. ... Polemik kann dann eingesetzt werden, ... wenn die Glaubwürdigkeit dadurch, die Aussage dessen, was man für erforderlich hält darzustellen, nicht leidet. - Wobei natürlich es immer wieder so ist, daß, wenn man sieht, daß da irgendwelche Sachen die Leute weniger interessieren, kann man natürlich mit Rhetorik die wieder aufwecken.
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Folgende Anwendungsbeispiele werden dann gegeben: „Und das ist vielleicht die Crux, daß z.B. solche auf der Hand liegenden Probleme, wie Mißbrauch des Asylrechts, da braucht man eigentlich nicht drüber zu streiten, das ist vorhanden, das weiß jeder. Wenn die nicht mehr bewältigt werden, weil die Gemeinsamkeit auch der demokratischen Parteien in dem Punkt verweigert wird, dann glaube ich ist es etwas, was man in jedem Fall klipp und klar und deutlich auch in der Bevölkerung anprangern soll. Und dann gibt's natürlich das zweite, wo ich glaube, daß man das also durchaus auch etwas polemisch darlegen könnte: der ganze Bereich Angst, Zukunftsangst, Miesmacherei, weil damit schlicht und einfach den Deutschen abgenötigt [wird], die Realität zu verlassen, und dann also in Larmoyanz oder weiß Gott was zu machen. Und das halte ich für einen unverantwortlichen Versuch von Gruppen und anderen Parteien. Und da würde ich meinen, sollte man das durchaus polemisch und mit klaren Worten auch mal geißeln in der Öffentlichkeit."
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3. Politiker zur Kritik ihrer Sprache Das Ausmaß und die Schärfe der an der Politikersprache geübten Kritik hier zu dokumentieren, hieße nun wirklich Eulen nach Athen zu tragen. Jeder kennt die einschlägigen Topoi: die Sprache der Politiker sei aufgesetzt, provokativ, beleidigend, floskelhaft, fremdwortdurchsetzt, juristisch deformiert, vage, unpräzise, inhaltsleer, nichtssagend, Ausflüchte suchend, camouflierend, heuchlerisch, abstrakt, abgehoben, unverständlich und in jedem Fall schlechtes Deutsch. Wenig verschlägt es, daß manche Topoi einander widersprechen, ist doch einesteils 'die' Politikersprache kein homogenes Ganzes und gewannen andernteils die kritischen Topoi längst Eigenleben. Inzwischen sind im Prozeß der gesellschaftlichen Konstruktion der Wirklichkeit inzwischen diese Defekte der politischen Sprache längst als 'unbestreitbare Tatsachen' hervorgebracht und verfestigt. Zwar wurde oben gezeigt, daß die politische Sprache ein höchst komplexes Gebilde ist, das sich leichter denunzieren als verstehen, leichter verächtlich machen als kompetent beherrschen läßt. Doch gegen den Strom der herrschenden Meinung, zumal sie auch von der Mehrheit sprachanalytischer Wissenschaftler mit Autorität ausgestattet wird, mag kaum einer anschwimmen. Viele der befragten Abgeordneten akzeptierten in den Interviews denn auch die ihnen zur Kommentierung vorgelegten kritischen Topoi und übten eher Selbstkritik, als offensiv die Maßstäbe der Kritik selbst in Frage zu stellen oder für ein Verständnis der Eigenart politischer Sprache zu werben. Vor allem bei den Sozialdemokraten war die Neigung nicht zu übersehen, sich die populäre Kritik zu eigen zu machen. Typisch für derlei Demutsgesten sind Äußerungen wie die folgenden: - Die ist zu 9 0 % gerechtfertigt, diese Kritik! - Das macht mir meine Frau sehr oft zum Vorhalt, daß ich nach wie vor zu sehr in diesem Politikerdeutsch mich bewege, anstatt klar zu sagen: das ist so und das ist so und das ist so - in einer einfachen, verständlichen Form. Dieser Gefahr ist eigentlich jeder Abgeordnete ausgesetzt, daß er nach einer bestimmten Zeit sich dieses Verwaltungsdeutsch oder diese Sprache, diese Sprachform aneignet, die in der Politik üblich zu sein scheint. -... diese tatsächlich anzutreffende Ansammlung von Sprechblasen, die im Grund dann auch inhaltslos sind. Es gibt Leute, die können stundenlang reden, ohne daß sie was sagen. Das ist sicher möglich; ist auch für sich gesehen eine Kunst.
Doch wenigstens manche derer, die beim Thema 'Kritik der politischen Sprache' von vornherein in die Defensive gingen, mochten diese populären Einwendungen zumindest nicht für sich selbst gelten lassen: - In bestimmten Bereichen trifft es sicher zu. Ein beliebtes Sprichwort meiner Frau ist: 'Du redest wie ein Politiker!' Das ist sicher irgendwo vielleicht auch zutreffend. Aber ich
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Werner J. Patzelt glaube, daß in den normalen kleinen Versammlungen das Inhaltliche, das Detail, das Sachliche immer überwiegt. - Die Kritik an dem unverständlichen Kauderwelsch vieler Politiker ist zum Großteil berechtigt. Ich bemühe mich, so zu reden, daß ich Uberall verstanden werde'. Deswegen habe ich mich mit dem Problem auch noch nicht sonderlich auseinandergesetzt. Also ich krieg' selten den Vorwurf, daß ich unverständlich rede.
Wiederum ein anderer meinte sich geradezu entschuldigen zu müssen, weil für ihn dieses allgemeine Verdikt denn doch nicht zu gelten scheine: Es ist komisch, es ist eigentlich entsetzlich, wenn ich das sage: aber ich krieg' immer eigentlich Lob, daß meine Reden nicht so wären. Ob die Leute nur mir was Nettes sagen wollen? Ich weiß es nicht. Ich bemühe mich aber auch immer; ich könnte keine Versammlung abhalten, wenn ich nur ein hohles Blabla reden würde, weil ich dann gar nicht vor mir selbst bestehen könnte.
Insgesamt ähnelt ein solcher Befund ziemlich stark dem Datenmuster, das sich regelmäßig bei Umfragen zur wirtschaftlichen Lage einstellt: während die allgemeine Lage als schlecht gilt, ist die eigene viel besser. Geht es aber im wesentlichen allen besser, als die 'allgemeine Lage' beschaffen ist, so kann wohl entweder an der persönlichen oder an der allgemeinen Lagebeurteilung etwas nicht stimmen. Läßt sich annehmen, daß man sich mehr über die allgemeine Lage als über die persönliche täuschen wird, so liegt wiederum die Vermutung nahe, daß die Aussagen über die allgemeine Lage wohl durch das gutgläubige Zitieren landläufiger, doch letztlich wenig begründeter Redensarten geprägt und verzerrt werden. Auch bei der Politikersprache scheint eine entsprechende Infragestellung von landläufigen Vorurteilen nicht unangebracht zu sein. Jedoch waren in den Interviews Relativierungen der vom Interviewer zitierten Kritik eher selten. Dabei gingen vor allem CSU-Abgeordnete in die Offensive. Die mildeste Variante solcher Offensive bestand darin, sich gegen Verallgemeinerungen zur Wehr zu setzen: - Nun ja, das kann man aber nicht verallgemeinern, nicht! - Also ich meine, man müßte jeden Satz und jede Aussage einfach einmal hernehmen und müßte sie analysieren; pauschal ließe ich sie [diese Behauptung] nicht zu. - Das kommt natürlich über die Massenmedien, gell, zum größten Teil. Die Kommentare, die dort stehen über den einen oder anderen Politiker. Daß man es dann verallgemeinert, und dann die Abgeordneten da alle in einen Topf wirft und 'alle' sagt: 'Seht ihr, so sind's!', usw.. Das ist das, was hier nicht ganz angebracht ist.
Andere gingen freilich gleich zum Gegenangriff über: Na, das halte ich sowieso für ein Gerücht, daß das so ist, daß das inhaltsleer ist. Und zwar wird es häufig von Leuten verbreitet, wenn Sie denen zuhören, da werden Sie überhaupt feststellen, daß es an Substanz fehlt; Sie werden auch feststellen, je leerer jemand plaudert, um so mehr ist er geneigt, dem andern genau dieses zu unterstellen.
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In der Tat zeigte jede halbwegs gründliche Lektüre z.B. von Plenarreden aus dem Deutschen Bundestag, die ja am häufigsten die öffentliche Sprachkritik auf sich ziehen, daß der populäre Vorwurf einer Inhaltsleere der Politikersprache tatsächlicher Überprüfung schwer standhält und sich als ein nur aufgrund seiner unangezweifelten Selbstverständlichkeit haltbares Vorurteil entpuppt. Dies gilt um so mehr, wenn man in die entsprechende Argumentationsfuhrung das im letzten Abschnitt ausgebreitete Wissen um die sprachprägende Kraft jener oft komplizierten Kommunikationssituationen einbringt, in denen Politiker sich zu äußern haben. Solche differenzierende und die Akteursperspektive nicht schlechthin unterschlagende Betrachtungsweisen forderte denn auch der folgende Parlamentarier ein: Ich glaube, daß auch die Kommentierung solcher Redensarten und Worte in der Politik durch die veröffentlichte Meinung falsch ist. Man sollte eben auch auf die Schwierigkeiten hinweisen und vielleicht auch die Gründe mal nennen, warum das häufig so sein muß. Nicht immer, aber sicher häufig. Und das tut man nicht. Man geißelt es einfach und das erzeugt natürlich auch entsprechende Strömungen in der Bevölkerung.
Ferner wurde von den Abgeordneten mehrfach betont, daß ja nicht nur Politiker in ihren Kommunikationsaufgaben mitunter überfordert seien, sondern auch in anderen auf das Mittel der (freien) Rede angewiesenen Berufen sprachlich wohl nicht alles zum besten stünde. Doch da es allein fur die Politik eine auf ihre dauerhafte Kritik eingerichtete Öffentlichkeit gäbe, prägten allein der Politiker sprachliche Unzulänglichkeiten das Bild und würden durch analoge Defizite anderer Berufsgruppen nicht relativiert. Dieser perspektivischen Verzerrung einfach zu entnehmen, hier hätten allein Politiker Probleme, sei naiv, und aus solcher Naivität - gegebenenfalls gar wider besseres Wissen auch noch heftige Kritik abzuleiten, sei schlechterdings unfair. In folgender Passage kommt diese Strang der Gegenkritik gut zum Ausdruck: Ja, dann kennen Sie [aufgrund Ihres Berufes] die Professoren und kennen die Vorlesungen - was auch da an Blabla manchmal erzählt wird. Läßt sich auch nicht immer abstellen! ... Beim Politiker wird natürlich besonders kritisch gemessen, weil vieles ein Großteil der Bürger [etwa am Fernsehapparat] miterlebt.
Trotz derartiger 'Kritik an der Kritik' geht indessen die weitgehend von allen Abgeordneten geteilte Ansicht dahin, daß an der Politikersprache in der Tat vieles unbefriedigend und verbesserungswürdig sei. Im wesentlichen werden solche Defekte politischer Sprache reflektiert, die sich aus der - unzulänglichen - Bewältigung jener mitunter komplizierten politischen Sprechsituationen ergeben, die im letzten Abschnitt beschrieben wurden. Vor allem die folgenden Kritikpunkte stoßen auf Verständnis: - der Kontrast zwischen der harten öffentlichen Sprache von Politikern und ihrer durchaus kollegialen Insider-Sprache sei allzu hart, lasse sich nicht nur schwer vermitteln und sei in dieser Schärfe auch unnötig;
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- zu w e n i g mache man vor der Öffentlichkeit sichtbar, daß man wechselseitig die erbrachten Leistungen durchaus anerkenne; - zu heftig setze man sich statt dessen wechselseitig herab; 28 - es gäbe zu viel 'Herumeiern' aufgrund v o n mangelndem Mut, sich für Positionen zu exponieren, die man für richtig hält; - und manche 'Gescheittuerei' v o n Politikern sei schlechterdings unnötig bzw. eine beklagenswerte Strategie, Kompetenzmängel zu überdecken. Gerade hierüber sprachen zwei Befragte Klartext: Es gibt durchaus Politiker, die zeigen möchten, wie gescheit sie sind. Und dann machen sie's dann so wie manche Universitätsprofessoren, die ihre mittelmäßige Gescheitheit durch komplizierte Sprache verdecken. Es gibt da auch Universitätsprofessoren, die ganz einfach reden können und ganz wichtige, große Dinge auf diese Weise verständlich machen - verständlich für alle. Und ich glaube, daß manche Politker sich eben in Szene setzen, und fur die ist das gar nicht so wichtig, ob jetzt alle das verstehen. Hauptsache, sie [die Zuhörer] halten's für bedeutend oder gescheit. Ein anderer plauderte aus dem Nähkästchen: Ich behaupte immer: diejenigen, die so fürchterlich geschwollen daherreden, machen dies absichtlich, damit sie von niemandem angesprochen werden können darauf. Mir hat einmal einer gesagt, ein Kollege: 'Du muß in jeder Rede, die Du hältst, mindestens 5% deiner Gesamtzeit so reden, daß dich kein Mensch verstehen kann! Erst dann bilden sie sich ein, du bist ihnen geistig weit überlegen!' Und ich war also zuerst völlig perplex, bis ich begriffen habe, daß das tatsächlich - bei ihm zumindest - fest Rederegeln waren, daß er also in jede Rede irgendwas so Konfuses 'reingebaut hat, daß ihn wirklich niemand verstehen konnte. Und jeder der Zuhörer hat sich eingebildet: Mensch, das muß ein fürchterlich gescheiter Mann sein, den versteht man ja nicht einmal! Ganz ohne Zweifel stößt derlei bei den meisten Abgeordneten auf Ablehnung. Überhaupt ist es keineswegs so, als ob die Abgeordneten Einwendungen g e g e n die v o n ihrem Berufsstand gepflogene Sprache einfach abwiesen. D o c h sie mahnen Differenzierung wie Relativierung an und wünschen, daß man die Ursachen für Defizite nicht ganz einfach bei den Politikern allein suche. Z u m einen verlange nämlich der Voyeurismus der Öffentlichkeit und die journalistische Prämie für polemische Pointen ihren Preis: das Publikum goutiere heimlich Redeschlachten und kritisiere sie dann nach ihrem Genuß, w a s zu ganz inkonsistenten Rollenanforderungen führe. Im folgenden Zitat kommt dies z u m Ausdruck: Sie brauchen nur eine Sendung hier nehmen im Fernsehen - Wahlsendung. Wenn sich die Matadoren hier eine Redeschlacht liefern im Fernsehen, dann ist eine große Einschaltquote. Und dann heißt's: 'Na, muß denn der das sagen? Also, das ist doch unverschämt!' Und so ist es in vielen Fällen. Sie haben eine Debatte in Bonn; die wird übertragen am Vormittag. Zumindest die Rentner sehen zu, hören zu - und dann höre ich 28
Vgl. die folgende Aussage: „... weil man nur Schaureden macht. Wir machen nur Reden, um den einen schlecht zu machen und sich selbst positiv darzustellen und einfach zu reden um des Redens willen; auch die Presse will es haben."
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sofort, wenn ich am Wochenende heimkomme, oder schon in Bonn werde ich angerufen, und mir wird mitgeteilt: 'Also das und das war nicht das Wahre, oder der hat mir gefallen, der hat mir nicht gefallen.' Und die Konsequenz ist dann das Politbarometer, nicht.
Außerdem neigten in Deutschland Politiker wie Bevölkerung zu Übertreibungen - die einen in ihrem Sprachstil, die anderen in ihrer Kritik. Beide müßten sich ändern und freilich zunächst einmal die Notwendigkeit solchen Wandels einsehen. Prägnant formulierte dies ein Bundestagsabgeordneter: ... weil wir ein hysterisches Volk sind. Die wirklich großen Fragen, die in der Politik stehen, selbst die kleinen, werden ja mit einem Aufwand sowohl von der Bürgerschaft wie von der Politik dargestellt ... daß sie zu Vergröberungen geradezu greifen müssen oder glauben zu müssen. ... Also auch der Bürger, der das Vorurteil hat: die Politiker reden nur in dieser Sprache - der hört auch gar nicht mehr zu, oder er hört auch nur das, was ihn in seinem Vorurteil bestätigt. ... Ich hab das von den Österreichern gelernt. Der Kreisky hat mal gesagt: Kein Prinzip verträgt seine letzte Konsequenz! Nur: in Deutschland ist dieser wichtige Satz also der allerunbekannteste. Da wird jedes Problem bis zur letzten Konsequenz durchbuchstabiert und wird dadurch töricht.
Daß auch bei der Bevölkerung Schuld liege, wenn die Sprache der Politik nicht so sei, wie man sie sich wünsche, wird noch in einem weiteren Argument betont: Zuhörer faßten in den konkreten Sprechsituationen, in denen Politiker vor ihnen stünden, nicht nach, sondern ließen - obschon sie dies ändern könnten - Dinge durchgehen, die sie anschließend dann kritisierten. Aus dem Mund eines Abgeordneten klingt diese Gegenkritik so: Und da ist sicher 'was dran, daß es oft zwischen dem, was man sagen will, und denen, die das hören, sagen wir: zu wenig Connection gibt. [Daß es Leute gibt,] ... die es zu wenig begriffen haben, was man da wirklich meint, [die] sich aber nicht trauen, weil der Abgeordnete 'so weit da oben steht', ihm zu sagen: 'Hör mal, was Du da wieder so quatscht, versteht keine Sau! Sag mal, was ist denn Sache?!' Ich sage es mal ein bißchen ganz brutal. Wo ich den Leuten eben immer sage: 'Verdammt nochmal, dann sagt halt, wenn ich nicht so rede, wie ihr das gerne wollt! Sagt mir das mal ganz offen und ehrlich, was ihr nicht verstanden habt, damit ich das dann auch entsprechend erklären kann!' Das ist oft der Punkt, gebe ich ganz ehrlich zu. Und, ja, da gibt's aber kein Patentrezept; ich wüßte nicht, wie man das generell aufdröseln kann, also wie man das so machen kann, damit also sowas nicht passiert.
Ferner komme differenziertes Argumentieren bei der Bevölkerung mitunter nicht an. Zwar müsse man ihr klar sagen, wofür man stehe. Doch zugleich müsse ein Politiker verlangen dürfen, daß er in seinen öffentlichen Aussagen sein eigenes Abwägen sichtbar machen könne - und dieser Wunsch bleibe oft unerfüllt. Man erwarte nämlich klare Aussagen und werfe dann, wenn ein Politiker meint, sie ändern zu müssen, ihm Wortbruch oder unbedachte Festlegungen vor. Schon gar nicht werde die öffentliche Darlegung von eigenen Skrupeln getrennt vom bloß taktischen 'Herumeiern'. Folglich müsse man vielfach anders reden, als man eigentlich wolle. Zumal ein FDP-Abgeordneter erörterte diese Probleme ausgiebig:
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Werner J. Patzelt Bei dieser Betrachtung [von der Unklarheit politischer Sprache] werden zwei Sachen durcheinandergemischt. Gerade Liberale wissen, daß sie nicht im Besitz der Wahrheit sind: daß ich mich jederzeit irren kann, daß ich alle meine Handlungen jederzeit korrigierbar machen muß. Ich darf also in der Politik nichts machen, was nicht umkehrbar ist. Und diese Selbstkritik, dieses Wissen, daß ich mir meiner Dinge immer unsicher sein muß, wird als Unsicherheit ausgelegt. Gerade den Liberalen wird vorgeworfen: Die wissen nicht, was sie wollen! Wir wissen sehr wohl, was wir wollen. Nur: wir wissen auch, daß wir uns täuschen können, daß wir das wieder rückgängig machen müssen. Und dieses Herumreden um den heißen Brei wird leider in der Öffentlichkeit verwechselt mit dem anderen Bereich, nämlich: 'Ich bin mir sicher, daß ich mich irren kann.' Das wird durcheinandergemischt, so daß eine - ich meine: sehr wichtige und sehr gute Eigenschaft, die Selbstkritik, in einen Topf geworfen wird mit dem Herumeiern um Probleme, das ich ebenfalls als ekelhaft empfinde. ... Diesen Teil der Kritik halte ich für berechtigt. Es kommt noch etwas dazu. Es gibt Situationen, wo man tatsächlich nur abwägen kann zwischen Extremen, wo man dieses Abwägen auch deutlich machen muß, wo man auch der Bevölkerung zeigen muß: 'Schaut her, ich komme mit mir selber nicht in's Reine. Wie ich mich entscheide, mache ich mich auch schuldig'. 29 ... Und solche Entscheidungen gibt es sehr, sehr viele in der Politik. Die meisten Entscheidungen sind so, daß ich immer abwägen muß zwischen verschiedenen Übeln und das kleinere Übel nehmen muß. Und dieses Abwägen müßte man auch zeigen -
und kann es nicht, da die durch öffentliche Erwartungen durchgesetzten Spielregeln politischen Sprechens anderes auferlegen. Als letzter Grund für durchaus beklagenswerte Defizite der Politikersprache wird die Sprachumwelt angeführt, in der Politiker sich b e w e g e n müssen. In ihr fehle es schlechterdings an guten sprachlichen Vorbildern: Natürlich hat ..., sagen wir mal, mit dem Verlust von Lebendigkeit in der Sprache zu tun, daß ein Abgeordneter tätglich schon soviel Zeitung lesen muß - eine Stunde ist eigentlich viel. Die Zeitungssprache ist nicht [vorbildlich] ... Es ist nur ein kleiner Teil von Kommentatoren, die eine gute Sprache haben. Durchaus lassen es also selbst jene Parlamentarier, welche die populäre Kritik an der Politikersprache mit Gegenkritik überziehen, keineswegs an Selbstkritik mangeln. In ihren Augen lautet die Frage keineswegs, ob die politische Sprache wirklich defizitär sei; denn dies wird ohnehin zugestanden. D i e richtigen Fragen lauteten vielmehr, ob die politische Sprache im Vergleich mit der Sprachpraxis anderer Berufszweige wirklich so übermäßig defizitär sei, w i e dies oft insinuiert wird, und ob die zur Kritik führenden Maßstäbe denn nicht
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Im Interview gab er folgendes Beispiel: „Da kommen Kinder aus dem Libanon mit einem Schild um den Hals in Deutschland an. Die Eltern haben sie 'raufgeschickt, weil sie dem Bürgerkrieg entgehen sollen. Ganz gleich, wie ich mich entscheide: ich mache mich schuldig. Wenn ich die Kinder zurückschicke in den Libanon, in dieses Krisengebiet, da mache ich mich schuldig - denn wie schlimm muß es dort sein, wenn Eltern ihre Kinder herschicken in dem Wissen, daß sie nach zwei Jahren den Eltern entfremdet sind! Und wenn ich sie dalasse, mache ich mich auch genauso schuldig: weil ich die Kinder hier nicht so aufziehen kann, wie man Kinder eigentlich aufziehen sollte".
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oft falsch geeicht seien, da sie von den besonderen Prägefaktoren politischen Sprechens schlechterdings abstrahierten.
4. Politische Sprachkritik: Auf den Weg zu realistischen Maßstäben! Zweifellos stellt die Sprache der Politiker eine eigene, höchst komplexe Textgattung dar. Mit ihr kunstvoll umzugehen, verlangt mehr Fertigkeiten und größeres Können, als man es sich gemeinhin vorstellt. Darum ist dringend davon abzuraten, es sich mit ihrer Beschreibung und Analyse allzu leicht zu machen. Bloße Ironisierung ist billig, flotte Kritik leichtfertig, und Politiker haben wie jeder andere Berufsstand einen Anspruch darauf, bei der Erfüllung professioneller Anforderungen auch mittelmäßig sein zu dürfen. Und sie auf Defekte ihrer Sprache immer wieder hinstubsen zu wollen wie Hunde mit der Nase in den Schmutz, geschieht oft ohne Not und bloß als Ritual: selbstkritisch sind Politiker hier längst. In konstruktiver Absicht wäre mehr gewonnen, wenn zunächst das Verständnis der Probleme politischen Sprechens gefördert würde und man dann praktisch nutzbare Maßstäbe setzte - Maßstäbe freilich nicht allein für die Produzenten politischer Sprache, sondern auch für deren Konsumenten, und natürlich auch für die Kritiker von beiden. Denn politisches Sprechen ist angepaßt an politisches Hören, politisches Argumentieren an politisches Verstehen. Solange aber Billiges seinen Markt hat, wird es nicht verschwinden, und solange gutgemeinter Kritik zu folgen hoffnungslos überfordert oder ins politische Abseits fuhrt, wird man ihre Maßstäbe für praktisch irrelevant halten. Politische Sprachkritik, die Praxisanwendung der politischen Sprachforschung, wird darum erst dann praktischen Nutzen haben, wenn sie Gegenstandsadäquanz erreicht und nicht länger an die bloß akademischen Beobachterperspektive gebunden bleibt.
5. Literatur Oberreuter, Heinrich (1980): Legitimität und Kommunikation. In: E. Schreiber/W.R. Langenbucher/W. Homberg (Hrsg.): Kommunikation im Wandel der Gesellschaft. Otto B. Roegele zum 60. Geburtstag. Düsseldorf, S. 61-76. Patzelt, Werner J. (1986): Sozialwissenschaftliche
Forschungslogik.
München, Wien.
Patzelt, Werner J. (1987): Grundlagen der Ethnomethodologie. Theorie, Empirie und politikwissenschaftlicher Nutzen einer Soziologie des Alltags. München. Patzelt, Werner J. (1989): Methoden politischen Sprechens: Die ethnomethodologische Perspektive. In: Forum für interdisziplinäre Forschung 2, S. 58-68.
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Patzelt, Werner J. (1989): Repräsentation, Repräsentanten, Repräsentierte. Amtsverständnis und Wahlkreisarbeit der bayerischen Abgeordneten. 2 Bde. Habilitationsschrift Passau. Patzelt, Werner J. (1991): Methoden politischen Sprechens: Das Analysepotential des ethnomethodologischen Ansatzes. In: E. Latniak/M. Opp de Hipt (Hrsg.): Sprache statt Politik? Politikwissenschaftliche Semantik- und Rhetorikforschung. Opladen, S. 156186. Patzelt, Werner J. (1993): Abgeordnete und Repräsentation. Amtsverständnis kreisarbeit. Passau. Patzelt, Werner J. (1994): Abgeordnete und ihr Beruf. Berlin.
und Wahl-
Redefreiheit zwischen Rederecht und Redezwang Überlegungen zur Bedeutung der Selbstthematisierung sprachlicher Kommunikation für die Reproduktion und Transformation parlamentarischer Institutionen am Beispiel der Entwicklung der Redefreiheit im englischen Parlamentarismus WILHELM HOFMANN
(Augsburg)
0. Anknüpfungspunkte 1. Zur Vorgeschichte der Redefreiheit 2. Redefreiheit als personaler Anspruch 3. Die Ordnung der Freiheit 4. Zusammenfassung 5. Literatur
0. Anknüpfungspunkte Die Tatsache, daß die politische Institution Parlament etwas in besonderer Weise mit dem Moment personaler Rede zu tun haben muß blieb weder den Zeitgenossen früher mittelalterlicher Parlamente noch der späteren historischen und politologischen Erforschung des Phänomens Parlament verborgen. Bereits lange bevor sich der Begriff „parliamentum" als terminus technicus für die Bezeichnung einer bestimmten politischen Institution mit geregelten Verfahren und einem mehr oder weniger fest umschriebenen Teilnehmerkreis durchgesetzt hatte, signalisiert eine Vielzahl von ursprünglich gleichwertigen Bezeichnungen, daß die Herstellung einer Gesprächssituation zentraler Zweck der Versammlungen vor dem König war (Treharne 1970, 71 f.; Richardson/Sayles 1981, 147; Kluxen 1983, 19 f.). Jedoch ist nicht nur die Institutionalisierung des Parlamentes mit der Benennung als einer Institution der Rede aufs Engste verknüpft. Die Beschäftigung mit der Bedeutung der Rede für den Parlamentarismus durchzieht von verschiedensten Standpunkten her die Geschichte des Parlamentarismus und bildet einen Argumentationsstrang von erheblicher Bedeutung. Ich möchte im folgenden einige Überlegungen über die Beziehung der Selbstthematisierung von parlamentarischer Kommunikation zur institutionel-
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len Selbstbeschreibung des Parlamentes anstellen. Dabei möchte ich nicht an aktuelle Debatten, wie die Selbstverständnisdebatten des deutschen Bundestages in den 80er Jahren anknüpfen, obwohl auch dort der Terminus Institution in Verbindung mit der parlamentarischen Rede und dem freien Mandat erscheint (Hamm-Brücher 1990, 297 ff.), sondern möchte das historische Großlaboratorium des englischen Parlamentarismus zur Heranziehung von Beispielen benutzen. Das hat zwar einige methodologische Voraussetzungen, die ich, so furchte ich, in diesem Zusammenhang werde nicht klären können, aber den Vorteil, die Genesis einer Institution in ihrem Verhältnis zur Sprache beobachten zu können, mithin einen Prozeß in dem genau die sprachbezogenen Topoi der Parlamentarismusreflexion und Kritik entstanden sind, die auch heute noch immer wieder in den Diskurs eingeführt werden 1 . Was mich an diesem Prozeß interessiert, ist unter der Voraussetzung, daß Herrschaftsformen und Kommunikationsweisen komplementär sind, welche Bedeutung für die politische Institution Parlament dem reflexiven und damit Selbstthematisierung ermöglichenden Potential der Sprache zukommt. Parlamentarische Institutionen sollten dabei als politische Institutionen im engeren Sinn in den Blick kommen, die nach einer im Fach weithin akzeptierten Bestimmung Gerhard Göhlers als „Regelsysteme der Herstellung und Durchführung verbindlicher, gesamtgesellschaftlich relevanter Entscheidungen" begriffen werden können, deren überpersönliche auf Normierung und Akzeptanz gehenden Leistungen durch die Aktionen angebbarer Personen zustande kommen (Göhler 1990). Beleuchtet werden soll die sprachliche Grundstruktur, die die Erbringung der angesprochenen Leistungen ermöglicht am Beispiel der historischen Entwicklung der Redefreiheit. Dieses Erkenntnisinteresse läßt sich meines Erachtens nochmal selbst in zweifacher Perspektive rechtfertigen, respektive an bestehende Diskussionslagen rückbinden. Da ist einmal die Beobachtung, daß, wenn man von der Rhetorik als der klassischen Disziplin der systematischen Bearbeitung und damit ReflexivMachung von Kommunikation unter pragmatischer Perspektive absieht, dem
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Das Verhältnis von Sprachlichkeit und Historizität der politischen Institution Parlament habe ich versucht in meiner Dissertation mit dem Titel: Repräsentative Diskurse. Untersuchungen zur sprachlich reflexiven Dimension parlamentarischer Institutionen am Beispiel des englischen Parlamentarismus, Augsburg 1994, näher zu bestimmen. Ich verdanke der Teilnahme an mehreren DFG-Kolloquien, die mir Professor Gerhard Göhler (Berlin) ermöglicht hat, eine Reihe von Anregungen, die sich nicht durch Fußnoten ausdrücken lassen. Der Betreuer meiner Dissertation, Professor Theo Stammen (Augsburg), hat nicht nur die Formulierung des Themas angeregt, sondern auch maßgeblich die Richtung der Problembeaibeitung gefordert. Seine Arbeiten zum Verhältnis von Sprache und Institutionen bilden den Hintergrund der im Folgenden weiterentwickelten Thesen (Stammen 1969; ders. 1971).
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Phänomen der Reflexivität kommunikativer Prozesse in der gegenwärtigen Theoriebildung der Sozialwissenschaften eine prominente Stellung zukommt. Sowohl in den Arbeiten von Jürgen Habermas, wie auch denen Niklas Luhmanns hat sie eine für die gesamte Theorie maßgebliche Bedeutung. Habermas sieht im reflexiven Potential der von der natürlichen Sprache getragenen lebensweltlichen Kommunikation die formalpragmatisch einholbaren Voraussetzungen der praktischen Vernunft überhaupt angelegt und möchte aus der funktionalen Dimension der sprachlichen Handlungskoordinierung der Gesellschaftstheorie eine normative Dimension gewinnen (Habermas 1981). Für Luhmann, der immer wieder die Bedeutung reflexiver Mechanismen betont hat (Luhmann 1966, ders. 1973), gehören die über Kommunikation laufenden reflexiven Aufstufiingen der systemerzeugenden Strukturen zu den Überlebensbedingungen sozialer Systeme unter den Bedingungen von Komplexität überhaupt, da sie Grundlage aller Selbststeuerung sind (Luhmann 1984, 210 f.). Beide Autoren möchten, auch wenn sie zu weitgehend verschiedenen Schlußfolgerungen gelangen, den bewußtseinsphilosophischen Begriff von Reflexion durch das reflexive Potential von Kommunikation ersetzt sehen. Wenigstens erwähnen muß man, daß beide, Luhman wesentlich weitergehend als Habermas, in der Abschätzung der Möglichkeiten der Politik von ihren theoretischen Positionen aus zu wenig schmeichelhaften Urteilen kommen. Habermas traut in seinem neuesten Buch dem postkonventionellen und formalisierten Recht wesentlich mehr Problemlösungspotential für moderne Gesellschaften zu als der Politik, wobei sich die RechtsfÖrmigkeit der Kommunikation so in den Vordergrund geschoben hat, daß die Kommunikation, obwohl sich der Machtbegriff in bürokratische und kommunikative Macht verdoppelt hat (Habermas 1993, 208 f.), eher an Bedeutung verliert als gewinnt. Luhmanns Theorie, wenngleich ihr Anregungspotential nicht unterschätzt werden sollte, endet gar, was mit seinem Begriff von Sprache zusammenhängt, in einer Theorie der politischen Impotenz (Haller 1987). Wenn von beiden Positionen aus die Bedeutung parlamentarischer Institutionen problematisierbar ist, so verbindet sie dies mit dem zweiten Anknüpfungspunkt meiner Perspektive, nämlich dem theoretischen Diskurs, der explizit auf die Institution Parlament Bezug nimmt. Texte, die wir gewöhnlich unter dem Sammelbegriff Parlamentarismustheorie einordnen, weisen eine auffällige Tendenz zur Thematisierung der Sprachlichkeit der Institution Parlament auf, eine Tendenz, die in der bösartig pointierten Parlamentarismuskritik eines Carl Schmitt eine spezielle Variante des Diskursprinzips, die Diskussion, zur „negativen Leitidee" des Parlamentarismus hochstilisiert. Schmitts These vom Wegfall der strukturbildenden idealen Voraussetzungen des Parlamentarismus weist der „Diskussion der Diskussion" (Schmitt 1926, 89) einen zentralen Stellenwert in seiner polemischen Argumentation zu. Das reflexiv Werden des parlamentarischen Diskurses ist für ihn ein Anzeichen dafür, daß die bürgerlich liberale Vorstellung der parlamentarischen Ordnung end-
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gültig ins Stadium der Dekadenz eingetreten ist. Die Redefreiheit, die er für ein wesentliches Konstitutionsmoment des Parlamentarismus hält, nur durch freie Rede macht Diskussion als Prinzip überhaupt einen Sinn, ist ein ideales Beispiel für den angesprochenen Wegfall der stukturbildenden Bedingungen. Das einschlägige Privileg lebt von seiner Aktualisierung in der Rede des freien Abgeordneten, der ungezwungen seine Meinung in der Debatte äußert (Schmitt 1928, 317). Schmitts äußerst wirkungsmächtige Polemik, die durch wiederholte Widerlegungen (Ritter 1969; Jäger 1973; Birke 1975) ähnlich wie andere überidealisierende Parlamentarismuskritik offensichtlich nicht aus der Welt zu schaffen ist, läuft letztlich darauf hinaus, mit dem Untergang der „Diskussion" den Untergang der Repräsentativinstitution Parlament zu diagnostizieren (Schmitt 1928, 319). Ich möchte den Versuch, meine eigenen Überlegungen an bestehende Argumentationen anzuknüpfen, hier abbrechen und im klaren Bewußtsein, daß Carl Schmitt den englischen Parlamentarismus prinzipiell für nicht theoriefähig gehalten hat, ja glaubte, daß die Beschäftigung mit dem englischen Modell allzuoft die Theorie ersetzt habe (ebd., 307 f.), am Beispiel der Redefreiheit der Frage nachgehen, wie sie sich als ein subjektives Recht des Abgeordneten herausgebildet hat und welcher Bedeutung diesem Redemodus für die Diskursordnung des Parlamentarismus zukommt. Die Rede über die Art der Rede stellt dabei zweifellos eine Selbstthematisierung der sprachlichen Dimension der Institution Parlament dar, die beides zu leisten hat, nämlich die Bestimmung dessen, was freie Rede soll und darf sowie welche Bedeutung sie innerhalb des Institutionengefüges hat. Es müßte sich auch zeigen lassen, was freie Rede überhaupt bedeuten soll und worin ihre Rolle bei der Transformation des Parlamentes besteht. Wir bewegen uns damit bereits auf der dritten Ebene einer reflexiven Aufstufüng im Verhältnis von Sprache und Politik, die sich idealtypisch wie folgt bestimmen läßt: -
Rede als Politik. Auf dieser Ebene ereignet sich Politik in der Form sprachlicher Akte, die das politische Handeln nicht nur zufällig begleiten, sondern es wesentlich ausmachen. Soll etwas politische Relevanz erreichen, so muß es zur Sprache gebracht werden. - Rede über politische Ordnung. Wenn Politik wesentlich durch Sprechen geschieht, so bedeutet dies, daß innerhalb des Rahmens, d.h. des Regelsystems das die Sätze zuläßt und begrenzt, gesprochen wird. Es ist aber auch zu erwarten, daß nicht nur innerhalb der Regeln gesprochen wird, sondern über die Regeln. - Rede über politische Ordnung als einer sprachlichen Ordnung. Außerdem vermag im sprachlichen Medium nicht nur die Struktur des politischen Regelsystems, das die Institutionen ausmacht, thematisch zu werden, sondern auch die genuin sprachliche Struktur der politischen Ordnung. Damit wer-
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den dann die anderen Dimensionen des Verhältnisses von Politik und Sprache in der Kommunikation als Kommunikationsverhältnisse thematisiert. Was bedeutet, daß die durch „strukturelle Gewalt" gebildeten historischen „Verständigungsformen" in den Diskurs eingeführt werden können (Habermas 1981, II 278 f.)
1. Zur Vorgeschichte der Redefreiheit Wenn man von Redefreiheit spricht, so liegt der Verdacht nahe, daß sie als ein GegenbegrifF oder doch zumindest in Abhebung von Beschränkungen der Rede zu definieren sein müßte, und daß diese Beschränkungen wiederum als Reaktionen auf die genuin politisch relevante Dimension menschlichen Sprechens eingeführt und formuliert worden sind. Und in der Tat, bevor uns die Redefreiheit begegnet, finden wir Indizien für eine Beschränkung und Regulierung der Rede. Das als Scandalum Magnatum bekannte cap. 34 des Statuts von Westminster (1275) legt fest, daß, da Geschichten verbreitet worden seien, die zur Uneinigkeit und Unordnung zwischen König, Magnaten und Volk geführt hätten, ein jeder in Haft zu nehmen sei, der solche Geschichten erzähle, bis er erklärt habe, wer das „Gerede" begonnen habe (EHD III, 406). Das Statut wurde nach der Erfindung des „Impeachment" im Parlament von 1376 zweimal (1378/88) in seiner Definition ausgeweitet und sollte in seinen Neufassungen vor allem Kronbeamte vor einer parlamentarischen Anklage schützen (Roskell 1965, 37 f.). Neben diesen frühen Versuchen der Begrenzung des der Rede innewohnenden Bedrohungspotentials für die bestehende Ordnung findet sich das auffällige Phänomen, daß die erste Geschäftsordnung des englischen Parlamentarismus, der sogenannte Modus Tenendi Parliamentum (1321), der entstanden als oppositioneller Traktat durch Transkription in den Statute books durch die Jahrhunderte hindurch quasi-legale Autorität erlangen sollte, nicht nur Aussagen über die Art der Rede in einem mittelalterlichen Parlament macht, sondern die Anwesenheit des Königs erzwingen will, da dessen Abwesenheit im Parlament zu gefährlichen Reden führe, die für das Reich und das Parlament gleichermaßen gefährlich seien. „... clamor et murmur esse in Parliamento pro absentia regis, quia res dampnosa et pericolosa est toti communitati Parliamenti et regni..." (cap. XIII De Absentia Regis). Ende des 14. Jahrhunderts verweigern die Lords die Entsendung einer Delegation zu den Commons, da sie deren ungebührliche Redeform abschreckt und schlagen eine Verhandlung in einem gemischten Commitee, ein Intercommuning vor (Rot.Parl. III 36 b). Sehen wir von untypischen Ausnahmen, wie Younge's Case ab (Neale 1924, 264), so können wir jedoch für das Mittelalter nicht von der Beanspruchung eines individuellen Rederechtes ausgehen. Am nächsten kommt solchen modernen Vorstellungen noch die Thematisierung von etwas, was man Rede-
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freiräume nennen könnte, die zwar nicht als ein individuelles Recht definierbar sind, jedoch sehr viel mit der institutionellen Ordnung zu tun haben. Solche Freiräume werden entweder von den Commons erbeten, wenn sie, wie etwa im Jahre 1401, um angemessene Gelegenheit zur Beratung nachsuchen (Rot. Pari. III 455) oder wenn der Speaker bei seiner Präsentation vor dem König seine amtsspezifischen Petitionen vorträgt. Diese auf die Amtsausübung bezogenen Bitten des Speaker, die er vor seiner Bestätigung durch den Monarchen rituell vorzubringen hat, zielen im wesentlichen darauf ab, nicht als Person für das haftbar gemacht zu werden, was er von Amts wegen fur die Commons dem König mitzuteilen haben. Der Amtsträger, dessen Amt Sprechen ist, soll von der persönlichen Verantwortung für das Gesagte entbunden werden, es soll den Commons als Teil des Parlamentes zugeschrieben werden (Rot. Pari III 5 b), ein Verfahren, das immerhin schon 1399 benutzt werden konnte, um durch die Deklaration einer Person die Treue des ganzen Reiches gegenüber dem König zurückzunehmen (Rot. Pari. III 424 a). Die in diesen Zusammenhängen verwendeten Formeln legen außerdem besonderes Gewicht auf das Recht der Auftraggeber, in diesem Fall der Commons, die mitgeteilte Botschaft ergänzen zu dürfen, da eine Fehlerhaftigkeit der Übermittlung möglich ist. Der in diesem Kontext entstehenden Praxis der „disabeling speech" des Speaker elect vor den Commons und dem König, einer institutionalisierten Unfähigkeitserklärung, kommt für die weitere Entwicklung der Redefreiheit erhebliche Bedeutung zu. Sie macht den kommunizierenden Speaker durch eine Erklärung seiner eigenen Unfähigkeit, das Amt auszuüben, klein und damit unverantwortlich. Offensichtlich dient diese Rede ebenfalls der Entlastung von persönlicher Verantwortung für die Rede im Amt und hat ein erhebliches konfliktverminderndes Potential, da sich Meinungsverschiedenheiten nun auf Mißverständnisse hin auflösen lassen. Die Schutzfünktion der Petition des Speakers und der rituellen Unfähigkeitserklärung angesichts des immensen außerkommunikativen Machtgefalles zwischen dem König und einem commoner leuchtet unmittelbar ein. Das Moment der Entpersonalisierung des Gesagten, das hier noch konkrete Schutzfunktionen für den Redner zu erfüllen hat, sollte sich in der weiteren Entwicklung der parlamentarischen Redeordnung auf für die Konfliktvermeidung innerhalb des Unterhauses als tragendes Strukturmoment erweisen. Wesentliche Dimensionen dieser Versuche Kommunikationsfreiräume durch Verschiebung der Verantwortung für das Gesagte zu schaffen und in den Diskurs einzuführen, begegnen uns bei der ersten, nunmehr stärker personal definierten Erwähnung der Redefreiheit durch die Petition des Speaker Thomas More 1523 wieder. Seine Ausführungen zur freien Rede, die auffallig ausführlich gerechtfertigt werden muß, beziehen sich ausdrücklich auf die Redeform im House of Commons und übernehmen aus den vorherigen Diskursen den Topos, daß die möglicher Weise anstößige Rede nicht als eine in Frage
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Stellung königlicher Rechte gemeint gewesen sein kann, sondern in den persönlichen Defiziten des Sprechers ihren Ursprung hat. Solche Reden seien auf die mangelnde Redefertigkeit und den übergroßen Eifer des Redners zurückzufuhren. ... yet, most victorious prince, since among so many wise men neither is every man wise alike, nor among so many men like well witted, every man like well spoken. And it often happeneth that, likewise as much folly is uttered with painted polished speech, so many, boisterous and rude in language, see deep indeed and give right substantial counsel. And since also in matters of great importance the mind is often so occupied in the matter that a man rather studieth what to say than how, by reason whereof the wisest man and the best spoken in the whole country fortuneth among, while his mind is fervent in the matter, somewhat to speak in such wise as he would afterward whish to have been uttered otherwise, and yet no worse will had when he spake it than he hath when he would so gladly change it;... (Tudor Constitution, 270)
Auch hier sollen Verstöße gegen eine vom König erlaubte angemessene Rede in persönliche Schwächen und damit politische Bedeutungs- und Wirkungslosigkeit übersetzt werden. Mores Ausführungen enthalten allerdings über diese Argumentationsweise hinaus eine Vorstellung, die die endgültige Durchsetzung der Redefreiheit als eines personalen Privileges eines jeden rechtmäßig gewählten Mitglieds der Commons wie ein roter Faden durchziehen wird. Gemeint ist die Argumentationsstrategie in der More die Notwendigkeit der königlichen Nachsicht gegenüber den Äußerungen im Unterhaus mit den Beratungsgegenständen und damit der Funktion des Parlamentes in Verbindung bringt. Die Beratungsgegenstände des High Court of Parliament erfordern die Möglichkeit eines Redefreiraumes, oder personal definiert einer Möglichkeit ohne Furcht vor Sanktionen angstfrei reden zu können. ... therefore, most gracious sovereign, considering that in your High Court of Parliament is nothing entreated but matter of weight and importance concerning your realm and your own royal estate, it could not fail to let and put to silence from the giving of their advice and counsel many of your discreet Commons, to the great hinderance of the common affairs, except that every of your Commons were utterly discharged of all doubt and fear how anything that it should happen them to speak should happen of your Higness to be taken ... (ebd.)
Spätestens von diesem Moment an fällt die Selbstthematisierung der Sprachlichkeit und ihrer Modi im Parlament mit der Selbstthematisierung der Institution Parlament weitgehend zusammen. Sie fällt zusammen, weil eine Verbindung zwischen der Art der Rede und, um es möglichst neutral zu sagen, den Funktionen der Institution hergestellt wird, die den eigentlichen Sinn des Parlamentes zu beschreiben versuchen. In Mores Ausführungen bleibt die Redefreiheit eine auf der Gnade des Königs aufruhende Erlaubnis und dessen Sanktionsrecht wird nicht in Zweifel gezogen, vielmehr ist das Moment der vorweggenommenen Entschuldigung noch deutlich strukturbestimmend. Einige Zeit später finden sich, nachdem entlang der religionspolitischen Auseinandersetzungen nach der Abspaltung
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von Rom der Tatbestand des Verrates durch Worte (treason by words) rechtlich definiert worden war (Bellamy 1979), was eine erneute Reaktion auf das delegitimierende Potential politisch relevanter Rede darstellt, in den Parlamenten Elisabeths weitaus radikalere Formulierungen zum Thema Redefreiheit.
2. Redefreiheit als personaler Anspruch Peter Wentworth Fragen von 1587 wollen nur noch verräterische Worte, also solche, die die Rechtmäßigkeit der parlamentarisch geregelten Thronfolge und die Suprematie der Krone bezweifeln, aus dem parlamentarischen Diskurs ausschließen, eine Position, die ihn übrigens in den Tower gebracht hat (D'Ewes, 410 f). Bereits 1575 bringt er die nun eindeutig personal definierte Freiheit, die eigene Meinung zu sagen, in emphatischer Weise mit der Dignität der Häuser des Parlamentes und der außerordentlichen Bedeutung der Verhandlungsgegenstände, in seinem Fall ist die Religion und das Heil der Seele gemeint, in Verbindung. ... in this House which is termed a place of free Speech, there is nothing so necessary for the preservation of the Prince and the State as free Speech, and without it is a scom and mockery to call it a Parliament House, for in truth it is none, but a very school of Flattery and Dissimulation, and so a fit place to serve the Devil and his Angels in, and not to glorify God and benefit the Common-Wealth. (...) So that to avoid Everlasting Death and Condemnation with the High and Mighty God, we ought to proceed in every Cause according to the matter, and not according to the Princes Mind; and now I will shew you a reason to prove it perilous always to follow the Princes Mind. Many times it falleth out, that a Prince may favour a cause perilous to himself and the whole state; what are we then if we follow the Princes Mind, are we not unfaithful unto God, our Prince and State ? Yes truly, we are Chosen of the whole Realm, of a Special Trust and Confidence by the reposed in us, to foresee all such Inconveniences. (D'Ewes, 237 f.)
Wenn das ewige Leben auf dem Spiel steht, dann darf der Bemühung, den richtigen Weg fur das Reich festzulegen, keine Beschränkung auferlegt werden. Die religiös aufgeladene Beanspruchung puritanisch-personaler Gottessuche fur das Reich fuhrt zu einer emphatischen Gleichsetzung von Redefreiheit, Parlament und Gottesdienst, die an einem Ideal subjektiver Gewißheit Maß nimmt, das außerkommunikative Autorität zunächst im Bereich der Religionspolitik nicht mehr zu akzeptieren in der Lage ist. Auf Versuche, außerkommunikative Autorität ins Spiel zu bringen, lautet die Antwort schlicht: „... we will pass nothing before we understand what it is;..." (ebd., 240). Gleichzeitig legt die hier angeführte Aussage ein Argumentationsmuster an den Tag, das eine beispiellose Karriere machen sollte. Wentworth bringt nicht nur das spezielle Vertrauensverhältnis zwischen den Repräsentierten und den Repräsentanten in Anschlag, er verdoppelt die Verpflichtungsbeziehung, die zwischen Monarch und Repräsentanten besteht. Wer dem empirischen Willen der Königin widerspricht, ist derjenige, der sich als wahrhaft treuer Untertan er-
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weist, indem er sie gleichsam vor sich selbst schützt (ebd.). Damit formuliert er radikal die in der zeitgenössischen Traktateliteratur immer wieder von Parlamentariern verlangte Standhafligkeit in einem realen politischen Kontext zu einem persönlichen Anspruch um, der institutionell gesichert werden muß. Die von ihm angesprochene Bedeutung des Widerspruchs sollte unter vollkommen veränderten politischen und gesellschaftlichen Bedingungen von John Stuart Mill zu einer der Hauptfunktionen der durch Beratung getragenen Institution Parlament werden. Mill spricht von der „function of Antagonism" (Works XIX, 459) und legt dar, daß die Diskursordnung des Parlamentes daran gemessen werden muß, ob sie den Spielraum des Widerspruches breit genug definiert um die weitere, nun säkular verstandene Entwicklung der Gesellschaft zu ermöglichen. Wentworth bietet darüber hinaus klare Vorstellungen, wie das House of Commons in der intrainstitutionellen Kommunikation (Oberreuter) die Autonomie des eigenen Diskurses sicherstellen sollte. Die Abgeordneten sollten sich weigern, Botschaften zum Verhandlungsgegenstand zu empfangen, also vor allem Einmischungen des Monarchen durch Ignorieren wirkungslos machen und sie sollten umgekehrt dafür sorgen, daß die Krone keine Kenntnis von den Verhandlungen des Hauses hat. Beide Vorstellungen reagieren auf die bereits mehrfach erwähnte außerkommunikative Asymmetrie des politischen Diskurses, sie wurden im 17. Jahrhundert mehrfach präzisiert, etwa in Henry Elsynges Traktat The Manner of Holding Parliaments in England 1626 (ebd. 180) bzw. schon in der Apology von 1604 (Tanner 1960, 219/223), wo von „misinformation" des Königs die Rede ist und vorsichtig von „reproofs" gesprochen wird, und gehörten Ende des 18. Jahrhunderts, an John Hatsells Precedents und Proceedings ablesbar (Hatsell II, 352) zum normalen Kanon der Fiktionen, die den parlamentarischen Diskurs strukturierten. Diesen Fiktionen der von der Krone nicht beeinflußten Debatte entspricht in der inneren Ordnung des Diskurses das Verbot des „to name the crown", das verhindern sollte, daß die königliche Person in der Rede entweder kritisiert oder zu Einschüchterungszwecken mißbraucht werden konnte (ebd.). Ich möchte nun am Beispiel der sich verschärfenden Konfliktlinien des 17. Jahrhunderts die Konturen der endgültigen Durchsetzung parlamentarischer Redefreiheit noch etwas schärfer herausarbeiten. Noch Elisabeth I. konnte, wenn auch mit Mühe eine Diskussion im House of Commons zum Stillstand bringen, da ihr Recht zur Bestrafung prinzipiell nicht in Frage gestellt wurde. Auch im frühen 17. Jahrhundert finden sich Äußerungen in Debatten, die eine Anordnung des Königs mit dem Brüllen eines Löwen vergleichen, dem es angstvoll zu gehorchen gelte (Tanner 1960, 213). Gleichwohl setzt sich unter den ersten Stuarts in den Streitigkeiten zwischen Krone und Parlament das Konzept persönlicher freier Rede durch. George Petyts Kompilat bestehender Geschäftsordnungstraktate beginnt am Ende des 17. Jh. mit der Bemerkung, der Name Parlament komme von
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„parier le ment", d.h. davon, daß man dort seine Vorstellungen klar und offen aussprechen solle (Petyt 1690, 1). Diese Beschreibung der auf die Institution bezogenen Rolle des Parlamentariers, das in Petyts Text ein hohes Maß an Selbstverständlichkeit erreicht hat, läßt sich schon am Beginn des Jahrhunderts in einem William Hakewill zugeschriebenen Manuskript nachweisen, dort allerdings taucht es noch als Vermutung auf (BIHR 43, 1970). Ich habe behauptet, die Etablierung dieses Selbstbeschreibungstopos geschähe in der Verlängerung der Argumentation von Morus und Wentworth und will dies kurz zeigen. Im Auge zu behalten sind dabei die Konturen der Redemöglichkeit, die ja nicht als Beliebigkeit erscheinen sollte. Das gilt zweifellos für die Ordnung der Rede in der parlamentarischen Situation. Zuerst spricht der König. Die am Beginn eines jeden Parlamentes stehenden Reden, Predigten und Ermahnungen dienen ja aus der Perspektive des Monarchen zu nichts anderem als zur Definition der Diskurssituation, will sagen zur Bestimmung der Zielfimktionen des parlamentarischen Diskurses. Gemeint ist damit die Deklaration des Besteuerungsfalls und der daraus resultierenden Pflicht der Repräsentanten, über die Art und Höhe der Besteuerung zu debattieren. Ich kann hier leider nicht auf die elementare Bedeutung der Besteuerung fur das Diskurssystem Parlament eingehen. Für das hier relevante Thema muß die Feststellung genügen, daß der erhebliche kommunikative Aufwand, der zur Besteuerung nötig war, wesentlich dazu beiträgt, aus der Perspektive der Krone einen Redefreiraum zu tolerieren, der den parlamentarischen Diskurs schon lange vor der klassischen Periode des Parlamentarismus strukturiert hat. Was sich ein Monarch unter einer solchen angesprochenen beschränkten Diskurssituation im 17. Jahrhundert in etwa vorgestellt hat, läßt sich vielleicht am deutlichsten am Beispiel des redefreudigen James I. zeigen. Für ihn ist es Blasphemie zu diskutieren, was Gott und König tun können, also ihre Rechtsansprüche in den Diskurs zu ziehen, was sie wollen, ist allerdings in Theologie und Politik angemessener Gegenstand einer Debatte (Pol. Works 21/332). Für die freie Rede bedeutet das, sie ist nur erlaubt, wenn es um die im Verstehen angelegte Notwendigkeit der Interpretation zum Zwecke des Gehorchens geht. Deswegen kann das Parlament nicht der Ort sein, an dem jeder seine beliebigen privaten Überzeugungen äußert (ebd., 289). Vielmehr geht es darum, in einem rein funktionalen Diskurs die vom Herrscher definierten Entscheidungsgegenstände zu bearbeiten, wobei eine ganze Reihe von Themen ausgeschlossen sind, die die extensiv interpretierten Prärogativrechte des Monarchen berühren. Gegen diese systematisch restriktive Auslegung des Diskursraumes, die das Privileg der Redefreiheit als auf der königlichen Gnade aufruhende und jederzeit rücknehmbare Einrichtung bestimmt, systematisiert das House of Commons seine Vorstellungen eines freien parlamentarischen Diskurses, indem es die Redefreiheit mit der Freiheit des Reiches gleichsetzt, sein ehrwürdiges Al-
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ter behauptet und den Modus der freien Rede als essentiellen Grund seines repräsentativen Charakters bestimmt. Die Apologie von 1604 formuliert: The rights of the liberties of the Commons of England consisteth chiefly in these three things: First, That the shires, cities, and boroughs of England by representation to be present, have free choice of such persons as they shall put in trust to represent them. Secondly, That the persons chosen, during the time of the Parliament as also of their access and recess, be free from restraint, arrest, and imprisonment. Thirdly, That in Parliament they may speak freely their consciences without check and controlment, doing the same with due reverence to the Sovereign Court of Parliament, that is, to your Majesty and both the Houses, who all in this case make but one politic body whereof your Highness is the Head. (Tanner 1960, 223 f.)
Die in der Wahl geschehende Errichtung des parlamentarischen „trust" (Maitland 1911, Gralher 1973) ist untrennbar mit dem institutionell durch Privilegien zu sichernden Recht der freien Rede verknüpft. Nur in der unbehinderten Rede, die allerdings keineswegs schrankenlos geübt werden soll, vermag parlamentarische Repräsentation als politische Treuhänderschaft zu existieren, die dann in der Trinität von König, Lords und Commons den politischen Körper des Reiches konstituiert, der außerhalb bestimmter Kommunikationsverhältnisse nicht denkbar ist. Einige Jahre später halten die Commons in der Protestation vom Dezember 1628 fest, daß es ihr Recht als Teil des High Court of Parliament ist, alle wichtigen Gegenstände, die das Reich betreffen, zu behandeln, daß dies geschehe wann sie wollen und in welcher Reihenfolge sie es wollen. That the liberties, franchises, privileges, and jurisdictions of Parliament are the ancient and undoubted birthright and inheritance of the subjects of England; and that the arduous and urgent affairs concerning the King, State, and defence of the realm and of the Church of England, and the maintenance and making of laws, and redress of mischiefs and grievances which daily happen within this realm, are propper subjects and matter of counsel and debate in Parliament; and that in the handling and proceeding of those businesses every member of the House of Parliament hath, and of right ought to have, freedom of speech to propound, treat, reason, and bring to conclusion the same; and that the Commons in Parliament have like liberty and freedom of speech to propound, treat reason, and bring to conclusion the same; and that the Commons in Parliament have like liberty and freedom to treat of these matters in such order as in their judgments shall seem fittest;... (ebd.)
Die Protestation übernimmt damit nicht nur Forderungen, die schon Peter Wentworth erhoben hatte als Forderungen des ganzen Hauses, sie geht in verschiedener Hinsicht über diese Forderungen hinaus, indem sie sie zusammenfaßt und präzisiert. Zwar sind die Rechte der Commons noch in einer Analogie zum ganzen Haus definiert, was die Parallelstruktur der Argumentation (the House of Parliament hath/the Commons in Parliament have) verdeutlicht, der Rest des Textes ist aber in seinem Charakter nur mehr verdeckt revolutionär.
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Was dort als aus der Vorzeit ererbt auftaucht, ist im Wesen außerordentlich modern. Die Redefreiheit wird als eine korporative Freiheit, als Freiheit der Tagesordnung definiert. Diese findet in der weiteren Entwicklung ihren Ausdruck in der rituellen ersten Lesung einer bill nach dem Hören der King's speech zur Eröffnung des Parlamentes, die demonstrativ einer Aussprache über die Thronrede vorausgestellt ist (Hatsell II, 308; May 1989, 233). Im Rahmen dieser Freiheit muß jeder ein Recht haben, sich zum Gegenstand zu äußern, was die Freiheit des Hauses für die individuellen Mitglieder fruchtbar macht. Nur weil im Parlament frei gesprochen werden kann, vermag die Institution sachangemessene Lösungen für die Probleme des Reiches zu finden, führt Edward Coke bereits im Parlament von 1625 aus (Gardiner 1873, 87). Nach der Restauration (1667) wird klar definiert: No man can make a doubt, but whatever is once enacted is lawful; but nothing can come into an Act of Parliament, but it must be first affirmed or propounded by somebody; so that, if the Act can wrong nobody, no more can the first propounding: The Members must be as free as the Houses. An Act of Parliament cannot disturb the State; therefore the debate that tends to it cannot, for it must be propounded and debated before it can be enacted. (Hatsell I, 257)
Da ein Parlamentsgesetz das Staatswesen nicht stören könne, könne auch kein Akt, der zu diesem führt, dem Gemeinwesen schaden. Die Durchsetzung freier parlamentarischer Rede scheint also von der Thematisierung des Verhältnisses von individuellem und korporativem Recht auf der einen und der Funktion der Institution auf der anderen Seite wesentlich bestimmt worden zu sein, wobei diese Selbstthematisierung eine Reinterpretation des Verhältnisses von Diskursordnung und Institution bedeutet, die gegen eine Beeinflussung und Steuerung des Diskurses von außen durchgesetzt wird. Es ist die Verbindung zwischen der sprachlichen Ordnung des Parlamentes und ihrer Beziehung zur sachlichen Dimension der zu treffenden Entscheidungen, die eben nur nach einem Kommunikationsprozeß getroffen werden können (debated before it can be enacted), die in ihrer argumentativen Verlängerung direkt zu Edmund Burkes folgenreicher Ablehnung des imperativen Mandates führen konnte. Nicht nur gegen die Person des Monarchen kann die notwendig sprachliche Ordnung der Institution ausgespielt werden, sondern auch gegen die Repräsentierten, die zwar ein Recht auf Artikulation haben, jedoch unter den Bedingungen der virtuellen Repräsentation kein Recht zur unmittelbaren Entscheidung (Works II, 95 f.).
3. Die Ordnung der Freiheit Damit aber stellt sich die Frage der inneren Ordnung der Institution unter dem Aspekt ihrer Sprachlichkeit. Um es zugespitzt zu formulieren: die Außenregu-
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lierung des Diskurses muß zunehmend durch Selbstregulierung ersetzt werden. Ablesbar ist dieser Prozeß an der Textsorte der parlamentarischen Geschäftsordnungstraktate, die in überraschender Kontinuität existieren und schon auf den ersten Blick den erheblichen Regulierungsbedarf des Diskurses signalisieren. Ihre Bedeutung fur die „Identität" des Parlamentarischen Diskurses erhalten sie meines Erachtens dadurch, daß sie, unabhängig von ihrer textpragmatischen Ausrichtung, sei es als praktisches Nachschlagewerk, als Manifest gegen monarchische Ansprüche oder als Teil von allgemeinen Beschreibungen des Regierungssystems eine an der Diskursordnung orientierte Selbstbeschreibung der politischen Institution Parlament darstellen, da sie sich nicht in der Deskription einer nun einmal eingeübten Praxis der Herbeiführung von Entscheidungen erschöpfen, sondern ein nicht zu unterschätzendes präskriptives Potential vorweisen können. Nahezu alle in diesen Texten enthaltenen Regelbeschreibungen beziehen sich sowohl auf die sprachliche Organisation der Institution und damit die Institutionalität der möglichen kommunikativen Akte (Wunderlich 1976; Giesecke 1988), wie auch der Bedeutung der jeweiligen Diskursordnung für die Funktionen der Institution Parlament. Es ist diese Sonderstellung der Textsorte „Geschäftsordnungstraktat", die sie zu einem Bindeglied zwischen dem reflexiven Diskurs des Parlamentes und stärker systematisch orientierter Theoriebildung macht. Als Beispiel möchte ich einen der frühesten Texte aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, also einem Zeitraum zwischen Mores Petition und der endgültigen Durchsetzung der Redefreiheit, anführen, nämlich John Hookers Order and Usage von 1572. Hookers Text muß in einer Reihe mit anderen Traktaten gesehen werden, die sich alle mehr oder weniger mit der Beschreibung und Begründung der parlamentarischen Redeordnung beschäftigen. Dabei wird noch immer auf die möglichen Interventionen der Krone verwiesen. Die Furcht vor Strafe, weil die Reden den königlichen Zorn erregen können (Lambarde 1584, 64), wird aber ergänzt durch immer mehr in den Vordergrund tretende Hinweise darauf, daß die aktive Beratung in einer vielköpfigen Versammlung ohne Regeln nicht möglich ist (Smith 1562/1583, 55), da die Beratungssituation selbst bereits Indiz für eine grundlegende Verschiedenheit der Positionen der Beteiligten ist, die als Meinungsverschiedenheit hingenommen werden muß (Hall 1580). Hooker beschreibt das Parlament als Institution zur Schaffung neuer Gesetze und führt aus, daß, nachdem es Parlamente gegeben hatte, Regeln für die Erzeugung von Regeln unabdingbar wurden. Die Erfindung der Geschäftsordnung (ebd., 118) ist die Ordnung, Einheit und Wohlfahrt garantierende Metamorphose des Staatswesens, und jede Abweichung von diesen Regeln tendiert zu einer Zerstörung des Gemeinwesens (ebd. 124). Die Erwähnung der Rede in Hookers Text ist verknüpft mit einer vehementen Verteidigung der Residenzpflicht der Abgeordneten und einer auf das Wohl von König und Reich bezogenen Redepflicht, die als Artikulation der Kommunität gefordert wird.
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Wilhelm Hofmann ... for none ought to be chosen: unless he be resiant and dwelling with in the Sheer, City or Towne, for which he is chosen. And he ought to be a grave, wise, learned, skilful, and of great experience in causes of policies, and of such audacitie as bothe canne and will boldely utter and speak his minde according to duety, and as occation shall serve, for no man ought to bee silent or dum in that house, but according to his talent hee must and ought to speak in the fütheraunce of the King and common welth. (ebd., 151)
Die Entwicklung der bicameralen Struktur des Parlamentes wird darauf zurückgeführt, daß fur die Commons freie Rede vor den Magnaten unmöglich gewesen wäre, und die Redefreiheit wird als Recht zur Meinungsäußerung über sich in der Beratung befindende Gesetze eingeführt. So weit scheint es sich um eine weitgehende Freiheit zu handeln, die jedoch durch eine Reihe von Begrenzungen wiederum eingeschränkt wird. So muß zur Sache gesprochen werden (ebd., 169) und es darf zwar, alles was dem Wohl des Reiches dienen könnte, zur Beratung vorgeschlagen werden, jedoch ob dann darüber gesprochen wird, liegt nicht im Ermessen dessen, der den Vorschlag macht, sondern des Hauses (ebd., 184). Jeder darf an einem Tag nur einmal zum Gegenstand sprechen, soll Beleidigungen vermeiden und außerhalb des Hauses Stillschweigen über die Verhandlungen wahren. All dies sind Regeln, die Ausgangspunkte für die weitere AusdifFerenzierung und Präzisierung der Redeorganisation abgeben, die uns aus den späteren Geschäftsordnungen und auch teilweise noch der gegenwärtigen Parlamentspraxis bekannt sind. Sie werden jedoch von Hooker in einen größeren Kontext gestellt, und sozusagen als Regeln zweiter Ordnung definiert, wenn er sich der Frage zuwendet, wie denn die allgemeine sprachliche Struktur des parlamentarischen Diskurses zu begreifen sei. Hierzu stellt er fest, daß in der parlamentarischen Situation alle prinzipiell gleich seien, unabhängig von ihren sozialen und politischen Rang. Sie sind es aber nicht, weil alle das gleiche Recht haben, sich an der Debatte zu beteiligen, sondern wegen der prinzipiellen Gleichwertigkeit des Gesprochenen. ... the opinion, censure and judgement of a mean Burgesse: is of as great avail: as is the best Lords, no regarde beeing had to the partie who speaketh: but the matter that is spoken.
Es ist also nicht in erster Linie die Person, die dem Satz seinen Ort im Diskurs zuweist, sondern eher umgekehrt der Satz, der die sprechende Person im Diskurs situiert. Nicht jeder muß sprechen, es muß aber garantiert werden, daß alles gesagt wird. Daran muß die Diskursordnung gemessen werden, darin liegt die Bedeutung der freien Rede für die Institution, daß es möglich sein muß, relevante Themen und Beiträge in den Diskurs einzubringen. Jeremy Bentham stellt am Ende des 18. Jahrhunderts in seinem Essay on Political Tactics (1791) schlicht fest: „When a man is up to spek, who shall say what it is he will speak,..." (ebd., 16). Unter diesem Aspekt wird dann aber die personale Außengrenze des parlamentarischen Diskurses selbst Gegenstand eines institutionell getragenen Anspruchs. Der Anspruch des Parlamentariers frei
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von Furcht vor Sanktionen sprechen zu können, wendet sich gleichsam unter der Hand in einen der Institution an die Person die eigene Meinung auch zu sagen, weil nur so die repräsentative Qualität der Kommunikation garantiert werden kann. Dies läßt den Schluß zu, daß, wenn die Redefreiheit in enger Beziehung zur Funktion der Institution Parlament durchgesetzt wurde, sie gleichzeitig in bezug auf diese Funktion wiederum begrenzt werden mußte, und zwar schon lange bevor die Obstruktion systematisch genutzt wurde und mit den Effizienzforderungen des 19. Jahrhunderts kollidierte, indem die Außenregulierung durch die Monarchie durch eine, nunmehr selbst diskursiv zu erbringende Selbstregulierung zunehmend ersetzt wurde. Diese Selbstregulierung bezieht sich aber nicht nur auf das der Institution Parlament förderliche Potential der freien Rede, sondern auch das ihr innewohnende Gefahrdungspotential. Die Gefahr des Verlustes der Würde des Hauses durch unangemessene Äußerungen und Verhaltensweisen der Parlamentarier wird betont, eine Befürchtung, die bis in die Debatten über die Fernsehübertragungen aus dem Unterhaus hinein, eine gewichtige Rolle spielt. Oder es wird darüber reflektiert, daß selbst die beste Geschäftsordnung einer strategischen Benutzung nur dann zu widerstehen vermag, wenn ein im Diskurs immer wieder präsent gehaltener Kodex gegen unparlamentarisches Verhalten auch einen Widerhalt in den Orientierungen der beteiligten Personen und Gruppen findet. Vom Anfang des 17. Jahrhunderts an (Policies in Parliament, 1605) bis zu Hamiltons Parliamentary Logic (1808) wird deutlich, daß die verstärkte Thematisierung der Ordnung des Diskurses mit der Entdeckung der Geschäftsordnung als einer Waffe in der politischen Auseinandersetzung einher geht, einer Entdeckung, die einen anonymen Autor des 18. Jahrhunderts zu dem Stoßseufzer veranlaßt hat, daß, wenn man wisse, wie die Gesetze zu stände kommen, man sich nur noch wundern könne, daß sie nicht noch schlechter seien als sie es tatsächlich sind (Liverpool Tractate). Als Reaktion auf diese Entwicklung etabliert sich aber auch ein Diskurs über den, den parlamentarischen Diskurs ermöglichenden guten Parlamentarier. So verlangt Arthur Hall vom „parliament man" immer zu bedenken, welche moralischen Qualitäten seine Wähler von ihrem Repräsentanten wohl erwarten. Edward Coke vergleicht den idealen Parlamentarier mit einem Elephanten, den vor allem Gedächtnis, Standfestigkeit und Gelassenheit auszeichen (Coke 1644, 3). Dies sind nur zwei Beispiele für den Diskurs, der bis in die Gegenwart hinein das Berufsbild idealer Parlamentarier bildet und an dem die Realität gemessen werden kann und muß. Offensichtlich stehen viele dieser Anforderungen in engem Zusammenhang mit dem sprachlichen Moment der Institution Parlament. Sind es doch die verschiedenen Formen der parlamentarischen Kommunikation, in der die verlangten Qualitäten zum tragen kommen können. William Hakewill beschreibt ihre Wirkung als eine Art parlamentarisches role-taking, das in der Rede Repräsentation ermöglicht:
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We must lay down the respects of our own persons, and put on others, and their affections for whom we speak; for they speak by us. If the matter which is spoken of toucheth the poor, then think me a poor man. He that speaks, sometimes he must be a Lawyer, sometimes a Painter, sometimes a Merchant, sometimes a mean Artificier. (D'Ewes, 667)
4. Zusammenfassung Wenn die sprachliche Ordnung der Institution Parlament selbst Thema des Diskurses wird, und ich hoffe zumindest plausibel gemacht zu haben, daß dies intensiv in dem Moment geschieht, als sich die Grundlagen des modernen Parlamentarismus herausbilden, so ist dies keine bloß akzidentielle Erscheinung. Die Selbstthematisierung der Diskursordnung ist in wesentlichen Punkten identisch mit der Transformation einer mittelalterlichen „Erfindung" in eine moderne politische Institution, die gegen die monarchische Prärogative eine Diskursordnung etabliert, deren Selbstregulierung vom reflexiven Potential der Sprache abhängt und durch sie ermöglicht wird. In diesen reflexiven Diskursen befindet sich die Institution, um einen Topos Stephen Toulmins zu entleihen, sozusagen an der Grenzlinie der argumentativen Vernunft, an der diskursive Verfahren in Beziehung zur Funktion des Diskurses thematisiert und reguliert werden müssen. Da eine der zentralen Funktionen der Institution Parlament jedoch die Bereitstellung von allgemein verbindlichen Entscheidungen ist, muß die normative Grundlage des Diskurses mehr oder weniger explizit gemacht werden. Oder um es in Abwandlung der Formulierung von Carl Schmitt zu sagen: Es gibt nicht nur eine Heterogonie der Zwecke, sondern auch der Prinzipien. Sie wird in der Diskussion der Diskussion thematisch.
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Zwischen Diskussions- und Schaufensterparlamentarismus Zur Diagnose und Kritik parlamentarischer Kommunikation - am Beispiel von Zwischenfragen und Kurzdialogen ARMIN BURKHARDT (Braunschweig) 1. 2. 3. 4. 4.1. 4.2. 5. 6.
Einleitung Parteienschelte und Parlamentarismuskritik Parlamentarische Kommunikation Auswirkungen des Funktionswandels der Plenardebatte auf die parlamentarische Kommunikation Zwischenfragen Mini-Dialoge Fazit Literatur
Die Parlamente haben eher an Gewicht verloren. Richard von Weizsäcker (1993, 164) 1. Einleitung Die inzwischen 145jährige Geschichte des deutschen Zentralparlamentarismus nahm keinen kontinuierlichen Verlauf wie in anderen Demokratien (z.B. Großbritannien oder der Schweiz), sondern wurde mehrfach unterbrochen: durch Restauration, Diktatur und Krieg. Diese Brüche und Brechungen in der demokratischen Entwicklung des Landes zeigen sich auch in den Verhandlungsstilen, die die deutschen Parlamente der verschiedenen Epochen ausgebildet haben. Diskussions- und Schaufensterparlamentarismus sind dabei sowohl in historischer als auch in systematischer Hinsicht die beiden Pole, zwischen denen sich die Entwicklung des deutschen Parlamentarismus in seinen demokratischen Phasen abgespielt hat (vgl. Burkhardt 1992, 156 ff ). Ausgehend von einigen Überlegungen zu der Kritik, die Richard von Weizsäcker
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(1993), damals noch Bundespräsident, an der gesellschaftlichen Omnipräsenz der Parteien und ihrer Rolle in Parlament und Regierung geübt hat, sowie von einer kommunikationstheoretischen Beschreibung der heutigen Plenardebatte soll am Beispiel der Zwischenfrage und des Kurzdialogs gezeigt werden, wie sich die von vielen Parlamentarismuskritikern diagnostizierte schrittweise Entwertung des Plenums auf dessen Kommunikationsstruktur auswirkt.
2. Parteienschelte und Parlamentarismuskritik Revolutionen und/oder Zusammenbrüche leiteten die parlamentarisch-demokratischen Phasen der deutschen Geschichte ein, deren längste und solideste bis in die Gegenwart andauert. Aber auch hier mehren sich - nicht erst seit der Vereinigung der beiden deutschen Staaten - die Menetekel der Destabilisierung: Wachsende Zuwanderung und zunehmende wirtschaftliche und soziale Probleme haben extremistische Parteien gestärkt und die politische Mitte geschwächt. Den als „etabliert" denunzierten traditionellen Parteien und den durch sie gestützten Amts- und Mandatsträgern werden eigennütziges Verhalten und Ämterfilz vorgeworfen. Sinkende Wahlbeteiligung und Protestwahlverhalten signalisieren einen kollektiven Unmut über den Zustand des politischen Systems, der das Kompositum „Politikverdrossenheit" zum „Wort des Jahres 1992" werden ließ (vgl. Müller 1993, 6). Bei näherem Hinsehen erweist sich jedoch, daß die Unzufriedenheit vieler weit eher gegen Parteien und Politiker denn gegen Politik als solche gerichtet ist und sich daher zutreffender als „Parteien-" bzw. „Politikerverdrossenheit" umschreiben läßt. 1 Auch die Arbeit des Bundestages steht derzeit in keinem hohen Ansehen. Richard von Weizsäcker hat dem verbreiteten Mißbehagen über die fast allgegenwärtige Herrschaft der Parteipolitik qualifizierten Ausdruck verliehen. In einem Gespräch mit Redakteuren der ZEIT hat der damalige Bundespräsident zu einer Diskussion „über die Institutionen unserer Verfassung, ihre Gewaltenteilung und ihre Zusammenarbeit" aufgerufen (1993, 142) und dabei betont, die fünf Verfassungsorgane, die sich die Bundesrepublik 1949 gegeben habe, hätten sich zwar „im großen und ganzen gut bewährt", sie seien aber samt und sonders, wenn auch unterschiedlich stark, unter den ständig gewachsenen Einfluß eines sechsten Zentrums geraten, welches gar nicht zu den Verfassungsorganen zählt, aber praktisch über ihnen steht, nämlich den Zentralen der politischen Parteien. (Ebd., 143)
Von Weizsäcker unterstreicht zwar die Notwendigkeit der Parteien für die Demokratie, gibt jedoch zugleich unmißverständlich zu verstehen, daß er das in Art. 21 des Grundgesetzes festgeschriebene Maß an parteipolitischer Ein1 Schon die bloße Tatsache allgemeiner Verdrossenheit straft die Behauptung eines sich ausbreitenden Desinteresses am Politischen Lügen.
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flußnahme fur weit überschritten hält. Noch deutlicher fällt seine Kritik am Parteiengesetz aus, wo nicht mehr von einer bloßen Mitwirkung „bei der politischen Willensbildung des Volkes", sondern von der „Mitwirkung auf allen Gebieten des öffentlichen Lebens" und der Einflußnahme „auf die Gestaltung der öffentlichen Meinung" die Rede ist (vgl. ebd., 151). „Mitwirken" kann man nur in einem pluridirektionalen, symmetrisch organisierten Handlungsprozeß, Einflußnahme hingegen ist einseitig gerichtet und damit asymmetrisch. Im Begriff der „öffentlichen Meinung" ist die Art ihres Zustandekommens nicht mitgedacht: Sie kann sich diskursiv bilden oder manipulativ hervorgerufen werden. „Politische Willensbildung" dagegen ist ein freier kognitiver Akt. Während also die Formulierung in Art. 21 des Grundgesetzes bedeutet: 'neben anderen Faktoren sollen auch die Parteien darauf hinarbeiten, daß sich im Volk politische Meinungen und Handlungspräferenzen frei und unbeeinflußt ausbilden', gibt das Parteiengesetz zu verstehen: 'die Parteien arbeiten darauf hin, daß im Volk eine bestimmte politische Meinung ausgebildet wird'. Indem der damalige Bundespräsident im Kontext anderer rhetorischer Fragen danach fragt, ob „Mitwirken bei und Einflußnehmen auf' dasselbe sei, und an späterer Stelle ausdrücklich vom „Mißstand" (ebd., 152) spricht, legt er die Lesart im Sinne einer negativen Aussage zumindest nahe. Implizit wird damit - von höchster Stelle - sowohl das Parteiengesetz als auch die politische Praxis der Parteien als Verfassungsbruch, zumindest jedoch als Verstoß gegen den „Geist" des Grundgesetzes charakterisiert. Die Parteien beeinflussen aber nicht nur die Meinungsbildung, sondern steuern - auf der Grundlage des Prinzips der Fraktionsdisziplin - zugleich die parlamentarische Entscheidungsfindung. Indem letztlich die Parteiführungen das Abstimmungsverhalten der Fraktionen und - im Falle der Mehrheitsfraktionen - zugleich die Regierungsarbeit bestimmen, wird diese selbst weitgehend der parlamentarischen Kontrolle entzogen (vgl. dazu ebd., 163). Die Kritik des gewählten Staatsoberhaupts an den Parteien hat eine zunächst hitzige Debatte ausgelöst, die sich hauptsächlich auf die Frage konzentrierte, inwieweit sich ein Bundespräsident überhaupt in die politische Diskussion einschalten dürfe 2 , jedoch keinerlei Konsequenzen nach sich gezogen, weil sie bei den Parteien selbst wenig Widerhall fand und insofern bald verebbte. Dennoch hatte, nicht zuletzt aufgrund der vom Ersten Bürger des Staates selbst vorgetragenen Parteienschelte, Leibholz' den Vorwurf unbotmäßiger Einflußnahme enthaltender Begriff des „Parteienstaats", den von Weizsäcker ausdrücklich aufnimmt (vgl. ebd., 145), wieder Konjunktur, paßte er doch zur Stimmungslage einer infolge von Skandalen und allgemeiner Wohlstandsminderung immer unzufriedener gewordenen Öffentlichkeit, der nicht verborgen geblieben war, daß der lange Arm der Parteipolitik in fast alle Nischen der Ge2 Zur Diskussion vgl. u.a. die Beiträge in Hofmann/Perger (1992).
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sellschaft reicht. Nirgendwo spiegeln sich die Ohnmachtsgefühle der von den Parteien Regierten deutlicher wider als in der in Diskussionen heute gängigen Bezeichnung der führenden Politikerschicht als „die politische Klasse" (vgl. dazu von Beyme 1993). Der Begriff zeigt, daß diese aus Angehörigen verschiedener politischer Parteien bestehende Schicht heute vielfach als eine Art zwar oligarchisch, aber kollektiv selbstherrlich regierender Obrigkeit begriffen wird, deren Herrschaft nicht einmal durch den spätestens alle vier Jahre anzuberaumenden Wahlentscheid gebrochen werden kann, weil sie sich stets aus sich selbst rekrutiert. Mit seinen kritischen Äußerungen zum „Parteienstaat" hat von Weizsäcker nicht nur auf Leibholz Bezug genommen, sondern implizit auch auf den vielzitierten, aber auch ob seiner anti-parlamentarischen Schlußfolgerungen mit Recht ebensooft gescholtenen Nestor der Parlamentarismuskritik in Deutschland: Carl Schmitt. Angesichts eines zunehmenden Einflusses der Parteien auf das Parlament bei gleichzeitiger Unfähigkeit, die politisch-wirtschaftlichsozialen Probleme der Zeit zu lösen, hatte Schmitt in seinem zuerst 1923 erschienenen Buch Die geistesgeschichtliche Lage des heutigen Parlamentarismus einen Verfall parlamentarischer Sitten bereits für die Weimarer Zeit diagnostiziert. Für ihn ist Parlamentarismus seinem Wesen nach „government by discussion" und das Parlament „nur solange 'wahr', als die öffentliche Diskussion ernst genommen und durchgeführt wird" (1926, 9). Nach Schmitt liegt das Wesen des Parlamentarismus im „Deliberieren" als der freien, engagierten, aber nicht auf eigennützigen Vorteil, sondern auf das Wohl aller gerichteten rationalen und öffentlichen Diskussion über Fragen des Gemeinwesens zum Zwecke der Meinungs- und Konsensbildung. Anders als die Frankfurter Nationalversammlung der Jahre 1848/49, in deren Plenardebatten Schmitt das Wesen des Parlamentarismus weitgehend realisiert sah, konnte schon der Deutsche Reichstag der Weimarer Republik diesem Parlamentsideal nicht mehr genügen. Denn während das seiner Bestimmung folgende Parlament deliberiert, ziehen sich die Parlamentarier des 20. Jahrhunderts zunehmend in die Ausschüsse zurück und verhandeln dort im Sinne des Aushandelns parteilicher Interessen. Die „argumentierende öffentliche Diskussion" innerhalb wie außerhalb des Parlamentsplenums - wird damit für Schmitt „zu einer leeren Formalität" (ebd., 10). Wenn, so könnte man Schmitts Argumentation mit Hilfe neuerer sozialwissenschaftlicher Termini zuspitzen, Institutionen dadurch charakterisiert sind, daß in ihnen Agenten und Klienten interagieren (vgl. Ehlich/Rehbein 1980, 343), dann besteht eines der Wesensmerkmale des Parlamentarismus im „Parteienstaat" darin, daß die gewählten Abgeordneten „Doppelagenten" sind, Agenten sowohl ihrer Repräsentativkörperschaft selbst (und damit der durch sie Repräsentierten) als auch der sie an ihre Klienten vermittelnden Partei. Weil letztlich allein die Parteigremien über die Aufstellung von Wahlkreiskandidaten, über die Absicherung via Listenplatz sowie über die Vergabe po-
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litischer Ämter entscheiden, sind die Agenten des Volkes weit mehr von ihrer Partei denn von ihren Wählern abhängig. Der ursprüngliche Sinn der demokratischen Repräsentation wird damit gleichsam auf den Kopf gestellt: Waren die Agenten früher in erster Linie Repräsentanten ihrer Klienten, an die sie durch ihre Partei vermittelt wurden, so sind sie heute zuerst Repräsentanten ihrer Partei, an die sie ihre Klienten zu vermitteln suchen. Wo aber das politische Leben eines Staates zur Sache der Parteien geworden ist, da wird Politik nicht coram publico, sondern zwischen den Parteien oder parteiintern ausgehandelt. Die Öffentlichkeit wird im allgemeinen erst nachträglich über Ergebnisse oder Teilergebnisse, Übereinstimmungen und Dissense informiert, die hinter den verschlossenen Türen der Sitzungssäle erzielt wurden und dennoch die legislative Arbeit und die parlamentarischen Entscheidungen präformieren. Eine solche Auslagerung der Entscheidungsfindung und Kompromißbildung in die Fraktionen und Ausschüsse muß zwangsläufig bewirken, daß die Plenardebatte, wie Karl Dietrich Bracher sich schon 1964 ausdrückte, zu einem „vordergründigen Scheingefecht" verblaßt. Indem nämlich der einzelne Abgeordnete von seiner Partei via Fraktionsdisziplin faktisch ein imperatives Mandat erhält und sich damit letztlich vom freien Mandatsträger in den Parteifunktionär verwandelt, verkommt das moderne Parlament, in Habermas' Worten, „tendenziell zu einer Stätte, an der sich weisungsgebundene Parteibeauftragte treffen, um bereits getroffene Entscheidungen registrieren zu lassen." (1974, 244) Diese Entwicklung hat nach und nach die Gewichtsverschiebung im parlamentarischen Rollenverhalten mit sich gebracht, die von Weizsäcker beschrieben hat: Der Hauptaspekt des „erlernten" Berufs unserer Politiker besteht in der Unterstützung dessen, was die Partei will, damit sie einen nominiert, möglichst weit oben in den Listen, und in der behutsamen Sicherung ihrer Gefolgschaft, wenn man oben ist. Man lernt, wie man die Konkurrenz der anderen Parteien abwehrt und sich gegen die Wettbewerber im eigenen Lager durchsetzt. (1993, 155)
„Abwehren" und „Durchsetzen" sind damit als die typischen kommunikativen Verhaltensweisen des gelernten Politikers von heute bezeichnet. Daß die Parteien nicht nur die Schaltstellen des gesellschaftlichen, politischen und zum Teil auch des wirtschaftlichen Lebens besetzen und, nicht zuletzt durch Parteienproporz im Rundfunkrat und den Redaktionen der öffentlich-rechtlichen Sender, über die Medien die öffentliche Meinung zu beeinflussen suchen, sondern auch die Parlamentsarbeit fast vollständig bestimmen, ist demnach nicht ohne Auswirkung auf die parlamentarischen Verfahren und Kommunikationsformen geblieben. In einer politischen Welt der Fraktionen, Ausschüsse und vermeintlich alternativlosen Sachzwänge ist die Plenardebatte innerparlamentarisch an sich entbehrlich. Sie wird in ihrem Sinn auf Dokumentieren und Legitimieren der Positionen und Entscheidungen reduziert und
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zu einem Teil der „Öffentlichkeitsarbeit" umfunktioniert. Schon seit der Weimarer Zeit ist ein solcher 'Strukturwandel der parlamentarischen Öffentlichkeit' (innerhalb wie außerhalb des Plenarsaals) zu erkennen, der sich freilich im Bundestag - unter dem Einfluß zunehmender Medienpräsenz - verstärkt, aber erst seit den späten 50er Jahren die Formen ausgebildet hat, die zur Entstehung allgemeiner „Parlamentsverdrossenheit" (E. Fraenkel) zumindest beigetragen haben. Indem sie Struktur und Funktion der Debatten selbst verändert, ist die durch die Präsenz der Medien gegebene permanente Öffentlichkeit nicht nur ungeeignet, die eigentliche Parlamentsarbeit für die Bürger zu erhellen, sondern vielmehr ein Mittel, diese geradezu zu verstellen. Während sich der öffentliche Teil der Diskussion in die Nachrichtensendungen, Talkshows und Diskussionsrunden der audivisuellen Medien verlagert, werden die in ihrer Funktion auf Dokumentation und Legitimation reduzierten Verhandlungen „zur Show stilisiert." (Habermas 1964, 245) Die Plenardebatte, die nurmehr die Spitze des arbeitsparlamentarischen Eisbergs bildet, ist zum „SchaufensterParlamentarismus" geworden.
3. Parlamentarische Kommunikation Kommunikation bedeutet, daß ein Sender einem Adressaten mittels Zeichen (Nachricht) etwas zu verstehen gibt (Botschaft). Das Parlamentsplenum ist zunächst als ein Kollektivsender zu bestimmen, der Zeichen seines eigenen repräsentativen Handelns an sich selbst, d.h. die eigenen Mitglieder, und an die Öffentlichkeit der repräsentierten Bürger als Adressaten sendet. Aus der Mitte der gewählten Abgeordneten werden nach durch die Geschäftsordnung geregelten Verfahren Redner selegiert, die sich an das (früher mehr, heute weniger) versammelte Plenum und die über die Medien präsente Öffentlichkeit wenden. Man kann also - zumindest - von einer Doppeladressierung parlamentarischer Plenarkommunikation reden. Sprach früher der Redner oder auch der Zwischenrufer als solitärer Sender nur für sich (bzw. seine Wähler), so spricht er heute zumeist als kollektiver Sender, d.h. als „Sprachrohr", für seine Fraktion und seine Partei. Plenarkommunikation im Parlament bedeutet daher heute, daß ein „Doppelagent" als kollektiver Sender als Botschaften zu interpretierende Nachrichten an einen Doppeladressaten sendet. Durch diesen Sachverhalt wird die gesendete Nachricht zugleich zur Doppelbotschaft, die an verschiedene Adressaten Unterschiedliches übermitteln kann und zumeist auch soll. Walther Dieckmann hat diesen sprachlichen Austausch mit doppeltem Adressaten, der für die politische Medienkommunikation besonders typisch ist, als „trialogische" Kommunikation bezeichnet (1981, 218 ff. und 265 ff ). Das Problem der für die Mediengesellschaft typischen „trialogisehen"
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Kommunikation besteht darin, daß sie „mehrfachadressiert" (vgl. Kühn 1983, 242 f.) ist, sich jedoch auf mythische Weise dialogisch gibt, d.h. Interaktionsformen verwendet, die den zuhörenden/zuschauenden Dritten übersehen oder vergessen lassen, daß er selbst der eigentlich gemeinte Adressat ist. Unter Hinweis darauf, daß im Plenarsaal überwiegend „zum Fenster hinaus" gesprochen werde, ist gegen die heutige Form der Parlamentsdebatte der Vorwurf der „Inszeniertheit" erhoben worden (vgl. u.a. Edelman 1990; Holly 1984, 197 ff. und 1990, 54 ff.; Burkhardt 1991/94; 1994).3 Damit ist nicht die bewußte Täuschung, sondern eine tiefenstruktureller Funktionswandel gemeint, der auf der Oberfläche nicht erscheinen darf, weil er den konventionellen Vorstellungen von parlamentarischer Demokratie nicht entspricht, und zwar weder bei den Repräsentanten noch bei den Repräsentierten. Weil also das Ideal des „deliberierenden" Parlamentarismus fortbesteht, jedoch unter dem Druck von Gruppenzwängen und -interessen von der ernsthaften rational-argumentativen Deliberation der freien Repräsentanten als gleich gesetzter Bürger nur noch die Abgabe von Gruppen-Statements durch von unterschiedlichen Interessen und Gruppenzwängen abhängige und damit faktisch weitgehend unfreie Abgeordnete übriggeblieben ist, darum müssen die in den Ausschüssen und Fraktionen tatsächlich ausgehandelten Entscheidungen öffentlich als offene, rationale parlamentarische Plenumsdiskussion im Sinne des Ideals von „government by discussion" organisiert werden. Die den Parlamentariern mehr oder weniger bewußte Inszeniertheit der Plenardebatte wiederum bewirkt zum einen rückläufiges Interesse und zum andern eine medienvermitteltritualhafte, nur noch zum Teil ernsthaft geführte Diskussion, in der vor allem die oft eher zu verbalem Geplänkel mißratenden Zwischenrufe und Zwischenfragen sowie die sich gelegentlich anschließenden Mini-Dialoge Indizien eines allgemein empfundenden Mangels an politisch-rationaler Substanz geworden sind. Zugleich symbolisiert die Plenardebatte, als komplexes Zeichen, das Funktionieren - und Weiterfunktionieren - der staatlich-demokratischen Einrichtungen nach dem allseits vorausgesetzten Muster. Weil „die großen Reden und die tönenden Erklärungen, (die 'Verpackung')" für ausschlaggebend gehalten werden - und nicht der „Interessenausgleich hinter den Kulissen" (vgl. Edelman 1990, 182), erzeugt die Debatte auf der einen Seite den Eindruck öffentlicher Partizipation am Entscheidungsprozeß sowie der allgemeinen Geltung des Rationalitätsprinzips und fördert so die Bereitschaft zur Hinnahme der Ergebnisse der Politik (vgl. ebd., 172). Auf der anderen Seite gibt es die von Dieckmann diagnostizierten „Inzenierungsbrüche" wie Reden „zum Fenster hinaus", zeitunglesende Abgeordnete, überwiegend leere Bänke im
3 Kritisch dazu J. Klein (1991), der die Plenardebatten als „Brennpunkte der Selbstvergewisserung" innerhalb des politischen Diskurses charakterisiert, die zugleich die Funktion der „innerparteilichen Profilierung der Debattierer" dienten; der Schlußdebatte weist er eine „Bilanz-Funküon" zu (vgl. ebd., 268 ff.).
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Plenum, Formen direkter Anrede des Bürgers in Parlamentsreden, der Mißbrauch von Fragen zur Bloßstellung des politischen Gegners (vgl. 1981, 278) u.v.a.m. Inszenierung und Inszenierungsbrüche zusammen ergeben eine widersprüchliche Botschaft an den Bürger, die eine der Ursachen für das derzeit schlechte Ansehen des Parlaments und das verbreitete Desinteresse an seiner Arbeit sein dürfte.
4. Auswirkungen des Funktionswandels der Plenardebatte auf die parlamentarische Kommunikation Wenn die These richtig ist, daß im demokratischen Parlamentarismus ein allmählicher Rollenwandel vom Diskussions- über das Arbeits- bis hin zum heutigen Schaufensterparlament stattgefunden hat, so darf vermutet werden, daß der Wandel in Selbstverständnis und Arbeitsweise nicht ohne Auswirkungen auf das parlamentarische Kommunikationsverhalten geblieben ist. Die schrittweise Entwertung der Plenardebatte durch ihre Inszeniertheit muß zu allmählicher Verflachung der diskursiven Elemente fuhren. Am Beispiel des Zwischenrufs konnte ein entsprechender historischer Funktionswandel bereits nachgewiesen werden (vgl. Burkhardt 1991/94, 1993, 1995): Der von einer Zwischenruf-Typologie ausgehende Vergleich von Zwischenruf-Statistiken, die zu den verschiedenen Parlamenten angefertigt wurden, belegt den rasanten Niedergang des parlamentarischen Kurzzurufs hin zu immer längeren Zurufformen. Zugleich nimmt die semantische und illokutionäre Vielfalt der Zwischenrufe drastisch zu. Waren früher ZUSTIMMUNG und ABLEHNUNG ihre charakteristischen Funktionen, so hat sich ihr handlungsmäßiges Spektrum inzwischen bedeutend erweitert. Der Zwischenruf ist tendenziell zum selbständigen - wenngleich reaktiven - Redebeitrag geworden. Vom überwiegend konstruktiven, zumeist organisatorisch-technischen Beitrag („Zur Abstimmung!", „Zur Geschäftsordnung!" usw.) ist der Zwischenruf mehr und mehr zum Mittel des kritischen Kurzhinweises auf Gegenargumente und zum Vehikel ironischer und spöttischer Polemik geworden und hat dabei einen solchen syntaktischen Umfang und eine solche Häufigkeit angenommen, daß er mit Recht als Störung empfunden werden darf und nicht selten auch vorsätzlich zu diesem Zweck eingesetzt wird. Zugleich nimmt die innerparlamentarische Bedeutung des Zwischenrufs in dem Maße ab, wie der Schaukampfcharakter der Plenardebatte zunimmt. Durch Übersteigerung seiner Verwendung wird der die Inszenierung der Debatte als „deliberierender Parlamentarismus" an sich stützende Zwischenruf zum Inszenierungsbruch par excellence. Was fur Zwischenrufe gilt, darf mutatis mutandis auch fur andere Phänomene parlamentarischer Plenarkommunikation angenommen werden. Im folgenden soll gezeigt werden, welchen Einfluß der Rollenwandel der Plenarde-
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batte auf die Entwicklung und Verteilung von Erscheinungsformen der Zwischenfrage und des „Mini-Dialogs" gehabt hat.
4.1. Zwischenfragen Der Andersdenkende, anders Informierte, der Angesprochene, falsch Zitierte oder verbal Angegriffene kann sich heute, wenn er nicht schon vor Beginn der Debatte auf der Rednerliste steht, nicht mehr - wie in der Paulskirche - einfach spontan und individuell beim Präsidenten zu Wort melden, sich auf die Rednerliste setzen lassen und dann relativ bald vor dem Plenum seinen Standpunkt vertreten oder sich rechtfertigen. Zwar sieht der jetzige § 27 (früher § 32) der Geschäftsordnung des Bundestages die Möglichkeit einer spontanen Wortmeldung beim die Rednerliste fuhrenden Schriftführer durchaus vor, de facto werden jedoch die Redner von ihren Fraktionen nominiert, wobei Rednerfolge und Länge der einzelnen Redebeiträge im Ältestenrat - unter Berücksichtigung des Parteienproporzes - ausgehandelt werden. Nur zur Geschäftsordnung, zur persönlichen Erklärung und neuerdings (GOBT in der zuletzt geänderten Fassung vom 12.11.1990) zur Kurzintervention/Zwischenbemerkung können Wortmeldungen auch heute noch per Zuruf erfolgen. Die aus diesen Einschränkungen resultierende Minderung des Diskussionscharakters der Debatte ist nicht unbemerkt geblieben. Um die dialogischen Momente der Debatte zu verstärken, wurde daher am 10.12.1953 im Bundestag die in früheren Parlamenten nicht vorgesehene Möglichkeit der Zwischenfrage eingeführt. Der Bundestagspräsident gab dazu die folgende Erklärung ab: Präsident D. Dr. Ehlers: (...) Sie sehen, daß rechts, in der Mitte und links einige Mikrophone angebracht worden sind. Wir haben vor, künftig die Fragen der Fragestunde von diesen Mikrophonen aus stellen zu lassen und die Mikrophone auch dazu zu benutzen, eventuelle Zwischenfragen, Einwürfe usw. während der Debatte machen zu lassen, um eine gewisse Auflockerung der Debatte zu erzielen. (DB 2/176)
Um eine solche Frage an den Redner zu stellen, muß der Frager - gemäß der am 26. Januar 1955 vom Ältestenrat verabschiedeten „Handhabung der Zwischenfragen in den Plenarsitzungen" (Anlage 5 zur GO) - an das nächstgelegene Mikrofon treten und, gegen den Präsidenten gewandt, eine Hand heben. Wenn der amtierende Präsident diese Meldung zu einer Zwischenfrage erkannt hat (bzw. von einem der Schriftführer auf sie aufmerksam gemacht worden ist), unterbricht er den Redner, sobald dieser seinen aktuellen Satz beendet hat, und fragt ihn, ob er eine Zwischenfrage gestatte. Lehnt der Redner das Stellen einer Frage ab, so hat sich der Fragesteller ohne Bemerkung wieder auf seinen Platz zu begeben. Wird hingegen dem Stellen einer Zwischenfrage zugestimmt, so gilt dies zugleich als Worterteilung an den Fragesteller, dem
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nach erfolgter Antwort des Redners bis zu zwei Zusatzfragen gestattet sind 4 , die jedoch wiederum der Zustimmung des Redners bedürfen. Grundsätzlich hat der Redner das Recht, die Beantwortung einer gestellten Frage abzulehnen. (Vgl. zu alledem Troßmann 1977, 179 f.) Zwischenfragen sind „außerplanmäßige Worterteilungen" (Hofmann 1994). Gesprächsanalytisch sind sie als „Selbstselektionen" (vgl. Henne/Rehbock 1982, 23 u.ö.) zu betrachten, die dennoch der Vermittlung durch den Präsidenten sowie der Zustimmung des Redners bedürfen. Faktisch können Zwischenfragen auch ohne Vermittlung des Präsidenten direkt vom Redner zugelassen oder abgelehnt werden, wenn dieser das Zum-Saalmikrofon-Tretenund-eine-Hand-Heben eines Abgeordneten als Zeichen des Sich-Meldens zum Stellen einer Zwischenfrage erkennt. Vor Eröffnung der Aussprache über einen Verhandlungsgegenstand, bei der Begründung von Anträgen, Gesetzesentwürfen oder Großen Anfragen 5 , bei der Berichterstattung zu Ausschüssen überwiesenen Gegenständen, bei der Beantwortung einer Großen Anfrage sowie während der Abgabe einer Regierungserklärung sind Zwischenfragen unzulässig (vgl. Troßmann 1977, 181; Szmula 1970, 183). Dem Parlamentsbrauch entsprechend hat der Zwischenträger die Antwort des Redners am Saalmikrofon stehend abzuwarten. Die Zwischenfragen fuhren häufig zu eingeschalteten „mini-dialogischen" Sequenzen, die den ursprünglich geplanten Redetext spürbar verändern. Zuweilen kulminieren mehrfach unbeantwortet gebliebene Zwischenrufe in einer Zwischenfrage (vgl. dazu Simmler 1978, 249), so daß der geplante Inhalt einer abgelehnten Frage in einem entsprechenden Zwischenruf aufgeht. Umgekehrt können gescheiterte Zwischenfrageversuche zu einem entsprechenden Zwischenruf fuhren 6 . Obwohl ein solches Verhalten einen eklatanten Verstoß gegen die Bestimmung der „Handhabung der Zwischenfragen" darstellt, wonach sich der Fragesteller bei Ablehnung seines Fragewunsches „ohne Bemerkung wieder auf seinen Platz zu begeben" hat, wird es so gut wie nie beanstandet oder geschäftsordnungsmäßig geahndet. Daß der Begriff Zwischenfrage im frühen Deutschen Bundestag noch recht großzügig ausgelegt wurde, zeigt der folgende Debattenausschnitt, der eine entsprechende Erklärung des Präsidenten enthält: Präsident D. Dr. Ehlers: Frau Dr. Ilk wünscht eine weitere Frage zu stellen. Bitte!
4 Mit dieser Regelung wurde wohl die Konsequenz aus der streckenweise quantitativ ungebremsten Zusatzfragetätigkeit gezogen, wie sie zu Beginn der 2. Legislaturperiode noch zu finden ist. 5 Vgl. z.B. die entsprechende Erklärung des Vizepräsidenten Dr. Jaeger (DB 4/7435). 6 Nachdem z.B. Barzels Versuch, eine Zwischenfrage zu stellen, abgelehnt worden war, macht er den Zwischenruf: „Dann gebe ich es als Zuruf zu Protokoll: In dieser Rede wird auch begründet, warum man nicht anerkennen darf, wegen Europa" (DB 6/2677; vgl. auch Schilys Zuruf in DB 10/2480).
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Frau Dr. Ilk (FDP): Nein, keine Frage; ich möchte nur die Feststellung treffen, daß wir uns um die beste Lösung in Objektivität bemühen, und das scheint mir doch sehr viel richtiger als Prinzipienreiterei. (Beifall bei der FDP und bei der SPD. Zurufe von der Mitte.) Arndgen (CDU/CSU): Das letzte war eine Feststellung; das war keine Frage. (Heiterkeit und Zurufe.) Präsident D. Dr. Ehlers: Meine Damen und Herren, darf ich diese Gelegenheit benutzen, um einmal zu klären: die Mikrophone stehen nicht nur da - wie in der Fragestunde -, um Fragen zu stellen, sondern auch um Einwürfe zu machen. Auch Feststellungen gehören durchaus in den Rahmen dieser Einwürfe. (DB 2/2341)
Die in der „Handhabung" vorgeschriebene Formel lautete zwar von Anfang an: „Herr Abgeordneter, ich erlaube mir folgende Frage" (vgl. Troßmann 1977, 179). Während jedoch in den frühen Legislaturperioden des Bundestages nicht in die Frageform gekleidete Zwischenfragen nicht nur ohne Beanstandung blieben, sondern - wie gesehen - ausdrücklich zugelassen waren, bildete sich Anfang der 60er Jahre ein Parlamentsbrauch heraus, der die Einhaltung interrogativer Formen verlangte. Entsprechend wurden Verstöße gegen diesen Usus normalerweise vom Präsidenten angemahnt. Häufig wurde die Einhaltung der Frageform per Zuruf von der politischen Konkurrenz eingeklagt. Da der eingespielte Usus zwar die Einhaltung der Frageform verlangt, die weitaus überwiegende Mehrzahl der Zwischenfragen aber de facto ausschließlich assertiven Zwecken dienstbar ist, hat die Neigung zur Beanstandung von Formverstößen inzwischen deutlich nachgelassen. Weil sie (wenigstens im Prinzip) „zwanghaft in die Form einer 'Frage' gekleidet werden" müssen (K.-P. Klein 1985, 391), war der pragmatische Wirkungsradius der Zwischenfragen anfänglich recht begrenzt. Ursprünglich als INFORMATIONSFRAGE 7 entworfen und zunächst auch in erster Linie zum Stellen sachlich bedingter Fragen an den Redner oder zur Formulierung zumeist punktueller Gegenargumente verwendet, ist inzwischen auch die Zwischenfrage zum Mittel für andere Zwecke pervertiert worden. Diente sie früher vor allem der echten FRAGE bzw. dem Kurzaustausch ernsthafter Argumente, so wird sie heute zum Vollzug der verschiedensten Arten von Sprechakten verwendet, auch zu solchen, die SPÖTTISCH, IRONISCH oder ABQUALIFIZIEREND sind. Häufig werden Zwischenfragen dann gestellt, „wenn ein Redner sich offensichtlich in Widersprüche verwickelt oder sich unklar ausdrückt" oder wenn es darum geht, „den Redner durch geschickte Fragestellung in Verlegenheit und/oder ihn aus dem Konzept zu bringen." (Szmula 1970, 183) Und selbst noch der eine Zwischenfrage ablehnende Redner „wird [...] allein schon durch die Frage des Präsidenten oder die nonverba-
7 Hier wie im folgenden dienen GROßSCHREIBUNGEN der optischen Kennzeichnung von Typen und typischen Mermalen sprachlicher Handlungen von Zwischenträgern.
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le Handlung des Abgeordneten, der eine Frage zu stellen wünscht, in seinem Vortrag unterbrochen oder bei diesem irritiert." (Simmler 1978, 247) Bei der Verwirklichung seines Anliegens ist der Zwischenfrager pikanterweise auf die Gnade seines Kontrahenten angewiesen. Nicht selten wird das zeichenvermittelte Ersuchen um Zulassung einer Zwischenfrage abgelehnt, vermutlich immer dann, wenn es strategisch (aus welchen Motiven auch immer) geboten erscheint. Die Ablehnung erfolgt meist mit dem Hinweis auf die zu kurze Redezeit 8 oder mit dem Argument, man wolle einen Gedanken zusammenhängend darlegen. Diese typische Ablehnungsstrategie läßt sich mit dem beschwichtigenden Hinweis verbinden, man wolle die Debatte nicht unnötig verlängern: Vizepräsident Wurbs: Herr Bundesminister, gestatten Sie eine Zwischenfrage? Dr. Zimmermann, Bundesminister des Innern: Ich spreche ganz kurz - im Interesse der Debatte, die auch kurz ist. Ich bitte um Nachsicht, daß ich im Zusammenhang vortragen will. (DB 10/6580)
Nicht selten werden die Antworten auf Zwischenfragen aber auch zum „Abbügeln" des Kontrahenten benutzt (vg. Kap. 4.2.). Im Gegensatz zu den Usancen des frühen Bundestages, wo noch fast jede Zwischenfrage genehmigt wurde, hat sich inzwischen „ein allgemein verbreitetes Lohn- und Bestrafungssystem" (Hofmann 1994) entwickelt: Wolfgang Schäuble (CDU/CSU): Nein, Frau Präsidentin, ich bin von der SPD-Fraktion so viel gestört worden, daß ich nun wenigstens gern die Chance nutzen möchte, ein paar Gedanken ohne Unterbrechung vorzutragen. (DB 12/10462)
Wie die folgende „Retourkutsche" zeigt, wird auch die vorherige NichtZulassung von Zwischenfragen während eigener Reden des Fragestellers zum Anlaß für die Ablehnung einer Frage genommen: Wissmann (CDU/CSU): Ich komme an das Ende meiner Redezeit. Da der Kollege Roth vorhin ebenfalls keine Zwischenfrage zugelassen hat, werde ich um sein Verständnis bitten, daß ich in der letzten Minute meine Ausführungen zu Ende bringe. (DB 10/3185)
Zum Usus gehört es hingegen, Zwischenfragen dann zuzulassen, wenn der Zwischenfrager zuvor persönlich angesprochen wurde.9
8 Ursprünglich wurden Zwischenfragen auf die Redezeit angerechnet. Seit 1990 ist dies nicht mehr der Fall. - Wie wichtig der Zeitfaktor für den Redner ist, hat Hofmann (1994) an einem Vorfall aus dem Jahre 1992 illustriert: Als sich die Haushaltsdebatte bis in den späten Abend hinzog und der Präsident schließlich bekannt gab, daß er „grundsätzlich für heute abend, [...] die Zwischenfragen auf die Redezeit anrechnen muß" (DB 12/1992), wurden Zwischenfragen von den Rednern für den Rest des Abends nicht mehr zugelassen. 9 Die Hinweise auf die „Retourkutschen" bei der Ablehnung, auf die Gepflogenheit, Zwischenfragen Angesprochener zuzulassen, und die entsprechenden Beispiele verdanke ich der Seminararbeit von Hofmann (1994).
Zwischen Diskussions- und Schaufensterparlamentarismus
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De facto kommt es den Zwischenträgern heute weniger darauf an, Informationen zu bekommen, als vielmehr, in ihre Fragen „möglichst viele Aussageinhalte, die ihren eigenen politischen Standort und den ihrer Gruppe dokumentieren, in ihre Gefiige, die in der Regel strukturformal als Fragesätze strukturiert sind, hineinzupacken." (Uhlig 1972, 174) Auch ernstgemeinte Zwischenfragen dienen daher zumeist dazu, die Eigenposition hervorzuheben und den gegnerischen Standpunkt abzuwerten und zu simplifizieren (vgl. ebd., 175). Zwischenfragen generell sind entweder INTERROGATIV oder NICHTINTERROGATIV. Im ersteren Falle lassen sie sich als Aufforderung zum Schließen einer Informationslücke bestimmen, wobei ein dem Frageinhalt entsprechendes (Entscheidungsfrage) oder durch das Fragepronomen angezeigtes (Ergänzungsfrage) Wissensdefizit des Fragers vorausgesetzt wird. Nach dem pragmatischen Sinn sind INTERROGATIVE ZWISCHENFRAGEN in echte INFORMATIONSFRAGEN einerseits und BITTEN UM STELLUNGNAHME, BITTEN UM KLARSTELLUNG sowie BITTEN UM ZUSTIMMUNG andererseits zu unterscheiden. NICHT-INTERROGATIVE ZWISCHENFRAGEN sind FRAGE AUFFORDERUNGEN, STATEMENT-, ANPRANGERUNGS- und PSEUDO-ZWISCHENFRAGEN. Während FRAGEAUFFORDERUNGEN direktiv und STATEMENT-FRAGEN assertiv sind, lassen sich ANPRANGERUNGSFRAGEN als vor dem Plenum und/oder der Öffentlichkeit geäußerte Vorwürfe und PSEUDO-ZWISCHENFRAGEN als Pervertierungen der Frageform zu bestimmen.10 Einige der genannten Typen, die im folgenden an Beispielen erläutert werden, lassen sich in in Subtypen untergliedern: INTERROGA TIVE ZWISCHENFRAGE A. INFORMATIONSFRAGE Echte INFORMATIONSFRAGEN setzen den Wunsch nach einer bestimmten, zuvor nicht verfügbaren Information voraus und lassen sich als BITTEN UM AUSKUNFT beschreiben: Präsident D. Dr. Ehlers: Herr Minister, darf ich Sie unterbrechen. Herr Abgeordneter Schellenberg wünscht eine Zwischenfrage zu stellen. Dr. Schellenberg (SPD): Wie ist es mit der SteuerermäBigung beim zweiten Kind, Herr Minister? Wollen Sie vielleicht darüber dem Hause Auskunft geben? Denn auch die Frage des zweiten und dritten Kindes wird im Zusammenhange mit dem Kindergeldgesetz behandelt werden müssen. (DB 2/2327)
10 Zur Typen und Funktionen der Frage vgl. Burkhardt (1986a).
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Armin Burkhardt
Β. BITTE UM STELLUNGNAHME Wie die INFORMATIONSFRAGE schließen zwar auch BITTEN UM STELLUNGNAHME einen bestimmten Informationswunsch ein, sind jedoch nicht auf ein bestimmtes, durch die Frageform näher bezeichnetes Informationselement gerichtet. Das Charakteristikum von Fragen dieses Typs besteht vielmehr darin, daß der Zwischenträger - innerhalb oder außerhalb der eigentlichen Frageformulierung - ein Problem beschreibt bzw. eine These wiedergibt oder vertritt und mit Hilfe seiner Frage versucht, den Redner zur (öffentlichen) Festlegung auf einen von ihm und/oder seiner Fraktion vertretenen Standpunkt zu bewegen: Vizepräsident Cronenberg: Frau Ministerin, sind Sie bereit, eine Zwischenfrage des Abgeordneten Conradi zuzulassen? Frau Hasselfeldt, Bundesminister fur Raumordnung, Bauwesen und Städtebau: Ja. Conradi (SPD): Frau Ministerin, was sagen Sie zu der Äußerung der badenwürttembergischen Landesregierung von heute um 16.11 Uhr in dpa, daß das finanzielle Engagement der Bundesregierung im Wohnungsbau bei weitem nicht ausreiche; statt der geplanten 1,6 Milliarden DM seien mindestens 2,5 Milliarden notwendig? (DB 11/11795)
C. BITTE UM KLARSTELLUNG Zuweilen ist zwar ein Vorverständnis vorhanden, aber es herrscht Unsicherheit über den politischen Standpunkt des Redners, das richtige Verständnis der von ihm gegebenen Informationen oder über den genauen Sinn seiner Formulierungen. In solchen Fällen wird das Ziel einer Zwischenfrage in der Präzisierung und Konkretisierung der gemachten Aussagen bestehen. Nicht selten wird dergestalt KLÄRENDES NACHFRAGEN zugleich zu strategischen Zwecken (Bloßstellung vor der Öffentlichkeit) eingesetzt: Erler (SPD): [...] (Abg. D. Dr. Gerstenmaier: Eine Frage!) - Bitte schön!) D. Dr. Gerstenmaier (CDU/CSU): Herr Kollege Erler, wollen Sie hier vor dem Bundestag und vor dem deutschen Volk sagen, daß der Satz, den Sie eben verlesen haben und bei dem Sie offenbar unterstellen, daß er einen Beschluß des Politischen Ausschusses des Europarats darstellt, - wollen Sie sagen, daß er einen Beschluß dieses Ausschusses darstellt, oder wollen Sie nur sagen, daß er in der Begründung, in dem Material des Berichterstatters steht? (DB 2/2292)
Gelegentlich kann eine BITTE UM KLARSTELLUNG auch vorsichtiger RIDIKÜLISIERUNG dienen.
Zwischen Diskussions- und Schaufensterparlamentarismus
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D. BITTE UM ZUSTIMMUNG Unter BITTE UM ZUSTIMMUNG ist eine auf Konsens angelegte Ausprägung der Entscheidungsfrage zu verstehen, die hier so gestellt ist, daß sie zwar eine ausdrückliche Antwort einfordert, aber deren affirmativen Tenor bereits präsupponiert. Fragen dieses Typs bedienen sich zumeist des Zustimmung erheischenden abtönenden nicht. Neumann (SPD): [...] Und, Herr Kiesinger, haben Sie angesichts des Vorgehens mancher Ihrer Freunde gegen Andersdenkende hier im Hause nicht ein Gefühl dafür, daß die Toleranz bei manchen Ihrer Kollegen überhaupt fehlt? Kiesinger (CDU/CSU): Herr Neumann, eine Frage! (Abg. Neumann: Bitte schön!) Wenn wir schon ehrlich miteinander sprechen - haben Sie nicht ein Gefühl dafür, daß das gemeinsame Fehler sind? Haben Sie nicht auch aus den Reihen Ihrer Bänke manche Zurufe gehört, bei denen man nur sagen konnte: „Die Leuten wollen einfach nicht zuhören!"? (Sehr gut! bei der CDU/CSU.) Neumann (SPD): Herr Kollege Kiesinger, ich sage Ihnen dazu, daß es sicherlich auf allen Seiten Fehler gibt; (Abg. Kiesinger: Gut!) aber ich möchte Ihnen sagen: ich glaube, die Toleranz sollte wohl auch irgendwie in Verbindung zum Christentum stehen, und darum sollten in stärkerem Maße als bisher von Ihnen hier die Wechselbeziehungen gepflegt werden. (Beifall bei der SPD. - Abg. Kiesinger: Einverstanden!) (DB 2/2025)
Auch wenn alle vier unterschiedenen Erscheinungsformen der INTERROGATIVEN ZWISCHENFRAGE durch den ernsthaften Wunsch des Fragers nach Erhalt bzw. Präzisierung von Informationen gekennzeichnet sind, sind doch zumindest die BITTEN UM STELLUNGNAHME, KLARSTELLUNG und ZUSTIMMUNG (und die entsprechenden ZWISCHENANTWORTEN) nicht selten taktisch bedingt und enthalten mehr oder weniger deutliche Polemik.
NICHT-INTERROGA TIVE ZWISCHENFRAGEN A. FRAGEAUFFORDERUNG Der Bezeichnung entsprechend handelt es sich bei der FRAGEAUFFORDERUNG um tatsächliche Aufforderungen, die sich der grammatischen Form der Frage bedienen Vizepräsident Dr. Jaeger: Herr Minister, gestatten Sie eine dritte Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Schmitt-Vockenhausen? Dr. Dahlgrün, Bundesminister der Finanzen: Bitte schön! Schmitt-Vockenhausen (SPD): Sind Sie dann bereit, Herr Minister, eine ebenso genaue Ergänzung für die übrigen acht Gesetze umgehend dem Bundestag zuzuleiten, damit
Armin Burkhardt
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amtliche Zahlen für den Gesamtkomplex in diesem Sinne vorliegen! Wir haben ja bisher nur für Selbstschutz und Schutzbau die überarbeiteten Zahlen. Dr. DahlgrGn, Bundesminister der Finanzen: Ja bisher! Die anderen sind in Arbeit. (DB 4/6959) D i e F R A G E A U F F O R D E R U N G wird besonders häufig mit Hilfe höflicher Modalverbkonstruktionen, Konjunktive oder Konjunktivumschreibungen realisiert. B. STATEMENT-ZWISCHENFRAGE AUSSAGE U n t e r AUSSAGEN sind als Zwischenfrage deklarierte Ä u ß e r u n g e n zu verstehen, die sich der A u s s a g e s a t z f o r m bedienen und auch wirklich als M I T T E I L U N G E N intendiert sind: Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD): [...] (Abg. Kiesinger: Darf ich eine Frage stellen?) - Ja, bitte, stellen Sie eine Frage! Kiesinger (CDU/CSU): Sie selbst haben die Auffassung vertreten, daß nur durch eine Einigung der großen Mächte auch die deutsche Frage gelöst werden kann. Formell juristische Bedingungen der Bundesrepublik hin und her, ohne die faktische Zustimmung der westlichen Mächte wird die deutsche Frage nie gelöst werden können. Dr. Schmid (Frankfurt) (SPD): Sie haben vollkommen recht, Herr Kiesinger, darüber besteht kein Zweifel. Aber nicht nur nicht ohne die Zustimmung der westlichen Mächte, sondern auch nicht ohne die Zustimmung der östlichen Macht! (Zustimmung bei der SPD.) (DB 2/2273) A u c h w e n n AUSSAGEN nicht im strengen Sinne INTERROGA TIV sein können, lassen sie sich d o c h nicht selten als B I T T E N U M S T E L L U N G N A H M E d e u ten o d e r n e h m e n den Charakter einer E M P F E H L U N G an. L a n g e Jahre durch d e n Parlamentsbrauch verpönt, w u r d e die AUSSAGE in § 2 7 ( 2 ) der G O B T (in der zuletzt geänderten Fassung v o m 1 2 . 1 1 . 1 9 9 0 ) als „Zwischenbemerkung" institutionalisiert und damit rehabilitiert. 11
11 Durch Einfuhrung der Möglichkeit zur Kurzintervention, in der Statements aller Art aufgehoben sind, hat die Geschäftsordnung der faktischen Dominanz ihrem pragmatischen Sinn nach ASSERTIVER Erscheinungsformen der Frage Rechnung getragen. Überwiegend wird die Kurzintervention von den Präsidenten dahingehend ausgelegt, daß sie sich auf die laufende Rede beziehen muß, Zwischenbemerkungen zu Kurzinterventionen also unzulässig sind. Ihr wichtigstes Kennzeichen scheint zu sein, daß sie nicht länger als zwei Minuten dauern darf (vgl. DB 12/10683 f.). Die Vermutung, daß Mißbräuche der Frageform und die Häufigkeit der Zwischenrufe mit Einführung der Kurzintervention abnehmen würden, bestätigte sich indes nicht. Ob die Debatten dialogischer werden, bleibt abzuwarten. Erste Sichtungen stimmen eher pessimistisch.
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RICHTIGSTELLUNG
B e i der RICHTIGSTELLUNG wird die Frageform dazu verwendet, eine Behauptung des Redners oder dessen (direkte oder indirekte) Wiedergabe einer P o s i tion, Äußerung oder Verlautbarung des Zwischenfragers bzw. seiner Fraktion öffentlich zu korrigieren oder den Redner selbst zu einer Korrektur zu veranlassen: Dr. Graf Lambsdorff (FDP): [...] ([...] - Dr. Carstens [Fehmarn] [CDU/CSU] meldet sich zu einer Zwischenfrage. Bitte sehr! Dr. Carstens (Fehmarn) (CDU/CSU): Hen Kollege Graf Lambsdorff, würden Sie mir zugeben, daß sich meine von Ihnen zitierte Bemerkung nicht auf den Vorschlag des Mittelstandskreises bezog, von dem Sie gerade gesprochen haben. Dr. Graf Lambsdorff (FDP): Nein, dazu bin ich keineswegs bereit. Hier steht ausdrücklich - ich zitiere noch einmal -: [...]. (DB 7/7786)
ASSERTIVE SCHEINFRAGE
Als ASSERTIVE SCHEINFRAGEN werden Zwischenfragen bezeichnet, die sich zumeist in polemischer Absicht - der Interrogativsatzstellung vornehmlich z u m Z w e c k der M I T T E I L U N G bzw. der Abgabe eines S T A T E M E N T S bedienen. D i e häufigste Einleitungsformel für solche Fragen lautet: „Herr Kollege/Frau Kollegin, ist Ihnen (nicht) bekannt, daß ...". Weitere charakteristische Muster sind u.a.: „Herr Kollege, ist Ihnen nicht bewußt, daß [...]" (DB 4/6688), „Ist Ihnen entgangen, daß ]...]" (DB 4/6839), „Herr Kollege [...], sind Sie nicht mit mir der Meinung, daß [...]" (DB 4/6978), „Herr Kollege [...], darf ich Sie nicht [...] fragen, ob Sie nicht auch der Meinung sind, daß [...]" (DB 4/7287), „Herr [...], darf ich Sie daran erinnern, daß [...]" (DB 4/7464), „Herr [...], sind Sie nicht doch bereit, zuzugeben, daß [....]" (DB 4/7034), „Frau Kollegin, sind Sie wirklich der Meinung, daß [...]" (DB 4/7040), „Würden Sie bitte zur Kenntnis nehmen, daß [...]" (DB 10/7374), „Sind Sie bereit, zur Kenntnis zu nehmen, daß [...]" (DB 12/8822), „Herr Kollege [...], sind Sie [...] bereit, dem Plenum zu bestätigen, daß [...]"• (DB 12/8860). Schon die zitierten Einleitungsformeln legen die Vermutung nahe, daß die als M I T T E I L U N G gemeinte - und insofern scheinbare - Frage zusätzlich anderen strategischen Handlungszwecken wie B L O ß S T E L L U N G , R E C H T F E R T I G U N G oder Z U R Ü C K W E I S U N G EINER B E H A U P T U N G O D E R A N S C H U L D I G U N G dienen kann: Vizepräsident Dr. Jaeger: Gestatten Sie eine Zusatzfrage?
90
Armin Burkhardt Dr. von Dohnanyi (SPD): Würden Sie mir nicht zugeben, daß diese Feststellung aus dem Jahre 1974 von einer Organisation, die durchaus kritisch gegenüber sozialliberaler Wirtschaftspolitik sein kann, dafür spricht, daß Ihre Darstellung - soweit hausgemachte Inflation in Frage komme, sei dies in erster Linie eine Angelegenheit der sozialliberalen Koalition - eine unzulässige Vereinfachung ist? (DB 7/7794)
Bisweilen kann die ASSERTIVE SCHEINFRAGE sogar in der rhetorischen Gestalt einer interrogativen Klimax erscheinen. Einen Sonderfall der ASSERTIVEN SCHEINFRAGE stellt die RHETORISCHE ZWISCHENFRAGE dar, die stets entweder als BEHAUPTUNG des Gegenteils der in einer Entscheidungsfrage enthaltenen Proposition oder der NichtGefulltheit des durch ein Fragewort vertretenen Satzteils zu interpretieren ist (vgl. Burkhardt 1986a, 36 ff sowie 1995): Porzner (SPD): Herr Minister, Sie haben vorhin gesagt, daß die Bildungspolitik aus dem „Parteienstreit" herausgehalten werden soll. Wer eigentlich sonst als die politischen Parteien soll über Bildungspolitik sprechen, wenn Sie doch wissen, daß Parlamente und Regierungen, die von den Parteien getragen werden, die bildungspolitischen Entscheidungen treffen müssen? (DB 4/7468)
Über ihre affirmative Potenz hinaus sind STATEMENTZWISCHENFRAGEN häufig zugleich als BITTEN UM BESTÄTIGUNG (des Statement-Inhalts) zu verstehen. C. ANPRANGERUNGS-ZWISCHENFRAGE ANPRANGERUNGS-ZWISCHENFRAGEN liegt sowohl moralische Entrüstung als auch der kaum verhohlene Wunsch nach publikumswirksamer Desavouierung des politischen Gegners zugrunde. Sie sind tendenziös und unterscheiden sich von den ASSERTIVEN SCHEINFRAGEN dadurch, daß sie in erster Linie dazu dienen, den Redner bzw. dessen Fraktion zu KRITISIEREN, vor der Öffentlichkeit BLOßZUSTELLEN oder gegen ihn bzw. sie VORWÜRFE zu erheben: Vizepräsident Hans Klein: Frau Kollegin, eine Frage. Anke Fuchs (Köln) (SPD): Deswegen frage ich Sie: Sind Sie mit mir der Auffassung, daß es ein Trauerspiel ist, daß Sie die Fehler, die Sie eingestehen, nicht korrigieren, sondern weiter so wursteln wie bisher? (DB 12/8975)
ANPRANGERUNGS-ZWISCHENFRAGEN sind zumeist darauf gerichtet, ein EINGESTÄNDNIS oder ein (den Redner der Falschaussage überführendes) DEMENTI einzufordern. D. PSEUDO-ZWISCHENFRAGEN Vollkommen pervertiert ist der Sinn des Zwischenfragens in der PSEUDOZWISCHENFRAGE, die einen allenfalls sehr lockeren Bezug zum Inhalt einer
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Rede aufweist und sich in LEERE, EFFEKTHEISCHENDE, KOLLEGIALE und
DREIECKS-ZWISCHENFRAGEN unterscheiden läßt. LEERE ZWISCHENFRAGEN
Eine Untergruppe der PSEUDO-ZWISCHENFRAGEN ist allein auf DESAVOUIERUNG und RIDIKÜLISIERUNG gerichtet und insofern den ANPRANGERUNGSFRAGEN ähnlich, zielt jedoch im Gegensatz zu diesen vor allem auf Schmunzeleffekte und weist kaum eine Kohärenz-Beziehung zum Inhalt der Bezugsrede auf: Präsident Frau Renger: Herr Abgeordneter, gestatten Sie eine Zwischenfrage des Herrn Abgeordneten Lemp? Dr. Müller (München) (CDU/CSU): Bitte, gern! Lemp (SPD): Herr Kollege, haben Sie das Gefühl, dafl es sich lohnt, auf Grund der Polemik, die Sie hier an den Tag legen, eine Zwischenfrage zu stellen? (Lachen bei der SPD) (DB 7/8910)
Die Zwischenfrage ist hier degeneriert zur Benutzung der grammatischen Form der Entscheidungsfrage. Weder wird eine Fragehandlung vollzogen, noch irgendein Inhalt genannt, der die Deutung im Sinne einer Informationsfrage ermöglichen würde. Interrogative Formen wie diese könnten LEERE ZWISCHENFRAGEN heißen. EFFEKTHEISCHENDE FRAGEN
In den Stenographischen Berichten finden sich gelegentlich auch Fragen die von Kollegen aus der eigenen Fraktion bzw. Koalition gestellt werden und lediglich dazu dienen, im Verein mit dem Redner gegen einen Mißstand in gegnerischen Fraktionen oder der Regierung zu polemisieren. So ist es auch im folgenden Beispiel: Während der besonders aggressiv gegen die SPD im allgemeinen und Willy Brandt im besonderen gerichteten Rede des CDUAbgeordneten Rühe in der „Nachrüstungsdebatte" hatte ein Teil der SPDFraktion mehr oder weniger demonstrativ den Saal verlassen, insbesondere auch der damalige SPD-Vorsitzende selbst (vgl. DB 10/2513). Diesen Sachverhalt versucht ein CDU-Abgeordneter mittels einer Zwischenfrage dazu zu benutzen, der eigenen Fraktion vor der Öffentlichkeit einen Punktvorteil zu verschaffen: Vizepräsident Wurbs: Herr Abgeordneter gestatten Sie eine Zwischenfrage des Abgeordneten Klein? Rühe (CDU/CSU): Gern. Klein (München) (CDU/CSU): Herr Kollege Rühe, angesichts des besseren Überblicks, den Sie vom Rednerpult haben, stelle ich Ihnen die Frage, ob mich mein Eindruck trügt, daß die sozialdemokratische Fraktion bei dieser für Deutschland und unsere Zukunft so wichtigen Debatte gerade noch mit 12 oder 13 Kollegen im Saal ist?
Armin Burkhardt
92
(Dr. Scheer [SPD]: Das liegt an der dümmlichen Rede!) Rühe (CDU/CSU): Dieser Eindruck trügt leider nicht. Ich meine, wer vor dieser Debatte den Eindruck erweckt, als ob wir Debattenzeit beschneiden wollten, und dann hier nicht präsent ist, stellt sich selbst das schlechteste Zeugnis aus. (DB 10/2516) Zwischenfragen des hier realisierten Typs, die mehr als Hinweise an die Öffentlichkeit gemeint sind, könnten EFFEKTHEISCHENDE FRAGEN genannt werden. KOLLEGIALE FRAGEN
In neuerer Zeit werden Zwischenfragen auch in unterstützender bzw. verteidigender Absicht an Redner der eigenen Fraktion bzw. der des Koalitionspartners gerichtet, um dem Redner aus argumentativer Bedrängnis zu helfen, ihm die Möglichkeit zu geben, auf einen wichtigen Zusatzpunkt einzugehen, oder um eine v o m Zwischenträger aufgestellte Behauptung v o m am Rednerpult befindlichen Fraktionskollegen nur noch einmal bestätigen zu lassen. Mindestens zum Teil scheint der Z w e c k solcher Fragen in der vorsätzlichen Pervertierung des Sinns der Zwischenfrage zu liegen: Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Frau Abgeordnete Dr. SUssmuth, der Abgeordnete Helmut Kohl möchte gerne eine Zwischenfrage stellen. Ich frage Sie, ob Sie damit einverstanden sind. Dr. Rita Süssmuth (CDU/CSU): Bitte schön. Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter Kohl. Dr. Helmut Kohl (CDU/CSU): Frau Abgeordnete, würden Sie mir darin zustimmen, daß es eine gute Sache ist, daß sich die Bundesregierung in voller Übereinstimmung mit den Fraktionen des Deutschen Bundestages auf Vorschlag des Europäischen Parlaments dafür einsetzen wird, daß die Kollegen aus den neuen Bundesländern nach der Neuwahl im nächsten Europäischen Parlament volles Stimmrecht haben werden, und daß wir eine große Chance haben, dies bei unseren europäischen Partnern auch durchzusetzen? (Beifall bei der CDU/CSU und der F.D.P.) Dr. Rita Süssmuth (CDU/CSU): Darin kann ich Ihnen nur zustimmen. (Abg. Dr. Helmut Kohl CDU/CSU] nimmt wieder Platz) Vizepräsident Dieter-Julius Cronenberg: Herr Abgeordneter Kohl, auch Sie sind gezwungen, die Formen einzuhalten. Dr. Helmut Kohl (CDU/CSU): Entschuldigung, Herr Präsident. Die Formen waren mir nicht ganz klar. (Heiterkeit im ganzen Hause) (DB 12/9331 f.) Fragen dieses Typs können KOLLEGIALE ZWISCHENFRAGEN heißen. DREIECKS-ZWISCHENFRAGE
Eine letzte Form der Pervertierung der Zwischenfrage schließlich besteht darin, den Redner darum zu bitten, einer anderen Person - die im Saal ist, aber
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v o m Zwischenträger nicht direkt angeredet werden darf - eine bestimmte M I T T E I L U N G zu machen: Vizepräsident Dr. Jaeger: Jetzt kommt eine Zusatzfrage des Abgeordneten Börner, wenn Sie sie annehmen wollen, Herr Bundesminister. Arendt, Bundesminister für Arbeit und Sozialordnung: Bitte schön! Börner (SPD): Herr Minister, würden Sie den Herrn Fragesteller darüber belehren, daß es sich nicht um die Veröffentlichung von Zahlen, sondern um ein Fernsehinterview gehandelt hat, das der Präsident der Bundesanstalt für Arbeit gegeben hat und wofür er Kritik und Lob genauso hinnehmen muß wie jeder Politiker. (DB 7/7790) Für Zwischenfragen dieser Art drängt sich der Begriff DREIECKS-ZWISCHENFRAGE geradezu auf. N a c h neuerer Auslegung der Geschäftsordnung sind solche Fragen unzulässig (vgl. D B 12/8907). U m historische Entwicklungslinien nachzeichnen zu können, wurden auf der Grundlage der vorstehenden Typologie jeweils etwa 55 Debattenstunden der Jahrgänge 1954, 1964, 1974, 1984 und 1993 1 2 im Hinblick auf Quantität und typologische Verteilung der Zwischen- und Zusatzfragen untersucht. D a s Ergebnis der Auszählung geben die folgenden Tabellen wieder:
12 Der Jahrgang 1954 wurde gewählt, weil zwar die Zwischenfrage bereits im Dezember 1953 eingeführt worden ist, auf der anderen Seite aber besonders die immer wiederkehrenden Haushaltsdebatten berücksichtigt werden sollten. Der historische Vergleich soll auf der Grundlage von Dekadenschnitten erfolgen. Dieses Vorgehen hat auch den Vorteil, daß sowohl die für den bundesrepublikanischen Parlamentarismus atypische Zeit der Großen Koalition als auch die „Wende"-Phase der frühen 80er Jahre umgangen wird. Nur der Jahrgang 1993 muß hier eine Ausnahme bilden. Die untersuchten Debatten entstammen vorwiegend den Sitzungswochen zwischen dem 1. September und dem Jahresende. Sitzungen mit Regierungserklärungen wurden von der Untersuchung ausgeschlossen, weil Zwischenfragen innerhalb von Regierungserklärungen nicht zulässig sind (vgl. Troßmann 1977, 181). Dasselbe gilt für Fragestunden, denn wo das Stellen von Fragen Strukturprinzip der Debatte ist, kann nicht sinnvoll von Zwischenfragen gesprochen werden.
94
Annin Burkhardt
Tab. 1: Verteilung von Zwischenfragen der Haupttypen im Deutschen Bundestag (in absoluten Zahlen) Jahrgang
1954 1 3
196414 1974 1 5
1984 1 6
199217
Fragetyp I. INTERROGATIVE ZF A. INFORMATIONS-ZF B. BITTE UM STELLUNGNAHME C. BITTE UM KLARSTELLUNG D. BITTE UM ZUSTIMMUNG
2
16
13
4
2
4
15
23
15
11
10
16
13
2
9
1
11
3
-
2
-
2
2
1
-
31
49
78
35
67
6 1
30
39
20
20
5
25
10
12
INTERROGA TIVE ZF insgesamt
17
58
52
21
24
NICHT-INTERROG. ZF inges.
38
86
144
66
99
GESAMTZAHL
55
144
196
87
123
II. NICHT-INTERROGATIVE ZF A. FRAGEAUFFORDERUNG B. STATEMENT-ZF C. ANPRANGERUNGS-ZF D. PSEUDO-ZF
13 Untersucht wurden die 43., 47., 48., 49., 50., 54., 56. und 59. Sitzung des 2. Deutschen Bundestages. Die Gesamtlänge der Debatten betrug 56:14 Stunden. 14 Untersucht wurden die 135., 137., 138., 139., 140., 142., 147., 151. und 152. Sitzung des 4. Deutschen Bundestages. Die Gesamtlänge der Debatten betrug 56:47 Stunden. (Für die Dauer der einigen Debatten vorgeschalteten Fragestunden wurden 60 Min. angesetzt [vgl. Troßmann 1977, 836 f.], die von der Gesamtlänge der jeweiligen Plenarsitzung abgezogen wurden; bei der Auszählung wurden die Fragestunden nicht berücksichtigt.) 15 Untersucht wurden die 115. (ohne Fragestunde), 116. (nach Ende der Fragestunde), 117., 120., 123., 126., 127., 129., 131. (ohne Fragestunde und Aktuelle Stunde), 135. (ohne Fragestunde), 136. und 139. (ohne Fragestunde und Aktuelle Stunde) Sitzung des 7. Deutschen Bundestages. Die Gesamtlänge der Debatten betrug 55:31 Stunden. 16 Untersucht wurden die 81., 82., 83., 85. (ohne Aktuelle Stunde), 86. (ohne Fragestunde), 89. (ohne Aktuelle Stunde), 101. (ohne Fragestunde) und 102. (ohne Aktuelle Stunde) Sitzung des 10. Deutschen Bundestages. Die Gesamtlänge der Debatten betrug 57:14 Stunden. 17 Wegen der besseren Verfügbarkeit wurde auf die Stenographischen Berichte des Jahrgangs 1992 zurückgegriffen. Untersucht wurden die 102., 103., 104., 105., 108., 110. und 111. Sitzung des 12. Deutschen Bundestages. Die Gesamtlänge der Debatten betrug 60:07 Stunden.
Zwischen Diskussions- und Schaufensterparlamentarismus
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Tab. 2: Verteilung von Zwischenfragen der Haupttypen im Deutschen Bundestag (in %) Jahrgang Fragetyp I. INTERROGATIVE ZF A. INFORMATIONS-ZF B. BITTE UM STELLUNGNAHME C. BITTE UM KLARSTELLUNG D. BITTE UM ZUSTIMMUNG II. NICHT-INTERROGATIVE ZF A. FRAGEAUFFORDERUNG B. STATEMENT-ZF C ANPRANGERUNGS-ZF D. PSEUDO-ZF INTERROGA TIVE ZF insgesamt NICHT-INTERROG. ZF inges.
1954
1964
1974
1984
3,64 7,27 18,18 1,82
11,11 10,42 11,11 7,64
6,63 11,73 6,63 1,53
4,6 17,24 2,3
1,39 34,03 20,83 3,47 40,28 59,72
1,02 39,8 19,9 12,76 26,53 73,47
1,15 40,23 22,99 11,49 24,14 75,86
-
56,36 10,9 1,82 30,91 69,09
1992
-
1,63 8,94 7,32 1,63 -
54,47 16,26 9,76 19,51 80,49
Tab. 3: Übersicht über die Verteilung der Subtypen und die Ablehnungen (in absoluten Zahlen) Jahrgang Fragetyp STATEMENT-ZF - AUSSAGE - KURZINTERVENTION - RICHTIGSTELLUNG - ASSERTIVE SCHEIN-ZF
1954
1964
1974
1984
1992 t
31
49 11
78
35
67
24
6
1
-
-
-
-
-
1
2 32
8 8 8 43
7
37
9 63
PSEUDO-ZF
1
5
25
10
12
- LEERE Z F - EFFEKTHEISCHENDE Z F
-
- KOLLEGIALE Z F
-
5 2 3
- DREIECKS-ZF
1
ABLEHNUNG EINER ZF
-
9 3 7 6 26
8
-
2 1 -
2 14
-
68
-
3 1 12
96
Armin Burkhardt
Tab. 4: Übersicht über die Verteilung der Subtypen und die Ablehnungen (in %) 1954 Jahrgang 1964 1974 1984 1992 Fragetyp STATEMENT-ZF
56,36
34,03
39,8
40,23
54,47
- AUSSAGE - KURZINTERVENTION
43,64
7,64
3,06
1,15
-
-
-
12,73
0,7 25,7
4,59 32,14
3,0 36,78
6,5 6,5 6,5 34,96
1,82
3,47
12,76
11,49
9,76
- LEERE Z F
-
1,39 0,7
- KOLLEGIALE Z F - DREIECKS-ZF
-
-
5,75 3,0 3,45
1,82
1,39
4,59 1,53 3,57 3,06
6,5
- EFFEKTHEISCHENDE Z F
- RICHTIGSTELLUNG - ASSERTIVE SCHEIN-ZF PSEUDO-ZF
-
-
-
-
2,44 0,81
Die im Vorstehenden beschriebene und sodann zur Klassifikation der Zwischenfragen aus den 5 Bundestagsdekaden verwendete Typologie mag noch verbesserungswürdig sein. Auch muß die Möglichkeit eingeräumt werden, daß eine Corpuserhöhung zu einem modifizierten Resultat fuhren würde. Weil das erzielte Auszählungsergebnis jedoch dem bei der Durchsicht der Stenographischen Berichte der unterschiedlicher Zeitstufen enstehenden Gesamteindruck entspricht, scheint es trotz der genannten Kautelen legitim, aus ihm einige Schlüsse abzuleiten: 1. Die tabellarischen Übersichten spiegeln die große Ernsthaftigkeit wider, mit der Zwischenfragen im frühen Bundestag gestellt wurden: Es dominieren INTERROGA TIVE FRAGEN und, solange die Frageform noch nicht vorgeschrieben ist, AUSSAGEN, die vom amtierenden Präsidenten nicht selten als „Zwischenbemerkungen" angekündigt werden. INTERROGA TIVE und AUSSAGEN zusammen machen nicht weniger als 74,55 % der damaligen Zwischenfragen aus. Herrschten in den 50er Jahren unter den INTERROGATIVEN noch die BITTEN UM KLARSTELLUNG vor, so hat sich deren Anteil im Laufe der Zeit vor allem zugunsten der BITTEN UM STELLUNGNAHME verringert. FRAGEAUFFORDERUNGEN sind Fehlanzeige. Ebenso wie BITTEN UM ZUSTIMMUNG erscheinen auch PSEUDO-FRAGEN im frühen Bundestag so gut wie nicht. 2. Von Anfang an lag zwar der Anteil der NICHT-INTERROGATIVEN deutlich über dem der INTERROGATIVEN ZWISCHENFRAGEN. Während aber die Gesamtzahl der Zwischenfragen bis in die 70er Jahre steigt, nimmt der Anteil der echten INTERROGATIVE seit den 60er Jahren kontinuierlich ab. Die relative Häufigkeit NICHT-INTERROGATIVER ZWISCHENFRAGEN im Bundestag von 1954 ist fast ausschließlich darauf zurückzufuhren, daß AUSSAGEN ausdrücklich als Zwischenfragen akzeptiert werden
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3.
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und daher einen (später nie wieder erreichten) Anteil von 43,64 % der Gesamtzahl aller Zwischenfragen dieses Jahrgangs (und sogar nicht weniger als 77,42 % aller STATEMENT-FRAGEN) ausmachen. Wenn man dies berücksichtigt, so könnte eine kontinuierliche Abnahme des Anteils der INTERROGA TIVE auch flir die Gesamtheit aller Legislaturperioden des Bundestages reklamiert werden. In den 60er Jahren hat sich das Zwischenfrageaufkommen fast verdreifacht und steigt bis in die 70er Jahre noch einmal an. Weil die Frageform nunmehr vorgeschrieben ist und ihre Nichteinhaltung häufig gerügt wird, werden echte AUSSAGEN selten. Im Gegenzug nimmt die Zahl der ASSERTIVEN SCHEINFRAGEN und ANPRANGERUNGS-FRAGEN drastisch zu (etwa um das 10- bzw. 5fache). Nunmehr werden Zwischenfragen auch gelegentlich abgelehnt. PSEUDO-FRAGEN kommen 1964 zwar gelegentlich vor, bleiben jedoch noch die Ausnahme. Diese Tendenzen setzen sich in den an Zwischenfragen besonders reichen 70er Jahren fort. Vor allem die Zahl der ASSERTIVEN SCHEINFRAGEN und ANPRANGERUNGS-ZWISCHENFRAGEN verdoppelt sich. Ihr prozentualer Anteil steigt auf bis zu 36,78 bzw. 22,99 % (1984). Zugleich steigt der Anteil der PSEUDO-ZWISCHENFRAGEN auf beachtliche 12,76 % an und pendelt sich etwa auf einem Niveau um 10 % ein. Aus dieser Gruppe sind die LEEREN bzw. KOLLEGIALEN ZWISCHENFRAGEN besonders häufig. In den kontroversen Debatten der frühen 80er Jahre (nach dem Regierungswechsel und der recht heftig geführten Atom- und „Nachrüstungs"Diskussion) werden fast ebensoviele Zwischenfragen verweigert, wie gestellt werden - zumeist unter dem Eindruck beschränkter Redezeiten, auf die Zwischenfragen zur damaligen Zeit noch angerechnet wurden.18 Weil sich die Ablehnungshaltung der Redner häufig auf die ganze Rede erstreckt, muß von einer hohen Dunkelziffer unterdrückter Fragen ausgegangen werden, die - wie Untersuchungen zur Entwicklung von Häufigkeit und Verteilung der Zurufe (vgl. Burkhardt 1991/94 und 1994) ergeben haben - durch übermäßiges Zwischenrufen kompensiert werden. Wie zuvor stehen ASSERTIVE SCHEINFRAGEN, ANPRANGERUNGS- und PSEUDOFRAGEN im Vordergrund. In der etwas lethargischen „Schmuse"-Phase zwischen Regierung und SPD-Opposition, wie sie für die kurze Ära Engholm charakteristisch war, steigt mit der Gesamtzahl der Zwischenfragen auch die Anzahl der STATEMENT-FRAGEN erneut an. Mitglieder dieser Gruppe machen mehr als Allein der damalige CDU-Generalsekretär Geißler lehnte im Verlaufe seiner Rede in der Debatte über die „Flick- und Spendenafiare" nicht weniger als 5 Meldungen zur Zwischenfrage ab, obwohl er Zwischenfragen zunächst generell ausdrücklich zugelassen hatte (vg. DB 10/7438 ff.).
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die Hälfte aller Zwischenfragen aus. Die Zahl der ANPRANGERUNGSund PSEUDO-FRAGEN bleibt insofern unauffällig, als sie in etwa dem Aufkommen der Jahrgänge 1974 und 1984 entspricht. Weil Zwischenfragen nicht mehr auf die Redezeit angerechnet werden, geht die Zahl der Ablehnungen deutlich zurück. Die Einführung der (maximal zweiminütigen) KURZINTERVENTION nach § 27 der GO hält die Menge als Zwischenfrage ausgegebener AUSSAGEN gering und mindert möglicherweise zugleich die Zahl der Fragewünsche. Die Zahl der LEEREN ZWISCHENFRAGEN bleibt vergleichsweise hoch. Die sich seit den 70er Jahren abzeichnende Tendenz zur Bevorzugung des Zwischenrufs bleibt bestehen. Als Gesamtergebnis läßt sich festhalten: Im Rahmen einer Entwicklung, in der der Anteil NICHT-INTERROGA TIVER ZWISCHENFRAGEN schrittweise zuund derjenige der INTERROGATIVE entsprechend abnimmt, hat sich auch der Anteil der STATEMENT-FRAGEN kontinuierlich erhöht, unter denen immer deutlicher die ASSERTIVE SCHEINFRAGE dominiert. PSEUDO- und ANPRANGERUNGS-FRAGEN pendeln sich auf einem Niveau um 10 bzw. 20 % ein. Aus diesem Befund kann das Fazit gezogen werden, daß die als dialogförderndes Element eingeführte Zwischenfrage im Verlauf von 40 Jahren nach und nach zu einem bloßen Spiel mit der Frageform herabgekommen ist. In den 50er Jahren noch als echte INFORMATIONSFRAGE (mit Begründung) und zu ASSERTIVEN Zwecken verwendet, ist ein Großteil der Zwischenfragen inzwischen zum bloßen Mittel der PROVOKATION, BLOßSTELLUNG, RIDIKÜLISIERUNG und SELBSTDARSTELLUNG geworden. Der beschriebene Funktionswandel der Zwischenfrage ist in den allgemeinen Wandel des parlamentarischen Arbeitsstils eingebettet. Wo nicht mehr frei diskutiert wird, sondern die Debatte nur noch im Detail vorstrukturierte und als Debatte „inszenierte" Dokumentation ist, die - zum Teil wenigstens - vor den Augen und Ohren der'Öffentlichkeit stattfindet, ist die Versuchung groß, die Zwischenfrage für Zwecke der Selbstdarstellung und Diskreditierung des Gegners zu instrumentalisieren. Und wo Frustration über ritualhafte Vorbestimmtheit herrscht, ist den Abgeordneten die Neigung zur Pervertierung der Zwischenfrage vielleicht nicht einmal zu verdenken. Weil sie fast zeitgleich mit der Möglichkeit der Direktübertragung aus dem Plenarsaal eingeführt wurde, stand die Zwischenfrage von Anfang an unter einem unglücklichen Stern.
4.2. Mini-Dialoge Verglichen mit früheren Parlamenten zeigt sich im heutigen Bundestag ein deutlicher Hang zum Mini-Dialog zwischen Zwischenrufer/-frager und Redner. Solche Kurzdialoge bestehen aus mindestens einem Zwischenruf oder ei-
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ner Zwischenfrage und mindestens einer sprachlichen Reaktion des Redners. Wie Zwischenrufe das Feedback auf Redneräußerungen sind, müssen die Rednerrepliken als das Feedback auf die Zwischenrufe betrachtet werden. Was entsteht ist eine Art „Einfügungssequenz" (Henne/Rehbock 1982, 24 f.), die sich freilich von denen natürlicher Gespräche dadurch unterscheidet, daß der Redner immer das erste und letzte Wort hat. Im Falle der „Mini-Dialoge" liegt also ein Doppel-, manchmal sogar ein Dreifach-Feedback vor. Im Idealfall könnte also durch Zwischenruf und Rednerantwort ein sachlicher Dialog entstehen, der in der Tat der Abkürzung der Verhandlung und dem Fortgang in der Sache dienen könnte. Doch heutzutage wird die in der dialogischen Struktur als Angebot liegende Möglichkeit „kooperativen" Handelns in der Regel zu „kompetitiven" Zwecken (vgl. Canisius 1986, 88 ff.) umfunktioniert. Infolgedessen sieht die tatsächliche parlamentarische Praxis so aus, daß häufig nur eine Art Pseudo-Feedback stattfindet: Der Zwischenrufer liefert keine ernsthaften Argumente und der Redner antwortet mindestens ebenso unernst darauf. Die eröffnete Chance zum Dialog wird also vertan. Das Gegenteil von Dialog ist vielmehr das Resultat, nämlich Aneinandervorbeireden mit Richtung allenfalls auf „trialogisch" gegenwärtige Dritte. Mini-Dialoge können „glücken" oder „mißglücken". Wenn sie glücken, dann war die Reaktion des Redners RESPONSIV. Mini-Dialoge glücken, wenn sowohl Zwischenruf/Zwischenfrage als auch die Reaktion des Redners SACHORIENTIERT sind, und zwar entweder in NEUTRALER BZW. KRITISCH-ABLEHNENDER FORMULIERUNG oder als HINWEIS, DAß DIE ANTWORT SPÄTER GEGEBEN WERDEN WIRD. Wenn die MiniDialoge mißglücken, sind sie NON-RESPONSIV, und zwar entweder weil das Zwischenrufen selbst zurückgewiesen wird oder aufgrund einer in der Reaktion enthaltenen ABQUALIFIKATION bzw. RIDIKÜLISIERUNG. Dialoge mit dem per definitionem 'neutralen' Präsidenten sind fast immer organisatorisch-technischer und damit „kooperativer", nicht aber „kompetitiver" Art und werden daher nicht als „Mini-Dialoge" begriffen. Zu den unterschiedenen Typen gebe ich je ein Beispiel aus einer der Parlamentsepochen19 : SACHLICH-NEUTRAL Dr. Stresemann, Abgeordneter: [...]
19 In den Quellenangaben werden folgende Abkürzungen verwendet: PK - Paulskirche, DR = Deutscher Reichstag (bis 1918), WN = Weimarer Nationalversammlung. Die Zahlenangaben beziehen sich auf die jeweilige Legislaturperiode und die Seitenzahl der Stenographischen Berichte.
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Herr Vogler ist der Mitbegründer jener sozialen Arbeitsgemeinschaft, die sich unter Abwendung von der alten überlebten Tradition der Schwerindustrie mit der deutschen Gewerkschaftsbewegung zusammengefunden hat, um eine Grundlage zu finden (Zurufe von den Sozialdemokraten: zu spät!), um in allen Fragen der Wirtschafts= und Sozialpolitik die Möglichkeit zu haben, ein Zusammengehen herbeizufuhren. - Wenn Sie das Wort „zu spät" aussprechen, so kann ich das von meinem persönlichen Standpunkt aus ruhig unterschreiben; denn ich bin vielen Angriffen ausgesetzt gewesen, als ich vor einer ganzen Reihe von Jahren versucht habe, der Industrie darzulegen, daß sie mit den Gewerkschaften zusammengehen und das Verhandeln mit ihnen nicht ablehnen sollte. (WN 1/388)
S ACHLICH-DIS SENTIV Breusing von Osnabrück: (...) Wir können uns auf allgemeine Grundsätze beschränken und dabei insbesondere die verschiedenen Nationalitäten (diese machen am Ende Deutschland aus) sehr wohl berücksichtigen. (Ruf: bei der Sache bleiben!). Wenn der Redner vor mir der Freizügigkeit erwähnte, ohne zur Sache gerufen zu werden, so darf ich mit gleichem Rechte derselben erwähnen. (PK 2/885)
ANTWORT VERTAGEND Bleek, Staatssekretär im Bundesministerium des Innern: [...] (Abg. Renner: Anderthalb Jahre habt ihr nichts getan!) - Herr Abgeordneter Renner, ich werde gleich darauf zurückkommen, ob anderthalb Jahre nichts getan worden ist. (DB 1/6769)
ZWISCHENRUFE ZURÜCKWEISEND Abgeordneter Richter (Hagen): [...] Dann spitzt sich allerdings die Frage zu in eine reine Personenfrage, dann erklärt sich ja so manches bei dem Herr Reichskanzler, daß er jede sachliche Kritik als einen persönlichen Angriff gegen sich auffaßt, (Ruf rechts: Zur Sache!) daß er jeder sachlichen Kritik, selbst der der nationalliberalen Partei, die so gern geneigt ist, wenn sie es mit ihren Grundsätzen zu vereinbaren glaubt, mit ihm persönlich im Einvernehmen zu leben, (lebhafte Zurufe rechts) - Herr Präsident, ich bitte doch, mich gegen die Störungen zu schützen .... daß er jede derartige Kritik auffaßt als Hetzerei, als Fraktionsgeheimnisse, als eine ihnen unverständliche Opposition. (Fortgesetzte Zurufe rechts.) - Herr von Kardorff, Sie verlangen, daß, wenn der Herr Reichskanzler spricht, wir ganz ruhig zuhören, und Sie müssen dasselbe Recht uns auch gewähren, sonst weiß ich überhaupt nicht, was es mit der Redefreiheit werden soll. (DR 4 11/208)
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ABQUALIFIZIEREND Zywietz (FDP): [...] Auch die Menschen in der Fläche haben einen Anspruch auf eine vernünftige Verkehrsbedienung. (Haar [SPD]: Das ist blanke Demagogie! - Weiterer Zuruf von der SPD: Das ist Unwissenheit!) Und die geht nur über einen vernünftigen Straßenausbau. (Beifall bei der FDP und der CDU/CSU) - Das ist nicht Unwissenheit, sondern das ist genau der Punkt. Und Sie würden nicht so heftig reagieren, wenn Sie sich nicht auf dem verkehrten Fuß ertappt fühlten. (Frau Faße [SPD]: Unmöglich! Keine Ahnung!) - Ja, aber Sie haben davon reichlich, wie ich gehört habe. (DB 11/11830)
RIDIKÜLISIEREND Daubertshäuser (SPD): [...] ([...]- Straßmeir [CDU/CSU]: Das ist doch dummes Zeug!) - Aber Herr Kollege Straßmeir, es ist nicht dummes Zeug. Sie kommen vom Oktoberfest; deshalb sehe ich Ihnen diesen unqualifizierten Einwurf nach. (DB 11/11823)
In der folgenden Tabelle werden die ermittelten Anzahlen von „MiniDialogen" in der Paulskirche, dem Reichstag, der Weimarer Nationalversammlung sowie dem frühen und dem heutigen Deutschen Bundestag einander vergleichend gegenübergestellt: Tab. 5: Mini-Dialoge in der Paulskirche, dem Deutschen Reichstag (1879), der Weimarer Nationalversammlung, dem 1. Deutschen Bundestag und dem 11. Deutschen Bundestag20 Parlament Mini-Dialoge responsiv (insges.) a) sachlich-neutral b) sachlich-dissentiv c) Antwort vertagend non-responsiv (insges.) a) ZR zurückweisend b) abqualifizierend c) ridikülisierend
1848
1879
11 2 9 -
0 -
1919
26 15 9 2 8 2
-
-
-
6
66 28 29 9 28 8 5 15
1951 69 41 23 5 31 7 4 20
1989 103 50 44 9 58 6 4 48
20 Die (fast ausschließlich organisationstechnischen) Dialoge zwischen Präsident und Versammlung oder einzelnen Mitgliedern des Hauses wurden nicht mitgerechnet.
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Es deutlich zu sehen, daß sich die Zahl der Mini-Dialoge von der Paulskirche bis zum heutigen Bundestag kontinuierlich erhöht hat. Zunächst überwiegt die Sachlichkeit, wenngleich schon im Reichstag gelegentliche RIDIKÜLISIERUNGEN erscheinen, deren Zahl sich allmählich erhöht und erst in der Gegenwart sprunghaft ansteigt. Seit der Weimarer Zeit sind auch ABQUALIFIKATIONEN zu verzeichnen. Der Blick auf die 1989er Debatte zeigt aber nicht nur ein weiteren rapiden Anstieg der Gesamtzahl der Mini-Dialoge, sondern auch inhaltliche Änderungen und Verschiebungen: Während sich das Verhältnis der SACHLICH-NEUTRALEN zu den SACHLICH-DISSENTIVEN Dialogen nicht regelhaft verändert hat, ist die Zahl der RIDIKÜLISIERENDEN Zwischenrufe auf 48 hochgeschnellt und macht damit fast ein Drittel aller berücksichtigten Kurzdialoge des betreffenden Jahrgangs aus. Selbst wenn man die mangelnde Feindifferenzierung des Tabelle 5 zugrunde gelegten Kategorienrasters in Rechnung stellt und selbst wenn man zugesteht, daß der Schwerpunkt der Mini-Dialoge weiterhin bei den RESPONSIVEN Varianten liegt, ist doch bei der Sequenz Zwischenruf/-frage-Antwort des Redners die Tendenz zu NONRESPONSIVEM LÄCHERLICHMACHEN des jeweiligen Kontrahenten von unwiderlegbarer Eindeutigkeit. Wie sich schon aus den bisherigen Beispielen ergibt, zeigen besonders die Mini-Dialoge, daß das dialogische Moment des Zwischenrufs vom Redner als willkommene Gelegenheit betrachtet werden kann, sich dem Rufer gegenüber in Vorteil zu bringen, indem er zumindest partiell ABQUALIFIZIERT oder der Lächerlichkeit preisgegeben wird, und der dialogische Austausch eher die Form eines kabarettartigen und dadurch unernsten Wortgeklingels annimmt. Die Asymmetrie der Kommunikationssituation wird also vom Redner voll ausgenutzt. Die Beispiele häufen sich im Gegenwartsparlamentarismus, die wenig sachdienlichen Pseudo-Dialoge können dabei sogar aus mehreren Sequenzen bestehen, dazu stellvertretend für viele nur ein Beleg: Dr. Waigel (CDU/CSU): [...) Ich will auch noch etwas zu den Zahlenspielen des Kollegen Apel bemerken, dessen vorbereitende Umgebung natürlich nicht mehr so stark ist wie früher. Das merkt man sehr deutlich an der Qualität der Reden. (Zuruf von der SPD: Besser als Ihre! - Zuruf des Abg. Dr. Apel [SPD]) - Im Gegensatz zu Ihnen, Herr Apel, mache ich mir schon immer noch die Mühe, meine Reden zum Teil ganz selber zu machen, zum Teil sehr genau anzusehen. Die Ihre kann von Ihnen gar nicht sein; denn so schwach, wie Sie sich heute dargestellt haben, sind Sie nicht. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU - Dr. Apel [SPD]: Ist das ein Niveau, mein Gott! Wir sind nicht im bayerischen Bierzelt, wir sind im Bundestag!) - Ich kann Ihnen, Herr Apel, nur eines sagen. In bayerischen Bierzelten wird nicht so dumm dahergeredet,
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(Bindig [SPD1:... wie Sie das tun!) 21 wie ich das manchmal von Ihnen höre, wirklich nicht. (Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Das ist eine Beleidigung bayerischer Bierzeltatmosphäre. Ich kann Ihnen nur sagen, wenn man Ihre flotten Aussprüche der letzten zehn Jahre aneinanderreihen würde, könnten Sie die in einem bayerischen Bierzelt nicht geschlossen vortragen. (Heiterkeit und Beifall bei der CDU/CSU und der FDP) Zurück zum Ernst. - [...] (DB 10/5884)
Sic! möchte man hier in verschiedenerlei Hinsicht sagen. Die Auswertung der Debatten aus fünf historischen deutschen Zentralparlamenten zeigt, daß die Ausbildung der Form des „Arbeits-" oder „Schaufensterparlaments", in der die Plenardebatte ihre Rolle von einst nur noch spielt, einen übertriebenen Anstieg der Häufigkeit und eine deutliche Zunahme NONRESPONSIV-leerlaufender Dialoge mit sich gebracht hat. Die vermehrte Verwendung dialogischer Mittel hat also keinen Zuwachs an echter Diskussion bewirkt. Tatsächlich sind sowohl Quantität als auch Qualität der MiniDialoge Indikator einer eher gegenläufigen Tendenz, spiegeln sie doch die pseudo-deliberative Situation im Plenarsaal wider. Trotzdem bleiben sie ein Wesensmoment des demokratischen Parlamentarismus.22 Wie der „obstruktive" Zwischenruf, wie er heute dominiert, eine entsprechende Replik provoziert, so auch der „obstruktive" Redebeitrag einen entsprechenden Zwischenruf. Ebenso wie die allgemeine Zunahme der ABQUALIFIKATIONEN beweist auch die steigende Häufigkeit der RTOIKÜLISIERENDEN und NONRESPONSIVEN Mini-Dialoge eine sich verstärkende Tendenz zum argumentum ad hominem.
5. Fazit Zur Entwicklung des Parlamentarismus in Deutschland gehört die durch antidemokratischen Epochen unterbrochene Metamorphose des „Diskussions-" über das „Arbeits-" bis hin zum „Schaufensterparlament". Ein solcher grundlegender Funktionswandel bleibt nicht ohne Konsequenzen im Bereich der Kommunikation. Denn wo die Debatte vorstrukturiert ist, verliert der Präsident weitgehend seine debattenstrukturierenden und -organisierenden Aufgaben. Wo Abstimmungen vorentschieden sind, muß das Interesse der Parlamentarier (und der Bürger) an den Debatten zwangsläufig schwinden. Und wo das Verlautbaren festgeklopfter Gruppenpositionen und die Selbstdarstellung vor 21 Hier liegt ein Zwischenruf des Typs „(Pseudo-)Satzvollender" vor (vgl. Burkhardt 1995 sowie 1991/94, Teil 3, S. 88 f.). 22 Dies macht ein Vergleich mit dem „Akklamationsparlament" Volkskammer deutlich, in dem sie zwar vorkommen, aber extrem selten sind und kaum kritisch-DISSENTIVE und noch weniger RIDIKÜLISIERENDE Potenz aufweisen.
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der Öffentlichkeit in den Vordergrund rücken, geht neben den diskursiven Momenten beim Debattieren auch die Ernsthaftigkeit der Beteiligten zu einem Großteil verloren. Der aus der Entwertung resultierende Verfall des Debattenstils und der innerparlamentarischen Umgangsformen läßt sich bis in die Zwischenrufe, Zwischenfragen und Kurz-Dialoge zwischen Rednern und Zwischenrufern/-fragern hinein nachweisen: Je weniger Diskussion desto mehr Zwischenkommunikation. Männer Deutschlands! ... An Euch ist es zu vollenden, was die Versammlung, in deren Namen wir zu Euch sprechen, begonnen hat. In ihrem Namen fordern wir Euch auf, in Ernst und Ordnung an das Wahlgeschäft zu gehen, zu der Nationalversammlung Männer zu entsenden, schlicht und bieder, Männer, die vor den Augen des Volks bekundet haben, daß ihnen das Gesamtwohl höher steht als jedes Sonderinteresse, die Gerechtigkeit höher als Standesrücksichten und Vorurteile, die Wahrheit höher als der Sieg der eigenen Meinung. (Zit. nach Bundesarchiv 1984, 192)
lautete der Aufruf des Fünfziger-Ausschusses an das (damals allein von Männern repräsentierte) deutsche Volk vom 6. April 1848. Wie denjenigen der Republik von Weimar sind auch den heutigen Politikern und Parteien Ämterfilz, Parteiegoismus, Bürgerferne, Arkanpolitik, Fraktionszwang, zänkische Zerstrittenheit und Konzeptionslosigkeit vorgeworfen worden. Ausgehend von einer Unterscheidung von Hans-Peter Schwarz hat der Bundespräsident die Auffassung vertreten, daß „unser Parteienstaat von beidem zugleich geprägt [ist], nämlich machtversessen auf den Wahlsieg und machtvergessen bei der Wahrnehmung der inhaltlichen und konzeptionellen politischen Führungsaufgabe." (1993, 169) Politische Führung in der Demokratie, hat er warnend hinzugefugt, dürfe sich niemals nur noch als „Management" verstehen, denn: „Wenn sie nur noch verwaltete, dann würden Stimmen laut, die nach effektw verem Management rufen könnten, als es die oft so unbewegliche Parteiendemokratie zu bieten vermag." (Ebd., 183) Demokratie lebt von der Diskussion. Kein Ort wäre dafür berufener als das Plenum des frei gewählten Parlaments. „Daß aber Abgeordnete Vertreter des ganzen Volkes und nicht allein ihrer Parteien sind, muß immer wieder in Erinnerung gerufen werden." (Ebd., 159)
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Frankfurt/Main.
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Der Zwischenruf - ein Instrument politischparlamentarischer Kommunikation? RÜDIGER KIPKE
(Prag)
Wenn man versucht, sich dem Phänomen „Zwischenruf' - oder auch „Zuruf genannt - in der Plenardebatte durch einen Blick in die Geschäftsordnungen deutscher Parlamente zu nähern, so fällt auf, daß er dort kaum Beachtung findet, meistens gar nicht erwähnt wird. Der Herkunft nach handelt es sich um eine durch Gewohnheit legitimierte Äußerungsform im politischparlamentarischen Diskurs, die eine Ausnahme zu dem Grundsatz darstellt, daß niemand ohne ausdrückliche Worterteilung durch den Präsidenten im Plenum reden darf. Nach der Geschäftsordnung (GO) des Deutschen Bundestages wird ein Zwischenruf grundsätzlich in das Plenarprotokoll aufgenommen ( § 1 1 9 Abs. 1); im übrigen kommt er dort nur im Sinnzusammenhang von Ordnungsstörung vor: „Ein Zwischenruf, der dem Präsidenten entgangen ist, kann auch noch in der nächsten Sitzung gerügt werden" (Abs. 2). Die GO des Sächsischen Landtags nimmt ihn positiv auf, grenzt aber zugleich ein: „Der Präsident hat dafür zu sorgen, daß der Redner seine Gedanken ungehindert aussprechen kann; jedoch sind Zwischenrufe von Abgeordneten, die eine solche Verhinderung nicht darstellen und nicht zu einem Zwiegespräch mit dem Redner ausarten, gestattet" (§ 93). Bei der Durchsicht der Literatur zum Thema fallen zunächst die relativ zahlreichen publizistischen Werke ins Auge, in denen eher die heitere Seite des „Dazwischenrufens" interessiert - kommentierte Sammlungen von humorvollgeistreichen Beiträgen oder markanten „Sprüchen" (z.B. Floehr 1984; Pursch 1980; Szafranski 1894). Wissenschaftlich bearbeitet wurde das Thema vor allem von linguistischer (z.B. Burkhardt 1992; 1993; Kühn 1983), aber auch von politikwissenschaftlicher Seite (vor allem Hitzler 1990; Sternberger 1991). Zwischenrufe gehören zur alltäglichen Praxis der Plenardebatte und sind nicht nur ein seltenes, gelegentliches Ereignis. Burkhardt stellt fest, daß im Deutschen Bundestag etwa ein bis anderthalb Zwischenrufe auf jede Minute Redezeit kommen (Burkhardt 1990). Solche Berechnungen können eine ungefähre quantitative Vorstellung vermitteln, müssen jedoch schon deshalb ungenau bleiben, weil nicht alle Zurufe akustisch bis zu den Stenographen durchdringen. Im übrigen ist die Frage zu stellen, welche Zwischensignale aus dem
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Plenum überhaupt als Zurufe qualifiziert werden sollen. Vom eigentlichen Bedeutungsgehalt des Wortes her handelt es sich dabei um verbalisierte, mehr oder minder spontane Zwischenbemerkungen, die in ihrer zeitlichen Dimension „dazwischen passen", nicht dagegen um solche Kommunikationsformen wie Klatschen, Gelächter, Buh-Rufe oder andere nur akustische Signale. Der Hinweis auf Geschäftsordnungstexte und publizistische Beiträge könnte zu einem schiefen Bild von der Kultur des Zwischenrufens in der parlamentarischen Praxis verleiten. Tatsächlich sind ordnungsstörende, die Rüge des Präsidenten herausfordernde Bemerkungen die Ausnahme, und sie sind in ihrer großen Mehrzahl auch nicht geistreich-humorvoll. Ebenso wenig kann man Zwischenrufe pauschal als besondere Würze der Plenardebatten, als das „Salz in der Suppe" - eine gern gebrauchte Metapher in diesem Zusammenhang (vgl. Burkhardt 1992, 85, Fußn. 2)1 - ausmachen; dafür reicht das Niveau und die intellektuelle Qualität der zugerufenen Beiträge vielfach (um nicht zu sagen: in der Regel) nicht aus. Zwischenrufe sind nicht mit einer bestimmten politisch-institutionellen Rolle verbunden. Die regierungstragenden und die Oppositionsfraktionen machen von diesem Instrument Gebrauch, und sie tun das in funktional gleicher Weise. Man kann daraus die Vermutung ableiten, daß die Zahl der Zurufe aus den beiden politischen Lagern nicht wesentlich voneinander abweicht - zumal dann, wenn man ihre unterschiedliche personelle Stärke berücksichtigt. Entsprechendes wird für die Qualität, die typologische Vielfalt 2 sowie inhaltliche Spannweite - von sachbezogenen bis zu persönlich diffamierenden Äußerungen - der Zwischenbemerkungen gelten. Eine Auswertung von 17 Aktuellen Stunden aus der 11. Wahlperiode des Deutschen Bundestages (aus den Jahren 1987/88) zeigt, daß die Opposition deutlich aktiver mit Zurufen war (vgl. 01schewski 1991). Andererseits dokumentiert die Analyse von Beiträgen aus der Haushaltsdebatte des Bundestages vom September 1989, daß hier die Zahl der Zwischenrufe aus den Reihen der Regierungsfraktionen erheblich höher war (Burkhardt 1993, 179, Fußn. 2). Die Quantität der Zwischenrufe hängt wesentlich vom Gegenstand der Debatte und vom Grad des politischen Dissenses unter den Parteien ab; die Thematik von Aktuellen Stunden und Haushaltsbe1 2
(mit zahlreichen Nachweisen) Burkhardt typisiert Zwischenrufe nach ihrer Leistung und nach den Intentionen des Rufenden. Er unterscheidet sechs Haupttypen: Memoranda, ASirmativa, Erotetika, Direktiva, Dissentiva und Evaluativa. „Zwischenrufe des Typs Memoranda dienen dazu, den Redner (bzw. das Plenum) an nach Ansicht des Zurufers bisher unberücksichtigt gebliebene Aspekte oder Argumente zu erinnern und zum Eingehen auf das Zugerufene zu drängen. Aöirmativa sind Formen vollständiger oder teilweiser Zustimmung. Unter Erotetika werden echte Informationsfragen verstanden (während rhetorische Fragen, als Behauptungsfragesätze, den Memoranda zuzurechnen sind). Direktiva sind Forderungen und Aufforderungen, Dissentiva Mittel des Ausdrucks von Ablehnung. Zur Gruppe der Evaluativa gehören moralische Wertungen und inhaltliche sowie persönliche Abqualifikationen." (Burkhardt 1993, 174f., Fußn. 2)
Der Zwischenruf
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ratungen sind in der Regel besonders konfliktträchtig und dementsprechend zahlreich die redebegleitenden Reaktionen aus dem Plenum.3 Der Zwischenruf gehört also zur Normalität der parlamentarischen Rede, zur Plenardebatte, die von den Akteuren so inszeniert wird, daß von außen der Eindruck entsteht, es handle sich um einen dynamisch-dialektischen Prozeß der Auseinandersetzung von Meinung und Gegenmeinung mit dem Ziel, den politischen Kontrahenten durch bessere Argumente zu überzeugen und zu einem Entscheidungskonsens zu kommen. Verfassung und parlamentarische Geschäftsordnung geben diese Gesprächsstruktur normativ vor. Tatsächlich sind im Prozeß der Gesetzgebung in vorausgegangenen Verhandlungen und Beratungen - auf ministerieller Ebene unter Beteiligung von Interessenverbänden, in den Fraktionen und Ausschüssen - die materiell-politischen Entscheidungen bereits gefallen. Die Plenarreden dienen der Kundgabe der politischen Positionen von Fraktionen bzw. Parteien. Und wenn auch das manifeste kommunikative Verhalten auf den politischen Gegner im „Hohen Hause" gerichtet ist, es bleibt grundsätzlich nur ein Scheingespräch; in Wirklichkeit wendet sich die Rede vorrangig an die medienvermittelte Öffentlichkeit. Das Parlament nimmt auf diese Weise seine ÖfFentlichkeitsfunktion wahr, die Debatten sollen die Gesellschaft erreichen. Dieser Funktion kommt neben der verfassungsnormativen, im Grundgesetz genannten (Wahl-, Gesetzgebungs- und Kontrollfunktion) nicht nur eine nachgeordnete Bedeutung zu.4 Im Gegensatz zur Debattenrede erfolgt der Zwischenruf prinzipiell nicht „zum Fenster hinaus". Mag dieser oder jener (auch) an die Öffentlichkeit adressiert sein, von den Medien wird er jedoch in der Regel gar nicht aufgenommen; nur in Ausnahmefällen dringt er auf diesem Wege bis zu einem breiteren Publikum, zu den gern zitierten „Bürgerinnen und Bürgern draußen im Lande" durch - sei es wegen seines besonderen Unterhaltungswerts oder auch seiner politischen Wirkung. 5
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Interessant sind Analyseergebnisse, die etwas aussagen über das Zwischenruf-Verhalten von bzw. gegenüber Frauen: In den genannten Aktuellen Stunden stammten 13,1 % der (registrierten) Zwischenrufe von Parlamentarierinnen, dabei waren 15,6 % der Mitglieder des Hauses Frauen. Dieses Bild täuscht, denn von den Frauen der Fraktion der Grünen (sie stellten 25 der 81 weiblichen Abgeordneten) kamen allein 71,8 % dieser Zwischenrufe, von denen die SPD-Fraktion (31 Frauen) 25,4 %, der CDU/CSU-Fraktion (19) 2,2 % und der FDP-Fraktion (6) nur 0,6 % (vgl. Olschewski 1991, 8f., Fußn. 7). Nach einer Analyse von Debattenreden aus den Jahren 1983 und 1984 war die Zahl der Zurufe bei weiblichen Rednern um etwa die Hälfte höher als bei ihren Kollegen (Burkhardt 1990, 3, Fußn. 4). Zu den parlamentarischen Funktionen einschließlich der Öffentlichkeitsfunktion vgl. Schindler (1988, 948ff.) Ein solcher Zwischenruf war der des Parteivorsitzenden der SPD Kurt Schumacher an die Adresse von Bundeskanzler Konrad Adenauer: „Der Bundeskanzler der Alliierten!" (Deutscher Bundestag, 1. Wahlperiode, 18. Sitzung, vom 24/25.11.1949, Plenarprotokoll S. 525)
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Welchen Sinn und Zweck erfüllt nun der Zwischenruf in der parlamentarischen Debatte? Es lassen sich mehrere Funktionen ausmachen - politische und unpolitische deren Grenzen fließend sind und die sich durchaus überschneiden können. Der Zwischenruf mit rein beleidigender Absicht, der auf die Person des Redners abzielt und gar keinen politischen bzw. politikbezogenen Beitrag leisten will, gehört zur Kategorie der unpolitischen. Er ist in den allermeisten Fällen eine Reaktion auf schwere Angriffe eines Redners aus den Reihen des politischen Gegners. Darin äußert sich Zorn, Aggression und Ohnmacht gegenüber einer Attacke, der man sich mangels Rederecht nicht anders zu erwehren weiß (vgl. Burkhardt 1992, 123, Fußn. 2). Ein affines Phänomen stellen provokative Äußerungen dar, die als schlichte Störaktion wirken (sollen) (ebd.). Derselben Kategorie zuzuordnen sind Zurufe, die als „mentales Ventil" funktionieren. Manche Zwischenbemerkung ist einfach Ausdruck der Ermüdung und der Langeweile, die sich in stundenlangen Plenarsitzungen beim Vortrag abgelesener Redemanuskripte, und das bei fortgeschrittener Zeit, einschleichen. Die Argumente des politischen Gegners einschließlich seiner Formulierungen sind auch schon aus Ausschuß- und Fraktionssitzungen oder aus anderen Zusammenhängen bekannt. Monotonie und mangelnde Spontaneität der Debatte fuhren zu verbalen Reaktionen aus dem Plenum. Die Zwischenrufe mit politischer Intention - sie stellen den parlamentarischen „Normalfall" dar - sind zwar nicht auf die Öffentlichkeit hin orientiert, gehören im übrigen aber wie die Debattenrede oder Zwischenfrage zum kommunikativen Verhaltensrepertoire der Parteien im Konfliktmuster von regierungstragender Mehrheit und Opposition. Sie sind in der Regel an den Redner adressiert, der in seiner politischen Aussage ermuntert oder verunsichert werden soll. Diese Ansprache bleibt jedoch vordergründig; tatsächlich soll auf diese Weise die Position der eigenen Fraktion gestärkt und die der gegnerischen abgewertet werden. Auf die politische Außenwirkung der Parteien wird damit Einfluß zu nehmen versucht, so daß der Zwischenruf durchaus einen mittelbaren Bezug zur Öffentlichkeitsfunktion hat. Auf metaphorischer Ebene wird zur Kennzeichnung des politisch-parlamentarischen Geschehens mitunter vom Mannschaftswettbewerb in einer Arena gesprochen. Wenn man in dieses Bild die Zwischenrufer einbringt, so können sie als die jeweiligen „Fan-Kurven" bezeichnet werden, die ihre Mannschaft anfeuern und den Gegner schmähen. Daneben kommt dem Zwischenruf noch eine intrakommunikative Funktion zu, wenn er nämlich zur Eigenprofilierung gegenüber Fraktionskollegen und vor allem gegenüber der Fraktionsfuhrung eingesetzt wird. Um dieses besser verstehen zu können, muß man sich die generelle Präformierung der parlamentarischen Debatte durch Festlegung der Tagesordnung, der Debattendauer und Verteilung der Redezeit auf die Fraktion vor Augen fuhren. Ein wichtiger Vorgang ist die Benennung der Debattenredner in den Fraktionen; da finden intern Auseinandersetzungen um die Redezeiten statt, wo dann beispielsweise
Der Zwischenruf
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die „Energiepolitiker" mit den „Umweltpolitikern", diese wiederum mit den „Wirtschaftspolitikern" usw. um Anteile wetteifern. Die individuelle und kollektive Konkurrenz unter politischen Freunden stellt eine ganz elementare Erfahrung dar und spielt im parlamentarischen Alltag eine gewichtige Rolle (vgl. Mayntz/Neidhardt 1989). Unter Ausschluß der Öffentlichkeit kann sie sich ungeniert äußern und auch bestimmte Verhaltenserwartungen deutlicher einfordern. Der Parlamentsneuling beispielsweise bleibt zunächst besser im Hintergrund und konkurriert nicht - zumal wenn er politische Karriere machen will - mit dienstälteren Abgeordneten um Ämter, Redezeit und Medienaufmerksamkeit (vgl. ebd., 379). Wem das Rednerpult auf diese Weise verwehrt ist, muß andere Wege gehen, um auf sich aufmerksam zu machen. Eine Möglichkeit bietet die Zwischenfage, die aber unter dem Vorbehalt steht, daß sie vom Redner zugelassen werden muß. Es bleibt allein der Zwischenruf als regelungsfreie und spontane Kommunikationsform in der parlamentarischen Debatte. Man kann so seine Meinung ganz ungefragt kundtun, sich als politisch kompetent, geistreich und schlagfertig erweisen - womöglich mit dem besonderen Erfolg, den Redner bzw. die „Gegenseite" zu einer Reaktion provoziert zu haben -, kurzum: sich gegenüber der eigenen Fraktionselite als politisch versierter Kopf und damit für zukünftige Aufgaben empfehlen. Was äußerlich als atmosphärisches Beiwerk, als schlichte Belebung der Debatte erscheint, erweist sich so in seiner politischen Dimension als ein Instrument sui generis der parlamentarischen Kommunikation.
Literatur Burkhardt, Armin (1990): „Zur Sache, Schätzchen!" In: Sprachreport, Heft 2, S. 1. Burkhardt, Armin (1992): „'Die Stenographie ist ja überhaupt eine unheimliche Sache!' (Konrad Adenauer): Zur Sprache des deutschen Parlamentarismus." In: Neue stenographische Praxis, 41. Jg., S. 73ff Burkhardt, Armin (1993): „Der Einfluß der Medien auf das parlamentarische Sprechen." In: B.U. Biere/H. Henne (Hrsg.): Sprache in den Medien nach 1945. Tübingen, S. 158ff. Floehr, Ralf (Hrsg.) (1984): Ordnung ist die halbe Rede. Wortgefechte aus dem Bundestag. Krefeld
Deutschen
Hitzler, Ronald (1990): „Die Politik des Zwischenrufs. Zu einer kleinen parlamentarischen Form." In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 21, S. 619ff. Kühn, Peter (1983): „Der parlamentarische Zwischenruf als mehrfachadressierte Sprachhandlung." In: R. Jongen/S. De Knop/P. Nelde/M.-P. Quix (Hrsg.): Sprache, Diskurs und Text. Akten des 17. Linguistischen Kolloquiums Brüssel 1982. Bd. 1, Tübingen, S. 239ff. Mayntz, Renate/Neidhardt, Friedhelm (1989): „Parlamentskultur: Handlungsorientierungen von Bundestagsabgeordneten - eine empirisch explorative Studie." In: Zeitschrift für Parlamentsfragen, Jg. 20, S. 374ff.
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Olschewski, Andreas (1991): „Erbarmen mit den Stenographen! Zwischenrufe im Deutschen Bundestag." In: Neue Stenographische Praxis, 40. Jg., S. 3ff. Pursch, Günther (Hrsg.) (1980): 'Reizender' Bundestag. Zwischenrufe, Stilblüten und Sticheleien aus dem Bonner Parlament. Bonn. Schindler, Peter (1988): Datenhandbuch zur Geschichte des Deutschen Bundestages 1980 bis 1987. Baden-Baden. Sternberger, Dolf (1991): „Macht, Recht und Kunst des Zwischenrufs." In: Ders., Sprache und Politik. Frankfurt/Main, S. 76ff. Szafranski, Telesfor (1894): ιHumor im Deutschen Reichstage. Aus den amtlichen stenographischen Berichten über die Verhandlungen des Deutschen Reichstages von 1871-1893. Berlin.
Stigmatisierung politischer Außenseiter Zur verbalen Ausgrenzung radikaler Parteien im Deutschen Bundestag
MARTIN SEBALDT
0. 1. 2. 2.1. 2.2. 2.3. 2.4. 2.5. 2.6. 3. 4.
(Passau)
Einführung Was ist Ausgrenzung? Die Antwort der Ethnomethodologie Ausgrenzung politischer Gegner in der Praxis: die Position der PDS im Deutschen Bundestag Ausgrenzende Akteure Adressaten Ursachen für Ausgrenzung Ausgrenzungsintensität Erscheinungsformen von Ausgrenzung Ausgrenzungsmethoden Fazit Bibliographie
0. Einführung Stigmatisierung und Ausgrenzung politischer Gegner gehören bekanntermaßen zum Alltag totalitärer und autoritärer Systeme. Die Funktionslogik dieser antidemokratischen Ordnungen macht die permanente Neutralisierung und Ausschaltung systemkonträren Kritikpotentials zu einer Überlebensfrage. Finden Ausgrenzungen derlei Art aber in demokratischen politischen Systemen statt, wird der Sachverhalt schon problematischer: regelmäßig erhebt sich dann der Vorwurf, Ausgrenzung einerseits und Pluralismusakzeptanz andererseits vertrügen sich nicht miteinander. Mithin sei es für die Pflege und Aufrechterhaltung einer stabilen demokratischen politischen Kultur notwendig, in der Auseinandersetzung mit dem Gegner auf derlei Praktiken zu verzichten. Folglich wird dieses Thema zum Anathema degradiert: wo politische Ausgrenzung nicht existieren darf, wird sie nicht thematisiert geschweige denn problematisiert. Allenfalls auf dem Rechtsweg, der politisch unbedenklich zu sein scheint, wagt man sich an diese explosive Problematik heran. Eine
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„wehrhafte" Demokratie ist also eine politische Ordnung, die sich ihrer systemgefährdenden Gegner auf dem Rechtsweg entledigt, die alltägliche politische Kommunikation aber von ausgrenzenden Aktivitäten freihalten soll. Gleichwohl gehört politische Ausgrenzung auch zum Alltag von Demokratien. Die vorliegende Abhandlung setzt sich das Ziel, Struktur und Mechanismen dieser Prozesse am Beispiel verbaler Ausgrenzung im Deutschen Bundestag zu dokumentieren. Stellt man die unbefriedigende Forschungslage in Rechnung, wird dieses Anliegen geradezu zum Desiderat: Nur selten ist bisher parlamentarische Kommunikation unter diesem Aspekt analysiert worden (Molotch/Boden 1985; Patzelt 1990). Zudem bietet sich dieses Untersuchungsfeld gegenwärtig unmittelbar an, ist doch seit 1990 mit der PDS eine Partei im deutschen Parlament vertreten, die sich direkt auf eine antidemokratische Organisation, die SED, zurückfuhren läßt (Moreau 1992b) und deshalb vielfach zur Zielscheibe von Ausgrenzungsversuchen wurde und wird. Drei Einzeldimensionen sind dabei von Interesse: 1. Welche konkreten Ursachen hat die Ausgrenzung? 2. Welches Ausmaß nimmt sie an? 3. Auf welche Art und Weise tritt sie in Erscheinung?
1. Was ist Ausgrenzung? Die Antwort der Ethnomethodologie Die Ethnomethodologie hat schon seit einiger Zeit den systematischen Versuch unternommen, (politische) Ausgrenzung konzeptuell zu erfassen und zu erklären. Alles menschliche Handeln, das darauf abzielt, eine existierende soziale Wirklichkeit gegen Wandlungsprozesse abzusichern, wird von der Ethnomethodologie als „politics of reality" bezeichnet (Pollner 1975; Patzelt 1987, 115-124). In den Worten Pollners sind „politics of reality" also activities whereby a version of reality is used as the grounds of further inference and action given the recognition that the version is rendered empirically equivocal by the counterclaims and counterexperiences of the other (Pollner 1975, 421).
Dabei werden drei Typen von Methoden unterschieden: 1. Vorfeldmethoden 2. Entproblematisierungsmethoden 3. Ausgrenzungsmethoden (Patzelt 1987, 116-124) Vorfeldmethoden stellen im Wege der Sozialisation sicher, daß neu hinzukommende Mitglieder von Ethnien deren Sinndeutungen und Wissensbestände adäquat internalisieren, mithin zu kompetenten Kommunikationspartnem herangebildet werden (ebd., 116-118; Zucker 1977).
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Entproblematisierungsmethoden sind solche, die alltägliche Differenzen in Sinndeutungen und Handlungsorientierungen zwischen Individuen einer Ethnie beseitigen. Ohne an dieser Stelle zu sehr ins Detail zu gehen, können alle Methoden dieser Art als solche der Konsensfindung bzw. Tolerierung von Pluralität bezeichnet werden, unterschiedliche Sinndeutungen und Handlungsorientierungen werden also akzeptiert bzw. im Wege des Ausgleichs in einen generellen Konsens eingebunden (Patzelt 1987, 118-121; Eglin 1979; Pollner 1975). Ausgrenzungsmethoden schließlich sind alle jene Methoden, deren Ziel es ist, Individuen aus ihrer Ethnie systematisch abzudrängen bzw. die kommunikativen Beziehungen zu ihnen zu kappen. Folglich ist Ausgrenzung als eine
soziale Aktivität zu definieren, deren Ziel es ist, Mitglieder aus dem Verbund ihrer Ethnie herauszulösen und sie zu isolieren, politische Ausgrenzung jene, die sich im „Bereich des Politischen" abspielt. Verbale Ausgrenzung schließlich, um die es in dieser Abhandlung geht, beschränkt sich auf das gesprochene Wort. Ausgrenzungsmethoden kommt insofern gegenüber den anderen beiden Methodentypen eine spezifische Qualität zu, ist es doch demgegenüber das Ziel von Vorfeld- und Entproblematisierungsmethoden, nach Mitteln und Wegen zu suchen, das Individuum als kompetentes und gleichberechtigtes Mitglied der Ethnie zu bewahren (Patzelt 1987, 121-123). Für unser Thema sind folglich die Methoden der Ausgrenzung von besonderem Interesse. Die Ethnomethodologie unterscheidet deren vier: 1. Kommunikative Deprivation 2. Strategische Kontextbildung 3. Degradierung 4. Liquidierung Worum geht es dabei im einzelnen? „Kommunikative Deprivation" meint ein Verhalten, das systematisch darauf abzielt, die Gleichberechtigung des Gegenübers im Kommunikationsprozeß zu beseitigen und sich damit im Prozeß des Austausches von Sinndeutungen selbst eine dominierende Position zu verschaffen. Dies kann zum einen dann geschehen, wenn ein Individuum seine höhere soziale Position nutzt, um den Kommunikationsprozeß nach seinem Gutdünken zu strukturieren (Beispiele: Gespräch Chef-Angestellter, Lehrer-Schüler), oder aber auch die bewußte Weigerung, kommunikative Akte des Gegenübers zu rezipieren, sie also zu ignorieren (Eberle 1985, 457-467; Molotch/Boden 1985). „Strategische Kontextbildung" geht einen Schritt weiter, besteht sie doch nicht in einer Kommunikationsverweigerungsstrategie, sondern vielmehr in dem offenen und offensiven Versuch, die Position eines Individuums als kompetentes Mitglied einer Ethnie zu destruieren. Konkret wird dabei der Versuch unternommen, den Kontext von Sinndeutungen und Handlungen des Individu-
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ums als ethniefeindlich zu apostrophieren (Smith 1978; Garfinkel 1956). Regelmäßig wird dabei auf eine anders geartete Sozialisation verwiesen, die das Individuum geradezu zu einem Fremdkörper machen muß: Ausländer sind eben /iusländer, Arbeitslose sind Arbeitsscheue, politisch Andersdenkende Antidemokraten. Gerade im systematischen Verweisen auf diesen andersartigen Sozialisationskontext (ethnische, soziale und politische Herkunft) findet die Methode der strategischen Kontextbildung auch im politischen Alltag sehr häufig Anwendung. „Degradierung" fuhrt den eben skizzierten Ausgrenzungsprozeß noch einen Schritt weiter, bleibt es doch hier nicht mehr bei dem bloßen Versuch, die Andersartigkeit eines Individuums zu betonen und auf einen fremdartigen Sozialisationskontext zurückzufuhren, sondern sie beinhaltet vielmehr das bewußte Ziehen von Konsequenzen aus dieser Erkenntnis: Außenseiter werden nicht nur mehr als solche apostrophiert, sondern durch verbale und nonverbale Degradierungsakte von jeglichen weiteren Kommunikationsakten ausgegrenzt (Gephart 1978; Garfinkel 1956). Im Grenzfall kann dieser Akt der Degradierung sogar die Qualität des Liquidierens annehmen - sei es, daß man ein Individuum durch verschiedene Akte (Ausschluß aus sozialen Gruppen, Inhaftierung, Exilierung etc.) auf Dauer kommunikativ kaltstellt, sei es aber auch, daß man es physisch liquidiert (Patzelt 1987, 123). Finden derlei Ausgrenzungsmethoden nun auch im politischen Alltag Anwendung? Diese Frage gilt es nun empirisch zu beantworten.
2. Ausgrenzung politischer Gegner in der Praxis: die Position der PDS im Deutschen Bundestag Als der 12. Deutsche Bundestag am 20. Dezember 1990 zu seiner konstituierenden Sitzung zusammmentrat, umfaßte er neben den alteingesessenen Parteien CDU, CSU, SPD und FPD auch Gruppierungen, die dem Parlament zum erstenmal angehörten. Verantwortlich hierfür war die deutsche Einigung, die es auch den in Ostdeutschland entstandenen Parteien ermöglichte, sich an bundesdeutschen Wahlen zu beteiligen. Neben dem Bündnis 90/Grüne, das, wie der Name bereits signalisiert, vor allem Gegner des alten DDR-Regimes und ostdeutsche Grüne in sich vereinigte (Vollmer/Templin/Schulz 1992), gehörte hierzu auch die Partei des Demokratischen Sozialismus (PDS), die aus der alten Staatspartei SED hervorgegangen war und sich im Wege der Erneuerung ein anderes parteipolitisches Profil zu geben suchte (Moreau 1990, 1992a, 1992b; Ammer 1992, 445-460). Mit ihrem Vorsitzenden Gregor Gysi an der Spitze zogen 17 Abgeordnete der PDS/Linke Liste (künftig nur: PDS) in den 12. Deutschen Bundestag ein und erhielten dort, profitierend von der
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Anerkennung des Bündnisses 90/ Grüne als parlamentarische Gruppierung, denselben Status zuerkannt (Ismayr 1992; Böhm 1992). Von Anfang an begegneten die übrigen Parteien der PDS mit großem Mißtrauen und oft auch unverhohlener Verachtung (Stolten 1992). In welcher Art und Weise hieraus folgend die parlamentarische Position der SEDNachfolgepartei systematisch untergraben und Ausgrenzung praktiziert wurde, soll im folgenden dargestellt werden. Den Untersuchungszeitraum bildet das gesamte Jahr 1991. Ausgewertet wurden insgesamt 5820 Seiten Protokolle zu den von Januar bis Dezember abgehaltenen 67 Plenarsitzungen des Deutschen Bundestages. Gerade die plenaren Verhandlungen des Parlaments boten sich als Untersuchungsfeld an, werden sie doch regelmäßig - im Unterschied etwa zu Ausschußsitzungen zum Schlagabtausch mit dem politischen Gegner genutzt (Czerwick 1985; Roll 1982). Darin liegt, auch mit Blick auf das Interesse der Öffentlichkeit, ihre primäre Funktion (Oberreuter 1988; Kißler 1989). Bei der Datenerhebung wurden die Methoden der quantitativen und qualitativen Inhaltsanalyse kombiniert verwendet: Jede Wortsequenz (Rede, Zwischenruf etc.), die eindeutig politisch ausgrenzenden Inhalt hatte, wurde zunächst quantitativ als Einzelausgrenzung gewertet, um dann in einem zweiten Schritt qualitativ auf ihren spezifischen Typus hin untersucht zu werden. Mit dieser Vorgehensweise läßt sich also sowohl die Frage nach dem Ausmaß der Ausgrenzungsprozesse beantworten wie auch jene nach ihrer Art und ihrer spezifischen Erscheinungsform. Eine Begrenzung auf die Analyse verbaler Ausgrenzungsprozesse ist vor allen Dingen durch die Quellenlage diktiert: müßten doch alle nonverbalen (und nicht weniger bedeutsamen) Ausgrenzungsprozesse durch systematische Beobachtung bzw. Intensivinterviews ermittelt werden, erforderten also ein völlig anderes methodisches Instrumentarium und auch wesentlich umfangreichere wissenschaftliche Ressourcen und Infrastrukturen. 2.1. Ausgrenzende Akteure Die übrigen Bundestagsparteien waren von Anfang an darauf bedacht, sich verbal deutlich von der PDS abzusetzen und zu distanzieren. In den 67 Plenarsitzungen des Jahres 1991, die Gegenstand der Untersuchung waren, bestand dazu auch reichlich Gelegenheit. Wie Tabelle 1 aber verdeutlicht, waren die einzelnen Parteien in ganz unterschiedlichem Ausmaß an diesen Ausgrenzungsaktionen beteiligt.
Hg
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Tabelle 1: Parteizugehörigkeit der ausgrenzenden Akteure Partei CDU/CSU FDP SPD Β 90/GRUNE Σ
Absolut 376 87 21 10 494
% 76,1 19,6 4,3 2,0 100,0
Von insgesamt 494 ermittelten verbalen Ausgrenzungen gehen allein 376 auf das Konto der CDU/CSU. Das entspricht einem Prozentanteil von 76,1%. Ihr folgt in deutlichem Abstand die FDP mit 87 bzw. 19,6%. SPD und Bündnis 90/Grüne sind mit 21 bzw. 10 Ausgrenzungen (4,3% bzw. 2 , 0 % ) nur marginal an den Aktivitäten beteiligt. Der hohe Anteil der Unionsparteien und der FDP kommt nicht ganz unerwartet, liegen sie doch auf dem Parteienspektrum von der PDS am weitesten entfernt und stellen weltanschaulich wie programmatisch unversöhnliche Antipoden zur ultralinken SED-Nachfolgeorganisation dar. Hinzu kommt, wie später noch näher zu zeigen sein wird, daß die häufige Kritik der PDS an der Politik der Bundesregierung gerade die Koalitionsparteien immer wieder herausfordern mußte und zu häufigen verbalen Gegenattacken führte. Mithin ist der geringe Anteil von SPD und Bündnis 90/Grüne an den Ausgrenzungen wohl auch dadurch zu erklären, daß sie selbst kaum Zielscheiben von PDS-Kritik darstellten und demzufolge sich kaum dazu veranlaßt sahen, sie verbal in die Schranken zu weisen. Die beiden Parteien beschränkten sich daher im wesentlichen darauf, stumme Ausgrenzung zu betreiben, die natürlich mit der hier gewählten Erhebungsmethode nicht ermittelt werden kann, gleichwohl aber eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt. Wer grenzt nun im Einzelfall aus? Gibt es Abgeordnete, die diese Tätigkeit zu ihrem Steckenpferd erhoben haben oder verteilt sie sich gleichmäßig auf alle Fraktionsmitglieder? Tabelle 2 zeigt, daß die Wahrheit in der Mitte liegt. Tabelle 2: Ausgrenzungsfrequenz pro individuell feststellbarem Ausgrenzer Ausgrenzungsfrequenz 1 2 3 4 5 >5 Σ
Absolut 77 26 14 6 6 20 149
% 51,7 17,4 9,4 4,0 4,0 13,4 99,9
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Zunächst einmal fällt auf, daß allein 77 aller 149 namentlich ermittelten ausgrenzenden Abgeordneten dies nur einmal tun. Ihr Anteil beträgt also mit 51,7% knapp über die Hälfte aller betroffenen Parlamentarier. Nur mehr 17,4% (absolut: 26) schlagen mit jeweils 2 Ausgrenzungen zu Buche. Dieser Trend setzt sich bis zur Zahl von 5 Ausgrenzungen fort, bei der nur noch 6 Abgeordnete (4,0%) aufscheinen. Interessanterweise steigt der Anteil aber bei mehr als fünf Ausgrenzungen wieder sprunghaft auf 20 bzw. 13,4% an, was doch darauf schließen läßt, daß es eine kleine Gruppe von Parlamentariern gibt, die diese Tätigkeit bevorzugt ausübt. Um diesem Sachverhalt auf den Grund gehen zu können, ist es nötig, sich diese 20 Abgeordneten genauer anzuschauen. Tabelle 3 listet deren Namen und Parteizugehörigkeit in der Reihenfolge der individuellen Ausgrenzungsfrequenz auf. Tabelle 3: Rangliste der schärfsten Ausgrenzer Rang Name Partei 1 Gerster CDU/CSU 2 Bohl CDU/CSU 3 Kansy CDU/CSU 4 FDP Weng 5 Roitzsch CDU/CSU 6 Pfeffermann CDU/CSU 7 Schmitz CDU/CSU 8 Waigel CDU/CSU 9 Kittelmann CDU/CSU 10 Richter FDP 11 Rüttgers CDU/CSU 12 Schäuble CDU/CSU 13 Zywietz FDP 14 Büttner CDU/CSU 15 Kriedner CDU/CSU 16 Lambsdorff FDP 17 Meyer zu B. CDU/CSU 18 Neuling CDU/CSU 19 Nolting FDP 20 Schwarz CDU/CSU
Zahl 19 15 13 10 9 8 8 8 7 7 7 7 7 6 6 6 6 6 6 6
Wie nicht anders zu erwarten, finden sich unter den Genannten nur Mitglieder der Unions- und der FDP-Fraktion. Mit Abstand in Führung liegt der CDU/CSU-Abgeordnete Johannes Gerster mit 19 Ausgrenzungen, gefolgt von seinen Fraktionskollegen Friedrich Bohl mit 15 und Dietmar Kansy mit 13. Wolfgang Weng von der FPD folgt mit 10. Die übrigen Abgeordneten haben
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zwischen 6 und 9 Ausgrenzungen zu vermerken. Ist die Reihung nur auf persönliche Idiosynkrasien zurückzuführen, liegen diese hohen Ausgrenzungsfrequenzen also im persönlichen Gusto dieser Abgeordneten begründet, oder sind hierfür andere Sachverhalte verantwortlich zu machen? Letzteres ist der Fall: denn vergleicht man die parlamentarischen Positionen gerade dieser Parlamentarier miteinander, so lassen sich doch einige Regelmäßigkeiten feststellen: Die meisten sind prominente Mitglieder ihrer Fraktionen, gehören dem Bundestag vielfach schon sehr lange an und bekleiden durchweg wichtige parlamentarische Ämter. Sie gehören also zum „Establishment" des Parlaments. Johannes Gerster etwa war von 1987 bis 1992 innenpolitischer Sprecher seiner Fraktion, um anschließend auch zu ihrem stellvertretenden Vorsitzenden zu anvancieren. Friedrich Bohl war bis 26.11.91 1. Parlamentarischer Geschäftsführer der CDU/CSU im Bundestag, Dietmar Kansy Vorsitzender der Arbeitsgruppe Raumordnung, Bauwesen und Städtebau. Wolfgang Weng ist stellvertretender Vorsitzender der FDP-Fraktion. Frau Roitzsch, um noch eine Person zu nennen, war im untersuchten Zeitraum gleichfalls Parlamentarische Geschäftsführerin. Insgesamt kommt dieser Befund nicht ganz unerwartet, wenn man die von Fragmentierung und Spezialisierung geprägte Arbeitsweise des Bundestages berücksichtigt: die meisten Abgeordneten, weil Spezialisten für nur wenige Sachgebiete, erscheinen überhaupt nur dann im Plenum (von Abstimmungen abgesehen), wenn ihr Arbeitsfeld zur Diskussion steht. Der größte Teil der Parlamentarier ist also mit anderen Worten im Plenum zu selten präsent, um häufig die Gelegenheit zur verbalen Ausgrenzung der PDS zu erhalten. Ganz anders sieht dies bei den „Top-dogs" der Fraktionen aus, die schon aus Amtsgründen sehr häufig im Plenum präsent sein müssen - sei es, daß sie als Parlamentarische Geschäftsführer mit dem Bundestagspräsidium permanent die Tagesordnung abstimmen müssen, sei es, daß sie als Galionsfiguren der Fraktion Flagge zu zeigen haben. Dies eröffnet ihnen aber dann auch wesentlich mehr Chancen und Gelegenheiten für verbale Ausgrenzungen. 2.2. Adressaten Wird nun die PDS als Ganzes bevorzugt angegriffen oder konzentrieren sich die Ausgrenzungsaktivitäten bevorzugt auf einzelne Abgeordnete? Tabelle 4 zeigt, daß in der überwiegenden Zahl der Fälle Individuen und nicht die PDS allgemein Zielobjekte sind. Nur in 63 der 494 Fälle ist die Partei ganz allgemein betroffen.
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Tabelle 4: Adressaten, Rede- und Ausgrenzungsfrequenz Adressat Briefs Gysi Modrow Heuer Jelpke Bläss Henn Riege Braband Schumann Keller Lederer Fischer Enkelmann Seifert Holl Stachowa PDS
Redefrequenz 36 25 25 31 24 26 6 13 20 25 15 21 28 8 31 28 4 ~
Ausgrenz.fr. 66 62 50 40 35 27 23 23 20 18 17 13 12 9 9 7 0 63
Ausgr.fr/Rede 1,8 2,5 2,0 1,3 1,5 1,0 3,8 1,8 1,0 0,7 1,1 0,6 0,4 1,1 0,3 0,3 0,0 —
Auch hier ist wiederum zu fragen, ob die in Tabelle 4 zum Ausdruck kommende unterschiedliche Ausgrenzungshäufigkeit rein zufälliger Natur ist oder nicht. Um dies adäquat beurteilen zu können, muß der individuellen Ausgrenzungsfrequenz allerdings die entsprechende Redefrequenz gegenübergestellt werden, gibt sie doch Aufschluß darüber, wie oft ein PDS-Abgeordneter im Bundestag das Wort ergriffen hat und somit zur Zielscheibe der Ausgrenzungen anderer Parteien werden konnte. Aussagekräftig ist daher allein die individuelle Frequenz der durchschnittlich pro Rede erfahrenen Ausgrenzungen. Dabei zeigt sich, daß nicht der mit einer absoluten Ausgrenzungsfrequenz von 66 fuhrende Ulrich Briefs pro Rede am meisten Ausgrenzungen einstecken mußte (1,8), sondern die Abgeordneten Bernd Henn (3,8), Gregor Gysi (2,5) und Hans Modrow (2,0). Auf 1,8 Ausgrenzungen bringt es, wie Briefs, auch Gerhard Riege. Die anderen Gruppenmitglieder liegen mit ihren Werten deutlich darunter. Leicht fällt die Erklärung bei Gregor Gysi und Hans Modrow: der eine mußte als Parteivorsitzender zu einer bevorzugten Zielscheibe parlamentarischer Anfeindungen werden, der andere war durch seine Tätigkeit als 1. Sekretär der Bezirksleitung der SED Dresden und sein Ministerpräsidentenamt in der Umbruchsphase hierfür ebenfalls prädestiniert. Für Gerhard Riege gilt cum grano salis dasselbe, war er doch als SED-Mitglied der ersten Stunde (1946) schon seit 1965 Professor fur Staatsrecht in Jena und Abge-
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ordneter im Bezirkstag Gera. Schwieriger liegt der Fall bei Bernd Herrn und Ulrich Briefs. Beiden ist aber gemeinsam, daß sie Renegaten westdeutscher Parteien darstellen, also gar nicht aus der ehemaligen DDR stammen. Henn war von 1969 bis 1990 Mitglied der SPD, Briefs von 1987 bis September 1990 Bundestagsabgeordneter der Grünen, später fraktionslos. Beide gelten im Bundestag als Überzeugungstäter, da sie aus freien Stücken zur PDS gewechselt sind. Dies wird ihnen von vielen verübelt. Beide sind allerdings inzwischen wieder aus der Gruppe der PDS ausgetreten und nunmehr fraktionslos. 2.3. Ursachen für Ausgrenzung Welche Ursachen haben nun diese Ausgrenzungsaktivitäten? Sind sie auf Stimuli irgendwelcher Art zurückzufuhren, sind sie also provoziert oder sind derlei Katalysatoren nicht vorfindbar? Tabelle 5 zeigt, daß in dem meisten Fällen ein solcher Stimulus vorliegt. Tabelle 5: Stimuli der PDS Stimulus Rede Zwischenruf Parl.Drucksache Interventionen Zwischenfrage Sonstiges Zwischen-Σ KeinStimulus Σ
Absolut 380 31 30 15 8 6 470 24 494
% 76,9 6,3 6,1 3,0 1,6 1,2 95,1 4,9 100,0
Allein 95,1% aller 494 verzeichneten verbalen Ausgrenzungen sind Reaktionen auf von der PDS gelieferte Stimuli. Nur bei den restlichen 24 ausgrenzenden Aktionen konnte ein derartiger Katalysator nicht gefunden werden. Das heißt aber folgendes: Die PDS liefert in den meisten Fällen selbst den Vorwand für ausgrenzende Aktivitäten anderer Parteien, mithin provoziert sie sie sogar. Oder anders herum gewendet: CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Grüne sind in der Regel nicht schon vorab zu solchen ausgrenzenden Aktivitäten entschlossen, planen sie also nicht, sondern reagieren spontan in einer Situation, in der sie mit entsprechenden reizenden Stimuli der PDS konfrontiert werden. Das Ergebnis kommt nicht unerwartet, bedeutete es doch eine Verschwendung knapper Arbeitsressourcen, wenn sich die Parlamentarier im Vorfeld von Plenardebatten eine ausgeklügelte Strategie zur verbalen Ausgrenzung einer als systemfeindlich betrachteten Partei zurechtlegten. Folglich
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geschieht es nicht. Was bleibt, ist die aus der Situation heraus entstandene spontane Ausgrenzung, die jeder erfahrene Parlamentarier ohne langes Nachdenken bewerkstelligt. Die Tabelle zeigt auch, daß in über drei Viertel der Fälle (76,9%) eine Rede eines PDS-Abgeordneten den Stimulus bildet - was nicht verwundert, da eine Plenarrede, die im allgemeinen mindestens fünf Minuten dauert, allein durch ihren Umfang am ehesten dazu prädestiniert ist, viele derartige Stimuli zu liefern. Zwischenrufe, Parlamentarische Drucksachen, Interventionen jeglicher Art (Kurzinterventionen, Erklärungen zur Geschäftsordnung, persönliche Erklärungen etc.) sowie Zwischenfragen spielen demgegenüber nur eine geringe Rolle. In den Reden der PDS-Abgeordneten lassen sich zwei Sorten von Stimuli ausmachen: 1. Angriffe auf die Regierung 2. Einladung zur Antwort Als Beispiel für den ersten Typus soll eine Rede der PDS-Abgeordneten Lederer stehen, die im Rahmen der Aussprache zur Erklärung der Bundesregierung zum Golfkrieg am 31.01.91 gehalten wurde. Für dieses Geschäft mit dem Tod soll, wie gestern dankenswert offen angekündigt wurde, die Bevölkerung in der Bundesrepublik höhere Steuern zahlen. Ich scheue mich nicht davor, zu benennen, was außerhalb dieses Parlaments wahrgenommen wird, was diese Steuern bedeuten: Es handelt sich um eine Kriegssteuer. (Stenographische Protokolle: 164A; künftig nur Seitenangabe).
Dies provozierte einen Zwischenruf des CDU/CSU-Abgeordneten Bohl: Reden Sie nicht solch einen Unsinn! Reden Sie mal vom Blut am Stacheldraht!(164A).
Für den zweiten Typus soll folgende Aussage Hans Modrows zur Regierungserklärung zur Kulturpolitik in den neuen Bundesländern vom 31.01.91 als Beispiel dienen: Nun haben Sie, meine Damen und Herren von der Koalition, fur diese Misere immer eine sehr einfache Erklärung zur Hand...(l 18C),
was den lapidaren Zwischenruf „Modrow!"(l 18C) der CDU/CSU provozierte. Ähnlich verhält es sich bei den selteneren Zwischenrufen der PDS. Meist halten die angesprochenen Redner kurz inne, um in einer Sequenz von mehreren Sätzen die lästigen Kritiker zu degradieren. So reagierte der Bundeskanzler am 31.01.91 auf einen derartigen Zuruf folgendermaßen: Ich verstehe nicht, daß Sie dazwischenrufen. Wir setzen uns im Moment mit Ihrer Erblast auseinander... Ohne das unselige Regime, das Sie vierzig Jahre einem Teil unseres Vaterlandes aufgezwungen haben, hätten wir heute doch nicht diese Diskussion... Aber wir sollten bei der Sache bleiben und nicht besonders beachten, was hier dazwischengerufen wird.(152D-153A).
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Auch Gesetzesvorlagen, Anträge etc. der PDS, parlamentarische Drucksachen also, können solche Ausgrenzungen provozieren. So reagierte der CDU/CSUAbgeordnete Kansy am 28.01.91 auf einen Antrag der PDS auf Einfrierung der Mieten in den neuen Bundesländern folgendermaßen: Frau Kollegin von der PDS, Ex-SED, 1990 ist übrigens das Jahr..., für das Sie vor zwei Jahrzehnten angekündigt hatten, die Wohnungsfrage als soziales Problem gelöst zu haben.(601B).
Ähnlich Erfahrungen machen PDS-Abgeordnete auch, wenn sie sich mit Kurzinterventionen u.ä. in die Debatte einschalten. So erging es dem Abgeordneten Keller am 22.03.91 wie folgt: K: Die Partei des demokratischen Sozialismus und die Gruppe, die in diesem Parlament arbeitet, sind für alle richterlichen Maßnahmen, die dazu beitragen, die verbrecherischen Machenschaften von Herrn Schalck-Golodkowski, des Ministeriums für Staatssicherheit und des Bereichs Kommerzielle Koordinierung aufzudecken. (1223D).
Dies provozierte folgende Zwischenrufe der CDU/CSU-Abgeordneten Kansy und Bohl: K: Die Milliarden zurück! B: Du mußt das Geld abgeben!(1223D),
wobei offensichtlich auf das Vermögen der SED angespielt wurde, das sich nun in Händen der PDS befand. Nicht anders ergeht es PDS-Abgeordneten in der Regel auch bei Zwischenfragen. Bisweilen fiihren auch nonverbale parlamentarische Aktionen der PDS zu diesen Ausgrenzungen. So sahen sich der CDU/CSU-Abgeordnete Seiters und einer seiner Kollegen zu Zwischenrufen veranlaßt, als Gregor Gysi im Rahmen der Debatte zum Golfkrieg am 31.01.91 mit einer weißen Armbinde zum Rednerpult ging: CDU/CSU: Der trägt die Friedensfahne! S.: Das ist eine unglaubliche Frechheit mit der weißen Binde!(52D).
Nach Beginn von Gysis Rede setzte Seiters noch einmal nach: Gysi mit der weißen Binde! Das ist unglaublich! (52D).
Relativ selten schließlich kommt es vor, daß Ausgrenzungen ohne jeden konkreten Stimulus erfolgen. Beispielhaft ist dafür folgender Ausschnitt einer Rede des CDU/CSU-Abgeordneten Rüttgers im Rahmen der 2. Beratung des Haushaltsgesetzes 1991 am 06.06.91: Verehrte Kolleginnen und Kollegen, uns interessieren die Arbeitsweise des Bereichs KoKo und die Verbindungen zur SED und zum Ministerium für Staatssicherheit; uns interessieren aber auch die Verbindungen zur PDS und zur DKP. Wir wollen wissen, was dort erwirtschaftet wurde, wie es erwirtschaftet wurde und was mit den Erträgen geschah. Weiterhin interessiert uns, was aus den vermutlich mehreren hundert Unternehmen und Untemehmensbeteiligungen geworden ist und wer heute darüber verfugt. Konkret heißt dies: Wir werden dem hin und wieder geäußerten Verdacht nachgehen, daß
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sich das KoKo-Vermögen heute zum Teil in den Händen der PDS und ihrer Treuhänder befindet. (2160B-C).
2.4. Ausgrenzungsintensität Wie hoch ist die Ausgrenzungsfrequenz im Einzelfall? Sind ganze Sequenzen von Ausgrenzungen eher die Regel oder singulare verbale Aktionen? Tabelle 6 gibt hierüber Aufschluß: Tabelle 6: Ausgrenzungssequenzen Sequenz Absolut 1 91 2 98 3 57 4 48 5 42 >5 158 494 Σ
% 18,4 19,8 11,5 9,7 8,5 32,0 99,9
Dabei wird deutlich, daß allein 158 der 494 verbalen Ausgrenzungen zu Sequenzen von mehr als fünf Ausgrenzungen gehören. Das entspricht einem prozentualen Anteil von 32,0%. Sie treten also mit anderen Worten vielfach gehäuft auf. In den übrigen Fällen handelt es sich meist um Zwischenrufe, die punktuell an einer PDS-Rede Anstoß nehmen und daher oft singulär bleiben (91 bzw. 18,4%) bzw. eine (98 bzw. 19,8%) oder zwei (57 bzw. 11,5%) weitere verbale Aktionen - meist aus der eigenen Partei - provozieren. Hohe Ausgrenzungssequenzen finden sich des öfteren, wenn sich die übrigen Redner in einer Debatte auf eine vorausgegangene PDS-Rede beziehen. So erging es etwa dem PDS-Abgeordneten Briefs, der in seiner Rede vom 14.06.91 den Gesetzentwurf seiner Partei zur Treuhandgesellschaft zu begründen hatte. Noch während seiner Rede machte der CDU/CSU-Abgeordnete Gibtner seinem Ärger mit einer Kurzintervention Luft: Herr Dr. Briefs, wir sind selbstverständlich bereit, Anträge und Gesetzentwürfe, die in diesem Hohen Hause eingebracht werden, auf ihren rationalen Kern zu prüfen. Das ist unsere Pflicht als Parlamentarier. Aber ich muß der PDS das Recht absprechen, sich nach dem wirtschaftlichen Chaos, das nach vierzig Jahren SED-Herrschaft in der ehemaligen DDR hinterlassen wurde, hier als Besserwisser der Nation aufzuführen. Zum Schluß stellen Sie noch die Forderung, die Treuhand unter PDS-Parteikontrolle zu stellen. (2512B-C).
Als Briefs seine Rede beendet hatte, schloß sich folgende Sequenz an: Friedhoff (FDP): Meine Damen und Herren von der PDS, die Betonung liegt auf 'sozialer' Marktwirtschaft. Anders als in Ihrem Gesetzentwurf kann von 'kapitalistischer Marktwirtschaft'
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bei der Wirtschaftsordnung der Bundesrepublik nicht die Rede sein. Sie wollen offensichtlich immer noch nicht die Errungenschaften der Sozialen Marktwirtschaft begreifen. Wir dagegen sind froh, daß die alten Zeiten sozialistischer Propaganda endlich vorbei sind. (2513B-C). Carstens ( C D U / C S U ) : ...Deshalb bedarf es keiner Gesetzesänderung, schon gar nicht eines neuen Treuhandgesetzes, wie Sie, meine Damen und Herren von der Gruppe PDS/Linke Liste, es vorschlagen. Daß Sie von erfolgreicher Unternehmensfiihrung nichts verstehen, Herr Kollege Briefs, haben Ihre Vorgänger mehr als 40 Jahre jeden Tag aufs neue bewiesen. (2515D). Neuling ( C D U / C S U ) : Wenn ich dann in dem Problemaufriß ihres Gesetzentwurfs lese, daß der Übergang von der zentralistischen Planwirtschaft zur kapitalistischen Marktwirtschaft sozial verträglich zu gestalten sei, dann sage ich Ihnen: Wir wollen weder das eine noch das andere. Das zeigt deutlich, daß Sie im Grunde genommen nichts, aber auch gar nichts hinzugelernt haben... und daß Ihre Firmenänderung ein nackter Etikettenschwindel ist. Ihnen geht es gar nicht um neue Lösungsansätze, sondern sie wollen offensichtlich nur möglichst viel vom Vermögen der SED retten. Tun Sie den Menschen den Gefallen, sich wieder SED zu nennen. Dann weiß jeder, womit er es zu tun hat... Das ist der Grund, Herr Kollege Briefs, warum man Ihnen das immer wieder sagen muß, solange Sie selbst nicht fähig sind zu lernen. (2519C). Petzold ( C D U / C S U ) : Besonders empört hat mich der Gesetzentwurf der PDS, der ich hier noch einmal ihren alten Namen SED ins Gedächtnis rufen möchte. Hier wird so getan, als ob sie 1989 den Staat DDR als ein blühendes Land und nicht als wirtschaftlichen Trümmerhaufen hinterlassen hätte... Das schlimmste dabei war, daß schon allein das Wissen um diesen Zustand [Umweltbelastung] durch die Genossen des Herrn Modrow schwer bestraft wurde... Die SED/PDS hatte also schon immer in Demagogie ein Weltniveau, das sie uns in wirtschaftlichen Bereichen nur vorspiegelte... Sie versucht mit dem Gesetzentwurf bei der über vier Jahrzehnte betrogenen Bevölkerung in den neuen Ländern Punkte zu sammeln und nach dem Prinzip 'Haltet den Dieb!' die Bundesrepublik für den wirtschaftlichen Niedergang verantwortlich zu machen... Zum Glück hat sich die PDS wenigstens ihre Existenz aus dem volkseigenen Vermögen rechtzeitig gesichert. Es wäre nach ihrer Forderung hier nur richtig, wenn sie ihren ehemaligen Genossen Anteilsrechte an ihrem Vermögen sicherte. (2523C-2524A). Schulz (B 90/Grüne): Ich will hier aber deutlich machen, weil Sie sich immer an dem PDS-Gesetzentwurf aufhängen: Wir haben einen eigenen Gesetzentwurf eingebracht. Es wäre sinnvoll, Sie würden sich damit beschäftigen. Die PDS hat dieser Diskussion einen Bärendienst erwiesen, indem sie mit einem solchen Gesetz vorgeprescht ist. (2527C-D).
Ist die Ausgrenzungsintensität nun über den ganzen hier betrachteten Zeitraum hin gleich oder verändert sie sich über die Monate hin? Diese Frage soll nun
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im nächsten Arbeitsschritt beantwortet werden. Tabelle 7 liefert dafür die nötigen Daten: Tabelle 7: Ausgrenzungsintensität Monat Januar Februar März April Mai Juni September Oktober November Dezember Σ/DS
Sitzungen 5 6 7 5 1 10 10 7 10 6 67
Protokolls. 206 416 612 406 180 1140 848 534 964 514 5820
Ausgrenz. 47 43 78 46 12 108 48 35 50 27 494
Ausgr./50S. 11,0 5,0 6,5 5,5 3,5 4,5 3,0 3,5 2,5 2,5 4,75
Vorab muß hier zunächst einmal darauf verwiesen werden, daß nicht alle Monate des Jahres 1991 in der Tabelle aufscheinen können, da im Juli und im August traditionell Parlamentsferien sind, also auch keine Debatten stattfinden, die für Ausgrenzungen instrumentalisiert werden könnten. Es verbleiben also zehn Monate. Weiterhin ist zu beachten, daß in diesen Monaten unterschiedlich viele Plenarsitzungen stattfinden, die wiederum unterschiedlich lange dauern. Will man also stichhaltige Aussagen zur Entwicklung der Ausgrenzungsintensität im Jahre 1991 erhalten, so muß vorweg ermittelt werden, wieviele Sitzungen mit welcher Dauer auf jeden Monat entfallen. Zunächst fällt dabei auf, daß in den Monaten Juni, September und November mit jeweils 10 Sitzungen die höchste Tagungsintensität zu verzeichnen ist. Entsprechend voluminös ist die Sammlung der zugehörigen Plenarprotokolle und die Menge der in ihnen verzeichneten Ausgrenzungen. So fallen etwa auf den Juni allein 108 aller 494 Ausgrenzungen. Am unteren Ende rangiert der Monat Mai mit nur einer Sitzung, 180 Seiten Plenarprotokoll und 12 Ausgrenzungen. Zur Ermittlung der Entwicklung der Ausgrenzungsintensität müssen allerdings die Zahl der Protokollseiten und die Zahl der Ausgrenzungen in Relation gestellt werden. Nur dann ist eine vergleichende Analyse möglich. In der letzten Spalte ist daher jeweils die durchschnittliche Anzahl von Ausgrenzungen pro 50 Zeiten Plenarprotokoll angegeben. Dabei zeigt sich interessanterweise ein ganz anderes Bild: Feststellbar ist eine eindeutige Abnahme der Ausgrenzungsintensität. Waren im Monat Januar noch 11,0 Ausgrenzungen pro 50 Seiten zu finden, sinkt die Zahl bereits im April auf den Wert von 5,5, um schließlich im Dezember auf die Zahl von 2,5 abzurutschen. Folgende Erklärung bietet sich
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an: Als die PDS im Dezember in den Bundestag einzog, hatten es die übrigen Parteien nun mit einer Gruppierung zu tun, der antidemokratische Gesinnung vorgeworfen wurde und von der es sich deshalb unverzüglich und nachdrücklich zu distanzieren galt. Die völlig ungewohnte Situation, mit einer solchen Gruppe im Parlament zusammensitzen zu müssen, produzierte zu Anfang die häufigen und auch heftigen Ausgrenzungsaktionen. Der Gewöhnungseffekt führte letztlich doch auch im Falle der PDS dazu, daß im Laufe der Monate immer weniger Abgeordnete der anderen Parteien es für nötig oder nutzbringend hielten, auf die PDS einzuschlagen. Auch die Beteiligung dieser Partei an der parlamentarischen Willensbildung wurde zur Routine und von Parlamentariern anderer Fraktionen zunehmend kommentarlos hingenommen, wenn auch nicht gebilligt. 2.5. Erscheinungsformen von Ausgrenzung In welcher Form werden nun verbale Ausgrenzungen bevorzugt vorgenommen? Tabelle 8 zeigt deutlich, daß vor allen Dingen Zwischenrufe für diese Kommunikationsform Anwendung finden. Tabelle 8: Ausgrenzungsform Ausgrenzungsform Zwischenruf Rede Zwischenfrage Interventionen Sonstiges Σ
Absolut 322 153 11 7 1 494
% 65,2 31,0 2,2 1,4 0,2 100,0
Mit 322 von 494 Ausgrenzungen machen sie bereits zwei Drittel aller registrierten Fälle aus. Mit deutlichem Abstand folgen die Reden, auf die 153 Ausgrenzungen bzw. 31,0% entfallen. Zwischenfragen und Interventionen aller Art spielen mit 2,2% bzw. 1,4% nur eine marginale Rolle. Entsprechend variieren auch Länge und Umfang der Ausgrenzungen ganz erheblich, wie Tabelle 9 zeigt.
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Tabelle 9: Ausgrenzungsdauer Wortzahl 1 2-5 6-10 11-15 16-20 21-25 26-30 31-35 36-40 41-45 46-50 >50 Σ
Absolut 17 104 142 47 12 13 17 12 7 8 14 101 494
% 3,4 21,1 28,7 9,5 2,4 2,6 3,4 2,4 1,4 1,6 2,8 20,4 99,7
Hier zeigt sich, daß ein Schwerpunkt bei Wortzahlen zwischen 2-5 mit 21,1% und 6-10 mit 28,7% vorzufinden ist, ein zweiter aber bei Wortzahlen über 50. Es liegt auf der Hand, daß der erste Schwerpunkt überwiegend durch Zwischenrufe, die per se sehr kurz gehalten sind und in der Regel kaum Satzeslänge überschreiten, gebildet werden. Der zweite umfaßt folglich durchweg Reden, in denen die Wortzahl von 50 mit drei oder vier normalen Sätzen mühelos erreicht oder überschritten wird. Insgesamt bedeutet dies, daß sich bei Plenardiskussionen im Bundestag zwei klassische Ausgrenzungssituationen ergeben. Im ersten Fall stehen einem Redner der PDS einer oder mehrere Zwischenrufer gegenüber, die seine Ausführungen kritisch begleiten und des öfteren den Versuch machen, die Rede nachhaltig zu stören, mithin die kommunikative Position des Redners zu schwächen. Im anderen Fall beziehen sich Redner von CDU/CSU, SPD, FDP und B90/Grüne auf vorangegangene Beiträge der PDS, um detailliert ihre ausgrenzenden Formulierungen entfalten zu können. Zwischenrufe der PDS spielen demgegenüber eine nur geringe Rolle, werden aber, wenn sie doch kommen, meist umso heftiger beantwortet. Auch hier sollen einige Beispiele zur Illustration dieser Ausführungen dienen. Zwischenrufe haben in der Regel Satzeslänge, weswegen wir einfach hingeworfene Stichworte wie „Brandstifter!" (Büttner, CDU/CSU, 118B), „Brunnenvergifter!" (CDU/CSU, 2835C), „Stasi!" (Kansy, CDU/CSU, 2835C), „Schild- und Schwerterpartei!" (CDU/CSU, 1314A) oder „StasiAbschnitts-Kommandeur!" (Bohl, CDU/CSU, 3260B) nur selten finden. Schon häufiger sind Satzfragmente zu verzeichnen, die in der Hitze des Gefechts nicht mehr voll ausformuliert werden können, sondern Torso bleiben.
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Beispiele hierfür sind etwa: „Organisiertes Verbrechen!" (CDU/CSU, 1314B), „Weißwaschen wollen!" (CDU/CSU, 1314B) oder „So ein Stasi-Bonze da!" (Blank, CDU/CSU, 842A). Kurze, aber vollständige Sätze sind aber bei Zwischenrufen eher die Regel. Auch hierfür lassen sich viele plastische Beispiele finden: „Das ist ein StasiBruder!" (Gerster, CDU/CSU, 842A), „Von der Peitsche verstehen Sie etwas!" (Heise, CDU/CSU, 694A-B), „Es spricht der SED-Hofjurist!" (CDU/CSU, 4786A), „Mit kommunistischen Grüßen, Ihr Briefs!" (Kittelmann, CDU/CSU, 2225C) oder „Warum habt ihr sie dann unmenschlich behandelt?" (Carstensen, CDU/CSU, 2084D). Längere Zwischenrufe werden seltener getätigt, da sie in der Regel Satzeslänge überschreiten bzw. komplexere Sätze erfordern und daher auch dem Zwischenrufer, der sich mit lauter Stimme für das Protokoll bemerkbar und sich gegen den mit Mikrophon sprechenden Redner durchsetzen muß, einen kommunikativen Kraftakt abverlangen. Dies wird nicht gern gemacht. Wenn es dennoch vorkommt, dann in folgender Art und Weise: „Gewöhnen Sie sich bitte einmal daran, daß wir eine demokratische Verfassung haben!" (Roth, CDU/CSU, 5264C), „Sie Poststalinist! Das können Sie im Keller sagen, Herr Keller!" (CDU/CSU, 5290D), „Die Kommunisten müssen sich für die Theologen einsetzen, jawohl! Gerade für die Theologen! Wenn die die Kommunisten nicht hätten!" [Bezogen auf den seines Amtes enthobenen Rektor der Humboldt-Universität Fink] (CDU/CSU, 5476B) oder „Nehmen Sie sich ein Beispiel an der KPdSU, indem Sie sich auflösen! Das wäre am besten!" (Bohl, CDU/CSU, 3072A-B). Auch in Reden können kürzere Ausgrenzungen vorkommen, wie die folgende Reaktion Theo Waigels auf einen Zwischenruf des PDS-Abgeordneten Briefs verdeutlicht: Ihnen würde es zustehen, daß es Ihnen schlechter geht. Das kann ich Ihnen sagen. (4607A)
Die Regel ist dies aber nicht, sondern ein Reaktionsverhalten, wie es etwa der FDP-Abgeordnete Zywietz am 19.06.91 an den Tag legte, als er den Antrag der PDS betr. Erlassung der Schulden Nicaraguas gegenüber der DDR kritisch kommentierte: Zu Ihnen [PDS] komme ich noch; denn ich muß sagen: Ich habe nur ein paar Mal Ihren Antrag nachdenklich angeschaut. Giner doch sehr heuchlerischen und doppelgesichtigen Aufmachung kann man sich nicht entziehen. Natürlich verdient Nicaragua Hilfe, wie ich sagte. Sie, Kollegin Fischer, sprechen hier aus persönlicher Betroffenheit. Ich habe nachgelesen, daß Sie in diesem Land einige Zeit gearbeitet haben. Aber der ExMinisterpräsident der früheren DDR, Dr. Hans Modrow, der diesen Antrag mitunterzeichnet hat, ist nicht hier, obwohl er während seiner verantwortlichen Regierungszeit genau das hätte tun können, was Sie hier einfordern. Sie tun dies in einer seltsamen Penetranz, als hätte eine Wiedervereinigung gar nicht stattgefunden. Sie sprechen hier nur von den 'Schulden Nicaraguas gegenüber der DDR', das in einem Antrag vom 25.April
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1991. Das macht deutlich, daß bei Ihnen im Kopf eine Wiedervereinigung eigentlich noch gar nicht stattgefunden hat und daß Sie - das ist eigentlich das Peinliche an diesem Antrag - als die Brandstifter der Vergangenheit hier auftreten und in die Rolle der Biedermänner schlüpfen, als hätte Ihnen das Schicksal Nicaraguas schon immer besonders am Herzen gelegen. (2679D-2680A)
Gelegentlich wird auch mit Zwischenfragen versucht, den Redner der PDS aus dem Konzept zu bringen. Beispielsweise versuchte es der FDP-Abgeordnete Nolting am 19.06.91 bei Dagmar Enkelmann, die zum Bericht des Petitionsausschusses 1990 sprach, folgendermaßen: Frau Kollegin, sie haben gerade in Zweifel gezogen, daß die Bundesregierung die Voten des Petitionsausschusses berücksichtigt. Darf ich Sie fragen: Wie hat denn die SEDRegierung die Beschlüsse der Volkskammer berücksichtigt? Dies auch vor dem Hintergrund, daß Sie seit 1977 Mitglied der SED sind? (2650D)
Schließlich spielen noch Kurzinterventionen eine Rolle, wenn Abgeordnete der anderen Parteien - oft aus Ostdeutschland stammend - ihrer persönlichen Betroffenheit über Vorlagen oder Beiträge der PDS zum Ausdruck bringen wollen. Gerade diese Form der Ausgrenzung ist daher in der Regel besonders nachdrücklich und heftig. Beispielhaft ist hier etwa Markus Meckel (SPD) im Rahmen der 2. und 3. Beratung des Stasi-Unterlagen-Gesetzes am 14.11.91: Herr Kollege Heuer, was ich soeben gehört habe, hat mich zutiefst erschüttert. Ich denke, es wäre sehr angemessen gewesen, wenn der Vertreter der PDS, die die Nachfolgeorganisation der SED ist, an diesem Tag wenigstens sein Bedauern darüber geäußert hätte, was ihre Vorgängerorganisation in 40 Jahren getan hat. (4722C).
2.6. Ausgrenzungsmethoden Welche der von der Ethnomethodologie herausgearbeiteten Methoden der Ausgrenzung lassen sich nun bei unserem Beispiel isolieren? Tabelle 10 gibt darüber Aufschluß. Tabelle 10: Ausgrenzungsmethode Ausgrenzungsmethode Strat. Kontextbild. Degradierung Komm.Deprivation Σ *) Mehrfachnennungen möglic 1
Absolut 392 227 20 639*)
% 61,3 35,5 3,1 99,9
Zunächst einmal ist festzuhalten, daß - klarerweise - Liquidierung hier nicht aufscheinen kann, da es den Parlamentariern nicht möglich ist, die Präsenz der PDS-Abgeordneten im Parlament im allgemeinen und im Plenum im besonderen mit wie auch immer gearteten Mitteln zu verhindern. Gebunden an den demokratischen Grundkonsens, respektieren sie in der Regel die Wahlent-
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Scheidung des Volkes und lassen - wenn auch oft widerwillig - Vertreter radikaler Parteien im Bundestag zu Wort kommen. Die demokratische politische Kultur, die von den Parlamentariern durchweg gut internalisiert ist, verhindert mit anderen Worten zuverlässig etwaige Liquidierungsbestrebungen. Kommunikative Deprivation spielt in unserem Zusammenhang ebenfalls eine nur geringe Rolle. Nur 20 Ausgrenzungen (3,1%) sind diesem Typus zuzuordnen. Dies soll aber nicht bedeuten, daß diese Ausgrenzungsmethode für den parlamentarischen Alltag insgesamt nur eine marginale Rolle spielte. Das Gegenteil ist der Fall, doch schlägt gerade sie sich kaum in verbalen Äußerungen nieder: Kommunikative Deprivation wird einfach praktiziert. Man redet also im allgemeinen nicht darüber, daß man mit bestimmten Leuten nicht redet. Man tut es, vermeidet jeden Kontakt zur entsprechenden Zielgruppe, hier also der PDS. Begründet man dies dennoch einmal in verbaler Form, so nimmt dies regelmäßig folgende Formen an: Wolfgang Weng (FDP) am 31.01.91 im Rahmen der Ausspreche zur Regierungserklärung zur Kulturpolitik in den neuen Ländern: Es fällt nicht ganz leicht, an dieser Stelle jetzt das Wort zu ergreifen, weil öffentlich der Eindruck entstehen könnte, man habe mit dem Vorredner [der PDS] irgend etwas zu tun... Ich habe das nicht. Ich gehe auch auf nichts ein, was hier vorgetragen worden ist, weder inhaltlich noch zu der Art und Weise. Ich sage das in voller Absicht, weil der Beginn meiner Rede sonst falsch interpretiert werden könnte. (178D-179A)
Herbert Meißner (SPD) am 17.10.91 zur Großen Anfrage der PDS betr. Treuhänderische Verwaltung des volkseigenen Vermögens der DDR: Ich will natürlich nicht ausführlich auf die Fragen Ihrer Großen Anfrage eingehen, Herr Schumann. Das wäre doch verschwendete Zeit, meine ich. (4191A)
Klaus Rose (CDU/CSU) am 04.09.91 im Rahmen der 1. Beratung des Bundeshaushalts 1992: Herr Präsident! Meine Damen und Herren! Die Ausführungen des PDS-Vertreters mit Negierung strafend, komme ich zum Haushalt 1992. (3229B-C)
Auch in Zwischenrufen wird diese Methode bisweilen angewendet. So führte der PDS-Abgeordete Schumann am 07.06.91 in seiner Rede zum Thema Volksabstimmungen etwa aus: In dieser Beziehung kann eine Volksabstimmung schon ein regulatives Element sein. Vielleicht können wir uns einmal in Ruhe über diese Problematik unterhalten. Ich bin zu solchen Diskussionen gern bereit. (2266A),
um von der FDP lediglich den folgenden lapidaren Zwischenruf zu ernten: „Wir aber nicht mit Ihnen!" (2266A). Die beherrschende Rolle spielt zweifellos die Methode der strategischen Kontextbildung, die wesentlich subtiler und süffisanter gehandhabt werden kann und trotzdem alles Ausgrenzende deutlich macht. Bei den Bundestagsabgeordneten ist sie deshalb besonders beliebt. Fast zwei Drittel aller Aus-
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grenzungen entfallen auf diese Methode. Gerade im Falle der PDS ist sie auch besonders leicht anzuwenden, bedeutet strategische Kontextbildung hier doch regelmäßig den mehr oder weniger offenen Hinweis auf die Vorgängerorganisation SED und den von ihr gesteuerten Unrechtsstaat DDR. Auch alle Mißstände in Ostdeutschland, seien sie nun umweltpolitischer, verkehrspolitischer, bildungspolitischer, wirtschafts- oder sozialpolitischer Natur, werden der PDS mit mehr oder weniger dezenten Hinweisen regelmäßig angelastet. Oft werden auch ehemalige SED-Funktionäre, wie etwa Hans Modrow oder Dietmar Keller, explizit und namentlich angesprochen und auf ihre politische Position in der DDR und ihre damit verbundene Verantwortung fur die herrschende Misere hingewiesen. So gibt es also ein großes Spektrum an Anwendungsmöglichkeiten für diese Methode. Folgende Beispiele sollen das verdeutlichen: Auf die Aussage Hans Modrows in der Debatte vom 31.01.91: Aber es ist auch an der Zeit, auf die Bedrohung des inneren Friedens zu achten. Im Osten Deutschlands wird die Wirtschaft zerstört, werden Millionen Bürgerinnen und Bürger ihrer sozialen Existenzgrundlage beraubt. (118B)
reagierte ein Zurufer der CDU/CSU lapidar mit: „Von wem?" (118B). Mehr mußte nicht gesagt werden, jeder im Plenarsaal wußte, daß Hans Modrow und die SED gemeint waren. Ähnlich erging es der PDS-Abgeordneten Jelpke am 05.06.91 im Rahmen der 2. Beratung des Bundeshaushalts 1991, wo sie ausführte: Kosmetische Korrekturen an diesem Haushalt helfen nicht. Die Finanzierung dieser undemokratischen Politik der inneren Sicherheit muß radikal eingeschränkt werden. (1978D).
Dafür erntete sie einen ebenso lakonischen CDU/CSU-Zwischenruf: „Das müssen gerade Sie uns erzählen!" (1978D) - jeder wußte, was gemeint war. Ihr Parteikollege Heuer machte ähnliche Erfahrungen. Auf seine Ausführungen zum Haushaltsgesetzentwurf 1991 am 04.06.91: Wir können uns zu diesem Vorhaben [Gesetz zur Entlastung der Rechtspflege] nur der Erklärung der Rechtsanwaltskammer Berlin anschließen, die von einem nachdrücklichen Protest gegen den massiven Abbau der Rechtsstaaatlichkeit und der Uber Jahrzehnte gewachsenen Rechtskultur spricht. (1910B)
erntete er folgende höhnische Zwischenrufe der FDP-Abgeordneten Kleinert und Weng: „Rechtskultur? Ich höre immer 'Rechtskultur'!" und „Ausgerechnet von der SED!" (1910B). Gregor Gysi schließlich mußte sich am 04.09.91 auf folgenden Redebeitrag: Ich glaube, daß viele, nicht nur im Osten, sondern auch im Westen, davon ausgingen, daß die Erhaltung des Status quo eine Voraussetzung für den Frieden in Europa sei. (3035D),
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vom Unionsabgeordneten Gerster sagen lassen: „Sie sind aber der Status quo ante!" (3035D). In Redebeiträgen kann diese Methode noch wesentlich subtiler und elaborierter zelebriert werden, wie die folgenden Ausführungen des CDU/CSUAbgeordneten Hörster vom 20.09.91 im Kontext der 1. Beratung des Gesetzentwurfs der Bundesregierung zur Bekämpfung des illegalen Rauschgifthandels und anderer Erscheinungsformen der organisierten Kriminalität belegen: Wir können sicherlich nicht die beiden Systeme, das System des Überwachungsstaates, der Ihre Erfahrungen prägt, und das System richterlicher Maßnahmen und gesetzlich kontrollierter Ermittlungsbehörden, in einen Topf werfen. Ich halte es für ausgesprochen wichtig, diese Differenzierung vorzunehmen... Ich räume gerne ein, die besonderen Kenntnisse in diesem Zusammenhang, die bei den Damen und Herren der PDS vorliegen mögen, habe ich nicht. (3521B).
Die Verstrickung der PDS via Vorgängerorganisation SED in Unrechtstaten und Willkürherrschaft wird hier klar und deutlich behauptet, ohne daß dies in grober oder auch allzu direkter Form erfolgte. Daß diese Methode aber durchaus auch weniger feinfühlig angewendet werden kann, beweist etwa Andreas Schmidt von der CDU/CSU, wenn er der PDS am 10.10.91 vorwirft: Lassen Sie mich zwischendurch sagen: Es berührt mich immer komisch, wenn die PDS hier ihre alte Ideologie vertritt; denn diese Ideologie ist auch schuld an der Armut in diesen Ländern. (3879A)
Oftmals halten sich die Abgeordneten aber nicht damit auf, durch strategische Kontextbildung auf die Herkunft der PDS und die damit verbundene Verantwortung zu verweisen. In über einem Drittel der Fälle (35,5%) machen sie deren Abgeordneten unverblümt deutlich, daß sie ihnen die Gleichberechtigung im parlamentarischen Diskurs absprechen, sie also förmlich und bewußt als Kommunikationspartner degradieren. Meist ist dies der Hinweis auf eine antidemokratische Gesinnung der PDS-Abgeordneten, wobei diese Aussage regelmäßig mit der Einschätzung der Lernunfähigkeit verknüpft wird: sie werden durchweg als bornierte und unverbesserliche Kommunisten dargestellt, die die Zeichen der Zeit nicht erkannt haben und somit einen Fremdkörper in der freiheitlichen demokratischen Grundordnung darstellen müssen. Als ernstzunehmende Gesprächspartner können sie daher nicht betrachtet werden, eher schon als eine Gefahr für die Demokratie. Genau das aber bedeutet kommunikative Degradierung. Auch hierfür ein paar Beispiele: Gregor Gysi erhielt am 26.04.91 im Rahmen der von der PDS beantragten Aktuellen Stunde zu „Folgerungen aus dem Urteil des BVG vom 24.04.91 zur Abwicklung" auf seinen Redebeitrag: „Eigentlich dürfte es gar nicht in erster Linie meine Aufgabe sein, darüber nachzudenken" [Folgen der Abwicklung],"(1645D) folgenden Zwischenruf der FDP-Abgeordneten Babel: „Sie sind der letzte, der dazu reden kann!" (1645D).
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Ähnlich erging es seinem Parteikollegen Henn am 19.04.91. In seiner Rede, hier gerichtet an einen bayerischen Abgeordneten, führte er aus: „An Ihrer Sprache merkt man, daß Sie aus dem tiefsten Bayern kommen. Sie sollten bei meiner Rede gehört haben, daß ich aus Niedersachsen komme." (1438A) Darauf reagierten der CDU/CSU-Abgeordnete Hinsken und einer seiner Fraktionskollegen mit folgenden Zwischenrufen: „Aber Kommunist sind Sie!" „Das ist kein positiver Zug, daß Sie aus Niedersachsen kommen!" (1438B). Auch in Reden werden PDS-Abgeordnete des öfteren öffentlich degradiert. Ein plastisches Beispiel ist die Rede des FDP-Abgeordneten Jörg van Essen vom 14.05.91 zum Thema „Rehabilitierung der Opfer des SED-Unrechtsstaates": Rehabilitation ist ein Thema, das man nicht ohne Emotionen angehen kann, insbesondere dann nicht, wenn man den Beitrag des Kollegen Heuer gehört hat... Ich denke, dieser Redebeitrag war eine Verhöhnung der Opfer der Diktatur der SED. (1795C-D)
Die Abgeordneten belassen es vielfach auch nicht dabei, nur die eine oder die andere Ausgrenzungsmethode anzuwenden. Wie aus den Mehrfachnennungen in Tabelle 10 bereits ersichtlich, kommt es ganz im Gegenteil recht häufig vor, daß die Methoden kombiniert werden. Vorzugsweise geschieht dies mit der strategischen Kontextbildung einerseits und der Degradierung andererseits. Dem liegt eine gewisse Logik zugrunde, die vielfach auch im Aufbau der ausgrenzenden Äußerungen zum Vorschein kommt: die strategische Kontextbildung bereitet die am Ende stehende Degradierung systematisch vor, liefert hierfür die notwendigen Informationen und Begründungen bzw. zögert die kommunikative Exekution geradezu lustvoll hinaus. Die in der Kombination der Methoden verfugbaren dramaturgischen Mittel werden von den Abgeordneten deshalb sehr gerne verwendet. Dies gilt für Reden wie für Zwischenrufe gleichermaßen, wobei bei letzteren aufgrund deren Kürze eine klare Differenzierung in kontextbildende und degradierende Passagen kaum möglich ist. Hans Modrow etwa widerfuhr am 05.06.91 im Rahmen einer Geschäftsordnungsdebatte zur Einrichtung eines EG-Ausschusses folgendes: Auf seinen Redebeitrag: „Schließlich ist die PDS/Linke Liste der Auffassung, daß der vorgeschlagene [EG-] Ausschuß demokratische Elemente im europäischen Integrationsprozeß befördern und stützen kann." (1964C) antwortete ihm der CDU/CSU-Abgeordnete Fuchtel mit dem lapidaren Zwischenruf: „Davon verstehen Sie doch nichts!" (1964C) Die kurze Sentenz beinhaltet zweierlei: einerseits wird deutlich auf die DDR-Vergangenheit Modrows verwiesen, was strategische Kontextbildung darstellt, zum anderen soll zum Ausdruck gebracht werden, daß Modrow auch gegenwärtig nichts von Demokratie versteht oder verstehen will, was formelle Degradierung und Ablehnung als Gesprächspartner bedeutet. Ähnlich erging es seiner Parteikollegin Bläss, die am 22.03 .91 während der 2. und 3. Beratung des Gesetzes über die Anpassung der Renten der gesetzli-
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chen Rentenversicherung und der Geldleistungen der gesetzlichen Unfallversicherung im Jahre 1991 zunächst folgendes ausführte: Das Fehlen einer Mindestrentenregelung - die es in der DDR übrigens auch für Menschen mit Behinderungen gab -, die Berechnungsweise der Renten für Frauen - das sind alles Ursachen dafür, daß viele Rentnerinnen in die Sozialhilfe getrieben werden und unter Altersarmut leiden. (1231A) D i e s provozierte folgenden Zwischenruf des Unionsabgeordneten Rüttgers: „Ihr habt die Leute ausgebeutet und spuckt hier große Töne!" ( 1 2 3 1 A ) . Ebenso häufig kommt die Kombination beider Methoden in Reden vor. Auch dazu z w e i Beispiele. Zunächst der C D U / C S U - A b g e o r d n e t e UelhofF am 0 5 . 0 9 . 9 1 im Kontext der 1. Beratung des Bundeshaushalts 1992 in Reaktion auf eine Rede der PDS-Abgeordneten Bläss: Im übrigen ballt sich einem doch die Faust in der Tasche, wenn Vertreter der SEDNachfolgeorganisation uns hier sagen wollen, wie man eine vernünftige Sozialpolitik macht... Sie haben 18 Millionen deutsche Menschen in eine soziale und wirtschaftliche Katastrophe geführt... Ich kann nur sagen. Schämt euch, schweigt und lernt! Das wäre die richtige Konsequenz. (3166C-D) Besonders ausfuhrlich beschäftigte sich der Unionsabgeordnete Gerster am 0 5 . 0 6 . 9 1 während der 2. Beratung des Haushalts 1991 mit der Abgeordneten Jelpke und führte sie und den Rest der Partei regelrecht vor: Frau Jelpke, Sie sind in der Nachfolgepartei der SED. Ich will Ihnen nur zwei Dinge entgegenhalten: Ist Ihnen wirklich entgangen, daß das Bundesamt für Verfassungsschutz, das für jetzt 78 Millionen Menschen gesetzliche Verantwortung trägt, gerade 3000 Mitarbeiter hat und die Partei, für die Sie in der Nachfolgepartei ein Stück Mitverantwortung tragen, die SED, ein Ministerium für Staatssicherheit unterhalten hat, das für 16 Millionen Bürger über 200000 Mitarbeiter hatte?... Da kommen Sie, die Sie als Vertreterin der Nachfolgepartei der SED auftreten und damit fur eine Partei stehen, die fur das Ministerium für Staatssicherheit und seine Schnüffler Verantwortung trägt, hierher und wollen diesem Bundesamt für Verfassungsschutz dieselben Methoden andrehen... Sie sollten sich da wirklich ein Stück weit schämen... Ist Ihnen wirklich entgangen - wenn Ihnen das Argument der Zahlen nichts gibt-, daß der Verfassungsschutz in dem Rechtsstaat Bundesrepublik Deutschland, der eine gesetzliche Zuständigkeit für Terrorismus, für gewalttätigen Extremismus und für Spionageabwehr hat, ausschließlich die Aufgabe hat, auf Grund der Rechtsgrundlagen Informationen zu sammeln und auszuwerten, daß dieser Verfassungsschutz nicht vorladen darf, daß er nicht verhören darf, daß er keinen verhaften darf, daß er keinen inhaftieren darf, daß er keinerlei exekutiven Maßnahmen ergreifen kann und in einer engen Zweckbindung nur auf Grund eines gesetzlichen Auftrags konkret zum Sammeln von Informationen tätig werden kann, die dann z.B. nur zu Maßnahmen führen, die durch ordentliche Gerichte angewiesen werden? Ist Ihnen wirklich unbekannt, daß in der Bundesrepublik Deutschland nach dem G-10-Gesetz nur auf Grund dieses Gesetzes abgehört werden kann, und zwar nach einer Genehmigung durch eine parlamentarische Kontrollinstanz? Da wagen Sie es, als Mitglied der PDS hierherzutreten und die Methoden, für die Ihre Partei immer noch Verantwortung trägt, auf die Bundesrepublik Deutschland zu übertragen! Das lehne ich ab. Das weisen wir zurück. Sie haben hier keinerlei Anspruch, moralische Grundsätze zu vertreten, die Sie selbst verletzt haben... Meine Damen, meine Herren, ich bin auch der
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Meinung, daß Sie bis zum Jahre 2000 ausgedient haben... Sie sollten sich zunächst einmal in den demokratischen Grundsätzen einüben und dann hier den moralischen Lehrmeister spielen. (1990B-D)
Bisweilen kommt es sogar vor, daß alle drei Methoden simultan verwendet werden. Abschließend auch dazu zwei Beispiele. Zunächst der SPDAbgeordnete Struck am 06.06.91 zur Begründung des Antrags auf Einsetzung eines Ausschusses zur Untersuchung der KoKo-Affäre: In diesem Zusammenhang sei ein Wort an die PDS/Linke Liste gerichtet. Ich würde es schon fur sehr eigenartig halten, meine sehr verehrten Damen und Herren, wenn der Vorsitzende der Rechtsnachfolgerin der SED, Herr Kollege Gysi, Mitglied dieses Untersuchungsausschusses würde... Ich denke, daß man damit den Bock zum Gärtner machte. Sie sollten sich das sehr ernsthaft überlegen. (2158C)
Und schließlich Wolfgang Schäuble am 05.06.91 im Rahmen der 2. Beratung des Bundeshaushalts 1991, gerichtet an den Abgeordneten Poppe vom Bündnis 90/Grüne: Ihre Vorrednerin [die PDS-Abgeordnete Jelpke] von der SED-PDS hat von der totalen Überwachung von Ausländern in den fünf neuen Ländern gesprochen. Ich habe mich wirklich gefragt - sie ist schon gegangen; das schadet auch weiter nichts-: Wo kommt sie denn eigentlich her?... Mit zu dem wirklich bitteren Erbe, das uns die DDR hinterlassen hat, mit dem wir uns herumschlagen müssen und weswegen es u.a. so wichtig ist, daß wir schnell eine leistungsfähige Polizei und auch einen leistungsfähigen Verfassungsschutz in den fünf neuen Ländern aufbauen, gehört die Gefahr, daß nach vierzig Jahren totalitärer Herrschaft in der DDR die Menschen noch nicht gelernt haben, mit Ausländern zusammenzuleben, ... und daß es Bösewichte, Rechtsradikale insbesondere, gibt, die mit dem Schüren von Ausländerhaß ihre Suppe kochen wollen.. Und jetzt müssen wir uns das von der SED-PDS vorhalten lassen. (1982C-D)
3. Fazit Zusammenfassend ist folgendes festzuhalten: 1. Verbale Ausgrenzung politischer Gegner, hier der PDS, ist im Deutschen Bundestag an der Tagesordnung. Gerade die Regierungsparteien CDU, CSU und FDP, die auf dem Parteienspektrum am weitesten von der Nachfolgepartei der SED entfernt sind, tun sich hier besonders deutlich hervor. 2. Die Ausgrenzungsakte erfolgen in aller Regel nicht unmotiviert, sondern sind meist auf entsprechende Stimuli der PDS zurückzufuhren. Verbale Ausgrenzung ist also mit anderen Worten durchweg nicht sorgsam geplant, sondern entspringt, durch einen entsprechenden Katalysator ausgelöst, der Situation. 3. In der Regel verteilen sich die Ausgrenzungen recht gleichmäßig auf die einzelnen Abgeordneten, da das Plenum je nach Diskussionsthema recht
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unterschiedlich zusammengesetzt ist und die meisten Parlamentarier nur ab und an die Chance erhalten, sich dort in den Diskurs einzuschalten. Nur den Fraktionsführungen und den per Amt ständig im Plenum präsenten Abgeordneten bietet sich dafür des öfteren eine Gelegenheit, die sie dann auch häufiger nutzen. Bei der PDS andererseits finden sich bestimmte Parlamentarier, die bevorzugt zur Zielscheibe gegnerischer Angriffe werden. Prominente Altkommunisten und Parteifunktionäre, aber auch westdeutsche Proselyten finden sich in dieser Spitzengruppe. Die Partei an Ganzes wird seltener angegriffen, meist sind die Ausgrenzungen gegen Individuen gerichtet. Ausgrenzungen treten des öfteren in Häufung auf - insbesondere dann, wenn auf die Rede eines PDS-Abgeordneten mit ganzen Sequenzen von Zwischenrufen (meist immer derselben Abgeordneten) reagiert wird. Es kommt auch immer wieder vor, daß eine PDS-Rede eine Reihe von ausgrenzenden Äußerungen in nachfolgenden Debattenbeiträgen provoziert. Singulär bleibende Ausgrenzungen sind meist Zwischenrufe. In longitudinaler Perspektive ist gleichwohl eine Abnahme der Ausgrenzungsintensität zu beobachten. Durch den Gewöhnungseffekt verringerte sich bei den Parlamentariern der übrigen Parteien zunehmend die Bereitschaft und auch die Energie, verbal auf die PDS einzuschlagen. Unwillige Duldung ersetzte offene Stigmatisierung. In der überwiegenden Zahl der Fälle werden fur verbale Ausgrenzungsakte Zwischenrufe verwendet. Dieses Mittel ist bei den Parlamentariern besonders beliebt, erfordert es doch nicht wie bei einer Rede systematische Vorbereitung oder zumindest reflektiertes und durchdachtes Antwortverhalten, sondern kann situativ und spontan mit gleichwohl guter Wirkung eingesetzt werden. Kommt es dennoch innerhalb von Redebeiträgen zu solchen Ausgrenzungsaktionen, dann sind sie meist besonders ausführlich und heftig. Die von der Ethnomethodologie konzeptualisierten Ausgrenzungsmethoden sind auch im vorliegenden Fallbeispiel nachzuweisen. Auszunehmen ist hiervon lediglich die „Liquidierung", die in der parlamentarischen Auseinandersetzung per se nicht zum Einsatz kommen kann. Bevorzugt wird die „Strategische Kontextbildung" verwendet, ermöglicht sie es doch den Abgeordneten auf subtile, aber dennoch deutliche Art und Weise, politische Herkunft und weltanschauliche Orientierungen der Gegner von der PDS aufzuzeigen und regelmäßig mit dem Vorwurf der strukturellen Lernunfähigkeit zu verknüpfen. Die Abgeordneten des Deutschen Bundestags haben gerade darin eine besondere Fertigkeit entwickelt. „Degradierung" kommt auch recht häufig vor, wird aber vielfach mit der strategischen Kontextbildung verknüpft bzw. systematisch von dieser vorbereitet: nach einer oft detaillierten Beschreibung der Außenseiterposition des jeweils gemeinten Individuums schließt sich oft die verbale Hinrichtung an.
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„Kommunikative Deprivation" schließlich erscheint im vorliegenden D a tenmaterial seltener, da sie im parlamentarischen Alltag meist nonverbal betrieben wird und daher keinen Niederschlag im Datenmaterial findet. Sie wird ohne Worte praktiziert, aber nicht verbal thematisiert.
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Reaktionen demokratischer Parteien auf Wahlerfolge rechtsextremistischer Gruppierungen PETRA DEGER
(Regensburg)
Inhaltsverzeichnis: 0. 1. 2. 3. 3.1. 3 .2. 3.3. 4. 4.1 4.2 5. 6. 7.
Einleitung Extremisten im demokratischen Verfassungsstaat Die N P D in den 60er Jahren als Beispiel Demokratische Parteien: Diskurse über die 'extremistische Bedrohung' Der problematische Begriff der (deutschen) Nation Möglichkeiten und Grenzen der politischen Bildung Ein Verbotsantrag? Verbale Differenzierungen - Extremisten sind nicht mit deren Wählern gleichzusetzen Pathologisierung: entschiedene Ablehnung der N P D Aufklärung: die Wähler der NPD sind keine Extremisten Parteipolitische Reaktionsmuster zwischen den Idealtypen wählerzentriert oder parteizentriert Aktuelle Betrachtung - demokratische und extremistische Parteien in der (neuen) Bundesrepublik Bibliographie
0. Einleitung Nach den Wahlerfolgen der Republikaner - seit Ende der 80er Jahre - setzte in der Bundesrepublik die zweite Phase massiver publizistischer Bearbeitung von gemeinhin unter dem Begriff Rechtsextremismus zusammengefaßten Phänomenen ein. Das gleiche Phänomen war schon zwischen 1966 und 1970 zu beobachten, als die N P D im Laufe von vier Jahren in sieben Länderparlamente einziehen konnte und den Einzug in den Bundestag 1969 nur knapp verpaßte. Die Bilder gleichen sich: wieder gibt es eine Flut populärwissenschaftlicher Darstellungen, wieder ist man im In- und Ausland alarmiert wegen der 'braunen Gefahr' in Deutschland und wieder stehen die politischen Amtsträger der Situation ziemlich ratlos gegenüber.
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1. Extremisten im demokratischen Verfassungsstaat Thomas Ellwein schrieb, „daß sich jede Gesellschaft und vor allem jede Mehrheit und jede Minderheit einen großen Teil ihrer Extremen selbst schafft - und zwar auch durch Definition, Denunziation oder durch scheinbar wissenschaftliche Bestätigung von Vorurteilen" (Ellwein 1987, 105). Extremismus basiert auf einer Definition des 'Extremen', des von der Mehrheit und der Norm abweichenden. Politische Extremisten können den Bestand eines Staates gefährden, dessen Konstitution grundlegend verändern, wenn sie Einfluß und Machtpotential besitzen. Freiheitliche Staaten stehen vor einem Dilemma. Ihre liberale Verfassung fordert einerseits Toleranz gegenüber Andersdenkenden. Andererseits kann durch diese Toleranz die demokratische Staatsform gefährdet sein. So gilt es, die Grenze zu ziehen zwischen der Freiheit gegenüber Extremen und dem Schutz der freiheitlichen Demokratie. In Anbetracht der deutschen Vergangenheit ist es nicht verwunderlich, daß Extremisten hier mehr Aufmerksamkeit zuteil wird als in anderen westlichen Demokratien. So unentbehrlich ein Begriff für 'Nicht-Demokraten' in der politischen Wissenschaft ist, um die Realität in demokratischen Verfassungsstaaten zu beschreiben, so schwer tut sich die wissenschaftliche Diskursgemeinde, einen solchen zu finden. Es gibt eine außerordentliche begriffliche Vielfalt in diesem Bereich - Extremismus, Radikalismus, politische Kriminalität, verfassungsfeindliche Bestrebungen - werden synonym verwandt. „Extremismus" ist allerdings der in den letzten beiden Jahrzehnten gebräuchlichste. Als Extremisten werden in demokratischen Verfassungsstaaten1 politische Gegner von rechts und links bezeichnet. Die Termini 'Extremisten' und 'demokratischer Verfassungsstaat' haben einen nicht zu übersehenden normativen Gehalt, sind also nicht nur Tatsachen der Seinswelt, sondern stehen in Verbindung mit der Sollenssphäre (vgl. Acham 1975, 147f). In dieser Titulierung steckt ein Ausgrenzungsversuch von politischen Gruppierungen, die - vermeintlich oder tatsächlich - außerhalb der verfassungsmäßigen Vorgaben stehen. Diese Ausgrenzung stützt sich auf die Gemeinsamkeit der Demokraten, die einen negativen Basiskonsens darstellt über das, was der Demokratie entgegensteht.2
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Zur Ethymologie und Begriffsbestimmung von „Extremismus" und „demokratischer Verfassungsstaat" siehe Backes/Jesse 1989b, 24-34; siehe dazu auch Backes 1989, 55ff; vgl. Jaschke 1991, 63; die Ergebnisse der Extremismusbeobachtung durch den Verfassungsschutz wurden seit 1962 veröffentlicht unter dem Titel „Erfahrungen aus der Abwehr rechtsradikaler und antisemitischer Tendenzen in „Aus Politik und Zeitgeschichte", Beilage zur Zeitschrift 'Das Parlament'. In den ersten Jahren war in diesen Erfahrungsberichten ausschließlich der Rechtsextremismus thematisiert worden. Erst 1967 tauchte zum ersten Mal der Begriff'Linksextremismus1 auf.
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Zu beachten ist allerdings, daß die Ausgrenzung gegenseitiger Art ist. Auch Extremisten grenzen sich meist bewußt und deutlich von Demokraten ab. „Extremistische Subkulturen verstehen sich als alternative Kulturen und erheben den Anspruch, die Gesellschaft der Zukunft zu repräsentieren. Sie Schotten sich bis zu einem gewissen Grad von der Mehrheitskultur ab" (Backes/Jesse 1989b, 300). In der Bundesrepublik befinden sich rechts- wie linksextreme Gruppierungen durch die Vorgaben des Grundgesetzes immer in der Defensive. Politische Institutionen sind schon durch das Grundgesetz verpflichtet, auf den Aufstieg extremistischer Gruppierungen zu reagieren. „Das Konzept der wehrhaften Demokratie ist Teil eines im Grundgesetz verankerten umfassenderen demokratietheoretischen Verständnisses, das von drei wechselseitg aufeinander bezogenen Begriffen geprägt ist: Pluralismus, Wertgebundenheit und Wahrhaftigkeit" (Billing 1994, 137f). Demokratische Institutionen versuchen sich gegen extremistische Gruppierungen abzugrenzen und diese aus dem politischen Prozeß auszugrenzen. Jaschke hat fur die Beziehung zwischen Extremisten und Demokraten neue Begriffe in die Diskussion eingebracht: Demokratie sei die anerkannte Norm, Extremisten seien die Norm-Abweichler und Institutionen des demokratischen Staates seien die Norm-Anwender. 3 Ihnen stehen unterschiedliche Instrumentarien, von der Aufklärungsarbeit bis hin zum Partei- und Vereinigungsverbot, zur Verfugung. Weitestgehend vernachlässigt wurde in der Analyse bislang das Ineinanderwirken von demokratischen Institutionen und extremistischen Erscheinungen. Demokraten und Extremisten agieren gleichzeitig in einem politischen System. „Politischer Extremismus existiert nicht 'an sich'" (Jaschke 1991, 49). Eine genaue Grenzziehung zwischen beiden Phänomenen ist oft nur schwer möglich, da sich Extremisten, um im demokratischen System agieren zu können, auch den 'Mantel der Demokratie' anziehen müssen, sich an den normativen Vorgaben der Verfassung orientieren müssen. In der Beschreibung des Phänomens kommt der Dualismus zwischen (Rechts-)Extremismus und Demokratie deutlich zum Ausdruck: Der Rechtsextremismus ist eine antiindividualistische, das demokratische Grundaxiom menschlicher Fundamentalgleichheit negierende Abwehrbewegung gegen die liberalen und demokratischen Kräfte und ihr Entwicklungsprodukt, den demokratischen Verfas3
vgl. Jaschke 1991, 96; Jaschke unterscheidet vier Norm-Anwender: Verfassungsschutz, Politische Justiz, Parteien und Politische Bildung. Diese scheinen sich auf einer Ebene zu befinden. Die Verfasserin geht dagegen davon aus, daß die politischen Parteien alle anderen Institutionen mehr oder weniger stark durchdringen und auch die Diskurse der anderen Institutionen bestimmen. Das mag beim Verfassungsschutz von geringerer Bedeutung sein, bei der politischen Bildungsarbeit ist aber davon auszugehen, daß diese von den Parteien zumindest mitgestaltet wird. Politische Bildungskonzeptionen sind erst einmal Konzeptionen einer Partei.
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sungsstaat. An die Stelle eines auf das Prinzip gleicher politischer Rechte aller Mitglieder gegründeten Gemeinwesens soll eine politische Ordnung treten, in der die auf Vernunft, Leistung, nationaler, ethnischer oder rassischer Zugehörigkeit basierende fundamentale Ungleichheit der Menschen institutionalisiert ist. (Backes/Jesse 1989b, 43)
Eine kontinuierliche wissenschaftliche Bearbeitung des Phänomens Rechtsextremismus - wie auch anderer Formen des Extremismus - unterblieb in der Bundesrepublik bislang. 4 Der folgenden Darstellung der Reaktionsmuster demokratischer Parteien auf den Aufstieg rechtsextremistischer Parteien liegen vier theoretische Positionen zugrunde. Dies sind zum einen die Darstellungen von Peter Dudek und Hans-Gerd Jaschke (Dudek/Jaschke 1984). Im Rahmen von deren Analysen wird die Interaktion von Demokraten und Extremisten thematisiert; Extremismus wird hier nicht - wie sonst üblich als relativ autonome Erscheinung betrachtet, sondern unter dem Aspekt der Bezogenheit auf das demokratische System. Die zweite Quelle sind die zahlreichen Arbeiten von Uwe Backes und Eckhard Jesse (insbes. Backes/Jesse 1989a, 1989b, 1989c, Backes 1989). Unter zwei Gesichtspunkten sind diese eine wichtige Grundlage. Einerseits werden links- und rechtsextremistische Erscheinungen in ihrer Genese beschrieben, zum anderen wird sehr genau beschrieben, unter welchen Rahmenbedingungen Extremisten im demokratischen Staat zu agieren haben. Weitere theooretische Grundannahme sind die Ausführungen von Thomas Herz (insbes. Herz 1991; Herz 1975). Herz hat darin die Auseinadersetzung mit dem Phänomen Rechtsextremismus als eine Form sozialer Kontrolle bezeichnet. „Soziale Kontrolle ist eine mögliche Form der Reaktion auf abweichendes Verhalten" (Herz 1991, 234). Dabei bringt er einen wichtigen Begriff in die Diskussion, den der Stigmatisierung. Das vermeintliche oder tatsächliche Stigma, das rechtsextremistischen Gruppierungen anhaftet, ist die Nichtakzeptanz der Demokratie als allgemeine politische Norm, wie sie im Grundgesetz umschrieben ist. Der Begriff der sozialen Kontrolle impliziert einen Prozeß. Eine Handlung ist nicht per se abweichend, sondern muß als solche definiert werden. Dazu müssen Normen angewandt werden und u.U. negative Sanktionen erteilt werden. Soziale Kontrolle wirkt selektiv und löst ihrerseits Reaktionen aus. (...) An sozialer Kontrolle sind staatliche Organisationen, die Wissenschaft, die Parteien und die Medien beteiligt. (Herz 1991, 234)
Die letzte wichtige Quelle ist die Habilitationsschrift von Hans-Gerd Jaschke (Jaschke 1991). Darin benennt und analysiert er die politischen Institutionen, die Träger der Schutzfunktion der Verfassung sind. Politische Institutionen haben die Möglichkeit, Gegner der politischen Norm - die Demokratieidee wie 4
Uneingeschränkt gilt dies für die ersten 40 Jahre des Bestehens der Bundesrepublik. Erst 1989 wurde mit dem Jahrbuch Extremismus und Demokratie eine Forum gesschaffen, das eine gewisse Kontinuität einleiten konnte.
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sie in der freiheitlich demokratischen Grundordnung niedergelegt ist - mit Hilfe bestimmter Mechanismen aus dem politischen Prozeß auszugrenzen. Dabei nehmen die Extremisten die Position der "Norm-Abweichler' an, die demokratischen Institutionen jene der 'Norm-Anwender', ausgestattet mit bestimmten Sanktionsmöglichkeiten (Jaschke 1991, 94f). Diese vier Grundannahmen - Interaktion von Demokraten und Extremisten (Dudek/Jaschke) basiert auf der Normvorgabe des Grundgesetzes (Backes/Jesse) und stellt ein Form sozialer Kontrolle dar (Herz), die von politischen Institutionen umgesetzt wird (Jaschke) - sollen die Grundlage der Beschreibung der Reaktionsmuster demokratischer Parteien auf den Aufstieg rechtsextremistischer Parteien darstellen.
2. Die NPD in den 60er Jahren als Beispiel Im Nachkriegsdeutschland waren zwar extrem rechte Gruppierungen erfolgreicher als extrem linke, aber nach dem Verbot der Sozialistischen Reichspartei (SRP) im Jahre 1952 durch das Bundesverfassungsgericht war auch der Rechtsextremismus für mehr als ein Jahrzehnt völlig bedeutungslos. Bei einigen rechten Gruppierungen entstand 1963 die Idee der 'nationalen Sammlung', federführend initiert durch die damals mitgliederstärkste Gruppierung, die Deutsche Reichspartei (DRP). Aus dieser Idee erwuchs am 28.11.1964 die Nationaldemokratische Partei Deutschlands (NPD). Die NPD sollte als Sammlungsbewegung Raum für unterschiedliche Tendenzen des rechten „Lagers"5 bieten. An die Spitze der Partei wurde mit Fritz Thielen ein ehemaliges CDU-Mitglied gestellt, der signalisieren sollte daß die NPD gewillt war, sich ein national-konservatives Image zu verleihen.6 Die organisatorisch und praktisch führenden Personen waren aber zu einem hohen Prozentsatz 'alte Parteimitglieder' der NSDAP oder ehemalige Mitglieder der als neonazistisch verbotenen SRP.7 Angesichts der hohen Besetzung mit ehe5
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Den Lagerbegriff halten Dudek/Jaschke besonders geeignet, um die politischen Gruppierungen am äußersten rechten Rand zu beschreiben. Die Grenzen zwischen Demokraten und Extremisten seien demnach jene zwischen Mehrheitskultur und Subkultur, wobei die Mehrheitskultur das Recht hat, Normen zu setzen. Das von der Mehrheitskultur ausgegrenzte rechte Lager neigt dann seinerseits zur Radikalisierung und Arbeit im Untergrund, weil eine Partizipation am demokratischen System ihnen verweigert wird; siehe dazu Dudek/Jaschke 1984, Bd.l, 28-30; Fritz Thielen war 1946 Mitbegründer der CDU Bremen und von 1947 bis 1958 CDUAbgeordneter in der Bremer Bürgerschaft. 1958 wechselte er zur DP, deren Vorsitz er ab 1962 inne hatte, vgl. Hirsch 1989, 455; In gehobenen Funktionen sammelten sich ehemalige Funktionäre anderer rechtsextremer Gruppierungen. Nach Angaben des Verfassungsschutzes waren 1967 35% der Parteimitglieder, 42% der Parteifunktionäre, 60% der Landtagsabgeordneten, 67% der Funktionäre auf Landesebene, 73% des Parteivorstandes, 91% der Bundesredner und
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maligen Mitgliedern von NSDAP und SRP stellte sich von Anbeginn an die Frage, ob die NPD eine Nachfolgeorganisation dieser beiden Parteien, und damit als verbotswürdig anzusehen sei. Die Gründung der NPD fand in der politischen Öffentlichkeit kaum Beachtung. So kam die Entwicklung in den folgenden Jahren - mit den zahlreichen Wahlerfolgen - flir Parteien wie Publizisten ziemlich überraschend. Auch die Diffusität und Konturenlosigkeit der programmatischen Aussagen der NPD trug zu der Überzeugung bei, daß dies keine ernst zu nehmende politische Kraft sei. „Die NPD verfugte zunächst über kein in sich geschlossenes Programm - und schon gar nicht über eine einheitliche Parteiideologie. Ihr diffuses Sammelsurium von Forderungen war Ausdruck der innerparteilichen Heterogenität, die sich mit dem organisatorischen Wachstumsprozeß noch verstärkte" (Stoß 1989, 137).8 Den demokratischen Parteien versagte die NPD die Anerkennung als gleichberechtigte Partner, gleichzeitig wurde die NPD aber auch von diesen nicht akzeptiert als Teilnehmer am politischen Prozeß. Die NPD titulierte die Parteien des Bundestags als 'Lizenzparteien' mit 'Erfullungspolitikern', 'Patentdemokraten' und 'Umerzieher' und 'sterile Parteitaktiker' (vgl. Smoydzin 1967, 217). Dennoch trat die NPD als demokratische Partei auf. „Die Demokratie ist von alters her und ist innere Notwendigkeit, ist deshalb auch im Grundgesetz einer der National-Demokratie" (Deutsche Nachrichten 32/1967, 9). Gleichzeitig wurden aber von allen Seiten der politischen Öffentlichkeit große Bedenken dahingehend geäußert, ob die NPD eine demokratische Partei - im Sinne des Grundgesetzes - sei. Seit der Verabschiedung des sehr moderat formulierten Parteiprogramms von 1967 waren die programmatischen Dokumente der NPD kaum mehr angreifbar. 9 Jedoch ist - wie Bracher ausfuhrt - die Bejahung der Verfassung heutzutage vorherrschende Tendenz, im Gegensatz zu Weimar. Abgesehen von einigen 'sektenhaften Randgruppen' wird die Verfassung heutzutage von allen bejaht, so genügt das Bekenntnis nicht mehr als Kriterium der Verfassungstreue (vgl. Knütter 1966, 192). Insgesamt ging man davon aus, daß die NPD keine demokratische Partei sei.
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100% der Gesellschafter des Parteiorgans „Deutsche Nachrichten" vor 1964 entweder in einem höheren Führungskorps der NSDAP, Mitglied der SRP, DRP oder einer anderen rechtsextremen Gruppierung. Vgl. dazu u.a. Scheuch 1970, 321; Niethammer 1969, 68f; Dudek/Jaschke 1984, Bd.l, 283; Ähnlich äußert sich auch Schmollinger 1983, 1929; Der Jurist Wolfgang Huber - Mitglied des NPD-Präsidiums und Richter am bayerischen Verwaltungsgerichtshof - behauptete mit Sicherheit: „Es ist nichts mehr drin, was man uns irgendwie vorhalten könnte" (Der Spiegel 52/1968, 27).
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Die NPD konnte mit ihrer nationalistischen Ideologie zwischen 1966 und 1969 beachtliche Wahlerfolge erzielen; es konnten also nicht nur die rechten Stammwähler mobilisiert werden, sondern die NPD konnte auch Stimmen aus der Klientel der demokratischen Parteien gewinnen. Für die demokratischen Parteien wurde die Auseinandersetzung mit der NPD primär zu einer Auseinandersetzung um deren Wähler. Die Problemlage von CDU/CSU, SPD und FDP beschreibt Smoydzin: Der Wähler ist wichtig, auch der autoritär veranlagte. Die NPD ist relativ unbedeutend. Ihn wirklich anzusprechen und zu überzeugen, ist bei der zunehmenden Entideologisierung und gegenseitigen Austauschbarkeit unserer Parteien schwierig. Wo die Grenzen sich verwischen und die Ziele identisch werden, droht der ideologische Halt verloren zu gehen, den der Wähler bisher zu einer bestimmten Partei hatte. (Smoydzin 1967, 232)
Die demokratischen Parteien wollten Erkenntnisse über die politische Herkunft der NPD-Wähler haben, oder anders ausgedrückt, stellte sich die Frage, wer um die eigene politische Position bangen mußte. Ausgehend von der verschiedentlich vertretenen These, die Ideologie der NPD stelle einen übersteigerten Konservatismus dar, 10 wurde allgemein davon ausgegangen, daß die NPD-Gewinne primär aus Verlusten von Union und FDP resultierten. Die SPD-Wähler dagegen wurden gemeinhin als immun gegen die NPD-Parolen betrachtet." Daraus wurde gefolgert, daß Union und FDP sehr viel größere Anstrengungen würden aufbringen müssen, um ihre politische Position zu erhalten und gleichzeitig aber auch mehr Rücksicht auf die Wähler nehmen müßten, um diese wieder an die demokratischen Kräfte zu binden. Eine Stigmatisierung der Wähler müßte unbedingt vermieden werden. Die empirische Wahlforschung lieferte Erkenntnisse über Zusammensetzung und Herkunft der NPD-Wähler und war so wichtige Informationsquelle für die Ausarbeitung von Gegenstrategien. 12 Zum ersten mal konnte die NPD im Herbst 1966 in Hessen mit 7,9% und in Bayern mit 7,4% in Länderparlamente einziehen. 1967 folgten weitere Erfolge in Rheinland-Pfalz (6,9%), Schleswig-Holstein (5,8%), Niedersachsen (7,0%) und Bremen (8,8%). Als die NPD im Frühjahr 1968 - ein Jahr vor der Bundes-
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Verlautbarungen dieser Art stammen etwa von Kühnl 1969; Fetscher 1967, 7; ebenso einige Beiträge in: Duve 1968, insbes. 75-89, 137-156; Man ging u.a. mit Bezug auf die Zusammensetzung der Wähler der NSDAP davon aus, daß es eine konfessionelle und eine politische Sperre der Wahl extrem rechter Parteien gab. Es gab eindeutige Ergebnisse dahingehend, daß Protestanten in viel höheren Ausmaß rechts wählen als Katholiken und daß Gewerkschaftsmitglieder relativ immun gegen die „Versuchung" von rechts seien. Die Richtigkeit der Erkenntnisse, die die Demoskopen geliefert haben, ist dabei von nachgeordneter Bedeutung, da sie - ob richtig oder falsch - zu bestimmten Reaktionen der Bundestagsparteien führten. Zu den Problemen der Umfrageforschung und den Fehlerquellen der herangezogenen Untersuchungen siehe u.a. Liepelt 1967, 237f; Herz 1975, 77f;
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tagswahl - mit 9,8% in den Stuttgarter Landtag einziehen konnte, mußte man davon ausgehen, daß der NPD der Einzug in den Bundestag gelingen würde. Daß dies dennoch scheiterte - das Ergebnis lag bei 4,3% - lag in erster Linie an dem außerordentlich schlechten Abschneiden der Partei im bevölkerungsreichsten Bundesland Nordrhein-Westfalen. Als Gründe für das Scheitern der NPD wurde zumeist eine effektive Interessenkoalition von APO, Publizistik und staatlichen Instanzen genannt. „Die Interessenkoalition und das Aktionsbündnis von - gemessen an den Zielvorstellungen - so ungleichen Partnern wie APO, Tages- bzw. Wochenpresse und staatlichen Instanzen liefert im Bundestagswahlkampf 1969 den paradigmatischen Fall für das Interaktionssystem bei Ereignisketten mit rechtsextremem Hintergrund" (Dudek/Jaschke 1984, Bd. 1, 341).
3. Demokratische Parteien: Diskurse über die 'extremistische Bedrohung' Für die Bundesrepublik waren dies dramatische Wähleranteile, auch wenn der Einzug in den Bundestag gerade noch gestoppt werden konnte. CDU/CSU, SPD und FDP mußten sich mit der Partei am rechten Rand auseinandersetzen. Wie konnte man die extremistische Kraft - insbesondere in Anbetracht der scharfen Reaktionen aus den Ausland - wieder zur Bedeutungslosigkeit verdammen? 13 Abgesehen davon, daß die eigene politische Macht durch die NPD gefährdet war, sind die demokratischen Parteien schon durch das Grundgesetz verpflichtet, gegen die 'rechte Bedrohung' vorzugehen. Umstritten war aber die Frage, wie dieses Vorgehen aussehen sollte. Zwei Strategien der Extremismusbekämpfung waren parallel zu beobachten: einmal die Pathologisierung der NPD durch den drohenden Verbotsantrag und zum zweiten die Diskussion über eventuelle Versäumnisse in der Entwicklung der politischen Kultur der Bundesrepublik. Die heftigen und zugleich anfangs unstrukturierten Reaktionen auf die Erfolge der NPD drückten wohl auch die Furcht vor der Einsicht in die Erfolgslosigkeit der bisherigen Bemühungen aus, die Gefahren von rechts zu bannen. Damit verbunden war die unangenehme Erkenntnis, daß der Rechtsextremismus - jahrelang als politisch anrüchig dargestellt - doch tiefere gesellschaftliche Wurzeln hatte, daß die Versuche, die Bürger zu einem demokratischen Bewußtsein zu erziehen, nicht die Früchte trugen, die sie sollten (vgl. Dudek/Jaschke 1984, Bd.l, 41). Parteien fungieren in diesem Fall als die zentralen Lenker der Mechanismen sozialer Kontrolle. Sie setzen das Prinzip der streitbaren Demokratie institutionell um. Erst mit Sanktionsdrohungen (Verbotsantrag) haben sie letztend13
Hinsichtlich der Kenntnisse über die Auslandsreaktionen kann die Forschungslage als außerordentlich desolat bezeichnet werden.
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lieh die Möglichkeit, als Institution politischer Kontrolle aufzutreten (vgl. Jaschke 1991, 112). 3.1. Der schwierige Begriff der (deutschen) Nation Zwischen der Entwicklung ab 1962/63 und seit Ende der 80er Jahre gibt es Parallelen. Damals wie heute - der prominenteste Vertreter ist wohl Wolfgang Schäuble - ist eine deutliche Häufüng der Verwendung der Begriffs "Nation' bei den bundesdeutschen Politikern festzustellen. Langer legte dezidiert dar, daß noch in den fünfziger Jahren die Parole Adenauers galt, daß nationalistische Ideen des späten neunzehnten und zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr zeitgemäß seien (vgl. Langer 1969, 25ff). Entsprechend waren die von Personen der politischen Öffentlichkeit am häufigsten verwendeten Termini frei vom Nationbegriff. In der Ära Adenauer war das Begriffspaar 'Einheit und Freiheit' dominierend in Politikerreden und Überschriften des Bulletins der Bundesregierung.14 Einer der prominentesten Vertreter des neu verbalisierten Nationalgefühls war der Präsident des Deutschen Bundestages, Eugen Gerstenmeier. Auf dem CDU-Parteitag 1965 sagte er: „Die Bildung eines neuen Nationalgefuhls der Deutschen sollte (...) von uns, der Christlich-Demokratischen Union Deutschlands, gewissenhaft gepflegt werden. Menschen, die sich dieser Orientierung öffnen, ahnen etwas davon, daß der Dienst der Freiheit ein strenger Dienst ist und das Vaterland auch in unserer Zeit eine faszinierende Sache ist" (zit. nach Kühnl 1969, 301, FN 21). So war der Themenkomplex Nation, nationale Politik, nationales Selbstbewußtsein schon in den politischen Diskurs eingeführt, als die NPD die ersten Wahlerfolge erringen konnte. Sontheimer stellte eine Verbindung zwischen den NPD-Erfolgen und dem nationalen Tenor demokratischer Politiker her: Die Rechtsradikalen gewinnen an Zulauf, weil führende Politiker der Bundesrepublik, die gewiß alle Radikalismus ablehnen, grünes Licht für 'gereinigten' Nationalismus geben. (Sontheimer 1966, 25)
Eine Vielzahl von Beobachtern hat den demokratischen Parteien eine Mitschuld am Erstarken der NPD zugesprochen durch die nunmehr hoffähige Betonung des Nationalen in der Bundesrepublik. Die demokratischen Parteien dürfen nicht der Illusion erliegen, sie könnten der NPD den Wind aus den Segeln nehmen, wenn sie sich einem lärmenden Neo-Nationalismus anpassen. Eine solche Politik würde nur Wasser auf die Mühlen des hierin doch eigentlich stets erfolgreicheren Rechtsradikalismus leiten. Die eigentliche Gefahr liegt in der Infektion der demokratischen Parteien, die im Versuch, in Idealkonkurrenz zur NPD zu 14
Hier einige Beispiele für typische Überschriften: „Verständigung, Frieden und Freiheit"; „Der Weg zur Wiedervereinigung in Frieden und Freiheit"; „Bekenntnis zur Einheit des deutschen Volkes"; „Wiedervereinigung in Freiheit wichtigstes Ziel", siehe dazu Langer 1969, 47f;
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treten, erst recht das politische Bewußtsein weiterer Bevölkerungsschichten aufnahmefähig machen fur die Parolen des Rechtsradikalismus. (Bracher 1969, 525) Die eigentliche Gefahr der zukünftigen Entwicklung dürfte darin liegen, daß die demokratischen Parteien, je mehr sie dem Mißverständnis unterliegen, sie könnten durch forsches Auftreten und nationalistisches Vokabular den Rechtsextremismus unterlaufen und gegenstandslos machen, der NPD möglicherweise erst helfen wird, sich zu etablieren. (Liepelt 1967, 263)' 5
Die NPD nahm diese Bemühungen der demokratischen Parteien gerne als ihr Verdienst in Anspruch: „Es ist eine der vornehmsten Bemühungen der NPD, die anderen Parteien zu einem Ruck nach rechts insgesamt zu veranlassen." 16 Helmut Schmidt brachte die Ratlosigkeit der Parteien in der Diskussion über NPD, Nation und Nationalismus zum Ausdruck. Wie sollte es gelingen, „die Gefahren eines neuen Nationalismus zu bannen, wenn wir nicht der deutschen Nation im Sinne unseres gewachsenen Nation-Begriffs ihren Platz im ideellen Streben unserer Zeitgenossen zubilligten" (Schmidt 1967/68, 560). Insgesamt ist es keiner Partei gelungen, dieses Dilemma zu lösen. Ab 1967 war eine Akzentverschiebung in der Verwendung des Nationbegriffs festzustellen. Man betonte zunehmend das Bemühen um den Gleichklang von Demokratie und Nation. Wir sind eine Nation, richtig gesagt: wir ringen darum, als solche anerkannt zu werden, und wir sind national, weil wir diese Nation wollen, weil wir unser Volk als Nation bestätigt sehen wollen, und ich bin der Überzeugung - da mag man streiten - national können in Deutschland nur diejenigen sein, die (...) ohne Vorbehalte demokratisch sind und demokratisch handeln. (Wehner 1968, 387)
Die Spitze auf die NPD ist nicht zu übersehen; dieser wurden ja gemeinhin demokratische Organisation und demokratische Gesinnung bestritten, somit konnte sie im Sinne Wehners auch nicht national sein. Als einzige Partei hat sich die FDP etwa ab 1967 von der nationalen Terminologie verabschiedet. Die 'nationalliberale' FDP hatte an die NPD die meisten Wähler verloren. Kurz nach der Hessenwahl tönte der Fraktionsvorsitzende der FDP im hessischen Landtag, Rodemer, noch: „Die FDP steht rechts. Rechts von ihr steht nichts mehr" (Richards 1967, 96). Die FDP gab aber diesen Flügelkampf auf der rechten Seite im Zuge ihrer Entwicklung zur 'sozialliberalen' Partei bald auf. Für das Abgehen von dieser Strategie dürften auch Wahlforscher entscheidend gewesen sein, die der FDP früh klar machten, daß eine Konkurrenzstrategie zur NPD der FDP nur schaden könnte (vgl. Scheuch 1967c, 40). Die Wahlerfolge in Baden-Württemberg und in der Bundestagswahl 1969 sollten der Kursänderung der FDP recht geben. Die FDP nahm ihre Oppositionsrolle in Bonn dafür wahr, die Beziehung der beiden großen Partei-
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Ähnliche Verweise finden sich auch in Langer 1969, 9f.; Richards 1967, 95ff; Fetscher 1967, 6; Gemmecke/Kaltefleiter 1970, 34; Von Thadden im Spiegel 22/1969, 39;
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en zur NPD zu analysieren. Zu der vielbeschworenen politischen Auseinandersetzung mit der NPD meinte Hans Friedrichs: Was hier nämlich als 'Auseinandersetzung' ausgegeben wird, ist der Versuch, dem extremen Nationalismus der NPD einen 'guten' Nationalismus entgegenzusetzen. Man kann aber dem extremen Nationalismus der NPD - hier stimme ich Prof. Kurt Sontheimer zu - nicht durch eine gemäßigten Nationalismus neutralisieren und unschädlich machen. 1 7
3.2. Möglichkeiten und Grenzen der politischen Bildung Die Problematik der Bedeutung des Nationalen in der Bundesrepublik und die daraus resultierenden Aufgaben der politischen Bildung formulierte Bundesinnenminister Lücke. Es ist die Sprache der Politiker selbst, die antidemokratisch wird, sobald sie die Sprache des deutschen Nationalismus verwendet. 'Wir müssen uns mit der NPD politisch auseinandersetzen, wir müssen ihre Wähler von der Richtigkeit unserer Politik überzeugen und damit wieder für uns gewinnen. Wir müssen unsere Demokratie attraktiver machen. Das bedingt insbesondere eine verstärkte politische Bildungsarbeit.' 18
Der Schwerpunkt der politischen Bildung hatte sich seit Bestehen der Bundesrepublik auf der Achse der Umorientierung vom Totalitarismus zur Demokratie bewegt. Die Bundeszentrale für politische Bildung sollte der Förderung des demokratischen Bewußtseins dienen.19 Am Gegenbild des Totalitarismus wurde vielfach versucht, die Vorzüge der Demokratie herauszustellen. Einer der bekanntesten Theoretiker politischer Bildung, Felix Messerschmidt, meinte, „ohne Einbeziehung und Diskussion des Normativen ist politische Bildung kaum möglich." (zit. nach Assel 1969, 3) Bei dem Versuch, die Bevölkerung mittels politischer Bildung reif für die Demokratie zu machen, verbunden mit der Kontrastierung von Totalitarismus und Demokratie, ging man gemeinhin von der Annahme aus, daß Aufklärung über totalitaristische Systeme die Akzeptanz von Extremismus jeglicher Couleur in der Bundesrepublik untergraben würde. „Wer politisch gebildet ist, von dem ist zu erwarten, daß er auch ein guter Demokrat von Gesinnung und bestrebt sein wird, seine Staatsbürgerrolle als Gewissenspflicht zu akzeptieren und wahrzunehmen" (Jacobsen 1969, 16).
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„Sachliche" Auseinandersetzung mit der NPD? In: Tribüne 8/1969, 3239; Lücke zit. nach Harry Pross, Hundert Jahre deutsche Rechte; in: Gesellschaft, Staat und Erziehung 1967, S.280; Hafeneger meinte, „die Bewältigung des Nationalsozialismus und die Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus wurden pädagogisiert und staatlich verordnet"; vgl. Hafeneger 1989, 201. Seit der ersten Publikation im Jahre 1952 war die pädagogische Arbeit geprägt von der totalitarismustheoretisch durchformten Idee der streitbaren Demokratie.
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Mit den jugendlichen Hakenkreuzschmierereien Anfang der 60er Jahre setzten aber erhebliche Zweifel an den Erfolgen der bisherigen Bildungsstrategien ein, die durch die Wahlerfolge der NPD noch verstärkt wurden. „Der politischen Bildung wurde im Zusammenhang mit den Erfolgen der NPD der Schwarze Peter zugeschoben" (Hafeneger 1989, 202). Die Ursache der Erfolge wurde vielfach in der Bildungsmisere gesucht: „Der preußische Volksschullehrer, heißt es, gewann die Schlacht bei Königgrätz, unsere Sozialkundelehrer verschulden den Wahlerfolg der NPD" (Fackinger 1967, 240), so die scheinbar zwingende Schlußfolgerung aus einigen Berichten über den Mißerfolg der politischen Bildung. Die Verantwortlichkeit der Defizite politischer Bildung am Aufstieg rechtsextremer Gruppierungen akzeptierten alle im Bundestag vertretenen Parteien. Doch über Wege der Abhilfe bestand Uneinigkeit. Eine Aufwertung nationaler Orientierungen war auch als neues Konzept politischer Bildung im Gespräch. „In der letzten Zeit mehren sich die Stimmen, die für eine 'richtige' Mitte zwischen den Extremen eintreten und einen gemäßigten Nationalismus auch als Inhalt politischer Bildung empfehlen" (Fackinger 1967, 13). Eugen Lemberg war der vielfach kritisierte Protagonist dieser Aufwertung der Nation. Nach dessen Vorstellungen sollte politische Bildung den Schwerpunkt nicht auf das sich selbst bestimmende Individuum legen, sondern auf die richtige Rangordnung der dem Menschen notwendigen Bindungen an überindividuelle Gegebenheiten, Gruppen, Institutionen und Ordnungen. Der Mensch brauche die Bindung an eine Gruppe zur Sinnfindung. 20 Die Aufgabe der politischen Bildung läge in der Gleichgewichtsfindung zwischen Selbstbestimmung des Individuums und Hingabefahigkeit an eine überindividuelle Quelle der Ordnung. Die Tabuisierung nationaler Begriffe und Werte habe eine gefährliche Situation geschaffen, die das Nationalgefühl brachliegen ließ und schließlich zu einer Anfälligkeit für nationale Radikalismen führe. Diese Sichtweise Lembergs fand erbitterte Gegner, so meinte ζ. B. Kurt Sontheimer, daß Nationalismus jeglicher Art der demokratischen Entwicklung entgegenwirke (vgl. Fackinger 1967, 13). 3.3 Ein Verbotsantrag? Ging es bei den Diskursen über Nationalismus und politische Bildung um Faktoren der politischen Kultur, die möglicherweise die Erfolge der NPD begünstigt haben, so ging es in der Verbotsdiskussion um Mechanismen, die deren möglichst raschen Niedergang herbeifuhren sollten. 20
Vgl. Lemberg 1965, 6; ausfuhrlich legte Lemberg seine Vorstellungen in dem zweibändigen Werk Nationalismus, Band I (Psychologie und Geschichte), Band II (Soziologie und Politische Pädagogik), Reinbek 1964, dar. Stärker noch als Lemberg hat sich Rudolf Raasch, Zeitgeschichte und Nationalbewußtsein, Neuwied 1964, für die Notwendigkeit einer Erziehung zur Nation ausgesprochen.
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Die drei Diskurse haben aber auch eine Gemeinsamkeit: es ist das Ringen um geeignete Methoden, den Rechtsextremismus - wieder oder generell - in die Bedeutungslosigkeit zu verdammen. Unterschiedlich ist die zeitliche Perspektive. Die ersten beiden Diskurse thematisieren mittelfristige Abhilfen und auch Schutzmechanismen vor neuen rechtsextremen Gruppierungen. Sie zielen auf geistige Barrieren, die die Bevölkerung fur extremistisches Gedankengut unempfänglich machen würden. Das Verbot - sollte es ausgesprochen werden - zieht erst einmal einen Verwaltungsakt nach sich, ob es auch zu einer Stigmatisierung rechtsextremer Gruppen führte, wäre nicht mit Sicherheit zu sagen. Da der demokratische Charakter der NPD stark in Zweifel gezogen wurde, regten sich schnell nach den ersten Erfolgen Stimmen, die deren Verbot durch das Bundesverfassungsgericht forderten. Abgesehen von der Frage, ob ein Verbotsantrag überhaupt Erfolg hätte, ging die Diskussion im wesentlichen um die Angemessenheit von Opportunitäts- oder Legalitätsprinzip. Die Unionsfraktion war gespalten in der Verbotsfrage. Nach den ersten Wahlerfolgen stand man einem Verbot noch außerordentlich ablehnend gegenüber. Eine ernsthafte Diskussion über einen Verbotsantrag setzte erst nach den Landtagswahlen in Baden-Württemberg ein, mit Blick auf die Bundestagswahlen 1969. Anfang Mai 1968 äußerte sich Bundespressechef Diehl ablehnend über einen Verbotsantrag gegen die NPD. „Das Bundesinnenministerium ist zwar ständig bemüht, die NPD unter Beobachtung zu halten, aber ein Verbotsantrag könne sich nur auf ausreichend beweisbare verfassungswidrige Tätigkeit der NPD stützen" (zit. nach Dudek/Jaschke 1984, Bd. 1, 345). CDU-Generalsekretär Bruno Heck befand: „Ich halte nichts von einem Verbot. Wir müssen die NPD politisch niederkämpfen" (Spiegel 51/1968, 28). Franz-Josef Strauß forderte „geistige Auseinandersetzung" und den Kampf auf politischer Ebene (vgl. Spiegel 52/1968, 25). Unterschiedliche Linien sind innerhalb der Union erkennbar. Zum einen stand der Großteil einem solchen Antrag distanziert gegenüber, viele waren zu keinen Stellungnahmen bereit.21 Gleichzeitig war aber der in erster Linie zuständige Innenminister Benda seit 1967 bemüht, Material fur einen entsprechenden Antrag zu sammeln und auch - zumindest verbal - entschlossen, bei Vorliegen von schwerwiegendem Material, den Antrag in Karlsruhe zu stellen. Am 12. November 1968 legte Benda Bundeskanzler Kiesinger gesammeltes Belastungsmaterial vor. Darin wurden der NPD fremdenfeindliche Tendenzen vorgeworfen, die Förderung 'antiamerikanischer Rassensentiments', die Ver21
Die Zeitschrift Tribüne befragte 1968 und 1969 Politiker aller Parteien , was sie von einem Verbotsantrag hielten. Bei der Unionsfraktion waren fast alle Befragten nicht zu einer eindeutigen Stellungnahme - pro oder contra - in schriftlicher Form bereit. Dies waren Dr. Artur Rathke, Anton Jaumann, Franz Josef Strauß, Dr. Rainer Barzel. Seitens der SPD gab Dr. Adolf Arndt keine entsprechende Äußerung ab. Siehe dazu Tribüne 7/1968, 3002-3009; Tribüne 8/1969, 3237-3241;
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breitung primitiver Freund-Feind-Vorstellungen und Propagierung eines aggressiven Nationalismus (vgl. Spiegel 52/1968, 30). Über die Unsicherheit, mit der ein entsprechender Antrag belastet war, war sich Benda im klaren: „Die NPD-Führung hat die Verbotsentscheidungen gegen SRP und KPD gewiß genau studiert und ist bemüht, alle Angriffspunkte zu vermeiden" (Tribüne 7/1968, 3003). Doch er resümierte schließlich: „Man kann nicht ständig die NPD als staatsfeindlich hinstellen und dann nichts dagegen tun" (Spiegel 52/1968, 27). Ein Hinweis auf einen unsicheren Prozeßausgang kam auch aus Karlsruhe. Gebhard Müller, Präsident der Bundesverfassungsgerichts meinte: „Der Prozeßausgang ist mehr als zweifelhaft" (Spiegel 51/1968, 28). Bundeskanzler Kiesinger stand den Absichten Bendas eher ablehnend gegenüber. „Ich bin nicht sicher, ob das Prozeßrisiko nicht zu hoch ist" (ebd.). Weitaus geschlossener war die Position der SPD. Die SPD war sehr früh im Herbst 1966 - für ein Verbot eingetreten. Besonders nachdrücklich drängten auch die Gewerkschaften auf einen entsprechenden Antrag (vgl. Richards 1967, 90). Herbert Wehner war - wie das folgende Zitat zeigt - entschieden für einen Verbotsantrag, trotz der Schwierigkeiten, die das demokratische Bemühen der NPD diesbezüglich mit sich brachte. Diese Anpassung im politischen Habitus, im Stil und in der Organisationsform ändert natürlich nichts an der Tatsache, daß es sich bei der NPD nach Ziel und Methode um eine rechtsradikale Partei autoritärer Prägung handelt. Darum scheint es mir ziemlich sicher, daß das in der Zuständigkeit des Bundesministeriums des Innern gesammelte Material gegen die NPD für die Eröffnung eines Verbotsverfahrens auf Grund des Art. 21 Abs. 2 GG dann ausreichen wird, wenn sich die Meinung durchsetzt, daß die Prüfmaßstäbe der Verfassungswidrigkeit einer Partei im Sinne des Art. 21 Abs 2 GG gegenüber rechtsradikalen Parteien deshalb verschärft werden müssen, weil die Grundsatzaussagen unserer Verfassung den staatlichen Organen der Bundesrepublik eine verschärfte Haltung gegen den Nationalsozialismus und verwandte Staatsauffassungen auferlegen. (Tribüne 7/1968, 3005)
Hans Jürgen Wischnewski meinte, die NPD müsse in jedem Fall verboten werden, „und wenn es nach dem Grundgesetz nicht geht, dann muß das Grundgesetz eben geändert werden" (Spiegel 51/1968, 28). Die Gegner des Verbotsantrags konnten vor allem mit zwei nicht zu unterschätzenden Argumenten aufwarten. Ein Verbot der NPD würde weder die Ursachen ihrer Erfolge noch die extremistischen Einstellungen der Wähler - so sie denn Grund der Wahlentscheidung waren - beseitigen. Hans Schueler meinte dazu in der WELT, daß in Weimar Parteien auf administrativem Weg verboten werden konnten; die NSDAP war zeitweise verboten. Der Rechtsradikalismus wurde und würde dadurch nicht aus der Welt geschafft. „Er würde mit saisonal schwankender Potenz auch in der Bundesrepublik am Leben bleiben und sich neue Organisationsformen suchen wenn die Partei Thad-
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dens verboten wäre. (...) Fixieren wir den neuen Nationalismus in der braunen Ecke in die er gehört, und lassen wir ihn dort für alle sichtbar stehen."22 Die Verbotsdiskussion blieb schließlich ohne politische Konsequenz, d.h. auch die sozialliberale Koalition hat - wider Erwarten - keinen Verbotsantrag gestellt. Es ist aus heutiger Sicht, auf Grundlage der gesichteten Materialien, nicht eindeutig zu klären, ob es jemals eine ernste Absicht der Bundesregierung gab, das Verbot einzuleiten, oder ob die Rede davon einzig als Mittel der Stigmatisierung gedacht war. Jedoch sprechen einige Faktoren für letzteres. Kiesinger meinte trotz seiner ablehnenden Haltung zum Verbotsantrag, „das Damoklesschwert muß über der Partei bleiben" (Spiegel 52/1968, 27). Auch Innenminister Benda verfolgte wohl - neben anderen - taktische Ziele mit dem Verbotsantrag. Er meinte, daß schon ein Verbotsantrag die NPD so sehr in Verruf bringen würde, daß sie bei der nächsten Bundestagswahl unter 5% bleiben würde (vgl. Spiegel 38/1968, 33). Die Absicht der Stigmatisierung ist auch hier nicht zu übersehen. Jedoch gingen die Meinungen über die Wirksamkeit eines solchen Stigmas auseinander. Manche waren der Ansicht, daß jede Diskussion über die NPD bzw. deren Verbot deren Publizität fördern würde und deshalb der Demokratie abträglich sei. Arthur Rathke, Sprecher der CDU, führte aus, „sowohl ein Verbotsantrag gegen die NPD als auch die Tatsache, daß die Bundesregierung von einem solchen Antrag Abstand genommen hat, wird von den Propagandisten der NPD benutzt. In beiden Fällen besteht für diese Propagandisten die Möglichkeit, den Versuch zu unternehmen, für ihre eigene Partei daraus Honig zu saugen" (Tribüne 8/1969, 3240). Der CSU-Generalsekretär Anton Jaumann war davon überzeugt, daß J e d e publizistische Auseinandersetzung mit der NPD zum gegenwärtigen Zeitpunkt von dieser Partei propagandistisch genutzt wird und deshalb tunlichst unterbleiben sollte" (ebd., 3241). Der Versuch des Totschweigens wurde aber nur von wenigen befürwortet, die meisten Vertreter der politischen Parteien verfolgten die Stigmatisierungslinie. Peter Dudek und Hans-Gerd Jaschke haben diese Gangart in ihrer Zielsetzung und ihren Konsequenzen abschließend beschrieben. Die nach außen hin zögernde, unsichere und inkonsequente Haltung bei der Verbotsdiskussion diente objektiv der Einschüchterung und Ausgrenzung der NPD und beförderte alle NPD-Anhänger und -Wähler potentiell in die Rolle von Verfassungsfeinden. Die Inkonsequenz nach außen hin war faktisch eine Inkonsequenz mit System, weil das Damoklesschwert des Verbots dergestalt ständig über der NPD schwebte. (Dudek/Jaschke 1984 Bd.l, 353)
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Hans Schueler, Die NPD verbieten? In: Die WELT vom 20. Dezember 1968, 2; siehe dazu auch Lücke, in: Gesellschaft, Staat und Erziehung 1967 (Artikel ohne Titel), 303f;
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4. Verbale Differenzierungen - Extremisten sind nicht mit deren Wählern gleichzusetzen In den Diskursen über die NPD waren demokratische Kräfte eifrig bemüht, zwei Faktoren zu beachten: man sprach über Mängel, die deren Stimmengewinne begünstigten, nie aber mit der NPD über von dieser angeprangerte Mißstände und Defizite. Kein Thema der NPD wurde offiziell für diskursfähig erklärt. Diese Strategie wurde erst im Vorfeld der Bundestagswahl 1969 modifiziert. Im Bundestagswahlkampf war immer häufiger von der argumentativen Auseinandersetzung mit der NPD die Rede. Vertreter der demokratischen Parteien sollten zu NPD-Veranstaltungen gehen und die direkte Auseinandersetzung mit der NPD suchen, und dort die Plattheit der NPD-Parolen demonstrieren. Gleichzeitig waren CDU/CSU, SPD und FDP aber auch bemüht, bei der systematischen Ausgrenzung der NPD nicht deren Wähler in diesen Ausgrenzungsmechanismus einzubeziehen. Herz umschreibt die Situation der Parteien, die sich seiner Ansicht nach seit den sechziger Jahren nicht geändert habe, im Zusammenhang mit den Erfolgen von Republikanern und DVU. Die demokratischen Parteien stehen bei Erfolgen rechtsextremistischer Gruppen vor einem Dilemma: einerseits können und dürfen sie Extremismus nicht gutheißen und tolerieren, andererseits wollen sie die Wähler zurückgewinnen, die ja vormals überwiegend demokratisch gewählt haben (vgl. Herz 1991, 237). Einerseits stehen sie schon durch das Grundgesetz in der Pflicht, extremistischen Bestrebungen - zumindest durch Aufklärungsarbeit - entgegenzuwirken, und andererseits besteht aber die Gefahr durch Abdrängen der Extremisten in eine Subkultur - mittels Stigmatisierung - die Wähler endgültig an rechtsextreme Kräfte zu verlieren. Eine schwierige Gratwanderung wird erforderlich. Die Wähler dürfen nicht als neue Nazis abqualifiziert werden, da dies deren Distanz zum politischen System nur noch mehr vergrößern würde. Die Politiker extremistischer Bewegungen müssen aber - parteiübergreifend entschieden bekämpft werden, in solchen Situationen ist immer wieder von der Solidarität der Demokraten die Rede. 23
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Dafl diese Solidarität vor allem in Wahlkampfzeiten häufig in Vergessenheit gerät, zeigen u.a. Uwe Backes und Eckhard Jesse. Statt argumentativer Auseinandersetzung innerhalb des demokratischen Lagers, wird häufig die Verunglimpfung des politischen Gegners zur wichtigsten Wahlkampfwaffe. Die so versuchte Polarisierung - der demokratische Gegner wird durch beliebige Assoziationen in die Nähe extremistischer Gruppen gedrängt - verwischt die Gemeinsamkeit der Demokraten und deren Unterscheidung vom Extremismus; vgl. Backes/Jesse 1983, 9£F;
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4.1. Pathologisierung: Entschiedene Ablehnung der NPD als rechtsextreme Partei Die NPD stieß seit ihrer Gründung auf nahezu einhelligen Widerstand anderer politischer Parteien, fast aller Verbände und des bei weitem überwiegenden Teils der Massenmedien in der Bundesrepublik. 24 Die Programmatik der N P D galt den demokratischen Parteien als falsches Bewußtsein. Insofern konnte man von einer Solidarität der Demokraten sprechen hinsichtlich entschiedener Ablehnung der NPD-Ideologie. Doch gab es gewisse Unterschiede in der Auffassung, wie diese Partei bzw. deren rechtsextreme Parolen am wirkungsvollsten zur Bedeutungslosigkeit verdammt werden könnten. Nach offiziellen Aussagen wurden Gespräche mit der NPD von allen Parteien abgelehnt. Schon mit Blick auf die Reaktionen des Auslands 25 mußten alle Parteien des Bundestages bemüht sein, nicht den Anschein zu erwecken, daß sie versuchen, die NPD in das politische System einzubinden und dadurch 'unschädlich' zu machen. Die Ereignisse in den Jahren vor Hitlers Machtergreifung und die Versuche ihn zu zähmen, waren noch deutlich im Bewußtsein der Beobachter. Doch auch die konsequente und offen ausgedrückte Ablehnung brachte ein Problem mit sich. Die einmütige Abwehrkampagne von Presse, Verbänden und Parteien verschaffte der N P D zusätzliche Publizität und steigerte ihren Bekanntheitsgrad. Andererseits wollte man sich nicht den Vorwurf machen lassen, untätig zugesehen zu haben, wie die rechtsextreme Partei mehr und mehr Anhänger gewinnt. Von den Sozialdemokraten erfuhr die NPD die entschiedenste und kompromißloseste Ablehnung. „Als einzige der im Bundestag vertretenen Parteien hat die SPD von Anfang an eine klar ablehnende Haltung gegenüber der N P D eingenommen und die Forderung nach einem Verbot überwiegend unterstützt" (Kühnl 1969, 303). Willi Brandt sagte über die NPD, daß sie eine Partei sei, deren demokratische Tarnung so weit gehen soll, damit ihr Neonazismus möglichst unangreifbar, aber dennoch deutlich wird (vgl. Verhandlungen des 24
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Vgl. Scheuch 1970, 322; nicht haltbar ist dagegen die These von Kühnl, daß die Reaktionen der Presse nur partiell prinzipielle Ablehnung der NPD enthielten. Kühnl et.al stellen einen Katalog von Kategorien der Pressereaktionen auf, die von „NPD als legitimes Produkt der bundesrepublikanischen Gesellschaft" bis zu der These, daß die Etablierung einer nationalen Opposition begrüßenswert sei reichen, vgl. Kühnl 1969, 314-316. Die der vorliegenden Arbeit zugrundeliegenden Recherchen ergaben, daß die größten Tageszeitungen und auch die Wochenzeitschriften Die ZEIT und DER SPIEGEL eine eindeutig ablehnende Haltung an den Tag legten. Die Auslandsreaktionen auf die Wahlerfolge der NPD sind - nach dem von der Verfasserin gesichteten Material - von erheblicher Bedeutung. Da eine detaillierte Darstellung den Rahmen dieser Arbeit sprengen würde hier nur einige Beispiele aus der ausländischen Tagespresse nach den Wahlen in Hessen und Bayern. „Grausige Assoziationen" überfielen 'Dagens Nyheter' in Stockholm. Ein „arlamierendes Symptom" war es für die 'Prawda', ein „beunruhigender Faktor" für die 'Times' in London; vgl. Spiegel 15/1966, 30;
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SPD-Parteitages 1968, 99). Die SPD war die einzige Partei, die die NPD öffentlich als neonazistisch bezeichnete und damit in unmittelbare Kontinuität zu SRP und NSDAP rückte. So war es nur konsequent, daß die SPD das Verbot der NPD forderte. Bei den ersten Wahlerfolgen ging die SPD - wie viele Beobachter - davon aus, daß die demokratischen Parteien unterschiedlich von der NPD betroffen seien. Anders gesagt, daß die NPD ihre Wähler in erster Linie von Union und FDP beziehe. Als demoskopische Untersuchungen ergaben, daß auch die SPD-Wählerschaft für die NPD-Parolen anfällig war, modifizierte die SPD ihre Strategie. Die nach wie vor deutlich ausgedrückte Ablehnung der NPD wurde ergänzt durch die Verlautbarung, daß es sich häufig um eine Protestwahl handle. Eine Unterscheidung zwischen der NPD und deren Wählern war von seiten der SPD vor 1967 kaum getroffen worden. Dagegen betrieben die Unionsparteien die Differenzierung zwischen Wählern und Partei seit den ersten Wahlerfolgen der NPD mit Nachdruck. CDU und CSU versuchten noch, eine weitere Unterscheidung in die Auseinandersetzung einzubringen. Wurde auch die Ideologie abgelehnt, so wurde dennoch die Überzeugung vertreten, daß sich bei der NPD nicht ausschließlich Rechtsextreme sammeln. „Ich weiß, daß diese Partei sehr heterogen zusammengesetzt ist. In ihr gibt es alle möglichen Leute, harmlose und weniger harmlose" (Kiesinger 1969, 42). Nach den ersten Wahlerfolgen der NPD wurde auch vom damaligen Bundesinnenminister Lücke die Hoffnung geäußert, daß sich die NPD zu einer neuen national-konservativen Kraft entwickeln könnte (vgl. Kühnl 1969, 294). Der CDU-Abgeordnete Dr. Josef Stecker war sich in einem SPIEGEL-Interview 1966 gar nicht sicher, „ob wir diese Partei (die NPD, P.D.) in die Ecke treiben oder nicht lieber die achtbaren Menschen in dieser Partei - zumindest auf kommunaler Ebene - zur verantwortlichen Arbeit zwingen sollten." Denn: „Was die an nationalen Anliegen (...) haben, das praktizieren wir ja täglich" (Spiegel 36/1968, 33). Insbesondere durch die entschiedene Haltung des Innenministers Benda verändert sich die Haltung der CDU. Sie trat nunmehr entschlossener gegen die 'NPD als Ganzes' ein. Unter Berufung auf wissenschaftliche Ergebnisse aus der Faschismusforschung nannte Benda sechs 'besonders typische Merkmale rechtsradikalen Denkens'. Auf Grundlage dieser Untersuchung - so seine Stellungnahme - sei die NPD als rechtsradikale Partei zu bezeichnen (vgl. Kühnl 1967, 119f). Den Bundestagswahlkampf führte die CDU fast ausschließlich gegen die NPD. Kiesinger forderte, es müsse alles getan werden, um die NPD bis Herbst 1969 „herunterzubringen" (Spiegel 19/1968, 38). Für den Fall daß die NPD doch in den Bundestag einziehen sollte, gab der Kanzler eine eindeutige Absage an eine Koalition mit der NPD. „Die NPD - sollte sie überhaupt nach Bonn kommen - wird für uns nicht koalitionsfähig sein. Das möchte ich mit aller Deutlichkeit sagen. Mit dieser Partei gibt es fur uns kein Regierungsbündnis" (Kiesinger 1979, 306).
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Etwas komplizierter war die Haltung der CSU. Zwar hatte die CSU nach den Wahlen im Herbst 1966 die Ideologie der NPD als Rückfall in ein längst überholtes, extrem nationalistisches Denken bewertet (vgl. FAZ vom 18.11.1966, 2), gleichzeitig aber gab es Versuche, die NPD von 'innen heraus' zu bekämpfen. Getreu der Straußschen Parole, 'rechts von der CSU gibt es nichts', konnte man beobachten, daß es Tendenzen gab, die darauf abzielten, Teile der NPD in die CSU einzubinden. Kühnl verweist auf Versuche, N P D Abgeordnete im bayerischen Landtag zum Übertritt zur CSU zu bewegen (vgl. Kühnl 1969, 299). Allton Jaumann meinte, er gehöre nicht zu jenen, die die NPD von vorne herein verdammen (vgl. Tribüne 8/1969, 3241). Gleichzeitig war die CSU bemüht, der NPD so wenig Publizität wie möglich zu geben und deren Arbeit im Parlament möglichst zu behindern. So bekam die NPD nur einen Bruchteil der Redezeit von CSU oder SPD, im Verlauf eines Vormittags nicht mehr als zehn bis fünfzehn Minuten, die NPD sollte somit systematisch isoliert werden. 26 Die Reaktionen der FDP auf die Erfolge der NPD unterscheiden sich von denjenigen der beiden großen Parteien auf grund der politischen Position der FDP. Nach den Wahlerfolgen der NPD in Hessen und Bayern überlegte die FDP, ob sie fortan durch Betonung des Nationalen zur NPD in Konkurrenz treten sollte oder ihr Wählerpotential durch eine Öffnung nach links erweitern sollte (Die Zeit vom 25.11.1966, 2). Die Entscheidung für letzteres und ihre Oppositionsrolle in Bonn führten wohl dazu, daß direkte Auseinandersetzungen mit der NPD als Partei oder deren Ideologie selten wurden. Die FDP versuchte neues Profil zu gewinnen, indem sie die Kampfstrategien der anderen Parteien gegenüber der NPD durchleuchtete. Wieviel Erfolg sie (die NPD, P.D.) haben wird, hängt nicht zuletzt davon ab, wie die demokratischen Parteien den Halbwahrheiten dieser Partei begegnen. (...) Wenn indessen jemand die NPD (...) aufgewertet hat, dann diejenigen die anstatt sich politisch mit ihr auseinanderzusetzen, fortgesetzt das Verbot fordern, im übrigen aber die NPDanfälligen Bürger anstatt sie aufzuklären selbst mit nur wenig vornehmer formulierten nationalen Phrasen und Illusionen für sich zu gewinnen suchen. 27
Die politische Auseinandersetzung der im Bundestag vertretenen Parteien mit der NPD setzte im Bundestagswahlkampf 1969 ein. War in den vorangegangenen Jahren einzig über die NPD gesprochen worden, über Ursachen, Schaden für das Ansehen der Bundesrepublik im Ausland und Defizite in der politischen Kultur der Bundesrepublik, so begann nun die direkte Auseinanderset-
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Zur Arbeit der NPD im Bayerischen Landtag siehe Niethammer 1969, 119ff; zur Herkunft der Mitglieder der NPD-Fraktion siehe auch die Kurzdarstellung in Schmollinger 1983, 1961f; So die Antwort von Hans Friedrichs auf Fragen von der Zeitschrift Tribüne; „Sachliche" Auseinandersetzung mit der NPD? In: Tribüne 8/1969, 3239;
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zung mit den Parolen der NPD. Auf deren simplifizierende Darstellungen wurde mit Argumenten geantwortet und mit Gegendarstellungen. Auf die lange zurückhaltende Haltung der demokratischen Parteien in der Auseinandersetzung mit der NPD wies auch der stellvertretende Vorsitzende des Deutschen Gewerkschaftsbunds, Bernhard Tacke, hin: Wenn sie an die geistige Auseinandersetzung mit diesen Leuten wirklich glauben, dann ist es allerdings eigenartig, mit welcher Beharrlichkeit sie ihr aus dem Weg gehen. Wir werden sie beim Wort nehmen und sie persönlich einladen, in solche Versammlungen zu gehen und dort zu versuchen, mit diesen Leuten zu diskutieren. Wir werden da sein sie brauchen keine Bange haben. (Tribüne 7/1968, 3009)
Ab 1969 veröffentlichten Sozialdemokraten und Christdemokraten Schriften, die Anleitungen zur argumentativen Auseinandersetzung mit der NPD lieferten. 28 So liegt - in Anbetracht des Scheiterns der NPD in der Bundestagswahl - die Vermutung nahe, daß eine argumentative Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus ein bedeutender und auch effektiver Abwehrmechanismus ist. Auch hinsichtlich dieser Fragestellung hat die Extremismusforschung noch ein großes Feld vor sich. 29 4.2. Aufklärung: Die Wähler der NPD sind keine Extremisten Der Aufklärungsgedanke und die Sorge um die (berechtigten) Anliegen der Wähler stand im Zentrum der Äußerungen über die Wähler der NPD. In den ersten Kommentaren im Jahre 1965 über die Wähler der NPD waren diese noch als alte Nazis oder Nachfolger der Nazis diagnostiziert worden. Nur mit einiger Mühe gelang es politischen Beobachtern zu verbreiten, daß die Wirklichkeit komplizierter war (vgl. Scheuch 1967b, 293). Eine Gleichsetzung der NPD-Wähler mit denen der NSDAP wurde nach den ersten Wahlerfolgen zumindest von Seiten der politischen Öffentlichkeit tunlichst vermieden. Seitens der Publizistik hielten sich diese Vergleiche teilweise hartnäckig. Die Unterscheidung zwischen rechtsextremer Partei und deren Wählern wurde von allen Parteien getroffen:
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Seitens der SPD waren dies: SPD, Zur Auseinandersetzung mit der NPD, Bonn-Bad Godesberg 1969; Bockemühl 1969; Noll et.al., NPD, Bad Godesberg 1968. Trotz wiederholter Bemühungen ist es der Verfasserin nicht gelungen, von der CDU Material zu sichten. Aus einer Bibliographie, die von Prof. Thomas Herz zur Verfügung gestellt wurde, konnte aber entnommen werden, daß auch die CDU mindestens eine entsprechende Schrift herausgegeben hat: CDU, Nicht randalieren, sondern argumentieren. Kleiner Leitfaden für den Umgang mit der NPD, Bonn 1969; An dieser Sichtweise hat sich bis heute nichts geändert. In einem jüngst erschienenen Sammelband weist Billing wieder darauf hin, daß der geistig-politischen Auseinandersetzung absolutes Primat vor strafrechtlichen Sanktionen gebühre (vgl. Billing 1994, 149).
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Um so nachdrücklicher warne ich davor, die Masse der NPD-Wähler mit den verhältnismäßig wenigen NPD-Funktionären und -Mitgliedern in einen Topf zu werfen, die nichts hinzugelernt haben. Die Masse der NPD-Wähler sollte man eher als „deutschnational", denn als „alte Nazis" oder „Neo-Nazis" ansprechen. 30
Kiesinger widersetzte sich der 'schrecklichen Vereinfachung', die N P D bestehe aus Neonazis. Diese Partei sei sehr verschieden zusammengesetzt. Das Interesse der deutschen Politik gebiete ihm zu sagen, daß die globale Feststellung über die Wiedergeburt des Nationalsozialismus in der Bundesrepublik nicht stimme. 31 Neben diesen deutlichen Grenzziehungen zwischen Wählern und Partei, die signalisieren sollten, daß man die Motive ernst nimmt und die Wähler nicht in die braune Ecke schiebt, gab es Appelle an die Vernunft und Weitsicht der Wähler. Es kam die Überzeugung zum Ausdruck, daß die Bevölkerung die platten Phrasen der NPD durchschauen werde, sobald man diesen fundierte Argumente entgegensetzt. CDU/CSU, SPD und auch FDP versuchten so, die Wähler wieder zurückzugewinnen. Ich bin überzeugt, daß bei einer Wahlentscheidung die Deutschen sehr wohl zu unterscheiden wisssen, welche Partei vom Standpunkt der Außenpolitik den deutschen Interessen abträglich ist. Allerdings gehört dazu, daß man die Wähler über diese Zusammenhänge aufklärt. (...) Die CDU hat für alle ihre Organisationen, Kandidaten und Redner umfangreiches Material vorbereitet, das diese in Stand setzt, sich mit der Programmatik der NPD sachlich auseinanderzusetzen. Die CDU ist der Meinung, daß die NPD nicht durch randalieren, sondern durch Argumente bekämpft werden muß. (Tribüne 8/1969, 3240f)
Etwa gleichzeitg mit der direkten Auseinandersetzung mit der N P D setzen diese Appelle an die Wähler ein. Nicht ohne Selbstkritik und mit einem deutlichen Hinweis auf die außenpolitischen Interessen der Bundesrepublik versuchten alle demokratischen Parteien, die Wähler davon zu überzeugen, daß eine Wahl der NPD der Bundesrepublik in jeder Hinsicht sehr abträglich sei.
5. Parteipolitische Reaktionsmuster zwischen den Idealtypen wählerzentriert und parteizentriert Die demokratischen Parteien waren durch die Erfolge der NPD gefordert, geeignete Antworten zu finden auf die rechtsextreme Bedrohung der Demokratie. Die Einschätzung der Gefährdungslage der demokratischen Ordnung, die von der NPD ausging, war unterschiedlich. Grundsätzliche Differenzen gab es 30 31
Paul Lücke in: Gesellschaft, Staat und Erziehung 1967, 302; So Bundeskanzler Kiesinger auf der Sondersitzung des Bundestages über die Ursachen und Auswirkungen der Osterunruhen, abgedruckt in: Archiv der Gegenwart 1968, S. 13895;
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hinsichtlich der Frage, wie der rechtsextremen Partei effektiv begegnet werden könnte. Die parteipolitischen Interpretationen, und die davon abgeleiteten Reaktionsmuster bewegten sich zwischen den Idealtypen einer wählerzentrierten Strategie und einer parteizentrierten Strategie. Unter wählerzentrierter Strategie ist zu verstehen ein Vorgehen, das unmittelbar auf Beeinflussung der Wähler abziehlt, die rechtsextreme Partei wird dabei nicht explizit angesprochen. Eine parteizentrierte Strategie dagegen liegt dann vor, wenn sich die politische Öffentlichkeit direkt mit dem Rechtsextremismus - in diesem Fall in Gestalt der NPD - auseinandersetzt. Die Unionsparteien schienen durch die ersten Wahlerfolge der NPD kaum beunruhigt zu sein. Man sollte die NPD weder verketzern noch verharmlosen, hieß es von Seiten der Union. Die nach Ansicht von CDU und CSU am besten geeignete Vorgehensweise war, der NPD möglichst wenig Publizität zu gestatten. Die - so die Überzeugung von CDU und CSU - sehr heterogen zusammengesetzte NPD sollte durch starke und erfolgreiche Regierungspolitik keine Unzufriedenen mehr an sich binden können. Gleichzeitig sollte diese rechtsextreme Partei nach Möglichkeit totgeschwiegen werden, um deren 1966 noch begrenzte Bekanntheit nicht zu erhöhen. Da gerade in den ersten Wahlen Gebildete und die als politisch informierter geltenden Männer der NPD überproportional ihre Stimme gaben, ging man davon aus, daß durch stagnierende Bekanntheit auch der Erfolg der NPD zumindest nicht ansteigen würde. Aufklärungsarbeit wäre mit dieser Strategie aber nicht vereinbar gewesen, da diese notwendigerweise die Bekanntheit der NPD gesteigert hätte. Die heftigen Auslandsreaktionen und die massiven Gegendemonstrationen, die die Veranstaltungen der NPD häufig begleiteten, unterliefen aber diese anfangs von CDU und CSU verfolgte Strategie. Des weiteren versuchten die Unionsparteien, insbesondere die CSU, durch nationale Terminologie jene Wähler wieder an die demokratischen Parteien zu binden, die ein verstärktes deutsches Selbstbewußtsein zum Ausdruck gebracht wissen wollten. Unter Innenminister Lücke galt die Überzeugung, daß die NPD wieder von der politischen Bühne verschwinden werde. Dies ergäbe sich erstens aus innerparteilichen Differenzen, zum zweiten durch wirtschaftlichen Aufschwung und zum dritten infolge verstärkter Betonung nationaler Interessen innerhalb der demokratischen Parteien, die die Wähler anscheinend wünschten. Doch diese Sicht der Dinge erwies sich bald als zu einfach. Die Überwindung der wirtschaftlichen Talsohle konnte die Erfolge der NPD ebensowenig verhindern wie deren innerparteiliche Auseinandersetzungen. Die Kurskorrektur der strategischen Haltung der Unionsparteien gegenüber der NPD ist weitgehend markiert durch die Person von Innenminister Ernst Benda. Benda sah die demokratische Ordnung durch die NPD sehr viel mehr gefährdet als sein Vorgänger Lücke. Seit Bendas Ressortübernahme glichen sich die Reaktionsmuster von CDU/CSU und SPD etwas an, da Benda entgegen herrschender
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CDU-Meinung und in Übereinstimmung mit der SPD für das Verbot der N P D votierte. Die Jahre 1967/68 waren seitens der CDU/CSU gekennzeichnet durch Versuche, Defizite, die zum NDP-Erfolg gefuhrt hatten, abzubauen, eine rechtsextreme Bedrohung wurde aber negiert oder totgeschwiegen. Ab Ende 1968 setzte eine aggressivere Haltung ein. Diese manifestierte sich in der Stigmatisierung der NPD durch den drohenden Verbotsantrag und zum anderen in der mittlerweile eifrig geführten Auseinandersetzung mit den Parolen der NPD. Erst seit der von Innenminister auch öffentlich geführten Verbotsdiskussion kann man seitens der CDU von einer NPD-zentrierten Strategie sprechen. Seit den ersten Erfolgen waren CDU und CSU bemüht zwischen den Wählern und der NPD als Partei zu differenzieren. Parallelen zwischen Wählern von NPD und NSDAP wurden nicht gezogen. Es scheint bei den Unionsparteien sehr früh die Überzeugung entstanden zu sein, daß eine Stigmatisierung der Wähler diese der demokratischen Kultur endgültig entfremdet hätte. Seit 1968 - etwa zeitgleich mit der beginnenden Verfolgung NPD-zentrierter Strategien - gab es auch Hinweise, daß es sich bei der Wahl der NPD um abweichendes Verhalten handle, das der Bundesrepublik in keiner Weise dienlich sei. Appelle an Weitsicht und Umorientierung zurück zur demokratischen Mehrheitskultur, deren Problemlösungskompetenz weit größer sei als jene der NPD, waren damit verbunden. Die NPD sei nicht Teil der demokratischen Kultur und damit für die einsichtigen, gebildeten Demokraten auch nicht wählbar. Die SPD setzte im Gegensatz dazu schon nach den ersten Wahlerfolgen auf harte Maßnahmen gegen die NPD. Die schon 1966 von den Gewerkschaften ausgedrückte Forderung nach einem Verbotsantrag wurde von der SPD unterstützt. Die Stigmatisierung der NPD mittels Begriffen, die Vergleiche mit der NSDAP nahelegten, begann schon bei den ersten bescheidenen Wahlerfolgen. Zu diesem Zeitpunkt ging man noch gemeinhin davon aus, daß die Klientel der SPD sich mit derjenigen der NPD kaum überschneiden dürfte. So schienen weder besondere Rücksicht noch Verständnisbekundungen notwendig mit Blick auf die eigenen Wähler. Erst als Demoskopen ermittelt hatten, daß die Wählerschaft der SPD in höherem Maße zur NPD neigte als jene der Unionsparteien, wurde häufiger die Überzeugung zum Ausdruck gebracht, daß die Wahl der NPD eine Protestentscheidung sei. Erst mit dem Wissen um die eigene Betroffenheit versuchte die SPD deutlich zu unterscheiden zwischen der NPD und deren Wählern. Die Aussage, die Wahl der NPD sei Ausdruck des Protests und deren Wähler seien keine Extremisten - zumindest nicht durchgängig - setzte sich ab 1967 in den Reihen der SPD durch. In der direkten argumentativen Auseinandersetzung mit der NPD war die SPD aktiver als die Unionsparteien. Die SPD - und auch das ihr nahestehende Friedrich-Ebert-Institut - publizierten 1969 und 1970 mehrere Schriften, in denen die Aussagen der NPD auf deren demokratische Basis untersucht wurden -
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mit eindeutig negativem Ergebnis. Darin waren auch Anleitungen niedergelegt, wie man den Argumenten der NPD begegnen sollte. So lautete das Argument auf die NPD-Parole, daß die Bundesrepublik mit ausländischem Kapital überflutet werde beispielsweise: Die 'Gefahr' einer Überfremdung der deutschen Wirtschaft durch ausländisches, besonders durch amerikanisches Kapital wird von der NPD kolossal aufgebauscht. Die ausländischen Beteiligungen an Kapitalgesellschaften betrugen 1968 19%. (...) Andererseits ist unsere Wirtschaft auf internationale Verflechtungen angewiesen und durch Handelsverträge abgesichert. Die NPD-Forderungen bedeuten einen internationalen Vertragsbruch mit der Konsequenz einer politischen und wirtschaftlichen Isolierung. (Bockemühl 1969, Randnummer 16)
Darüber hinaus zeigte das entschiedene Eintreten für einen Verbotsantrag gegen die NPD das entschlossene aktiv kämpferische Programm der SPD gegen die Partei am rechten Rand. Insgesamt hat die SPD - rein innenpolitisch betrachtet - gelegentlich 'übers Ziel hinausgeschossen' und die Gefahr, die von der NPD ausging, dramatisiert. Die von Hans-Jürgen Wischnewski angeregte Grundgesetzänderung, um die NPD mit Gewißheit verbieten zu können, war der Situation in keiner Weise angemessen. Außenpolitisch betrachtet hat aber die entschiedene Haltung der SPD möglicherweise dazu beigetragen, einen Vertrauensverlust in die demokratische Ordnung der Bundesrepublik zu verhindern. Mehr als die Unionsparteien stand die SPD vor allem zur Zeit der ersten Erfolge der NPD in der sozialdemokratischen Tradition des engagierten Einschreitens gegen Rechtsextremismus. 'Wehret den Anfängen' war die Haltung zu umschreiben. Union und SPD näherten sich insgesamt einander an. Die SPD fand im Laufe der Jahre zu einer etwas distanzierteren Haltung gegenüber der NPD, verlagerte die Auseinandersetzung auch auf die Wähler, ohne den Kampf gegen die NPD aufzugeben. Da der von der SPD befürwortete Verbotsantrag seitens der CDU kaum Befürworter fand, mußte die SPD, um nicht an politischem Gewicht zu verlieren, ihre legalistische Linie teilweise verlassen, die argumentative Auseinandersetzung mit der NPD wurde verstärkt. Die Reaktionen der SPD waren schwerpunktmäßig parteizentriert, ergänzt durch Appelle an die Wähler, dem Ansehen Deutschlands nicht zu schaden durch Protestbekundungen solcher Art. Hinzu kamen Schriften über Ideologie und Propaganda der NPD, die als Anleitung zur Auseinandersetzung zu verstehen waren. CDU/CSU versuchten anfangs primär durch Wiedergewinnung der Wähler die NPD indirekt zu bekämpfen. Doch die Haltung der SPD und deren aggressive Vorgehensweise forderte die Unionsparteien heraus, schon im Hinblick auf deren Ansehen im Ausland. Die Sozialdemokraten waren nicht bereit, die Taktik des Totschweigens mitzutragen und unterliefen damit die Bemühungen der Union.
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In erster Linie die CDU sah sich wohl in Zugzwang durch die anhaltenden NPD-Erfolge, die weder durch innerparteiliche Konflikte noch durch wirtschaftlichen Aufschwung zu beenden waren. So setzte auch seitens der CDU die Auseinandersetzung mit der NPD ein. Die Ergebnisse der Bundestagswahl 1969 legen die Vermutung nahe, daß dies die effektivste Form der Bekämpfimg darstellte. Die Haltung der FDP gegenüber der NPD war in gewisser Hinsicht gespalten. Der nationalliberale Flügel unter dem Vorsitzenden Mende sah durch die NPD und deren Betonung des nationalen Faktors ein eigenes Agitationsfeld bedroht, so daß es noch 1966 eine Auseinandersetzung darüber gab, wer nun rechts sitzen dürfe, FDP oder NPD. Im Zuge des innerparteilichen Wandels, der sich in der Oppositionszeit der FDP vollzog, wurden Diskurse mit und auch über die NPD nicht mehr vordringlich. Die FDP konzentrierte sich mehr auf die Analyse des Verhältnisses zwischen den beiden großen Parteien und der NPD. Durch die exponierte Position, die Ralf Dahrendorf in der FDP innehatte, traten Forderungen nach Liberalisierung und Demokratisierung von Staat und Gesellschaft in den Vordergrund der FDP-Programmatik. Im Gefolge ihres konsequenten Insistierens auf den freiheitlichen Rechtsstaat war es nur folgerichtig, daß die FDP Parteiverbote nur in Extremsituationen befürwortete, so eine schien ihr aber durch die NPD nicht gegeben. Die FDP machte aber in der Verbotsdiskussion einen unkonventionellen Vorschlag: Parteiverbote sollten nur noch befristet ausgesprochen werden können (vgl. Jaschke 1991, 198).
6. Eine aktuelle Betrachtung - extremistische Parteien in der (neuen) Bundesrepublik Nach dem Niedergang der NPD waren rechtsextreme Parteien in der Bundesrepublik wieder zur Bedeutungslosigkeit verdammt. Erst mit den Wahlerfolgen der Republikaner wurde dem rechten Spektrum wieder verstärkt Aufmerksamkeit geschenkt. Auch die NPD fand wieder Beachtung. Durch ihre Wahlerfolge am 12.03.1989 bei der Frankfurter Kommunalwahl - mit einem Stimmenanteil von bis zu 10% in einigen Stadtteilen - konnte sie erstmals wieder Abgeordnete in ein bundesdeutsches Parlament entsenden (dazu ausfuhrlich Hennig 1991). Nach den ersten Erfolgen der Republikaner war die Einschätzung hinsichtlich ihrer demokratischen Orientierung uneinheitlich: schon rechtsextrem oder am äußersten Rand der Demokratie? Im Dezember 1992 erklärten aber die Innenminister des Bundes und der Länder, daß die Republikaner ein Objekt des Verfassungsschutzes seien (Jesse 1994, 37). Im Anschluß daran wechselte auch die Terminologie: sprach man vorher meist von einer rechtsradikalen
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oder rechtspopulistischen Partei, so werden die Republikaner nunmehr als rechtsextrem bezeichnet. Die Republikaner wehren sich entschieden gegen diese Titulierung, so lehnen sie auch eine Zusammenarbeit mit der NPD strikt ab (vgl. PfahlTraughber 1993, 37). Sie versuchen, sich als verfassungstreue demokratische und antiextremistische Partei darzustellen. Dementsprechend berufen sie sich ausdrücklich auf das Grundgesetz und den demokratischen und sozialen Rechtsstaat (vgl. Lepszy 1989, 7). Zur Demonstration der Verfassungstreue wurde auch ein neues Parteiprogramm entworfen. Das Programm aus dem Jahr 1990 löste das viel klarer dem extrem rechten Spektrum zuzuordnende aus dem Jahr 1987 ab. 32 Spätestens seit ihren Wahlerfolgen in Berlin und bei der Europawahl 1989 verfolgte der Parteivorsitzende Schönhuber die Strategie, seine Partei als verfassungstreu, demokratisch und eindeutig anti-extremistisch darzustellen. Dem stand das bisher gültige Programm in wesentlichen sprachlichen und inhaltlichen Aspekten entgegen. (...) Sein (Schönhubers, P.D.) erklärtes Ziel war es, der Partei ein legalistisches Erscheinungsbild zu geben, ihre Programmatik von verfassungsrechtlich bedenklichen Aussagen freizuhalten und in neue Wählerschichten einzudringen. (Veen 1991, l l f )
Die Parallelen zu den häufigen programmatischen Neuerungen der NPD in den Jahren 1964 bis 1967 sind offensichtlich. Extrem rechte Parteien in der Bundesrepublik haben die politische Kultur soweit verstanden, daß sie wissen, daß ihnen Erfolge nur gelingen können, wenn sie sich verbal auf den Boden des Grundgesetzes stellen. Die vier im Bundestag vertretenen Parteien haben jeweils Stellungnahmen und Analysen der Republikaner in Auftrag gegeben. 33 All diese Studien kommen zu dem Ergebnis, daß es sich zumindest um eine radikale Partei handelt. Zwischen den Reaktionen auf den Aufstieg der Republikaner und jene auf Erfolge anderer extrem rechter Parteien in den letzten vierzig Jahren sieht Jaschke Parallelen: „Die verschiedenen Formen der 'Bearbeitung' der 'Republikaner' stehen in der Tradition der Reaktionen auf den Rechtsextremismus, die sich in vierzig Jahren Nachkriegsgeschichte zu Handlungsmustern verfestigt haben, die über den Tag hinaus wirksam sind" (Jaschke 1990, 116). Herz hingegen meint, daß „Form und Intenstiät der sozialen Kontrolle des Rechtsextremismus sich im Laufe der Nachkriegszeit verändert haben" (Herz 1991, 235). Er geht davon aus, daß man von einer differenzierten Distanzierung der demokratischen Parteien gegenüber den Republikanern sprechen kann. SPD und Grüne lehnen sie als rechtsextrem ab. CDU und CSU sehen in
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Auf Grundlage des Programms von 1987 hat das Bundesamt für Verfassungschutz den Republikanern attestiert, daß dies eine Partei sei, die nicht auf dem Boden des Grundgesetzes stehe; vgl. dazu Hennig 1991, 34; Den Inhalt der Papiere siehe zusammengefaßt in Hennig 1991, 58-67;
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den Republikanern eine gewisse Normalisierung der Demokratie. 34 Die Unterscheidung zwischen rechtsextremer bzw. -radikaler Partei und deren Wählern wird von allen Parteien getroffen. Eine Verbindung zum Nationalsozialismus wird nicht hergestellt. Betrachtet man die Vorgänge bezüglich der Republikaner und der Entwicklung der Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus genau, so kommt man zu dem Ergebnis, daß sowohl die Position von Jaschke als auch jene von Herz die Situation nicht exakt beschreiben. Jaschke ist entgegenzuhalten, daß sich die Muster der Reaktionen sehr wohl verändert haben. Die parteizentrierten Muster, die die Position der SPD bis 1969 dominiert haben, treten seitens der Parteien nicht mehr auf. Wählerzentrierte Muster haben sich durchgesetzt. Doch diese Entwicklung - und hier ist Herz zu widersprechen - war zumindest in den Reihen der Union schon in den sechziger Jahren weitgehend abgeschlossen. Die Differenzierung zwischen Wählern und Partei wurde schon 1967 in gleicher Weise durchgeführt wie 1992. In den letzten 25 Jahren hat sich die Form der sozialen Kontrolle aber verändert. Wurde 1969 noch versucht, die NPD durch einen Verbotsantrag zu stigmatisieren, so wird mittlerweile über Verbotsabsichten nicht mehr geredet. Obwohl die Republikaner seit Ende 1992 als rechtsextrem eingestuft werden, war bislang von einem Verbotsantrag noch nicht die Rede. Zur Veröffentlichung des Verfassungsschutzberichts 1992 ließ Innenminister Seiters folgendes verlauten: Die Bundesregierung - wie auch frühere Bundesregierungen - äußert sich nicht öffentlich zu konkreten Verbotsüberlegungen, weil einerseits der Hinweis darauf, daß Verbotsabsichten nicht bestehen, als Freibrief für weitere Aktivitäten der betreffenden Vereinigungen verstanden werden könnte, andererseits der Hinweis auf ein beabsichtigtes Verbot eine unerwünschte Warnfunktion haben würde. (Bulletin der Bundesregierung 89/1992, 852)
Die politischen Parteien haben erkannt, daß durch solche Überlegungen die mit dem Verbot bedrohte Partei ihr Programm etwas moderater formuliert und dann nur noch schwer angreifbar ist. Weitgehend unverändert blieben auch die Erklärungsmuster rechter Wahlentscheidungen, die sehr gut in das wählerzentrierte Muster passen. Wirtschaftliche Probleme und ein werden wiederholt als ernst zu nehmende Anliegen der Wähler bezeichnet und als Ursache für die Wahl von Republikanern, NPD oder DVU. Präventive Maßnahmen in Form politischer Bildung werden angesichts der Probleme im zusammenwachsenden Deutschland kritisch überprüft und ergänzt. Zum ersten Mal seit 1969 legte die Bundesregierung 1991 wieder einer 34
Vgl. Herz 1991, 238; Leggewie bezeichnet dies als Normaliseningseffekt. Die Distanz zum Dritten Reich ist zum einen schon sehr groß und zum anderen nähert sich die Bundesrepublik in dieser Entwicklung nur dem in Europa üblich Bodensatz an rechtsextremen Bewegungen an; vgl. Leggewie 1987, 363;
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Bericht zur Lage der politischen Bildung vor. 35 Im Mittelpunkt der politischen Bildungsarbeit muß nunmehr vor allem die politische und gesellschaftliche Situation im vereinigten Deutschland sein (vgl. Bericht zur politischen Bildung, 3). Als problematisch scheinen in diesem Bericht die Adressaten in den neuen Ländern zu erreichen zu sein (vgl. ebd., 23). Im besonderen wird der Kontakt mit der Jugend, die offensichtlich besonders anfällig ist für rechtsextreme Ausschreitungen, gesucht. „Von zentraler Bedeutung aber für die Zukunft wird sein, ob und wie die politische Bildung Jugendliche erreicht" (ebd., 24). In diesem Zusammenhang wird insbesondere auf die rechtsextremen Ausschreitungen hingewiesen: „In letzter Zeit ist eine bedrohlich anwachsende Welle von Ausländerfeindlichkeit vor allem bei Jugendlichen festzustellen. Politische Bildung hat sich daher verstärkt mit dieser Thematik zu beschäftigen. Andere Traditionen und andere Kulturen können auch in der Bundesrepublik Deutschland das politische und kulturelle Leben anregen und bereichern. Es müssen daher in verstärktem Maße Informationen über ausländische Bürger, ihre Kultur und ihre Herkunftsländer zur Verfügung gestellt werden" (ebd., 5f). Politische Bildung wirkt aber in der Regel nur mittelfristig, so sind die anderen Institutionen gefordert, die den Rechtsstaat schützen sollen: Verfassungsschutz, Strafrecht und politische Parteien. Bei den politischen Parteien hat sich schon seit den sechziger Jahren eine distanziertere und entspanntere Haltung gegenüber rechtsextremen Parteien durchgesetzt als dies in den Gründerjahren der Bundesrepublik der Fall war. Die schon in den Jahren 1966-1969 von der Union praktizierte Vorgehensweise hat sich durchgesetzt.
7. Bibliographie Acham, Karl (1975): Philosophie der Sozialwissenschaften.
Freiburg.
Assel, Hans-Günter (1969): Kritische Gedanken zu Denkansätzen der politischen Bildung. In: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 31, S. 3-23. Backes, Uwe (1989): Politischer Extremismus im demokratischen mente einer normativen Rahmentheorie. Opladen.
Verfassungsstaat.
Ele-
Backes, Uwe/Eckhard Jesse (1983): Demokratie und Extremismus. Anmerkungen zu einem antithetischen Begriffspaar. In: Aus Politik und Zeitgeschichte Β 44, S. 3-18. Backes, Uwe/Eckhard Jesse (1989a,).' Politischer Deutschland, Band I Literatur. Köln.
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Extremismus
in der
Bundesrepublik
Bericht der Bundesregierung zu Stand und Perspektiven der politischen Bildung in der Bundesrepublik Deutschland; Deutscher Bundestag, 12. Wahlperiode, Drucksache 12/1773 vom 10. Dezember 1991, veröffentlicht außerdem als Sonderdruck der Beilage zum Parlament im April 1992.
Reaktionen demokratischer Parteien
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Doing gender" Das Parlament als Ort der Geschlechterkonstruktion. Eine Analyse der Bundestagsdebatte um die Neuregelung des Schwangerschaftsabbruches BIRGIT S A U E R
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(Berlin)
Die Akkumulation von Argumenten oder: eine kurze Geschichte über die Abtreibungsdebatte in Deutschland Gesetze und die Produktion von Geschlecht „Leben" als Zentralmythos: die Naturalisierung der Lebensdefinition Verrechtlichung der „Natur": Dichotomisierung von Frau und Fötus Die Zergliederung des weiblichen Körpers und die Konstruktion zweier getrennter Rechtssubjekte Selbstbestimmung oder Lebensrecht: aporetische Verstrickungen der Verteterlnnen des „Gruppenantrags" Selbstbestimmung als Gewaltverhältnis zwischen Schwangerer und Fötus: die Zerstörung des weiblichen Subjekts Die Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit. Naturalisierung und Essentialisierung Die Frau in Not und im Konflikt: die Schwache Die Frau als Schutzbedürftige und das „männliche Umfeld" Fazit Literatur
1. Die Akkumulation von Argumenten oder: eine kurze Geschichte über die Abtreibungsdebatte in Deutschland Mit dem Vertrag über die deutsche Einheit von 1990 stellte sich die Frage der Abtreibungsregelung neu. In der DDR hatte seit 1972 eine Fristenregelung gegolten, die Frauen einen straffreien Schwangerschaftsabbruch in den ersten drei Monaten gestattete. Die DDR-Regierung und die Mehrheit der letzten Volkskammer der DDR weigerten sich, mit dem bundesdeutschen Recht auch
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die Abtreibungsregelung - ein Indikationenmodell 1 - zu übernehmen. Deshalb wurde im Artikel 31.4 des Einigungvertrags eine Übergangslösung fixiert, die für zwei Jahre unterschiedliches Recht in Deutschland festschrieb. Bis zum 31.12.1992 sollte der Gesetzgeber allerdings eine für Gesamtdeutschland gültige Regelung verabschieden. Bei der Neuformulierung befanden sich die Parlamentarierinnen in einer argumentativen Klemme: Sie hatten sich sowohl an die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichtsurteils von 1975 zu halten, das den Lebensschutz hervorhob. Sie waren aber auch aufgefordert, bei der Novellierung die jahrelange Fristenregelungspraxis der DDR zu berücksichtigen. Der öffentliche Abtreibungsdiskurs im Vorfeld der vereinigungsbedingten Neuregelung hatte sich gegenüber den siebziger Jahren radikal gewandelt: Im Zentrum stand der Schutz des „vorgeburtlichen Lebens". Leben und seine Tötung wurden zu emotional aufgeladenen Begriffen der Debatte. Bereits seit Mitte der achtziger Jahre war in der Bundesrepublik die Indikationenregelung, die 1975 in Kraft gesetzt worden war 2 , unter konservativen Druck geraten. Die autonome Frauenbewegung, zu Beginn der siebziger Jahre mit der Selbstbezichtigungskampagne „Ich habe abgetrieben" und der Infragestellung der strafrechtlichen Abtreibungsregelungen entstanden, wurde mit ihrer Forderung nach körperlicher Selbstbestimmung von Frauen und der Zurückweisung der Bevormundung durch Ärzte, Richter und Politiker - „Mein Bauch gehört mir" - zunehmend an den Rand der Debatte gedrängt. Im Verlauf des Jahres 1990 scheiterten erste Versuche, eine interfraktionelle Gesetzesnovelle zu formulieren. Zwar hatte ein interfraktioneller „Runder Tisch der Frauen" den Entwurf eines Schwangerenhilfegesetzes, das den straffreien Abbruch in den ersten zwölf Wochen nach einer Beratung erlaubte, erarbeitet, doch legte die FDP Ende Oktober 1990 einen eigenen Entwurf vor und kündigte damit zunächst die interfraktionellen Bemühungen auf. Auf Initiative von SPD und FDP wurde am 10.10.1991 nach der ersten Lesung der Gesetzentwürfe der Bundestagsausschuß „Schutz des ungeborenen Lebens" eingerichtet 3 ; er sollte erneut einen mehrheitsfähigen Gesetzentwurf über die Parteigrenzen hinweg erarbeiten. Anfang Mai 1992 verständigten sich SPD und FDP auf eine Fristenlösung mit Beratungspflicht. Dieser Vorlage schlossen sich christdemokratische Abgeordnete und Parlamentarierinnen vom 1
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Der Schwangerschaftsabbruch blieb nach Feststellung einer medizinischen, ethischen, genetischen oder sozialen Indikation in den ersten zwölf Wochen straffrei. 1973 verabschiedete der Bundestag unter der sozialliberalen Koalition ein Gesetz zur Fristenregelung, das im Jahr 1975 nach einer Verfassungsklage von 193 Mitgliedern der CDU/CSU-Bundestagsfraktion vom Bundesverfassungsgericht (BVerfG) als verfassungswidrig zurückgewiesen wurde. Zentrales Begründungsargument war, daß der Schutz des ungeborenen Lebens nicht zureichend gesichert sei. Dem Ausschuß gehörten 20 Vertreterinnen der CDU/CSU-Fraktion, zehn der SPD, fünf der FDP und je eine/r der PDS und des Bündnis 90/GRÜNE an.
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Bündnis 9 0 / G R U N E an. Sie wurde als sogenannter „Gruppenantrag" am 1 4 . 5 . 1 9 9 2 in erster Lesung in den Bundestag eingebracht 4 . Weitere C D U Abgeordnete stimmten dem Antrag unter der Bedingung zu, daß als Beratungsziel der Schutz des ungeborenen Lebens in das Gesetz aufgenommen werde, w a s dann schließlich mit der Einarbeitung des § 2 1 9 A b s . l geschah 5 . In der zweiten Lesung der Gesetzesvorlagen zur Neuregelung des Schwangerschaftsabbruchs im Deutschen Bundestag am 2 5 . 6 . 1 9 9 2 debattierten die Abgeordneten schließlich über sieben Anträge 6 . Nach 16stündiger Aussprache - die Debatte begann um 9 . 0 0 Uhr am 2 5 . 6 . 1 9 9 2 und endete um 0.58 Uhr am 2 6 . 6 . 1 9 9 2 - nahm der Bundestag in namentlicher Abstimmung den sogenannten „Gruppenantrag" mehrheitlich an (vgl. Deutscher Bundestag 1992, 8 2 2 4 ) 7 . D a s für den Tag der Verkündung am 4 . 8 . 1 9 9 2 vorgesehene Inkraft4
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„Entwurf eines Gesetzes zum Schutz des vorgeburtlichen/werdenden Lebens, zur Förderung einer kinderfreundlichen Gesellschaft, für Hilfen im Schwangerschaftskonflikt und zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs (Schwangeren- und Familienhilfegesetz)" (Bundestags-Drucksache (BT.-Drs.) 12/2605). „Die Beratung dient dem Lebensschutz durch Rat und Hilfe für die Schwangere unter Anerkennung des hohen Wertes des vorgeburtlichen Lebens und der Eigenverantwortung der Frau." 1. „Gesetz zur Sicherung der Entscheidungsfreiheit von Frauen beim Umgang mit ungewollten Schwangerschaften" (BT.-Drs. 12/696): Entwurf von Bündnis 90/GRÜNE, der die ersatzlose Streichung des § 218 StGB vorsah; 2. „Gesetz zur Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs und zur Sicherung von Mindeststandards für Frauen zum Schwangerschaftsabbruch" (BT.-Drs. 12/898): Entwurf der Linken Liste/PDS, der ebenfalls die ersatzlose Streichung des § 218 StGB beinhaltet; 3. „Entwurf eines Gesetzes zum Schutz des ungeborenen Lebens" (BT.-Drs. 12/1179): Antrag der „Gruppe Werner" der CDU/CSU-Minderheit, der eine Verschärfung des Indikationenmodells vorsah; 4. „Schwangeren- und Familienhilfegesetz" (BT.-Drs. 12/551): Einzelantrag der FDP-Fraktion, der einen Abbruch für grundsätzlich strafbar erklärte, ihn bis zur 12. Woche aber nicht strafrechtlich verfolgt sehen wollte; 5. „Familien- und Schwangerenhilfegesetz" (BT.-Drs. 12/841): Einzelantrag der SPD-Fraktion, in dem der Schwangerschaftsabbruch bis zur 12. Woche grundsätzlich straffrei sein sollte; 6. „Gesetz zum Schutz des ungeborenen Lebens" (BT.-Drs. 12/1178 neu): Mehrheitsentwurf der CDU/CSU-Fraktion, eine umfassende Indikationsregelung; 7. „Gesetz zum Schutz des vorgeburtlichen/werdenden Lebens, zur Förderung einer kinderfreundlicheren Gesellschaft, für Hilfen im Schwangerschaftkonflikt und zur Regelung des Schwangerschaftsabbruchs neu (Schwangeren- und Familienhilfegesetz)" (BT.-Drs. 12/2605 neu), der sogenannte „Gruppenantrag", der die Beibehaltung der grundsätzlichen Pönalisierung des Schwangerschaftsabbruchs enthielt, Straffreiheit aber innerhalb der ersten 12 Wochen als nicht rechtswidrig gewährte, wenn der Abbruch von einem Arzt nach Beratung in einer Not- und Konfliktlage vorgenommen wird. An die zweite Lesung Schloß sich sofort die dritte Lesung des Gesetzes ohne Aussprache an. Von den 654 abgegebenen Stimmen entfielen bei 283 Gegenstimmen und 16 Enthaltungen 355 Stimmen auf den „Gruppenantrag", der damit angenommen war. 232 SPD-, 73 FDP-, 32 CDU/CSU-Parlamentarierinnen, 6 Abgeordnete von Bündnis 90/GRUNE und 10 der PDS/Linke Liste und 2 Fraktionslose stimmten dem „Gruppenantrag" zu.
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treten wurde durch eine Normenkontrolle von 248 Abgeordneten der CDU/CSU-Fraktion aufgehalten. Eine einstweilige Verfugung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) ließ bis zur endgültigen Entscheidung die alten rechtlichen Bestimmungen für beide Teile Deutschlands in Kraft. Am 28.5.1993 erklärte der 2. Senat des BVerfG die §§ 218a Abs. 1 und 219 für verfassungswidrig und erließ eine Übergangsregelung. Darin wurde die Letztverantwortung für einen Schwangerschaftsabbruch zwar der Frau übertragen - Abtreibungen sind in den ersten 12 Wochen straffrei, wenn die Frau sich mindestens 3 Tage vorher hat beraten lassen -, der Eingriff galt nun aber als rechtswidrig 8 , so daß die Krankenkassen nicht mehr verpflichtet sind, die Kosten zu übernehmen. Strafrechtlich verfolgt sollen nun auch Väter und Eltern werden, die einen Abbruch nicht verhindert haben (Berghahn 1993, 121). Das Parlament aktivierte daraufhin erneut einen Sonderausschuß, der am 26.5.1994 ein neues Gesetz - getragen von der Regierungskoalition - in den Bundestag einbrachte. Dieser verabschiedete die Vorlage, die die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts berücksichtigte, mit knapper Mehrheit. Die Novelle scheiterte allerdings im Juli 1994 an der Mehrheit der SPD-regierten Länder im Bundesrat. Ich möchte mich im folgenden mit der Bundestagsdebatte im Juni 1992 befassen, weil diese in den Medien - im Unterschied zur Lesung der jüngsten Novelle - hohe politische und öffentliche Aufmerksamkeit erfuhr. Der Abstimmungsmodus - über jeden Entwurf wurde nacheinander in namentlicher Abstimmung beschlossen, und derjenige Entwurf, der als erster die Mehrheit aller abgegebenen Stimmen auf sich vereinigen konnte (Stimmenthaltungen wurden nicht mitgezählt), war angenommen - erhöhte die Chancen für den „Gruppenantrag", da über ihn als letzten Antrag abgestimmt wurde 9 . Wegen des Abstimmungsprozederes konnte das Abstimmungsverhalten der Abgeordneten vom Empfehlungsverhalten in der Aussprache abweichen. Wer sich beispielsweise für die ersatzlose Streichung des Strafrechtsparagraphen aussprach, konnte dennoch in der letzten Runde dem „Gruppenantrag" zustimmen, wie dies beispielsweise Petra Bläss von der PDS/Linke Liste tat. Da die Abstimmung ausdrücklich dem Gewissen der Abgeordneten anheimgestellt war, fand der „Gruppenantrag" Zustimmung von Vertreterinnen aller Fraktionen; SPD-Abgeordnete aber sprachen sich auch gegen die Entwürfe ihrer eigenen Fraktion aus, und FDP-Abgeordnete empfahlen den „Werner-Entwurf'.
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Ausnahmen Indikation. In folgender Einzelantrag Einzelantrag Fraktion und
sind die medizinische, die embryopathische und die kriminologische Reihenfolge wurde abgestimmt: 1. Einzelantrag Bündnis 90/GRUNE, 2. PDS/Linke Liste, 3. Antrag der „Gruppe Werner" der Union, 4. der FDP., 5. Einzelantrag der SPD, 6. Mehrheitsentwurf der CDU/CSU7. „Gruppenantrag".
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In der Debatte kamen 109 Sprecherinnen zu Wort 1 0 , 61 Frauen und 48 Männer - ein überproportional hoher Frauenanteil unter den Rednerinnen also. Betrachtet man die Debatte insgesamt 1 1 , lassen sich vier Argumentationsrichtungen ausmachen: die Position der „Lebensschützer" („Werner-Antrag"), jene der ersatzlosen Streichung des Abtreibungsparagraphen aus dem Strafgesetzbuch (Parlamentarierinnen des Bündnis 9 0 / G R U N E und der PDS/Linke Liste), Vertreterinnen einer Indikationenregelung (CDU/CSU-Mehrheitsentwurf) und schließlich jene der Fristenregelung („Gruppenantrag" sowie SPD- und FDP-Antrag) 1 2 . Die Parlamentarierinnen aller Parteien tendierten deutlich zur liberaleren Gestaltung des Abtreibungsrechts, während tendenziell mehr Männer dem die Rechtslage verschärfenden Entwurf der „WernerGruppe" zuneigten 1 3 .
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Davon waren 42 von der CDU/CSU (23 Frauen und 19 Männer), 35 von der SPD (22 Frauen und 13 Männer), 18 von der FDP (7 Frauen und 11 Männer), 8 von der PDS/Linke Liste (7 Frauen und ein Mann), 4 vom Bündnis 90/GRÜNE (2 Frauen und 2 Männer) sowie 2 fraktionslose Männer. Im ersten Abschnitt der Bundestagsdebatte (9.00 Uhr bis 13.00 Uhr) wurde die Redezeit nach dem Fraktionsschlüssel verteilt; die einzelnen Rednerinnen sollten nicht länger als 15 Minuten sprechen; im zweiten Abschnitt (13.00 bis 15.00 Uhr) wurden zehnminütige Beiträge zugelassen, im dritten Abschnitt dann nur noch fünfminütige. Unterstützung für den CDU/CSU-Mehrheitsentwurf: Bei der CDU/CSU insgesamt 22 Parlamentarierinnen, davon 7 Männer und 15 Frauen; bei der SPD ein Mann, bei der FDP ebenfalls ein Mann, bei PDS/Linke Liste und Bündnis 90/GRÜNE fand der Entwurf keine Zustimmung. Unterstützung fiir den „Werner-Entwurf'. Von der CDU/CSU plädierten 10 Abgeordnete dafür, davon 6 Männer und vier Frauen, nur ein männlicher FDP-Abgeordneter stimmte noch für diesen Entwurf. Die Entwürfe von SPD und FDP fanden keine rednerische Unterstützung. Unterstützung fiir den Entwurf von PDS/Linke Liste: von einem PDS-Mann und 5 PDS-Frauen. Der Entwurf von Bündnis 90/GRUNE wurde von 2 Frauen dieser Partei empfohlen. Der „Gruppanantrag" wurde von 4 CDU/CSU-Frauen, 3 CDU/CSU-Männem, 21 SPD-Frauen, 10 SPD-Männern, 7 FDPFrauen, 9 FDP-Männern, 2 PDS-Frauen und 2 Bündnis 90/GRÜNE-Männern unterstützt. Von den Rednerinnen sprachen 8 keine Empfehlung fiir die Abstimmung aus; 58 sprachen sich für den „Gruppenantrag" aus, davon 34 Frauen und 24 Männer; 24 empfahlen den Mehrheitsentwurf der CDU/CSU, davon 15 Frauen und 9 Männer, 11 Parlamentarierinnen empfahlen den „Werner-Entwurf, davon 7 Männer und 4 Frauen, 6 Empfehlungen wurden für den Entwurf der PDS/Linke Liste abgegeben, davon 5 Frauen und ein Mann, und 2 Parlamentarierinnen schließlich empfahlen den Antrag des Bündnis 90/GRÜNE. Von der CDU/CSU empfahlen 7 Abgeordnete den „Gruppenantrag" (4 Frauen und 3 Männer), von der SPD empfahlen 31 den „Gruppenantrag" (21 Frauen und 10 Männer), von der FDP plädierten 16 fiir den „Gruppenantrag" (7 Frauen und 9 Männer), von der PDS/Linke Liste waren 2 Frauen für den „Gruppenantrag", 2 Männer des Bündnis 90/GRÜNE waren fur den „Gruppenantrag".
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2. Gesetze und die Produktion von Geschlecht Das Parlament macht Gesetze, die den Alltag der Bürgerinnen regulieren, normieren und kontrollieren. Diese Gesetze produzieren und reproduzieren geschlechtstypische Lebensweisen, also auch die Art und Weise, wie die Geschlechterdifferenz gesellschaftlich relevant wird - nämlich als Geschlechterhierarchie. Gesetze produzieren und institutionalisieren gesellschaftlich relevante Bilder der Geschlechterdifferenz; diese wiederum beeinflussen die Formulierung von Gesetzen. Mannsein und Frausein werden politisch erzeugt, und das Geschlecht wiederum strukturiert staatliches Handeln: Gesetze sind in From gegossenes Verhältnis von Geschlecht und Politik. Das Geschlecht ist keine biologische oder natürliche Eigenschaft von Individuen 14 , es ist nichts, was man „hat" und was in sozialen Praxen lediglich zum Ausdruck kommt. Das Geschlecht wird vielmehr in und durch soziale, kulturelle und sprachliche Praxen erst hergestellt (vgl. West/Zimmermann, zit. in GildemeisterAVetterer 1992, 236): Männlichkeit und Weiblichkeit werden also nicht nur kulturell definiert, sondern produziert (Seifert 1992, 275) 1 5 . „Doing gender" ist das Interpretations- und Herstellungsverfahren geschlechtlicher Differenzen (vgl. Gildemeister/Wetterer 1992, 237). Es ist ein Klassifikationsverfahren, das Geschlecht einen symbolischen, aber auch einen sozialen Ort zuweist. Die Geschlechterklassifikation ist ein „generatives Muster der Herstellung sozialer Ordnung" (ebd., 229). Dieses Herstellungsverfahren erfolgt vor dem Hintergrund einer androzentrischen politischen Kultur, in der das weibliche Geschlecht nur „als das andere, als das nicht-männliche" gedacht werden kann (Becker-Schmidt 1993, 39). Das gender-System ist ein „semiotischer Apparat" (de Laurentis, zit. in Seifert 1992, 275), ein Symbolsystem, das die soziale Ungleichheit der Geschlechter organisiert. Die Geschlechterdifferenz ist mithin ein symbolisches Machtdispositiv. Männliche Vorstellungen von der Geschlechterdifferenz sind Ideologeme, die die eigene Lebenswelt zum Maßstab machen und nicht die „wechselseitige Bezogenheit der Geschlechter im produktiven und reproduktiven sozialen Geschehen in den Blick nehmen" (Becker-Schmidt 1992, 69). Auch in der politischen Kultur der Bundesrepublik gibt es solche mit dem Geschlecht verbundene Deutungs-
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Nicht nur die Rollen von Mann und Frau - im angelsächsischen als „gender" bezeichnet sondern auch ihr „scheinbares Substrat", das natürliche Geschlecht - angelsächsisch „sex" -, sind produziert (vgl. Rutschky 1992, 242). Frausein und Mannsein sind binär codierte soziale und kulturelle Praxen, die einen je unterschiedlichen Geschlechterhabitus produzieren und je unterschiedlichen sozialen Räumen, der Öffentlichkeit und der Privatheit, zugeschrieben werden. Wenn im folgenden von Frauen und Männern gesprochen wird, so muß ich präzisieren: Gemeint ist damit der weibliche Habitus und der männliche Habitus; der Geschlechterhabitus ist die in den Geschlechtern wirkende Struktur, die sich in sozialen und politischen Praxen reproduziert (vgl. Bourdieu 1985).
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und Handlungsmuster, politische „Geschlechtermythen", die den sozialen und politischen Ausschluß von Frauen reproduzieren und die männliche Definitionsmacht stützen. Da Sprache konstitutiv ist für die politische Verfaßtheit moderner Gesellschaften, politische Realität also in hohem Maße sprachlich konstruierte Realität ist, werden auch geschlechtstypische Exklusionsverfahren sprachlich konstruiert, vorbereitet und vermittelt. (Sprachliche) Zeichen sind Medien, „symbolisches Kapital", über die sich politische Machtbeziehungen konstituieren (Bourdieu 1985, lOf). Im Anschluß an Dörner lassen sich öffentlich inszenierte politische Diskussionen als Prozesse „politischer Semiotisation" (Dörner 1993 a, 201) verstehen. Es gibt spezifische Formen der Geschlechtersemiotisation. Insbesondere Sexualitäts- und Körperdiskurse zielen darauf, das „normale" Individuum zu formen (Foucault 1989, 19f): „Der Körper wird zum Schaukampf von Machtkämpfen, macht aber nicht anschaulich, worauf sie sich beziehen" (Godelier, zit. in Becker-Schmidt 1992, 85f.). Die Abtreibungsdebatte ist seit der Mitte des vergangenen Jahrhunderts ein solcher Semiotisationsprozeß, der politisch-kulturelle Denk- und Handlungsmuster über die Geschlechterdifferenz und das Geschlechterverhältnis transportiert, generalisiert, einübt und soziale Geschlechterbeziehungen „normalisiert". Der Abtreibungsdiskurs ist Ausdruck und Produktionsbedingung gesellschaftlichen und politischen Umgangs mit Frausein und Weiblichkeit. Er ist eine Praxis der Konstruktion politisch-kultureller Zweigeschlechtlichkeit, des „doing gender", und Produktionsmodus des Herrschaftsverhältnisses zwischen Mann und Frau. Patriarchale Macht konstituiert sich zweifach: zum ersten als diskursive Macht der Konstruktion zweier dichotomer Geschlechter, denen die sozialen Felder Natur und Kultur, privat und öffentlich, Gesellschaft und Staat ebenfalls dichotomisiert zugeordnet sind. Frauen werden in dieser dualistisch codierten Geschlechterdifferenz passiviert und domestiziert, Männern wird hingegen alle Aktivität zugeschrieben. Ein zweiter Machtdiskurs ist jener der Vernatürlichung des weiblichen Körpers und seines prokreativen Potentials. Über den Natürlichkeitsdiskurs stellt sich eine ambivalente Staatsvorstellung her: Der Staat wird zum Mann, der die Frau und ihre Natur zu kontrollieren hat. Staat und Mann erscheinen als Kultur, die weibliche Natur mäßigen, beraten, erziehen sollen. Zweigeschlechtlichkeit und die an sie geknüpften Strategien der Bipolarisierung und Naturalisierung sind generative politischkulturelle Muster 1 6 , der Geschlechterdiskurs ist eine gesellschaftliche Ord-
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Die Geschlechterzuschreibung ist Teil der politischen Sozialkultur geworden: Sie gilt als natürlich, d.h. die polarisierte Zweigeschlechtlichkeit gilt unhinterfragt. Politisch codiert ist die Unterschiedlichkeit der Geschlechter qua Biologie, nicht aber als eine kulturellsoziale Unterschiedlichkeit. Frauen gelten qua reproduktiver Potenz immer als Natur.
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nungspraxis und das Parlament ein Ort der Herstellung der Geschlechterordnung. Die folgende Untersuchung hat zum Ziel, aus der Debatte um die Neuformulierung der Abtreibungsparagraphen im bundesdeutschen Strafgesetzbuch die geschlechternormierenden Strukturen, die Regeln und die Grammatik des geschlechtsspezifischen Herrschaftsdiskurses herauszuarbeiten. Ich möchte die sprachlichen und symbolischen Produktionsprozesse erstens zweier komplementärer Geschlechter und zweitens der Naturalisierung des weiblichen Körpers aufdecken. Im weiteren möchte ich zeigen, wie der Diskurs über das Abtreibungsrecht die politische Funktion bekommt, die diskriminatorische politische Integration von Frauen zu reproduzieren. Die dekonstruktive Vorgehensweise zielt darauf, in (kulturellen) Texten die Art und Weise, wie die GeschlechterdifFerenz in ihnen wirksam ist, zu entziffern. Um die Regeln und Verfahrensweisen der Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit und der Naturalisierung zu rekonstruieren, wurde der Text zunächst dekomponiert 1 7 , d.h., er wurde anhand bestimmter Bedeutungssegmente (z.B. Leben und Tötung, Selbstbestimmung, Frau und Mann, Mutter und Vater, Natur) und sprachlicher Elemente (wertgeladene Lexik, sprachliche Oppositionen) gegliedert. Diese bedeutungstragenden Segmente der Rede werden dann zu politischkulturellen Mustern rekomponiert. Das politisch-kulturelle Gerüst der Rede wird im folgenden am Begriff „Leben", an der Dichotiomisierung von schwangerer Frau und Fötus sowie an der Konstruktion zweier dichotomer Geschlechter rekonstruiert. Es läßt sich ein deutlich hegemonialer Diskurs ausmachen, der die Äußerungen sowohl der Vertreterinnen des „Gruppenantrags" und des CDU/CSUMehrheitsentwurfs als auch der „Lebensschützer" des „Werner-Antrags" kennzeichnet und ganz wesentlich von den Vorgaben des BVerfG-Urteils aus dem Jahre 1975 geprägt ist. Kristallisationspunkte dieser dominanten Rede sind die Zentralsymbole „Leben", „Lebensschutz" und „Natur" sowie die Polarisierung von Frauen und Männern, Leben und Tötung sowie Lebensschutz und Selbstbestimmung. Der heterodoxe Diskurs, vertreten durch die beiden Abgeordneten des ostdeutschen „Unabhängigen Frauenverbandes" (UFV), durch Parlamentarierinnen der PDS/Linke Liste, die für die Beibehaltung des DDR-Rechts bzw. für die ersatzlose Streichung des §218 StGB plädieren, und zwei fraktionslose Abgeordnete, ist demgegenüber marginalisiert (8 Parlamentarierinnen). Ich will im folgenden die Regeln und Muster des hegemonialen
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Männer hingegen gelten als Kultur, da ihre kulturellen Kompetenzen im Vordergrund stehen; sie sind öffentliche und geschichtliche Wesen, das Leben von Frauen hingegen ist enthistorisiert. Zur Methode der Dekomposition und Rekomposition vgl. Dörner 1993b, 288.
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Diskurses herausarbeiten, die davon abweichenden Stimmen finden in meiner Darstellung keine Berücksichtigung. Schließlich läßt sich zeigen, daß dieser hegemoniale Diskurs der Geschlechterproduktion zu keiner Liberalisierung des Abtreibungsrechts führen kann, weil sich Vertreterinnen aller daran beteiligten Parteien an die vom BVerfG vorgegebene Priorität des „Lebensschutzes" halten und sie mit einer naturalisierten Lebensdefinition verknüpfen. Die Diskussion wird dadurch verengt und ist einer Liberalisierung nicht mehr zugänglich. Gleiches Menschenrecht, d.h. das gleiche Recht auf Selbstbestimmung für Frauen und Männer, ist nicht mehr möglich.
3. „Leben" als Zentralmythos: die Naturalisierung der Lebensdefinition Die Abtreibungsdebatte des deutschen Bundestages im Juni 1992 trägt die Spuren eines generellen Wandels im Abtreibungsdiskurs. Ging es in den siebziger Jahren um die schwangere Frau und deren Selbstbestimmungsrecht, so geht es 1993 um den „Schutz des Lebens". „Leben" wurde zu einem neuartigen „Idol" (Duden 1991, 10). Die parlamentarische Debatte macht in einem Allparteienkonsens aus dem Fötus „Leben". Fast alle Rednerinnen, ausgenommen jene Vertreterinnen von PDS/Linke Liste und Bündnis 90/GRUNE, die sich für die jeweils eigenen Gesetzesentwürfe aussprechen, gehen in nichthinterfragbarer Gewißheit davon aus, daß „Leben" mit der Vereinigung von Ei- und Samenzelle bzw. mit der Einnistung des befruchteten Eis beginne. „Leben" habe somit zwei gleich zu behandelnde Existenzformen: das geborene und das ungeborene Leben. Der Diskurs um „Leben" ist ein Naturalisierungsdiskurs, der suggeriert, daß es eine natürlich-biologische, nicht hinterfragbare, durch Wissenschaft bzw. Religion gesicherte Definition von „Leben" gebe. Vorbereitet und untermauert wird dieser Naturalisierungsdiskurs durch Vergleiche mit der natürlichen Umwelt: Ich freue mich, daß wir in unserer Zeit so viel Engagement fiir die Schöpfung, für den Naturschutz, fiir den Umweltschutz, für den Artenschutz, fiir all diese Dinge aufbringen. Ich wünsche mir aber die gleiche Leidenschaft wie für die ganze Schöpfung auch für das ungeborene Leben" (Waigel/CSU/CDU, 8271; vgl. Blüm/CDU/CDU, 8354; Laufs/CDU/ O.E., 8350; Männle/CSU/CDU, 8340) 1 8 .
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Ich werde im weiteren aus dem Protokoll der Bundestagsdebatte zitieren, indem ich neben dem Namen der Abgeordneten auch ihre Parteizugehörigkeit und die Abstimmungsempfehlung vermerke; die Quellenangabe umfaßt dann Name/Parteizugehörigkeit/Empfehlung und Seitenangabe, die sich auf den stenographischen Bericht der 99. Sitzung des Deutschen Bundestages bezieht (Deutscher Bundestag 1992); für die Abstimmungsempfehlungen verwende ich folgende Abkürzungen: „Werner" für den Minderheitsantrag der CDU/CSU-Fraktion; „CDU" für den CDU/CSU-Mehrheitsantrag;
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Auch Vertreterinnen des „Gruppenantrags" „wissen", „daß es sich hier um werdendes, schützenswertes Leben" handelt (Priebus/CDU/GA: 8326; vgl. Süssmuth/CDU/GA, 8291; Würfel/FDP/GA, 8232; Menzel/FDP/GA, 8243; Klose SPD/GA, 8254). „Ausdrücklich bekenne ich mich ... zum Wissen um das Leben vom ersten Moment an" (Weißgerber/SPD/GA, 8312). Die Bezeichnungen der befruchteten Eizelle variieren und lassen eine begriffliche Unterscheidung zu, doch der Konsens des „Lebens" der befruchteten Eizelle bleibt bestehen. Vom „ungeborenen Leben", vom „vorgeburtlichen Leben" ist vornehmlich bei Vertreterinnen des CDU/CSU-Mehrheitsentwurfes und denen des „Werner-Antrags" die Rede, die damit die Menschlichkeit der Eizelle bzw. des Fötus betonen (Karwatzki/CDU/CDU, 8225; vgl. Merkel/CDU/CDU, 8244; Waigel/CSU/CDU, 8271; Michalk/CDU/CDU, 8293): „Vorgeburtliches Leben ist zuallererst einmal menschliches Leben" (Oostergetelo/SPD/o.E, 8331). Vertreterinnen des „Gruppenantrags" artikulieren einen leichten begrifflichen Vorbehalt, indem sie vom „werdenden" oder vom „wachsendes Leben" sprechen, also seine Unvollständigkeit sprachlich deutlich machen (Hanewinckel/SPD/GA, 8247; Dobberthien/SPD/GA, 8301; de With/SPD/ GA, 8241; Baum/FDP/GA, 8249; Meyer/SPD/GA, 8262; Mascher/SPD/GA; 8290; Wettig-Danielmeier/SPD/GA, 8227). Auch Otto Schily beruft sich gegen das Argument, daß das befruchtete Ei zunächst nichts weiter als ein „Zellklumpen" sei, auf die „viel intimere Wahrnehmung fur die embryonale Entwicklung" von Frauen, die deshalb „mit Sicherheit gegen eine derart seelenlose Betrachtungsweise" seien (Schily/SPD/GA, 8352). Diese Gewißheit über den Beginn von „Leben" wird mit Erkenntnissen moderner Naturwissenschaften, der pränatalen und perinatalen Medizin 19 , unterfuttert: Dabei wissen wir dank der naturwissenschaftlichen und medizinischen Entwicklung ... heute ganz genau, daß auch der Ungeborene vom Augenblick der Empfängnis an bereits ein Mensch ist mit eigenen Erbanlagen, eigenem Leben und damit eigenen Lebensrechten. (Berghofer-Weichner/CSU/Werner, 8267; vgl. Paziorek/CDU/CDU, 8348)
„Leben" bedeutet in diesem Verständnis Eigenständigkeit und Individualität, die der befruchteten Eizelle zugesprochen werden. Es stehe fest, daß „das ungeborene Kind ein Mensch ist, ein Individuum, einzigartig, im Besitz einer unteilbaren Würde" (Bauer/CDU/Werner, 8333).
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„GA" für den „Gruppenantrag", „PDS" für den Antrag PDS/Linke Liste, „o.E." bedeutet „ohne Empfehlung". „In der Frankfurter Uni-Klinik gibt es die beste Frühgeburtenabteilung in der Bundesrepublik. Hier ist es gelungen, 24 Wochen alte Embryos am Leben zu erhalten. In derselben Klinik werden Abtreibungen nach der eugenischen Indikation bis zur 22. Woche durchgeführt" (Hüppe/CDU/Werner, 8310).
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D i e t e c h n i s c h m ö g l i c h e Trennung v o n S c h w a n g e r e r und F ö t u s , g e s e t z l i c h g e r e g e l t im E m b r y o n e n s c h u t z g e s e t z 2 0 , wird nun im R ü c k k e h r s c h l u ß a u f d i e s c h w a n g e r e Frau übertragen und diese in z w e i L e b e n aufgespalten. „Leben" w i r d z u m „ t e c h n i s c h e n K a t e g o r e m " , d e m dank der „ A m n e s i e " seiner E n t s t e h u n g ein „ H a u c h v o n E w i g k e i t " verliehen wird ( B o u r d i e u 1 9 9 2 , 9 7 5 ) . „ L e b e n " erscheint naturalisiert, und seine k o m m u n i k a t i v e B e s t i m m t h e i t wird a u s g e b l e n d e t . „ L e b e n " wird in der B u n d e s t a g s d e b a t t e der g e s e l l s c h a f t l i c h e n Definiertheit e n t h o b e n und der B e g i n n v o n L e b e n k o n s e n s u e l l als natürlicher T a t b e s t a n d begriffen. Wissenschaftliche b z w . religiöse B e k e n n t n i s s e und G l a u b e n s s ä t z e präsentieren sich in der B u n d e s t a g s d e b a t t e als universelles W i s s e n . D e r K ö r p e r der Frau wird durch die politische D e b a t t e u m „ L e b e n " veröffentlicht: D i e Lebensdefinition basiert z u m einen a u f der Visualisierung u n d T e c h n i s i e r u n g d e s weiblichen Körperinnern, und das Körperinnere wird z u m anderen durch die w i s s e n s c h a f t l i c h e Durchdringung mit n e u e n A r g u m e n t e n ö f f e n t l i c h - p o l i t i s c h debattierbar und regulierbar. E i n e e i n g e s c h r ä n k t e g e s e l l schaftliche Öffentlichkeit erhält die E n t s c h e i d u n g über Geburt und Leben: nicht die b e t r o f f e n e n Frauen, auch nicht Politikerinnen, denn d i e s e haben, s o w i r d in der D e b a t t e sichtbar, das D e u t u n g s m o n o p o l über K ö r p e r v o r g ä n g e den M e d i z i n e r n u n d Technikern a b g e t r e t e n 2 1 .
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„Wie läßt es sich rechtfertigen, für den Embryo außerhalb der Mutterleibes im Rahmen des Embryonenschutzgesetzes juristische Schutzvorschriften zu erlassen, diese aber dem ungeborenen Kind innerhalb des Mutterleibes während der ersten Schwangerschaftsmonate zu versagen?" (Waigel/CSU, 8272; vgl. Merkel/CDU/CDU, 8245; BerghoferWeichner/CSU/Werner, 8268; SchockenhofüCDU/Werner, 8343; Schätzle/CDU/CDU, 8308) Barbara Duden zeichnet die Geschichte der Sichtbarmachung des ungeborenen Kindes als die Geschichte der Enteignung der Frau nach: Je ausgefeilter die Techniken der Visualisierung sind, umso weniger ist die Schwangerschaft ein Prozeß, den die Frau bestimmt und über den sie Aussagen treffen kann. Die Visualisierung ersetzt das Spüren, das allein die Frau erfahren und beschreiben kann. Die Geschichte der Embryologie als systematischer Beobachtung beginnt im 17. Jahrhundert (Duden 1991, 49ff.). Fötusbilder entstehen erstmals in den sechziger Jahren unseres Jahrhundert, die schließlich das deutliche Bild vom eigenständigen Leben prägen. Im 12. Jahrhundert ging der Vatikan noch davon aus, daß der weibliche Fötus 80 Tage, der männliche hingegen 40 Tage nach der Empfängnis beseelt werde; vor diesem Termin war Abtreibung möglich; erst Pius IX. datierte 1869 die Beseelung auf den Zeitpunkt der Empfängnis (Friedrichsen 1991, 15). Ende des 18. Jahrhunderts wird unter Tötung die Abtreibung nach der 30. Schwangerschaflswoche verstanden; zu diesem Zeitpunkt wurde die Frucht als lebendig angesehen, weil dann die Frau die Kindsbewegungen spürte. Zuvor galt der Fötus als Eingeweide der Frau (Duden 1991, 70). Bis ins 19. Jahrhundert machte das Strafrecht eine Unterscheidung zwischen lebendiger und unbelebter Frucht, und nur die Tötung einer lebendigen Frucht im Mutterbauch wurde unter Strafe gestellt (Duden 1991, 71). Erst der § 218 im Kaiserlichen Strafgesetzbuch von 1871 beseitigte diesen Vorbehalt. Bemerkenswert ist, daß die Kriminalisierung des Abtreibungstatbestandes - Abtreibungen wurden meist von Hebammen durchgeführt - just zu dem Zeitpunkt durchgesetzt wird, als sich in der Schulmedizin die Berechtigung des Arztes zum therapeutischen Abort
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Der hegemoniale Diskurs stellt diesen Konsens des Lebens mit seiner Konnotation der Eigenständigkeit nicht in Frage. Dieser Essentialismus, der zur Norm wird, prägt dann aber die weitere Argumentation in der Abtreibungsdebatte entscheidend. Sobald nämlich Leben mit der Besamung bzw. Einnistung des Eis beginnt, werden alle Argumentationen für den Abbruch, sei es nach der Fristen- oder nach der Indikationsregelung, inkonsistent. Denn dann handelt es sich in jedem Fall um Tötung - innerhalb einer bestimmten Frist oder bei „Leben", das gewissen Kriterien nicht entspricht.
4. Verrechtlichung der „Natur": Dichotomisierung von Frau und Fötus 4.1 Die Zergliederung des weiblichen Körpers und die Konstruktion zweier getrennter Rechtssubjekte Die Definition der befruchteten Eizelle als ungeborenes, aber dennoch eigenständiges Leben geht mit der Unterscheidung von Frau und Fötus als zwei Personen in eins. Insbesondere die Vertreterinnen einer strafrechtlichen Verschärfung der Abtreibungsregelung beteiligen sich an der diskursiven Zergliederung von Frau und Fötus. Auch jene Parlamentarierinnen, die fur den „Gruppenantrag" votieren, akzeptieren die in der naturalisierten Lebensdefinition liegende Konsequenz der Trennung von Frau und Fötus: Freilich, meine Damen und Herren, was da im Körper einer Frau heranwächst, mag es auch noch so symbiotisch mit ihr verbunden sein, ist eine neue Existenz, ist mehr als ein bloßer Bestandteil des mütterlichen Körpers. (Eylmann/CDU/GA, 8259).
Die diskursive und rechtliche Auflösung der Symbiose zwischen Schwangerer und Fötus macht den Fötus zum „selbständigen" Leben. Rechtlich ist so der Fötus nicht mehr Teil des weiblichen Körpers, sondern ein „Anderes". Ist der Fötus zum eigenständigen Leben geworden, so ist er ein mit Würde und mit Menschenrechten ausgestattetes menschliches Wesen mit eigener Individualität und mit eigenen Rechten (vgl. Weiß/Bündnis 90/GA, 8251). Während die Frau als teilbar erscheint, nämlich in sie selbst und in das „Leben" in ihr, wird der Fötus mit „unteilbarer Würde" ausgestattet (Bauer/CDU/Werner, 8333). Im Vordergrund der Debatte sollten deshalb „das Lebensrecht der ungeborenen Kinder und ihre Menschenwürde" stehen (Jäger/CDU/Werner, 8282). Dem Fötus werden eigene, selbständige Interessen, die von denen der Mutter abweichen können, und mithin eigene Rechte zur Realisierung dieser Interessen zugesprochen. Alle Parlamentarierinnen des hegemonialen Diskurses konstruieren den Embryo als eigenständiges Rechtsgut und stellen ihn unter
durchsetzt (Duden 1991, 72). In Deutschland wird schließlich die Identifikation von Beseelung und Belebung im Augenblick der Empfängnis zur medizinischen Lehrmeinung gemacht (Duden 1991, 116).
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den Lebensschutz des Art. 2 Abs. 2 S.l GG: „Unser Verfassungsrecht versteht unter Leben auch ungeborenes Leben" (Schätzle/CDU/CDU, 8308). Uta Würfel, Mitinitiatorin des „Gruppenantrags", betont, daß dies auch die Position dieses Antrags sei: (W)ir nehmen das ungeborene Leben als ein eigenständiges und vorrangiges Rechtsgut ernst. (Würfel/FDP/GA, 8232; vgl. Baum/FDP/GA, 8249). Deshalb ist es auch unbezweifelbar, daß dieser noch nicht geborene Mensch ein Lebensrecht besitzt wie wir alle. (Bauer/CDU/Werner, 8333; vgl. Waigel/CSU/CDU, 8272; Geier/CDU/CDU, 8333; Werner/CDUAVerner, 8255)
Die „Lebensschützerinnen" erklären sich zu Sachwaltern des „Lebens" und sehen ihre Aufgabe darin, die „Menschen-rechte der ungeborenen Kinder in Deutschland" zu verteidigen. (Hüppe/CDU/Werner, 8309). Schlußpunkt dieser Argumentation ist dann die Abstraktion von konkreten Personen mit Rechten, Bedürfnissen und Interessen - und einem Geschlecht; die Realisierung abstrakter Werte gerät zum Zentrum der Debatte. Der Fötus wird zu einem grundgesetzlich geschützten Wert: „Es geht heute um den Grundwert Leben" (Männle/CSU/CDU, 8238). Der Subtext der Abtreibungsdebatte enthält die Neuinterpretation kontextunabhängiger Werte wie „Leben", „Selbstbestimmung" und „Freiheit". Der Fötus wird dadurch zum „sozialmächtige(n) Emblemat", zum „sacrum" moderner Gesellschaft, zu einem Ort der Inszenierung fur eine jenseitige Macht (Duden 1991, 85 und 129): Durch den Fötus wird Macht über die schwangere Frau möglich. Wenn zwei getrennte Subjekte konstruiert sind, müssen sie schließlich in ein neues Verhältnis gesetzt werden, das der Abgeordnete Schockenhoff folgendermaßen beschreibt: Die Frau sei ein anderer, dem Embryo „sehr nahestehende(r)" Mensch (Schockenhoff/CDU/Werner, 8343). Damit ist die Dissoziation von Schwangerer und Fötus argumentativ vollzogen und dem „nahestehenden" Menschen werden Rechte am Fötus, aber auch an sich selbst entzogen. Die Frau wird zur „Umwelt" des Fötus degradiert. 4.2 Selbstbestimmung oder Lebensrecht: aporetische Verstrickungen der Vertreterinnen des „Gruppenantrags" Das Argument der Frauenbewegung fur die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs war das Selbtsbestimmungsrecht der Frau: „Mein Bauch gehört mir". Das Urteil des BVerfGs setzte im Jahr 1975 die beiden fundamentalen Grundwerte der Verfassung - eben das Lebensrecht des Embryos (abgeleitet aus Art.2.2 GG) und das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art.2.1 GG) - einander entgegen und hob die Priorität des Lebensschutzes hervor. Im Zentrum der Bundestagsdebatte steht dementsprechend nicht die Frau und deren Recht auf Selbstverwirklichung, sondern das allgemeine Rechtsprinzip „Leben". Eine politische Lösung ist durch die Vorgaben des BVerfGs nicht mehr möglich, der politische Kordon ist verengt auf den Le-
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bensschutz. Mit der Unsichtbarmachung der Frau - es wird betont, daß die Debatte keine „Stellvertreterdiskussion" um die gleichberechtigte Teilhabe der Frau sei (Merkel/CDU/CDU, 8244; vgl. Klose/SPD/GA, 8254) - wird die Abtreibungsdebatte diskursiv vom Geschlecht gereinigt, neutralisiert und offen für neue symbolische und kulturelle Muster. Diese Austreibung der Frauenfrage aus dem Abtreibungsproblem bereitet in den jeweiligen Redebeiträgen den Argumentationswechsel hin zum Lebensschutz vor und endet bei der Verengung auf die Alternative „Selbstbestimmungsrecht" contra „Schutz des ungeborenen Lebens". Konsens aller Parlamentarierinnen des hegemonialen Diskurses ist es, daß es bei dem Neuentwurf des Abtreibungsparagraphen um den Schutz des werdenden Lebens gehe, weil der Fötus sich in Abhängigkeit von der Frau befinde. Besitzt fur die „Werner-Gruppe" der Lebensschutz selbstverständlich absolute Priorität, so stehen die Vertreterinnen des CDU/CSU-Mehrheitsentwurfs, vor allem aber die Parlamentarierinnen, die fur den „Gruppenantrag" eintreten, unter Rechtfertigungsdruck gegenüber den Maßgaben des BVerfGs. Sie betonen aus diesem Grunde folgenden Konsens: Ich unterstelle zunächst einmal allen Kolleginnen und Kollegen, die sich an der Debatte beteiligt haben und heute beteiligen, daß sie einig sind in dem Ziel, ungeborenes Leben zu schützen (Klose/SPD/GA, 8254; vgl. Eylmann/CDU/GA, 8259). Im „Gruppenantrag" finde sich „die Mißbilligung der Tötung ungeborenen Lebens" (Würfel/FDP/GA, 8233). In der Frage, daß wir Leben schützen wollen, sind wir uns einig; in der Frage, wie, gehen die Meinungen auseinander (Schmidt/SPD/GA, 8273; vgl. Würfel/FDP/GA, 8231).
Lebensschutz mutiert schließlich zur Glaubenssache: Deshalb kann ich Sie nur noch einmal bitten, uns zu glauben: Wir wollen das Leben schützen, wir werden das ungeborene Leben schützen. (Würfel/FDP/GA, 8234)
Auch die Vertreterinnen des Gruppenantrags lassen sich auf die dichotome Sicht zweier grundgesetzlicher Werte ein: Im Widerstreit seien „das nach Art. 2 des Grundgesetzes geschützte werdende Leben und das Selbstbestimmungsrecht der Frau" (Baum/FDP/GA, 8249). Zu regeln gelte es den „elementare(n) Interessenkonflikt ... in dem auf der einen Seite die Frau, die sich in einer Konfliktsituation sieht und deren Lebensverhältnisse sich gegen ihren Willen völlig verändern sollen, und auf der anderen Seite das ungeborene menschliche Leben steht, das nach unserer Verfassung geschützt werden muß" (Hirsch/ FDP/GA, 8346). Es gehe nicht primär um das Selbstbestimmungsrecht der Frau: „Nein, wir haben zu entscheiden zwischen zwei Grundrechten: dem Grundrecht auf Selbstbestimmung auf der einen und dem Grundrecht auf Leben des werdenden Kindes auf der anderen Seite" (Eimer/FDP/GA, 8312).
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Selbst in der Einschätzung, daß der Lebensschutz des Embryos über das Selbstbestimmungsrecht der Frau gestellt werden muß, sind sich die Parlamentarierinnen des hegemonialen Konsenses einig: „Damit kein Zweifel besteht, nach unserer Verfassung geht Lebensschutz eindeutig dem Freiheitsschutz vor" und „das Selbstbestimmungsrecht der Frau (tritt) hinter den Lebensschutz zurück." (Baum/FDP/GA, 8249) „Für die gesamte Dauer der Schwangerschaft gilt der Vorrang des Lebensrechts des Ungeborenen vor dem Selbstbestimmungsrecht der Frau. Das schließt für mich jegliche Art von Fristenregelung aus." (Ehlers/CDU/CDU, 8322) Es leuchtet indessen ein, daß die Vertreterinnen des „Gruppenantrags" vor diesem Hintergrund in Erklärungsnot sind, um der Aporie von Selbstbestimmungsrecht der Frau und Lebensschutz des Fötus zu entkommen und beides zu realisieren: „Wir wollen endlich einen Schritt vorwärtskommen: für die Frauen und für den Schutz werdenden Lebens" (Wettig-Danielmeier/SPD/GA, 8228). Gegen die Verteidiger der „Menschenrechte der ungeborenen Kinder" fordern sie deshalb die „Anerkennung eines grundsätzlichen Selbstbestimmungsrechts der Frau" (Dobberthien/SPD/GA, 8302) als ein ihr „selbstredend" zustehendes „Menschenrecht" (Weißgerber/SPD/GA, 8311). Das Menschenrecht auf Persönlichkeitsentfaltung soll innerhalb der Drei-Monatsfrist Priorität besitzen. Außerdem sei „Lebensschutz nur mit der Frau zu erreichen ... Wir wollen also den Lebensschutz auf die einzig mögliche Weise erreichen, nämlich mit der Frau und nicht gegen sie" (Baum/FDP/GA, 8249). Der befristete menschenrechtliche Vorbehalt macht die Argumentation der Vertreterinnen des „Gruppenantrags" schließlich inkonsistent und angreifbar: Im „unversöhnlichen Konflikt zwischen dem Persönlichkeitsrecht der Frau und dem Schutz des werdenden Lebens" könne es, so die Mitinitiatorin des „Gruppenantrags" Inge Wettig-Danielmeier, „keinen Kompromiß in der Sache, sondern nur in der Zeit geben" (Wettig-Danielmeier/SPD/GA, 8230). Mit der Anerkennung der naturalisierten und objektivierten Lebensdefinition und der Dichotomie zweier fundamentaler Werte - Recht auf Leben und Selbstverwirklichung - geraten die Vertreterinnen des „Gruppenantrags" in ein unlösbares Dilemma; ihre Argumente gegen den von „Lebensschützerinnen" erhobenen Tötungs- bzw. Mordvorwurf innerhalb einer bestimmten Frist sind verbraucht. Diese also besitzen in bezug auf die Abwägung zweier Grundwerte das Deutungsmonopol. Das weibliche Recht auf Selbstbestimmung wird in der Argumentation der Parlamentrarierlnnen des „Gruppenantrags" nicht als körperliches Selbstbestimmungsrecht, als Menschenrecht im eigentlichen Sinne formuliert; diese Chance ist durch die Segmentierung des weiblichen Körpers und die Heraustrennung von „Leben" vertan. Selbstbestimmung wird vielmehr als Recht auf einen weiblichen, subjektiven Standpunkt verstanden. Zwar bestehe ein rechtlich-objektiver Regelungsbedarf - der Schutz des Lebens -, doch soll in einer
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bestimmten Frist oder in spezifischen Not- und Konfliktlagen die objektive Regelung der subjektiven Einschätzung der Schwangeren anheimgestellt werden. Wegen der unterschiedlichen emotionalen und affektiven Betroffenheit von Frauen und Männern sowie wegen der differierenden Erfahrungen der Geschlechter könnten nur Frauen über eine Abtreibung (selbst) „bestimmen": Da Männer nicht schwanger werden können 2 2 , haben sie zwangsläufig - ich respektiere das - einen anderen emotionalen Zugang zu diesem Thema als wir Frauen. (Schmidt/ SPD/GA, 8274; vgl. von Renesse/SPD/GA, 8321; Wettig-Danielmeier/SPD/GA, 8227; von Teichmann/FDP/GA, 8301) Und die Entscheidung, ob sich eine Frau ein Kind auszutragen zumutet, wird in solchen Tiefenschichten der Persönlichkeit gefällt, an die in Wahrheit kein Dritter heran kann. (Schmalz-Jacobsen/FDP/GA, 8275)
Weibliche Selbstbestimmung sei deshalb - in einer bestimmten Frist - nicht objektivierbar und mit dem Instrument des Rechts nicht beeinflußbar: Die Frau müsse deshalb die Entscheidung über eine Abtreibung allein und „in dem Bewußtsein treffen dürfen, daß ihre Entscheidung rechtlich nicht überprüfbar ist" (Priebus/CDU/GA, 8327): „Konfliktlagen von Frauen sind nicht objektivierbar" (Merkel/CDU/CDU, 8245). Der subjektive Standpunkt dient Vertreterinnen aller Richtungen der Untermauerung des eigenen, plausibleren Wissens über das Abtreibungsproblem, dem Nachweis größerer Entscheidungskompetenz und eines sichereren politischen Urteils. Doch mit dieser Argumentation laufen die Parlamentarierinnen gewissermaßen in die nächste Falle: Ein subjektiver Standpunkt wird weder im Recht noch von den männlichen Abgeordneten akzeptiert. Selbst Männer, die für den „Gruppenantrag" votieren, widersprechen dem subjektiven Standpunkt als Entscheidungsgrundlage, da sie sich doch als Gesetzgeber für das ganze Volk und für alle Probleme verstehen, also über alles gleich und nicht nach Geschlechtern differenziert bestimmen wollen: Ich kann es nicht akzeptieren, wenn eine Schwangerschaft und die Entscheidung über deren Fortsetzung die alleinige Angelegenheit der Frau sein soll... an der Entscheidung über einen Schwangerschaftsabbruch muß der Vater beteiligt sein (Weiß/Bündnis 90/ GA, 8252)
Eine „Objektivierungsstrategie" ist die Ergänzung des Selbstbestimmungsrechts der Frau durch das Mitbestimmungsrecht des Vaters: „Abtreibung ist kein Frauenrecht, keine reine Frauenfrage. Betroffen sind Frauen, Männer und vor allem Kinder. Verantwortlich sind Frauen und Männer ... Meine sehr geehrten Damen und Herren, Vaterschaft verpflichtet" (Männle/CDU/CDU, 8239; vgl. Süssmuth/CDU/GA, 8291). 22
An dieser Stelle wirft Finanzminister Waigel ein: „Noch nicht!". Daß in der Abtreibungsdebatte der männliche Anspruch auf Macht über Leben und Tod formuliert wird, sei an dieser Stelle lediglich erwähnt.
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Um den argumentativen Schwierigkeiten, die mit der Behauptung vom Fötus als Leben und als eigenständigem, schützenswertem Rechtsgut in der Verteidigung eines Rechts auf Abtreibung entstehen, zu entkommen, fuhren die Vertreterinnen des „Gruppenantrags" die Beratung als objektivierende Instanz ein: Mit der Beratungspflicht wird verfassunsgrechtlichen Vorgaben Rechnung getragen, ... daß die selbstverantwortliche Entscheidung der Frau nicht losgelöst vom Schutz des werdenden Lebens erfolgen kann ... Die Beratung gewährleistet, daß dem Recht des werdenden Lebens in dem Entscheidungsprozeß der Frau nachhaltig Geltung verschafft wird. (Baum/FDP/GA, 8249)
Vertreterinnen der Fristenregelung plädieren dennoch für eine freiwillige, zieloffen Beratung, denn werdendes Leben könne nur durch Freiwilligkeit geschützt werden (Wettig-Danielmeier/SPD/GA, 8227): „Wir hätten uns von einer freiwilligen Beratung letztlich für den Schutz des werdenden Lebens und der Würde der Frau mehr versprochen" (ebd., 8230). Doch auch an diesem Punkt besitzen die „Lebensschützerinnen" mit ihrer letztinstanzlichen Anrufung des „Lebens" das Deutungsmonopol: Sie diffamieren den subjektiven Standpunkt und erklären ihn als gewissermaßen privaten Standpunkt für nicht rechtmäßig. Was öffentliche Geltung beansprucht, muß objektivierbar sein: „Ist das subjektive Bestehen einer Schwangeren auf Vorliegen einer Notlage ausreichend, um die Tötung des ungeborenen Kindes objektiv zu rechtfertigen?" (Waigel/CSU/CDU, 8272). Die Antwort darauf lautet: „Die straffreie Tötung eines Menschen ist nicht durch die subjektiv empfundene und nicht überprüfbare Notlage eines anderen Menschen zu rechtfertigen" (Schockenhoff/CDU/Werner, 8343). 4.3 Selbstbestimmung als Gewaltverhältnis zwischen Schwangerer und Fötus: die Zerstörung des weiblichen Subjekts Die Gegenerlnnen des „Gruppenantrags" vertreten die Auffassung, daß es bei der Abtreibung nicht um „die Eigenverantwortung der Frau" gehen könne, weil dann das „eigentliche Schutzgut, das ungeborene Kind, ... kaum noch Erwähnung" finde (Karwatzki/CDU/CDU, 8226). Kern der Debatte sei vielmehr der „Grundwert Leben" und nicht die Realisierung „unterschiedliche(r) Lebensstile" (Männle/CSU/CDU, 8238). Die Prioriät des Lebensschutzes habe zur Folge, daß „sich dieser Schutzanspruch auch gegen das sogenannte Selbstbestimmungsrecht der Frau" richte (Paziorek/CDU/CDU, 8347; vgl. Karwatzki/CDU/CDU, 8225), daß es „seine Grenzen im eigenständigen Lebensrecht des Kindes" finde (Brudlewsky/CDU/Werner, 8297). Von „Selbstbestimmung, ja von Befreiung der Frau" im Zusammenhang mit Abtreibung zu sprechen, sei eine unverantwortliche „Verkürzung der Diskussion" (Verhülsdonk/CDU/CDU, 8336).
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Die Konstruktion zweier getrennter Rechtssubjekte, die Dissoziation von Frau und Embryo also, fuhrt in der Argumentation schließlich dazu, daß das Verhältnis zwischen Schwangerer und Fötus als Bedrohungs- und Gewaltverhältnis gezeichnet wird. Im Bild des autonomen (männlichen) Subjekts kann ein Abhängigkeitsverhältnis, wie es zwischen Fötus und Schwangerer besteht, letztlich nur als Gewaltverhältnis interpretiert werden: Die Frau gefährdet den Fötus - durch eine potentielle Abtreibung, aber auch durch Alkohol- oder sonstigen Drogengenuß -, sie ist die potentielle „Mörderin" des „Kindes". In dieser potentiellen Gegnerschaft muß der schwächere Teil vor dem stärkeren geschützt werden. Denn: „Schwangerschaftsabbruch ist ein schwerwiegender, stets mit Schuld verbundener Eingriff in ein anderes menschliches Leben" (Schmude/SPD/GA, 8289). Die Argumente der Gegnerinnen einer Fristenregelung zeitigen in der Bundestagsdebatte eine klare Konsequenz: Sie erklären die Frau schlicht zur Gewalttätigen. Die Schwangere wird als mit Macht und Gewalt gegen den Fötus ausgestattet dargestellt, von „Verfügungsgewalt" und Willkür ist die Rede. Mit der Fristenlösung, so das Argument, werde „der Frau eine Freiheits- und Machtfulle (gegeben), hinter die alle Werte zurückgedrängt werden" (Diemers/CDU/CDU, 8311). Sie erhalte mit einem liberaleren Abtreibungsrecht die „freie und unkontrollierte Verfügungsgewalt über das Leben des ungeborenen Kindes" (Schätzle/CDU/CDU, 8308; vgl. Diemers/CDU/CDU, 8310; Berghofer-Weichner/CSU/Werner, 8268; Reinhardt/CDU/CDU, 8328). Die Fristenregelung liefere das „ungeborene Kind" „schutzlos der Verfügungsgewalt eines anderen" aus (Karwatzki/CDU/CDU, 8226), Leben werde dadurch „vogelfrei" (Berghofer-Weichner/CSUAVerner, 8268). Die Frau wird als destruktiv phantasiert, sie wird zur bedrohenden Umwelt des von ihr als getrennt konstruierten Fötus und zur Bedrohung des Lebens als Wert. Das Bild der „bösen Mutter" wird gezeichnet, denn Abtreibung ist in der Logik der Lebensschützer Mord und Tötung: „Abtreibung ist Tötung von Leben" (Männle/CSU/CDU, 8238), ja „Tötung eines ungeborenen Kindes" (Waigel/CSU/, 8272 vgl. Süssmuth/CDU/GA, 8291; Geis/CDU/o.E.: 8304; Jäger/CDU/Werner, 8283). Die damalige bayrische Justizsenatorin BerghoferWeichner spricht von „Mord" (Berghofer-Weichner/CSU/Werner, 8268), Paziorek gar von „Vernichtung menschlichen Lebens" (Paziorek/CDU/CDU, 8347). Mit diesem Begriff ist ein zentrales Vorwurf der „Lebensschützerinnen", nämlich der Vergleich von Abtreibung mit der Judenvernichtung der Nationalsozialisten, angesprochen: Die Abtreibungszahlen in Deutschland seien „Holocaust-Zahlen, die angesichts der deutschen Geschichte bleischwer auf dem Gewissen der Politiker lasten, wenn wir diese Todeslawine nicht stoppen" (Jäger/CDU/Werner, 8283). Trennt man Schwangere und Fötus, so werden alle Indikationen für einen Abbruch zum „Aufflackern des alten Ungeistes, der zwischen lebenswertem und lebensunwertem Leben unterscheidet"
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(Wernitz/SPD/CDU, 8343; vgl. Blüm/CDU/CDU, 8353), und die Behauptung eines „Absturz(es) in die Barbarei" (Blüm/CDU/CDU, 8354) liegt nicht fern. Eine Liberalisierung des Abtreibungsrechts gilt diesen Parlamentarierinnen als „regelrechte(r) Dammbruch" (Nolte/CDU/Werner, 8352; vgl. Lehr/CDU/ CDU, 8340; Schockenhoff/CDU/Werner, 8343), denn „(w)enn wir heute die Tötung ungeplanten und ungeborenen Lebens tolerieren, wer garantiert uns dann, daß dieses Gesetz in Zukunft nicht auf andere Formen des nicht mehr gewollten Lebens ausgedehnt wird?" (Schätzle/CDU/CDU, 8308; vgl. Laumann/CDU/Werner, 8341; Nolte/CDU/Werner, 8352; Hüppe/CDU/Werner, 8310). Wer nicht mehr zwischen der Existenzform von geborenem und nichtgeborenem, abhängigem Leben unterscheidet, ist nicht bereit, zwischen der Entscheidung von Frauen über ihren Körper und Euthanasie zu unterscheiden, sondern orakelt, daß die Freigabe der Abtreibung „bei der pflegebedürftigen Oma ende(n)" könnte (Berghofer-Weichner/CSU/Werner, 8268). Das Recht der Frau auf Selbstbestimmung über ihren Körper wird in diesem Kontext als dirigistische „Bestimmung" - das „Selbstbestimmungsrecht wird zum 'Bestimmungsrecht' über andere, zur Verfügungsgewalt über andere" (Männle/CDU/CDU, 8238; vgl. Laumann/CDU/Werner, 8341) - und als „Fremdbestimmung" des Fötus abgewertet, so daß Lebensschutz weibliche Selbstbestimmung per se ausschließt: „(D)enn die Selbstbestimmung der Frau ist in diesem Fall (der Abtreibung, B S.) eine irreversible Fremdbestimmung des Embryos, die dessen fundamentale Rechte mißachtet" (Schockenhoff/ CDU/Werner, 8343). Parlamentarierinnen, die das subjektive Selbstbestimmungsrecht als objektives Fremdbestimmungs- und Gewaltverhältnis konstruieren, brandmarken weibliche Selbstbestimmung als unzulässige Libertinage und Verantwortungslosigkeit. Die Liberalisierung der Abtreibung sei die Durchsetzung des „Prinzip(s) 'Jeder lebe nach seiner Fasson',, (Männle/CDU/CDU, 8238) und ermögliche den „vermeintlich bequemen Weg, der jedem alles erlaubt" (Berghofer-Weichner/CSU/Werner, 8267). Gegen diese permissive Gesellschaft, die mit dem Selbstbestimmungsrecht der Frau anhebe, gelte es, „die in unserer Verfassung niedergelegten Wertentscheidungen zum Schutz des Lebens" zu verteidigen (ebd.). Verlief die Debatte insgesamt ohne despektierliche Zwischenrufe, verdeutlicht aber eine Begebenheit das Zerrbild der ungezügelten, andere verschlingenden Frau, die ihr Recht auf körperliche und möglicherweise sexuelle Selbstbestimmung reklamiert: Als die Abgeordnete der GRÜNEN, Waltraud Schoppe, bekanntermaßen eine Vertreterin der ersatzlosen Streichung des § 218, das Rednerpult betrat, wirft Wolfgang Bötsch von der CDU/CSU ein: „Jetzt, befürchte ich, wird es nicht mehr jugendfrei sein" (8265). Die Verteidigung des Grundwerts „Leben" ist ein Konzept der Sitte und Moral, dem Frauen qua Geschlecht, besser qua Sexualität, gefährlich sind. Fordern Frauen ihr Recht auf Selbstbestimmung, so fordern sie in der Logik der Lebensschützer
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ein Recht auf Tötung. Die Freiheit der körperlichen Selbstbestimmung der Frau muß deshalb ebenso wie ihre jugendgefährdende Sexualität begrenzt und kontrolliert werden: Wir dürfen keine Regelung verabschieden, mit der wir der Gesinnung 'Ich kann mit meinem Körper machen, was ich will' Vorschub leisten (Oostergetelo/SPD/o.E., 8332).
Die Schutzfunktion des Staates ergibt sich aus dem Lebensargument und dem Bild der den Fötus gefährdenden Frau. Der Gesetzgeber muß den Embryo vor der potentiell gewalttätigen Frau schützen, weil dieser selbst dazu nicht in der Lage ist (vgl. Reinhardt/CDU/CDU, 8328; Karwatzki/CDU/CDU, 8225 und 8226; Merkel/CDU/CDU, 8244; Ferner/SPD/GA, 8309; Pflüger/CDU/GA, 8320; Weiß/Bündnis 90/GA, 8251). Das BVerfG-Urteil lege fest, „daß die Verpflichtung des Staates, das sich entwickelnde Leben in Schutz zu nehmen, auch gegenüber der Mutter besteht" (BerghoferWeichner/CSU, 8268). Der Staat muß mit seinem Gewaltmonopol also in den zergliederten Körper der Frau eingreifen. Frauen werden zur „Herrin über Tod und Leben" erklärt (Warnke/CSU/ CDU, 8326; vgl. Bauer/CDU/Werner, 8333), deren Herrschaft durch gesetzliche Regelungen eingeschränkt werden müsse. Frauen stünden also wegen der Möglichkeit zu Schwangerschaft und Abtreibung jenseits des Gesetzes und seien nicht in den staatsbildenden Gesellschaftsvertrag integriert, der ja gerade die Gewaltdelegierung an den Staat zum Inhalt hat. Die Frau, so die Logik der Abtreibungsgegner, soll Macht über ihren Körper abgeben und an den Staat delegieren. Nur solchermaßen körperlich kontrolliert, kann sie Staatsbürgerin sein. Damit wird nun aber die Idee des autonomen Staatsbürgers, der Gewalt über andere Körper abgibt, der aber als Subjekt autonom ist und in dieser Autonomie vor staatlichen Eingriffen geschützt ist, in paradoxer Weise auf Frauen übertragen. Das staatliche Gewaltmonopol überschreitet ihre körperliche Grenze. Das patriarchale Recht hat die Verfugung über den weiblichen Körper sowohl der privaten Verfugung des Ehemannes anheimgestellt wie auch dem Gesetzgeber, also durch die Verfügungsgewalt über Sexualität und Prokreativität die Teilung in einen öffentlichen und einen privaten Frauenkörper geschaffen. Der Ehemann hat heute allerdings nicht mehr die alleinige Verfügungsgewalt über den Körper seiner Ehefrau. Anstelle des Ehemanns, des privaten Patriarchen, hat der Staat den Schutz, aber auch die Kontrolle des weiblichen Körpers übernommen. Deshalb vergleichen die Abtreibungsgegnerinnen auch Vergewaltigung in der Ehe, was Feministinnen als Straftatbestand geahndet sehen möchten, mit der Bestrafung von Abtreibung (vgl. Karwatzki/CDU/CDU, 8227). Der weibliche Körper wird so zum öffentlichen Körper, der durch den Staat kontrolliert wird, wohingegen er traditionell der Privatsphäre zugerechnet wird. Selbstbestimmung ist in dieser Logik (privater)
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Mord, die „Privatisierung im Bereich der Tötung menschlichen Lebens" (Berghofer-Weichner/CSU/Werner, 8267f ). Mit der Trennung von Frau und Fötus wird letztlich die Frau als (politisches) Subjekt zerstört; ihr Recht auf Selbstbestimmung ist im Falle der Schwangerschaft außer Kraft gesetzt: Sie wird zum Objekt des vorgeblich autonomen Fötus. Auf diese Weise wird aber die biologische Differenz zur politischen Differenz: Frauen können nur kontrolliert Subjektstatus erlangen. Hinter der Fundamentalopposition Lebensschutz contra Selbstbestimmung verbirgt sich die Vereinseitigung des politischen Subjektbegriffs der Moderne. Das Recht auf Selbstbestimmung des autonomen, selbstbestimmten Individuums bezieht sich auf einen Körper, der „eins" ist, nicht aber auf einen, der „zwei" sein kann. Diese Konstruktion wird aber einem Subjekt, das schwanger werden kann, nicht gerecht. Das Selbstbestimmungsrecht des weiblichen Subjekts umfaßt mehr als das am männlichen Modell entwickelte Recht, nämlich die Entscheidung über Schwangerschaft, Abtreibung und Geburt. Wird diese Geschlechterdifferenz fundamentaler Grundrechte nicht bedacht, fehlen dem Gesetzgeber die Begriffe für die Neubestimmung gesetzlicher Regelungen wie der Abtreibung, so daß die Frau als das Andere in das Allgemeine, das Männliche eingeordnet wird. Vertreterinnen des „Gruppenantrags" argumentieren gegen die Staatsintervention in den weiblichen Körper mit dem Naturrecht: Der Naturbegriff wird zur Abwehr des Staates aus der Beziehung zwischen Schwangerer und Fötus herangezogen: „Das Verhältnis zwischen Frau und Embryo ist keine Rechtsbeziehung, sondern eine Naturbeziehung" (Schily/SPD/GA 8352; vgl. Lüder/FDP/GA, 8355). Denn „das sich entwickelnde Leben (ist) von Natur aus in erster Linie dem Schutz der Mutter anvertraut" (Niehuis/SPD/GA, 8269). „Der Staat hat in diesem Naturverhältnis nichts zu suchen", „die Grenze des Körpers (ist) zugleich die Grenze des Staates" (Schily/SPD/GA, 8352f). Doch die naturrechtliche Argumentation ist wegen der Ambivalenz des Naturbegriffs nicht unproblematisch. Was als Abwehr staatlichen Eingriffs gedacht ist, birgt zugleich die Gefahr essentialistischer Zuschreibung: Die Frau und der Prozeß der Schwangerschaft werden zur Natur deklariert. Um den Preis der Re-Naturalisierung sind Frauen zwar einerseits in den Staat integriert, sie werden dadurch andererseits aber in den vorstaatlichen, vorpolitischen und vorkulturellen Bereich der Natur zurückverlagert.
5. Die Konstruktion von Zweigeschlechtlichkeit. Naturalisierung und Essentialisierung Es gibt (mindestens) zwei Strategien der Produktion natürlicher Geschlechterdifferenz: Frauen werden erstens ihrer Natur zugeordnet (Essentialisierung), und sie werden zweitens der Natur zugeordnet (Naturalisierung).
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Frausein und Weiblichkeit werden als naturhaft und schwach, als beistands-, schütz- und beratungsbedürftig phantasiert. Der Mann hingegen ist der Starke und Triebhafte, der allerdings durch den öffentlich-kulturellen Bereich entfremdet ist. Diese Geschlechterkonstrukte bilden in der Abtreibungsdebatte den argumentativen Boden für weibliche Sonderrechte. 5.1 Die Frau in Not und im Konflikt: die Schwache Die leiblich-körperliche Geschlechterdifferenz wird in der Bundestagsdebatte als natürliche Differenz und das Geschlechterverhältnis gleichermaßen als natürliches Verhältnis inszeniert. Mit der Definition des Fötus als Leben ist die Naturalisierung der Frauen als Geschlecht verbunden. Sowohl „Lebensschützerinnen" wie auch Vertreterinnen des „Gruppenantrags" entheben die Mutter-Kind-Beziehung bzw. die Beziehung zwischen Schwangerer und Fötus ihrer gesellschaftlichen Konstruiertheit: Mutterschaft gilt als natürliche Bestimmung der Frau, Schwangerschaft als selbstverständlich gewünscht. Der Normalfall ist, so auch Parlamentarierinnen des „Gruppenantrags", daß Frauen Kinder wollen, die Abtreibung sei hingegen eine Abweichung: Die Schwangerschaft sei ein „Naturzusammenhang, in der die Mutter für das werdende Leben gewissermaßen den Kosmos bildet" (Schily/SPD/GA, 8352). „Ich bin zutiefst überzeugt, daß Frauen die eigentlichen Schützerinnen des Lebens sind und daß kaum eine Frau leichtfertig abtreibt" (Weiß/Bündnis 90/GA, 8251). Nur als Schwache, in einer Not- und Konfliktlage Befindliche, treibt die Frau ab. Die Konstruktion der mit einem Konflikt ringenden Frau taucht insbesondere bei den Vertreterinnen einer Fristenregelung und jenen des CDU/CSU-Mehrheitsentwurfs auf, der gewisse Indikationen für eine Abtreibung zuläßt. Dieses Bild ermöglicht es, die jeweiligen Abbruchssonderfälle zu rechtfertigen. Es ist somit eine argumentative Strategie, um aus der logischen Falle des „vorgeburtlichen Lebens" herauszukommen: Nur als in Not geratener wird der Frau eine Entscheidung gegen das „Leben" zugebilligt. Um den Abbruch zu rechtfertigen, bauschen die Vertreterinnen des „Gruppenantrags" die Konfliktsituation geradezu auf: Beim Schwangerschaftsabbruch handele es sich um eine „ausweglose(n) Not- und Konfliktsituation" (Süssmuth/CDU/ GA, 8292), um einen „existentiellen Konflikt" (Dobberthien/SPD/GA, 8301; vgl. Wettig-Danielmeier/SPD/GA, 8227), um „ein tiefes seelisches Trauma" (Würfel/FDP/GA, 8232), ja um „eine Art von partiellem Selbstmord für die Mutter" (Marx/SPD/GA, 8259). In dieser schwierigen Situation können Frauen allerdings nicht bewußt entscheiden, sie werden vielmehr durch den inneren psychischen Konflikt getrieben, sie brauchen also Hilfe und Beistand - kurz Beratung durch den Gesetzgeber. Die Frau wird durch dieses Hilfskonstrukt der psychischen Notlage zur Schützenswerten und Beratungsbedürftigen:
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„Mit dem Instrument der obligatorischen Beratung wird sichergestellt, daß die schwangere Frau ihre Entscheidung in vollem Bewußtsein der durch die Verfassung vorgegebenen Grundentscheidungen für den Schutz des ungeborenen Lebens treffen wird" (Menzel/FDP/GA, 8244; vgl. Jeltsch/CDU/CDU, 8313). „Sie (die Beratung, B.S.) bietet der Schwangeren Abwägungs- und Entscheidungsgrundlagen für die geforderte verantwortungsbewußte eigene Gewissensentscheidung" (Baum/FDP/GA, 8249). Die Not- und Konfliktlage wird damit tendenziell zum Gegenbegriff des Selbstbestimmungsrechts der Schwangeren, denn das „abstrakte" Selbstbestimmungsrecht der Frau soll durch die erfahrungsgesättigte Konkretion - als Notlage und Gewissenskonflikt - abgelöst werden. Eine schwache Frau kann und muß nicht selbst bestimmen. Analytisch auffällig ist insbesondere bei den Parlamentarierinnen, die den „Gruppenantrag" unterstützen, die Rede über die „Andere", nämlich die abtreibende Frau. Sie distanzieren sich von den „schwachen" Frauen, indem sie hervorheben, selbst nie eine Abtreibung gehabt zu haben. Ich persönlich hätte eine solche Entscheidung nie treffen wollen und können. Zum Glück ist sie mir erspart geblieben. (Terborg/SPD/GA, 8337; vgl. Fischer/PDS/GA, 8338)
Damit nicht genug, eine ganze Reihe dieser Abgeordneten heben ihre Mutterschaft hervor und betonen, daß sie geboren haben. Ich sage Ihnen: Ich war es (schwanger, B.S.) zweimal, und ich mußte mich entscheiden. Trotz des Anratens der Ärzte, die gegen das Leben meines Sohnes gesprochen haben, habe ich mich für ihn entschieden. (Kolbe/SPD/GA, 8334; vgl. Enkelmann/PDS/PDS, 8276)
Keine der Parlamentarierinnen bekennt, daß sie abgetrieben hat, wie dies in der Selbstbezichtigungskampagne der frühen siebziger Jahre der Fall war. „Ich habe geboren" ist die sprachliche Strategie, um den Konflikt zwischen Selbstbestimmung, subjektiver Betroffenheit und objektivierender Gesetzgebung zu umschiffen. Die Parlamentarierinnen versuchen den Vorwurf der Betroffenheit, Parteilichkeit und möglichen Befangenheit, der subjektiven Rede durch Distanzierung abzuwenden. Sie müssen sich von jenen Frauen, für die das Gesetz gemacht wird, unterscheiden, um dadurch Legitimation für die Legislation zu erhalten. Als Mütter können sie rechtmäßiger Teil der Legislative sein, nicht aber als abtreibende Frauen. Deshalb präsentieren sie sich als „starke" Frauen, lassen dadurch allerdings abtreibende Frauen umso deutlicher als schwach erscheinen. Die Verschärferinnen des Strafrechts argumentieren ebenfalls mit der Notlage der Schwangeren, deuten aber die Argumente um: Mir geht es um die schwachen Frauen ... Mir geht es um die Frauen, die unter dem Schwangerschaftsabbruch leiden. (Rönsch/CDU/CDU, 8278)
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„Sie" - an die Vertreterinnen des „Gruppenantrags" gewendet - „lassen die Frau mit ihrer Entscheidung, die ihr ganzes weiteres Leben beeinilußt, alleine" (Reinhardt/CDU/CDU, 8328; vgl. Hintze/CDU/CDU, 8264).
Die Fristenlösung sei deshalb überhaupt nicht frauenfreundlich, sondern sie schütze im Gegenteil eher Männer denn Frauen. Die Behauptung, die Fristenregelung sei frauenfreundlich, ist falsch. Fristenregelungen sind immer männerfreundlich. (Männle/CSU/CDU, 8240)
5.2 Die Frau als Schutzbedürftige und das „männliche Umfeld" Alle Parteien sehen im Geschlechterkonflikt eine Ursache für Schwangerschaftsabbrüche. Während die Vertreterinnen des „Gruppenantrags" frauenund kinderfeindliche Gesellschaftsstrukturen, insbesondere die geschlechtsspezifische Arbeitsteilung und die Benachteiligung von Müttern auf dem Arbeitsmarkt, also „männliche" Strukturen kritisieren (vgl. Wettig-Danielmeier/ SPD/GA, 8228; Dobberthien/SPD/GA, 8301), beziehen sich die Verschärferinnen auf den je konkreten Mann. Dieser wird zum Feind der schwangeren Frau, die Frau zu seinem Opfer stilisiert. Ein feindliches männliches Umfeld, das die Frau zum Abbruch drängt, wird beschworen: „Oft ist die Frau die einzige, die das Kind eigentlich will. Aber der Druck, es 'wegmachen' zu lassen, ... ist übermächtig" (Verhülsdonk/CDU/CDU, 8338). Der „Druck" ist jener „des ehelichen oder nichtehelichen Vaters" (Geiger/CSU/CDU, 8333; vgl. Verhülsdonk/CDU/CDU, 8336; Jäger/CDU/Werner, 8283 und 8314). „Es geht um das meist männliche Umfeld, das Schwangeren oft erst Schwierigkeiten suggeriert, die objektiv nicht bestehen" (Berghofer-Weichner/CSU/ Werner, 8268; vgl. Kors/CDU/CDU, 8322). Die Argumentation unterstellt, daß die „Mutter" ein von vornherein positives „natürlich-bejahendes" Verhältnis zum „ungeborenen Kind" hat: Sie will gar nicht abtreiben, sondern das „männliche Umfeld" drängt sie dazu. Die Frau ist gleichsam von Natur aus Mutter und will deshalb das Kind austragen, der Mann hingegen ist durch die kinderfeindliche Gesellschaft verdorben und selbstsüchtig. Die Frau gilt als zivilisiert, während der unzivilisierte Mann die Frau zur Mörderin machen will. Dieses dichotome Geschlechterkonstrukt des 19. Jahrhunderts bildet die kulturelle Grundierung des Schutzarguments. Der Mann, der vermittels der Beeinflussung der schwangeren Frau sich das Recht zur Tötung herausnimmt, so die Argumentation, muß dieser Gewaltfähigkeit beraubt werden 2 3 . Doch auch die schwache Frau muß - wenn auch als Schutzmaßnahme vor Männern - unter strafrechtliche Obhut gestellt werden. Die Frau wird gleichsam als Opfer gezeichnet, das sich selbst nicht schützen kann und dadurch wiederum zum Täter an einem noch schwächeren - dem 23
Entsprechendes wurde in der neuen Gesetzesvorlage verankert.
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Fötus - wird. Die Parlamentarierinnen machen sich schließlich zum Anwalt der schwachen Frau, die vor der „Nötigung" des Mannes geschützt werden muß (Werner/CDU/Werner, 8256): Auch sie (die Schwangere, B.S.) bedarf daher des besonderen Schutzes der staatlichen Gemeinschaft, einerseits, um ihr Kind zur Welt bringen zu können, und anderereseits, um vor Bedrängung durch Dritte geschützt zu sein. (Bauer/CDU/Werner, 8333; vgl. Schockenhoff/CDUAVerner, 8341)
Die Fristenregelung erscheint in dieser Argumentation erneut als frauenfeindlich, weil sie „den Frauen einen Schutzschild nimmt und geeignet ist, den Druck zur Abtreibung durch Ehemänner und Partner auf die Frau, durch Eltern auf die unverheiratete Tochter in Zukunft zu erhöhen" (Warnke/CSU/ CDU, 8326; vgl. Geißler/CDU/CDU, 8357). Seine Schutzflinktion gegenüber der Frau habe der Staat deshalb durch ein prinzipielles Abtreibungsverbot wahrzunehmen. Zugleich wird das Selbstbestimmungsrecht der Frau in Frage gestellt: Als Schutzlose kann die Frau nicht selbst bestimmen, „dieses vermeintliche Selbstbestimmungsrecht" könne sich „gegen die Frau wenden": „Wir kennen die Angaben, daß viele Frauen von ihren Partnern und Ehemännern zum Schwangerschaftsabbruch gedrängt und für die Schwangerschaftsverhütung allein verantwortlich gemacht werden" (Diemers/CDU/CDU, 8311). Selbstbestimmung gilt den Abtreibungsgegenerlnnen als Zynismus: „Vor diesem Hintergrund finde ich es geradezu zynisch, wenn die Antwort auf die Probleme heißt: Selbstbestimmung innerhalb einer Frist" (Verhülsdonk/CDU/CDU, 8338). Der schützende Staat soll noch in einer weiteren Form schützen, nämlich als versorgender Staat: Alle Parteien wollen den Sozialstaat stärken: Schwangere und ihre Familien sind auf die Solidarität der Gesellschaft in hohem Maße angewiesen. Sie müssen auf besondere Unterstützung des Staates vertrauen dürfen. (Karwatzki/CDU/CDU, 8226)
Deshalb sollen im Abtreibungsrecht Maßnahmen verankert werden, damit die Gesellschaft kinder- und familienfreundlicher wird, damit Frauen „Familie und Beruf miteinander in Einklang bringen können" (ebd.; vgl. Wettig-Danielmeier/SPD/GA, 8229; Menzel/FDP/GA, 8242; Otto/SPD/o.E., 8303; Weiß/ Bündnis 90/GA, 8251). Der „Gruppenantrag" „berücksichtigt mit seinen sozial flankierenden Maßnahmen die Aufgabe des Staates zur Sicherung des werdenden Lebens" (Menzel/FDP/GA, 8244). Aber es muß klar sein, daß mit diesem Gesetz nur ein Anfang gemacht werden kann, daß wir alle gefordert sind, die soziale Gleichstellung von Frauen und die Förderung von Familien auszubauen. (Weiß/Bündnis 90/GA, 8251)
Auch der CDU/C SU-Entwurf zeige, „daß der Schutz des Lebens im Zentrum unserer Politik steht, daß wir diesen Schutz zugleich einbetten in den Schutz der Familie, die der Grundstock jeder Gesellschaft ist" (Reinhardt/CDU/CDU,
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8328). Als Palliativ gegen Abtreibung werden familienpolitische Maßnahmen wie Erziehungsurlaub, die Berücksichtigung eines Babyjahrs bei der Rentenberechnung und Familiengeld bei der Geburt in der Debatte als erfolgreiche Familienpolitik angepriesen bzw. gefordert: Der Staat ist zur Schaffung eines kinder- und familienfreundlichen gesellschaftlichen Klimas aufgerufen und damit zu einer entsprechenden Familienpolitik" (Paziorek/CDU/ CDU, 8347; vgl. Laumann/CDU/Werner, 8341; Rönsch/CDU/CDU, 8277)
Im dichotomischen Konstrukt der Geschlechterrollen, insbesondere in der ambivalenten Konstruktion von Frauen als böse Mütter, als Gewalttätige und zugleich als Schwache, bekommt der Staat also spezifische Funktionen zugewiesen: Er wird einerseits zum Beschützer von Frauen, zum Ersatz des pater familias, er setzt andererseits in dieser Funktion sein Gewaltmonopol gegen die angeblich gewalttätige Frau durch. Dadurch aber wird eine paradoxe Integration von Frauen in den Staat provoziert: als zwischen Natur und Staat stehend, als Mutter und als Staatsbügerin, als beraten und kontrolliert.
6. Fazit Das Geschlecht konstituiert politische Verhältnisse. Die Lebensdefinition sowie die Separierung von Frau und Fötus wirken als ein Denkmuster, das Frauen qua Geschlecht in einer ambivalenten Beziehung zwischen privat und öffentlich, zwischen Selbstbestimmung und Kontrolle beläßt und dadurch letztlich aus dem öffentlichen Bereich ausschließt. Frauen müssen als Geschlecht und nicht als Staatsbürgerinnen oder autonome Subjekte „Gewalt" über ihren Körper abgeben und durch den Staat kontrolliert werden. Ein autonomer Subjektstatus wird ihnen - ebenfalls qua Geschlecht - vorenthalten, da die Frau weder als „böse Mutter" und Gewalttätige noch als Schwache, die dem triebhaften Mann ausgeliefert ist, über sich selbst bestimmen kann. Eine Debatte, die mit naturalisierten Begrifflichkeiten von „Leben" und „Geschlecht" operiert, kann letztlich keine Entscheidung treffen, die gleiches Recht fur Frauen inauguriert, sondern sie perpetuiert rechtliche und soziale Diskriminierungen von Frauen. Universelle Staatsbürgerrechte basierten einst auf der Privatisierung des Geschlechterverhältnisses (vgl. Pateman 1988). Dieser Universalismus des Individuums wird nun paradox gebrochen, indem die Mutter-Kind-Dyade aufgebrochen wird: Die Untrennbarkeit von Frau und Kind, also jenes Merkmal, das jahrhundertelang als Legitimation fur den Ausschluß aller Frauen aus der Öffentlichkeit, egal ob Mutter oder nicht, benutzt wurde, wird nun reformuliert, um erneut zum Auschluß von Frauen aus der Öffentlichkeit verwendet zu werden: Öffentlich bleibt das Schwangere-Fötus-Verhältnis ein kontrolliertes und kein selbstbestimmtes, die Frau muß nach wie vor unter
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V o r m u n d s c h a f t , diesmal d e s Staates und nicht d e s pater familias, gestellt w e r den. Letztlich b e s t i m m t e das B V e r f G die Struktur d e s G e s c h l e c h t e r a r r a n g e m e n t s im Abtreibungsdiskurs 2 4 und e n t z o g die A b t r e i b u n g s f r a g e der politis c h e n Regelbarkeit. Argumentativ haben die „Liberalisiererlnnen" ihr Terrain v o n vornherein an die „Lebensschützerinnen" verloren, w e i l sie die naturalisierende und p s e u d o - o b j e k t i v e Lebensdefinition, die Z e r g l i e d e r u n g d e s w e i b l i c h e n K ö r p e r s und damit die Trennung z w e i e r R e c h t s s u b j e k t e akzeptieren. S i e r e p r o d u z i e r e n das Bild der Frau als Opfer schlechter sozialer B e d i n g u n g e n , anstatt eine politische D i s k u s s i o n über den Bürgerinnenstatus v o n Frauen z u fuhren.
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Vorlesun-
Bourdieu, Pierre (1992): Die Genese der reinen Ästhetik. In: Merkur. Deutsche für europäisches Denken 524.
Zeitschrift
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Bericht, 99. Sitzung, Bonn (Plenarprotokoll
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Ort. Vom Mißbrauch
des
Begriffs
Foucault, Michel (1989): Der Gebrauch der Lüste. Sexualität und Wahrheit 2, Frankfurt/M. 24
Einige Abgeordnete weisen auch daraufhin, z.B. Antretter/SPD/o.E., 8296.
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Friedrichsen, Gisela (1991): Abireibung. Der Kreuzzug von Memmingen, Frankfurt/M. Gildemeister, Regine; Wetterer, Angelika (1992): Wie Geschlechter gemacht werden. Die soziale Konstruktion der Zweigeschlechtlichkeit und ihre Reifizierung in der Frauenforschung. In: G.-A. Knapp/A. Wetterer (Hrsg.): TraditionenBrüche. Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg, S. 201-254. Pateman, Carole (1988): The Sexual Contract, Stanford. Rutschky, Katharina (1992): Hat der Feminismus ein Subjekt? In: Merkur. Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 3, S. 237-242. Seifert, Ruth (1992): Entwicklungslinien und Probleme feministischer Theoriebildung. Warum an der Rationalität kein Weg vorbeiführt. In: G.A. Knapp/A. Wetterer (Hrsg.): TraditionenBrüche. Entwicklungen feministischer Theorie, Freiburg, S. 255-285.
Politische Metaphorik im „parlamentarischen Diskurs": Konzeptionelle Überlegungen, exemplifiziert an entwicklungspolitischen Bundestagsdebatten. REINHARD WESEL
(München)
0. Problemstellung 1. Zur Theorie der Metapher 2. Zum Konzept der politischen Metaphorik 3. Anwendungsversuch: Entwicklungspolitik im Bundestag 4. Literatur
,JDie Flüchtlingsschwemme war doch nur der Eiter einer Wunde. Wundbehandlungwurde keine vorgenommen." (ein Hilfswerk-Profi) Jm Teufelskreis gefangen" (Titelzeile zu Afrika in der FR) „Die Bevölkerungsbombe tickt' (ein Lehrer vor der Klasse) „Die ganze Welt entzieht sich zunehmend unserem Einßuß und fällt wieder in ihren Urzustand zurück: in ein großes Chaos, in dem sie sich befand, bevor die Kolonialmächte Zugriffen." (Scholl-Latour) „Our thoughts do not select the words we use; instead, words determine the thoughts we have." (Embler 1954: 125) „Political and economic ideologies are framed in metaphorical terms. Like all others metaphors, political and economic metaphors can hide aspects of reality. But in the area of politics and economics, metaphors matter more, because they constrain our lives." (Lakoff/Johnson 1980: 236)
0. Problemstellung Die folgenden Ausführungen sind von vorneherein geprägt von einer gewissen Skepsis gegenüber der Annahme, daß die politische Sprache des „parlamentarischen Diskurses" heutzutage noch von prinzipiell besonderer Art und als eigenständiges Phänomen im Vergleich zu anderen Ebenen und Foren politischer Auseinandersetzung identifizierbar anders sei. Wenn man absieht von
Politische Metaphorik im „parlamentarischen Diskurs"
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der institutionspezifischen juristisch-bürokratischen Prägung einzelner parlamentarischer Sprachgebräuche einerseits und dem Show-Gebaren fur die TV"Fensterreden" andererseits sind zumindest auf der semantischen Ebene kaum parlamentsspezifische Befunde zu erwarten, die nicht in Presse, elektronischen Medien oder öffentlicher Rede allgemein auch wahrzunehmen wären. Sicherlich gilt dies fur politische Metaphern, sofern sie eben nicht als ad hoc schmückender Zierat, sondern als allgemeine kognitive Strukturen zu konzipieren sind: Metaphern stehen nicht einfach wie austauschbare Vokabeln zur souverän-beliebigen Verfügung eines Sprechers oder Politik-Darstellers bereit, können wohl aber als systematisch zu verstehende Diskurs-Elemente politisches Reden, also auch Denken und Fühlen, vorgängig prägen und nachgängig politisches Handeln anleiten. Folglich bietet sich an, anknüpfend an Überlegungen und aufbauend auf dem Material aus einer älteren kleinen Arbeit zur Dritte-Welt-Metaphorik (Wesel 1991), - zu versuchen, anhand von jüngeren entwicklungspolitischen Bundestagsdebatten in einer Vergleichsskizze Hinweise zu finden, ob und ggf. in welcher Weise die gegenstandbezogene Bildlichkeit im Parlament anders geartet ist bzw. andersartig verwendet wird als in den zwar verglichen mit weniger marginalen Politikfeldern recht schmalen, aber doch vielfältig stukturierten allgemeinen entwicklungspolitischen Diskussionssträngen, und - aus diesem Anlaß das Konzept der politischen Metaphorik wieder einmal aufzugreifen, um dieses leider ebenso randständige wie sich dem raschen Zugriff sperrende Instrumentarium fur die Untersuchung politischer Sprache in kritischer Erinnerung zu halten. Das Unbefriedigende an der „Metapher" - und damit auch an den meisten Versuchen zu politischer Metaphernanalyse - ist wohl, daß vielen Verwendern und Rezipienten dieses klassisch vagen Begriffs zwar unmittelbar plausibel erscheint, daß und ungefähr wie Metaphorizität von hoher Bedeutung sein mag, bislang aber keine Verständigungbasis darüber erreicht worden ist, was und wieviel Metapher ist und insbesondere wie das zweifellos komplexe metaphorische Geschehen vor sich geht und zu verstehen ist. Viele der mir bekannten politikwissenschaftlichen bzw. politikwissenschaftlich relevanten materialen Metaphernanalysen (eine kleine Auswahl siehe unten in der Literaturliste) stützen sich meist auf ein kurz formuliertes common-sense-Verständnis oder ziehen ad hoc Theoreme und Positionen aus der chaotischen Vielfalt der philosophischen und sprachwissenschaftlichen Metaphern-Debatten bei, um schnell zur Materialausbreitung und -auswertung unter historischen oder sachsystematischen Gesichtspunkten (z.B. dem beliebten „Staatsschiff' samt reichhaltigem seemännischem Ambiente) zu kommen. So interessant und verdienstvoll umfassende Materialzusammenstellungen sind (z.B. Demandt 1978, Jäger 1971, Peil 1983, Stollberg-Rilinger 1986, Rigotti 1992), so bleibt doch zu bedauern, daß die Option auf die Entwicklung eines potentiell interessanten
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sprachpolitologischen Instruments offen bleibt. Es besteht sogar die Gefahr, daß durch beeindruckende Materialarrangements suggeriert wird, es könne so etwas wie ein politisches Metaphern-Lexikon relativ gefestigter, zuordenbarer Bedeutungen existieren (z.B. die Bilderwelt der Rechtsradikalen) - dies würde sicherlich den ursprünglichen Gedanken, was denn der Witz am Metaphorischen sein könnte, konterkarieren. Auch die Metapher explizit als politisch hochrelevanten Untersuchungsgegenstand vorstellende Arbeiten (z.B. Edelman 1970) helfen hier kaum weiter. Relativ wenige Autoren mühen sich um eine weiterfuhrende theoretische und methodologische Klärung des Metaphernkonzeptes, allerdings oft in untereinander schwer vermittelbaren Bezügen (z.B. Lakoff/Johnson 1980, Link 1984, Meichsner 1983, Opp de Hipt 1987). Statt wie üblich mit einem vorläufigen eigenen Definitionsversuch zu beginnen, möchte ich zunächst die Dimensionen der allgemeinen MetaphernDiskussion zeigen sowie einzelne Theoreme zu Struktur, Funktionsweise, Leistungen und Gefahren metaphorischer Sprache diskutieren, um letztlich unter der leitenden Annahme der politischen Relevanz von Denk- und Sprachbildern einige Thesen zu formulieren, wie denn politische Metaphorik „funktionieren" könnte.
1. Zur Theorie der Metapher Die Vor- und Zuarbeiten zu einem politischen Metaphernkonzept aus anderen, eigentlich zuständigen Disziplinen sind meist mehr verwirrend als hilfreich. Über wenig andere systematisch angehbare geisteswissenschaftliche Einzelthemen dürfte mehr und mehr Widersprüchliches geschrieben worden sein als über das Phänomen „Metapher" (vgl. Nieraad 1977). Um der Vielfalt und der Verwickeltheit der Überlegungen zur Metapher seit der europäischen Antike gerecht zu werden, sind systematische Aufarbeitungen der einschlägigen Zugangsweisen und Ansätze angebracht: philosophische Traditionen und Debatten, sprach- und literaturwissenschaftliche Ansätze und Verwirrungen, kognitionspsychologische Leistungserwartungen, soziologische (resp. wissenssoziologische) Funktionszuschreibungen und politologische Hoffnungen wären aufzugreifen und durchzukämmen - nicht in der Absicht, dokumentarische Gelehrsamkeit vorzuführen, sondern um die fast immer geforderte, kaum je erreichte Interdisziplinarität zumindest vom Konzept her zuzulassen. Eine solche Durchforstung des metapherntheoretischen Dschungels ist hier - zur Erleichterung von Autor und Leser - nicht möglich, ein auswählender und sicherlich überzogen ideal typisierender Überblick über Grundpositionen und Probleme jedoch nötig. Jeder Metaphern-Auffassung ist eine bestimmte Sprach-Auffassung vorausgesetzt; dies ist banal, doch wird dem gequälten Leser metaphorologischer
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Literatur aus derselben nicht immer deutlich, wie sehr metapherntheoretische Grundentscheidungen von den entsprechenden metaphysischen, ontologischen, erkenntnistheoretischen und sprachphilosophischen abhängen (vgl. Koller 1975). Eine der vorgängigen Fragen läßt sich wie folgt „metaphorisieren": Ist die Sprache für unser soziales und geistiges Leben ein Instrument oder ein Fundament? Falls Sprache instrumental zu konzipieren ist, sind ihre Elementen prinzipiell beliebig einzusetzen und auszutauschen; Sprachgeschichte und soziale Trägheit mögen diese Freiheit faktisch einschränken, aber die Realität der Welt und unsere sprachliche Bewältigung dieser Realität haben keine wie immer geartete notwendige innere Verbindung. Falls Sprache aber fundamental zu verstehen ist, stellt sich unsere Grundsituation als unvermeidbar sprachabhängig dar: Welt ist uns immer nur in und durch Sprache (resp. Kommunikation, Diskurs .. .) gegeben, ihre einzelnen, nicht jeweils so einfach ersetzbaren Elemente stellen unsere Realität bzw. unsere Fähigkeit und Möglichkeiten, Realität zu erfahren, erst jeweils konkret her. Diese - nach fachphilosophischen Kritierien sträflich vergröbernde - Opposition vom Bezeichnungsmodell „Sprache als Mittel·' und dem Postulat der Sinn- und Gegenstandskonstitution durch „Sprache als Grund " hat den Vorteil, daß sie unmittelbar auf die gängigen metapherntheoretischen Konflikte zu übertragen ist: So hat die Metapher aus instrumentalistischer Sicht im nicht-literarischen Bereich lediglich eine problematische Randfunktion, auf die in exakter, rational kontrollierter Ausdruckweise besser verzichtet würde, während ihr natürlich in sprach-fundamentalistischer Perspektive höchste Bedeutung zugeschrieben werden muß. Die grundsätzliche Sprachauffassungen Instrument versus Fundament ist für metaphernkonzeptionelle Überlegungen sinnvollerweise noch zu spezifizieren durch die Aspekte Sprache als Gefahrenquelle und Sprache als Innovationsmedium. „Instrumentalisten" werden eher dazu neigen, in falschen bzw. mißverständlichen sprachlichen Mitteln eine ernste Gefährdung des Gangs der Erkenntnis zu wittern, während „Fundamentalisten" mit der weltschafFenden Sprache deren kreative und innovative Potenz preisen. Beide Lager können aber in entsprechend unterschiedlicher Gewichtung akzeptieren, daß „uneigentliche", „übertragende" Rede eben wegen ihrer Funktionslogik sowohl irreführende wie schöpferische Effekte haben kann. In der folgenden Übersicht sind in idealtypischer Kontrastierung die Positionen zu einigen zentralen Aspekten der Metaphern-Diskussion zusammengestellt:
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Übersicht: Idealtypische Dichotomie von Metaphern-Auffassungen Charakter der Sprache
Status der Metapher in Sprache und Denken
Metaphern-Feinde: Instrument zur Abbildung und/oder Wiedergabe; eine adäquate und exakte Ausdrucksweise ist möglich und notwendig fakultativer Zusatz: Metaphern sind äußerlich, ja eigentlich überflüssig; kognitiv. Abweichung von korrekter Ausdrucksweise
Metaphern-Freunde: Sprache ist an sich durch und durch metaphorisch; letzlich baut jede Begriffsbildung auf metaphorischen Fundamenten Basis & Universalität: Metaphern sind als innere Bedingung der Möglichkeit der Sprache immmer zentral und in allen Bereichen notwendig Unterscheidung ist unmöglich und wäre sinnlos; allenfalls in exakt-formaler „wissenschaftlicher" Kunstsprache denkbar
Unterscheidung in „eigentliche versus „uneigentliche" Ausdrucksweise
radikaler Gegensatz „wörtlich"/ „eigentlich" vs. „figürlich"/ „bildhaft"/ „uneigentlich" usw.
Bedeutung der Metapher für Philosophie und Wissenschaft
Absoluter Horizont: Metaphern eröffnen, richten, begrenzen Weltperspektiven/-Kategorien; kreative Innovations fünktion „rhetorisch" {pejorativ); fündiert und orientiert vor Verzierung/Ornament, [vgl. verßcationist view vs. allenfalls Hervorhebung constitutivist view1 gefährlicher, verführerischer unausweichliche Dialektik Rest auf dem Weg „vom von ..Führung und VerfühMythos zum Logos"; rung". die verarbeitet werStörung; Manipulation den muß Anklage. Kritik; durch Ambi-/Polyvalenz ernstAnalyse aufklärend zu nehmen und in konstruktibereinigen, um kognitive ver Kritik bewußt und Fallen zu meiden [t] reflexiv verarbeiten (aber auch: Sprachskepsis) Westlicher „mainstream " Mehrheit der nichtseit der Spaltung der Philo- analytischen Sprachphilosophie in Metaphysik und sophie, zumal der humaRhetorik nistischen, hermeneutischen und phänomenologischen Tradition (wes/4,94)
Leistung der Metapher Problematik der Metapher Praktischer Umgang mit Metaphern Vertreter:
Ausschließungs-Verhältnis: metaphorische Ausdrücke sind zu eliminieren, weil sinnlos und irreführend
Jede Auseinandersetzung mit der Metapher müßte bei aller Skepsis oder Euphorie zunächst erst einmal Relevanz bzw. Status dieses Gegenstandes aufweisen und Umfang und Reichweite des Begriffs klären - z.B. eine Abgrenzung zu anderen Tropen u.ä. vollziehen; Hypothesen über das Verhältnis von Metaphorik zu „rationalem"/"wissenschaftlichen" Argumentieren zum
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einen, zum anderen über ihre Funktion in der rhetorisch-praktischen Dimension sollten begründet werden. Viele einschlägige Beiträge tun dies allenfalls implizit, bevor sie meist an ausgewählten Beispielen und oft an eher technischen oder semantischen Einzelaspekten interessiert zum bunten Bild beitragen. Die notwendige theoretische Diskussion kann im folgenden nur mit einzelnen wichtigen Problemstellungen und Theoremen angedeutet werden: Mit der inzwischen paradigmatischen Formulierung durch Max Black (1983 a[ 1954]) sind die Ansätze zur Metapher zu unterscheiden in die Substitutionstheorie (einschließlich ihrer vergleichstheoretischen Variante) und die Interaktionstheorie. Die traditionsmächtige Grundlage der ersteren ist Aristoteles' klassische Definition (Übertragung eines fremden Nomens von der Gattung auf die Art bzw. umgekehrt oder gemäß der Analogie). In Black'scher Terminologie ausgedrückt dient der „Fokus" einer Metapher, das bildhafte Wort, innerhalb des „Rahmens" des Satzes, in dem dieser Ausdruck verwendet wird, lediglich dazu, eine Bedeutung zu vermitteln, die auch „wörtlich" eben auch ohne die metaphorische Ersetzung - ausgedrückt hätte werden können. Der Metaphern-Gebraucher tauscht die wörtliche gegen die übertragene Bedeutung aus, der Verbraucher muß diese Worträtselei wieder decodieren. Wenn der Metaphern-Gebrauch insofern semantisch völlig irrelevant ist, bleiben zu seiner Rechtfertigung nur stilistische Gründe (Dekoration, Abwechslung usf.) oder allenfalls die Not des fehlenden rechten Wortes: im Sinne der Katachrese „ersetzt" dann die Metapher (wie die berüchtigte „MotorAawfo") das nichtvorhande eigentliche Wort ... . Spätestens an dieser logisch recht „uneigentlichen" Stelle der Argumentation müßte undogmatisches Nachdenken über Sprache Verdacht schöpfen, daß „übertragene" Ausdrücke kognitiv mehr leisten als rhetorisch-literarische Alternativen zu eindeutigem Vokabular zu bieten. Aber auch die konventionelle Vergleichstheorie, die in einer zugrundeliegenden Analogie/Ähnlichkeit die Verbindung zwischen wörtlichem und metaphorischem Ausdruck sieht, geht davon aus, daß dieser durch jenen problemlos ersetzbar wäre. Daß Vergleiche gemeinhin vor allem deswegen angestellt werden, weil die alleinige Betrachtung eines Gegenstandes nicht weiterfuhrt und gerade die Gegenüberstellung mit Vergleich- wie mit Unvergleichbarem die Betrachtungsfähigkeit erweitert, bleibt dabei unberücksichtigt. Um die angedeuten Beschränkungen zu vermeiden, die sich substitutionstheoretische Sprach-Instrumentalisten selbst aufzwingen, ist deren Aufteilung der Sprache in semantisch richtige eigentlich-wörtliche und semantisch überflüssige metaphorische Ausdrücke völlig aufzugeben. Postulierend, daß metaphorisches Sprechen gegenüber dem wörtlichen eine andere, vielleicht die ursprünglichere Weise des Sprechens mit spezifischen semantischen und kognitiven Leistungen ist, und weiter Black (1983a[1954]) folgend, kann man nur mehr in der Interaktionstheorie einen produktiven Denkansatz finden: In der metaphorischen Aussage werden zwei deutlich voneinander abgegrenzte Gegenstände miteinander in Beziehung gebracht, wodurch dank der aktiven
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Verstehensleistung des Hörers/Lesers eine Bedeutung entsteht, die über die Einzelbedeutungen der isolierten Gegenstände hinausreicht, oder diese Einzelbedeutungen auf eine nur so aktzentuierbare Bedeutung einschränkt - wobei „nur so" funktional zu verstehen ist, also keine lexikalische Bindung behaupten soll. Black bezeichnete die beiden interagierenden Bereiche „Hauptund untergeordneter Gegenstand" bzw. „Primär- und Sekundärgegenstand" (1983a[1954], 75; 1983b[1977], 392) und verstand sie als „Systeme von Dingen" bzw. „System von Beziehungen", was alle Assoziationen meint, die Sprecher mit dem Gegenstand auch jenseits festgelegter Lexikonbedeutungen verbinden; der Wahrheitsgehalt jener innerhalb einer Sprachgemeinschaft geteilten Ansichten - von Black auch „System miteinander assoziierter Gemeinplätze" genannt - ist dabei für das Funktionieren interaktiver Metaphorik nicht relevant (1983a[1954], 70f): Die Metapher selegiert, betont, unterdrückt und organisiert charakteristische Züge des Hauptgegenstandes, indem sie Aussagen über ihn einbezieht, die normalerweise zum untergeordneten Gegenstand gehören. (Black 1983a[ 1954], 76)
Der Ansatz von Black läßt sich - was hier nicht weiter auszuführen ist durchaus mit anderen Konzeptionen in Korrespondenz oder konstruktiven Kontrast bringen, z.B. mit Karl Bühlers Argument der „Sphärendeckung", mit Edelmans (1970) „Verdichtungssymbol" oder auch mit der Formulierung von Lakoff/Johnson (1980), die Metapher ermögliche es, „ one thing in terms of another" zu konzipieren. Harald Weinrichs Überlegungen zur Konterdetermination (1976) lassen sich unter Verzicht auf metaphernscholastische Skrupel pragmatisch mit Blacks Argumentation kombinieren, um einen gerade für die politische Wirksamkeit metaphorischer Aussagen interessanten Aspekt zu betonen. Weinrich, auf den die gängige Verwendung der griffigen, aber nicht unproblematischen Terminologie „Bildspender/Bildemfänger" zurückzuführen ist, nennt die Metapher „eine widersprüchliche Prädikation" (1976, 308). Der metaphorische Ausdruck kann nicht als isoliertes Wort verstanden werden, sondern nur im Rahmen eines Textes sowie dessen Situationskontextes: da die Bedeutung eines Wortes wesentlich durch eine in ihm angelegte Determinationserwartung geprägt ist, kommt es, wenn diese durch seine übertragene Verwendung enttäuscht wird, zu einem überraschenden und Spannung erzeugenden Effekt. Insofern also der Determination des Wortes durch die anders gerichtete Determination des Kontextes widersprochen wird, ist die Metapher als „ein Wort in einem konterdeterminierenden Kontext" zu bestimmen (Weinrich 1976, 320). Diese Argumentation verweist auf eine wichtige Vorentscheidung für das Metaphern angemessene Analysekonzept, indem sie ausgeht von der Unterscheidung in die Ebenen von Mikro-Metaphorik, Kontext-Metaphorik und Text(-in-der-Situation)-Metaphorik (ebd., 33Iff). Eine andere Einteilung ordnet die verschiedenen Ansätze als wortsemantisch, textsemantisch und präg-
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matisch (nach Wolff 1982, 12ff) in der ähnlichen Absicht, den Zusammenhang zwischen Metaphernauffassung und Untersuchungsansatz zu verdeutlichen: Auf der Mikro- bzw. Wortebene, auf der nur einzelne semantische Komponenten zugänglich sind, werden die Beschränkungen der traditionellen Substitutionstheorie nicht so behindern wie bei Kontextanalysen, die naturgemäß erst die fur politikwissenschaftliche Sprachuntersuchungen relevanten Bezüge herstellen können. Ein weiteres auf der Interaktionstheorie aufbauendes wichtiges Argument betont die Fähigkeit von Metaphern zur kognitiven Innovation (vgl. Black 1962, Knorr-Cetina 1984): die heuristische und kreative Kraft metaphorischen Denkens ist nur nachvollziehbar, wenn über das erwähnte problematische Argument der Katachrese hinaus akzeptiert wird, daß nur durch so etwas wie interaktive und/oder konterdeterminative Mechanismen eine konzeptuelle Wechselwirkung zwischen jeweils schon bekannten Wissens- oder Ideenbeständen ermöglicht wird, die neues Unbekanntes kreieren läßt. Damit verwandt, aber doch komplexer und vor allem auch durch tradierte Debatten verunklärt, stellt sich die Frage nach der Rolle von Metaphorik bei der Findung von kognitiven, besonders von wissenschaftlichen Modellen: wie Schöffel (1987, 193) feststellt, ähneln die Debatten über das Modell und seine kognitiven und wissenschaftlichen Funktionen vielfach den metapherntheoretischen. Analog zu Quintilians Bestimmung der Metapher als verkürztem Gleichnis wäre sie auch als ein elementares, noch nicht entfaltetes Modell aufzufassen; im rational durchgearbeiteten Modell ist dann sein metaphorischer Kern expliziert (vgl. Black 1962). Als kognitive Leistungen von Metaphern - in der Form der Anleitung zur rationalen Modellbildung oder meist wohl nur in der Weise alltäglichlebensweltlicher Herstellung von Ordnung und Sinn - lassen sich typisieren, wenn auch nicht wirklich trennen: - Strukturierung/Information: Unbekannte oder schwierige Phänomene werden durch den metaphorischen Rückgriff auf Bekanntes und Durchschautes aufklärbar; besonders bei Phänomenen, die der unmittelbaren Beobachtung nicht zugänglich sind bzw. die eingelebte Vorstellungskraft überfordern, ermöglichen Metaphern qua Analogierelationen zu sinnlich erfahrbaren bzw. mental vorstellbaren Sachverhalten die Wiederherstellung der geistigen Ordnung und die Schaffung einsehbaren Sinns; treffende Metaphern können darüberhinaus auch die Suche nach weiteren Informationen anleiten. - Vereinfachung/Selektion: Quantitativ wie qualitativ zu komplexe Sachverhalte, die mit den vorhandenen kognitiven Rastern nicht mehr bewältigt werden können, lassen sich metaphorisch „auf einen einfachen Nenner bringen" (,JComplexiiätsreduktion"), die dadurch nach dem metaphorischen Muster systematisch vollzogene „Verkürzung" kann ebenso praktisch wie problematisch sein.
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- Innovation: für die historische Entwicklung der Sprache und besonders ihres Lexikons einerseits, für die Auflösung verfestigter semantischer Ordnungsschemata und die Schaffung entsprechender neuer andererseits sind metaphorische Prozesse nötig; völlig neue bzw. als neu wahrgenommene Situationen sind zuerst in Metaphern konzipierbar; metaphorische Kreativität kann möglicherweise Neues erst „sehen" lassen; die Innovation kann sich evolutionär oder auch kämpferisch gegen alte Wissensschemata durchsetzen. Für alle neu geprägten Metaphern gilt dabei, „daß sich in ihnen eine noch nicht gesellschaftlich legitimierte Erfahrung oder Erkenntnis sprachlich objektiviert" (Koller 1975, 259). Ein weites Feld zur Prüfung dieser Überlegungen bietet die sog. „Wissenschaftsmetaphorik". Daß für manche geisteswissenschaftliche Disziplinen Metaphern und Metaphorologie nicht nur Gegenstand, sondern auch vielfach als methodische Basis akzeptiert sind, ist nicht überraschend. Der keineswegs kontingente Zusammenhang zwischen naturwissenschaftlichen Paradigmen bzw. Modellen und den sie fundierenden Metaphern - z.B. für die Konzeption der Zeit - wurde oft untersucht (vgl. Nieraad 1977, 80ff); auf eine prinzipiell ähnliche Lage in den Sozialwissenschaften wurde häufig hingewiesen (z.B. Brown 1976, Landau 1961, Schön 1979). Üblicherweise wird bei der Antwort auf die Frage nach der methodologischen Relevanz der Metapher wissenschaftstheoretisch säuberlich getrennt in Entdeckungs- und Beweiskontext; in ersterem wird Metaphorizität zunehmend eine wichtige Funktion zugebilligt, während sie im ausschlaggebenden anderen nichts zu suchen habe. Skepsis gegenüber solchen geordneten Verhältnissen kann aufkommen, wenn man sich einläßt auf eine Reflexion der Metaphorik des Erkennens und der Wahrheit selbst: Die Dominanz etwa der visuellen Metaphern der Erkenntnis oder auch des oben/unten-Rasters im Ausdrücken von Wertigkeit mag evolutionsgeschichtlich oder anthropologisch erklärbar sein - jedenfalls ist sie bis in ausgefeilte Abstraktionen hinein strukturierend wirksam. In viel höherem Maße fundamentale Funktion wird der Metapher vielfach für die Philosophie (und Theologie) zugeschrieben, wenn es darum geht, über Gegenstände zu reden, die außerhalb der Reichweite sinnlicher Erfahrung und rationalisierter theoretischer Sprache liegen (vgl. die „absolute Metapher" von Blumenberg, 1960). Während Relevanz und Leistungskraft von Metaphorik zumindest als Heuristik in philosophischen und naturwissenschaftlichen Kontexten als weitgehend prinzipiell akzeptiert gelten kann, ist die Wertschätzung von Metaphorik im sozialwissenschaftlichen Bereich angesichts der eigentlich metaphernträchtigeren Struktur des gesellschaftlichen Lebens bis auf einige interessante Ausnahmen recht gering geblieben. Vor dem Hintergrund von Foucaults DiskursUntersuchungen zum Zusammenhang von gesellschaftlicher Institutionalisierung von Wissen und sprachlichem Ausdruck hat z.B. Link (1984) das Konzept des Interdiskurses erarbeitet; dieser Ansatz ist zumal in politologischer Hinsicht insofern bedeutsam, als er bestimmte historisch bzw. material fest-
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stellbare Symbol- und Metaphernverwendungen auf einzelnen diskursiven Ebenen bzw. in einzelnen Segmenten nicht isoliert, sondern die Interkohärenzen im Rahmen der Gesamtheit der Diskurse einer Gesellschaft oder „Kultur" herauszuarbeiten beansprucht („System der Kollektivsymbole"). Für die Metaphernanalyse bedeutet dies mindestens, daß nicht Einzelbilder, sondern ganze „Bildfelder" und ihre Gesamtkonstellation betrachtet werden müssen. Dies kann zumal auch unter dem Aspekt der Austauschbarkeit einzelner Bildelemente für die Frage der konkreten „Bedeutung" von Metaphern wichtig sein.
2. Zum Konzept der politischen Metaphorik Bestimmte Metaphern als genuin politische abzugrenzen ist schwierig: erst die Interaktion mindestens zweier Vorstellungskomplexe grundsätzlich jeder Art in einem wie immer gearteten politischen Bezug ermöglicht es, von spezifisch politischer Bedeutung zu reden. Ein zentraler, oft dargestellter Bereich sind die Metaphoriken, die ideengeschichtlich politisches Denken fundiert haben (im europäischen Kontext grundsätzlich z.B. Organismus/Mechanismus), oder solche, die ftir die Politikwissenschaft selbst orientierend sind (vgl. Landau 1961, Miller 1979, Saccaro-Battisti 1983 sowie Rigotti 1992, die hier in evokative und konstitutive Funktion unterteilt). Allgemein lassen sich typischerweise politikträchtige Bildbereiche wie Schiff/Steuermann (Meichsner 1983), Technik/Mechanik (Stollberg-Rilinger 1986), Krankeit/Medizin/Arzt (Rigotti 1987), Theater/Bühne, Sport, Militär und natürlich Naturprozesse (Jäger 1971) sowie einige mehr angeben, aber - wie schon eingangs betont - ein politisches Metaphernlexikon ist nicht zu erstellen. Das Profil der jeweils gängigen politikbezogenen Metapherkomplexe, ihre Konstellation, Schwerpunkte und Verteilungen, zeigt jedoch durchaus die subjektive Seite politischer Realität: „Eine politische Kultur erkennt man auch und gerade an ihren Metaphern" (Kurz 1982, 26). Der Aspekt der politischen Manipulation durch Metaphern stieß verständlicherweise immer auf das größte Interesse, wiewohl ihn hervorzuheben ohne die kognitiven Leistungen von Metaphorik zu akzeptieren bedeutet, sich auf oberflächliche Kritik von Gefahren und banalen Warnungen vor Fallen „falscher" Bilder zu beschränken. Zumindest unter analytischem Aspekt ist also deutlich zu unterscheiden in kognitiv-modellhafte und manipulativpersuasive Funktionen von politisch verwendeten Metaphern. Verschiedene Autoren (z.B. Koller 1975, 266f; Kurz 1982, 24f; Nieraad 1977, 23ff) haben immer wieder den Umschlag von kognitiver zu manipulativer Wirkung dort lokalisiert, wo der Modellcharakter eines Bildes nicht mehr wahrgenommen vergessen, verdrängt oder verschleiert - wird. Im gesellschaftlich-politischen Kontext ist das Bewußtsein fur die Modellhaftigkeit von vorneherein schwä-
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eher ausgebildet als etwa im naturwissenschaftlichen, was bewußter Manipulation eben leicht die Möglichkeit gibt, die Fähigkeit ihrer Adressaten zu metasprachlicher Reflexion zumindest tendenziell auszuschalten. Dann büßen Metaphern nämlich ihre Modellfunktionen ein und die von ihnen behaupteten Strukturanalogien zwischen zwei Sachverhalten verlieren allmählich ihren hypothetischen Charakter. Durch Reihenbildung lassen sich Metaphern in ihrer Aussagetendenz gegenseitig stützen, wodurch sie dann schließlich auch auf den Sektoren zu Analogiezwängen führen, wo allergrößte Vorbehalte geboten wären. (Koller
1975, 331)
Damit ist die Frage nach Bewußt- und Motiviertheit von Produktion und Verwendung politischer Metaphorik gestellt. Nicht-literarische Metaphern werden selten absichtlich konstruiert, eher schon mal bewußt eingesetzt, meist aber unreflektiert als ganz normale, jeweils ja schon zur Verfugung stehende bzw. im Falle echter Neuprägungen als „naheliegende" - sprachliche Mittel gebraucht. Gleichwohl sind bewußte Bemühungen, metaphorisch zu manipulieren, ernst zu nehmen, wenn sie auch schwer aufzuweisen sind: Wenn bestimmten meinungsbildenden Presseorganen (wie „Bild" und dem „Spiegel") bewußte Sprachbildpflege zu unterstellen ist, bedeutet dies noch nicht, daß dadurch unmittelbare Manipulation erfolgt. Interessanter als sprachkritische Detektivarbeit ist es, die in Metaphorik erfahrene wie ausgedrückte SelbstVerständlichkeit politischer Orientierungen herauszuarbeiten. Koller (1975, 276ff) nennt folgende „Komponenten, die Metaphern eine manipulative Wirksamkeit sichern", wobei „manipulativ" nicht von vorneherein krititsch-wertend zu verstehen ist: - in politischer Sprache sind Denken, Sprechen und Handeln besonders eng korreliert und die Sprachfunktionen Darstellung, Ausdruck und Appell werden in politischem Kontext relativ gleichrangig realisiert; - damit keine aufwendigen Interpretationsleistungen gefordert und eindeutige Ergebnisse geboten sind, muß politische Metaphorik in hohem Maße evident sein; - zur Sicherung der Evidenz sind Redundanzen hilfreich, damit die Interpretation eine eindeutige Zielrichtung hat; - Anknüpfen an Erfahrungs-, Interessen- und Erwartungshorizonten der Adressaten ermöglicht es, deren vorgegebenes Präsuppositionsgefuge zu nutzen; - die fortgesetzte Reproduktion gängiger Metaphern und deren konsequenter Ausbau zu Metaphernfeldern sichert dies ab, u.a. durch die gegenseitige Stützung einzelner Bilder.
Zumal in der Appellfunktion zeigt sich, sofern die genannten Bedingungen erfüllt sind, die Fähigkeit von Metaphern, politische Wertungen zu konfirmieren, aber auch zu erschüttern, weil Metaphern zugleich intellektuelle Reflexionsprozesse und affektive Kontemplationsprozesse auslösen können. Da in guten Metaphern als Bestimmungsbegriffe meist Wörter fungieren, die sehr konkrete sinnliche Erfahrungseinheiten repräsentieren, nähren sie psychisch die Illusion, daß die genannten Sachverhalte nicht in abstrahierender und distanzierender Weise zur Erklärung herangezogen werden, sondern sich durch ihre sinn-
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liehe Übermacht selbst erklärende Wirksamkeit verschaffen, gleichsam selbst sprechen. (Koller 1975, 332)
Die angedeutete Skepsis gegenüber der (tendenziell verschwörungstheoretischen) Annahme, politische Metaphorik würde normalerweise oder wenigstens häufig in manipulativer Absicht produziert und funktionalisiert, soll nun nicht ihre „naturwüchsige" Beliebigkeit unterstellen: Sie sind nicht nur inhaltlich spezifisch zu interpretieren, sondern können auch bis zu einem gewissen Grad bestimmten Motiven (aufgrund von mentalen, kognitiven und materiellen Interessen) und typischen Verwendungszusammenhängen zugeordnet werden (vgl. Wesel 1991). Vielfach ist in der Literatur zur politischen Metaphorik die Meinung zu finden, daß revolutionär-reformistische politische Sprache immer nach neuen Bildern suche, während reaktionär-konservative politische Sprache die traditionelle Metaphorik auszubauen trachte (z.B. wieder Koller 1975, 284). Dies ist zwar naheliegend und am Material offenkundig durchaus zu belegen, stimmt aber keinesfalls immer (vgl. Jäger 1971). Übersehen wird hier wieder, daß Metaphern keine semantisch weitgehend festgelegten Vokabeln sind; unterschätzt wird eben die Metaphern eigentümliche kognitive und evaluative Dynamik. Daß sie flir ihren einzelnen Verwender wesentlich stärker vorausdenken als diesem bewußt sein muß, zeigt auch der häufig zu beobachtende Effekt der „metaphorischen Inversion", dies meint, daß sich ein/e meist „progressiv"/"alternativ" motivierte/r - Autor/in oder Sprecher/in redlich bemüht, eine als falsch oder verkürzt erkannte Ansicht zu kritisieren, und im eigenen Sprachgebrauch dabei der hintergründig wirksamen Kraft einer herrschenden Metaphorik unterliegt, so daß sich ihr/sein Argument mühselig an deren Selbstverständlichkeit abarbeitet. Zusammenfassend lautet die Erwartung an politische Metaphern: sie vermitteln in einer meist sehr komplizierten Wechselwirkung unterschiedliche, gedanklich vorstrukturierte Vorstellungen aus sachlich und/oder logisch nicht kompatiblen Bereichen. Indem sie verschiedene Elemente (Aspekte, Merkmale, Strukturen ...) und Ebenen sowie gleichsam die „Logiken" dieser Bereiche selegieren und (re)kombinieren, fuhren Metaphern scheinbar zwanglos und offenkundig plausibel zu einer anderen, oft neuen Vorstellung, die selten und zumal nicht in vergleichbar handlicher Kürze und mit der gleichen unmittelbaren Überzeugungskraft in sog. „eigentlicher", also nicht „übertragen(d)er" Ausdrucks weise konzipiert werden könnte. Postuliert wird, daß politische Metaphern nicht nur die ihr durch die klassischen Rhetorik zugeschriebenen Effekte in politischen Reden bewirken, sondern daß vielmehr die metaphorische Leistung in politischen Diskursen durch nichts zu ersetzen ist, es sei denn durch ausfuhrliche interpretatorische Explikation, deren Ansatzpunkt aber ja wieder die Metapher in ihrer spezifischen Aussage sein muß. Mit Metaphern mit einzelnen, mehr noch aber mit korrespondierenden oder ganzen Metaphernkomplexen - werden Problemstellungen in ihrer Struktur und Eigenart
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konstituiert und zugleich wird eine Sichtweise und Bewertung meist unbemerkt vermittelt oder gar erzwungen. Metaphern sind also verführend und führend in einem: Sie ermöglichen Kognition, weil sie als implizite Modelle auf sehr ökonomische und elegante Weise die Funktion vereinfachender und sinnhaft ordnender Informationsverarbeitung erfüllen, wobei sie dem mentalen Bedürfnis nach Eindeutigkeit und Einheitlichkeit der Welt entgegenkommen. Sie dienen der Manipulation, weil sie aufgrund der Fülle der mitgelieferten Konnotationen und vor allem hinsichtlich der unterstellten Strukturlogik meist nicht deutlich werden lassen, wovon sie in ihrer Modellhaftigkeit abstrahieren, was sie hervorheben, wie sie werten. Metaphern können von mentalen, psychischen und politischen Bedürfnissen motiviert unbemerkt Emotionen kanalisieren oder unbefragt-selbstverständliche Ansichten affirmativ stützen. Sie können sozioökonomische Phänomene entpolitisieren, wenn sie aus der gesellschaftlich-politischen Welt hinausweisen in die technische, natürliche oder magisch-mythische Welt. Die möglichen Konsequenzen für den reflektierten praktischen Umgang mit politischen Metaphern sind wieder abhängig von der Konzeption, die man von ihnen hat. Im folgenden Schema sind instrumentale und fundamentale Sprachauffassung in Verbindung gebracht mit zwei idealtypischen Strategien gegenüber den unterschiedlich diagnostizierten kognitiven Leistungen von Metaphorik: Vertreter des „verificationist view" erwarten von Metaphern letztlich eine überprüfbare Aussage, die explizierbar, also rational zu analysieren und zu kritisieren ist, während Vertreter des „ constitutivist view" in Metaphorik eine weltkonstitutiven Vorgang sehen, dessen Gehalt nicht vollständig zu explizieren, also letztlich nicht rational durchschaubar ist (vgl. Miller 1979, 158ff). Interessant sind die Zwischenbereiche, die das Schema markiert: ein instrumentalistischer Konstitutivismus ist kaum denkbar, jedoch ein fundamentalistischer Verifikationismus könnte zumal für politische Metaphern eine fruchtbare Untersuchungsperspektive bieten, die zwar keinesfalls eine sprachkritische Bereinigung hin zum „eigentlichem" Ausdruck, wohl aber eine möglicherweise sprachskeptische - konstruktiv-kritische Verarbeitung metaphorischer Botschaften erlaubt.
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Schema: Metaphern-Perspektiven Kognitve Strategie gegenüber der Metapher
Verifikationisten „verficationist view"
Konstitutivisten „constitutivist view "
Metapher = überprüfbare
Metapher = weltherstellender
Aussage
Akt
Die Metapher ist prinzipiell Die Metapher ist prinund zu allen Themen zipiell und zumal zu allen Themen Kognitiver Status der Metapher
explizierbar,
nicht
explizierbar,
d. h. rational zu analysieren d. h. letztlich nicht und kritisieren rational durchschaubar
„Instrumentalisten" Metapher = Mittel
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„Fundamentalisten" Metapher - Grund
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(wes/4,94) Dies eröffnet die Möglichkeit der Kritik an den Aussagen einer Metaphorik. Natürlich stellt sich die Wahrheitsfrage bzw. das alte Problem der Ideologiekritik: Anhand welcher (an welchem archimedischen Punkt festgemachten) Wahrheitskriterien wären politische Metaphern zu kritisieren, zumal wenn sie auch die wissenschaftlichen Perspektiven vorgängig orientiert haben sollten, in denen solche Kriterien zu entwickeln wären? Die Trennung in einen kognitiven und einen manipulativen Aspekt von Metaphorik ist eine analytische beide „Funktionen" sind im metaphorischen Prozeß eng verwoben. Eine Unterscheidung in eine gute, richtige, angemessene und eine böse, falsche, irreführende Verwendung und Wirkung von Metaphern ist also ebenso irrelevant wie die pauschale Antithese Ideologiehaftigkeit vs. Wissenschaftlichkeit (vgl. Ricoeur 1977). Was bleibt, ist das ständige Bemühen um diskursive Explikation aufgrund hermeneutischer Interpretation des Gehalts und der Bedeutung von Metaphern und Mythen. Eine derart explizierte Metaphorik kann kritischer Analyse und Diskussion unterzogen werden - auch wenn die Paraphrase möglicherweise nie dem Gehalt und der Überzeugungskraft einer guten Metapher gleichkommen kann (vgl. Black 1983a[1954], 78f).
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Wie schon oben bei der Erwähnung des Link'schen Interdiskurs-Konzeptes betont, bringt die Behandlung isolierter Metaphern jenseits ihrer Brauchbarkeit als möglicherweise beeindruckende Paradefälle wenig; Metaphernkomplexe und ganze Bildfelder müssen samt ihrer Kohärenz bzw. Konkurrenz in den Blick kommen. Aber auch die Einschränkung auf das rein sprachlichkognitive Phänomen der Metapher wird spätestens dann problematisch, wenn nach Überzeugungskraft und Bedingungen der Wirksamkeit politischer Metaphern gefragt wird. Wenn die menschlichen Wissensformen in der Art einer emergenten Schichtung aufgebaut sind (vgl. Bühl 1984), ist einsichtig, daß metaphorische Ordnungsleistungen tiefersitzende Sinnstrukturen voraussetzen, die Deutungsmuster in ihrer Bedeutsamkeit motivieren, in ihrer bildlich-inhaltlichen Struktur begründen und insgesamt als sinnhaft rechtfertigen. Die Überzeugungskraft des bildhaften Ordnens disparater Informationen hängt nicht zuletzt von der Wirksamkeit magisch-mythischer Denkformen ab sowie vom immer präsenten Fundus für Erklärungen komplexer Phänomene, den kulturell und geschichtlich tradierte Mythen anbieten. Ein großer Teil unseres alltäglich-selbstverständlichen Wissens hat mythischen/mytho-logischen Charakter. Der Mythos erzählt eine überzeugende Geschichte, die mentale Bedürfnisse kanalisieren und befriedigen kann, indem sie Zusammenhänge herstellt und verständlich macht, Widersprüche integriert, Auswirkungen legitimiert, Urteile sanktioniert usf. Die Überzeugungskraft von Mythen bzw. die Wirksamkeit von Mytho-Logik ist zwar qua definitione nicht-rationaler, nicht aber vorrationaler Natur: „Mythos" ist durch Rationalitätsfortschritte nie erledigt, sondern allenfalls überschichtet und im Denken immer mehr oder weniger präsent. Ein plausibler Mythos kann durch explizit-rationale Argumentation nur schwer erfaßt und selten klar „widerlegt" werden; die ihm eigentümliche Logik des magischen bzw. archaischen Denkens (vgl. Prier 1976) und sein „story"Charakter immunisieren ihn und machen ihn für jede denkbare (oder eben: explizit nicht-denkbare) Problemsituation flexibel genug. Neben der oben angedeuteten epistemologischen Zuspitzung des Metaphernkonzeptes in Richtung auf „Modell" ist also eine „archäologische" Zuspitzung auf den (politischen) „Mythos" hin nötig; dies wäre zu erweitern durch eine sozialwissenschaftliche Fundierung, die versucht, die „Motive" der Nachfrage nach plausiblen politischen Sprach- und Denkbildern zu erhellen; unter dem Aspekt der praktischen Realisierung der entsprechenden Wissensbestände könnte ergänzend die Frage nach politisch-magischen Ritualen gestellt werden. Das folgende Schaubild visualisiert diesen hier nur skizzierbaren Gedanken zum Zusammenhang Mythos-Metapher-Modell.
Politische Metaphorik im „parlamentarischen Diskurs"
215
Schaubild: Zusammenhang Magie/Ritual-Mythos-Metapher-Modell-Motiv [„Wahrheit" Ideologie]
»· rationalisierte Problemsicht/-lösung
Modell
Metapher
„Magie "/Ritual
Motiv Mythos
(wes/4,94)
3. Anwendungsversuch: Entwicklungspolitik im Bundestag Doch nun endlich noch kurz zu Metaphern im Parlament. Das hier ausgewertete Material sind Rede-Beiträge aus vier Debatten des Deutschen Bundestags zur Entwicklungspolitik (BT 1991, 1992, 1993a, 1993b). Ihre Auswahl erfolgte aus rein pragmatischen Gründen und nur zu den Zweck, die eingangs begründete Skepsis kursorisch zu überprüfen, aber nicht in der Absicht, die oben erhobenen Forderungen nach der Berücksichtigung von Kontexten und der Verwendung einer komplexen Metaphernkonzeption hier einzulösen. Eine kurze ad hoc-Begründung, warum die formellen Äußerungen von Bundestagsabgeordneten in einigen entwicklungspolitischen Debatten relevantes Material sein können, sei dennoch versucht: - Abgeordnete sind Repräsentanten von alltäglich-lebensweltlichem „Volkswissen"; - Abgeordnete sind affirmative/kritische Kenner/Verwender des politikberatendenadministrativen „Fachwissens": - Abgeordnetensprache zur Entwicklungspolitik wird häufig „Fach"-Stoff „volks"gemäß darstellen (wobei besondere Bedingungen im entwicklungspolitischen Politikfeld zu bedenken sind, vg. Wesel 1991).
Die folgende metaphern-topographische Übersicht zur Thematik „Dritte Welt'VEntwicklungspolitik stammt - leicht modifiziert - aus einem früheren Versuch, Verteilungen und Gewichtungen aufgrund umfassender, aber nicht
216 formal
Reinhard Wesel quantifizierter Materialdurchsichten
wenigstens grob
einzuschätzen
( W e s e l 1 9 9 1 , 7 7 ; einige A n g e b o t e zur kritischen Interpretation der g ä n g i g s t e n M e t a p h e r n - und M y t h e n k o m p l e x e siehe ebd., 7 2 f f ) . D i e Ä n d e r u n g e n g e g e n über der älteren Darstellung sind im Wandel der w e l t p o l i t i s c h e n T h e m e n s t e l l u n g e n u n d d e s entwicklungspolitischen Z e i t g e i s t e s begründet: - Das Verschuldungsthema und die damit meist korrespondierende „Gefängnis(Schuldturm)"/"Falle"-Bildlichkeit sind weniger relevant; - die entwicklungspolitische Modedebatte um „Kultur"/"soziokulturelle Dimension" und damit die Behälter- bzw. (Al-)Chemie-Metaphorik sind weggefallen; - neue Schwerpunkt-Themen sind Krieg/Sicherheitsbedrohung (nun aus Süd statt Ost) sowie globale Entwicklung/Umwelt; - mit der intensivierten Beachtung der Asyl/Ausländer-Problematik rückte die „Schilf'/"Boot"- bzw. „Abschottungs"-Metaphorik und damit korrespondierend-konkurrierend die „Festungs"-/"Insel"-Metaphorik vor; - die in der bundesrepublikanischen Dritte-Welt-Diskussion immer schon latent verbreitete Bildlichkeit von Krankheit/Arzt/Medizin ist nun auch stärker zu gewichten, was ein Anzeichen fiir ein wieder gewachsenes,.Krisen"-Bewußtsein sein mag; - aufgrund der thematischen Konzentration auf entwicklungshilfepolitische Probleme in den untersuchten Bundestagsdebatten sind aus dem allgemeinen Fundus der DritteWelt-Metaphorik schließlich noch die ebenfalls schon lange feststellbaren Metaphern von ,,Ringen"/"Kampf7"(Armut) bekämpfen" beizuziehen. D i e s m u ß hier als V e r g l e i c h s g r u n d l a g e dafür g e n ü g e n , die Bildlichkeit der d u r c h g e s e h e n e n B u n d e s t a g s d e b a t t e n w e n i g s t e n s a u f deutliche A b w e i c h u n g e n v o n der allgemeineren D r i t t e - W e l t - K o n z i p i e r u n g z u prüfen.
Politische Metaphorik im „parlamentarischen Diskurs"
217
Raster A: allgemeine „Dritte-Welt"-Metaphorik in exemplarischen Bereichen . „Sache" Asyl/ Migration/ A . Ausländer „Bild" . Explosion Bombe A * Angriff Flut/Strom Η *»· Damm Η *" Sumpf Bau/ Gebäude/ Geföngins Pflanze/ Garten Landschaft Weg/Pfad/ Hindernis Teufelskreis -MyGabe
Armut/ Hunger
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Ν
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Η = Haupt-Metaphorik; Ν - Neben-McUphonk; A = Ausnahme-Metaphorik; -My- = manifester „mythologischer" Hintergrund; *** = sehr häufig; ** = häufig; * = gelegentlich
(wes/4,94)
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Reinhard Wesel
Raster Β: „Dritte-Welt"-Metaphorik in vier Bundestagsdebatten 1991 bis 1993 . „Sache" Asyl/ Migration/ Β . Ausländer „Bild" . Explosion Bombe Angriff A • Flut/Strom Η •·· Damm Ν * Sumpf Bau/ Gebäude/ Gefängins Pflanze/ Garten Landschaft Weg/Pfad/ Hindernis
Bevölkerungswachstum
Armut/ Hunger
Η Ν
Ν
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wirtschaftliche Lage/ Schulden
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Krieg/ Sicherheitsbedrohung
globale Entwicklung/ Umwelt
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Η = Haupt-Metaphorik; Ν = Neben-Metaphorik; A = Ausnahme-Metaphorik; -My- = manifester „mythologischer" Hintergrund; *** = sehr häufig; ** = häufig; * = gelegentlich
Bei der methodisch natürlich völlig unabgesicherten Gegenüberstellung der Materialien ist vor allem zu bedenken, daß der Umfang der BundestagsBeiträge zeitlich wie in der Textmenge so sehr begrenzt ist, daß Zufälligkeiten wie auch subkulturelle Eigenheiten der kleinen Gruppe aktiver „Entwicklungspolitiker" im deutschen Parlament sich massiv auswirken könnten. Ihre Sprache ist zudem relativ metaphernarm, soweit sie sich über ganze Redepassagen an der technokratischen Expertensprache orientieren; doch wo es nicht um Sachprobleme im engeren Sinne, sondern um wertorientierten Problemaufriß und politisch wertende Expression geht, ähnelt ihre bildliche Ausdrucksweise in Häufigkeit und Profil deutlich der von nicht-parlamentarischen Sprechern bzw. Autoren.
Politische Metaphorik im „parlamentarischen Diskurs"
219
Die Grund-Metaphoriken scheinen jedenfalls sowohl im breiten Material wie in den Bundestagsreden weitgehend die selben zu sein. Keinesfalls ist eine parlamentsspezifische, von der allgemeineren Diskussion deutlich abgrenzbare Metaphorik zu erkennen. Eine Überblendung der beiden heuristisch-tentativen Raster ergibt jedenfalls, daß die Themen/Bilder-Verteilungsprofile weitgehend übereinstimmen. Dies mag teilweise am methodisch hier kaum zu kontrollierenden Willen des Beobachters liegen, keine prinzipiellen Divergenzen zu sehen, doch scheint mir die strukturelle Gleichheit der Bildlichkeit insgesamt zweifellos gegeben zu sein. Die Unterschiede in der Frequenz und der Gewichtung einzelner Bildkomplexe lassen sich m.E. aus den erwähnten Rahmenbedingungen fur die durchgesehen Reden verständlich machen. Dieser Aufsatz zu politischer Metaphorik ist fast ohne belebende Beispiele von politischen Metaphern formuliert worden; neben den üblichen praktischen Gründen ungenügender Zeit und knappen Raums ist dies auch damit zu rechtfertigen, daß Abhandlungen zur Metapher oft durch intensive Exemplifizierung die eigentümliche Überzeugungskraft ihres Gegenstandes insgeheim ausnutzen, ohne sich ausreichend mit deren Erklärung abgequält zu haben. Da auch hier keine genügende Klärung des Phänomens politischer Metaphorik gelungen ist, sollen abschließend einige Metaphern fur sich selbst sprechen. Auch in den durchgesehenen Bundestagsreden ist der gute alte „Teufelkreis" neben der „Bevölkerungsexplosion" eine der mächtigsten bildhaften Ordnungs- und Sinnquellen. Nicht menschliches - soziales, ökonomisches und politisches - Handeln , sondern die teuflische Kreisdynamik ist verantwortlich zu machen für Hunger, Armut, Bevölkerungswachstum, ökonomische und ökologische Probleme, Krieg und Gewalt und eigentlich fur alles; sie wäre durch „Entwicklung" zu „durchbrechen". Die mythologische Qualität und die ideologische Attraktivität dieser Denkstruktur steht im umgekehrten Verhältnis zu ihrer Eignung, epochale gesellschaftsübergreifende Prozesse zu analysieren. - Textbeispiel: Die globale Bedrohung der Schöpfung durch die Bevölkerungsexplosion [...]. Verantwortungsbewußte entwicklungspolitische Strategien müssen in erster Linie darauf gerichtet sein, die sich abzeichnende dramatische Bevölkerungsexplosion zu verhindern. [...] Daher muß ebenso unumstritten sein, daß Hilfe mittels Armutsbekämpfung und gleichzeitig mittels bevölkerungspolitischen Maßnahmen erforderlich ist, um den Teufelskreis von Bevölkerungswachstum, Armut und Zerstörung der Umwelt zu durchbrechen. (Andreas Schmidt/CDU/CSU, BT 1991, 3878)
- Textbeispiel: Als ein Mangel des [Achten] Berichtes [der Bundesregierung zur Entwicklungspolitik] zeigt sich, daß er die Ursachen der Unterentwicklung nicht tiefgreifend genug erfaßt. Es wird nicht der Teufelkreis aufgezeigt, in dem die Entwicklungsländer allzuoft gefangen sind. (Brigitte Adler/SPD, BT 1991, 3880)
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Reinhard Wesel
- Textbeispiel: In vielen Ländern der Welt ist das größte Entwicklungshemmnis allerdings nach wie vor das ungebremste Bevölkerungswachstum. [...] Die armutsbedingte Vernichtung natürlicher Ressourcen wird weiter zunehmen, falls es uns nicht gelingt, den Teufelskreis aus Bevölkerungswachstum, Umweltzerstörung und daraus resultierender verschärfter Armut zu durchbrechen. (Burkhard Zurheide/FDP, BT 1992, 7742)
Deutlich wird in diesen Redeauszügen der relativ häufige Effekt der metaphorischen Inversion: mit der Ausdrucksweise wird gerade das bestätigt, was in der Sache abgelehnt werden soll. Wie angesichts der rollengemäß kritischen Haltung von Oppositionsabgeordneten gegenüber der Regierungspolitik und damit auch des in ihr vorherrschenden Vokabulars zu erwarten, werden als problematisch erkannte Schlagworte und Sprachbilder von ihnen gelegentlich kritisch verwendet, d.h. zumindest in Anfuhrungszeichen gesetzt oder auch explizit als „falsch", irreführend, verhetzend usf. kritisiert. Umso deutlicher wird in dieser meist bewußt vorbereiteten, öffentlichkeitsorientierten Sprachlichkeit, die unwillkürlich oder oft wahrscheinlich auch aus dem Wunsch nach Wirksamkeit absichtlich im sprachlich vorgegebenen Rahmen bleibt, der Effekt der metaphorischen Inversion. Sogar die Kritik an spontaner Phobie und geschürter Hysterie in der sog. Asyldebatte kommt selten ohne die auf die „Flut"/ „Dammbruch"-Metaphorik („Flüchtlingströme"/"-wellen") bezogene Einsicht aus, wir könnten uns nicht „abschotten", wiewohl gegen die Suggestion, wir säßen alle im flutbedrohten Boot, ja gerade argumentiert werden sollte. Die folgenden beiden Textauszüge sind Grenzfälle zwischen Sprachkritik und Unterwerfung unter die Macht des Bildes: - Textbeispiel: Uns allen sind die Wahlkampagnen noch im Gedächtnis, mit denen die Herren und Damen aus den konservativen Lagern mit dem Thema Flüchtlinge Fremdenfurcht und Fremdenhaß geschürt haben. Das Ergebnis dieser Diskussionen im Volksmund ist Angst: Angst vor Flüchtlingsströmen, Angst vor Flüchtlingsschwemme, Angst vor Asylantenschwemme und nicht zuletzt - das haben die Menschen bei diesen Diskussionen eigentlich immer im Hinterkopf - die Angst, etwas vom eigenen Wohlstand abzugeben. [...] Es geht nicht um die Abwendung eines Schreckgespenstes; es geht vielmehr um die nüchterne Tatsache, daß wir nicht nur über die Flüchtlingsströme diskutieren dürfen, sondern auch handeln müssen. [...] - in einem Meer von Armut, Unterentwicklung und Umweltzerstörung läßt sich keine Insel des Wohlstandes halten, auch unsere nicht. (Verena Wohlleben/SPD, BT 1992, 7742f)
- Textbeispiel: Diese [Asyl-]Debatte ist nämlich zumindest von der CDU/CSU immer so geführt worden, als ob es darum gehe, sich gegenüber dieser Welt erfolgreich abzuschütten. Ich behaupte, daß dieser Weg in die Sachgasse fuhrt. Abschottungspolitik führt [...] zum Untergang. (Dr. Gregor Gysi/PDS/Linke Liste, BT 1992, 7733)
Ein in den untersuchten Reden vorherrschender Typ von metaphorischer Inversion ist allerdings im Bildkreis von „Krankheit"/ „Arzt"/ „Pflaster"/ „Medi-
Politische Metaphorik im „parlamentarischen Diskurs"
221
zin" zu finden; sei es die beiläufige Bewertung bestimmter Vorschläge oder Maßnahmen als notdürftiges oder gar kosmetisches Zupflastern ungeheilter Wunden, sei es der grundsätzliche, als solcher ausgewiesene Vergleich von Entwicklungsproblematik und -politik mit Krankheit und Diagnose/Therapie immer werden sozioökonomische Zusammenhänge naturalisiert und zugleich auch in die Arzt/Patient-Abhängigkeitsstruktur eingerückt. - Textbeispiel: Als Arzt lernt man, in seinem Leben zwei Wahrheiten zu schätzen: Erstens. Ohne richtige Diagnose gibt es keine richtige Therapie. Zweitens. Patienten sind grundsätzlich nur an richtiger Therapie interessiert. Was würden Sie, meine Damen und Herren, von Ihrem Hausarzt halten, wenn Sie nach einer gewissen Zeit feststellen müßten, daß er sich zwar redlich um Diagnostik bemüht, Ihnen aber wichtige Ergebnisse nur teilweise mitteilt und bei seinen therapeutischen Konsequenzen schlicht 'Fehlanzeige' ausweist? Ich bin sicher, Sie würden um Ihrer selbst willen den Hausarzt in kürzester Zeit wechseln. [... Achter Bericht der Bundesregierung zu Entwicklungspolitik:] unvollständige Diagnostik, Vorenthaltung wichtiger Erkenntnisse und praktisch keine therapeutischen Vorschläge. [...] Die Menschen im Süden können ihren Arzt leider nicht wechseln. [...] Die Wahrheit ist, daß Finanzströme von Norden nach Süden zu einem reinen Bankgeschäft verkommen sind. [...] Hinzu kommen die vielzitierten Wohlfahrtsverluste durch unseren Protektionismus. [...] Die Wahrheit ist also: Wir im Norden beuten die im Süden aus und leben auf deren Kosten. [...] Dies, meine Damen und Herren, war der diagnostische Teil. Jetzt komme ich zum therapeutischen Teil. (Dr. R. Werner Schuster/SPD, BT 1991, 3889f)
- Textbeispiel: Es ist nicht verwunderlich, daß in Ihrem Maßnahmebündel der Schwerpunkt auf finanzieller Unterstützung, Transfer von Umwelttechnologien usw. liegt, also auf dem Versuch, von außen kompensatorisch die Mißstände zu lösen, ungeachtet der Tatsache, daß die Entwicklungsländer weiterhin am Tropf hängen. [...] Wir sollten den Glauben endlich aufgeben, mit Entwicklungshilfe die Folgeschäden unserer Weltwirtschaftsordnung reparieren zu können. (Brigitte Adler/SPD, BT 1992, 7730)
- Textbeispiel: Strukturanpassung muß sein; sie darf aber nicht zum Niedergang von Produktion und Investition, zur Vernichtung inländischer Potentiale, zum sozialen Flächenbrand und zur Gefährdung demokratischer Ansätze fuhren - mit der nur vagen Hoffnung, daß eines fernen Tages alles besser würde. Es könnte dann, wenn die Medizin unserer westlichen Entwicklungstherapie gewirkt hat, heißen: Operation gelungen, Patient tot. (Dr. Ingomar Hauchler/SPD, BT 1993a, 14230)
- Textbeispiel: Ich komme nicht umhin, an einen Vergleich zu erinnern, der wohl nicht ganz neu ist: daß die derzeitige Entwicklungspolitik noch immer an die Vorgehensweise eines nicht besonders versierten Arztes gegenüber seinen Patienten erinnert. Er ist bedacht, Einzelsymptome zu kurieren, und erreicht zuweilen auch gewisse Erleichterung. Die Umstände fordern ja geradezu eine solches Vorgehen. Sie verhindern aber die wissenschaftliche Therapie. Diese wiederum ist unabdingbar, wenn man die Ursachen der Krankheit aufdecken und die Voraussetzung schaffen will, um die eigentliche Krankheit und nicht
222
Reinhard Wesel
nur die Einzelsymptome zu bekämpfen. Ich bin mit dieser Aussage leider nicht ganz einverstanden; denn man muß in Beziehung zur Entwicklungszusammenarbeit sagen: die Krankheit ist bekannt und auch benannt, ihre Ursachen auch. Es ist fahrlässig oder in diesem Fall eben unterlassene Hilfeleistung, wenn nicht mehr als Symptome behandelt werden. Die Patienten, in diesem Fall zighundert Millionen Menschen werden nicht geheilt; die Armut und das Elend in den Entwicklungsländern breiten sich immer mehr aus. [...] Es ist doch heute unverkennbar, daß die Nachteile aus der Einbindung der Entwicklungsländer in die ungleiche und undemokratische Weltwirtschaftsordnung wesentlich nachhaltigere Wirkung haben als die Entwicklungspolitik des Nordens. (Dr. Ursula Fischer/PDS/Linke Liste, BT 1993b, 16112) Eines zeigen die ausgewählten Beispiele deutlich: Die bildhafte parlamentarische Behandlung der komplexen Entwicklungsproblematik kann streckenweise mit Stammtischdiskursen durchaus mithalten.
- Textbeispiel: Lieber Kollege Weiß, können Sie mir darin zustimmen, daß es Situationen gibt, wo die Unordnung so groß ist, daß es eines hergezeigten dicken Knüppels braucht, damit überhaupt friedliche Entwicklung möglich ist? Geben sie zu, daß ζ. B. ein Dorf von einer Affenherde terrorisiert werden und keine Frau Wasser holen und Felder bestellen kann, wenn nicht jemand da ist, der die Affenherde in Schach hält? Genau das ist doch die Situation in Somalia. [...] (Zwischenfrage von Joachim Graf von Schönburg-Glauchau/ CDU/CSU, BT 1993a, 14237) Herr Kollege, ich bin nicht der Meinung, daß es Aufgabe von Soldaten aus Pirna oder Pirmasens ist, die Affenherde in Afrika in Schach zu halten. (Konrad Weiß/Bündnis 90/DIE GRÜNEN, ebd.)
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Kommunikationsmuster am Schnittpunkt von Wissenschaft und Politik Beschreibungen und Erklärungen am Beispiel einiger Enquetekommissionen des Deutschen Bundestages GERHARD VOWE (Berlin)
0. 1.
2.1.2 2.2. 2.2.1 2.2.2 2.3. 3. 4.
Einleitung Das Spektrum der Kommunikation in den Enquetekommissionen: Eine Typologie mit vier Kommunikationsmustern Heterogenität der Kommunikation in Enquetekommissionen Fraktionsdiskurs Seminardiskurs Risikodiskurs Metadiskurs Schlußfolgerung Erklärungsansätze Handlungstheoretischer Zugang Rational Choice-Ansatz a) Mikrobene b) Mesoebene Makroebene: Kommunikatives Handeln Systemtheoretischer Zugang Makroebene: Funktionssysteme als Ansatzpunkt der Erklärung Mesoebene: Organisationssysteme als Ansatzpunkt der Erklärung Differenzierungstheoretischer Zugang Zusammenfassung Quellen und Literatur
0.
Einleitung
1.1. 1.2. 1.3. 1.4. 1.5. 1.6. 2. 2.1. 2.1.1
Einen ersten Eindruck von den Kommunikationsmustern am Schnittpunkt von Wissenschaft und Politik können zwei Passagen aus Protokollen von Enquetekommissionen (im folgenden: EK) vermitteln: Die erste stammt aus der Un-
Kommunikationsmuster am Schnittpunkt von Wissenschaft und Politik
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t e r k o m m i s s i o n R e c h t der E n q u e t e k o m m i s s i o n „ N e u e Informations- und K o m munikationstechniken", die sich v o r allem mit den, w i e man damals - 1 9 8 2 sagte, „ N e u e n " M e d i e n beschäftigte. Prof. Dr. Ricker (sachverständiges Mitglied der Kommission; G.V.) erklärt, daß er die Sitzung der UK um 14.00 Uhr verlassen müsse, um an einer Vorbesprechung der der CDU angehörenden Mitglieder der Enquetekommission teilzunehmen. Der Vorsitzende (der Unterkommission, Prof. Dr. Hoffmann-Riem; G.V.) bringt seinen Protest dagegen zum Ausdruck, daß die der CDU angehörenden Mitglieder zum wiederholten Male Vorbesprechungen zur selben Zeit angesetzt hätten, zu der die Unterkommission „Recht" tage. Wenn die der CDU angehörenden Mitglieder der Unterkommission „Recht" im Kollisionsfall - wie geschehen - zu den Vorbesprechungen gingen, werde die Arbeit der Unterkommission „Recht" blockiert. (Kurzprotokoll 1982, 4). D i e P a s s a g e wirft ein bezeichnendes Licht auf die K o m m i s s i o n , und damit ist das eine E n d e d e s Kommunikationsspektrums markiert, das wir in den E K finden. In dieser K o m m i s s i o n waren die internen Experten in e i n e m M a ß e p o larisiert, und z w a r in parteipolitischer Hinsicht, daß darüber ihre g e m e i n s a m e Arbeit s t r e c k e n w e i s e zum Erliegen kam. Ein z w e i t e s Beispiel stammt aus der ersten Kernenergie-Enquete v o n 1 9 8 0 . Ich g e b e wörtlich die Ausführungen des C D U - A b g e o r d n e t e n S t a v e n h a g e n wieder, einem Kernenergiebefurworter, der in dieser K o m m i s s i o n v o m B a u m e der Erkenntnis nascht und mit f o l g e n d e n Worten den Sündenfall vollzieht: Es ist die Frage, wie die Kommission ihre Aufgabe versteht. Hier kann jeder mit seiner Meinung hineingehen und kann dann mit seiner Meinung auch wieder herauskommen und bei seinen Freunden sagen: Nun haben wir unsere Meinung sauber durchgetragen, bis zum bitteren oder schönen Ende. Damit kann man sicher leben. Nur meine ich, daß man schon einer gewissen Verpflichtung unterworfen ist, wenn man in dieser Kommission mitarbeitet, und in dieser Verpflichtung sehe ich zunächst den Versuch, auf sehr breiter Ebene gemeinsam zu Ergebnissen zu kommen. Wenn man diesen Versuch machen will - ich könnte auch ohne diesen Versuch leben -, dann heißt das: geben und nehmen. Um auch hier noch einen Schritte weiter zu gehen: Das heißt für mich, daß ich - ich habe das mit Herrn Kollegen Gerstein (der zweite Abgeordnete der CDU in der EK; G.V.) noch nicht abstimmen können - bereit bin, im Bereich des Sparens ... einmal einen Maßnahmenkatalog zusammenzustellen, von denen wir sagen: Laßt uns die einmal empfehlen. ... Aber wir sollten uns hüten, an die Maßnahmen nun bindende Erwartungen zu hängen. Wir sollten die Erwartungen etwas offen lassen. ... Das heißt..., daß wir dann eine Politik des Sowohl-Als-Auch machen müssen. Laßt die einen doch sagen: Mit der Kernenergie haben wir mehr Bedenken als Ihr! Laßt uns auch diese im Sinne einer sinnvollen Industriekapazität offenhalten! ... Dann laßt den Bundestag nach zehn Jahren doch eine Bilanz ziehen und nach 20 Jahren noch einmal eine Bilanz ziehen ... Wir sollten sowohl das Sparen mutig probieren als auch bei der Kernenergie behutsam etwas dazubauen, damit die Entwicklung weitergeht. ... Ich möchte folgendes hier ungeschützt auf den Tisch legen; denn irgendwann müssen wir einige Dinge auf den Tisch legen und können nicht nur die Schützengräben ausheben. Ich bin auch bereit, darüber mit mir reden zu lassen, was wir für weitere Fragen etwa in bezug auf den Brüter noch zu untersuchen haben. Da sollten wir einen vernünftigen Vorschlag machen, was noch untersucht werden sollte. Aber wir sollten auch, glaube ich, einen vorläufigen Strich
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ziehen. ... Wenn wir auf diese Weise mit einem politischen Handlungsvorschlag abkämen, bei dem jeder etwas gibt ..., dann hat die Kommission am Schluß sehr viel erreicht... wie ich glaube. Dann hat sie erreicht, daß hier Gegner und Befürworter ein Jahr lang miteinander diskutiert und manchmal auch gestritten haben. Daraus wird sich ein politischer Weg fur die nächsten Jahre zeigen, der von allen mit einigen Abstrichen getragen werden kann. Dann hat sich etwas bewegt. Wenn jeder seine Vorstellungen lupenrein wieder so mit herausnimmt, wie er sie hineingetragen hat, dann habe zumindest ich in diesem Jahr sehr viel gelernt; aber bewegt haben wir nichts. Deswegen sollten wir diesen Versuch, zu einem gemeinsamen Vorschlag zu kommen, sehr ernst nehmen. (Kurzprotokoll 1980, 171-173).
Auch hier wird ein bezeichnendes Licht auf diese EK geworfen, denn die Ausführungen zeigen genau den Durchbruch in ihren Beratungen: Ein CDUAbgeordneter formuliert eine gut sozialdemokratische Position, auf der ein breiter Konsens in der EK möglich wurde. Die Passage markiert das andere Ende des Spektrums. In der ersten Kernenergie-Enquete gelang es Experten, dem „Brüterpapst" Wolf Häfele und dem „Sonnenanbeter" Klaus M. Meyer-Abich, trotz ihrer Bindungen an kontroverse Interessengruppen einen Ausweg aus einer festgefahrenen politischen Situation zu konstruieren und dies so überzeugend in die Kommission einzubringen, daß sich alle anderen Sachverständigen und auch die Abgeordneten aller Fraktionen - zumindest zeitweise - auf dieses Fundament stellen konnten. Die beiden Beispiele bieten Einblicke in die Arbeit von EK, in denen Abgeordnete und Experten aus Wissenschaften und Interessengruppen „umfangreiche und bedeutsame Sachkomplexe" (§ 56 Geschäftsordnung des Bundestages) für den Bundestag aufbereiten. Mittlerweile hat der Bundestag mit dieser Ausprägung des parlamentarischen Untersuchungsrechts einige Erfahrungen sammeln können. Enqueten gab es z.B. zu Fragen technischer Entwicklungen, wie der Kernenergie, der Gentechnik oder der Telekommunikation - den Enqueten, die ich hier zugrunde lege. Mich interessiert in diesem Zusammenhang nicht die Frage der politischen Bedeutung dieser EK und auch nicht die Frage der Bedingungen, unter denen eine EK überhaupt zustande kommt. Das ist an anderer Stelle ausführlich dargelegt 1 . Hier interessieren mich die EK als ein besonderes und besonders interessantes Forum, auf dem unterschiedliche Muster in der Kommunikation von Wissenschaft und Politik ausgebildet wurden. Die Spannbreite dieser Kommunikation sollte durch die Eingangszitate verdeutlicht werden. In EK treffen nämlich nicht nur divergierende politische Standpunkte aufeinander, sondern unterschiedliche Kommunikationskulturen mit verschiedenen Themenpräferenzen, Wissensbeständen, Rollenvorgaben und Horizonten.
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Siehe dazu Vowe 1991. Quellen und Literatur zu den technikbezogenen EK sind dort ausgewertet und zitiert. Von daher habe ich mich im folgenden auf einige wenige summarische Quellen- und Literaturangaben beschränkt.
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Dies ergibt eine paradoxe Struktur: In Gestalt der EK wird das Außen, das Ausgeschlossene, das Nicht-parlamentarische im Rahmen des Parlaments präsent gehalten. Nicht allein in und mit den EK, aber dort besonders augenfällig, hat die parlamentarische Kommunikation zu belegen, daß sie an parlamentsexterne, z.B. an wissenschaftliche Kommunikation anschließen kann, daß sie in dieser Hinsicht flexibel und leistungsfähig ist. Ob bei Themen, Akteuren oder bei Prozeduren: Die Enqueten bilden eine Art Brückenkopf des Parlaments in fremdem, bisweilen sogar feindlichem Terrain. In Gestalt der EK verläßt der Bundestag den sicheren Boden der rundgeschliffenen Themen, der sozialisierten Akteure und routinisierten Prozeduren. Gerade weil EK eine eher periphere Stellung im Parlament innehaben, können sie als Schleuse fungieren, in der brisante und komplexe Themen für die parlamentarische Beschlußfassung kleingearbeitet werden, in der Vertreter gesellschaftlicher Gruppen oder Wissenschaftler sozusagen auf parlamentarisches Bankmaß gestutzt werden, in der aber auch Veränderungen der parlamentarischen Prozeduren erprobt werden. Dieses Außen im Innen macht die EK zu einem interessanten Segment und es ist besonders interessant, wenn es um die Einbindung von Wissenschaft geht. Ich will mich deshalb im folgenden auf die Kommunikationsmuster am Schnittpunkt von Wissenschaft und Politik konzentrieren, und zwar empirisch, indem ich anhand der besonders „wissenschaftslastigen" Enqueten, also derjenigen vier Enqueten, die technische Entwicklungen zum Thema hatten, eine Typologie der Kommunikationsmuster herausarbeite; und theoretisch, indem ich mehrere Ansätze daraufhin prüfe, ob sie plausible Erklärungen fur die Herausbildung dieser Kommunikationsmuster bieten. Die Enqueten sind in der Übersicht 1 mit einigen Angaben charakterisiert.
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Übersicht 1: Die vier Techni c-Enqueten im ö >erblick IKT KE8 KE9 Titel
Zukünftige Kernenergiepolitik
Zukünftige Kernenergiepolitik
Thema
Optionen der Energiepolitik
Laufzeit Initiierende Fraktion Vorsitz
1979-1980 SPD
Verantwortbarkeit des Schnellen Brutreaktors unter dem Sicherheitsaspekt 1981-1983 SPD
Ueberhorst (SPD)
Schäfer (SPD)
Stv.Vs.
Stavenhagen (CDU) 7 MdB 8 Sv Häfele, Meyer-Abich
Stavenhagen (CDU) 7 MdB 9 Sv Häfele, Birkhofer, Meyer-Abich
Schmölling
Schmölling
Donderer (Arbeitsgruppe Schneller Brüter)
Benecke (Forschungsgruppe Schneller Brilter) Köberlein (Gesellschaft für Reaktorsicherheit) AFT
Mitglieder Zentrale Sachverständige Leiter des Stabes Externe Experten
Zuständiger Ausschuß
AFT
Neue Infomationsund Kommunikationstechniken Veränderung der Rundfunklandschaft durch Neue Medien 1981-1983 SPD/FDP Schwarz-Schilling (CDU) Linsmeier (CSU) Paterna (SPD) 9 MdB 7 Sv Hoflmann-Riem, Gissel Kretschmer, Haymer Schrape (Prognos AG)
Innenausschuß
GEN Chancen und Risiken der Gentechnologie Politischer Handlungsbedarf angesichts der Möglichkeiten der Gentechnik 1984-1987 SPD(GRÜNE) Catenhusen (SPD) Neumeister (CDU) 9 MdB 8 Sv van den Daele, Winnacker Schmölling Arbeitsgruppe der Fraktion „DIE GRÜNEN"
AFT
Erläuterung: AFT Ausschuß für Forschung und Technologie GEN Enquete-Kommission „Chancen und Risiken der Gentechnologie" IKT Enquete-Kommission „Neue Informations- und Kommunikationstechniken" KE 8 Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik" (8. Legislaturperiode) KE 9 Enquete-Kommission „Zukünftige Kernenergie-Politik" (9. Legislaturperiode) Sv Sachverständige Stv.Vs. Stellenvertretende(r) Vorsitzende(r)
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Das Spektrum der Kommunikation in den Enquetekommissionen: Eine Typologie mit vier Kommunikationsmustern
1.1. Heterogenität der Kommunikation in Enquetekommissionen Bereits ein flüchtiger Blick auf die Kommunikation in den Technikenqueten fördert ein gleichermaßen zentrales wie banales Ergebnis zutage: Es gibt nicht das Kommunikationsmuster der EK, vielmehr gibt es erhebliche Unterschiede zwischen den EK und innerhalb der einzelnen EK. Diese Unterschiede lassen sich mit Hilfe einer induktiv entwickelten Typologie aus vier idealtypisch voneinander abgesetzten Diskursen2 erfassen. Übersicht 2 zeigt die gesamte Typologie.
„Diskurs" wird hier nicht normativ, sondern empirisch als ein kohärentes System von normativen und kognitiven Schemata begriffen, das Verständigung innerhalb einer Kommunikationsgemeinschaft ermöglicht und sich in Kommunikationspraktiken spezifischer Gruppen oder bei spezifischen Situationen niederschlägt.
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